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German Pages 939 [940] Year 2021
Karl Riesenhuber (Hrsg.) Europäische Methodenlehre
Ius Communitatis
Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Stefan Grundmann, LL.M. (Berkeley)
Karl Riesenhuber (Hrsg.)
Europäische Methodenlehre 4., überarbeitete Auflage
Prof. Dr. Karl Riesenhuber, M.C.J. ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Wirtschaftsrecht an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und Richter am Oberlandesgericht Hamm.
ISBN 978-3-11-061378-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061430-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061457-2 Library of Congress Control Number: 2020951338 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Die englische Ausgabe erscheint bei Intersentia unter dem Titel European Legal Methodology, 2nd ed 2021, ISBN 978-1-83970-136-8. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: akg-images / MPortfolio / Electa (Boccioni, Umberto; „Autoritratto“ (Selbstbildnis); 1905/06) Datenkonvertierung und Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Sechs Jahre nach Erscheinen der Vorauflage können wir die 4. Auflage des Buches vorlegen. Die Grundkonzeption ist unverändert. Allerdings haben sich einige Änderungen bei den Bearbeitern und auch bei einzelnen Kapiteln ergeben. Nach dem frühen Tod unseres hoch geschätzten Kollegen Robert Rebhahn hat sich Prof. Dr. Martin Franzen bereit erklärt, den Beitrag zu Methodenfragen im Europäischen Arbeitsrecht weiterzuführen. Das Kapitel über Rechtsquellen hat Prof. Dr. Johannes Köndgen gemeinsam mit PD Dr. Oliver Mörsdorf neu bearbeitet. Hier wird insbesondere der zunehmenden Bedeutung der Grundrechte Rechnung getragen. Den bislang von Dr. Ulrich Ernst verantworteten Länderbericht über Polen hat Herr Dr. Thomas Raff neu verfasst, u. a. auch mit Hinweisen zu den Justizreformen. Entfallen mussten in der 4. Auflage die Beiträge über Europäisches Vertrags- und Gesellschaftsrecht sowie der Länderbericht über Italien; insoweit verweisen wir auf die Vorauflage. Eine Neuauflage der – zuerst 2017 auf der Grundlage der 3. Auflage erarbeiteten – englischen Ausgabe des Buches ist in Vorbereitung und wird in Kürze folgen. Für die Unterstützung bei der Neuauflage danke ich meinen Mitarbeitern, die mich bei der Redaktion tatkräftig unterstützt haben, vor allem Herrn wiss. Mit. Gereon Walter sowie Frau stud. iur. Sozdar Sulaiman und Herrn stud. iur. Nikita Kantor. Für ihre engagierte Mitwirkung danke ich zudem Herrn wiss. Mit. Lukas Middeke sowie meinen studentischen Hilfskräften Franziska Malfa, Andrei Stefan Morariu, Boris Tcherniaev und Teresa Weiß.
Bochum, im Februar 2021
https://doi.org/10.1515/9783110614305-202
Karl Riesenhuber
Inhaltsübersicht Vorwort V Autorenverzeichnis XXXI Abkürzungsverzeichnis XXXIII Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur §1
LIII
Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht
1. Teil: Grundlagen § 2 Juristenmethode in Rom §3
Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts 27
§ 4 Die Rechtsvergleichung §5
7
73
Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt 97
2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1. Rechtsquellen § 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
131
Abschnitt 2. Primärrecht § 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
181
§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung Abschnitt 3. Sekundärrecht § 9 Systemdenken und Systembildung § 10 Die Auslegung
209
243
285
§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln § 12 Die Rechtsfortbildung
351
323
1
VIII
Inhaltsübersicht
Abschnitt 4. Mitgliedstaatliches Recht § 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
377
§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien § 15 Die Vorwirkung von Richtlinien
453
493
§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
521
3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1. Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 17 Europäisches Arbeitsrecht 557 § 18 Kapitalmarktrecht
597
§ 19 Europäisches Kartellrecht
629
Abschnitt 2. Methodenfragen in der Rechtsprechung § 20 Die Rechtsprechung des EuGH 653 § 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes Abschnitt 3. Perspektiven anderer Mitgliedstaaten § 22 Frankreich 741 § 23 Vereinigtes Königreich § 24 Spanien § 25 Polen
813 839
Stichwortregister
865
783
699
Inhaltsverzeichnis Vorwort V Autorenverzeichnis XXXI Abkürzungsverzeichnis XXXIII Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur § 1
LIII
Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht I. Europa und Methodenlehre 1 II. Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre 3 III. Begriff der Europäischen Methodenlehre 6
1
1. Teil Grundlagen § 2 Juristenmethode in Rom 7 I. Die Art und Weise römischer Rechtsfindung 7 1. Intuition oder Plan? 7 2. Induktion, Deduktion und systemüberschreitende Rechtsfindung 10 3. Systematische Rechtsfindung 11 II. Deduktion 12 1. Juristenregeln als Subsumtionsbasis 12 2. Gesetzesauslegung 15 III. Rechtsfortbildung 19 1. Fortentwicklung des Juristenrechts 19 2. Fortbildung des Gesetzesrechts 23 IV. Zusammenfassung 25 § 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts 27 Vorbemerkung 29 I. Einführung 29 1. Problemstellung: Entscheidungsmechanismen und Transparenzmechanismen 29 2. Rechtsvergleichender Überblick 30 3. Untersuchungsgegenstand. Grenzen. Geltendrechtliche Perspektiven 32 II. Römische Tradition: Normbildung und interpretatio 36 III. Hermeneutische Positionen um 1800 39 1. Spätes Gemeines Recht und geistiges Umfeld 39
X
Inhaltsverzeichnis
IV.
V.
VI. VII.
2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik: Grundlinien der Methodenlehre Savignys 39 3. Überblick: Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken 45 Kernpunkte der Methodenlehre Savignys 46 1. Vorlesungen 46 2. Der „Beruf“ 50 3. Das „System“ 52 Deutsche Pandektenwissenschaft im 19. Jahrhundert 58 1. Voraussetzungen 58 2. Überblick zu einzelnen Autoren 58 3. Fortwirkungen 64 Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert und Überschneidungsbereiche 67 Epilog: Was interessiert uns das 19. Jahrhundert? 69
§ 4 Die Rechtsvergleichung 73 I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode 74 II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht 77 1. Primärrechtliche Ebene 77 2. Sekundärrechtliche Ebene 79 a) Herkömmliche Rechtsangleichung 80 b) Neuartige Regelungsinstrumente 83 III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht 86 1. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH 86 2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte 90 IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht 92 1. Wissenschaftliche Projekte 92 2. Juristische Ausbildung 94 V. Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum 95 § 5
Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt 97 I. Einführung 98 II. Grundlagen 99 1. Utilitarismus und Wohlfahrtsökonomik 99
Inhaltsverzeichnis
XI
2. Posners „everyday pragmatism“ 101 3. Kritik folgenorientierter Denkweise (Hayek) 102 4. Ausdifferenzierung des ökonomischen Ansatzes 103 a) Neue Institutionenökonomik 103 b) Behavioural Law and Economics 104 c) Economics of Happiness 105 5. Zwischenfazit 106 III. Ausgestaltung der Rechtsregeln für den Binnenmarkt 106 1. Wirtschaftsverfassung und Wohlfahrtsgewinne durch die Integration der mitgliedstaatlichen Märkte 106 2. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz 111 3. Zur Wahl der Regelungsebene („Economics of Federalism“) 114 a) Vorteile einheitlicher Regelungen 116 b) Vorteile dezentraler Rechtsetzung 117 4. Verarbeitung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (Behavioural Economics) 119 IV. Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt 123 1. Grundfreiheiten 123 2. Sekundärrecht 125 3. Zur Zögerlichkeit des EuGH, explizit ökonomisch zu argumentieren 128 2. Teil Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen § 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts 131 I. Grundlagen 133 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre 133 2. Mehrstufigkeit und Mehrdirektionalität: einige Grundbegriffe 135 3. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts 137 a) Der (Markt)Bürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: von der unmittelbaren Berechtigung zur unmittelbaren Verpflichtung 138 b) Der „regulatorische“ Charakter des Europäischen Privatrechts 140
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Inhaltsverzeichnis
II. Das Primärrecht als Rechtsquelle des Privatrechts 143 1. Grundfreiheiten 143 a) Die Grundfreiheiten als Grenze und Inpflichtnahme mitgliedstaatlichen Privatrechts 143 b) Bindung der Union 147 c) Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) 148 2. EU-Grundrechte, insbesondere: die Grundrechte-Charta 150 a) Die Unionsgrundrechte als neuer Akteur auf der Bühne des Europäischen Privatrechts 150 b) Der Ausgangspunkt: Die Kontrolle der Union als ursprüngliche Funktion eines unionalen Grundrechtsschutzes 151 c) Umkämpftes Terrain: Die beschränkte Bindung der Mitglied staaten an die Grundrechte-Charta 152 aa) Das privatrechtsgestaltende Potential der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung und seine Beschränkung durch Art. 51 Abs. 1 GRCh 152 bb) Grundrechtsbindung des Unionsgesetzgebers als Einfallstor für eine unbeschränkte mitgliedstaatliche Grundrechtsbindung? 153 d) Die Bindung Privater an die Unionsgrundrechte 155 III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion 158 1. Richtlinien 159 a) Richtlinien als „mediatisierte“ Rechtssetzung 159 b) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung 160 aa) Beschränkter Regelungsbereich und überschießende Umsetzung 161 bb) Mindestharmonisierung oder Vollharmonisierung? 161 cc) Defizite bei den Rechtsfolgen 165 c) Keine Horizontalwirkung von Richtlinien 166 d) Die Bedeutung der Begründungserwägungen 170 2. Verordnungen 172 a) Die Bedeutung der Verordnung für das Europäische Privatrecht 172 b) Keine Einwirkungs- sondern Abgrenzungsfragen im Fokus 172 aa) Die äußere Abgrenzung des Anwendungsbereichs privatrechtsvereinheitlichender Verordnungen, insbesondere bei optionalen Instrumenten 173 bb) „Innere“ Abgrenzungsprobleme: Das Binnenkollisionsrecht der suprantionalen Rechtsformen 174
Inhaltsverzeichnis
3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts 174 4. Richterrecht und richterliche Rechtsfortbildung 176 IV. Europäisches Soft Law 176 1. Mitteilungen und Aktionspläne 176 a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission 176 b) Leitlinien 177 c) Empfehlungen und Aktionspläne 178 2. Ko-Regulierung und „privatisierte“ Regulierung durch Expertenrecht 178 V. Résumé und Ausblick 180 Abschnitt 2 Primärrecht § 7
Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts 181 I. Einleitung 182 II. Rechtliche Unterscheidung zwischen intergouvernementalem und supranationalem Europarecht 183 1. Rechtsnatur des supranationalen Unionsrechts 184 2. Rechtsnatur des intergouvernementalen Unionsrechts 186 III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht 187 IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht 188 1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen 189 2. Einzelne Auslegungsmethoden 190 a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung 190 b) Systematische Auslegung 193 c) Teleologische Auslegung 194 d) Historische Auslegung 197 e) Rechtsvergleichende Methode 199 3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander 200 V. Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht 200 1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge 201 2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK 202 a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung 202 b) Systematische Auslegung 203 c) Teleologische Auslegung 203 3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK 204 a) Historische Auslegung 204 b) Rechtsvergleichende Auslegung 204 4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander 205 VI. Rechtsfortbildung 205
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Inhaltsverzeichnis
§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung 209 I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung 211 II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts 214 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 215 a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht 215 b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheiten- und grundrechtskonforme Auslegung 216 aa) Bindung der Unionsorgane an die Grundfreiheiten 216 bb) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung 217 cc) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung 217 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 221 a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Unionsrechts 221 b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Unionsrechts und die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers 221 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre 224 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 225 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 226 a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts 226 b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts 229 III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts 229 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts 230 a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht 230 b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunktes: das Verhältnis von richtlinien- und unionsgrundrechtskonformer Auslegung 231
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c)
Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts 232 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts 233 a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben 233 b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? 234 c) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität 235 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre 236 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts 237 a) Nationales Recht des forum 237 b) Nationales Recht anderer EU-Mitgliedstaaten 237 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts 238 a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts 238 b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? 241 Abschnitt 3 Sekundärrecht § 9 Systemdenken und Systembildung 243 I. Einleitung 244 II. Gesamtsystem 246 1. Zwei- bzw. Mehrebenensystem 246 a) Phänomen 246 b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft 248 2. Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell 250 a) Eckpunktemodell 250 b) Alternativmodell 251 3. Modell der materialen Freiheit 252 a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materialer Freiheit 252 b) Beispiele – auch allgemeine Prinzipien 254
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4. Einführung zu den Einzelgebieten – Verantwortung des EuGH 257 III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht 258 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz 258 a) Vertragsrechtsregulierung 258 b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht 259 2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit 261 a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht 261 b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil 262 c) Der Beitrag des Akademischen Referenzrahmens 263 d) Wettbewerb der Formen (auch Gemeinsames Europäisches Kaufrecht)? 263 3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells 264 a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells 264 b) Überblick zu weiteren Systemgedanken 267 IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht 268 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften 268 a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften 268 b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung 273 c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften 275 2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen 279 a) Wettbewerb der Formen 279 b) Kompatibilität der Formen 280 c) Generalisierbarkeit? 281 3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells 282 V. Ausblick 283 § 10 Die Auslegung 285 I. Autonome Auslegung 287 II. Ziel der Auslegung 290 III. Kriterien der Auslegung 292 1. Die grammatikalische Auslegung 293 a) Ausgangspunkt für die Auslegung 293 b) Wortlaut und Sprachenvielfalt 293 c) Relativität der Rechtsbegriffe 296
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2. Die systematische Auslegung 297 a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang 297 b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang 297 c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? 300 d) Kollisionsregeln 302 3. Die historische und genetische Auslegung 303 a) Der Gesetzgeber 303 b) Zugängliche Materialien 304 c) Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen 306 d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ 306 e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten 307 4. Die teleologische Auslegung 307 a) Regelungszweck und Angleichungszweck 307 b) Teleologische Auslegung und „praktische Wirksamkeit“ (effet utile) 310 c) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts 311 d) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung 313 IV. Rangfolge der Auslegungskriterien 314 V. Einzelne Auslegungsregeln 316 1. „In dubio pro consumente“? 317 2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? 318 § 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln 323 I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung 325 II. Konkretisierung in der Kompetenzordnung der Union 326 1. Institutionelle Ordnung 327 a) Auslegungsbefugnis des EuGH 327 b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH 328 2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz 329 a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht 330 b) Rechtsangleichungsintention 332 c) Anwendung auf die Klausel-Richtlinie 332 III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH 333 1. Rechtsprechungsübersicht 334 2. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung 336 3. Weiterführungen: Konkretisierung und Vollharmonisierung 337 IV. Konkretisierungsmethoden 339 1. Unionsautonome Konkretisierungsmethode 339
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2. Konkretisierung durch Auslegung am Beispiel der Klausel-Richtlinie 340 3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung 342 a) Referenzordnungen 342 aa) Erfordernis einer unionsautonomen Referenzordnung 343 bb) Sekundärrechtliche Referenzordnungen 344 b) Prinzipien und Leitbilder 345 c) Der gemeinsame Referenzrahmen 346 d) Vom Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht zu Digitale-Inhalte-RL und Warenkauf-RL 348 V. Konkretisierung als Prozess 348 § 12 Die Rechtsfortbildung 351 I. Grundlagen 353 1. Zur Terminologie des Unionsrechts 353 2. Zur Eigenständigkeit des Unionsrechts 354 3. Zur Besonderheit des Unionsrechts 355 II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung 356 1. Die rechtsprechende Gewalt 356 2. Die gesetzgebende Gewalt 357 3. Die faktische Gewalt 357 III. Die Schranken der Rechtsfortbildung 358 1. Die Bindung an das Gesetz 358 a) Die kompetentielle Dimension 358 aa) Das institutionelle Gleichgewicht 358 bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit 359 b) Die inhaltliche Dimension 359 aa) Die Wortsinngrenze 360 bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht 360 c) Die zeitliche Dimension 361 aa) Die Vorwirkung 361 bb) Die Rückwirkung 362 2. Die Bindung an das Präjudiz 362 a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit 362 b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes 363 IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung 364 1. Die Rechtsfindung praeter legem 365 a) Die Lückenfeststellung 365 aa) Das externe System 366 bb) Das interne System 366
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b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung 366 aa) Der Gleichheitssatz 366 bb) Das Primärrecht 371 c) Die Grenzen der Lückenausfüllung 372 aa) Analogieverbote 372 bb) Unausfüllbare Lücken 373 2. Die Rechtsfindung contra legem 374 a) Die Feststellung der Nichtigkeit 374 b) Die Folgen der Nichtigkeit 375 c) Die Einzelfallgerechtigkeit 375 V. Schlussbetrachtung 375 Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht § 13 Die richtlinienkonforme Auslegung 377 I. Einleitung 383 II. Unionsrechtliche Vorgaben 384 1. Grundlagen im Unionsrecht 384 a) Auslegung der lex fori 384 b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates 387 2. Richtlinien- und unionsrechtskonforme Auslegung 389 3. Zeitpunkt 391 4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit 392 5. Anwendungsbereich 397 6. „Auslegung“ und Rechtsfindung 398 7. Methodische und inhaltliche Vorgaben für die nationalen Gerichte 402 a) „So weit wie möglich“ 403 b) Umsetzungsgesetzgebung und Absicht des Gesetzgebers 404 c) Äquivalenzgrundsatz 406 d) Effektivitätsgrundsatz 407 e) Besonderheiten bei „quasi wörtlicher“ Übernahme von Richtlinienbestimmungen 409 f) Verpflichtung zur Änderung der Rechtsprechung 410 g) Entscheidung anhand der Umstände des Einzelfalls 412 8. Schranken der richtlinienkonformen Auslegung 414 a) Unionsrechtliche Schranken 414 aa) Allgemeine Rechtsgrundsätze 414 bb) Insbesondere: contra legem Auslegung 414
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cc) Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen? 419 b) Schranken des nationalen (Verfassungs-)Rechts 420 III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht 423 1. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts 423 a) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG 423 b) Wille des deutschen Gesetzgebers 424 2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden 425 3. Richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel 426 4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen; „Auslegung im engeren Sinne“ 427 5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung 429 a) Zulässigkeit und Grenzen der Rechtsfortbildung im Allgemeinen 430 b) Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG 432 c) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? 433 d) Die Instrumente der Rechtsfortbildung 436 e) Wortlaut und Regelungszweck 437 f) Einzelfälle 442 g) Vertrauensschutz 449 § 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien 453 I. Einleitung 454 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung 454 2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem 458 II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung 459 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung 459 a) Persönlicher Anwendungsbereich 459 b) Sachlicher Anwendungsbereich 460 c) Räumlicher Anwendungsbereich 462 2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen 462 a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien 462 b) Fakultative Umsetzung, opt-out 463 c) Textgleiche Normen 464 3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien 465
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III. Die Auslegung des nationalen Rechts 467 1. Problemstellung 467 2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Unionsrecht? 470 a) Unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschussbereich? 471 b) Mittelbare unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 471 3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht 476 4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschussbereich 477 a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung 477 b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens: Die Unterscheidung von Sach- und Strukturentscheidungen 478 c) Vermutung für einheitliche Auslegung 480 d) Gründe für eine gespaltene Auslegung 481 aa) Verfassungskonforme Auslegung 481 bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung 482 cc) Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind 482 IV. Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht 487 V. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs 488 1. Rechtsprechung des EuGH 488 2. Präzisierung der Fragestellung 489 3. Vorlagemöglichkeit? 489 VI. Ausblick 490 § 15 Die Vorwirkung von Richtlinien 493 I. Einleitung 494 II. Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien 495 1. Umsetzungspflicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist 495 2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung 495 3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge 497 III. Das sog. Frustrationsverbot 497 1. Die Rechtsprechung des EuGH 497 a) Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie 497 b) Die Vorgaben in den Rechtssachen ATRAL, Mangold, Stichting und Abt 499 2. Keine generelle Sperrwirkung 501
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3. Rechtsfolgen des Frustrationsverbots 502 4. Keine Auswirkungen auf die Horizontalwirkung von Richtlinien 503 IV. Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts 505 1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist 506 2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden 506 a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler 507 b) Rechtsprechung deutscher Gerichte 508 3. Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung 510 a) Meinungsstand 510 b) Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 512 c) Nationale Vorgaben 514 d) Europäische Vorgaben 514 V. Die Vorwirkung von Richtlinien bei der Anwendung nationaler Vorschriften durch die Verwaltung 518 § 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung 521 I. Überblick 522 II. Theoretische Grundlagen 524 1. Grundsatz der Rückwirkung 524 a) Auslegungsrückwirkung aufgrund des Normanwendungsbefehls des Gesetzgebers 524 b) Rückwirkung von Rechtsfortbildung 525 c) Differenzierung bei Rechtsprechungsänderung 526 d) Rückwirkung der Unwirksamkeitsentscheidungen 527 2. Verhältnis zur Bindungswirkung von EuGH-Urteilen 528 III. Kompetenz zur Beschränkung der zeitlichen Wirkung 528 1. Unwirksamkeit 529 2. Auslegung 529 IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung 530 1. Auslegung 531 a) Keine Präklusion 531 aa) Maßstab des EuGH 532 bb) Kritik: Ablehnung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals 532 b) Guter Glaube 533 aa) Bezugspunkt und Inhalt 533
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bb) Vertrauensbegründendes Verhalten 534 cc) Ausschluss des guten Glaubens 536 dd) Die Vertrauenden 536 ee) Zeitpunkt des guten Glaubens 537 c) Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen 538 aa) Wirtschaftliche Auswirkungen 538 bb) Schwerwiegende Auswirkungen 539 cc) Gefahr 539 d) Neuartiger Ansatz in der Rechtssache UNIS 539 2. Unwirksamkeit 541 a) Wohlerworbene Rechte und Vertrauensschutz 541 b) Öffentliche Interessen 542 aa) Vermeidung einer Regelungslücke 542 bb) Weitere Anwendungsfälle 544 V. Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung 545 1. Dogmatische Einordnung 545 2. Sachliche Reichweite 546 3. Zeitliche Reichweite 547 a) Auslegung 547 b) Unwirksamkeit 548 4. Personelle Reichweite und Ausnahmen 549 5. Räumliche Reichweite 551 VI. Prozessuales 551 1. Entscheidung von Amts wegen und Antrag 551 2. Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen 552 VII. Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht 553 1. Grundsatz der Verfahrensautonomie 553 2. Temporäre Suspendierung des Vorrangs des Unionsrechts 554 3. Schranken der Konformauslegung 554 4. Staatshaftung 556 3. Teil Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 17 Europäisches Arbeitsrecht 557 I. Grundlagen 558 II. Übergreifende systematische Erwägungen 562 1. Mindestvorschriften und Grad der Harmonisierung
562
XXIV
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2. Inneres System und favor laboris als Argumente? 3. Tarifautonomie und Unionsrecht 567 III. Auslegung des Sekundärrechts 568 1. Wortlaut 568 2. Systematik 570 3. Entstehungsgeschichte 573 4. Regelungszweck 574 5. Pragmatische Schlüsse 579 6. Praktische Wirksamkeit 580 7. Rechtsvergleichung 581 8. Rechtsfortbildung 583 IV. Auslegung des Primärrechts 584 1. Allgemeines 584 2. Grundfreiheiten und Arbeitsrecht 586 3. Grundrechte 588 4. Diskriminierungsverbote 590 5. Primärrechtskonforme Interpretation 593 6. Allgemeine Rechtsgrundsätze 593 V. Schlussbemerkung 594
564
§ 18 Kapitalmarktrecht 597 I. Einleitung 598 II. Junges dynamisches Rechtsgebiet 599 1. Laufende Entwicklung des Markts 599 2. Das kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren 601 3. Rechtschutzdefizit 606 4. Von der teilharmonisierenden Richtlinie zur vollharmonisierenden Verordnung 608 5. Besonderheiten für die Interpretation der Normen 609 6. Exkurs: Internationale Rechnungslegungsstandards 614 III. Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts 617 IV. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie 618 1. Öffentliches – Privates Recht 618 2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur 620 3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur 622 4. Vertragliche Regelungen 623 5. Schutzgesetzcharakter von Normen 623 6. Gespaltene Interpretation 625 V. Resümee 627
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XXV
§ 19 Europäisches Kartellrecht 629 I. Die Quellen des EU-Kartellrechts 631 1. Primärrecht 631 2. Sekundärrecht 632 a) Die Kartellverordnung 632 b) Gruppenfreistellungsverordnungen 633 c) Die Fusionskontrollverordnung 634 3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission 635 II. Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen 637 1. Autonome Begrifflichkeit 638 2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung 640 3. Das Verhältnis der europäischen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot 643 4. Die Rolle der europäischen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? 644 III. Die Ausstrahlung des europäischen Kartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht 646 1. Vorrang des europäischen Kartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts 646 2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts 648 a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeglichener GWB-Normen 649 b) Vorlagemöglichkeit? 649 3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht 651 Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung § 20 Die Rechtsprechung des EuGH 653 I. Allgemeines 654 II. Auslegung des Unionsrechts 658 1. Auslegungskanon 658 a) Wörtliche Auslegung 658 b) Systematische Auslegung 660 c) Teleologische Auslegung 661 2. Unionsrechtstypische Auslegungsregeln 663 a) Autonome und einheitliche Auslegung 664 b) Primärrechtskonforme Auslegung 664 c) Völkerrechtskonforme Auslegung 665 d) Rechtsvergleichende Auslegung 666
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III. Auslegung des nationalen Rechts 672 1. Vertragsverletzungsverfahren 672 2. Schiedsverfahren 673 3. Unionsrechtlicher Verweis auf nationales Recht 674 4. Unionsrechtskonforme Auslegung 674 IV. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht 679 V. Kontrolldichte bei der Gültigkeitsprüfung 689 VI. Bedeutung von Präjudizien 694 VII. Ausblick 697 § 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) 699 I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB 701 1. Öffentliches Recht 701 2. Zivil- und Arbeitsrecht 703 3. Strafrecht 703 II. Auslegungskompetenz der OGB 704 1. Auslegungsmonopol des EuGH 704 a) Auslegung des Unionsrechts 704 b) Anwendung des Unionsrechts 705 c) Gültigkeit des Unionsrechts 706 2. Vorlagerecht 707 a) Entscheidungserhebliche Fragen 707 b) Vorlagezeitpunkt 708 c) Vorlageberechtigte Gerichte 709 d) Vorlageermessen 709 3. Vorlagepflicht der OGB gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV 710 a) Grundsatz 710 b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht 710 aa) Klärung durch den EuGH 710 bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EU-Rechts 711 cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH 713 c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht 715 4. Vorlageverfahren vor den OGB 716 a) Form und Anlass der Vorlage 716 b) Inhalt des Vorlagebeschlusses 717 aa) Tenor 717 bb) Begründung 717 cc) Praxis der OGB 719 c) Technische Abwicklung 719
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Vorlageverfahren vor dem EuGH 720 a) Schriftliches Vorverfahren 720 b) Mündliche Verhandlung 720 c) Urteil des EuGH 720 d) Parallelverfahren 721 III. Auslegungssituationen 721 1. Vorabentscheidungsersuchen 721 2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen 722 3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts a) Primäres Gemeinschaftsrecht 723 b) Verordnungsrecht 724 aa) Öffentliches Recht 724 bb) Zivilrecht 725 c) Richtlinien und (Rahmen-)Beschlüsse 727 4. Anwendung von Umsetzungsvorschriften 728 a) Umsetzungspflicht 728 b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften 729 aa) EU-konforme Auslegung 729 bb) Überschießende Umsetzung 731 c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln 732 5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften 6. Haftung für verspätete Umsetzung von EU-Recht 733 a) EU-rechtliche Haftung 733 b) Amtshaftung 734 7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten 735 a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten 735 b) Überbrückung durch Rechtsprechung 735 IV. Auslegungsmethoden 736 1. Vorbemerkung 736 2. Wortlautauslegung 737 3. Systematische Auslegung 737 4. Historische Auslegung 738 5. Teleologische Auslegung 738 V. Fazit 739 5.
Abschnitt 3 Perspektiven anderer Mitgliedstaaten § 22 Frankreich 741 I. Vorbemerkung 742 II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem 1. Die Normenhierarchie der Fünften Republik 743
743
723
733
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2. Das französische Gerichtssystem 745 3. Methoden der Rechtsanwendung und die Rolle der Gerichte 748 4. Der Prüfungsmaßstab der contrôle concret und der style direct 750 III. Unionsrecht und nationales (französisches) Recht 755 1. Allgemeines Verhältnis zum Völkerrecht 756 2. Verhältnis zum Unionsrecht 759 3. Das Verhältnis von französischem Verfassungsrecht und Unionsrecht 764 a) Die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel 765 b) Die Positionierung des Conseil d’État 768 c) Die Cour de cassation zwischen QPC und Unionsrecht 770 IV. Europäische Methodenlehre im nationalen Recht 774 1. Die Konventionalitätskontrolle als genuin richterliche Befugnis 775 2. Die Geltendmachung des Unionsrechts 777 V. Der jurisdiktionelle Dialog in Europa 780 § 23 Vereinigtes Königreich 783 I. Einleitung 784 II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem 786 1. Fallrecht 786 a) Vertikale und horizontale Dimension der Präjudizienbindung 786 b) Methodik des Fallrechts 788 c) Rechtsschöpfung durch die Gerichte? 789 2. Gesetzesrecht 790 a) Die klassische Auslegung nach dem Wortlaut 791 b) Die moderne Auslegung nach Sinn und Zweck 792 c) Auslegung und Präjudizienbindung 794 III. Unionsrecht und nationales Recht auf der Grundlage des European Union (Withdrawal) Act 2018 (EUWA) 795 IV. Europäische Methodenlehre und rezipiertes Unionsrecht 798 1. Sekundärrecht und nationale Gerichte 798 a) Die Auslegung des Sekundärrechts vor dem Inkrafttreten des EUWA 798 b) Die Auslegungsgrundsätze des EUWA 801 c) Vorlagepraxis 802 2. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, insbesondere rezipierten Unionsrechts 803 a) Spezifisches Umsetzungsrecht (auf Unionsrecht basierendes nationales Recht, sec. 2 EUWA) 804
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b) Sonstiges Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie 807 V. Fazit 810 813 § 24 Spanien I. Einleitung 814 II. Das spanische Rechts- und Gerichtssystem 815 III. Unionsrecht und spanisches Recht 816 1. Vorrang des Unionsrechts 816 2. Der besondere Rechtspluralismus 818 IV. Europäische Methodenlehre im spanischen Recht 821 1. Allgemeine Fragen 821 a) Auslegung und Rechtsfortbildung des Unionsrechts b) Die Rolle der Lehre 824 c) Soft Law 825 2. Primärrecht 827 a) Nicht-legislatorische und präventive Harmonisierung b) Die primärrechtskonforme Auslegung 828 3. Sekundärrecht 829 a) Umsetzungstechniken 829 b) Wirkungen nach der Umsetzungsfrist 836 c) Die Vorwirkung von Richtlinien 837 d) Die richtlinienkonforme Auslegung 837
821
827
§ 25 Polen 839 I. Einleitung 840 II. Grundlagen 841 1. Rechts- und Gerichtssystem 841 2. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung 842 3. Polnische Auslegungsmethoden; Einfluss durch das Unionsrecht 843 III. Justizreformen 846 1. Die Entmachtung des polnischen Verfassungsgerichtshofs ab 2015 846 2. Der Zustand der übrigen Gerichtsbarkeit; Kooperation mit Luxemburg 848 a) Nationale Entwicklung 848 b) Verfahren vor dem EuGH 851 3. Verlust gegenseitigen Vertrauens 854 IV. Die Anwendung von Unionsrecht durch polnische Gerichte 855 1. Verfassung und Unionsrecht; Anwendungsvorrang 855 2. Auslegung von Unionsrecht durch polnische Gerichte 857
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3. Europarecht und nationales Recht; Umgang mit EuGH-Entscheidungen durch polnische Gerichte 858 V. Fazit 863 Stichwortregister
865
Autorenverzeichnis Thomas Ackermann Klaus Jochen Albiez Dohrmann Ulrike Babusiaux Christian Baldus Ronny Domröse Carola Drechsler Jens-Uwe Franck Martin Franzen Stefan Grundmann Mathias Habersack Jan Dirk Harke Christian Hofmann Christian Jopen Susanne Kalss Johannes Köndgen Stefan Leible Hans Christian Mayer Oliver Mörsdorf Florian Möslein Jörg Neuner Matthias Pechstein Thomas Raff Robert Rebhahn Karl Riesenhuber Frank Rosenkranz Wulf-Henning Roth Anne Röthel Michael Schillig Johanna SchmidtRäntsch Andreas Schwartze Sixto Sánchez Lorenzo Rüdiger Stotz
Dr.iur., LL.M., Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr.iur., Professor an der Universität Granada Dr.iur., Professorin an der Universität Zürich Dr.iur., Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Notar in Potsdam Dr.iur., Staatskanzlei des Landes Schleswig-Holstein Dr.iur., LL.M., Professor an der Universität Mannheim Dr.iur., Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr.iur., Dr.phil., LL.M., Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr.iur., Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr.iur., Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Richter am Thüringer Oberlandesgericht Dr.iur., LL.M., Associate Professor an der National University of Singapore Rechtsanwalt in Düsseldorf Dr.iur., LL.M., Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien Dr.iur., Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr.iur., Professor an der Universität Bayreuth Dr.iur., M.Jur., Richter am Landgericht München I Dr.iur., Privatdozent an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr iur., LL.M., Professor an der Philipps-Universität Marburg Dr.iur., Professor an der Universität Augsburg Dr.iur., Professor an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr.iur., Notar in Ludwigshafen am Rhein Dr.iur., weiland Professor an der Universität Wien Dr.iur., M.C.J., Professor an der Ruhr-Universität Bochum, Richter am Oberlandesgericht Hamm Dr.iur., Juniorprofessor an der Ruhr-Universität Bochum Dr.iur., LL.M., em. Professor an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn Dr.iur., Professorin an der Bucerius Law School, Hamburg Dr.iur., LL.M., Professor of Law am King’s College London, Rechtsanwalt in London Dr.iur., Richterin am Bundesgerichtshof Dr.iur., LL.M., Professor an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Dr.iur., Professor an der Universität Granada Dr.iur., LL.M., Honorarprofessor an der RWTH Aachen, Generaldirektor a.D. des Gerichtshofs der Europäischen Union
https://doi.org/10.1515/9783110614305-205
Abkürzungsverzeichnis A. A./a. A. A.C. a. E. a. F. A. M./a. M. aaO ABGB abgedr. ABI.
Abl./abl. Abs. abw. AcP ADC AEGRR AEL AEUV
AG AGB AGBG AGG AHGB ähnl. AJDA AktG All E.R. Am. Econ. Rev. AN– Anh. Anm. AnwBl AöR AP Appl. ArbG ArbGG ArbRB ARC ARSP Art.
andere(r) Ansicht Law Reports, Appeal Cases ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) am Ende alte Fassung anderer Meinung am angegebenen Ort (österreichisches) Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch abgedruckt 1. für Veröffentlichungen vor dem 1. Februar 2003: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (Jahr Reihe Nummer des Dokuments/Seite); 2. für Veröffentlichungen ab dem 1. Februar 2003: Amtsblatt der Europäischen Union (Jahr Reihe Nummer des Dokuments/Seite) ablehnend Absatz abweichend Archiv für die civilistische Praxis (Jahrgang [Jahr], Seite) Anuario de Derecho Civil (Jahr, Seite) Akademischer Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens; s. a. DCFR Academy of European Law – Distinguished Lectures of the Academy Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, konsolidierte und umbenannte Fassung des Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft mit den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 1. Aktiengesellschaft; 2. Amtsgericht; 3. als Fundstelle: Die Aktiengesellschaft (Jahr, Seite) Allgemeine(n) Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (österreichisches) Allgemeines Handelsgesetzbuch ähnlich/e Actualité Juridique de Droit Administratif (Jahr, Seite) Aktiengesetz All England Law Reports ([Jahr] Teilband, Seite) American Economic Review (Jahrgang [Jahr], Seite) ArbeitnehmerAnhang Anmerkung Anwaltsblatt (Jahr, Seite) Archiv für öffentliches Recht (Jahrgang [Jahr], Seite) Arbeitsrechtliche Praxis (Nummer zu Norm) Application; s. EGMR Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Der Arbeits-Rechts-Berater (Jahr, Seite) Accounting Regulatory Committee Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Band [Jahr], Seite) Artikel
https://doi.org/10.1515/9783110614305-206
XXXIV
ARUG AS ASCOLA Ass. AuAS Aufl. ausdr ausf. Ausg. AuslInvestmG Außenwirtschaft AWD AWG AWV B.C.C. B.I.M.J. b2b b2c BaFin BAG BAGE BB Bd. Bde. BE bearb. BeckRS Begr. BEHG Beil. Benelux ber. bes. Beschl. BeschlE Bespr. BFH BFH/NV BFHE BGB BGBl. BGer BGH BGH-Report
Abkürzungsverzeichnis
Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie Aranzadi Social (Jahr/Seite) Academic Society for Competition Law Assemblée du contentieux, s.a. C. E. Ausländer- und asylrechtlicher Rechtsprechungsdienst (Jahr, Seite) Auflage ausdrücklich ausführlich Ausgabe Gesetz über den Vertrieb ausländischer Investmentanteile und über die Besteuerung der Erträge aus ausländischen Investmentanteilen Außenwirtschaft – Schweizerische Zeitschrift für internationale Wirtschaftsbeziehungen (Jahrgang [Jahr], Seite) Außenwirtschaftsdienst (Jahr, Seite); seit 1975 RIW (siehe dort) Außenwirtschaftsgesetz Verordnung zur Durchführung des Außenwirtschaftsgesetzes British Company (Law) Cases ([Jahr] – Seite) Boletín Informativo del Ministerio de Justicia (Nummer, Monat Jahr) business to business business to comsumer Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesarbeitsgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundesarbeitsgerichts (Band, Seite) Betriebs-Berater (Jahr, Seite) Band Bände Begründungserwägung(en) (vgl. Art. 296 AEUV/253 EG) bearbeitet Beck-Rechtsprechung (Jahr, Nummer) 1. Begründung; 2. bei Literaturangaben: Begründer (schweizerisches) Börsen- und Effektenhandelsgesetzes Beilage Belgien, Niederlande, Luxemburg berichtigt besonders Beschluss, s.a. Urt. Beschlussempfehlung Besprechung Bundesfinanzhof Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (Jahr, Seite) amtliche Entscheidungssammlung des Bundesfinanzhofs (Band, Seite) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt (ggfs. Jahr Teil, Seite) (schweizerisches) Bundesgericht Bundesgerichtshof BGH-Report, Schnelldienst zur Rechtsprechung des BGH (Jahr, Seite)
Abkürzungsverzeichnis
BGHSt
XXXV
bzgl. bzw.
amtliche Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Band, Seite ggf. Randnummer) amtliche Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Band, Seite ggf. Randnummer) Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht (Jahr, Seite) Blutalkohol (Jahr, Seite) identisch mit EuGVVO (siehe dort) identisch mit EuEheVO (siehe dort) Bundessozialgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundessozialgerichts (Band, Seite) Beispiel Bundessteuerblatt (Teil Jahr, Seite) Bundestags-Drucksache (Legislaturperiode/Nummer der Vorlage, Seite) British Tax Review (Jahr, Seite) Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Ordnungsziffer Norm, Nummer) Bulletin des arrêts de la Cour de cassation en matière civile (ggf. Band, Nummer, ggf. Seite) Bulletin d’information de la Cour de cassation (Datum, Seite) Bulletin des arrêts de la Cour de cassation en matière criminelle (ggf. Band, Nummer, ggf. Seite) Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (Betriebsübergangsrichtlinie) Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (Betriebsübergangsrichtlinie 1977) Bundesverfassungsgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (Band, Seite) Entscheidungssammlung der Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Band, Seite) Bundesverwaltungsgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts (Band, Seite) bezüglich beziehungsweise
C. A. C. civ. C. E. c. i. c. C. trav. CA ca. Cambr.L.J.
(französischer) Cour d’appel (französischer) Code civil (französischer) Conseil d’État culpa in contrahendo (französischer) Code du travail Companies Act 2006 cirka Cambridge Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite)
BGHZ BIZ BKR Blutalkohol Brüssel I-VO Brüssel IIa-VO BSG BSGE Bsp. BStBl BT-Drs. BTR Buchholz Bull. civ. Bull. d’information Bull. crim. BÜRL
BÜRL 1977
BVerfG BVerfGE BVerfGK BVerwG BVerwGE
XXXVI
Abkürzungsverzeichnis
Cass. Cass. Ass. Cass. civ. Cass. crim. Cass. com. Cass. mixte Cass. soc. Cc CCE CCom CE CESR CFR Ch. CISG CISG-online Cl. & Fin.
1. (französische) Cour de Cassation; 2. (italienischer) Corte di cassazione (französische) Cour de Cassation, Assemblé plénière (französische) Cour de Cassation, Chambre civile (ggf. unter Angabe der Zahl der Kammer) (französische) Cour de Cassation, Chambre criminelle (französische) Cour de Cassation, Chambre commerciale (französische) Cour de Cassation, Chambre mixte (französische) Cour de Cassation, Chambre sociale (spanischer) Código civil, s. a. port. CC Communication et Commerce électronique (Jahr, Nummer) (spanischer) Código de Comercio (spanische) Constitución Española Comitee of European Securities Regulators (= Ausschusses der EU-Wertpapierregulierungsbehörden) Common Frame of Reference (= Gemeinsamer Referenzrahmen), s. a. GRR und DCFR Law Reports, Chancery Division ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) Convention on the International Sale of Goods vom 11. April 1980; auch UN-Kaufrecht oder Wiener Kaufrecht genannt Urteilsdatenbank unter www.cisg-online.ch (Nr.) Clark & Finelly’s House of Lords Reports ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s. a. H. L. C. Case Law on UNCITRAL Texts Common Market Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Columbia Journal of Transnational Law (Jahrgang [Jahr], Seite) Columbia Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Revue des droits de la concurrence (Jahr, Seite) (französischer) Conseil constitutionnel (italienischer) Consiglio di Stato (französische) Verfassung der Fünften Republik von 1958 Cornell Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Corriere giuridico (Jahr, Seite) (italienischer) Corte costituzionale Competition Policy International (Jahrgang [Jahr], Seite) Croatian Yearbook of European Law and Policy (Jahrgang [Jahr], Seite)
CLOUT CMLR Colum. J. Transnat’l L. Colum. L. Rev. Concurrences Cons. const. Cons. Stato Const Cornell L. Rev. Corr. giur. Corte cost. CPI CYELP D. d. h. DAR DB DCFR déc. Der Konzern
ders. DGRN dies. diff. Dig.
Recueil Dalloz das heißt Deutsches Autorecht (Jahr, Seite) Der Betrieb (Jahr, Seite) Draft Common Frame of Reference, s.a. CFR und AEGRR décision (Nummer Datum), s.a. Cons. const. Der Konzern, Zeitschrift für Gesellschaftsrecht, Steuerrecht, Bilanzrecht und Rechnungslegung der verbundenen Unternehmen (Jahr, Seite) derselbe (spanische) Dirección General de los Registros y del Notariado dieselbe/n differenzierend(en) Digesten
Abkürzungsverzeichnis
Dir. pubbl. comp. europeo Diss. DLRL
DM DNotZ DÖV DPMA Dr Soc DRiZ DStR dt. DVBl. DZWiR E.H.R.L.R. E.L.Rev. E.L.Rep. E.R. E-SPE-VO EB EBA ebd. EBLR EBOR ECA ECJ ECLR ecolex EComRL
Economica ECTIL ECU EDP EFRAG EFSL EG
EGBGB EGMR
XXXVII
Diritto pubblico comparato europeo (Jahr, Seite) Dissertation Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie) Deutsche Mark Deutsche Notar-Zeitschrift (Jahr, Seite) Die öffentliche Verwaltung (Jahr, Seite) Deutsches Patent- und Markenamt Droit Social (Jahr, Seite) Deutsche Richterzeitung (Jahr, Seite) Deutsches Steuerrecht (Jahr, Seite) deutsch(e) Deutsches Verwaltungsblatt (Jahr, Seite) Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht (Jahr, Seite) European human rights law review (Jahr, Seite) European Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) European Law Reporter (Jahr, Seite) Englisch Reports ([Jahr] Band – Seite) Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft vom 25. Juni 2008 Erläuternde Bemerkungen (Gesetzesbegründung, Österreich) European Banking Authority (= Europäische Bankenaufsichtsbehörde) ebenda European Business Law Review (Jahr, Seite) European Business Organization Law Review (Jahr, Seite) European Communities Act 1972 European Competition Journal (Jahr, Seite) European Competition Law Review (Jahr, Seite) ecolex – Fachzeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (E-Commerce-Richtlinie) Economica (Jahr [Jahr], Seite) European Centre of Tort and Insurance Law European currency unit Europa e diritto privato (Jahr, Seite) European Financial Reporting Advisory Group European Financial Services Law (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. Europäische Gemeinschaft; 2. nach Bezeichnung eines Artikels: EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung mit den Änderungen des am 16. April 2003 unterzeichneten Vertrags von Athen Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
XXXVIII
EGV
EGZPO EHUG Einl. EIOPA
EJ L. & Econ. EKG EL ELJ EMRK
endg engl. EPA EPC EPS ERA Forum ERCL ERPL ESC ESFS ESMA EU
EuEheVO
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EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung mit den Änderungen des am 7. Februar 1992 unterzeichneten Vertrags über die Europäische Union (Maastrichter Fassung) Gesetz betreffend die Einführung der Zivilprozeßordnung Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister Einleitung European Insurance and Occupational Pensions Authority (= Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung) European Journal of Law and Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Einheitliches Kaufgesetz Ergänzungslieferung European Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) vom 4. November 1950, idF der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002 endgültig (als Zusatz zu KOM- und SEK-Dokumenten), s. a. KOM und SEK englisch(e) Equal Pay Act 1970 European Payment Council Europejski Przegląd Sądowy (Heftnummer/Jahr, Seite) Europäische Rechtsakademie Forum (Jahr, Seite) European Review of Contract Law (Band [Jahr], Seite) European Review of Private Law – Revue européenne de droit privé – Europäische Zeitschrift für Privatrecht (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. European Securities Comitee (= EU-Wertpapierausschuss); 2. Europäische Sozialcharta European System of Financial Supervision (=Europäisches Finanzaufsichtssystem) European Securities and Markets Authority (= Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde) 1. Europäische Union; 2. nach Bezeichnung eines Artikels: EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung mit den Änderungen des am 16. April 2003 unterzeichneten Vertrags von Athen Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000; s. a. Brüssel IIa-VO Gericht Erster Instanz; s.a. EuGH Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, s.a. EuG Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Verfahrensordnung des Gerichtshofes des Europäischen Union Europäische Grundrecht-Zeitschrift (Jahr, Seite) Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968
EuG EuGH EuGH-Satzung EuGH-VerfO EuGRZ EuGVÜ
Abkürzungsverzeichnis
EuGVVO
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Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen; s. a. Brüssel I-VO Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über das Insolvenzverfahren Europarecht (Jahr, Seite) Informationsdienst Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (Jahr, Seite) EU-Vertrag seit Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007; s. a. EU, EUV a. F., AEUV EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 (Maastricht-Vertrag); s. a. EU, EUV Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) (österreichisches) Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen, veröffentlicht in der ÖJZ (Jahr/Nummer) eventuell(en) Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom England and Wales Court of Appeal (Civil Division) Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) 1. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; 2. nach Bezeichnung eines Artikels: Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) vom 25. März 1957; s. a. AEUV, EG, EGV England & Wales High Court (Commercial Court) Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli 1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV) Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Jahr, Seite) Europäische Zentralbank
EuInsVO EuR EuroAS EUV
EUV a. F.
EuZA EUZBLG EUZBBG EuZW EvBl evtl. EVÜ EWCA Civ EWG
EWHC (Comm) EWiR EWIV EWIV-VO EWR EWS EZB f., ff. F. FamRZ FARL
FFH FG FGO FIW
folgende (singular/plural) bei Entscheidungen eines U. S. Courts of Appeals: Federal Reporter (Band – Serie Seite [Gericht Entscheidungsjahr]) Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (Jahr, Seite) Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (Fernabsatzrichtlinie) Fauna-Flora-Habitat Festgabe Finanzgerichtsordnung Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V.
XL
Abkürzungsverzeichnis
FKVO FMA Fn. Fordham Int’l LJ Foro it. fortgef. frdl. FS FSAP FSMA
Fusionskontrollverordnung (österreichische) Finanzmarktaufsicht Fußnote Fordham International Law Journal (Jahr, Seite) Il Foro italiano (Jahr Abteilung, Seite) fortgeführt freundlicher Festschrift Financial Services Action Plan Financal Services and Markets Act
G. it. G.U GA Ga. J. Int’l & Comp. L.
Giurisprudenza italiana (Jahr, Seite) Gazzetta Ufficiale Generalanwalt, Generalanwältin Georgia Journal of International and Comparative Law (Jahrgang [Jahr], Seite) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Gesellschaft bürgerlichen Rechts Generaldirektion (der Europäischen Kommission) Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, siehe V-GEK und V-GEKVO Zeitschrift für Gesellschafts- und Steuerrecht (Jahr, Seite) Gesetz Der Gesellschafter – Zeitschrift für Gesellschafts- und Unternehmensrecht (Jahr, Seite) Gewerbeordnung Grundgesetz gegebenenfalls Giurisprudenza costituzionale (Jahr Abteilung, Seite) Giurisprudenza italiana (Jahr Abteilung, Seite) German Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau (Jahr, Seite) Zeitschrift für das Privatrecht der Europäischen Union (Jahr, Seite) Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung grundsätzlich Gemeinsamer Referenzrahmen; s. a. AEGRR und CFR grundlegend Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart (Jahrgang [Jahr], Seite) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Internationaler Teil (Jahr, Seite) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Jahr, Seite) Gedächtnisschrift Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Gewerbemiete und Teileigentum (Jahr, Seite) Gruppenfreistellungsverordnung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
GASP GbR GD GEK GeS Ges. GesRZ GewO GG ggf. Giur.cost. Giur. it. GLJ GmbH GmbHG GmbHR GPR GRCh grds. GRR grundl. GrünhutsZ GRUR Int. GRUR GS GSVP GuT GVO GWB
Abkürzungsverzeichnis
H.L.C.
XLI
Clark & Finelly’s House of Lords Reports New Series ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s. a. Cl. & Fin. herrschende(n) Lehre herrschende(n) Meinung Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) Hastings International and Comparative Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite)
h. L. h. M. HABM Hastings Int’l & Comp. L. Rev. HGB HLL HRA Hrsg. hrsgg. Hs HtWRL
HVertrRL
HVerwG HWiG I. C. R. i. d. S. i. E. i. Erg. i. e. S. i. O. i. S. i. S. d. i. S. v. i. Ü. i. w. S. IAS
IAS-VO
IASB ICC ICLQ idF idR IFRIC IFRS IFRS-VO
IGH
Handelsgesetzbuch Handbuch der Lateinischen Literatur der Antike Human Rights Acts 1998 Herausgeber(in) herausgegeben Halbsatz Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (Haustürgeschäfterichtlinie) Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbstständigen Handelsvertreter (Handelsvertreterrichtlinie) (polnisches) Hauptverwaltungsgericht (Naczelny Sąd Administracyjny) Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften Industrial Cases Reports ([Jahr] – Seite) in diesem Sinne im Einzelnen im Ergebnis im engeren Sinne im Original im Sinne im Sinne des/der im Sinne von im Übrigen im weiteren Sinne International Accounting Standard (ggf. Nummer); International Accounting Standards Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Juli 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards International Accounting Standards Board International Chamber of Commerce The International and Comparative Law Quarterly (Jahrgang [Jahr], Seite) in der Fassung in der Regel International Financial Reporting Interpretations Committee International Financial Reporting Standards Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Juli 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards Internationaler Gerichtshof
XLII
Abkürzungsverzeichnis
IJ IJEL ILJ ILO insbes InsO Int’l Comp. Corp. LJ Int’l Rev. L. & Econ. Internat. IPR IPRax IPRspr. IStR iVm IVRA IVU IWB J. Econ. Bahav. & Org. J. Int’l Econ. L. J. L. Econ. & Org. J. Law & Econ. J. Leg. Stud. JbFfSt JbJZ JBl. JBL JCE JCLE JCLS JCP Jh. JherJb JR JuMoG JUR juris Jura JuS JZ K.B. K&R Kap.
Institutiones des Justinian Irish Journal of European Law (Jahrgang [Jahr], Seite) The Industrial Law Journal (Jahr, Seite) International Labour Organisation (= Internationale Arbeitsorganisation) insbesondere Insolvenzordnung International and Comparative Corporate Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) International Review of Law and Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Internationles Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrecht (Jahr, Seite) Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des Internationalen Privatrechts (Entscheidungssammlung) (Jahr, Nummer) Internationales Steuerrecht (Jahr, Seite) in Verbindung mit Rivista internazionale di diritto romano e antico (Jahrgang [Jahr], Seite) Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung Internationale Wirtschafts-Briefe (Jahr, Seite) Journal of Economic Behavior & Organization (Jahrgang [Jahr], Seite) Journal of International Economic Law Journal of Law, Economics and Organization (Jahrgang [Jahr], Seite) Journal of Law & Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Journal of Legal Studies (Jahrgang [Jahr], Seite) Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht (Jahr, Seite) Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler (Tagungsjahr, Seite) Juristische Blätter (Jahr, Seite) The Journal of Business Law (Jahr, Seite) Journal of Comparative Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Journal of Competition Law & Economics (Jahr, Seite) Journal of Corporate Law Studies (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. Journal of Consumer Policy (Jahrgang [Jahr], Seite); 2. Juris-Classeur périodique (la semaine juridique) (Jahr, Sektion Ordnungsziffer, ggfs. Seite) Jahrhundert Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts (Jahrgang [Jahr], Seite) Juristische Rundschau (Jahr, Seite) Justizmodernisierungsgesetz Repertorio de resoluciones no publicadas en CD/DVD – Aranzadi/Westlaw (Jahr/Nummer, ggfs. Randnummer) Urteilsdatenbank im Online-Rechtsportal www.juris.de Juristische Ausbildung (Jahr, Seite) Juristische Schulung (Jahr, Seite) Juristenzeitung (Jahr, Seite) The Law Reports, King’s Bench (England and Wales) ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) Kommunikation und Recht (Jahr, Seite) Kapitel
Abkürzungsverzeichnis
KapRL
KG KGRL
KMU KOM
KPP krit KSchG KWG L. Q. R. La Notaría LEC LeGes
LEX Lex/el. LG LGDCU LIEI Lit. lit. LJ LMG
LOPJ LRE LS LSA Ltd LugÜ
LVersRL
XLIII
Zweite Richtlinie des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitglied-staaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91/EWG) (Kapitalrichtlinie) Kammergericht (Berlin) Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (Kaufgewährleistungs-Richtlinie) Kleine und mittlere Unternehmen KOM-Dokumente: Legislativvorschläge und sonstige Mitteilungen der Europäischen Kommission an den Rat und/oder die anderen Organe sowie die entsprechenden vorbereitenden Dokumente ([Jahr] Nummer, ggf. Seite) Kwartalnik Prawa Prywatnego (Heftnummer/Jahr, Seite) kritisch (österreichisches) Konsumentenschutzgesetz Kreditwesengesetz Law Quarterly Review (Jahrgang [Jahr], Seite) La Notaría ([Heftnummer] Jahr, Seite) (spanisches) Ley de Enjuiciamiento Civil Gesetzgebung & Evaluation – Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Gesetzgebung und der Schweizerischen Evaluationsgesellschaft (Jahr, Seite) (polnische) Datenbank Lex (polnische) Datenbank LEX Prawo Europejskie Landgericht Ley para Defensa de los Consumidores y Usarios vom 19. Juli 1984 Legal Issues of European Integration (Jahrgang [Jahr], Seite) Literatur litera Lord Justice; Lady Justice (österreichisches) Bundesgesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Verzehrprodukten, Zusatzstoffen, kosmetischen Mitteln und Gebrauchsgegenständen (Lebensmittelgesetz) (spanisches) Ley Orgánica del Poder Judicial Sammlung lebensmittelrechtlicher Entscheidungen (Band, Seite) Leitsatz; Leitsätze ley de sociedades anónimas = (spanisches) Aktiengesetz Company Limited by Shares Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, geschlossen in Lugano am 16. September 1988 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (Lebensversicherungsrichtlinie)
XLIV
Abkürzungsverzeichnis
m. M. E./m. E. M.P.
m.umf.N. MaBV maW MDR MERL
MiFID Mio. MLR MoMiG MR Mskr. mwN n. Chr. n. F. N. F. Nachw. NBW NCPC Ndr. NJOZ NJW NJW-RR NOR NotBZ
mit meines Erachtens Dziennik Urzędowy Rzeczpospolitej Polskiej „Monitor Polski“ (Jahr/Heftnummer/Positionsnummer) mit umfangreichen Nachweisen Verordnung über die Pflichten der Makler, Darlehens- und Anlagenvermittler, Anlageberater, Bauträger und Baubetreuer mit anderen Worten Monatsschrift für Deutsches Recht (Jahr, Seite) Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.6.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie) Markets in Financial Instruments Directive Millionen The Modern Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Master of the Rolls Manuskript(s) mit weiteren Nachweisen
NTHR NS NuR NVwZ NZA NZA-RR NZG NZBau NZM
nach Christus neue Fassung bei Universitätsreden: Neue Folge (Jahrgang, Seite) Nachweis(e) Nieuw Burgerlijk Wetboek Nouveau Code de Procédure Civile Nachdruck Neue Juristische Online-Zeitschrift (Jahr, Seite) Neue Juristische Wochenschrift (Jahr, Seite) Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungsreport (Jahr, Seite) système NOR (franz. Numerierungssystem für Rechtsvorschriften) Zeitschrift für die notarielle Beratungs- und Beurkundungspraxis (Jahr, Seite) Nederlands Tijdschrift voor Handelsrecht Nationalsozialistisch(en) Natur + Recht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht – Rechtsprechungsreport (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Baurecht Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht (Jahr, Seite)
ÖBA öBGBl öBörseG OG OGB
Zeitschrift für das gesamte Bank- und Börsenwesen (Jahr, Seite) Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich (Nummer/Jahr) (österreichisches) Börsegesetz (polnisches) Oberstes Gericht (Sąd Najwyższy) Oberste Gerichtshöfe des Bundes
XLV
Abkürzungsverzeichnis
OGH oHG/OHG OIR ÖJZ OLG ONSAiWSA ORDO Orig OSNC OSNP OSP ÖStZ OTK-A
Pace Int’l L. Rev. para. PECL PEICL PHRL
PIN PiP PJZS PKG plc. plnVerf port. CC pr.ALR PRRL
Q.B. Q.B.D. QJE QPC RabelsZ RdA RDCE RdL RDT RDUE
(österreichischer) Oberster Gerichtshof offene Handelsgesellschaft Orbis Iuris Romani (Jahrgang [Jahr], Seite) Österreichische Juristen-Zeitung (Jahr, Seite); s. a. EvBl Oberlandesgericht Orzecznictwo Naczelnego Sądu Administracyjnego i wojewódzkich sądów administracyjnych (Heftnummer/Jahr, Seite) Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Jahrgang [Jahr], Seite) Original Orzecznictwo Sądu Najwyższego. Izba Cywilna (Heftnummer/Jahr, Seite) Orzecznictwo Sądu Najwyższego. Izba Pracy, Ubezpieczeń Społecznych i Spraw Publicznych (Heftnummer/Jahr, Seite) Orzecznictwo Sądów Polskich (Heftnummer/Jahr, Seite) Österreichische Steuer-Zeitung (Jahr, Seite) Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego – Serie A (Heftnummer/Jahr, Seite)
Pace International Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) paragraph Principles of European Contract Law Die Principles of European Insurance Contract Law Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsrichtlinie) Persönliche Identifikationsnummer Państwo i Prawo (Heftnummer/Jahr, Seite) Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (österreichisches) Pensionskassengesetz public limited company polnische Verfassung von 1997 (portugiesischer) Código Civil, s. a. Cc Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (Pauschalreiserichtlinie)
Law Reports, Queen’s Bench ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s. a. Q.B.D., K.B. Law Reports, Queen’s Bench Division ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s. a. Q.B., K.B. The Quarterly Journal of Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) question prioritaire de constitutionnalité
Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (Jahrgang [Jahr], Seite) Recht der Arbeit (Jahr, Seite) Revista de Derecho Comunitario Europeo (Jahr, Seite) Recht der Landwirtschaft (Jahr, Seite) Revue de Droit du Travail (Jahr, Seite) Revue du Droit de l’Union Européenne (Jahr, Seite)
XLVI
Abkürzungsverzeichnis
RdW Rec. Rec. Dalloz Rec. Dalloz Chron. RefE RefE-EGBGB
Österreichisches Recht der Wirtschaft (Jahr, Seite) Recueil des décisions du Conseil constitutionnel (Seite); Recueil des décisions du Conseil d’Etat (Seite) Recueil Dalloz (Jahr, Seite); seit 1999: Recueil le Dalloz (Jahr, Seite) Recueil Dalloz (Jahr) Chronique (Seite) Referentenentwurf EGBGB nach dem Referentenentwurf eines Gesetzes zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen; s. a. EGBGB Register regulation Regierungsentwurf Répertoire de droit européen Répertoire de droit civil ([Jahr], Nummer) nautaire / Rép. commRépertoire de droit communautaire ([Jahr] Nummer) Responsabilità civile e previdenza (Jahr, Seite) Revue critique de droit international privé Revue française de droit administratif (Jahr, Seite) Revue française de droit constitutionnel (Jahr, Seite) Reichsgericht Revista General de Derecho Revue générale du droit online amtliche Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen (Band, Seite) Recht der Internationalen Wirtschaft – Betriebs-Berater International (Jahr, Seite) Repertorio de Jurisprudencia (Jahr/Nummer, ggfs. Randnummer) Repertorio de Jurisprudencia de lo Contencioso-Administrativo (Jahr/Nummer, ggfs. Randnummer) Richtlinie Revue Lamy Droit de l'Immatériel (Jahr, Seite) Randnummer (s. a. Tz.) Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II) Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Społeczny (Heftnummer/Jahr, Seite) ReiseRecht aktuell (Jahr, Seite) Revue de la Recherche Juridique (Jahr, Seite) Rechtssache(n) Rechtsprechung Repertorio del Tribunal Constitucional – amtliche Entscheidungssammlung des spanischen Tribunal Constitucional (Jahr, Nummer, ggfs. Randnummer) Revue trimestrielle du droit civil (Jahr, Seite) Revue trimestrielle du droit européen (Jahr, Seite) Österreichische Richterzeitschrift (Jahr, Seite)
Reg. reg. RegE Rép. eur. Rép. droit civil Rép. droit commu– Resp.civ.e prev. Rev. crit. DIP RFDA RFDC RG RGD RGD online RGZ RIW RJ RJCA RL RLDI Rn. Rom I-VO
Rom II-VO
RPEiS RRa RRJ Rs. Rspr. RTC RTD civ. RTD eur. RZ
Abkürzungsverzeichnis
S. s. s. a. s. o. S. r. o. s. u. s. v. SAE SARG SavZRG – Germ. Abt. –
SavZRG – Rom. Abt. – sc. SCE SchiedsVZ SchlA SDA SDHI SE SECOLA SE-VO SEBG sec. SEEG SEK SEPA SGA SGG SIC Slg.
SLIM sog. SPE SPE-VO
1. Satz; 2. Seite; 3. Siehe siehe siehe auch siehe oben Společnost s ručením omezeným (tschechische GmbH) siehe unten sub verbo Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Jahr, Seite) Standards Advice Review Group Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Germanistische Abteilung – (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Romanistische Abteilung – (Jahrgang [Jahr], Seite) scilicet (nämlich, gemeint ist) Societas Cooperativa Europaea Zeitschrift für Schiedsverfahren (Jahr, Seite) Schlussanträge(n) Sex Discrimination Act 1975 Studia et Documenta Historiae Iuris (Jahrgang [Jahr], Seite) Societas Europea Society of European Contract Law Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz) section Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft SEK-Dokumente: interne Arbeitsdokumente der Europäischen Kommission ([Jahr] Nummer, ggf. Seite) Standard European Payment Area Sale of Goods Act 1979 Sozialgerichtsgesetz Standing Interpretations Committee Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Teil I) und (seit dem 15. November 1989) des Gerichts Erster Instanz (Teil II) (bis zum 14. November 1989: Jahr, Seite ggf. Randnummer, ab dem 15. November 1989: Jahr, Teil-Seite ggf. Randnummer) Simpler Legislation for the Internal Market sogenannte(n) Societas Privata Europaea Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft; s. a. E-SPE-VO Spiegelstrich Sommersemester Stanford Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Statute Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Strafgesetzbuch streitig, strittig studiosus iuris
Sps. SS Stan. L. Rev. Stat.L.R. StGB str. stud.iur.
XLVII
XLVIII
Abkürzungsverzeichnis
StudZR StuW sub SUP SVN Syst. Darst. SZ
Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft (Jahr, Seite) Steuer und Wirtschaft (Jahr, Seite) (lat.) unten Strategische Umweltprüfung Satzung der Vereinten Nationen Systematische Darstellung Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofs in Zivilsachen (Band/Nummer)
TA TC TGI TS tschech. HGB TSJ TSRL
(französisches) Tribunal administratif (spanisches) Tribunal Constitucional (französisches) Tribunal de grande instance (spanisches) Tribunal Supremo tschechisches Handelsgesetzbuch (spanisches) Tribunal Superior de Justicia Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Januar 2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen (Timesharingrichtlinie) Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 1981 Tarifvertragsgesetz Textziffer; s.a. Rn. Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz)
TUPE TVG Tz. TzBfG
u. a. U. Chi. L. Rev. u. ö. U.Pa.J.Int’l Econ.L.
U. S.
u. U. UAbs. uam UCC UCTA UG UGP UKHL
UKlaG UKSC ULR umstr UN
1. unter anderem; 2. und andere University of Chicago Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) und öfter University of Pennsylvania Journal of International Economic Law (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. United States; 2. als Fundstelle: (Jahrgang) United States Supreme Court Reports (Seite [Jahr]) unter Umständen Unterabsatz und andere(s) mehr Uniform Commercial Code Unfair Contract Terms Act 1977 Unternehmergesellschaft unlautere Geschäftspraktiken United Kingdom House of Lords Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) Gesetz über Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und anderen Verstößen United Kingdom Supreme Court Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) Utrecht Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) umstritten United Nations
Abkürzungsverzeichnis
XLIX
UN-Kaufrecht UNIDROIT unstr. unveröff. UP UPR UrhG Urt. USA Usf./usf. usw. UTCCR UVP UVR UWG
identisch mit CISG (siehe dort) Institut international pour l’unification du droit unstreitig unveröffentlichte UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts; s. a. UNIDROIT Umwelt- und Planungsrecht (Jahr, Seite) Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte Urteil(s) United States of America Und so fort und so weiter Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1999 Umweltverträglichkeitsprüfung Umsatzsteuer- und Verkehrssteuer-Recht (Jahr, Seite) Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
v.
1. bei Datum: vom; 2. bei Namen: von; 3. bei angloamerikanischen Gerichtsentscheidungen: versus vor allem Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (Anhang I zu V-GEKVO, s. dort) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM(2011) 635 endg Vaughan’s Common Pleas Reports (Jahr – Seite) verbundene Rechtssachen; s. a. Rs. verbundene Schlussanträge; s. a. SchlA Verbraucherkreditgesetz (polnischer) Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny) (österreichischer) Verfassungsgerichtshof amtliche Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des (österreichischen) Verfassungsgerichtshofes (Nummer/Jahr) vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Investitionsrecht (Jahr, Seite) Verordnung (ggfs. [Organisation] Nummer/Jahr) Vorbemerkung Verwaltungsgerichtsordnung (österreichischer) Verwaltungsgerichtshof amtliche Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des (österreichischen) Verwaltungsgerichtshofes (Nummer Teil/Jahr)
v. a. V-GEK
V-GEKVO
Vaugh. verb. Rs. verb. SchlA VerbrKrG VerfGH VfGH VfSlg Vgl./vgl. VIZ VO Vorbem VwGO VwGH VwSlg
W.L.R. WAG wbl. WiB WIRO WM World Comp
Weekly Law Reports ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) (österreichisches) Wertpapieraufsichtsgesetz Wirtschaftsrechtliche Blätter (Jahr, Seite) Wirtschaftsrechtliche Beratung (Jahr, Seite) Wirtschaft und Recht in Osteuropa – Zeitschrift zur Rechts- und Wirtschaftsentwicklung in den Staaten Mittel- und Osteuropas (Jahr, Seite) Wertpapier-Mitteilungen (Jahr, Seite) World Competition (Jahrgang [Jahr], Seite)
L
Abkürzungsverzeichnis
WpHG WpÜG WRP WS WSA WuB
WVerwG WVK
Wertpapierhandelsgesetz Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Wettbewerb in Recht und Praxis (Jahr, Seite) Wintersemester Wirtschafts- und Sozialausschuß Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht (Ordnungsziffer Rechts- und Teilgebiet §/Art. Rechtsakt Ordnungsziffer der Entscheidung) Wirtschaft und Wettbewerb (Jahr, Seite) Wirtschaft und Wettbewerb/Entscheidungssammlung Deutschland Rechtsprechung (Seite ggfs. Randnummer) (polnisches) Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969
Yale L. J. YEL
Yale Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Yearbook of European Law (Jahrgang [Jahr], Seite)
z. B./Z. B. z. T. ZBB ZDRL
zum Beispiel/Zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft (Jahr, Seite) Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungs-dienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG (Zahlungsdiensterichtlinie) Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Europarechtliche Studien (Jahr, Seite) Zeitschrift für Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft (Jahr, Seite) Zeitschrift für Finanzmarktrecht (Jahr/Beitragsnummer, ggfs. Seite) Zeitschrift für Rechtssoziologie (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für Rechtsvergleichung (Jahr, Seite) Zeitschrift für Verwaltung Judikaturbeilage (Jahr/Nummer) Zeitschrift für Gesetzgebung (Jahr, Seite) 1. (polnisches) Zivilgesetzbuch; 2. (schweizerisches) Zivilgesetzbuch Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Schuldrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht (Jahrgang [Jahr], Seite) Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das Juristische Studium (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für öffentliches Recht (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für offene Vermögensfragen (Jahr, Seite) Zivilprozessordnung Zeitschrift für Schweizerisches Recht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Schweizerisches Recht (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (Jahr, Seite)
WuW WuW/E DE-R
ZESAR ZEuP ZEuS ZfA ZfPW ZFR ZfRSoz ZfRV ZfVB ZG ZGB ZGR ZGS ZHR Ziff. ZIP ZJS ZLR ZNR ZöR ZOV ZPO ZSchwR ZSR ZUM
Abkürzungsverzeichnis
Zust./zust. zutr ZVerzRL ZVglRWiss zw. ZWeR ZZP
zustimmend zutreffend Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (Jahrgang [Jahr], Seite) zweifelnd Zeitschrift für Wettbewerbsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Zivilprozess (Jahrgang [Jahr], Seite)
LI
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre AnwaltKommBGBBearbeiter
Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs Bamberger/RothBearbeiter v. Bar/Clive/SchulteNölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition v. Bar/Clive, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition Bengoetxea, Legal Reasoning Bleckmann, Europarecht
Adrian, Axel, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre – Die begrifflichen und („fuzzy“-)logischen Grenzen der Befugnisnormen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, Berlin 2009 Dauner-Lieb, Barbara/Heidel, Thomas/Ring, Gerhard (Hrsg.), AnwaltKommentar zum BGB – Band 1: Allgemeiner Teil und EGBGB, hrsgg. v. Thomas Heidel, Rainer Hüßtege, Heinz-Peter Mansel und Ulrich Noack, 2. Auflage, Baden-Baden 2012 – Band 2: Schuldrecht, Teilband 1: §§ 241 bis 610 BGB, hrsgg. v. Barbara Dauner-Lieb und Werner Langen, 2. Auflage, Baden-Baden 2012 Anweiler, Jochen, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/ Wien 1997 Bamberger, Heinz Georg/Roth, Herbert (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1: §§ 1–610 BGB, CISG, 4. Auflage, München 2019 v. Bar, Christian/Clive, Eric/Schulte-Nölke, Hans u. a. for the Study Group on a European Civil Code and Research Group on EC Private Law (Acquis Group) (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Draft Common Frame of Reference (DCFR), München 2009
v. Bar, Christian/Clive, Eric (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law. Draft Common Frame of Reference (DCFR). Full Edition, 6 Bände, München 2009
Bengoetxea, Joxerramon, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence, Oxford 1993 Bleckmann, Albert, Europarecht: das Recht der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften, bearb. von Martin Coen, Rolf Eckhoff und Hanns Eiden, 6. Auflage, Köln u. a. 1997 v. Bogdandy/Bastv. Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Bearbeiter Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Auflage, Heidelberg 2009 Buck, AuslegungsCarsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäimethoden des EuGH schen Gemeinschaft, Frankfurt am Main 1998 Bydlinski, Juristische Bydlinski, Franz, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage, Methodenlehre Wien, New York 1991 (Nachdruck 2011) Calliess/RuffertCalliess, Christian/Ruffert, Matthias, Kommentar zu EUV und AEUV, 5. AufBearbeiter lage, München 2016 Canaris, Claus-Wilhelm, Die Feststellung von Lücken im Gesetz – Eine meCanaris, Die Feststellung von Lücken im thodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, 2. Auflage, Berlin 1983 Gesetz Canaris, Systemdenken Canaris, Claus-Wilhelm, Systemdenken und Systembegriff in der Jurispruund Systembegriff denz – entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Auflage, Berlin 1983
https://doi.org/10.1515/9783110614305-207
LIV
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
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Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik Riesenhuber, System und Prinzipien Riesenhuber, EU-Vertragsrecht Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie
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Richter, Rudolf/Furubotn, Eirik G., Neue Institutionenökonomik, 4. Auflage, Tübingen 2010 Riesenhuber, Karl, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, Berlin 2003 (Nachdruck 2012) Riesenhuber, Karl, EU-Vertragsrecht, Tübingen 2013 Riesenhuber, Karl, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Auflage, Heidelberg 2021
Röhl, Klaus F./Röhl, Hans Christian, Allgemeine Rechtslehre – Ein Lehrbuch, 4. Auflage, Köln/Berlin/Bonn/München 2020 Rüthers, Bernd/Fischer, Christian/Birk, Axel, Rechtstheorie – Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts mit juristischer Methodenlehre, 11. Auflage, München 2020 Schäfer/Ott, Lehrbuch Schäfer, Hans-Bernd/Ott, Claus, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des der ökonomischen Zivilrechts, 5. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York/Barcelona/Hongkong/ Analyse London/Mailand/Paris/Singapur/Tokio 2013 Schlechtriem/ Schlechtriem, Peter/Schwenzer, Ingeborg (Hrsg.), Kommentar zum EinheitliSchwenzer-Bearbeiter chen UN-Kaufrecht – Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf – CISG, 7. Auflage, München 2019 Schmidt-Kessel, Der Schmidt-Kessel, Martin (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen – EntsteGemeinsame Referenz- hung, Inhalte, Anwendung, München 2009 rahmen Schübel-Pfister, Schübel-Pfister, Isabel, Sprache und Gemeinschaftsrecht – Die Auslegung Sprache und Gemein- der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Geschaftsrecht richtshof, Berlin 2004 Schuppert/Pernice/ Schuppert, Gunnar Folke/Pernice, Ingolf/Haltern, Ulrich (Hrsg.), EuropawisHaltern, Europawissen- senschaft, Baden-Baden 2005 schaft Schwarze-Bearbeiter Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Auflage, Baden-Baden 2019 Staudinger-Bearbeiter v. Staudinger, Julius (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen – Buch 1: Allgemeiner Teil, §§ 164–240, Neubearbeitung, Berlin 2018 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, Einleitung zum Schuldrecht; §§ 241–243, Neubearbeitung, Berlin 2019 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, §§ 305–310; UKlaG, Neubearbeitung, Berlin 2019 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, §§ 433–480; Leasing, Neubearbeitung, Berlin 2013 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, Wiener UN-Kaufrecht (CISG), Neubearbeitung, Berlin 2018 Streinz-Bearbeiter Streinz, Rudolf (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Auflage, München 2018 Streinz, Europarecht Streinz, Rudolf, Europarecht,11. Auflage, Heidelberg 2019 Vogenauer, Die AusVogenauer, Stefan, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem legung von Gesetzen Kontinent – Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer in England und auf historischen Grundlagen, 2 Bände, Tübingen 2001 dem Kontinent Walter, RechtsfortbilWalter, Konrad, Rechtsfortbildung durch den EuGH. Eine rechtsmethodische dung durch den EuGH Untersuchung ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre, Berlin 2009
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Wank, Methodenlehre
Wank, Rolf, Juristische Methodenlehre – Eine Anleitung für Wissenschaft und Praxis, München 2020 Zippelius, Reinhold, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, München 2012
Zippelius, Methodenlehre Zweigert/Kötz, Rechts- Zweigert, Konrad/Kötz, Hein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufvergleichung lage, Tübingen 1996
§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht Literatur: Axel Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre (2009); Joxerramon Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence (1993); Wolfgang Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts – Ein Leitfaden (2006); Christoph Busch u. a. (Hrsg.), Europäische Methodik: Konvergenz und Diskrepanz europäischen und nationalen Privatrechts, JbJZ 2009; Holger Fleischer, Europäische Methodenlehre: Stand und Perspektiven, RabelsZ 75 (2011), 700–729; Axel Flessner, Juristische Methode und europäisches Privatrecht, JZ 2002, 14–23; Beate Gsell, Zivilrechtsanwendung im Europäischen Mehrebenensystem, AcP 214 (2014), 99–150; Günter Hager, Rechtsmethoden in Europa (2009); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode – Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre (2009); Carsten Herresthal, Die Rechtsgewinnung in einer fragmentarischen supranationalen Rechtsordnung, in: Stefan Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts (2013), S. 49–78; Martijn Hesselink, A European Legal Method? – On European Private Law and Scientific Method, ELJ 15 (2009), 20–45; Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Katja Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (4. Aufl. 2017); Sebastian A.E. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013); Thomas M.J. Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration – Zur Notwendigkeit einer europäischen Gesetzgebungs- und Methodenlehre (1999); Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht (3. Aufl. 2012); Ulla Neergaard/Ruth Nielsen/Lynn Roseberry (Hrsg.), European Legal Method – Paradoxes and Revitalisation (2011); Ulla Neergaard/Ruth Nielsen (Hrsg.), European Legal Method – in a Multi-Level Legal Order (2012); dies. (Hrsg.), European Legal Method – Towards a New Legal Realism (2013); Robert Rebhahn, Auslegung und Anwendung des Unionsrechts im Privatrecht, in: Attila Fenyves/Ferdinand Kerschner/Andreas Vonkilch (Hrsg.), Klang-Kommentar zum ABGB, Band I (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7; ders., Zur Methodenlehre des Unionsrechts – insbesondere im Privatrecht, ZfPW 2016, 281–306. S. ferner das Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur, S. LIII.
Systematische Übersicht I. II.
Europa und Methodenlehre 1 Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre 2–11
III. Begriff der Europäischen Methodenlehre 12
I. Europa und Methodenlehre Als 2006 die erste Auflage dieses Bandes erschien, gingen wir noch von dem Befund 1 aus, dass das Europarecht ungeachtet seiner zunehmenden Breite und Tiefe in vielen Bereichen unbeachtet blieb: dass Lehrbücher zum nationalen Recht die europarechtlichen Bezüge nicht oder doch nicht ausreichend ansprächen und diese mitunter nur Riesenhuber https://doi.org/10.1515/9783110614305-001
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§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht
in Form eines knappen Hinweises oder nur in Fußnoten berücksichtigt würden. Die Lage hat sich seither grundlegend geändert, gerade auch im Bereich der Methodenlehre. Aufgrund der zunehmenden praktischen Bedeutung werden Fragen der Methoden des europäischen Rechts zunehmend wissenschaftlich vertieft. Der „Beginn einer Methodenlehre des Rechts der EWG“ war freilich schon in den 1970er Jahren beobachtet worden.1 Insbesondere mit Blick auf die Rechtsangleichung in Europa war bereits in den 1990er Jahren von einer „harmonisierenden Auslegung“2 sowie von einer „international brauchbaren Auslegung“3 die Rede. Man hat ein „europäisches Gemeinrecht der Methode“4 gefordert. Eine „europarechtliche Methodenlehre“, zu der neben methodischen Fragen wie der Auslegung und Rechtsfortbildung auch materiell-rechtliche Fragen gerechnet werden, ist konzipiert und näher ausgeführt worden.5 Man hat auf das Verhältnis von „juristischer Methode und Europäischem Privatrecht“ hingewiesen6 und die Ausbildung einer „gemeineuropäischen Methodenlehre“ gefordert und als Programm formuliert.7 In der Rechtsprechung des EuGH stellt man die Entwicklung einer eigenständigen Methodik fest.8 In jüngerer Zeit ist zu beobachten, dass sich die Zahl der Untersuchung von Einzelfragen der Europäischen Methodenlehre mehrt: etwa zur „Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen“9 oder zur methodischen Bedeutung des „effet utile“.10, 11 Hinzu treten aber auch Untersuchungen, die einen Gesamtentwurf einer Methodenlehre für das Europarecht unterneh-
1 Fikentscher, Methoden des Rechts III, S. 784–786: „Es kann nicht ausbleiben, dass auch das Recht der EWG eine eigene Methodik entwickelt.“ Als Forderung formuliert von Behrens, EuZW 1994, 289; auch Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (freilich weithin rechtspolitisch; zu Einzelfragen der Methodenlehre S. 66–76). 2 Odersky, ZEuP 1994, 1–4. 3 Berger, FS Sandrock (2000), S. 49–64. 4 Berger, ZEuP 2001, 4–29. 5 Langenbucher, JbJZ 1999, S. 65, 67; dies., in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (3. Aufl. 2012), S. 1–40; auch Müller/Christensen, Juristische Methodik II. 6 Flessner, JZ 2002, 14–23. S.a. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts. 7 Häberle, EuGRZ 1991, 261, 272; ders., Europäische Rechtskultur (1994), S. 66; ähnlich Kramer, in: Assmann/Brüggemeier/Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001), S. 31–47; jetzt Vogenauer, ZEuP 2005, 234–263. 8 Herresthal, ZEuP 2009, 600, 602 f. 9 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006); Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht – Eine Untersuchung zum Phänomen richterlicher Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (2011). 10 Tomasic, Effet utile – Die Relativität teleologischer Argumente im Unionsrecht (2013); Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008). 11 S. ferner insbesondere die Beiträge im „Schwerpunktheft Methodenlehre“ in RabelsZ (Einführung und Übersicht bei Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700 ff.; die Tagungsbände: Neergaard/Nielsen/Roseberry (Hrsg.), European Legal Method – Paradoxes and Revitalisation (2011); Neergaard/Nielsen (Hrsg.), European Legal Method – in a Multi-Level Legal Order (2012); dies. (Hrsg.), European Legal Method – Towards a New Legal Realism (2013); sowie die eingehende Erörterung bei Fenyves/Kerschner/VonkilchRebhahn, ABGB, Nach §§ 6 und 7.
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II. Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre
men.12 Zu beobachten ist darüber hinaus ein Wandel in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Bot sein apodiktischer Urteilsstil lange Zeit gerade auch unter methodischen Gesichtspunkten Anlass für Kritik, so ist anzuerkennen, dass die Entscheidungen in jüngerer Zeit zunehmend eingehend begründet und methodisch reflektiert sind. Mag damit keineswegs jede Kritik erledigt sein,13 so ist doch auch insoweit eine fortschreitende Integration zu erkennen.
II. Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre In der Tat wirft das Europäische Recht – wie jedes Rechtssystem – seine eigenen Me- 2 thodenfragen auf.14 Bevor diese im Einzelnen erörtert werden, sind zunächst einige Grundlagen zu legen. Nur in Einzelpunkten kann dabei freilich auf die reiche und vielfältige Geschichte des Rechtsdenkens in Europa eingegangen werden.15 Exemplarisch dafür stehen hier zwei Kapitel, die allerdings grundlegende Fragen von andauernder Bedeutung betreffen. Zum einen wird die „Juristenmethode in Rom“ erörtert: Fragen des Systemdenkens, der Auslegung und der Rechtsfortbildung im römischen Recht (§ 2). Zum anderen wird die zentrale Frage der Gesetzesbindung und des Verhältnisses von Auslegung und Analogie in historischer und vergleichender Sicht untersucht (§ 3). Zu den Grundlagen der Methodenlehre des Europäischen Rechts gehört weiterhin 3 die Rechtsvergleichung (§ 4). In einem Rechtssystem das auf den vielfältigen Traditionen der Mitgliedstaaten aufbaut und an dessen gesetzgeberischer Gestaltung und richterlicher Anwendung und Fortbildung Juristen aus verschiedenen Ländern mitwirken, ist die Rechtsvergleichung ein naheliegendes Werkzeug. Doch ist umstritten, welche Rolle sie im Rahmen der Methodenlehre spielt. Ähnlich verhält es sich bei der ökonomischen Theorie (§ 5). Soweit das Recht der Europäischen Union primär auf die Herstellung eines Binnenmarktes ausgerichtet ist, so versteht sich, dass ökonomische Erwägungen eine verhältnismäßig größere Rolle spielen können. Doch auch hier wird die Bedeutung für die Methodenlehre kontrovers diskutiert.16
12 Jüngst Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013). Frühzeitig bereits Müller/Christensen, Juristische Methodik II (3. Aufl. 2012). 13 Rebhahn, ZfPW 2016, 281 ff.; Hesselink, ELJ 15 (2009), 20, 36 ff.; Riesenhuber, in: Hopt/Tzouganatos (Hrsg.), Das Europäische Wirtschaftsrecht vor neuen Herausforderungen, 2015, S. 183 ff. 14 Herresthal, in: Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines Europäischen Vertragsrechts (2013), S. 49 ff.; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569–597; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 235–240. 15 S. dazu noch Fikentscher, Methoden des Rechts I (S. 375–586 – Romanischer Rechtskreis), II (S. 1– 150 – Englischer Rechtskreis), III (Mitteleuropäischer Rechtskreis); Larenz, Methodenlehre, S. 9–185; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967). 16 Zu externen und internen Perspektiven auf das Recht Hesselink, ELJ 15 (2009), 20 ff.; Riesenhuber, Utrecht L. Rev. 7 (2011), 117 ff.
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§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht
Nach diesen Grundlagen sind die Rechtsquellen des Europäischen (Privat-)Rechts zu bestimmen (§ 6). Sie finden sich im Primärrecht und im Sekundärrecht, wobei in jüngerer Zeit die Grundrechtscharta zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Primärund Sekundärrecht weisen Besonderheiten auf und sind daher auch gesondert zu untersuchen. Zunächst ist die Auslegung und Fortbildung von primärem Unionsrecht zu erörtern (§ 7). Ebenfalls dem primärrechtlichen Bereich kann man die primärrechtskonforme Auslegung zurechnen (§ 8). Sie betrifft zwar nicht das Primärrecht selbst, sondern das Sekundärrecht und das nationale Recht, doch ist sie primärrechtlich determiniert. Das Europäische Privatrecht findet sich überwiegend im Sekundärrecht. Gerade für den Bereich des Privatrechts ist hier zunächst das grundlegende Thema der Systembildung zu untersuchen (§ 9), denn es ist nach wie vor umstritten, ob die Rechtsetzung der Europäischen Union als System begriffen werden kann. Zudem weist das System aber durch seine Verbindung mit dem nationalen Recht Besonderheiten auf. Und nicht zuletzt ist es geradezu andauernd in der Entwicklung befindlich. Für die Praxis stehen drei methodische Einzelfragen im Vordergrund. Praktisch jeder europarechtlich beeinflusste Fall wirft Fragen der Auslegung des Sekundärrechts auf; sie sind in vielem ähnlich zu beantworten wie im nationalen Recht, doch gibt es schon hier Besonderheiten (§ 10). Öfter finden sich im Sekundärrecht Generalklauseln; prominente Beispiele sind die Klauselrichtlinie, die Handelsvertreter-Richtlinie sowie die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken. Auch bei der Konkretisierung von Generalklauseln im Unionsrecht stellen sich teilweise besondere Fragen (§ 11). Und endlich wirft auch die Rechtsfortbildung im Sekundärrecht Fragen auf. Hier gilt es besonders, die Legitimation der Rechtsfortbildung – sowohl im Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten (Verbandskompetenz) als auch im Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung (Organkompetenz) – zu ergründen und ihre Grenzen zu bestimmen (§ 12). Da es sich bei dem System des Europäischen (Privat-)Rechts um ein „Zwei-Ebenen-System“ handelt, bei dem das Unionsrecht und die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zusammenwirken, wirft auch die Umsetzung des Unionsrechts im nationalen Recht spezifische Fragen auf. Das betrifft besonders die Umsetzung von Richtlinien. Vor allem stellt sich die Frage, ob und inwieweit das mitgliedstaatliche Recht richtlinienkonform ausgelegt werden kann und muss (§ 13; zur primärrechtskonformen Auslegung bereits § 8). Hier wirken europarechtliche Anforderungen und mitgliedstaatliche Methodenlehre zusammen. Darüber hinaus wirft die sogenannte überschießende Umsetzung von Europarecht neben rechtlichen auch methodische Fragen auf (§ 14). Es geht insbesondere darum, ob nationales Recht, das über den Anwendungsbereich der Richtlinien hinaus diesen entsprechend geregelt ist, europarechtskonform auszulegen ist und ob die mitgliedstaatlichen Gerichte dem EuGH Auslegungsfragen im Hinblick auf die überschießende Umsetzung vorlegen dürfen. Zwei übergreifende Fragen zu zeitlichen Wirkungen erörtern wir in diesem Zusammenhang. Die erste betrifft die zeitlichen Wirkungen von Gesetzen. Spezifisch euRiesenhuber
II. Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre
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roparechtlich stellt sie sich im nationalen Recht im Hinblick auf eine mögliche Vorwirkung von Richtlinien (§ 15): Inwieweit sind sie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist auch für die Rechtsfindung von Bedeutung? Die zweite Frage betrifft die zeitlichen Wirkungen von Gerichtsentscheidungen, die sich in unserem Zusammenhang für Entscheidungen des EuGH stellt (§ 16): Unter welchen Voraussetzungen können der Gerichtshof selbst oder, alternativ oder kumulativ, die mitgliedstaatlichen Gerichte die Berufung auf die grundsätzlich „rückwirkenden“ Entscheidungen des Gerichtshofs unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes beschränken? Fragen der Methodenlehre werden in diesem Band nicht nur abstrakt untersucht, 9 sondern in einem Besonderen Teil für einzelne Teilgebiete des Privatrechts exemplarisch vertieft: für das Arbeitsrecht (§ 17), das Kapitalmarktrecht (§§ 18) sowie das Kartellrecht (§ 19). Weiterhin wird erörtert, wie der Europäische Gerichtshof (§ 20) und die obersten deutschen Gerichtshöfe (§ 21) mit Methodenfragen des Europäischen Rechts umgehen. Das bietet nicht nur die Möglichkeit, Methodenaussagen zu überprüfen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit spezielle Rechtsgebiete spezielle Methodenfragen aufwerfen. Bei alledem geht es nicht nur darum, die vorgefundene Praxis zu resümieren.17 Auch an dieser Stelle soll „der Verzwergung der Rechtswissenschaft zur Rechtsprechungskunde“ entgegengewirkt werden.18 Methodenlehre wird – wie aus dem nationalen Bereich bekannt – nicht als eine empirische Beschreibung verstanden, sondern vielmehr als eine Lehre von der rechtlich richtigen, rationalen, überzeugenden und vorhersehbaren Rechtsfindung.19 Europäische Methodenlehre ist kein deutsches Reservat. Mit Recht wird im 10 Schrifttum hervorgehoben, dass sich ein „Wettstreit der nationalen Methoden“ herausbilden muss.20 Institutionell angelegt ist ein solcher Wettstreit in der mitgliedstaatlich-pluralen Besetzung: „Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat“, Art. 19 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV (für das EuG Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 EUV). Ein solcher Wettstreit verlangt zuerst, die mitgliedstaatlich unterschiedlichen Herangehensweisen offenzulegen. In verschiedenen Zusammenhängen, z. B. im Hinblick auf die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung oder die überschießende Umsetzung, wirkt sich eine unterschiedliche Methode auch praktisch auf die Reichweite des Unionsrechts aus. Den Zusammenhängen von nationaler Methode und Europarecht gehen wir in den Länderberichten nach: über Frankreich (§ 22), England (§ 23), Spanien (§ 24) und Polen (§ 25). Hier werden die Grundlagen der nationalen Methodenlehre vorgestellt und die europarechtliche Methodendiskussion der Länder erörtert. Methodenlehre ist damit – ungeachtet mancher Vorurteile – eine ausgesprochen 11 praktische Disziplin. Methodenfragen stellen sich schon den Organen der Europäi
17 Das kritisiert mit Recht Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 243. 18 So für das nationale Schuldrecht Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2 (13. Aufl. 1994), S. V f. 19 Nachdrücklich Rebhahn, ZfPW 2016, 281 ff. 20 Herresthal, ZEuP 2009, 600, 602.
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§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht
schen Union, wenn sie das Primärrecht anwenden, z. B. das Kartellrecht und die Grundfreiheiten. Methodenfragen stellen sich aber auch den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern, z. B. wenn sie Richtlinien umsetzen: Wie sind diese auszulegen? Welche Folgen hat eine überschießende Umsetzung? Vor allem muss der Rechtsanwender mit Methodenfragen umgehen. Welche Anforderungen stellt das Primärrecht, und sind Sekundärrecht oder mitgliedstaatliches Recht ggf. primärrechtskonform auszulegen? Was bedeutet das Sekundärrecht und ist das mitgliedstaatliche Recht etwa richtlinienkonform auszulegen? Wem steht die Befugnis zu, Generalklauseln zu konkretisieren: Kommt eine Vorlage an den EuGH in Betracht? Usf.
III. Begriff der Europäischen Methodenlehre 12 Diese Methodenfragen werden hier unter dem Begriff der „Europäischen Methoden-
lehre“ zusammengefasst.21 Dass es dabei um eine Methodenlehre des Europäischen Rechts geht, wie die Begriffe der „europarechtlichen Methodenlehre“ oder der „Methodenlehre des Unionsrechts“ hervorheben, bedarf keiner besonderen Betonung. Die Kennzeichnung als „gemeineuropäisch“ weist auf der anderen Seite eher auf die Gemeinsamkeiten der nationalen Methoden europäischer Staaten (oder auch der Mitgliedstaaten) hin.22 Das ist zwar insoweit treffend, als das Europäische Recht weithin23 eine einheitliche (all-„gemeine“) Methodenlehre verlangt. Indes könnte der Begriff zu der Fehlvorstellung verleiten, es ginge um eine in den europäischen (Mitglied-)Staaten einheitliche Methodenlehre, die ebenso für das autonom-nationale Recht Geltung beansprucht. Ist auch nicht auszuschließen, dass es zukünftig zu einer solchen Konvergenz der nationalen Methoden kommen wird, so ist das doch derzeit nicht abzusehen.
21 Ebenso Häberle, Europäische Verfassungslehre (7. Aufl. 2011), S. 270–272; Köndgen, GPR 2005, 105. Auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 323 ff. et passim, spricht von einer „europäischen Methodenlehre“, möchte sie aber stärker rechtsvergleichend fundieren, nämlich auf gemeinsame Grundsätze der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen stützen. 22 Ungeachtet weithin bestehender Übereinstimmung unterscheidet sich daher die von Vogenauer, ZEuP 2004, 234–263 skizzierte „gemeineuropäische“ Methodenlehre von dem vorliegenden Ansatz darin, dass dort Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte zentrale Bedeutung beigemessen wird (S. 246–252) und die „konstruktiv-dogmatischen“ Elemente erst „zu guter Letzt“ eine Rolle spielen (S. 253). 23 Bei der richtlinienkonformen Auslegung geht es hingegen um die unionsrechtlichen Anforderungen an die mitgliedstaatliche Methodenlehre.
Riesenhuber
1. Teil Grundlagen § 2 Juristenmethode in Rom Literatur: Ulrike Babusiaux, Papinians quaestiones – Zur rhetorischen Methode eines spätklassischen Juristen (2011); Tomasz Giaro, Über methodologische Werkmittel der Romanistik, SavZRG – Rom. Abt. – 105 (1988), 181–262; Jan Dirk Harke, Argumenta Iuventiana – Entscheidungsbegründungen eines hochklassischen Juristen (1999); ders., Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana (2012); ders., Argumenta Pomponiana (2014); Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo (1969); Max Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse (1962), S. 49–78; Rolf Knütel, Zur Rechtsfindung der Römer, in: Alfred Söllner u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze (2005), S. 475–499; Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte – Ein Fragment aus dem Nachlass, Bd. 2 (2006), S. 45–52.
Systematische Übersicht I.
II.
1.
Juristenregeln als Subsumtionsbasis 9–12 2. Gesetzesauslegung 13–18 III. Rechtsfortbildung 19–34 1. Fortentwicklung des Juristenrechts 20–31 2. Fortbildung des Gesetzesrechts 32–34 IV. Zusammenfassung 35
Die Art und Weise römischer Rechtsfindung 1–8 1. Intuition oder Plan? 1–3 2. Induktion, Deduktion und systemüberschreitende Rechtsfindung 4–5 3. Systematische Rechtsfindung 6–8 Deduktion 9–18
I. Die Art und Weise römischer Rechtsfindung 1. Intuition oder Plan? Folgt man der Ansicht zweier der bedeutendsten Romanisten des 20. Jahrhunderts, 1 war die Rechtsfindung in Rom eher eine Sache des Gefühls als das Produkt rationaler Vorgehensweise. Franz Wieacker schreibt die Entscheidungen der römischen Juristen in erster Linie ihrem „Judiz“ zu.1 Dieses sei zwar das Ergebnis eines Lernprozesses, unterscheide sich aber doch erheblich von der planmäßigen Entscheidungsfindung moderner Prägung, zumal der römische Jurist in erster Linie Ähnlichkeitsurteile zwi-
1 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 45 f.
Harke https://doi.org/10.1515/9783110614305-002
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§ 2 Juristenmethode in Rom
schen einem schon entschiedenen und einem noch zu entscheidenden Fall getroffen habe.2 Noch weiter geht Max Kaser, der den römischen Quellen zwar in vielfacher Hinsicht kohärente Regelungsbereiche entnimmt, ihre Genese jedoch auf die „Intuition“ der römischen Juristen zurückführt.3 Sie hätten den zu lösenden Fall „unmittelbar erfasst“ und sich bei seiner Entscheidung in erster Linie auf ihre Erfahrung und ihr Sachgefühl verlassen.4,5 Zwar mache sich in der späten Republik eine gewisse Hinwendung zur Theorie bemerkbar; diese Tendenz sei jedoch rasch zugunsten einer Orientierung an Leitfällen überwunden worden,6 die Regeln, soweit sie überhaupt gebildet wurden, nur als Erfahrungsaussagen zugelassen habe.7 Wichtiger als das Argument sei für die römischen Rechtswissenschaftler stets die Autorität, also das Ansehen des Juristen gewesen, der denselben oder einen ähnlichen Fall schon entschieden habe.8 2 Das von Kaser und Wieacker gezeichnete Bild der römischen Jurisprudenz wird schon durch die bloße Zahl der überlieferten Entscheidungsbegründungen in Frage gestellt. Hätten die römischen Juristen ihre Falllösungen mehr erahnt als abgeleitet, dürfte es in den überlieferten Auszügen aus ihren Schriften kaum Argumentationen geben. Zwar ist nicht zu leugnen, dass es unter den Werken der römischen Jurisprudenz reine Entscheidungssammlungen gab, die sich wie etwa die in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts entstandenen Responsen des Scaevola durch eine regelrechte Begründungsabstinenz auszeichnen.9 Hieraus auf eine intuitive Rechtsfindung zu schließen wäre gleichwohl ebenso falsch wie anzunehmen, dass die französische Cour de Cassation ihre Entscheidungen weniger rational träfe als der deutsche Bundesgerichtshof, der deutlich größeren Begründungsaufwand als das oberste französische Zivilgericht treibt. Im juristischen Diskurs können durchaus auch Entscheidungen, die mit wenigen Argumenten unterlegt oder gar überhaupt nicht begründet sind, einen Beitrag zur planmäßigen Rechtsfindung leisten, sofern sie nur von Fachkollegen rezipiert werden, für die sich alle oder zumindest die meisten Schritte der Falllösung von selbst verstehen. Darf man Begründungslücken also von Vornherein
2 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 48 ff. 3 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 49, 54. 4 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 54 f. Ebenso heute noch Waldstein/Rainer, Römische Rechtsgeschichte (11. Aufl. 2014), Rn. 33.12. 5 Ähnlich Bund, Untersuchungen zur Methode Julians (1965), S. 178 ff., der den römischen Juristen ein konkretes Denken jenseits von Systemzusammenhängen attestiert. Etwas anders ist der Ansatz von Viehweg, Topik und Jurisprudenz (5. Aufl. 1974), S. 26 ff., der den römischen Juristen ein zwar rationales, aber unstetes „Problemdenken“ bescheinigt, das im Gegensatz zu einem „Systemdenken“ stehe; hiergegen nachdrücklich Horak, Rationes decidendi, S. 44 ff. 6 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 67. 7 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 60. 8 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 55. 9 Hierauf beruft sich denn auch Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 55.
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I. Die Art und Weise römischer Rechtsfindung
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nicht als Zeichen für intuitives Entscheiden ansehen, bedeutet die Existenz von Begründungen durchaus einen Beweis für eine rationale Falllösungstechnik. Dass es in den Quellen des römischen Rechts viele Entscheidungsbegründungen 3 gibt,10 konnte im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, als auch die Theorie von der intuitiven Rechtsfindung der Römer entstand, nur deshalb verborgen bleiben, weil man im Zuge einer völlig übersteigerten Textkritik die meisten der überlieferten Argumente für das Werk nachträglicher Textbearbeitung erklärt hatte.11 War diese Kritik zunächst noch von dem Ziel getragen, die überlieferten Begründungen durch Erwägungen zu ersetzen, die man in der modernen Forschung für die eigentlich ausschlaggebenden Gesichtspunkte hielt, hatte man die klassischen Quellen schließlich doch zu einem Torso gemacht, so dass in dem Moment, in dem man den willkürlichen Charakter der modernen Unterstellungen erkannte, nichts anderes übrigblieb, als die Entscheidungen der römischen Juristen einer weitgehend intuitiven Rechtsfindung zuzuschreiben. Geht man dagegen von der Echtheit des überlieferten Textes als Regel aus, findet man Entscheidungsbegründungen in nicht unbeträchtlicher Zahl, die die Rationalität der römischen Jurisprudenz außer Frage stellen. So enthalten die rund 1000 Fragmente, in denen Entscheidungen der bis zur Zeitenwende tätigen Juristen überliefert sind, annähernd 300 Begründungen.12 Für die hochklassischen Juristen Celsus, Julian und Pomponius kann man sogar ein Verhältnis zwischen den überlieferten Entscheidungen und den erhaltenen Begründungen angeben: Bei Celsus und Julian sind es gleichermaßen etwa ein Fünftel der überlieferten Entscheidungen,13 die mit einer Begründung versehen sind, bei Pomponius etwas weniger.14 Die deutlich höhere Argumentationsdichte in den Originalauszügen aus Celsus’ und Julians Werk lässt darauf schließen, dass viele Begründungen, die sich ursprünglich in den Texten dieser beiden Hochklassiker fanden, beim Zitat durch spätere Juristen weggefallen oder als eigene Argumentation des zitierten Juristen unkenntnlich gemacht worden sind.15 Bei Pomponius ist die Zurückhaltung, die er in seiner Argumentation zeigt, dagegen wohl der Eigenart seiner Tätigkeit geschuldet: Als erster der großen Kommentatoren war er eher auf das Sammeln des Rechtsstoffs als auf die Ableitung der Fallentscheidungen konzentriert.16
10 Dies übersehen Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 55 und Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 49. 11 Den Zusammenhang zwischen der Intuitionsthese und der Interpolationenkritik stellt, allerdings mit etwas anderer Tendenz, auch Knütel, GS Heinze, S. 477 f. heraus. 12 Horak, Rationes decidendi, S. 289. 13 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 13, 339. 14 Harke, Argumenta Pomponiana, S. 10, 168. 15 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 339. 16 Harke, Argumenta Pomponiana, S. 168.
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§ 2 Juristenmethode in Rom
2. Induktion, Deduktion und systemüberschreitende Rechtsfindung 4 Ein erheblicher Teil der überlieferten Entscheidungsbegründungen besteht nicht aus
Bezugnahmen auf normative Vorgaben wie gesetzliche Bestimmungen oder anerkannte Juristenregeln, sondern aus dem Verweis auf einen Parallelfall. Dass hier häufig nicht das tertium comparationis angegeben wird, ist kein Grund, eine solche Fallanknüpfung nicht als Entscheidungsbegründung gelten zu lassen17 oder die Rechtsfindung in diesen Fällen gar für intuitiv zu halten. Sowohl für den antiken als auch für den modernen Leser hat der Verweis auf einen Vergleichsfall Begründungsfunktion, wenn er sich nicht darin erschöpft, die Gleichheit im Ergebnis herauszustellen, sondern erkennbar an die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit der Fallgestaltungen anknüpft.18 Die Übertragung der Falllösung vom Vergleichs- auf den Ausgangsfall oder ein hieraus gezogener Gegenschluss folgen dem Grundsatz, dass wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches ungleich zu behandelen ist. Das Vorgehen des Juristen ist dabei durchaus planmäßig; es zielt entweder auf den Einsatz der im Vergleichsfall wirksamen Regel im Ausgangsfall oder auf die Herausbildung einer Regel ab, deren Geltung der Jurist am Vergleichsfall nachweist und im Ausgangsfall zur Entscheidungsgrundlage macht. Beschreibt der Jurist sie oder nennt er ausdrücklich das tertium comparationis, macht er sogar einen Schritt in Richtung auf die deduktive Ableitung seines Ergebnisses. Ist die Grenze zwischen Induktion und Deduktion damit fließend, zeigt dies, dass beide Arten der Entscheidungsbegründung nur Erscheinungsformen einer systemimmanenten Argumentation sind. Systemüberschreitend ist eine Begründung erst dann, wenn sich ein Jurist auf außerrechtliche Werturteile stützt, die sich noch nicht zu einem Rechtssatz verdichtet haben. 5 Außerrechtliche Werturteile sind bei den hochklassischen Juristen Celsus, Julian und Pomponius überaus selten und machen deutlich weniger als 10 % der überlieferten Entscheidungsbegründungen aus.19 Größeren Stellenwert erlangen offene Wertungen zwar im Werk des Spätklassikers Papinian; sie stehen hier aber erkennbar im Zusammenhang mit einem starken Einfluss der Rhetorik,20 der seinerseits die Verwurzelung der Fallentscheidung im überkommenden Rechtsstoff nicht in Frage stellt.21 Die Verteilung der systemimmanenten Argumentation zwischen Fallanknüpfung und Deduktion schwankt von Jurist zu Jurist, lässt aber den durchgängigen Befund eines Übergewichts der deduktiven Argumentation zu: Bei Celsus macht sie mehr als vier
17 So aber Bund, Untersuchungen zur Methode Julians (1965), S. 124 ff. und auch noch Harke, Argumenta Iuventiana, S. 29. 18 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 16 f.; ders., Argumenta Pomponiana, S. 14 f. 19 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 340; ders., Argumenta Pomponiana, S. 169 f. 20 Babusiaux, Papinians quaestiones, S. 226 ff. 21 Babusiaux, Papinians quaestiones, S. 265 f.
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I. Die Art und Weise römischer Rechtsfindung
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Fünftel,22 bei Pomponius mehr als zwei Drittel23 der Begründungen aus, mit denen der Jurist seine Entscheidungen unmittelbar und ohne Zwischenschritt der Auslegung rechtfertigt. Bei Julian machen die deduktiven Begründungen einer unmittelbaren Fallentscheidung zwar nur etwas mehr als die Hälfte aus; die überwiegende Zahl der Fallvergleiche ist jedoch um die Darstellung des für den Ähnlichkeits- oder Gegenschluss maßgeblichen Kriteriums angereichert und damit einer deduktiven Entscheidungsbegründung angenähert.24 Zumindest für die Hochklassik lässt sich damit außer der deutlichen Dominanz systemimmanenter Argumentation sogar ein Übergewicht der regelhaften Fallentscheidung konstatieren, was der gängigen These einer intuitiven Rechtsfindung geradewegs zuwiderläuft.
3. Systematische Rechtsfindung Zeugt die Argumentation der hochklassischen römischen Juristen von einer plan- 6 mäßigen Fallentscheidung, verwundert nicht, dass wir in den Quellen auch auf Spuren regelrecht systematischer Rechtsfindung stoßen. Ein gutes Beispiel25 hierfür bietet Celsus’ Traktat zu der kaufähnlichen Vereinbarung über den Austausch des Eigentums an einem Sklaven gegen Geld: 7
D 12.4.16 Cels 3 dig Dedi tibi pecuniam, ut mihi Stichum dares: utrum id contractus genus pro portione emptionis et venditionis est, an nulla hic alia obligatio est quam ob rem dati re non secuta? in quod proclivior sum: et ideo, si mortuus est Stichus, repetere possum quod ideo tibi dedi, ut mihi Stichum dares. finge alienum esse Stichum, sed te tamen eum [tradidisse] : repetere a te pecuniam potero, quia hominem accipientis non feceris: et rursus, si tuus est Stichus et [pro evictione eius promittere] non vis, non liberaberis, quo minus a te pecuniam repetere possim. Ich habe dir Geld gegeben, damit du mir Stichus übereignest. Ist dieser Vertrag zumindest teilweise ein Kauf, oder entsteht hier keine andere Verpflichtung als die auf Rückgewähr dessen, was zu einem bestimmten Zweck gegeben worden ist, wenn der Zweck nicht eingetreten ist? Hierzu neige ich mehr. Und daher kann ich zurückfordern, was ich dir deswegen gegeben habe, damit du mir Stichus übereignest, wenn Stichus gestorben ist. Nimm an, der Sklave Stichus sei fremd, aber von dir durch mancipatio übereignet worden: Ich kann das Geld von dir zurückfordern, weil du den Sklaven nicht zu meinem Eigentum gemacht hast. Und umgekehrt, wenn der Sklave dir gehört, aber du ihn nicht durch mancipatio übereignen willst, wirst du nicht davon befreit, dass ich von dir das Geld zurückfordern kann.
22 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 340. 23 Harke, Argumenta Pomponiana, S. 169. 24 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 340. 25 Andere führt Knütel, GS Heinze, S. 479 ff. auf, der insbesondere zeigt, wie die römischen Juristen ein Prinzip bis hin zum Grenzfall verfolgen, in dem seine Geltung zweifelhaft wird.
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8 Da der römische Kaufvertrag den Verkäufer nicht zur Übereignung einer Kaufsache
verpflichtete (s. u. Rn. 21 ff.), kann Celsus die Abrede, gegen Geldzahlung das Eigentum an einem Sklaven zu übertragen, bestenfalls teilweise (pro portione) als Kauf gelten lassen und entscheidet sich sogar dafür, es als atypisches Tauschgeschäft anzusehen, das sich nicht den anerkannten Vertragsarten zuordnen lässt. Hieraus folgt, dass der Teil, der Geld vorgeleistet hat, um das Eigentum an dem Sklaven zu erlangen, nur einen Kondiktionsanspruch hat, wenn ihm das Eigentum an den Sklaven nicht verschafft wird.26 Ist diese Lösung für ihn auch insofern nachteilig, als er ein Klagerecht erst durch Vorleistung erwirbt, erweist sie sich im Fall der Leistungsstörung doch in mehrfacher Hinsicht als günstiger: Stirbt der Sklave vor der Übereignung, kann er den Geldbetrag zurückfordern, während er als Käufer ab Vertragsschluss die Preisgefahr trüge (periculum emptoris, s. u. Rn. 21 ff.) und keine Erstattung des Kaufpreises verlangen könnte. Gehört der Sklave nicht dem Veräußerer, kann der Erwerber ebenfalls umgehend eine Rückzahlung des Geldes fordern, wohingegen er als Käufer nur dann einen Anspruch gegen den Veräußerer hätte, wenn ihm der Sklave von seinem wahren Eigentümer wieder abgenommen worden wäre. Derselbe Unterschied besteht schließlich im dritten Fall, in dem der Veräußerer zwar Eigentümer des Sklaven ist, diesen aber nur übergeben und nicht übereignen will: Der Erwerber kann hier ebenfalls den gezahlten Geldbetrag zurückverlangen, während ihm, wenn er Käufer wäre, mangels Anspruchs auf Übereignung ein schätzbares Interesse am Eigentumserwerb fehlte, da der Sklave ihm ja schon übergeben worden ist und ihm nicht mehr mit Erfolg streitig gemacht werden kann. Die Lösungen aller drei Fallgestaltungen ergeben sich aus der Grundentscheidung gegen die Anwendung des Kaufrechts und für die Gewährung einer Zweckverfehlungskondiktion. Celsus stellt sie an den Anfang, um dann planmäßig Schlussfolgerungen zu ziehen, die den Unterschied von Kauf- und Kondiktionsrecht deutlich machen.
II. Deduktion 1. Juristenregeln als Subsumtionsbasis 9 Die systematische Ableitung von Falllösungen aus der Zuordnung einer Vereinbarung
zu einem Geschäftstyp, wie sie Celsus für den Austausch von Geld und Sacheigentum vornimmt, demonstriert, wie sich deduktive Rechtsfindung in einer weitgehend ungeschriebenen Rechtsordnung vollzieht. Sie ist hier ebenso möglich und häufig wie in einem gesetzesfundierten System,27 nimmt ihren Ausgang aber eben nicht vom Geset26 Zur Deutung dieser Grundentscheidung und zum Umfang der Textveränderung durch die byzantinischen Redaktoren ausführlich Harke, Argumenta Iuventiana, S. 49 ff. 27 Richtig Giaro, SavZRG – Rom. Abt. – 105 (1988), 180, 207 ff.; vgl. auch ders., Römische Rechtswahrheiten (2007), S. 433 ff. und Harke, Argumenta Iuventiana, S. 39 ff.
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II. Deduktion
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zesrecht, sondern von den Regeln, die die Jurisprudenz aufgestellt hat.28 Dass diese auch in Rom nicht völlig losgelöst vom Gesetz tätig wurde, aber weiten Spielraum durch die hiervon gelassenen Lücken hatte, zeigt der Fall des Celsus: Die Regel, dass der Austausch zweier Sachen mit dem Ziel des beiderseitigen Eigentumserwerbs kein Kaufvertrag war und auch nicht wie ein solcher behandelt wurde, hat sich in der Diskussion der beiden großen römischen Juristenschulen, der Sabinianer und der Prokulianer, herausgebildet, die im ersten Jahrhundert n. Chr. entstanden sind. Während die Sabinianer für die Anwendung des Kaufrechts eintraten, weil der Tausch die Voroder Urform des Kaufs sei, meinten die Prokulianer, zu denen auch Celsus gehörte, der Tausch könne keinesfalls wie ein Kaufvertrag behandelt werden. Denn es sei unklar, wer die Rolle des Käufers und wer die Rolle des Verkäufers übernehmen solle; und es könnten auch nicht beide zugleich jeweils Käufer und Verkäufer sein, da den einen mit der Zahlungspflicht ja auch eine Verpflichtung zur Übereignung treffe, während der andere die Sache nur übergeben müsse:
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Gai 3.141 Item pretium in numerata pecunia consistere debet. nam in ceteris rebus an pretium esse possit, veluti homo aut toga aut fundus alterius rei pretium esse possit, valde quaeritur. nostri praeceptores putant etiam in alia re posse consistere pretium; unde illud est, quod vulgo putant per permutationem rerum emptionem et venditionem contrahi, eamque speciem emptionis venditionisque vetustissimam esse; argumentoque utuntur graeco poeta homero, qui aliqua parte sic ait: … diversae scholae auctores dissentiunt aliudque esse existimant permutationem rerum, aliud emptionem et venditionem; alioquin non posse rem expediri permutatis rebus, quae videatur res venisse et quae pretii nomine data esse, sed rursus utramque rem videri et venisse et utramque pretii nomine datam esse absurdum videri. … Ebenso muss der Preis in Geld bestehen. Es ist aber sehr umstritten, ob der Preis für eine Sache in etwas anderem als in Geld bestehen kann, ob zum Beispiel ein Sklave oder eine Toga oder ein Grundstück der Preis sein können. Unsere Lehrer sind der Ansicht, dass der Preis auch in einer anderen Sache bestehen kann. Hier liegt der Grund für die landläufige Auffassung, dass auch durch den Tausch von Sachen ein Kauf zustande komme und dass der Tausch die älteste Art des Kaufs sei. Zum Beweis führen sie den griechischen Dichter Homer an, der an einer Stelle sagt: … Die Lehrer der anderen Schule widersprechen und glauben, dass Tausch und Kauf verschiedene Dinge seien; sonst könne einerseits im Nachhinein nur schwer bestimmt werden, welche Sache verkauft und welche als Preis gegeben sei; andererseits sei es unsinnig, jede der beiden Sachen zugleich als Kaufsache und als Kaufpreis anzusehen. …
Einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt hat die Auseinandersetzung über die Ähnlich- 11 keit oder Verschiedenheit von Kauf und Tausch nur insofern, als im Edikt des römischen Gerichtsmagistrats Rechtsschutz für die Parteien eines Kaufvertrags verhei-
28 Dass weniger das Juristenrecht als die kaiserliche Rechtsprechung die Ursache für einen regelrechten Rechtspositivismus der hochklassischen Jurisprudenz gelegt habe, glaubt dagegen Klami, Sacerdotes iustitiae (1978), S. 70 ff.
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ßen wird und ihnen die Käufer- (actio empti) und die Verkäuferklage (actio venditi) zugebilligt werden. Alles Weitere und insbesondere die Antwort auf die Frage, was denn ein Kauf sei und wozu er verpflichte, war im Einzelfall dem Richter, im Allgemeinen der Rechtswissenschaft überlassen, die eine Vorgabe bloß dadurch erhielt, dass die Beurteilung der Parteipflichten nach den Klageformularen dem Gebot der guten Treue (bona fides) unterlag. Für das Problem, ob der Verkäufer nur die Übergabe und nicht auch die Übereignung der Kaufsache schuldete und wie sich dies auf die Einordnung des Tauschs auswirkte, war diese Vorgabe unergiebig. Die Divergenz von Käufer- und Verkäuferpflicht, die für die Prokulianer entscheidend gegen die Anwendung des Kaufrechts sprach, hatte ihre Wurzel in der ursprünglichen Struktur des Kaufvertrags,29 der anfangs nicht Distanz-, sondern Bargeschäft war, also im sofortigen Austausch der beiderseitigen Leistungen bestand und die Funktion hatte, einen Rechtsgrund für den Verbleib dieser Leistungen beim jeweiligen Empfänger zu bieten. Als man hieraus allmählich ein Verpflichtungsgeschäft machte, indem man zunächst einer Seite, die schon vorgeleistet hatte, dann unabhängig hiervon aufgrund der bloßen Vereinbarung eine Klage auf die Leistung des anderen Teils einräumte, sparte man den Eigentumserwerb des Käufers von den geschaffenen Obligationen aus und beließ die entsprechende Leistung des Verkäufers gewissermaßen im Rechtsakt des Kaufvertrags: Schon mit seinem Abschluss hatte der Verkäufer das Eigentum an der Kaufsache dem Käufer zugestanden. Zwar hatte dieser so noch keine Rechtsposition erlangt, die Dritten gegenüber wirksam gewesen wäre; im Verhältnis der Vertragsparteien galt er jedoch schon als Inhaber der Kaufsache, so dass den Verkäufer nur noch die Verpflichtung zu ihrer Übergabe traf. Dieser Vorstellung, die sich aus der Weiterentwicklung des Kaufs vom Bar- zum Distanzgeschäft als reines Juristendogma entwickelt hatte, entsprang auch die Zuweisung der Preisgefahr an den Käufer (periculum emptoris), die Celsus mit seiner Entscheidung gegen das Kaufrecht dem an der Übereignung des Sklaven interessierten Teil gerade ersparte. 12 Auch die von Celsus befürwortete Alternative eines Anspruchs auf Rückzahlung des Geldbetrags war mit dem Gesetz nur über eine Kette von Schlüssen verbunden, die wiederum reines Juristenwerk waren: Im Edikt des Gerichtsmagistrats fand sich lediglich die Klage mit Namen condictio aufgeführt, deren abstrakte Formel sie vielfältig verwendbar machte. Statt sie zum Universalinstrument für den Anspruch auf Leistung zu machen, beschränkten die römischen Juristen sie aber auf zwei Grundfälle, zum einen auf die Verpflichtung aus einem Vermächtnis und einem abstrakten Schuldversprechen, für die schon ihr Vorgänger im alten römischen Zivilprozess zuständig war, zum anderen auf die Verpflichtung aus ungerechtfertigter Bereicherung. Diese trat wiederum in zwei Varianten auf: Auf der einen Seite stand die vertragliche Verpflich-
29 Vgl. zum „Barkaufprinzip“ oder „Veräußerungscharakter“ des römischen Kaufs Ernst, SavZRG – Rom. Abt. – 96 (1979), 216 ff. und Wolf, IVRA 52 (2001), 29 ff., ferner Harke, Römisches Recht (2008), Rn. 8.1 ff.
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tung zur Rückzahlung eines Darlehens, dessen Verbleib beim Darlehensnehmer nach dem Ende der Laufzeit des Darlehens ohne Rechtsgrund war; auf der anderen Seite gab es die nicht durch Vertragsschluss begründete Verpflichtung zur Herausgabe dessen, was unberechtigt erlangt worden war. Sie zerfiel wiederum in zwei Tatbestände, einerseits die Rückgewährpflicht aus unberechtigtem Eingriff (iniusta causa), insbesondere wegen Diebstahls, andererseits die Pflicht zur Erstattung einer rechtsgrundlosen Leistung (datio sine causa).30 Einen Unterfall dieses zweiten Tatbestands, dessen prominenter Anwendungsfall die irrtümliche Leistung auf eine Nichtschuld war, bildete nun die nicht von einer der Vertragsarten erfasste Leistung in Erwartung einer Gegenleistung, die der schon erfolgten Zuwendung ihren Rechtsgrund hätte geben können, dann aber ausblieb. Dass ihr Ausfall einen Rückgewähranspruch auslöst, ist also wiederum das Ergebnis einer Einordnung des zu entscheidenden Falles in ein Dogmensystem, das auf minimaler gesetzlicher Vorgabe durch die römische Jurisprudenz entwickelt worden war. Es verdient die Bezeichnung „Deduktion“ oder auch „Subsumtion“ nicht minder als der heutige Schluss auf eine Falllösung aus dem Gesetzesrecht.31
2. Gesetzesauslegung Bestand das römische Recht überwiegend aus Juristendogmen, deren Verständnis 13 sich mangels feststehenden Wortlauts und Kenntnis ihrer Urheberschaft zwangsläufig nur nach ihrem vernünftigen Sinn richten konnte, gab es in Rom – vor allem im Bereich der außervertraglichen Haftung – doch auch Gesetzesrecht, bei dem sich ein breiteres Interpretationsspektrum eröffnete.32 Genutzt wurde es nicht anders als heute durch Ermittlung des Ziels der gesetzlichen Bestimmung. Dabei war es auch hier der vernünftige Sinn einer Regel, oder modern gesprochen: die objektiv-teleologische Interpretation, die im Vordergrund stand,33 während sich eine Rücksicht auf die konkreten Vorstellungen des Gesetzgebers nur selten findet. Der Grund hierfür ist einfach: Gesetzgeberische Absichten waren entweder wie vor allem in der Gesetzgebung der römischen Kaiser durch Senatsbeschluss zum Teil des Gesetzestextes selbst oder seiner Einleitung gemacht und damit ihrerseits Gegenstand der Interpretation nach objektiven Gesichtspunkten; oder sie waren mangels Dokumentation nur noch schwer
30 Hierzu Harke, Römisches Recht (2008), Rn. 11.10 ff. 31 Zu eng scheint mir daher der Begriff der Subsumtion bei Horak, Rationes decidendi, S. 84 ff., der deduktive Entscheidungen häufig den abgesonderten „Wahrscheinlichkeitsbegründungen“ zuweist. Dass Fallentscheidungen unscharf sind, bedeutet noch nicht, dass man ihnen den Charakter der Deduktion absprechen kann. 32 Dieses wurde auch ausgenutzt; vgl. Giaro, Römische Rechtswahrheiten (2007), S. 460. 33 Vgl. Vonglis, La lettre et l’esprit de la loi (1961), S. 180 und Medicus, in: ders./Seiler (Hrsg.), Studien im römischen Recht (1973), S. 77 ff.
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oder gar nicht greifbar und bloß aus dem sozialen Kontext der Gesetzgebung zu erschließen. Ein Fall einer solchen Auslegung, die nach moderner Terminologie als subjektiv-teleologisch gelten könnte, ist wiederum im Werk des Celsus überliefert, der sich mit der Haftung des Eigentümers eines Sklaven für eine von diesem verübte Untat beschäftigt: 14
D 9.4.2 Ulp 18 ed Si servus sciente domino occidit, in solidum dominum obligat, ipse enim videtur dominus occidisse: si autem insciente, noxalis est, nec enim debuit ex maleficio servi in plus teneri, quam ut noxae eum dedat. (1) Is qui non prohibuit, sive dominus manet sive desiit esse dominus, hac actione tenetur: sufficit enim, si eo tempore dominus, quo non prohibeat, fuit, in tantum, ut Celsus putet, si fuerit alienatus servus in totum vel in partem vel manumissus, noxam caput non sequi: nam servum nihil deliquisse, qui domino iubenti obtemperavit. … Celsus tamen differentiam facit inter legem Aquiliam et legem duodecim tabularum: nam in lege antiqua, si servus sciente domino furtum fecit vel aliam noxam commisit, servi nomine actio est noxalis nec dominus suo nomine tenetur, at in lege Aquilia, inquit, dominus suo nomine tenetur, non servi. utriusque legis reddit rationem, duodecim tabularum, quasi voluerit servos dominis in hac re non obtemperare, Aquiliae, quasi ignoverit servo, qui domino paruit, periturus si non fecisset. …34 Hat ein Sklave mit Wissen seines Eigentümers getötet, macht er diesen in vollem Umfang (aus der lex Aquilia) haftbar; denn der Eigentümer wird so angesehen, als habe er selbst getötet. Hat der Sklave dagegen ohne Wissen seines Eigentümers getötet, greift die Noxalhaftung ein, und der Eigentümer haftet für die Untat des Sklaven nur mit der Einschränkung, dass er ihn dem Geschädigten ausliefern kann. (1) Wer den Sklaven nicht an seiner Tat gehindert hat, haftet mit der Klage (aus der lex Aquilia), und zwar unabhängig davon, ob er der Eigentümer bleibt oder diese Rechtsstellung aufgibt; denn es genügt, dass er Eigentümer zu dem Zeitpunkt war, in dem er die Tat nicht verhindert hat. Dies geht, wie Celsus glaubt, so weit, dass die Noxalhaftung, wenn der Sklave ganz oder zum Teil veräußert oder freigelassen wird, nicht dem Sklaven folgt. Denn der Sklave, der nur dem Befehl seines Herrn gefolgt sei, habe nichts verbrochen. … Celsus differenziert zwischen der lex Aquilia und dem Zwölftafelgesetz. Denn nach dem älteren Gesetz greift auch dann, wenn der Sklave mit Wissen des Herrn einen Diebstahl oder eine andere Untat begangen hat, zulasten der Sklaven die Noxalhaftung ein, und der Eigentümer haftet nicht für eigenes Unrecht, während nach der lex Aquilia der Eigentümer für die eigene Tat verantwortlich ist, nicht für die des Sklaven. Er gibt auch für jedes der beiden Gesetze den Gesetzeszweck an: Das Zwölftafelgesetz habe gewollt, dass die Sklaven ihren Herrn in diesem Fall nicht gehorchen, die lex Aquilia habe einen Sklaven, der dem Befehl seines Eigentümers folgt, entschuldigt, da er zu sterben drohte, wenn er es nicht getan hätte. …
15 Nach einem Satz des 450 v. Chr. geschaffenen Zwölftafelgesetzes haftete der Eigentü
mer eines Sklaven zwar für dessen Delikte, aber nur mit der Einschränkung, dass er sich durch die Auslieferung des Sklaven befreien konnte. Diese sogenannte Noxalhaftung traf ihn nur so lange, wie er Eigentümer des Sklaven war, und ging mit dessen Übereignung auf seinen Erwerber, bei einer Freilassung des Sklaven auf diesen selbst
34 Hierzu ausführlich Harke, Argumenta Iuventiana, S. 70 ff.
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II. Deduktion
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über. Etwas anderes galt, wenn der Sklave die Tat auf Geheiß oder zumindest mit Wissen des Eigentümers verübt hatte. In diesem Fall haftete der Eigentümer, der sich des Sklaven wie eines Instruments bedient hatte, aufgrund der 286 v. Chr. entstandenen lex Aquilia selbst. Nach Ansicht von Celsus35 konkurrierte diese Eigenhaftung des Sklavenherrn nicht mit der älteren Noxalhaftung, so dass diese auch nicht auf dem Sklaven lasten und mit seiner Veräußerung oder Freilassung übergehen konnte. Als Grund für den Wegfall der Noxalhaftung beruft sich Celsus auf die unterschiedliche gesetzgeberische Absicht, die hinter dem Zwölftafelgesetz und der lex Aquilia stehe: Während die dem Sklaven anlastende Haftung aus dem älteren Gesetz auf der Erwägung beruhe, ein Sklave solle sich dem Befehl seines Herrn zur Untat widersetzen, liege der Eigenhaftung des Herrn nach der lex Aquilia die Erwägung zugrunde, ein Sklave könne sich der Anordnung seines Eigentümers kaum entziehen; er sei deshalb gewissermaßen entschuldigt und von einer ihn betreffenden Haftung ausgenommen. Für diese Auffassung spricht in der Tat der soziale Hintergrund der beiden Gesetze, der in der Behandlung des Sklaven als Objekt eines Delikts zum Ausdruck kommt: Während er im älteren Zwölftafelgesetz immerhin noch als ein – gegenüber einem Freigeborenen freilich geringwertiger – Mensch behandelt wurde,36 stand er in der lex Aquilia auf einer Stufe mit Tieren und Sachen. Diesem Wandel seiner sozialen Rolle entsprach es, wenn ihm zunächst Eigenverantwortung zugemutet, später erspart werden sollte. Unter den Zeugnissen objektiv-teleologischer Interpretation gibt es in den rö- 16 mischen Quellen auch solche, die man nach moderner Terminologie einer systematischen Gesetzesauslegung zuordnen würde. Richtig verstanden, handelt es sich bei ihr ebenso wenig um ein eigenständiges Interpretationskriterium wie bei der sogenannten Auslegung nach dem Wortlaut. Die Bedeutung eines Wortes lässt sich stets in zweifacher Weise ermitteln: Entweder man geht vom allgemeinen Sprachgebrauch aus, wie er sich aus der Perspektive des Rechtsanwenders darstellt; dann ist die Wortlautauslegung bloß ein Unterfall der objektiv-teleologischen Interpretation. Oder man geht vom individuellen Sprachgebrauch des Urhebers einer gesetzlichen Bestimmung aus; dann bemüht man sich darum, die subjektive Zwecksetzung des Gesetzgebers zu ermitteln. Entsprechendes gilt für die systematische Gesetzesauslegung: Zieht man eine andere Bestimmung desselben oder eines Gesetzes heran, das mit dem auszulegenden in einem Kontext steht, um hieraus auf seinen Zweck zu schließen, ist man dem Willen des Gesetzgebers auf der Spur. Blickt man auf die korrespondierenden Bestimmungen, um einen Widerspruch zwischen ihnen und der auszulegenden Norm zu vermeiden, trägt man an das Gesetz die Prämisse heran, ein vernünftiger Gesetzgeber wi
35 Sie war, wie der Fortgang des Textes zeigt, nicht durchsetzungsfähig, sondern musste der gegensätzlichen Auffassung Julians weichen, die den Beifall Marcells und Ulpians fand. 36 Vgl. XII-T 8.3: Manu fustive si os fregit libero CCC, si servo CL poenae sunto. („Hat jemand mit der Hand oder mit einem Stock einem Freien einen Knochen gebrochen, soll die Strafe 300 Ass betragen, hat er den Knochen eines Sklaven gebrochen, 150 Ass.“ Harke
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§ 2 Juristenmethode in Rom
derspreche sich nicht selbst, und forscht so wieder nach dem objektiven Zweck des Gesetzes. Ein hervorragendes Beispiel für diese zweite Variante der systematischen Auslegung bietet die Interpretation des dritten Kapitels der lex Aquilia durch die römischen Juristen: 17
D 9.2.27.13, 15 f. Ulp 18 ed
Inquit lex ‚ruperit‘. rupisse verbum fere omnes veteres sic intellexerunt ‚corruperit‘. … (15) Cum eo plane, qui vinum spurcavit vel effudit vel acetum fecit vel alio modo vitiavit, agi posse Aquilia Celsus ait, quia etiam effusum et acetum factum corrupti appellatione continentur. (16) Et non negat fractum et ustum contineri corrupti appellatione, sed non esse novum, ut lex specialiter quibusdam enumeratis generale subiciat verbum, quo specialia complectatur: quae sententia vera est. Das Gesetz sagt: ‚zerrissen hat‘. Fast alle alten Juristen haben den Ausdruck: ‚zerrissen haben‘, in der Bedeutung: ‚beschädigt haben‘, verstanden. … (15) Gegen denjenigen aber, der Wein verschnitten, ausgegossen, zu Essig gemacht oder auf eine andere Weise verdorben hat, kann, wie Celsus sagt, aus der lex Aquilia geklagt werden, weil auch ausgegossener oder zu Essig gemachter Wein vom Begriff ‚beschädigt‘ erfasst ist. (16) Und er leugnet nicht, dass die Ausdrücke ‚zerbrochen‘ und ‚verbrannt‘ ebenfalls von der Bezeichnung ‚beschädigt‘ erfasst werden. Es sei jedoch nicht ungewöhnlich, dass ein Gesetz erst spezielle Begriffe aufzähle und dann einen generellen Begriff aufführe, der die speziellen umfasse. Diese Ansicht ist richtig.37
18 In ihrem dritten Kapitel, das seit der Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter
zur Grundlage der Deliktshaftung schlechthin werden sollte,38 ordnete die lex Aquilia an, dass jemand den Schaden zu ersetzen hat, den er einem anderen dadurch zufügt, dass er dessen Sache widerrechtlich verbrennt, zerbrochen oder zerrissen hat. Um die Haftung von diesen Tathandlungen zu lösen, begriffen schon die Juristen der römischen Republik das Verb rumpere, das eigentlich „zerreißen“ heißt, im Sinne von corrumpere, was „beschädigen“ bedeutet und damit jede körperliche Einwirkung auf die betroffene Sache abdeckt. War rumpere damit zu einem umfassenden Tatbestand geworden, stellte sich unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis zu den beiden anderen im Gesetz genannten Tatvarianten des Verbrennens (urere) und Zerbrechens (frangere). Celsus beantwortet sie, indem er sie zu Spezialtatbeständen erklärt, die das Gesetz gleichsam als Beispiele der Generalnorm voranstelle. So entzieht er das neue Verständnis der lex Aquilia dem Vorwurf, einen Widerspruch in das Gesetz hineinzutragen, und zeigt, dass sie nach wie vor dem Anspruch kohärenter Gesetzgebung gerecht wird.
37 Hierzu ausführlich Harke, Argumenta Iuventiana, S. 60 ff. 38 Hierzu etwa Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 953 ff.
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III. Rechtsfortbildung
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III. Rechtsfortbildung Begnügte man sich mit der Feststellung, die römische Jurisprudenz sei, wenn auch 19 auf anderen Grundlagen, ähnlich deduktiv vorgegangen wie die moderne Rechtswissenschaft, wäre dies nur die halbe Wahrheit. Schon um zu den Regeln zu gelangen, aus denen sich später Falllösungen deduktiv entwickeln ließen, bedurfte es rechtsschöpferischer Tätigkeit, die auf die Herausbildung neuer oder die Falsifizierung alter Juristenregeln angelegt war. Anders als das Gesetzesrecht konnten sie unter Berufung auf übergeordnete Wertmaßstäbe wie Güte (benignitas),39 Menschlichkeit (humanitas),40 Billigkeit (aequitas) oder Nützlichkeit (utilitas)41 ohne Weiteres vernachlässigt werden.42 Die römischen Juristen machten von dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrauch, allerdings in höchst unterschiedlichem Maße und in ihrer Gesamtheit eher selten (s. o. Rn. 5). Nicht anders als in der heutigen Rechtsliteratur dienten Wertungen statt zur Rechtsschöpfung oder -kritik eher dazu, das bestehende Normenprogramm plausibel zu machen.
1. Fortentwicklung des Juristenrechts Weitaus größere Bedeutung als dem Rekurs auf Wertmaßstäbe kam im Bereich des Ju- 20 ristenrechts zwei Faktoren zu, die von den römischen Juristen, wenn überhaupt, dann nur ansatzweise als Entscheidungskritierien benannt und in aller Regel einfach vorausgesetzt wurden: zum einen der Rücksicht auf den Geschäftsgebrauch, zum anderen dem Gebot der Gleichbehandlung, das unausgesprochen jeder Entscheidung über die Anwendung oder Vernachlässigung einer Rechtsregel in einem noch nicht entschiedenen Fall zugrunde liegt (s. o. Rn. 4).43 Wie diese beiden Faktoren zusammen
39 Hierzu Wubbe, FG Herdlitczka (1972), S. 295 ff.; Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen im klassischen römischen Recht und in der modernen Völkerrechtswissenschaft (1998), S. 591 ff.; Harke, Argumenta Iuventiana, S. 114 ff. 40 Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen im klassischen römischen Recht und in der modernen Völkerrechtswissenschaft (1998), S. 623 ff. 41 Hierzu Ankum, Utilitatis causa receptum, Symbolae juridicae et historicae (1968), S. 1 ff.; Harke, Argumenta Iuventiana, S. 118 ff. 42 Mit „Vorgegebenheiten“ im Allgemeinen befasst sich Waldstein, in: Temporini/Haase (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II.15 (1976), S. 1 ff. 43 Mit den theoretischen Stellungnahmen der römischen Juristen zur Rechtsfindung durch Fallanknüpfung und Regelbildung befasst sich vor allem Vacca, Metodo casistico e sistema prudenziale (2005). Da sich die überlieferten Fragmente aus den Digestentiteln 1.3, 50.16 und 50.17 meist auf einen oder wenige Sätze beschränken und der ursprüngliche Kontext dieser Aussagen unklar ist, darf man ihren Wert für die methodologische Analyse nicht überschätzen.
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wirkten und die Ausbildung eines neuen Rechtsprinzips zeitigten, zeigt eindrucksvoll die Entwicklung der Rechtsmängelhaftung:44 21 Dass die römischen Juristen sich zu keiner Zeit dazu durchringen konnten, dem Käufer ein Recht auf Verschaffung des Eigentums an der Kaufsache zu geben,45 hatte seinen guten Grund darin, dass sich in der Praxis ein Äquivalent herausgebildet hatte, dessen Übernahme in das Kaufrecht weitaus einfacher war als dessen völlige Umgestaltung durch Einführung eines Übereignungsanspruchs: Im Anschluss an eine vermutlich auf das Zwölftafelgesetz zurückgehende Haftung des Verkäufers einer durch Ritualgeschäft veräußerten fremden Sache vereinbarten die Parteien eines Kaufvertrags regelmäßig in Form eines selbständigen Schuldversprechens (stipulatio), dass der Verkäufer für einen Rechtsmangel Gewähr zu leisten habe. Dies bedeutete, dass er, wenn dem Käufer die Sache abgenommen wurde, einen Geldbetrag zu leisten hatte, der entweder im doppelten oder einfachen Kaufpreis bestand oder dem Interesse entsprach, das der Käufer daran hatte, die Kaufsache zu behalten. Versprechen dieser Art wurden derart üblich, dass die römischen Juristen ab Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. annahmen, mangels abweichender Vereinbarung habe der Käufer kraft des Gebots der guten Treue (bona fides) einen Anspruch darauf, dass der Verkäufer eine solche Garantie abgibt. Der Inhalt des zu erzwingenden Versprechens variierte. Wo es dem örtlichen Geschäftsgebrauch entsprach, konnte der Käufer die Abgabe einer Zusage zur Zahlung des doppelten Kaufpreises verlangen:
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D 21.1.31.20 Ulp 1 ed aed cur Quia adsidua est duplae stipulatio, idcirco placuit etiam ex empto agi posse, si duplam venditor mancipii non caveat: ea enim, quae sunt moris et consuetudinis, in bonae fidei iudiciis debent venire. Da die Stipulation des doppelten Kaufpreises ständig vorgenommen wird, ist die Ansicht herrschend, dass auch aus dem Kauf geklagt werden könne, falls der Verkäufer eines Sklaven keine Sicherheit in Höhe des Doppelten geleistet hat. Was Sitte und Gebräuchen entspricht, ist nämlich von Klagen auf gute Treue erfasst.
23 Im Übrigen hatte er nur ein Recht darauf, dass der Verkäufer ihm durch eine so-
genannte stipulatio habere licere für den Fall einer Entwehrung der Kaufsache den Ersatz des Interesses versprach, das der Käufer am ungestörten Besitz der Kaufsache hatte:
44 Hierzu Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht (20. Aufl. 2014), Rn. 41.25 ff.; Harke, Römisches Recht (2008), Rn. 8.14. 45 Richtig Ernst, Rechtsmängelhaftung (1995), S. 12 ff. gegen Rabel, Die Haftung des Verkäufers wegen Mangels im Rechte, Bd. I: Geschichtliche Studien über den Haftungserfolg (1902), S. 76 ff., der immerhin eine Entwicklung hin zu einer Rechtsverschaffungspflicht erkennt.
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D 19.1.11.8 Ulp 32 ed Idem Neratius, etiamsi alienum servum vendideris, ... ait et ex empto actionem esse, ut habere licere emptori caveatur, sed et ut tradatur ei possessio. Neraz sagt ferner, es sei allgemein anerkannt, dass auch dann, wenn du einen fremden Sklaven verkauft hast, … die Kaufklage dafür gegeben sei, dass dem Käufer durch Stipulation der ungestörte Besitz des Sklaven versprochen und dieser übertragen wird.
Hatte der Käufer die Sache schon an ihren wahren Eigentümer abgeben müssen, 25 musste sich das nutzlos gewordene Recht auf Abgabe einer Eviktionsgarantie in einen Anspruch auf Zahlung des Betrags wandeln, den der Verkäufer hätte versprechen müssen. Denn andernfalls hätte er gerade davon profitiert, dass er das geschuldete Versprechen noch nicht abgegeben hatte: 26
PS 2.17.2 Si res simpliciter traditae evincantur, tanto venditor emptori condemnandus est, quanto si stipulatione pro evictione cavisset. Hat er (der Verkäufer) die Sachen einfach übergeben und sind sie dann (dem Käufer) entwehrt worden, muss der Verkäufer dem Käufer in den Betrag verurteilt werden, in dessen Höhe er dem Käufer durch Stipulation für die Entwehrung Sicherheit geleistet hätte.
Gab es demnach eine regelrechte Garantiehaftung aufgrund des Kaufvertrags, konnte 27 dies nicht ohne Auswirkung auf die Entscheidung der Fälle bleiben, in denen dem Käufer die Kaufsache zwar nicht regelrecht abgenommen worden, der Kauf für ihn aber doch ebenso wertlos war. Ein Beispiel bildet der Fall, dass dem Käufer die Kaufsache schon aufgrund eines Vermächtnisses geschuldet war, aus dem ein Anspruch auf ihre Übereignung gegen den Verkäufer bestand. Der Jurist Julian, Zeitgenosse des Celsus und bedeutendster Vertreter der römischen Hochklassik, sprach sich dafür aus, dem Käufer unter diesen Umständen die Rückforderung des Kaufpreises zu gestatten. Denn nachdem der Verbleib der Kaufsache beim Käufer zum Gegenstand des Kaufvertrags gemacht geworden war, stellte er einen wesentlichen Teil der Leistung des Verkäufers dar, so dass er bei ihrem Ausfall auch den Kaufpreis nicht mehr beanspruchen könne, ohne das Gebot der guten Treue (bona fides) zu missachten:46 28
D 30.84.5 Iul 33 dig Qui servum testamento sibi legatum, ignorans eum sibi legatum, ab herede emit, si cognito legato ex testamento egerit et servum acceperit, actione ex vendito absolvi debet, quia hoc iudicium fidei bonae est et continet in se doli mali exceptionem. quod si pretio soluto ex testamento agere
46 Hierzu Harke, OIR 11 (2006), 63, 76 ff. und ders., Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 116 f.; anders Ernst, Rechtsmängelhaftung (1995), S. 34 ff.
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instituerit, hominem consequi debebit, actione ex empto pretium reciperabit, quemadmodum reciperaret, si homo evictus fuisset. quod si iudicio ex empto actum fuerit et tunc actor compererit legatum sibi hominem esse et agat ex testamento, non aliter absolvi heredem oportebit, quam si pretium restituerit et hominem actoris fecerit. Wer einen Sklaven, der ihm in einem Testament vermacht war, in Unkenntnis dieser Verfügung von dem Erben gekauft hat und, nachdem er von dem Vermächtnis erfahren hat, mit der Testamentsklage vorgegangen ist und den Sklaven erhalten hat, ist von der Verkäuferklage freizusprechen, weil sie auf Treu und Glauben gerichtet und ihr die Arglisteinrede inhärent ist. Hat er aber nach Zahlung des Kaufpreises die Testamentsklage angestellt, wird er den Sklaven erlangen; und aus dem Kauf erhält er den Kaufpreis ebenso wie in dem Fall zurück, dass der Sklave evinziert wird. Hat er aber aus dem Kauf geklagt, dann festgestellt, dass ihm der Sklave vermacht ist, und schließlich die Testamentsklage erhoben, ist der Erbe nur freizusprechen, wenn er den Kaufpreis zurückgibt und dem Kläger den Sklaven übereignet.
29 Die hinter dieser Entscheidung stehende ratio erzwang noch eine weitere Kon-
sequenz: War der Verbleib der Kaufsache beim Käufer wesentliche Gegenleistung für den vom Verkäufer vereinnahmten Kaufpreis, ließ sie sich ohne Verstoß gegen das Gebot der guten Treue auch nicht mehr abbedingen. Dies bedeutete, dass der Verkäufer den Kaufpreis im Fall einer Entwehrung der Kaufsache selbst dann zurückzahlen musste, wenn er ausdrücklich nur Gewähr dafür übernommen hatte, dass die Kaufsache dem Käufer weder von ihm selbst noch von seinen Erben streitig gemacht werde. Und sogar wenn der Verkäufer jegliche Haftung für Rechtsmängel ausgeschlossen hatte, sollte er bei einer Entwehrung der Kaufsache den Kaufpreis nicht behalten dürfen, weil der Käufer ja auch der Gegenleistung entbehrte: 30
D 19.1.11.18 Ulp 32 ed Qui autem habere licere vendidit, videamus quid debeat praestare. et multum interesse arbitror, utrum hoc polliceatur per se venientesque a se personas non fieri, quo minus habere liceat, an vero per omnes. nam si per se, non videtur id praestare, ne alius evincat: proinde si evicta res erit, sive stipulatio interposita est, ex stipulatu non tenebitur, sive non est interposita, ex empto non tenebitur. sed Iulianus libro quinto decimo digestorum scribit, etiamsi aperte venditor pronuntiet per se heredemque suum non fieri, quo minus habere liceat, posse defendi ex empto eum in hoc quidem non teneri, quod emptoris interest, verum tamen ut pretium reddat teneri. ibidem ait idem esse dicendum et si aperte in venditione comprehendatur nihil evictionis nomine praestatum iri: pretium quidem deberi re evicta, utilitatem non deberi: neque enim bonae fidei contractus hac patitur convenitone, ut emptor rem amitteret et pretium venditor retineret. … Sehen wir zu, wofür einstehen muss, wer eine Sache zum ungestörten Besitz verkauft hat. Ich glaube, dass es einen großen Unterschied macht, ob der Verkäufer lediglich verspricht, dass weder durch ihn noch durch seine Rechtsnachfolger bewirkt werde, dass der Käufer nicht ungestört besitzen kann, oder ob er aber verspricht, dass dies durch niemanden geschehe. Verspricht er nur, dass nichts durch ihn selbst geschehe, steht er nicht dafür ein, dass ein Dritter die Sache evinziert. Julian schreibt jedoch im 15. Buch seiner Digesten, es lasse sich die Ansicht vertreten, dass der Verkäufer mit der Kaufklage auch dann, wenn er ausdrücklich erklärt, es werde weder von ihm noch von seinen Erben bewirkt, dass der Käufer die Sache nicht ungestört besitzen kön-
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ne, zwar nicht auf das Interesse des Käufers, wohl aber darauf hafte, dass er den Kaufpreis zurückerstatte. An derselben Stelle meint er, dasselbe sei zu sagen, wenn in den Vertrag ausdrücklich aufgenommen wird, dass wegen Eviktion nicht gehaftet werde. In diesem Fall werde allerdings nur der Kaufpreis geschuldet, nicht das Interesse. Ein Vertrag auf gute Treue duldet nämlich keine Vereinbarung mit der Wirkung, dass der Käufer die Sache verliert und der Verkäufer den Kaufpreis behält.
Aus dem Geschäftsgebrauch, den Käufer durch eine Garantie gegen das Risiko eines 31 Rechtsmangels abzusichern, war so, vermittelt durch mehrere Schlüsse aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung, ein zwingender Inhalt des Kaufvertrags geworden. Dass der Käufer außer der Übergabe der Kaufsache erwarten konnte, diese zu behalten, war nun Gegenstand einer neuen Juristenregel geworden, die den alten Grundsatz, dass der Käufer keinen Anspruch auf Eigentumsverschaffung hatte, praktisch entwertete.47
2. Fortbildung des Gesetzesrechts Ähnlich frei wie mit den von der Jurisprudenz aufgestellten Regeln gingen die rö- 32 mischen Juristen mit dem Gesetzesrecht um. Motor der Rechtsentwicklung war auch hier wieder das Gebot der Gleichbehandlung wesentlich gleichgelagerter Fälle. Es gab den Ausschlag dafür, dass die römischen Juristen dem Gerichtsmagistrat empfahlen, eine Klage nach dem Vorbild eines gesetzlichen Anspruchs zu gewähren, um zu vermeiden, dass eine unerhebliche Abweichung vom gesetzlichen Tatbestand zu einer Rechtsschutzlücke führte. Besonders groß war die Zahl solcher nachgebildeter Klagen im Bereich der außervertraglichen Haftung. War die Schadensersatzpflicht aus der lex Aquilia durch das weite Verständnis des Tatbestandsmerkmals rumpere im Sinne von corrumpere auch von der Festlegung auf bestimmte Tathandlungen gelöst (s. o. Rn. 17 ff.), war sie doch immer noch an das Erfordernis einer körperlichen Einwirkung auf die geschädigte Sache oder den verletzten Sklaven gebunden. Hatte jemand den Schaden ohne eine körperliche Berührung, etwa durch Freiheitsentzug oder durch den Drang zu übermäßiger Anstrengung von Sklaven oder Tieren, verursacht, konnte der Geschädigte gegen ihn mit einer „analogen Klage“ (actio utilis) vorgehen, die nach dem Vorbild der „direkten Klage“ (actio directa) aus der lex Aquilia gewährt wurde:
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IJ 4.3.16 Ceterum placuit, ita demum ex hac lege actionem esse, si quis praecipue corpore suo damnum dederit. ideoque in eum qui alio modo damnum dederit, utiles actiones dari solent: veluti si quis hominem alienum aut pecus ita incluserit ut fame necaretur, aut iumentum tam vehementer ege-
47 Dass die Fallanknüpfung der Herausbildung und Bewährung von Juristenregeln dient, macht auch Knütel, GS Heinze, S. 488 ff., 497 geltend.
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rit ut rumperetur, aut pecus in tantum exagitaverit ut praecipitaretur, aut si quis alieno servo persuaserit ut in arborem ascenderet vel in puteum descenderet, et is ascendendo vel descendendo aut mortuus fuerit aut aliqua parte corporis laesus erit, utilis in eum actio datur. sed si quis alienum servum de ponte aut ripa in flumen deiecerit et is suffocatus fuerit, eo quod proiecerit corpore suo damnum dedisse non difficiliter intellegi poterit ideoque ipsa lege Aquilia tenetur. sed si non corpore damnum fuerit datum neque corpus laesum fuerit, sed alio modo damnum alicui contigit, cum non sufficit neque directa neque utilis Aquilia, placuit eum qui obnoxius fuerit in factum actione teneri: veluti si quis, misericordia ductus, alienum servum compeditum solverit, ut fugeret. Im Übrigen hat sich die Meinung durchgesetzt, dass nach diesem Gesetz eine Klage nur gegeben ist, wenn jemand den Schaden vornehmlich durch körperliche Einwirkung zugefügt hat. Deshalb pflegt man gegen den, der den Schaden auf andere Weise zugefügt hat, analoge Klagen zu gewähren. Eine solche wird zum Beispiel gegen den gewährt, der einen fremden Sklaven oder fremdes Vieh einsperrt, so dass sie verhungern, oder ein Zugtier so heftig antreibt, dass es Schaden nimmt, oder Herdenvieh so antreibt, dass es zugrunde geht, oder einen fremden Sklaven überredet, auf einen Baum oder in einen Brunnen zu steigen, wenn der Sklave beim Hinaufklettern oder Hinabsteigen entweder zu Tode kommt oder sich an irgendeinem Körperteil verletzt. Stößt aber jemand einen fremden Sklaven von einer Brücke oder vom Ufer in den Fluss und ertrinkt dieser, kann man unschwer erkennen, dass er, indem er stößt, den Schaden durch körperliche Einwirkung verursacht und deshalb aus der lex Aquilia selbst haftet. Wird der Schaden jedoch nicht durch körperliche Einwirkung zugefügt und auch kein Körper verletzt, sondern entsteht jemandem auf andere Weise ein Schaden, haftet der Schuldige, weil weder die unmittelbare noch eine analoge aquilische Klage in Betracht kommt, nach allgemeiner Meinung mit einer auf den Sachverhalt zugeschnittenen Klage: wie zum Beispiel, wenn jemand aus Mitleid einem fremden Sklaven die Fesseln löst, damit er fliehen kann.
34 Der byzantinische Kaiser Justinian, der von dieser Praxis der römischen Prätoren be-
richtet, ging selbst noch einen Schritt weiter und ließ eine „auf den Sachverhalt zugeschnittene Klage“ (actio in factum) zu, falls jemand ohne körperliche Beeinträchtigung einer Sache oder eines Sklaven einen Schaden erlitten hatte. So führt er eine Ersatzpflicht für reine Vermögensschäden ein, die im klassischen römischen Recht eigentlich nur Gegenstand vertraglicher Ansprüche und der Klage wegen arglistiger Schädigung (actio de dolo) waren. Die zu diesem Zweck gewährte actio in factum ist ein schon im klassischen Recht gebräuchliches Instrument und ebenso wie die actio utilis in aller Regel das Produkt eines Analogieschlusses,48 der jedoch weiter reicht als bei der actio utilis und daher auch nicht durch einfache Umgestaltung des Formulars der gesetzlichen Klage auskommt, sondern auf die Nennung des anspruchsbegründenden Tatbestands im Klageformular angewiesen ist.49 Die so eröffnete Freiheit im
48 Wesel, Rhetorische Statuslehre und Gesetzesauslegung der römischen Juristen (1967), S. 133 f. hält ihn für eine Zwischenstufe zwischen der sogenannten „identifizierenden Interpretation“, bei der man nicht wagte, sich über den Gesetzeswortlaut hinwegzusetzen, und der Argumentationsstufe, bei der man sich mit dem Sinn eines Gesetzes offen gegen dessen Wortlaut stellen konnte. 49 Zu den actiones in factum und ihrem Verhältnis zu den actiones utiles eingehend Gröschler, Actiones in factum (2002).
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IV. Zusammenfassung
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Umgang mit dem Gesetzesrecht war hier wie dort geborgt von der Rechtssetzungsbefugnis des Gerichtsmagistrats, der das bestehende Gesetzesrecht ergänzen und korrigieren konnte, und von dieser Befugnis auf Empfehlung der ihn beratenden Rechtsgelehrten Gebrauch machte.
IV. Zusammenfassung Die Rechtsfindung war in Rom nicht der Intuition überlassen, sondern verlief plan- 35 mäßig, zuweilen gar systematisch. Ausgangspunkt der Deduktion war weniger das lückenhafte Gesetzesrecht, bei dessen Anwendung die römischen Juristen in aller Regel auf seinen vernünftigen Sinn, gelegentlich aber auch auf die Absicht des historischen Gesetzgebers achteten. Im Zentrum der Entscheidungsfindung standen die Regeln des Juristenrechts, die ein dichtes Netz subsumtionsfähiger Sätze bildeten. Anders als das Gesetzesrecht war diese Regelungsmasse jedoch einem steten Wandel unterworfen, indem die römischen Juristen neue Regeln entwarfen, die ältere entweder ergänzten oder sogar obsolet machten. Triebfeder dieser Rechtsentwicklung waren zwei Faktoren: die Rücksicht auf den Geschäftsgebrauch und der Grundsatz der Gleichbehandlung, der unausgesprochen jeden Schluss von einer feststehenden Entscheidung oder einer schon geschaffenen Regel auf einen noch ungelösten Fall steuerte. Eine vergleichbare Freiheit bei der Fortbildung des Gesetzesrechts erlangten die römischen Juristen dadurch, dass der römische Gerichtsmagistrat auf ihre Empfehlung hin Rechtsschutz in Anlehnung an gesetzliche Ansprüche gewähren konnte, womit die Gesetzesbindung praktisch beseitigt war.
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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts Literatur (weitere in der 2. Auflage): Hidetake Akamatsu/Joachim Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen – Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“ (2000); Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik (2. Aufl. 2004); Charles Aubry/Charles Rau, Cours de droit civil français d’après la méthode de Zachariae (4. Aufl. 1869); Martin Avenarius (Hrsg.), Savigny, Pandekten – Obligationenrecht, Allgemeiner Teil (2008); Christian Baldus, „Historische Auslegung“ in Rom? Der Umgang römischer Juristen mit dem Normtext als Methodenfrage, Seminarios Complutenses de Derecho Romano 20–21 (2007/2008), S. 85–110; ders., Die Auslegung nach dem Willen: und eine Heidelberger These von Otto Gradenwitz, in: ders./Herbert Kronke/Ute Mager (Hrsg.), Heidelberger Thesen zu Recht und Gerechtigkeit (2013), S. 207–225; ders., Rechtsgeschichte, Privatrecht und Methode in der Union, in: Cordula Stumpf/Friedemann Kainer/Christian Baldus (Hrsg.), Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungsrecht: Privatinitiative und Gemeinwohlhorizonte in der europäischen Integration. Festschrift für Peter-Christian Müller-Graff zum 70. Geburtstag am 29. September 2015 (2015) 51–58; ders., Der Prophet im fremden Land? Zum 250. Geburtstag von Karl Salomo Zachariae, ZEuP 27 (2019) 724–741; ders., Geschichte der Rechtsmethode – Methode der Rechtsgeschichte. Der Entscheidungsspielraum als Angelpunkt rechtsgeschichtlichen Methodendenkens, JZ 74 (2019) 633–639; ders./Thomas Raff, Richterliche Interpretation des Gemeinschaftsrechts, in: Martin Gebauer/Christoph Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Band 6: Europäisches Privat- und Unternehmensrecht (2. Aufl. 2021 im Druck); Christian Baldus/Frank Theisen/Friederike Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung. Entstehung und Auslegungsfähigkeit von Normen (2013); Olivier Cachard/François-Xavier Licari/François Lormant (sous la dir. de), La pensée de François Gény (2013); Franco Bianco, Introduzione all’ermeneutica (5. Aufl. 2007); Meinrad Böhl/Wolfgang Reinhard/Peter Walter (Hrsg.), Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart (2013); Walter Boente, Nebeneinander und Einheit im Bürgerlichen Recht (2013); Cosimo Cascione/Carla Masi Doria (Hrsg.), Fides Humanitas Ius: Studi in onore di Luigi Labruna (2007); Francisco Cuena Boy, Sistema jurídico y Derecho Romano. La idea de sistema jurídico y su proyección en la experiencia jurídica romana (1998); ders., Una storia dell’interpretazione, Index 2005, 7–77; Jean-Louis Ferrary (Hrsg.), Leges publicae – La legge nell’esperienza giuridica romana (2012); François Gény, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif (2. Aufl. 1919); Alejandro Guzmán Brito, Historia de la interpretación de las normas en el derecho romano (2. Aufl. 2011); Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004); ders., Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen, AcP 214 (2014), 60–92; ders., Thibaut und die Historische Rechtsschule, in: Christian Hattenhauer/Klaus-Peter Schroeder/Christian Baldus (Hrsg.), Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840). Bürger und Gelehrter (2017) 59–76; ders., Die Historische Rechtsschule (2018); Günter Hager, Methoden in Europa (2009); Horst Hammen (Hrsg.), Savigny, Pandektenvorlesung 1824/1825 (1993); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode. Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre (2009); Benjamin Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien. Eine rechtsvergleichende Untersuchung aus genetischer, funktionaler und postmoderner Perspektive. Zugleich ein Plädoyer für mehr Savigny und weniger Jhering (2014); Ulrich Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1–17; Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung (5. Aufl. 2018); Matthias Klatt, Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation (2004); Benjamin Lahusen, Alles Recht geht vom Volksgeist aus. Friedrich Carl von Savigny und die moderne Rechtswissenschaft (2013, Ndr. 2019); Aldo Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2. Aufl. 2004); Stephan Meder, Mißverstehen und VersteBaldus https://doi.org/10.1515/9783110614305-003
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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: 19. Jahrhundert
hen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik (2004); ders., Rechtsgeschichte (6. Aufl. 2017); ders., Grundprobleme und Geschichte der juristischen Hermeneutik, in: Senn/Fritschi (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Hermeneutik (2009), S. 19–37; ders., Auslegung als Kunst bei Savigny, in: Gottfried Gabriel/Rolf Gröschner (Hrsg.), Subsumtion. Schlüsselbegriff der Juristischen Methodenlehre (2012), S. 149–177; Stephan Meder u. a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft (2013); Stephan Meder u. a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik im 20. Jahrhundert: Eine Anthologie von Grundlagentexten der deutschen Rechtswissenschaft (2018); Stephan Meder/Christoph-Eric Mecke (Hrsg.), Savigny global 1814–2014: „Vom Beruf unsrer Zeit“ zum transnationalen Recht des 21. Jahrhunderts (2016); Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen (2004); ders., Gönner, Feuerbach, Savigny. Über Deutungshoheit und Legendenbildung in der Rechtsgeschichte (2018); Friederike Nüssel (Hrsg.), Schriftauslegung (2014); Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre (3. Aufl. 2008; 4. Aufl. im Druck); Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (2. Aufl. 2018); ders., Die Historische Rechtsschule nach 200 Jahren – Mythos, Legende, Botschaft, JZ 2010, 1–9; Joachim Rückert/Thomas Duve (Hrsg.), Savigny international (2015); ders./Frank L. Schäfer, Repertorium der Vorlesungsquellen zu Friedrich Carl von Savigny (2016); Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933) (2. Aufl. 2012; 3. Aufl. i.V.); Letizia Vacca, L’interpretazione analogica nella giurisprudenza classica, in: Cosimo Cascione/Carla Masi Doria (Hrsg.), Fides Humanitas Ius: Studi in onore di Luigi Labruna, Bd. VII (2007), S. 5727–5746; Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840); C.S. Zachariae, Cours de Droit Civil Français, t. premier – Traduction par Aubry et Rau (1839); Giuseppe Zaccaria, La comprensione del diritto (2012); Karl Salomo Zachariä, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts (1805); ders., Handbuch des Französischen Civilrechts. Erster Band (4. Aufl. 1837); Friederike Zedler, Mehrsprachigkeit und Methode. Der Umgang mit dem sprachlichen Egalitätsprinzip im Unionsrecht (2016).
Systematische Übersicht Vorbemerkung 1 Einführung 2–21 1. Problemstellung: Entscheidungsmechanismen und Transparenzmechanismen 2–4 2. Rechtsvergleichender Überblick 5–11 3. Untersuchungsgegenstand. Grenzen. Geltendrechtliche Perspektiven 12–21 II. Römische Tradition: Normbildung und interpretatio 22–28 III. Hermeneutische Positionen um 1800 29–44 1. Spätes Gemeines Recht und geistiges Umfeld 29 2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik: Grundlinien der Methodenlehre Savignys 30–40 I.
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3.
Überblick: Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken 41–44 IV. Kernpunkte der Methodenlehre Savignys 45–78 1. Vorlesungen 46–56 2. Der „Beruf“ 57–61 3. Das „System“ 62–78 V. Deutsche Pandektenwissenschaft im 19. Jahrhundert 79–103 1. Voraussetzungen 79 2. Überblick zu einzelnen Autoren 80–96 3. Fortwirkungen 97–103 VI. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert und Überschneidungsbereiche 104–111 VII. Epilog: Was interessiert uns das 19. Jahrhundert? 112–125
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Vorbemerkung Die modernrechtlichen Passagen aus der ersten und zweiten Auflage konnten an an- 1 derer Stelle fortentwickelt werden.1 Zur römischen Tradition vgl. zunächst § 2 dieses Handbuchs; das bis zu ersten Auflage Ausgeführte ist in Rn. 22 ff. kurz zusammengefasst. Der Text behandelt weiterhin Geschichte der Methode, konzentriert vor allem auf das 19. Jh.2
I. Einführung 1. Problemstellung: Entscheidungsmechanismen und Transparenzmechanismen Der folgende Text fragt geschichtlich nach einem zentralen Problem der heutigen ju- 2 ristischen Methode und nach dessen Hintergründen: nach der Gesetzesbindung des Richters und hier nach der Abgrenzung von Auslegung und Analogie. Zentral ist diese Abgrenzung für die Gegenwart aus praktischen wie aus verfassungsrechtlichen Gründen. Der Richter soll so weit als möglich auf seine Funktion als Rechtsanwender be- 3 schränkt werden. Er soll sich nicht zum Gesetzgeber aufschwingen dürfen. Doch müssen auch solche Fälle entschieden werden, deren Lösung nicht als eindeutig gilt: Das Gesetz verspricht umfassenden Rechtsschutz. Daher braucht die Rechtsordnung einen Mechanismus, der richterliche Entscheidung und zugleich eine spezifische Kontrolle über die richterliche Entscheidungsfindung ermöglicht. Ein solcher Mechanismus wird auch durch ein noch so präzise gefasstes gesetzli- 4 ches System nicht entbehrlich. Das lehrt die Erfahrung mit den großen Kodifikationen. Ebenso hat sich gezeigt, dass es nicht genügt, prozedurale Bindung des Richters über die Pflicht zur Rückfrage etwa bei einer Gesetzgebungskommission zu schaffen (référé législatif): Solche Mechanismen funktionieren nicht.3 Die Freiheit des Richters lässt sich lenken, aber nicht vermeiden. Welche Lenkungsmechanismen eine Rechts-
1 Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht (2016; 2. Aufl. i.V.); Baldus/ Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung (2013); Staudinger/Eckpfeiler/Baldus (2020), Einleitung. 2 Über „Geschichte der Rechtsmethode – Methode der Rechtsgeschichte“ Baldus JZ 2019, 633–639. 3 Das beginnt bereits bei Justinian (unten Rn. 26). Zum référé législatif Meder, JZ 2006, 477–484, 480 f.; zur Blütezeit des Glaubens an den Wert von Gesetzeskommissionen vgl. Alvazzi del Frate, L’interpretazione autentica nel XVIII secolo (2000); ders., Giurisprudenza e référé législatif in Francia nel periodo rivoluzionario e napoleonico (2005). In deutscher Sprache Miersch, Der sogenannte référé législatif (2000). Es gab durchaus Gesetzesautoren, die nicht der Illusion folgten, Auslegung könne durch ein gutes Gesetz entbehrlich werden; vgl. zu von Zeiller und dem ABGB Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen (2004), S. 259 ff.
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ordnung ergreift, das spiegelt ihre Rechtsquellenlehre, aber auch das Maß ihres Vertrauens in den Richter.
2. Rechtsvergleichender Überblick 5 Allgemein kann man das Handeln des Richters jenseits des ihm von der jeweiligen
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Rechtsordnung für den Regelfall gezogenen Rahmens als Rechtsfortbildung bezeichnen. Für die deutsche Rechtsordnung ist die zentrale (und die einzige uneingeschränkt anerkannte) Erscheinungsform der Rechtsfortbildung die Analogie. Hingegen sprechen die romanischen Rechtsordnungen ohne so scharfe Abgrenzung zum Normalfall richterlicher Tätigkeit von „Analogie“ oder auch „analog(isch)er Auslegung“. Die (seit langem und bis heute) uneinheitliche Verwendung des Begriffs „Rechtsfortbildung“ im Deutschen trägt dazu bei, dass er nur unter erheblichen Unsicherheiten in andere Sprachen übersetzbar ist. 1958 konnte man alle Rechtsordnungen der soeben gegründeten EWG der deutschen und der romanischen Rechtsfamilie zuordnen. Daher liegt eine spezifische Prägung des acquis communautaire aus diesen Traditionen nahe. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, diese Technik von der schlichten Auslegung abzugrenzen; eine im Einzelnen vom jeweiligen Verständnis des Rechtssystems und der Auslegungsmethode geprägte Abgrenzung. Dabei ist zwischen äußerem System als formaler Ordnung (vor allem) der Gesetze und innerem System als Widerspruchsfreiheit der Lösungen und Entscheidungen zu trennen. Nach der im deutschen Rechtsraum heute dominierenden Sicht sieht der Abgrenzungsversuch wie folgt aus: Das – potentiell vollständige – systematisch gesetzte Recht bildet den Regelfall der Norm, der Richter schafft kein Recht; die Analogie operiert lediglich in der Gesetzeslücke. Neuerer deutscher Tradition entspricht es, die Auslegung diesseits, die Analogie jenseits der sog. Wortlautgrenze anzusiedeln und beide scharf zu trennen; neuerer französischer Tradition hingegen, eine interprétation par analogie von anderen Formen der Auslegung zu unterscheiden. Beiden Traditionen gelingt die Abgrenzung schlecht. Die Wortlautgrenze bereitet der deutschen Rechtskultur praktische wie theoretische Probleme; im romanischen Denken sind bereits die Grundkategorien der Unterscheidung streitig. Und doch beobachtet man namentlich in Deutschland mit besonderer Skepsis, wie Auslegung und Rechtsfortbildung beim EuGH ineinanderfließen. Manche flüchten sich gleich in ein anderes, nämlich angloamerikanisch geprägtes Konzept der „Rechtsfortbildung“, das aber für den Kontinent nicht passt. Die deutsche wie die französische Sicht gehen auf Vorstellungen der juristischen Neuzeit zurück, vereinfacht: die deutsche auf das frühe 19. Jahrhundert, die französische auf die davorliegenden Jahrhunderte. Keine von beiden folgt dem römischen Verständnis, wiewohl beide zahlreiche Versatzstücke der römischen Tradition verwerten. Baldus
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Die sachliche Distanz zur römischen Methodentradition ist leicht zu erklären: Das 8 römische Recht kreist nicht, in einer auch äußerlich systematisierten Rechtsordnung, um das Gesetz. Vielmehr steht das innere System im Vordergrund, entstanden namentlich aus der Gutachtertätigkeit der Juristen (unten Rn. 22–27). Deshalb stellen sich in Rom weithin andere Methodenfragen als heute in den – inhaltlich gleichwohl römisch geprägten – Privatrechtssystemen.4 Aber auch in die Zukunft führt kein gerader Weg: In der Integrationsgemeinschaft Europas passen einige Systemvoraussetzungen nicht mehr, die auf nationaler Ebene noch im 19. Jahrhundert realisierbar schienen. Die englische Tradition, weniger systemorientiert und stärker jurisprudentiell5 ge- 9 prägt, weist einige Parallelen zur römischen auf und hat sich auch genetisch nicht so isoliert von Kontinentaleuropa entwickelt, wie man lange glaubte;6 neuerdings zeigt sich eine gewisse Konvergenz in Methodenfragen.7 In historischem Zusammenhang mag England aber beiseite bleiben, soweit es um die Frage geht, welche Vorstellungen die Juristen der entstehenden EWG seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts prägen konnten. Hinzu kommt nunmehr die – offene – Frage nach den Auswirkungen des Brexit. Er wird keinen glatten Schnitt mit sich bringen, Unionsrecht wird im englischen Recht nachwirken, und die fortbestehenden Handelsbeziehungen (wie auch immer vertraglich unterfangen)8 werden das Ihre tun; es wäre aber eine Illusion zu glauben, das bisherige Maß der gegenseitigen Beeinflussung zwischen Unionsrecht und common law werde erhalten bleiben. Die Frage, wie weit die englische Tradition sich bei Fortbestehen der Mitgliedschaft künftig in die systematischen Linien des Unionsprivatrechts9 gestellt und inwieweit sie diese ihrerseits geprägt hätte, ist einstweilen hypothetisch.10
4 Vgl. schon hier Vacca, Fides Humanitas Ius, S. 5727–5746; zum geltenden Recht in diesem Band nach Register (Auslegung, systematische) sowie Schmidt-Kessel, in diesem Werk (2. Aufl. 2015), § 17 Rn. 32–35, 43, 49. 5 „Jurisprudentiell“ in einem der kontinentalen Sinne des Wortes: bezogen auf die gelehrte Praxis, ähnlich dem römischen iuris prudentia, vgl. dann mit Betonung des praktischen Aspekts frz. jurisprudence; nicht wie das stärker theoretisch und universitär konnotierte dt. Jurisprudenz oder erst recht das engl. jurisprudence (i. S. etwa von John Austin). Aus der Lit. statt aller L. Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenziale (1967). Zu den Gründen, aus denen England im 19. Jh. keine Kodifikation erreichte, ausführlich Zwanzger, Die Kodifikationsdiskussion im England des 19. Jahrhunderts (Habil. 2014). 6 Vgl. auch zu den spezifischen historischen Determinanten der englischen Auslegungslehre Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen (2001). 7 Vgl. Schillig, § 25 Rn. 28 ff., 38–48. 8 Zum Problemfeld mwN Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel (Hrsg.), Brexit. Privat- und wirtschaftsrechtliche Folgen (2. Aufl. 2019); Schillig, § 25 Rn. 31 ff. 9 Ob der Begriff des Gemeinschaftsprivatrechts nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch passt, ist streitig. Vgl. Müller-Graff, GPR 2008, 105; Baldus u. a., GPR 2011, 270–276. 10 Das Problem liegt insbesondere darin, dass die traditionelle Terminologie des Common Law aus Sachgründen ebensowenig geeignet ist, klassische Zivilrechtsmaterien in auch für den Kontinent jederzeit klar verständlicher Weise zu fassen, wie „Brussels English“.
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Die Methode der Auslegung und die Rolle der Analogie hängen überdies vom Grad der äußeren Systematisierung ab. Der Schritt von der lediglich inhaltlich strukturierten, wertungssensiblen und diskussionsoffenen Kasuistik, also vom inneren System, zur Schaffung einer subsumtionsfähigen Formalstruktur ist dem Kontinent gelungen, dem englischen Recht hingegen bislang nur in Teilen (und auch dies unter dem Druck unionsrechtlicher Vorgaben). Es verbleibt damit – bei oft großem Pragmatismus der einzelnen Lösung – auf einer Entwicklungsstufe, die gewisse strukturelle Parallelen zum römischen Recht aufweist, verbunden freilich mit historischen Besonderheiten inhaltlicher Art, die einer transparenten Systembildung entgegenstehen. Den auf dem Kontinent gelungenen Schritt zur Kodifikation rückgängig zu machen, verspricht keinerlei Vorteil. Das steht auch politisch nicht in Zweifel. 11 Man mag in der Union also kasuistische Momente dort aufnehmen, wo sie passen: bei solchen Streitfragen, deren Lösung auch der kontinentale Jurist nicht einem rein deduktiv begriffenen System entnehmen will. Dort entsteht notwendig Kasuistik, jedenfalls bis der Gesetzgeber sich entscheidet nachzukodifizieren. Das bedeutet übrigens auch, dass man den reichen Schatz römischrechtlicher Erfahrungen nicht ignorieren sollte, der hinter den kontinentalen Gesetzbüchern steht – die ja im Kern systematisierte römische Kasuistik sind. Hingegen konzentrieren die folgenden Ausführungen sich auf die kontinentale, klassisch-systembildende Tradition.11
3. Untersuchungsgegenstand. Grenzen. Geltendrechtliche Perspektiven 12 Es ist nach den großen Linien zu fragen, die im Hintergrund der Rechtsanwendung
stehen, auch wenn die Differenzierungen und Überschneidungen des 20. Jahrhunderts vieles modifiziert haben. Dies sind einerseits die deutsche Pandektenwissenschaft, andererseits die vom Code Civil geprägte Rechtskultur. Das bedeutet zeitliche Beschränkungen des Untersuchungszeitraumes ebenso wie inhaltliche Schnitte: dass diese beiden Traditionen nicht näher bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt werden, aber auch, dass die Wege zwischen den gemeinsamen römischen Wurzeln und der Kodifikationsbewegung um 1800 nicht nachgezeichnet werden können; schließlich, dass manche Rechtsquellen und manche wissenschaftlichen Bewegungen, die für die spätere Entwicklung in einzelnen Staaten Bedeutung erlangen sollten, nicht zu diskutieren sind. Für eine umfassende Bestandsaufnahme, die alle diese Lücken nicht aufwiese, fehlt es überdies an hinreichenden Vorarbeiten. Für den Einfluss Deutschlands und Frankreichs, der beiden Kerne kodifikatorischer Tradition im 19. Jahrhundert, fragt sich weiter: Was wird aus einem französisch geprägten Text, wenn man ihn
11 Auch Manchester/Salter (Hrsg.), The Dynamic of Precedent in Statutory Interpretation (4. Aufl. 2011), S. 84 betonen die Prägung des Luxemburger Argumentations- und Urteilsstils durch die sechs Gründerstaaten. Baldus
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pandektistisch interpretiert? Das geschah vor allem in weiten Teilen Südwesteuropas und Lateinamerikas. Ähnliche Fragen lassen sich für die Pandektisierung von Naturrechtskodizes stellen, wie in Österreich geschehen. Im Mittelpunkt der Betrachtung kann hier nur das 19. Jahrhundert in Mitteleuropa 13 stehen. Die Rechtswissenschaft dieser Zeit arbeitet ältere Elemente auf, vor allem aus der römischen Tradition, und passt sie den neuen Anforderungen an. Sie modernisiert, bündelt und systematisiert die Elemente und Instrumente des Privatrechts. So setzt sie die dogmatischen, konzeptuellen und systematischen Standards für das 20. Jahrhundert. Dadurch wirkt (in der Rechtsgeschichte noch stärker als in der allgemeinen Geschichte) das 19. Jahrhundert fort. Methoden konstituieren Wissenschaften; selbst hängen sie von Erkenntnisziel 14 und sonstigen Aufgaben der jeweiligen Wissenschaft ab. Die Rechtswissenschaft – als textorientierte Geisteswissenschaft und zugleich als praktische, an der Normanwendung orientierte Sozialwissenschaft – kann ihre Methode keiner anderen Disziplin entnehmen. Im Vordergrund steht immer die Normanwendung in der Gegenwart; auch der Rechtshistoriker untersucht primär Normanwendung, nur eben in der Vergangenheit. Das Recht hat seine eigene Realität und will die außerrechtliche Realität beeinflussen, es lebt in der Anwendung. Auch zur Verbesserung dieser Anwendung wird das Werden der Norm untersucht: Die Rechtsgeschichte hat nicht allein, aber auch dienende Funktion. Soweit Auslegung nun einen geschichtlichen Aspekt aufweist, muss entschieden werden (und zwar aus der Sicht der Gegenwart), wieviel Raum das geltende Recht diesem Aspekt geben will. Diese Sondersituation der Rechtswissenschaft wirkt sich auf Verständnis und Gewicht der historischen Auslegung aus, bekanntlich aber auch auf die Rezipierbarkeit geisteswissenschaftlicher Methoden. Eine Verstehenslehre, die etwa für die Philologie oder die Theologie entwickelt worden ist, aber auch eine Verstehenslehre, die für alle Wissenschaften oder zumindest alle Geisteswissenschaften gelten will, muss für die Rechtswissenschaft als praxisaffines Fach nicht zwangsläufig passen.12 Die Autoren, denen wir die heutige Auslegungslehre im Kern verdanken, vor al- 15 lem Savigny, lebten im frühen 19. Jahrhundert: mitten in einer Zeit, in der aus verschiedenen fachbezogenen Hermeneutiken und Auslegungslehren unter philosophischen Einflüssen eine allgemeine Auslegungslehre entstand. Allenthalben wurden Auslegungskanones entwickelt und diskutiert; die Juristen fügten sich mit ihren Entwürfen in einen größeren Zusammenhang ein (Rn. 29).13 Wie weit welche juristischen Autoren durch welche nichtjuristischen Einflüsse geprägt waren, ist nicht immer zu ermitteln. Jedenfalls muss man sich klarmachen, dass zwar Savignys Privatrecht im
12 S. auch Rn. 115–119 zur Sprachwissenschaft. 13 Für geschichtlich angelegte Einführungen in Hermeneutik und Auslegungslehre vgl. nur Bianco, Introduzione all’ermeneutica (5. Aufl. 2007) und Jung, Hermeneutik zur Einführung (5. Aufl. 2018). Zur Begrifflichkeit aus heutiger interdisziplinärer Sicht zuletzt Mauz/Tietz (Hrsg.), Verstehen und Interpretieren. Zum Basisvokabular von Hermeneutik und Interpretationstheorie (2020). Baldus
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Wesentlichen unser Privatrecht ist (weil er es geprägt hat und weil es von seit römischer Zeit durchlaufenden inhaltlichen Kontinuitäten geprägt ist), aber Savignys geistige und politische Welt nicht die unsrige. 16 Das setzt erhebliche Fragezeichen hinter den Versuch, überkommene Auslegungskategorien tout court auf die Gegenwart zu übertragen. Zugleich erklärt es, warum wir schlecht neue Kategorien erfinden können. Wenn wir dazu neigen, trotz dieser philosophischen, geschichtlichen und praktischen Fragezeichen Sicherheit in Auslegungskanones und deren Rangordnung zu suchen oder zu postulieren, dann auch wegen der Notwendigkeit, das überkommene Privatrecht in vorhersehbarer und belastbarer Weise weiterzuentwickeln: Dass Juristen sich oft weniger auf Methodenreflexion einlassen als Vertreter anderer Fächer, hängt mit der legitimen Anwendungsorientierung ihrer Arbeit zusammen. Juristische Methode, soll sie mit dem gelebten Recht zu tun haben, also rechtswissenschaftlich bleiben, kann nicht jeden Zweifel aus den Nachbarwissenschaften aufnehmen. Sie muss im Zweifel der Praktikabilität Vorrang geben; eine nicht praktikable Methode ist auch nicht wissenschaftlich. 17 Immer zwingend sind hingegen Vorgaben aus dem Rechtssystem selbst und hier aus höherrangigen Stufen der Rechtsordnung, also Unionsrecht und Verfassungsrecht. Heute stellt sich eine scharfe Trennung von Auslegung und Analogie als im Kern verfassungsrechtlich motiviert dar.14 Darin setzt sich aufklärerisches Denken fort. Der Gesetzgeber sichert sein Rechtssetzungsmonopol methodologisch, auf der Verfahrensebene, indem er dem Richter Überschreitungen der Sphäre, innerhalb derer er auslegen darf, nur im gleißenden Licht der Analogieprüfung gestattet. Das betrifft nicht nur Systeme, die von der Wortlautgrenze ausgehen. Im Kern geht es für jede Tradition um einen Transparenzmechanismus, der die Debatte, namentlich eine Überprüfung durch die Obergerichte und gegebenenfalls durch den Gesetzgeber fördert: Der Richter soll bei der Analogiebildung nach deutschem Verständnis offen sagen, dass und warum er weiter geht als der Gesetzgeber.15 Er soll einen transparenten Diskussionsprozess eröffnen, in dem die Richtigkeit seines Vorgehens besser überprüft werden kann als bei schlichter Subsumtion: durch Rechtsmittelinstanzen und durch den Gesetzgeber. Dieser kann sodann souverän entscheiden, wie er sich zu der als problematisch angesehenen Rechtsfrage stellt – ob er die Ausdehnung der Rechtsfolge kodifikatorisch nachvollzieht oder durch abweichende Gesetzgebung ausdrücklich missbilligt oder aber der richterlichen Rechtsfortbildung freien Lauf lässt, indem er nichts unternimmt. 18 Zur Realisierung dieses Transparenzmechanismus scheint sich auf den ersten Blick die Wortlautgrenze durchaus anzubieten; allein die rechtstheoretischen Beden-
14 Der verfassungsrechtliche Aspekt wird allseits betont: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 77 I (S. 603 ff.); Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 6. 15 Nicht notwendig: weiter als der historische Gesetzgeber. Methodisch lautet die Frage, ob die (planwidrige) Lücke historisch oder teleologisch zu bestimmen ist. Die besseren Argumente (namentlich: Kohärenz mit der Lehre von der Auslegung) sprechen für das teleologische Kriterium.
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ken gegen sie sind alt (die Aussage, ein Wortlaut sei klar, ist selbst schon ein Auslegungsergebnis).16 Im Unionsrecht kommt die ungelöste, mit jeder Erweiterung zunehmende Problematik der Gleichberechtigung aller Amtssprachen hinzu,17 weiterhin die Forderung des EuGH, die Grenzen nationaler Methodenlehre auszuschöpfen, wo unionsrechtskonforme Auslegung erforderlich ist:18 Eine Wortlautgrenze deutschen Stils gibt es eben nicht überall. Wo nationale Methodenlehre eine Wortlautgrenze19 annimmt, da verlangt der Gerichtshof nicht, sie zu überschreiten.20 Die Folgen für die Union sind hier nur zu skizzieren, namentlich unter dem As- 19 pekt, welche Rolle dann die Geschichte spielen kann. Der Gerichtshof selbst fasst seine Auslegungspraxis nicht in den „deutschen“ Vierschritt Wortlaut – Geschichte – System – Telos; seine eigenen Standardformeln21 lassen sich aber teilweise auch in diesem Vierschritt abbilden. „Dem“ (mehrsprachig nur ansatzweise zu fassenden) Wortlaut kommt eher Orientierungsfunktion zu, entstehungsgeschichtliche Erwägungen erscheinen immerhin punktuell, das System wird selten über den einzelnen Rechtsakt hinaus in Bezug genommen; das Telos dominiert, freilich nicht im Sinne der bisweilen gezeichneten Karikatur vom alles erschlagenden effet utile. Speziell zur Entstehungsgeschichte legen die kodifikatorischen Erfahrungen es 20 nahe, „den Gesetzgeber“ und seinen „Willen“ nicht zu hypostasieren, schon gar nicht auf der Grundlage der Materialien, die auf höchst unterschiedliche Weise zustande kommen können, erst recht in supranationalen Entscheidungsprozessen. Es kom-
16 Zur Problematik des sens clair bei Savigny unten Rn. 41 ff., 56, 68–72; vorab Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 18–24; vgl. zum Problem in rechtstheoretischer Hinsicht Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004). Differenzierend Kramer, Juristische Methodenlehre (6. Aufl. 2019), S. 94ff. 17 Umfassend Zedler, Mehrsprachigkeit und Methode; nunmehr Luttermann/Luttermann, Sprachenrecht für die Europäische Union. Wohlstand, Referenzsprachensystem und Rechtslinguistik (2020). 18 Die Grenze richtlinienkonformer Auslegung wird von den methodischen Möglichkeiten des jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsanwenders bestimmt. Es besteht lediglich eine Vorzugsregel. Das heißt: Richtlinienkonforme Auslegung ist nur insoweit möglich, als diese Methodenlehre es dem Richter erlaubt, auszulegen (und ggf., über Auslegung im deutschen Verständnis hinaus, Analogien zu ziehen), auch wenn das Europarecht weitergehende Ergebnisse verlangt; im Konfliktfall kann diese Grenze zur Staatshaftung führen. Vgl. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 32, 36–39, 46–72. 19 Hingegen ist das bloße Festhaltenwollen nationaler Gerichte an einer ständigen Rspr. nicht geschützt, vgl. die Nachweise in der folgenden Fn. Der Gerichtshof zeigt sich mit dieser Unterscheidung als kontinental denkende Instanz auch und gerade angesichts der Bedeutung von case law im Unionsrecht. 20 Kein Judizieren contra legem nationalem, vgl. aus der neuesten Rspr. etwa EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Pawlak, EU:C:2019:260 Rn. 83 ff. (dazu Rodi, GPR 2020, 18–21); weitere Judikate bei Baldus/Raff, Richterliche Interpretation des Gemeinschaftsrechts, in: Enzyklopädie Europarecht, Bd. 6 (2. Aufl. 2021). Insbesondere scheint die zeitweise ambivalente Haltung des Gerichtshofes in Richtung eines weiteren Ausgreifens auf die mitgliedstaatliche Methodenordnung (aaO, Rn. 234–241) in der neuesten Rechtsprechung fortzubestehen. 21 Vgl. jeweils zu den einzelnen Kategorien Riesenhuber, in diesem Band, § 10, und Baldus/Raff (wie vorige Fn.).
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muniziert nicht primär der Gesetzgeber durch Materialien mit dem Ausleger. Vielmehr kommunizieren die Ausleger untereinander über das Gesetz und auch über die Materialien. Was sich dabei mit einer gewissen Belastbarkeit ausmachen lässt, ist die Geschichte von Problemen, Einflüssen und Lösungen. Für diese aber sind Materialien nur ein Weg zur Erkenntnis.22 21 Aus der Sicht eines jeden Gesetzgebers, der gestalten will, bleibt ein praktisches Grundproblem: Es ist der Richter selbst, der entscheidet, ob er auslegt oder Analogieschlüsse zieht. Der Richter, jedenfalls das letztinstanzliche Gericht, hat, rechtstheoretisch gesprochen, die Anwendung der Metaregel in der Hand; ein noch so perfektes Gesetz kann ihn nicht völlig fesseln. Einer Entscheidung der letzten Instanz über die Zulässigkeit einer Analogie23 kann der Gesetzgeber nur ex post entgegentreten. Deshalb ist historisch zu beleuchten, ob die Erfahrungen der das Europarecht prägenden Rechtsordnungen dafür sprechen, den skizzierten Transparenzmechanismus gerade jenseits einer Wortlautgrenze anzusiedeln, oder ob sich Gründe dafür finden, die richterliche Auslegung, namentlich die teleologische, großzügiger zu definieren. Dann wäre man bei der „extensiven“, vielleicht bei der „analog(isch)en Auslegung“.
II. Römische Tradition: Normbildung und interpretatio24 22 Im römischen Recht dominieren nicht gesetzliche Normen, sondern in republika-
nischer Zeit der allmähliche Ausbau eines Rechtsbehelfssystems durch den Prätor – niedergelegt in seinem Edikt – und bis weit in die Kaiserzeit hinein die schöpferische Rechtsfindung der Juristen in Privatgutachten (responsa). Überdies sind fast alle Juristen ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. auch für den Kaiser und in dessen Namen tätig. In dieser mehrfachen Funktion können sie die Entscheidungen (constitutiones, vor allem rescripta) des Kaisers respektieren, zugleich aber den Umstand nutzen, dass sie selbst an den Entscheidungsprozessen maßgeblich beteiligt sind. Sie können daher auch die Reskripte mit einer gewissen Freiheit interpretieren.25 Zwischen responsum und rescriptum bestehen Parallelen, beginnend mit der Frage-Antwort-Struktur; jedenfalls
22 Zum Gesetzgebungsakt als jeweils letzter Chance des Gesetzgebers s. Baldus, in: ders./Theisen/ Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung, S. 17–20. Das ist freilich kontrovers, vgl. jetzt monographisch Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers. Fallgruppen verbindlicher Wissensäußerungen (2017). 23 In diesem Zusammenhang erlangt die prozessuale Frage Bedeutung, ob die letzte Instanz nur kassieren oder auch in der Sache entscheiden, wenigstens aber inhaltliche Vorgaben machen kann. Dazu bereits – in Orientierung am französischen Modell – Savigny, System I, S. 326 ff. Hervorgehoben bei Rückert, JZ 2010, 1, 8; vgl. S. 3, 5 zur politischen Verortung der Protagonisten. 24 S. näher oben Harke, in diesem Band, § 2 passim. 25 Vgl. Baldus/Miglietta/Santucci/Stolfi (Hrsg.), Dogmengeschichte und historische Individualität der römischen Juristen (2012).
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prägt das Gutachten als Denkform die westliche Rechtsentwicklung. Das Recht entsteht mithin prozessual und jurisprudentiell. Dabei ist die Auslegung römischer Rechtstexte auch mit derjenigen kanonisierter Schriften in den frühen monotheistischen Religionen nicht ohne weiteres zu vergleichen.26 Praktisch wichtig ist namentlich das seit früher Zeit übliche Arbeiten mit Fiktionen. Juristen sind typischerweise also nicht abhängig tätige, einer generell-abstrakten Gesetzgebung unterworfene Rechtsanwender, sondern Angehörige der Führungsschicht, die als Gutachter, Politiker, Berater Rechtsfragen erörtern und Lösungen fortentwickeln. Rhetorische Figuren wie verba und voluntas, mens und sententia werden durch- 23 aus verwandt. Sie sind jedoch nicht systematisch zu Elementen einer Auslegungslehre zu überhöhen: Wie so viele Versatzstücke aus der Philosophie und Rhetorik verwendet der römische Jurist – als wissenschaftlich denkender Praktiker – solche Figuren dort, wo sie ihm einer sinnvollen Falllösung dienlich scheinen, aber nicht als systematische Entscheidungsvorgabe. Das Recht entsteht solcherart als inneres System,27 als diskursive Ausarbeitung widerspruchsfreier Entscheidungs- und Argumentationszusammenhänge von Fall zu Fall;28 ein äußeres, formalisiertes System vermisst die Praxis nicht, und gerade der Gedankenreichtum des inneren Systems ist es, der sachlich bis heute das europäische Privatrecht prägt. Die Auslegungspraxis bleibt damit ambivalent, aus traditionellen wie aus institu- 24 tionellen Gründen. Sie changiert zwischen Fortbildung des Juristenrechts und Anwen-
26 Grundlegend (nicht nur zur Antike) L. Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenziale (1967), dort auch zur Begrifflichkeit. Für eine wiederum höhere Einschätzung des Gesetzes Mantovani, in: Ferrary (Hrsg.), Leges publicae, S. 707–767, und nunmehr auch auf Deutsch: Legum multitudo. Die Bedeutung der Gesetze im römischen Privatrecht (2018); kritisch Santucci, Legum inopia e diritto privato. Riflessioni intorno ad un recente contributo, in: SDHI 80 (2014), 373–393; Forschner/Haubner, Kein Volk der Gesetze: Anmerkungen zu Mantovanis These der legum multitudo im römischen Privatrecht, in: SZ 136 (2019), 322–344. Über die Gesetzes-Kontroverse hinaus etwa: Stolfi, in: Vacca (Hrsg.), Casistica e giurisprudenza (2014), S. 1–71. Wieder andere Ansätze bei Walter (Hrsg.), Gesetzgebung und politische Kultur in der römischen Republik (2014). Zu den wohl nicht vergleichbaren Erfahrungen namentlich des Judentums Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (8. Aufl. 2018); die Unterschiede dürften in der Andersartigkeit römischer religio wurzeln: Sie mutet unsere in religiöser Hinsicht jüdisch-christlich geprägte Kultur sehr „juristisch“ an, denn unser Recht nimmt hier seinen Ausgang. Beispiele und Nachweise dazu bei Baldus, „Tempelrecht“ bei Cervidius Scaevola? Hochklassische Praxis, römische religio und „juristische Person“, in: Studi Senesi 126 (2014, aber 2015) 165–198. 27 So die h. M., vgl. Harke, in diesem Band, § 2 Rn. 6 ff. für die Gegenmeinung, die auch am inneren System zweifelt, mwN Cuena Boy, Sistema jurídico (1998); s. Gokel, Sprachliche Indizien für inneres System bei Q. Cervidius Scaevola (2014). Zu offenen Wertungen Harke, Rn. 19; Kleiter, Entscheidungskorrekturen mit unbestimmter Wertung durch die klassische römische Jurisprudenz (2010) und dazu die Rezz. von Babusiaux, SavZRG – Röm. Abt. – 129 (2012), 745–764, und Nitsch Annaeus 10 (2013) 85–97 = Interpretatio Prudentium I.2016.1, 353–369. 28 Zentral ist der Begriff des ius controversum. Darüber zuletzt Bretone, „Ius controversum“ nella giurisprudenza classica (2009); Marotta/Stolfi (Hrsg.), Ius controversum e processo fra tarda repubblica ed età dei Severi (2012); Stolfi, Dal ius controversum alle antinomie, in: LR 6 (2017) 377–411.
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dung zentralisierter Normsetzung. Die römischen Juristen stehen nicht in der strukturellen Distanz zur Norm-entstehung, die für den modernen (zumal konstitutionellen und gewaltenteilenden) Staat typisch ist; entsprechend ist ihre interpretatio keine moderne Auslegung. Der römische Jurist vergisst auch dort, wo er für den Kaiser tätig ist, nie den Primat des Gutachtens, und zwar als Rechtsquelle. Die innere Verbindung von Rechtsquellenlehre, juristischen Handlungsformen und Auslegungsmethode wird bereits in Rom deutlich; sie erklärt viele Unterschiede zur Gegenwart. Entsprechend bereitet eine Qualifikation einzelner klassischer Aussagen über das Vorgehen ad similia, aber auch der häufigen Schaffung von actiones utiles (usw.) zu bereits existierenden actiones mit dem Begriff „Analogie“29 Probleme, wenn man Analogie im Sinne der heutigen deutschen Lehre versteht, also als Lückenfüllung: Es geht nicht um einen Ergänzungsmechanismus für ein vorgegebenes, im Prinzip geschlossenes System. Justinian nimmt klassische Ansätze zum procedere ad similia zwar auf, aber in einer durchaus etatistisch zu nennenden Veränderung und ergänzt um einen frühen référé législatif, dem ebenso wenig Erfolg beschieden war wie späteren Versuchen dieser Art.30 Zusammengefasst: Die Tätigkeit der römischen Juristen wird erst im Prinzipat primär Rechtsanwendung, so wie die Rechtsquellen erst in dieser Zeit mehr oder minder einheitlich den Charakter zentraler Vorgaben annehmen. Zur Entwicklung einer geschlossen hieran orientierten Methodenlehre ist es nicht gekommen. Antike Gedanken prägen zwar die spätere Begrifflichkeit, doch unterdes wandelt sich das Recht. Wir übergehen aus Raumgründen das Mittelalter. In der Neuzeit wird das staatliche Gesetz zum Paradigma; um 1800 wünscht man das klare und systematische Gesetz herbei, schon weil das späte gemeine Recht mit seinen zahlreichen Rechtsquellen, Normenkomplexen und Zuständigkeiten gänzlich unübersichtlich geworden war.31 Zugleich ist aus Theologie und dann auch Philologie eine Auslegungslehre entstanden, die anders mit Texten umgeht, als die Römer es getan hatten, und die ein Überdenken der gemeinrechtlichen wie der naturrechtlichen Auslegungslehren fördert. An dieser Stelle setzen unsere weiteren Betrachtungen an, im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts und als Gegenbild zu Frankreich, wo in Gestalt des
29 Vgl. Vacca, in: Romano (Hrsg.), Nozione formazione e interpretazione del diritto dall’età romana alle esperienze moderne. Ricerche dedicate al professor Filippo Gallo (1997), S. 441, 444–454. Dort wird auch deutlich, dass die romanische Rede von der „interpretazione analogica“ am historischen Qualifikationsproblem kaum etwas ändert. 30 Der référé ist angeordnet in der constitutio Tanta § 18 (remedium Augustum), vgl. auch das sog. Kommentierungsverbot in § 21 (über dessen Tragweite Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte [14. Aufl. 2005], S. 225 f.). Zur Aufklärung oben Fn. 2. Ungeklärte Fragen stellen sich hinsichtlich des von Justinian in Tanta § 18 erweckten, an klassischen Quellen aber kaum zu verifizierenden Eindrucks, bereits Hadrian habe einen référé angeordnet; dazu Baldus, Décider sous le Haut-Empire: regards sur les analogies. Considérations sur l’état des sources (i.V.). 31 Zum Verständlichkeitspostulat etwa Meder, SavZRG – Germ. Abt. – 123 (2006), 428–435.
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Code civil von 1804 bereits eine für das ganze Jahrhundert stilbildende Kodifikation gelungen war.
III. Hermeneutische Positionen um 1800 1. Spätes Gemeines Recht und geistiges Umfeld Vom 18. zum 19. Jahrhundert hin entsteht eine allgemeine Hermeneutik und werden 29 die speziellen Hermeneutiken (der Theologie, der Philologie, der Rechtswissenschaft) fortentwickelt.32 Dieser Prozess wirkt sich auf die Lehre von der Auslegung auch der juristischen Texte aus. So lässt sich die frühe Pandektenwissenschaft zeitlich in eine Umbruchphase der Hermeneutik und der Auslegungslehre33 einordnen. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hatte juristisch ein sehr weites Verständnis der Interpretation vorgeherrscht: Auslegung könne den Wortlaut erklären, ihn unter- oder überschreiten; eine den Wortlaut überschreitende (extensive) Auslegung könne aber auch über den konkreten Sinn des Gesetzes hinausgehen, wenn nur eine „ähnliche“ ratio zu ermitteln sei. Diese Auslegung aus dem „ähnlichen“ Grund stieß ab dem späten 17. Jahrhundert auf Ablehnung. Doch blieb eine Über- oder Unterschreitung des Wortlauts nach dem Sinn des jeweiligen Gesetzes zulässig, wobei man mit Thomasius nunmehr die „grammatische“ Auslegung (aus den Worten des Gesetzes) von der „logischen“ (aus anderen Umständen) unterschied.34 Diese Bildung juristischer Kanones fügt sich in eine Vielzahl ähnlicher Versuche vor allem in Theologie und Philologie ein.
2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik: Grundlinien der Methodenlehre Savignys Es ist dann im Wesentlichen der frühe Savigny, der die Auslegung in gewisser Weise 30 auf den Wortsinn beschränkt. Inwieweit man hierin eine Wortlautgrenze sehen kann,
32 Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 47 ff.; Bianco, Introduzione all’ermeneutica, insbes. S. 51–90. 33 Zum Verhältnis von Hermeneutik und Interpretation monographisch Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, passim; etwas anders Meder, Grundprobleme, S. 19–37: seit dem 17. Jahrhundert „Unterscheidung zwischen Hermeneutik als Theorie und Interpretation als Praxis der Auslegungskunst“; Hermeneutik heute als weiterer Begriff, da sie „– über die Interpretation einzelner Textstellen hinaus – auf eine grundlegende Analyse dessen zielt, was wir ‚Verstehen‘ nennen“. 34 Vgl. zu dieser Entwicklung und zum Fortleben dieser und anderer naturrechtlicher bzw. aufklärerischer Unterteilungsschemata (authentische, usuale, doktrinelle Auslegung, innerhalb der logischen die extensive und die restriktive) im 19. Jahrhundert Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 228 ff; kurz ders., ZNR 2002, 52–64. Vgl. weiterhin Sorge, in: Meder u. a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik (2013), S. 137–224 (167–170).
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ist ebenso umstritten wie die Frage, ob spätere Werke (vor allem das „System“) in der Kontinuität dieser Erwägungen stehen oder eher als Relativierungen, als Rückkehr zu Modellen zu deuten sind, die extensive Auslegung auch jenseits des Wortlauts kennen. Savigny will den Gedanken des Gesetzgebers rekonstruieren. Interpretation in diesem Sinne ist „Reconstruction des Gedankens, welchen das Gesetz aussprechen soll, insofern dieser Gedanke aus dem Gesetz selbst unmittelbar erkennbar ist“.35 Diese Erwägung ist in ihren Zusammenhang einzufügen. Dabei haben wir die Umbruchsituation der Jahre um 1800 zu betrachten: Denkfiguren der Auslegung werden unter anderem in zweierlei Hinsicht abgelöst, einerseits hinsichtlich hermeneutischer Grundansätze,36 andererseits – aber in geringerem Maße, als der moderne Betrachter es erwarten sollte – hinsichtlich der Kontrolle richterlichen Handelns. 31 Die Hermeneutik der Aufklärung geht davon aus, dass der Sinn eines Textes prinzipiell erkennbar sei. Man müsse beispielsweise eine Rechtsnorm, wenn ihr Sinn dunkel sei, daraufhin untersuchen, was der Gesetzgeber habe sagen wollen,37 und zwar im Sinne einer Text und Ausleger verbindenden zeitlosen Vernunft; bei richtiger Anwendung der Auslegungsregeln lasse sich dieser Sinn erschöpfend bestimmen.38 Dazu werden die oben genannten Kategorien eingesetzt. Diese Position trägt in mancher Hinsicht noch Thibauts Theorie der logischen Auslegung39 von 1799, weithin auch Zachariäs Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts40 von 1805.
35 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, das wörtliche Zitat auf S. 94, vgl. schon S. 93: „Interpretation = Reconstruction des Gesetzes“. Zum „System“ s. unten Rn. 62–78. Die folgenden Aussagen stehen unter dem Vorbehalt, dass noch nicht alle bekannten Savigny-Handschriften ediert sind (vgl. u. Fn. 67). Zum „rekonstruktiven Verstehen“ i. S. d. modernen Hermeneutik s. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 72–91. 36 Vgl. zum Folgenden in Auseinandersetzung mit einigen überkommenen Meinungen Meder, Mißverstehen und Verstehen. Teilweise andere Akzente etwa bei Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, S. 353 f. 37 Auch wegen dieses subjektiven Ansatzes neigt die Aufklärung zur authentischen Auslegung und zum référé législatif: Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 20 f. 38 Kurz Meder, Grundprobleme, S. 24 f. 39 Thibaut, Theorie der logischen Auslegung (1799), namentlich § 9, S. 27–46. Dazu Otte, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 191–201: Thibaut als dem mos geometricus verhafteter Gesetzespositivist (S. 193, 196 f.), der den tradierten Auslegungskategorien folge (S. 192 f.); freilich sehe auch er bereits die klaren Stellen für auslegungsfähig an (S. 194; Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 19 Fn. 6, meint zur 2. Aufl. der „Theorie“ wohl dasselbe, obwohl er schreibt „dunkle“). Die extensive Interpretation wird insoweit eingeschränkt, als die beigezogenen Gründe aus dem Gesetz selbst erhellen müssen (S. 195). Jetzt Meder, Thibauts Hermeneutik. 40 Zachariä, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts. Ihm zufolge können nur die dunklen Stellen ausgelegt werden (S. 160; weitere Stellen sind nachgewiesen bei Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 18 f. mit Fn. 6). Zur Charakterisierung Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 220, unter Hinweis darauf, dass Zachariä, insoweit modern, die Analogie von der „logischen“ Auslegung trennte – und damit „auf der Grundlage der alten Hermeneutik zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie die neue exe
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Thibaut steht der überkommenen Auslegungslehre, die er ausführlich referiert, in 32 vielen Einzelpunkten und im qualitativen Gesamturteil durchaus kritisch gegenüber. Er unterzieht sie aber keiner erkenntnistheoretisch oder hermeneutisch motivierten Fundamentalkritik.41 In der Theologie, aber mit ausgeprägtem Interesse namentlich an philologischen 33 Entwicklungen ist es vor allem Schleiermacher, der neue Standards setzt und einige Gedanken prägt, die möglicherweise zumindest mit Erwägungen des späten42 Savigny korrespondieren;43 präzise ideengeschichtliche Kausalitäten bleiben zu prüfen. Dabei ist angesichts der Schwierigkeit, gedankliche Ableitungen direkt nachzuweisen,44 eher an indirekte Schlüsse aus Übereinstimmungen zu denken.45 Solche Übereinstimmungen müssen nicht allein die theologische Hermeneutik betreffen, da Schleiermacher sich bekanntlich auch mit historischen Fragen46 sowie mit der Rolle des Rechts in der Gesellschaft47 befasst hat. Der Hintergrund dieses Umbruchs ist ein philosophischer. Kant betont die Rolle 34 des erkennenden Subjekts im Erkenntnisprozess. Savigny, wie auch immer er philoso-
getische Richtung“ kam. Auch dieser Faden ließe sich für Zachariäs Fortwirkung in Frankreich aufnehmen (allgemein zu dieser jetzt Baldus, ZEuP 27, 2019, 724–741, vgl. u. Rn. 104). 41 Vgl. jetzt Meder, Thibauts Hermeneutik, in: Hattenhauer/Schroeder/Baldus (Hrsg.), Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840). Bürger und Gelehrter (2017), S. 127–146. Ein vergleichendes Gesamtbild der maßgeblichen Juristen um 1800 fehlt. Vgl. einstweilen Sorge, in: Meder u. a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik, S. 137–224 (170–176). 42 Zurückhaltend jedenfalls gegenüber einem frühen Einfluss Schleiermachers Wrase, Zwischen Norm und sozialer Wirklichkeit: Zur Methode und Dogmatik der Konkretisierung materialer Grundrechtsgehalte (2015), S. 185. 43 Zu ihm und seinen Vorläufern vgl. nur Bianco, Introduzione all’ermeneutica, v. a. S. 71–85; Frank, in: ders. (Hrsg.), Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik (1977), S. 7–65; Sorge, in: Meder u. a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik, S. 137–224 (179 ff.). 44 Die reiche Literatur zu Schleiermachers 250. Geburtstag 2018 (eine zweistellige Zahl von Publikationen bis Mitte 2020, Editionen nicht gerechnet) setzt andere Akzente. Soweit Savigny dort überhaupt näher erwähnt wird: Arndt / Gerber / Schmidt (Hrsg.), Wissenschaft, Kirche, Staat und Politik. Schleiermacher im Preußischen Reformprozess (2019) 158, 235 f. behandeln nicht hermeneutische Fragen. Die mittlerweile bis 1816 gelangte Edition des Briefwechsels (Gerber/Schmidt, Friedrich Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel und biographische Dokumente, zuletzt: Band 13. Briefwechsel 1813–1816, 2020) ist, soweit ersichtlich, bisher nicht analytisch auf Bezüge zur juristischen Hermeneutik untersucht worden, ins Auge springende Texte haben sich aber jedenfalls bis 1813 nicht gefunden. 45 Vgl. etwa die Erwägungen bei Danneberg, Schleiermacher und die Hermeneutik, in: Baertschi/King (Hrsg.), Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts (2009), S. 211–276 (230); ihm folgend Kurz, Hermeneutische Künste, Die Praxis der Interpretation (2018), S. 226 f. 46 Dazu Plaul, Historik zwischen Aufklärung und Historismus. Schleiermachers Theorie der Geschichtsschreibung, in: Baumstark / Forkel (Hrsg.), Historisierung. Begriff – Geschichte – Praxisfelder (2016) 164–177. 47 Vgl. Plaul (wie vor) 171.
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phiegeschichtlich insgesamt einzuordnen sei,48 nimmt diese Einsicht auf und setzt sie in eine neue Hermeneutik auch der Rechtswissenschaft um: Jede Norm ist in ihrem Zusammenhang auslegungsfähig, vollständiges Verstehen nicht möglich.49 Daher bekämpft Savigny (wiewohl er in anderen Punkten durchaus Thibaut50 und Zachariä51 folgt) noch 1840 den „fast allgemein herrschende[n] Begriff der Auslegung als eine Erklärung dunkler Gesetze“:52 Dieser sei willkürlich und reduziere die Auslegung auf „die zufällige Natur einer bloßen Abhilfe von einem Übel, woraus von selbst folgt, dass sie in demselben Verhältnis entbehrlicher werden muss, als die Gesetze vollkommener werden“;53 in Wahrheit solle sie auch bei „nicht mangelhaften, also nicht dunklen Stellen den ganzen Reichthum ihres Inhalts und ihrer Beziehungen (…) enthüllen“.54 Ebenso lehnt er die zeitgenössischen Kategorien von deklaratorischer, extensiver, restriktiver, authentischer usw. Auslegung ab (näher Rn. 50). 35 Auslegung ist demnach für Savigny nicht ein festen Regeln unterworfenes Streben nach umfassender und abschließender Erklärung eines Rechtssatzes. Vielmehr muss man sich ohne die Sicherheit fester Regeln in den Rechtssatz hineinversetzen, um seinen Inhalt so gut als möglich zu ermitteln. Dazu dienen Elemente, die bekannten Auslegungskanones,55 welche im Verbund wertend anzuwenden sind, nicht als mecha-
48 Wie weit philosophischer und speziell kantischer Einfluss Savigny im einzelnen geprägt hat, ist auch mit dem Grundlagenwerk von D. Nörr (Savignys philosophische Lehrjahre [1994]) nicht abschließend geklärt. Namentlich zum Einfluss der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 52–62; vgl. auch Nörr, S. 268 f. Überblick bei Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 59–69. 49 Den geistigen Hintergrund der neuen Lehre diskutiert Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 9– 12, 28–62 u. ö. Ihm weithin folgend die Andeutungen bei Lahusen, Recht, 57 f. (ansonsten ist Lahusens eingängige Collage alter und neuer Narrative erstaunlich stark von Wieacker geprägt). Stärker an den romantischen Wurzeln Savignys orientiert erklärt Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 213, die Erkenntnis, jede Norm sei auslegungsbedürftig: „Man entdeckt die historische Dimension der Auslegung, die Individualität jeder geschichtlichen Epoche und die Schwierigkeit, frühere Zeiten vor dem eigenen Erkenntnishorizont zu verstehen.“ 50 Vgl. die Hinzufügung in Savignys Manuskript zur Marburger Methodenvorlesung von 1802 (unten Rn. 46 f.): Dort wird Thibaut (wie oben Fn. 39) zitiert; vgl. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 94. 51 Das belegt etwa die Pandektenvorlesung zum Obligationenrecht, die in ihrer ersten Fassung auf die Jahre 1809/1810 zurückgeht und dann über 33 Jahre hinweg überarbeitet worden ist. 52 Savigny, System I, S. 318. Zur Metapher (deren Wurzeln und Tragweite weitere Untersuchung verdienten) unten Rn. 50. 53 Savigny, System I, S. 318. Vgl. noch die spitze Zusammenfassung S. 319: „Wenn man übrigens diese willkührliche Beschränkung der Auslegung auf dunkle Gesetze zusammenhält mit der oben aufgeführten Meynung, nach welcher wiederum sehr dunkle Gesetze durch Justinian der Auslegung entzogen seyn sollen (§ 48), so ergiebt sich daraus die sonderbare Folge, dass Gesetze weder zu klar noch zu dunkel seyn dürfen, dass sie sich vielmehr auf einem schmalen Raume mittelmäßiger Dunkelheit befinden müssen, um als Gegenstände der Auslegung gelten zu können.“ 54 Savigny, System I, S. 319. 55 Zu ihnen vgl. unten Rn. 63; weiterhin Huber, JZ 2003, 1–17.
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nisches und hierarchisches Schema. Es sind dies nicht etwa die heute „kanonischen“ vier (Wortlaut, Geschichte, System, Telos), sondern Grammatik, Logik, Geschichte und System, wobei das historische Element präzise meint „den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältniß durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, und die Art dieses Eingreifens, das was dem Recht durch dieses Gesetz neu eingefügt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung bringen“.56
Savignys historisches Element ist also keine Fixierung des Gesetzesinhalts auf die Ma- 36 terialien. Schon gar nicht trägt es das heute beliebte „Verwerfungsargument“, dem zufolge nicht Ergebnis der Auslegung sein kann, was im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen, aber verworfen wurde: Dieses Argument57 ist eng mit der Personalisierung „des Gesetzgebers“58 und seines Meinungsbildungsprozesses verbunden. Vielmehr geht es Savigny um das Regelungsziel, das mit Hilfe eines durchaus objektiven Datums bestimmt wird, nämlich der Regelungssituation. Man beachte dabei das systematische Moment in der Wendung „neu eingefügt“:59 37 Hier geht es nicht nur um subjektive Absichten. Vielmehr nimmt der Blick auf das Eingefügte seinen Ausgang bei dem System, in das eingefügt wird. Zugleich kann der objektive Zweck der Einfügung an dieser Stelle behandelt werden (unten Rn. 65). Es geht Savigny um das zu lösende Problem, in den Kategorien der allgemeinen Hermeneutik gesprochen: um die gestellte Frage, deren Verstehen das Verstehen der im Text gegebenen Antwort ermöglicht.60 Damit lässt Savigny die Tür zu einer (kritischen) Verwertung des historischen Regelungsumfeldes offen. Die Parallele zur mischief rule des Common Law (die freilich mit dem besonderen Stellenwert des Parlamentsgesetzes in England zusammenhängt)61 fällt auf. Zugleich gibt Savigny dem Text sein eigenes Recht gegenüber dem bloßen Meinen des Gesetzgebers und stellt sich damit durchaus auf die Grundlage klassischer Hermeneutik.62
56 Savigny, System I, S. 213 f., 214. Dahinter steht eine zeitbedingt andere Vorstellung vom Zweck des Gesetzes ( Fn. a) und der Rolle des Gesetzgebers als heute; jedenfalls geht es Savigny darum, die innere Seite des auszulegenden Textes und damit die Grammatik gegenüber der äußeren, gegenüber dem traditionell logisch genannten Element aufzuwerten (Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 216 f.). 57 Vgl. Baldus, in: ders./Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung, S. 75–85. 58 Dazu statt aller Meder, Grundprobleme, S. 31 f. 59 Bei Savigny selbst changiert das „Eingreifen“ zwischen Geschichte, System und Zweck. S. unten Fn. 72 zu den vier Elementen in der Fassung der Landshuter Methodenvorlesung vom Sommersemester 1809. 60 Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 105 ff. 61 Vgl. Gisewski, Methodik der Auslegung im kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Recht (2008), S. 111 f.; Schillig, § 23 Rn. 17. 62 Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 63: „Zu verstehen ist der mitgeteilte Sinn, nicht das Meinen als subjektiver Akt“; weiterhin S. 75 u. ö.
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Mit Savignys Kritik an den Engführungen der Aufklärungshermeneutik war der alte Schematismus gebrochen, aber kein neues, allseits anerkanntes Verfahren geschaffen. Das wird besonders deutlich an der bereits erwähnten Frage, ob auch klare Normen auszulegen seien oder nur „dunkle“.63 Letztere Ansicht, also die sens clairRegel, konnte sich in Deutschland im Ergebnis jedenfalls auf der rechtstheoretischen Ebene nicht durchsetzen; das mag auf Savignys Einfluss beruhen, auch wenn, wie sogleich zu zeigen sein wird, das Meinungsbild im 19. Jahrhundert alles andere als eindeutig war. Hingegen erhielt sie sich relativ unangefochten im französischen (und englischen) Recht, von wo sie in das internationale und europäische Recht gelangte.64 39 Deutlich wird die Unsicherheit aber auch an der gleichsam spiegelbildlichen Problematik, die im Zentrum unserer Betrachtungen steht: wo nämlich die Auslegung endet, ob es extensive Auslegung in dem Sinne geben kann, dass der Wortlaut überschritten wird, inwieweit Analogien gezogen werden können, ob man diese als Auslegung oder als Rechtsfortbildung anzusehen hat. Die Leistungsfähigkeit des Wortlauts zeigt sich sozusagen an der unteren ebenso wie an der oberen Grenze der Auslegung: bei der Auslegungsbedürftigkeit „klarer“ Texte wie dort, wo die Auslegungstauglichkeit eines Textes angesichts weitgehender Auslegungsvorschläge mittels der „Wortlautgrenze“ bestimmt werden soll. In methodologischer Hinsicht ist das Grundproblem dieser beiden Grenzen dasselbe: Ob man einen Text überhaupt interpretieren und ob man etwas Bestimmtes in ihn hineinlesen darf, das kann beides am Wortlaut nur dann gemessen werden, wenn dieses Kriterium wirklich einen sicheren Führer darstellt. 40 Damit ist zugleich die heute im Vordergrund stehende Frage berührt, wie weit die Handlungsmöglichkeiten des Richters gehen. Hier handelt Savigny politisch unter den Bedingungen des fortwirkenden aufgeklärten Absolutismus, der weitgehender Richterfreiheit misstraute, philosophisch aber in dem Bewusstsein, dass es eben auch auf die Fähigkeiten des Interpreten ankomme. Daraus resultiert innere Spannung: Das Abgehen von der strikt regelgeleiteten Aufklärungshermeneutik und die Aufwertung der Rolle des Interpreten führten dazu, dass Savigny dem Wortlaut eine nur eingeschränkte Rolle bei der Abgrenzung verschiedener Formen richterlicher Rechtserkenntnis einräumte. Inwieweit diese Spannung dazu beigetragen hat, dass Savignys
63 Zur sens clair-Regel nochmals oben Fn. 16 und Rn. 38, 41; in historischer Hinsicht weiterhin Schott, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 155–189. Die Unterscheidung von dunkler Einzelstelle und verständlichem Zusammenhang als mittelalterliches und frühneuzeitliches Paradigma geht mindestens bis auf Augustinus zurück: vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 46; Bianco, Introduzione all’ermeneutica, S. 30–33, 31. Zu Augustin Drecoll, in: Nüssel (Hrsg.), Schriftauslegung, S. 123–129. 64 Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 17 f.
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Auslegungslehre im ganzen 19. Jahrhundert umstritten blieb,65 ist hier nur anzudeuten. Diese Lehre konnte jedenfalls nicht so prägend wirken wie viele dogmatische Ansätze Savignys.
3. Überblick: Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken Ein historisches Paradoxon: Savigny trägt dazu bei, dass der Wortlaut nur begrenzte 41 Bedeutung hat; er unterminiert den Glauben an die sens clair-Regel und bezieht auch die „klaren“ Fälle in den Bereich des Auszulegenden ein. Andererseits trennt er jedenfalls sprachlich Auslegung und Analogie (näher Rn. 52, 66–74, 78). Damit bedurfte die Historische Schule66 eines Abgrenzungskriteriums – das sie bei ihrem Gründer freilich so eindeutig nicht fand. Eine Wortlautorientierung bei Savigny kann zwar anhand bestimmter früher Texte konstruiert werden; als „Wortlautgrenze“ fasst er selbst sie jedenfalls nicht. Auf der anderen Seite bleibt die klassische, regelgeleitete Aufklärungshermeneutik in Deutschland präsent, was ihre Umsetzung in einzelne juristische Auslegungsregeln betrifft, und zwar bis zum heutigen Tag. Noch stärker lebt sie in Frankreich fort, wo man naturrechtliche und rationalistische Tradition in der Form aufnahm, in der Zachariä rezipiert wurde. Die letztgenannte Richtung trennt nicht anhand einer Wortlautgrenze zwischen extensiver Auslegung und Analogie, obwohl sie klare Wortlaute für denkbar hält. Damit entsteht in der deutschen Historischen Rechtsschule eine bemerkenswer- 42 te methodische Unübersichtlichkeit und in Frankreich eine vergleichsweise einheitliche Auffassung zur Zulässigkeit der interprétation par analogie. Das Aufkommen methodologischer Modernisierungsbewegungen in beiden Ländern ändert an diesem Befund für lange Zeit nichts: Die Freirechtsschule bleibt minoritär, die école de la libre recherche scientifique setzt sich durch, sieht aber gleichfalls kein Bedürfnis für eine strikt wortlautorientierte Trennung von Auslegung und Analogie (vgl. Rn. 106). Beide Rechtskulturen und damit Europa stehen weiterhin vor fortdauernden An- 43 wendungsproblemen: Je weiter sich in Deutschland später die Lehre von der Wortlautgrenze durchsetzt, desto deutlicher stellt sich die – im Ansatz eben nicht gelöste – Frage, ob es einen klaren Wortlaut überhaupt geben könne; je mehr sich in Frankreich die Vorstellung verfestigt, es gebe „analogische Interpretation“ oder „Interpretation durch Analogie“, desto mehr fragt sich, warum und gegebenenfalls wie man diese von sonstigen Formen der Auslegung zu unterscheiden habe.
65 Dazu sogleich sub V. (Rn. 79 ff.); s. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 224 f.; Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 97–122, 230 f. Auch in diesem Sinne haben wir es jedenfalls mit einem „langen 19. Jh.“ zu tun: Die vor Erlass des BGB geführte Diskussion wirkte nach 1900 fort; dazu Haferkamp, AcP 214 (2014), 60. 66 Zu ihr nunmehr Haferkamp, Die Historische Rechtsschule mwN.
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Mit diesen Widersprüchen ging der Kontinent in die europäische Integration. Überspitzt gesagt: Verbindendes Element der kontinentaleuropäischen Tradition ist gerade die Unklarheit der Abgrenzung zwischen Auslegung und Analogie.
IV. Kernpunkte der Methodenlehre Savignys 45 Bei Savigny unterscheidet man traditionell eine frühe Phase, gekennzeichnet durch
die Marburger Methodologievorlesungen von 1802/1803, und eine späte im ersten Band des „System des heutigen römischen Rechts“ von 1840. Einzelheiten sind streitig. Eine wichtige Übergangsphase zeigt sich in den mittlerweile edierten Materialien zu seinen Landshuter Vorlesungen von 1809/1810. Die im „Beruf“ 1814 zu findenden Andeutungen gehen nach Savignys eigenen Vorstellungen im Wesentlichen auf die Methodenvorlesungen von Marburg und Landshut zurück.67
1. Vorlesungen 46 Savigny betont immer wieder seine Ablehnung der aufklärerischen Schemata, und
zwar aus methodologischen Gründen. So steht in der Marburger Methodenvorlesung des Winters 180268 der berühmte Hinweis auf die „Rekonstruktion“:69 Gesetz soll einen Gedanken aussprechen um ihn objectiv zu machen und zu erhalten. Dieser Gedanke also soll nachgedacht, der Inhalt des Gesetzes nacherfunden werden. Interpretation = Reconstruction des Gesetzes. Wer es erklärt, muß es sich selbst wieder künstlich entstehen lassen, er muß sich selbst auf den Standpunct des Gesetzgebers stellen.
47 Das führt Savigny (mit erneuter Attacke gegen das überkommene Kategoriensystem)
zu den vier Elementen, dem grammatischen, logischen, historischen und systematischen. In der Marburger Methodenvorlesung70 heißt es weiter: Logischer Theil = genetische Darstellung des Gedankens den das Gesetz ausspricht. Grammatischer Theil = Darstellung des Mediums wodurch der Gedanke ausgesprochen worden.
67 Vgl. Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 101, 114; Mertens, Gönner, Feuerbach, Savigny, S. 39, 119 (auch zum noch nicht öffentlich gewordenen Meinungsunterschied in dieser Frage mit Gönner; S. 31–34 zur Berufung Savignys nach Landshut). Übersicht zum Stand der potentiell aufschlussreichen Vorlesungen jetzt bei Rückert/Schäfer, Repertorium der Vorlesungsquellen zu Friedrich Carl von Savigny. 68 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 93. 69 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 93. Später immer wieder in ähnlicher Form, s. etwa S. 143 f., 217, 251. 70 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 94. Leicht verändert in der Landshuter Version vom Sommersemester 1809 (aaO, S. 215, 217).
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Historischer Theil = Darstellung des historischen Gegenstands den das Gesetz bestimmt, vermittelst der Darstellung des Moments überhaupt, in welchen das Gesetz fällt – Beyspiele.71 Beide lezte sind blos Bedingungen des ersten, welcher die eigentliche Interpretation unmittelbar enthält. Ferner: das Gesetz selbst soll objectiv seyn, d. h. es soll sich selbst aussprechen, also müssen alle Prämissen der Interpretation im Gesetz oder in allgemeinen Kenntnissen liegen, damit die Interpretation selbst allgemein und nothwendig sey. – Dadurch der Satz näher zu bestimmen: „man soll sich auf des Gesetzgebers Standpunct stellen“ – nämlich nur insofern das aus dem Gesetz selbst unmittelbar möglich ist.
Die Landshuter Methodenvorlesung von 1809 greift diese Gedanken auf: den Zusam- 48 menhang von Auslegungsgegenstand und richtiger Kategorienbildung, den Begriff der ratio legis sowie die Unzulässigkeit der Analogie. Wie die verschiedenen Grundfehler der Aufklärungshermeneutik aus seiner Sicht zusammenhängen, entwickelt Savigny mit den folgenden Worten:72 1.) Falscher Begriff der Interpretation: „Erklärung eines dunkeln Gesetzes“ – dadurch wird die Interpretation etwas blos zufälliges, bey einem trefflichen Gesetz könnte sie gar nicht vorkommen, da sie gerade umgekehrt bey dem trefflichsten Gesetz am thätigsten und fruchtbarsten ist. Auf diesen falschen Begriff gründen sich zwey Eintheilungen: a) grammatische und logische, je nachdem die Dunkelheit durch Grammatik oder durch irgend eine andere, höhere Operation gehoben wird – aber jede Interpretation ist grammatisch und logisch zugleich, ja noch mehrere, obgleich Ein Element vorherrschend seyn kann (…) b) authentica, usualis (beide zusammen legalis) und doctrinalis – Interpretation ist gar nicht die Sache des Gesetzgebers, sondern des Juristen und Richters.
Damit steht der Rechtsanwender im Zentrum des Geschehens. Er bekommt durchaus 49 keine absolute Freiheit, aber er wird nicht an ein subjektives Meinen des Gesetzgebers gebunden. Der Jurist steht für Savigny eben nicht so weit unter dem Gesetzgeber wie der Theologe unter Gott; und er ist nicht so ausschließlich am geschichtlichen Inhalt eines Textes interessiert wie der historisch orientierte Philologe. So bleibt ihm die Entscheidungsfreiheit, die für den römischen Juristen bestimmend war. Savigny, gewiss ein konservativ und monarchisch gesonnener Mann, stellt sich den Juristen nicht als ein bloßes Medium des von anderen und Höheren bestimmten Sinnes vor. Das führt zum – aus heutiger Sicht missverständlichen – Begriff der ratio des Ge- 50 setzes: Savigny versteht unter der ratio legis nicht etwa einen objektiven und folglich bindenden Gesetzeszweck, sondern ein subjektiv-historisches Moment, das er gerade nicht in den Vordergrund stellen will. Hier erklärt sich, warum der moderne Leser einen Begriff der „ratio legis“ im heutigen, objektiven, Sinne bei Savigny nicht findet –
71 In diesem Satz sind die Worte „des historischen Gegenstands den das Gesetz bestimmt, vermittelst der Darstellung“ später von Savigny hinzugefügt worden. 72 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 221. Baldus
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wohl aber das objektive Element der Auslegung, nur anders benannt. Die Passage lautet:73 2.) Falscher Grundsatz: man muß auf die Absicht des Gesetzgebers (nicht blos des Gesetzes) sehen, auf den Grund des Gesetzes (ratio legis, Zweydeutigkeit von ratio). Man behandelt also das Gesetz als Schlußsatz, sucht den Obersatz auf, und macht nach diesem das Gesetz selbst weiter oder enger, als es nach den Worten wirklich ist – interpretatio declarativa, extensiva, restrictiva. Eigentlich also nicht Interpretation, sondern Berichtigung des Gesetzes aus seinen Gründen unter dem Schein der Interpretation (…).
51 Dass Zwecküberlegungen Savigny nicht fremd sind, zeigt die Passage zur Gesetzes-
umgehung in der Obligationenvorlesung.74 Deshalb führt auch die These in die Irre, Savigny habe den Zweck als Auslegungsmittel verkannt, und erst Jhering habe ihn entdeckt.75 Selbstverständlich kannte Savigny den Zweck der Sache nach, so wie schon die Römer ihn kannten; so steht Jherings revolutionärer Gestus in einer gewissen Spannung zum realen Neuigkeitswert seines Ansatzes. Savigny hat freilich keinen gesonderten Kanon als „teleologische Auslegung“ benannt.76 52 Wer Savigny aber unterstellt, Zweckdenken sei ihm fremd gewesen, der unterschätzt ihn nicht nur als Rechtsdogmatiker und Rechtspolitiker; er liest auch die Kanones als etwas, was sie erklärtermaßen gerade nicht sein wollen – sozusagen mit den Augen der von Savigny gerade überwundenen Hermeneutik oder mit denen späterer Schematisierung. Nähere Behandlung findet nun auch die Analogie. Hier nennt Savigny diese Figur zwar sprachlich eine „Interpretation“, lehnt sie aber noch deutlicher als vorher ab. Er unterscheidet (unter Berufung auf mehrere römische Stellen, die verba und Sinn eines Gesetzes begrifflich gegenüberstellen):77 Es gebe eine zulässige Auslegung des auf einen Einzelfall bezogenen Gesetzes als allgemeine Regel; unzulässig sei hingegen „die Analogie, d. h. die nothwendige Ergänzung der Gesetzgebung78 wo sie schweigt (…) Jenes nun ist unerlaubt, weil es dem allgemeinen Zweck des Gesetzes und der Interpretation widerspricht. Dieser Zweck ist, irgend ein Rechtsverhältniß zu fixiren, objectiv zu machen, also seine
73 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 222. 74 Avenarius (Hrsg.), Savigny, Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, S. 266. 75 Die Genese dieses Vorurteils lohnte eine selbständige Betrachtung. 76 Differenzierend zu objektiven und subjektiven Momenten in Savignys Auslegungslehre nunmehr Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 84–89. 77 D. 1,3,17 (Cels. 26. dig.): verba/vis und potestas, dazu Harke, Argumenta Iuventiana (1999), S. 68 f., und Quadrato, L’interpretazione della legge in Celso, D. 1,3,29 (Paul. l. sg. leg. Cinc.): verba/sententia; C. 1,14,5 (Theod./Valent., a. 439): verba/voluntas. 78 Ursprünglich statt „der Gesetzgebung“: „des Systems“. Vgl. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 222, Fn. k.
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Beurtheilung aller Willkühr, allem Zufall individueller Ansicht zu entziehen – das ist nur möglich dadurch, dass man sich genau an das bindet, was das Gesetz als Regel ausspricht.“79
Solche Ergänzung aber sei unzulässig selbst dann, wenn der „Grund des Gesetzes“ im 53 Gesetz selbst genannt sei. Zulässig sei eine Analogie nur in gesetzlich nicht entschiedenen Fällen: Dann habe der Richter das Gesamtsystem in den Blick zu nehmen, das seinerseits aus den „Resultaten der Interpretation (…) in ihrem innern und nothwendigen Zusammenhang“ bestehe;80 er solle „entscheiden nach Analogie, indem er die Gesetzgebung aus sich selbst ergänzt, indem er in anderen Gesetzen die höhere Regel aufsucht, aus welcher der gegebene Fall zu entscheiden ist – Unterschied von der oben verworfenen interpretatio extensiva: hier ist gar nicht von der Interpretation die Rede, es wird gar nicht behauptet, dass der gegebene Fall in irgend einem Gesetz entschieden, sondern dass er vergessen sey, und dass er consequenterweise so entschieden werden müße.“
Damit sind im Zuge der Methodenvorlesungen zwei Punkte genannt, die vorsichtig in 54 die Richtung einer Art von Wortlautgrenze deuten, wohlgemerkt für ein „Gesetz“, das im Regelfall das römische war: Der Gedanke, dass das Gesetz „sich selbst aussprechen“ soll, dass „man sich auf des Gesetzgebers Standpunct stellen“ soll, „nur insofern das aus dem Gesetz selbst unmittelbar möglich ist“, setzt eine semantische Grenze der Normaussage voraus. Gleiches gilt für die Erwägung, dass Dinge nicht aus dem Gesetz erkennbar sein können, dass es also auch schweigen kann. Bemerkenswert ist in der Landshuter Methodenvorlesung noch der Hinweis, dass 55 die „Kunst des Gesetzgebers“ die sei, den Weg zur Entscheidung neuer Fälle vorzuzeichnen. Die Kunst des Interpreten hingegen sei die, „recht viel im Gesetz zu finden“.81 Das verweist auf die wenige Jahre später im „Beruf“ (u. Rn. 57) geäußerten Zweifel an der aufklärerischen Vorstellung vom vollständigen Gesetz. Hier wird deutlich, wie Savigny ein gutes Gesetz mit verbleibender Freiheit des Juristen vereinbaren kann. In diesem Punkt hatten sich die Verhältnisse seit römischer Zeit so weit verändert, dass unter den neuen rechtspolitischen Verhältnissen die kreative Rolle des Juristen anders gedacht und gesichert werden musste. Savigny teilt insoweit Grundanliegen der Aufklärung, als er dem Gesetz metho- 56 disch Vorrang vor Spekulationen über subjektive Zwecksetzungen des Gesetzgebers gibt. Der Objektivierung dient vor allem die Reflexion über die Eingriffssituation, die Savigny in der Gesetzgebung sieht, wie aus den vier Elementen (oben Rn. 47, 63) resultiert. Damit ist am Ende doch wieder der Interpret am Zuge, weil bei ihm die Beurtei-
79 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 222 f. (Hervorhebungen im Original). 80 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 224, 226. 81 Mazzacane(Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 219.
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lung liegt. Die Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie erfolgt nicht nach einer so bezeichneten Wortlautgrenze, sondern über die Bestimmung dessen, was man – modern – vielleicht eine Lücke nennen könnte: Eine historische und systematische Analyse der Gesetzgebungssituation kann ergeben, dass eine Norm nötig ist.
2. Der „Beruf“ 82 57 Im „Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ finden sich immer-
hin Andeutungen zu den „leitenden Grundsätze[n]“83 des Rechts, die zu erkennen das eigentlich Wissenschaftliche an juristischer Arbeit ausmache. Die Methode der römischen Juristen kennzeichne sich durch:84 „das Festhalten am Herkömmlichen, ohne sich durch dasselbe zu binden, wenn es einer neuen, volksmäßig herrschenden Ansicht nicht mehr entsprach. Darum zeigt die Geschichte des Römischen Rechts bis zur classischen Zeit überall allmähliche, völlig organische Entwicklung. Entsteht eine neue Rechtsform, so wird dieselbe unmittelbar an eine alte, bestehende angeknüpft, und ihr so die Bestimmtheit und Ausbildung derselben zugewendet. Dieses ist der Begriff der Fiction, für die Entwicklung des Römischen Rechts höchst wichtig und von den Neueren oft lächerlich verkannt: so die bonorum possessio neben der hereditas, die publiciana actio neben der rei vindicatio, die actiones utiles neben den directae. Und indem auf diese Weise das juristische Denken von der größten Einfachheit zur mannigfaltigsten Ausbildung ganz stetig und ohne äußere Störung oder Unterbrechung fortschritt, wurde den Römischen Juristen auch in der späteren Zeit die vollendete Herrschaft über ihren Stoff möglich, die wir an ihnen bewundern.“85
58 Savigny hütet sich freilich davor, das Methodische auf konkrete Anwendungsfragen
herunterzubrechen. Vielmehr dient ihm das römische Recht dazu, ein Gegenbild zur kodifikatorischen Tendenz aufzubauen. Ohne Rückprojektionen war dies freilich nicht möglich. Savigny wusste natürlich, dass auch Rom punktuell Gesetzgebung kannte, dass eine linear-organische Entwicklung in der behaupteten Form in Rom
82 Hier zitiert nach der heute maßgeblichen Edition von erster Auflage (1814) und „Vorrede der zweyten Ausgabe“ von 1828: Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 215– 300, 301–304. Aktuelle Darstellungen der Kontroverse: (ausgehend von der Rolle Thibauts) D. Kaufmann, Anton Justus Friedrich Thibaut (1772–1840). Ein Heidelberger Professor zwischen Wissenschaft und Politik (2014) S. 141–205; (namentlich unter Erweiterung des Blickes auf Nikolaus Thaddäus Gönner, Über Gesetzgebung und Rechtswissenschaft in unsrer Zeit, Erlangen 1815) bei Mertens, Gönner, Feuerbach, Savigny, S. 119–134 mwN. Insbesondere zur weiteren Wahrnehmung der Kontroverse im 19. Jh. Haferkamp, Thibaut und die Historische Rechtsschule, in: Hattenhauer/Schroeder/Baldus (Hrsg.), Anton Friedrich Justus Thibaut, S. 59–76. 83 Vgl. dazu auch Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (1994), S. 265 f. 84 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 35 der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 215, 233. 85 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 32 f. der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 215, 231 f.
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nicht stattgefunden hatte, dass die Fiktionen des römischen Rechts wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprachen und das Werk einer hochqualifizierten Funktionselite waren. Die fictio setzt immer am Prozess an. Es werden bestehende actiones, soweit möglich, nur verändert; und der klassische Formularprozess war durch das Edikt geregelt, funktionell betrachtet also in einem Gesetz (oben Rn. 22; vgl. Harke, in diesem Band, § 5 Rn. 11). Wenn man überhaupt historische Parallelen ziehen wollte, dann müssten sie 59 wohl eher zur Einzel- als zur Gesamtanalogie führen (unten Rn. 74): Ob eine bestimmte Konstellation bei der einen actio ebenso zu behandeln sei wie bei der anderen, wo bereits Einigkeit über die beste Lösung bestand, pflegte die Römer weit mehr zu interessieren als „allgemeine Grundsätze“. Diese entstanden erst bei solcher Fallanalyse, und nicht „organisch“ von frühester Zeit an, sondern vor allem seit spätrepublikanischer Zeit unter griechischem Einfluss. Wenn es eines Beweises dafür bedürfte, dass Savigny all dies klar vor Augen 60 stand, dann lieferten ihn seine Notizen zur Methodenvorlesung: Nicht zusammengefasste Inhalte des römischen Rechts aus „Institutionencompendien“ sollten die Studenten lernen, sondern System und Methode, und zwar an ausgewählten Originaltexten, um sich später bei Bedarf in beliebige Quellen einarbeiten zu können;86 sie sollten selbst an den Normtexten arbeiten können. Er schlug also ein didaktisches Prinzip vor, das gerade von der naturrechtlichen Konstruktion und akademischen Vermittlung „leitender Grundsätze“ abwich. So blieb die Kompetenz dazu, solche Grundsätze zu konstruieren und zu postulie- 61 ren, am Ende in der Hand der Juristen. Im „Beruf“ ging es Savigny darum, die gesetzliche Fixierung solcher Grundsätze abzuwehren, angeblich wegen der Unfähigkeit der Zeit hierzu. Er vermeidet es dabei bewusst, die Konsequenzen seiner Ansicht für Auslegung und Analogie darzustellen. Die aufklärerische Kritik am Richter, dem niemand ins Dickicht der unkodifizierten Normen folgen könne, wird nicht defensiv angegangen. Vielmehr kontert Savigny durch Kritik an den Gesetzbüchern, die aus dieser Kritik erwachsen waren. Seinem rechtspolitischen Ziel, dem Richter auch unter den nunmehr herrschenden Bedingungen Bewegungsfreiheit zu lassen, war damit am besten gedient. Entsprechend scharf reagierte Savigny öffentlich wie nichtöffentlich auf Kritik, die eben dieses rechtspolitische Ziel beim Namen nannte.87
86 Die preußische und die französische Studienreform in Savignys Zeit litten nach seiner Meinung an demselben Fehler: der Versuch, den Geist des römischen Rechts durch eine „allgemeine Übersicht seiner Grundsätze“ zu vermitteln: Institutionenvorlesung 1808/1809, nach Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 213. Vgl. die Passagen zur Juristenausbildung in beiden Ländern im „Beruf“: Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 287–290 (S. 138–143 der Originalausgabe). 87 Vgl. Mertens, Gönner, Feuerbach, Savigny, S. 124–127. Baldus
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3. Das „System“ 88 62 Ähnlich wie in der Methodenvorlesung schreibt Savigny im „System“:
„Jedes Gesetz ist dazu bestimmt, die Natur eines Rechtsverhältnisses festzustellen, also irgend einen Gedanken (…) auszusprechen, wodurch das Daseyn jenes Rechtsverhältnisses gegen Irrthum und Willkühr gesichert werde. Soll dieser Zweck erreicht werden, so müssen Die, welche mit dem Rechtsverhältniß in Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollständig auffassen. Dieses geschieht, indem sie sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetzen, und dessen Thätigkeit in sich künstlich wiederholen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem entstehen lassen. Das ist das Geschäft der Auslegung, die wir daher bestimmen können als die Reconstruction des dem Gesetze innewohnenden Gedankens.“
63 Die berühmte Darstellung der einzelnen Auslegungselemente im „System“ nun lau-
tet:89 „Das g r a m m a t i s c h e Element der Auslegung hat zum Gegenstand das Wort, welches den Übergang aus dem Denken des Gesetzgebers in unser Denken vermittelt. Es besteht daher in der Darlegung der von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze. Das l o g i s c h e Element geht auf die Gliederung des Gedankens, also auf das logische Verhältniß, in welchem die einzelnen Theile desselben zu einander stehen. Das h i s t o r i s c h e Element hat zum Gegenstand den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältniß durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, und die Art dieses Eingreifens, das was dem Recht durch dieses Gesetz neu eingefügt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung bringen. Das s y s t e m a t i s c h e Element endlich bezieht sich auf den inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft (…). Dieser Zusammenhang, so gut als der historische, hat dem Gesetzgeber gleichfalls vorgeschwebt, und wir werden also seinen Gedanken nur dann vollständig erkennen, wenn wir uns klar machen, in welchem Verhältniß dieses Gesetz zu dem ganzen Rechtssystem steht, und wie es in das System wirksam eingreifen soll.
64 Diese Elemente verstehen sich nicht im Sinne eines Gesamtkanons mit Ausschluss-
und Vorrangregeln,90 sondern im Sinne einzelner Kanones, mittels derer der Interpret sich in den Text hineindenkt. Das wird im „System“91 gleichfalls deutlich:
88 Savigny, System I, S. 212 f. 89 Savigny, System I, S. 213 f. 90 Solche Regeln bekämpft Savigny (wohlgemerkt als eine seinerzeit herrschende Ansicht) für das Verhältnis von grammatischer und logischer Auslegung weiterhin im „System“ (Bd. I, S. 319 f.). Sein Grund gegen feste Rangregeln ist nach Rückert (Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny [1984], S. 352 f.) das Bemühen um ganzheitliche Erfassung des „einheitlichen Gegenstandes“ hinter konkreten Texten (oder einer bestimmten Textart), das durch textartspezifische Rangregeln gefährdet sei. Bei der Lektüre einiger späterer Autoren des 19. Jh. drängt sich freilich der Eindruck auf, dass dort eine „Gesamtbetrachtung“ aus weitaus prosaischerem Grunde postuliert wird: wegen der methodologischen Unsicherheit hinsichtlich einzelner Kriterien (u. Rn. 82, 91, 95). Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 238, sieht die Gleichwertigkeit des grammatischen Elements mit den anderen beim frühen Savigny gerade darin, dass eine Überschreitung des Wortlautes nicht in Frage gekommen sei. 91 Savigny, System I, S. 215.
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„Mit diesen vier Elementen ist die Einsicht in den Inhalt des Gesetzes vollendet. Es sind also nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte, sondern es sind verschiedene Thätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll. Nur wird freylich bald die eine, bald die andere wichtiger seyn und sichtbarer hervortreten, so dass nur die stete Richtung der Aufmerksamkeit nach allen diesen Seiten unerläßlich ist, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieser Elemente als unnütz und schwerfällig unterlassen werden kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.“
„Nachvollziehen“ und „Rekonstruktion“92 bezeichnen also nicht den Versuch, den 65 historischen Gedanken des Gesetzgebers im Sinne der subjektiven Auslegungstheorie93 abschließend zu ermitteln, sondern sie sollen gerade eine zeitgemäße Normanwendung ermöglichen.94 Jedenfalls im Ergebnis gewinnt der Richter so Handlungsfreiheit. Deswegen handelt es sich auch nicht um eine subjektiv-historische Auslegung im heutigen95 Sinne;96 die historische Auslegung Savignys trägt einige der Funktionen, die wir heute der objektiv-teleologischen, an Sinn und Zweck orientierten Auslegung zuweisen (Rn. 36 f., 50 ff.). Das leuchtet aus dem Grundanliegen der Historischen Schule unmittelbar ein: Geht es nicht darum, die Unübersichtlichkeit der bestehenden Rechtsquellen möglichst schnell und umfassend durch ein einheitliches Zivilgesetzbuch zu beheben, sondern darum, aus diesen überkommenen Quellen ein organisches Ganzes entstehen zu lassen, dann müssen sie durch geschichtlich bewusstes Durchdenken für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. Dazu aber braucht der Jurist methodische Bewegungsfreiheit.97
92 Zum geistigen Hintergrund Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 24–27. 93 Ob man Savigny ihr zurechnen kann, ist str.; s. nur Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 124– 129, und Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 84–89. 94 Vgl. Meder, Grundprobleme, S. 26 mit Fn. 22: Es komme Savigny „weniger auf die Rekonstruktion des ursprünglichen Inhalts einer Rechtsquelle als auf die Ermittlung ihres gegenwärtigen Sinnes an“. 95 Die Vielfalt der Definitionen und Verständnisse hinsichtlich dieses Kanons ist hier nicht wiederzugeben; vgl. differenzierend etwa Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 78 III, 79 I (S. 619 f., 627 f.). Gemeinsam ist den meisten, dass ermittelt werden soll, was die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen wollten. Genau dort setzen Zweifel an; s. Baldus/Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung. Neuere Lehrbuchdarstellungen: Reimer, Juristische Methodenlehre (2. Aufl. 2020), S. 171–175; Möllers, Juristische Methodenlehre (3. Aufl. 2020), S. 154–164. 96 Vgl. nochmals Huber, JZ 2003, 1–17; Meder, Grundprobleme, S. 124. Zur weiteren Entwicklung der historischen Auslegung (vor allem der zeitgenössischen Gesetze) vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 233 f. 97 Ähnlich wie hier jetzt auch Haferkamp, Die historische Rechtsschule (2018), S. 257 f., und ders., Thibaut und die Historische Rechtsschule, in: Hattenhauer/Schroeder/Baldus (Hrsg.), Anton Friedrich Justus Thibaut, S. 59–76 (71 f.): Individualität der Methoden- und Ergebnisfindung als Kennzeichen der Schule.
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Dass die Grenze der Auslegungskunst98 gerade im Sinne der Lehre vom Wortlaut grammatisch zu bestimmen sei, ist nicht gesagt; es folgt auch nicht daraus, dass im „System“ das grammatische Element als „die Darlegung der von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze“ bestimmt wird:99 Der Begriff der „Sprachgesetze“ ist weiter als der des „Wortlauts“. Überdies unterfällt auch das grammatische Element der genannten Metaregel, der zufolge eine Zusammenschau aller Kanones erforderlich ist und Vorrang eines Elements nicht angenommen werden kann. Umso mehr fragt sich, wo dann die Grenzen der Analogie liegen sollen. Dieses Institut hatte bemerkenswerte Veränderungen durchgemacht:100 Das 16. und 17. Jahrhundert kennt die Analogie der Sache nach im Rahmen der juristischen Topik, als Ähnlichkeitsschluss, verwendet den Begriff analogía aber nicht in diesem Sinne. Mit dem Niedergang der Topik als wissenschaftlicher Methode im 17. und 18. Jahrhundert geht diese Zuordnung des Ähnlichkeitsschlusses verloren; er überlebt diesen Niedergang als einziger Topos, den die Juristen noch akzeptieren. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts bekommt er auch den Namen Analogie, jedoch ohne sachlichen Unterschied zur „ausdehnenden Auslegung“. Erst indem man zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit beginnt, den sprachlich möglichen Sinn als Grenze der Auslegung zu identifizieren, kann sich der Analogieschluss als definierter Bestandteil des juristischen Methodeninstrumentariums jenseits dieser Grenze etablieren (unten Rn. 79). Dieser Prozess aber findet jedenfalls bei den frühen Pandektisten noch nicht seinen Abschluss. Savigny fördert diese Entwicklung; und er bemüht sich im „System“ auch um die Bestimmung einer Grenze der Analogie. Diese ist systematisch aus dem positiven Recht zu bestimmen: Analogie ist nur in Gesetzeslücken möglich, und das Ergebnis darf anderen Normen nicht widersprechen.101 Fraglich ist, welche Tragweite dieser Ansatz in erst entstehenden Systemen hat: Setzt er Vollständigkeit des Systems voraus? Oder ist lediglich Widerspruchsfreiheit unter den vorhandenen Systemelementen verlangt? An der Unzulässigkeit extensiver Auslegung (im Sinne einer Korrektur des gesetzlichen Gedankens) hält Savigny dem Grundsatz nach auch im „System“ fest.102 Freilich unterscheidet er nicht primär nach dem Wortlaut, sondern maßgeblich nach dem 98 Weiterhin zu diesem Konzept Meder, Auslegung als Kunst bei Savigny, in: Gabriel/Gröschner (Hrsg.), Subsumtion. Schlüsselbegriff der Juristischen Methodenlehre (2012), S. 149–177. 99 Savigny, System I, S. 214. 100 Zum Folgenden ausführlich Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1–55. Über die antike Begrifflichkeit bereits oben Rn. 25. 101 Savigny, System I, S. 294: „(…) das ganze Verfahren nach Analogie beruht ja lediglich auf dem inneren Zusammenhang des Rechtssystems“; vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 155 ff., und zum Systemdenken bereits aufgrund der Methodologievorlesungen Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1–55, 45. 102 So knapp Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 137 gegen eine verbreitete Meinung, vgl. für diese etwa Bühler, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik –
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Grund des Korrekturbedarfs. Dass dies zu mannigfachen Abgrenzungsproblemen führt, sieht Savigny selbst deutlich. In § 37 heißt es zur „Auslegung mangelhafter Gesetze“ abschließend:103 „Ist nun also der specielle Gesetzgrund zur Berichtigung des Ausdrucks zulässig, der generelle unzulässig, so muss zugleich daran erinnert werden, dass es zwischen diesen beiden Arten von Gründen keine scharfe Gränze giebt (§ 34). Durch die mancherley allmäligen Übergänge, die sich hierin bilden, wird oft die Möglichkeit wahrer Auslegung zweifelhaft, und die Unterscheidung derselben von Fortbildung des Rechts schwierig werden. Dagegen ist es durchaus keinem Zweifel unterworfen, dass das dritte oben angegebene Hülfsmittel, der innere Werth des Resultats (§ 35), auf die Erkenntnis und Verbesserung des unrichtigen Ausdrucks niemals angewendet werden darf. Denn es ist einleuchtend, dass darin nicht eine Ausgleichung des Ausdrucks mit dem Gedanken, sondern eine versuchte Verbesserung des Gedankens selbst, enthalten seyn würde. Dieses kann als Fortbildung des Rechts heilsam seyn, von einer Auslegung kann es nur den Namen an sich tragen.“
An anderer Stelle104 formuliert er die Gegenposition so: Ausdehnende oder einschrän- 71 kende Auslegung sei „eine Berichtigung des wirklichen Gedankens selbst (…) durch Zurückführung auf denjenigen Gedanken, den das Gesetz hätte enthalten sollen“; dies unter ausdrücklicher Abstraktion vom realen Bewusstsein des realen, personifizierten Gesetzgebers:105 „Dabey ist es gleichgültig, ob der Gesetzgeber mit Bewußtseyn einen logischen Fehler gemacht hat, oder ob er nur versäumte, an die consequenten Anwendungen des Grundes zu denken, wodurch man ihn jetzt berichtigt;(…).“
Das aber sei unzulässige, dem Ausleger als solchem, namentlich dem Richter nicht ge- 72 stattete Rechtsfortbildung, eine „Gränzverwirrung zwischen wesentlich verschiedenen Thätigkeiten“106 – Savigny freilich lehnt sie wiederum nicht wegen einer Überschreitung der Wortlautgrenze ab, sondern wegen eines Übergriffs auf den Gesetzesinhalt. Hingegen setzt er den „bloßen Buchstaben“ mit dem „Schein des Gesetzes“ gleich.107 Damit ist die Grenze von Auslegung und Analogie ausdrücklich nicht über den Wortlaut bestimmt. Darin liegt immerhin eine Akzentverschiebung gegenüber den frühen
Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 331; nunmehr mit beachtlichen Gründen Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 94 ff. 103 Savigny, System I, S. 240. Dass durch die Möglichkeit, einen unrichtigen Ausdruck im Wege der Auslegung zu korrigieren, die Abgrenzung von Auslegung und Analogie bei Savigny wieder unsicher wurde, betont Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 223. Vgl. zur Struktur der Ausführungen im „System“ Rückert, in: ders. (Hrsg.), Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 47 ff. 104 Savigny, System I, S. 321. 105 Savigny, System I, S. 321. 106 Savigny, System I, S. 322. 107 Savigny, System I, S. 322. ebd.
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Ausführungen zur Methodenlehre, freilich keine so radikale Wende, wie oftmals behauptet worden ist. 73 Die Analogie nun akzeptiert Savigny zum einen als Schaffung eines dem positiven Recht bislang unbekannten Instituts, zum anderen „und viel häufiger, wenn in einem schon bekannten Rechtsinstitut eine einzelne Rechtsfrage neu entsteht. Diese wird zu beantworten seyn nach der inneren Verwandtschaft der diesem Institute angehörenden Rechtssätze, zu welchem Zweck die richtige Einsicht in die Gründe der einzelnen Gesetze (§ 34) sehr wichtig sein wird“.108
Freilich: Für Savigny ist „analogische Rechtsfindung“ nicht gleichbedeutend mit Rechtsfortbildung, sondern lediglich „Anstoß zur Fortbildung des Rechts, z. B. durch Gesetzgebung, in welchem Fall sie mit größerer Freyheit geübt werden kann“.109 74 Es versteht sich, dass von diesem Ausgangspunkt die Kategorien andere sein müssen als bei der modernen Dichotomie von Auslegung diesseits, Analogie jenseits der Wortlautgrenze. Vielmehr unterscheidet Savigny, wie gesehen, danach, ob ein unrichtig gewählter Ausdruck aus dem „wirklichen Gedanken“ des Gesetzes korrigiert wird (ausdehnende Auslegung) oder ob eine Lücke vorliegt, so „dass es an dem wirklichen Gedanken irgend eines leitenden Gesetzes gänzlich fehlt, und wir suchen uns über diesen Mangel durch die organische Einheit des Rechts hinweg zu helfen“:110 nämlich anhand von „solchen Bestandtheilen der Rechtstheorie (…), die selbst schon auf dem künstlichen Wege der Abstraction entstanden waren“.111 Wir befinden uns also, modern gesprochen, im Felde der Gesamtanalogie, getragen vom Systemgedanken (vgl. bereits Rn. 59). Für Savigny geht es nicht um Sonderformen der Anwendung gesetzten Rechts, sondern um das Rechtssystem insgesamt. 75 Die Wurzeln seiner Konzeption können hier weder in philosophischer112 noch in historischer Hinsicht ausgeleuchtet werden. Savigny selbst nimmt „die Römer“ zunächst für seine Begriffsbildung in Anspruch, nennt insoweit freilich keine einzelnen Juristen.113 Sie hätten
108 Savigny, System I, S. 291. 109 Savigny ,System I, S. 291 f. 110 Savigny, System I, S. 293. 111 Savigny, System I, S. 292. 112 Vgl. nochmals Rn. 33 f. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 94 f. u. ö. Savigny, System I, S. 291 Fn. a, beruft sich für „das eigentliche Wesen der Analogie“ auf „Stahl Philosophie des Rechts II.1. S. 166“ (= F.J. Stahl, Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, Bd. II (1833); vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 155, 170). Zu Stahl und Savigny Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (1994), insbes. S. 291–295. 113 Savigny, System I, S. 291: Varro, Gellius, Isidor – also immerhin Personen, die zwar keine iuris prudentes im üblichen Sinn waren, aber doch juristische Interessen kultivierten.
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„von der Ergänzung des Rechts durch Analogie sehr richtige Ansichten, nur unterscheiden sie in der Anwendung derselben nicht überall die Fortbildung des Rechts von der reinen Auslegung; von dieser Vermischung werden die Gründe weiter unten angegeben werden“.114
Diese „Gründe“ sieht Savigny, wie er in einer bemerkenswerten Passage schreibt, da- 76 rin, dass die Auslegungspraxis der römischen Juristen nicht immer auf der Höhe ihrer eigenen Theorie gewesen sei:115 „[Die Praxis der römischen Juristen] geht oft weit über die Gränzen wahrer Auslegung hinaus, und nimmt den Character einer wahren Fortbildung des Rechts an. (…) Diese Widersprüche erklären sich aus der eigenthümlichen Stellung der Römischen Juristen, welche allerdings auch die Fortbildung des Rechts unmittelbarer in ihre Hände legte, als dieses bey uns angenommen werden kann (§ 19). (…) Indessen mögen auch schon die alten Juristen selbst die unsichere Gränze erkannt haben, die dadurch zwischen ihrem eigenen Beruf, und den Befugnissen des Prätors oder gar des Kaisers entstehen musste; (…) In allen diesen Beziehungen stehen wir anders als sie, besonders wenn wir nicht unsere einheimischen Gesetze, sondern die uns so fern stehenden Justinianischen auszulegen haben. Unsere Lage ist darin ungleich schwieriger; aber hier (…) ist die durch die Schwierigkeit gebotene Anstrengung nicht ohne Frucht geblieben. Der Begriff und die Gränze wahrer Auslegung ist dadurch unter uns zu einer schärferen Ausbildung gelangt, als jemals bey den Römern, denen eine gleiche Nothwendigkeit nicht auferlegt war.“
Im Folgenden geht es namentlich um den référé législatif bei Justinian. Savigny sucht 77 also in den römischen Quellen das, was seine Zeit beschäftigt; und dort sucht oder findet er einiges zum „Zweifel“ als Voraussetzung für die Pflicht zur Anfrage an den Kaiser, aber nichts zur Wortlautgrenze.116 Die aus moderner Sicht naheliegende Verbindung von Richterbindung und Orientierung am Wortlaut ist bei ihm gedanklich vorgezeichnet, aber jedenfalls nicht eindeutig zu Ende geführt. So lässt sich resümieren: Die Rechtsfortbildung ist auch nach dem späten Savigny 78 in gewissen Grenzen gestattet, nur unterscheidet er sie nicht nach dem Wortlautkriterium von der Auslegung. Eine entsprechende Unterscheidung hat sich, wie im nächsten Abschnitt (V.) zu zeigen sein wird, auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts in Deutschland nicht sicher etablieren können. Es gibt also in der deutschen Rechtswissenschaft keine einheitlich in die Richtung dieses Kriteriums weisende Tradition; und auch in der französischen sowie in den Überschneidungsgebieten französischer und deutscher Tradition nicht. Hier liegt ein historischer Grund dafür, dass es vermutlich nicht gelingen wird, die auf eben dieser Unterscheidung beruhende heutige deutsche Methodenlehre zur Gänze nach Luxemburg zu „exportieren“.
114 Savigny, System I, S. 294 f. 115 Savigny, System I, S. 297 ff. 116 Savigny, System I, S. 309 ff., 309.
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V. Deutsche Pandektenwissenschaft im 19. Jahrhundert 1. Voraussetzungen 79 Die Entwicklung bis in die ersten Jahrzehnte des BGB kann hier nur im Überblick
nachgezeichnet werden.117 Es entstehen zahlreiche Streitfragen, aber keine einheitliche Linie zu unserem Problem, schon gar nicht in dem von Savigny angeregten Sinne.118 Zuerst wird überhaupt eine Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie eingeführt, oft mit Andeutungen, die bereits in die Richtung der Wortlautgrenze weisen,119 oft auch unter Kritik an den bisherigen Kategorien der restriktiven, deklarativen und extensiven Auslegung120 oder daran, dass diese Kategorien nicht entschlossen genug beseitigt würden;121 aber erst allmählich wird die Wortlautgrenze als maßgeblich identifiziert.122 Bisweilen erscheinen die Kategorien auch nebeneinander.
2. Überblick zu einzelnen Autoren 123 80 Hufeland kennt die Wortlautgrenze und ausdrücklich diesseits derselben die drei
Arten der Auslegung.124 Sachlich folgt daraus für ihn die Ablehnung der „ausdehnenden Auslegung“.125 Dem folgen alsbald weitere Autoren, teils unter Berufung auf andere, teils unter Hervorhebung der Neuigkeit, die in ihrer Lehre liege. Da zugleich ein –
117 Vgl. hier nur Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 220 ff.; Haferkamp, AcP 214 (2014), 60. 118 Oben Rn. 69–74 und nochmals Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1–55, 35–39. 119 Vgl. etwa Gönner, Deutsches Staatsrecht (1805) 23 (zur Analogie: „der Rechtssatz darf weder geradehin noch mittelbar in dem Gesetze schon liegen“). Zu Gönner nunmehr monographisch Mertens, Gönner, Feuerbach, Savigny. 120 Hingegen trägt noch deutlich später und in strafrechtlichem Zusammenhang Binding keine Bedenken, die Analogie nach gemeinem Recht für grundsätzlich zulässig zu halten und für die Anwendung des StGB eine Umgehung des Analogieverbotes „optima fide durch sog. ausdehnende Auslegung“ zu empfehlen: Binding, Handbuch des Strafrechts, Erster Bd. (1885), S. 218 ff., 219. 121 Vgl. etwa Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 71–75; günstiger zu Thibaut: S. 75 f. 122 So etwa Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 85 (wörtliches Zitat sogleich im Sachtext). 123 „Keine Auslegung kann über den Wortverstand hinausgehen, den nemlich die gesetzliche Vorschrift in ihrer jetzigen Stelle und Verbindung haben kann“: Hufeland, Lehrbuch des in den deutschen Ländern geltenden gemeinen oder subsidiarischen Civilrechts, Bd. I (1808), S. 23. 124 Hufeland, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 24: „Alle Auslegung (…) kann nach verschiedenen Graden des Umfangs, den der gewöhnliche Wortverstand hat, ausdehnend, bloss erklärend, oder einschränkend seyn“ (dort Verweis auf Zachariä und Thibaut). Hufeland begründet dieses Nebeneinander später ausführlich aus der Mehrdeutigkeit der Worte: Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, Bd. I (1814), S. 62 ff. 125 Hufeland, Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, Bd. I (1814), S. 64.
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wenngleich nicht abschließendes126 – System des positiven Rechts postuliert wird, findet die Analogie nunmehr ihre Grundlage in logischen, nicht mehr in hermeneutischen Erwägungen.127 Das sozusagen staatsrechtliche Moment, der Wunsch nach Kontrolle des Richters, nenne man dieses Moment nun positivistisch,128 gewaltenteilend oder etatistisch, wird dabei selten angesprochen.129 Diese Position scheint geradewegs zur heutigen Betonung der Wortlautgrenze zu 81 führen. Sie bleibt anscheinend jedoch isoliert. Savignys Unterscheidung von Auslegung im engeren Sinne und „Auslegung vermittelst der Analogie“ wurde vielfach aufgegriffen und weitergeführt, sowohl bei späteren Autoren der deutschen Pandektistik als auch im Ausland. Eine systematische Untersuchung hätte diese Unterscheidung in sonstige Span- 82 nungsfelder einzubetten, die bei Lektüre der pandektistischen Werke deutlich werden: Manche argumentieren stärker historisch und zum römischen Recht, andere mehr aus dem im 19. Jahrhundert entstehenden System und auch zur Auslegung neuer Gesetze; manche lehnen sich (unter dem Schlagwort vom Willen des Gesetzgebers)130 stärker an die Rechtsgeschäftslehre an,131 andere mehr an öffentlich-rechtliche Erwägungen; viele bringen Detailkorrekturen an der überkommenen Terminologie an, bleiben aber dem traditionellen Schema der Auslegungsformen (grammatisch, logisch usw.) in unterschiedlicher Genauigkeit treu, bisweilen in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Savigny. Auch das strenge oder billige Recht wird erörtert, weiterhin die Frage, ob die Analogie nicht ein Drittes sei, ein Phänomen zwischen Auslegung und Anwendung; und es erscheint die Spannung zwischen Richterbindung und Verbot der Rechtsverweigerung. Eine solche systematische Lektüre hätte daher namentlich neuere Forschungs- 83 ergebnisse zur Rechtsquellenlehre der Pandektenwissenschaft und zu den realen historischen Grundlagen des Schlagworts von der „Begriffsjurisprudenz“132 beizuziehen,
126 Nahezu alle relevanten Autoren des 19. Jahrhunderts lassen namentlich das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle zu. Vgl. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, S. 141– 165 u. ö.; Meder, Ius non scriptum (2008). 127 Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 34–38, 45–54 (namentlich zur Rolle Hufelands, Savignys und Kants; dazu näher Meder, Mißverstehen und Verstehen [2004], passim). 128 Differenzierungen bei Schröder, FS Otte (2005), S. 571–586. 129 S. aber Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 78 f., 84 f. 130 Dass hinter diesem Schlagwort um die Mitte des 19. Jahrhunderts zumeist keine kohärente Theorie steht, zeigt Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 226 f. Zum späten 19. Jh. unten Rn. 88, 99. 131 Vgl. bereits Hammen (Hrsg.), Savigny, Pandektenvorlesung 1824/1825, S. 60. Die antiken Quellen freilich legen hier eine gewisse Vorsicht nahe, wie beispielsweise Keller durchaus sah: Pandekten. Aus dem Nachlasse des Verf. hrsgg. von Emil Friedberg (1861), § 14, S. 26 Fn. 1 (zu D. 33,10,7,2; Cels. 19. dig.). 132 Vgl. nur Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“; Rückert, Rechtsgeschichte 2005, S. 122–139, 127–138; Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien.
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vor allem aber diese theoretischen Grundlagen mit konkreten dogmengeschichtlichen Anwendungen in Beziehung zu setzen: Am Ende ist nicht so wichtig, was in den Grundlagenkapiteln der Pandektenlehrbücher steht, sondern ob der Rest dieser Werke zu etwa postulierten Grundlagen passt. 84 Bei der überkommenen Einteilung der Auslegungsformen und der Zulässigkeit einer „ändernden“, „korrigierenden“ usw. Auslegung bleiben Mühlenbruch,133 Arndts134 und Dernburg.135 85 Mittelpositionen finden sich etwa bei Baron,136 Brinz137 und von Vangerow.138
133 Mühlenbruch’s Lehrbuch des Pandecten-Rechts (…), 4. Aufl. hrsgg. von Madai, Erster Theil (1844), § 53, S. 129 ff. (authentische, Usual- und doctrinelle Interpretation); § 58, S. 136 ff. (grammatische Interpretation als Grundlage, dem entschiedenen Willen des Gesetzgebers gegenüber aber nachrangig); jeweils ausgehend von der Notwendigkeit, dunkle Stellen auszulegen; vgl. auch § 60 (S. 139 ff.) zur grammatischen Auslegung, § 64 (S. 147 f.) zur Analogie; letztere in der Bearbeitung von Madais auch unter Verweis auf Savigny erläutert. 134 Arndts (später: A. Ritter von Arnesberg), Lehrbuch der Pandekten, 6. Aufl. 1868 (vgl. noch die 10. und 11. Aufl., 1879/1883, jeweils besorgt von Pfaff und Hofmann), § 7, S. 8. Savignys Hermeneutik wird gleichwohl in Bezug genommen: § 6 Anm. 4 (S. 7 in der 6. Aufl.). 135 Dernburg, Pandekten, Erster Bd. (1884; vgl. von den weiteren Auflagen noch die 2. von 1888), §§ 34 f., 38, S. 73 ff., 84 f.: Dernburg argumentiert nicht zuletzt aus dem Geltungsgrund des jeweils angewandten Rechts; Auslegung nach dem Sinn entspreche der aequitas, solche nach dem Wort dem ius strictum; extensive Auslegung sei unterstellte Verwirklichung des gesetzgeberischen Willens, Analogie neues Recht. Ausdrücklich wendet sich Dernburg freilich gegen Windscheids (unten näher zu besprechende) Vorstellung, „hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen vermeintlichen eigentlichen Gedanken hervorzuziehen, um so Fehler des Gedankens des Gesetzgebers zu korrigiren“ (S. 77, vgl. Fn. 11; etwas milder die 2. Aufl. von 1888, S. 77, unter Hinweis auf Kohler, und unverändert die 7. Aufl. 1902 sowie die 8. von 1911, fortgeführt von Sokolowski). Bei der Analogie wird namentlich der Systemgedanke betont (S. 84). 136 Baron, Pandekten (3. Aufl. 1879, vgl. auch die 9. Aufl. 1896), § 6, S. 15–19: Man solle den Begriff „auslegen“ verwenden, weil „interpretieren“ römisch auch die Analogie umfasse; grammatische und logische Auslegung (diese bezogen auf Geschichte, Savigny, System I und Zweck der Normen) seien stets zu verbinden, die logische Auslegung finde also immer statt, und im Konfliktfall setze sich die logische als „Prüfstein der grammatischen“ durch. 137 Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Erster Bd. (2. Aufl. 1873), §§ 28 ff., 32 (S. 117–123, 124–129): Unzweideutige Gesetze auszulegen sei „bloße Schularbeit“, die Einteilung in grammatische und logische Auslegung eine „Vermengung der Auslegung und Anwendung, dazu von Anlaß und Mittel“; die (sogenannte) extensive Auslegung sei analoge Rechtsanwendung, die restriktive Korrektur (S. 119), letztere von der Auslegung unterschieden und ausnahmsweise bei einem „logischen Fehlgriff“ des Gesetzgebers zulässig (S. 122 f.). Hinsichtlich der analogischen Schlussfolgerung (Interpretation, nicht Auslegung) betont Brinz die Generalisierung des analog anzuwendenden Satzes gegenüber der bloßen Ähnlichkeit; nicht erfasst sind der absichtlich (dann arg. a contrario) und der versehentlich (dann Korrektur) zu eng gefasste Satz; den Begriff der Lücke lehnt Brinz ab (S. 127 ff.). 138 Vangerow, Leitfaden für Pandekten-Vorlesungen, Erster Bd. (1848; vgl. auch Lehrbuch der Pandekten, Erster Bd., 7. Aufl., Neuausg., 1876, gleiche Paragraphenzählung), §§ 24 f., S. 37–44: Thibaut fasse die Auslegung zu weit, Hufeland zu eng; maßgeblich sei der Wille des Gesetzgebers; die Auslegung beginne bei der grammatischen, wenn aber der wirkliche Wille aus den Worten des Gesetzes nicht ermittelbar sei, dann komme man zur logischen; hier lässt Vangerow neben der deklaratorischen
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So lässt sich die Hauptlinie der frühen Pandektenwissenschaft möglicherweise 86 dahingehend lesen, Ergebnisse jenseits des Wortsinns seien zwar möglich, aber nicht mehr als Auslegung, sondern als systemgetragene Analogie – dies jedoch nur solange, als nicht die neuerliche Erweiterung des Auslegungsbegriffs (soweit man hier denn eine echte Zäsur zwischen frühem und spätem Savigny sehen will) eine solche Unterscheidung wiederum weniger dringlich erscheinen ließ.139 Wie sich dies im Einzelnen zum Rekurs auf den „Willen des Gesetzgebers“ ver- 87 hielt, wie dabei Methode und Rechtspolitik zusammenspielten, kann hier wiederum nicht vertieft werden. Unklarheiten folgen namentlich daraus, dass dieser Wille in unterschiedlichem Maße durch personalisierende Formulierungen bezeichnet wurde, sodass bisweilen Assoziationen zur rechtsgeschäftlichen Auslegung aufkommen konnten.140 Puchta betont im Rahmen seiner Rechtsquellenlehre,141 für „das gesetzliche Recht“ 88 sei „das bedeutendste Erkenntnismittel das Wort, in welches es gefasst, die Urkunde, in welcher es niedergelegt ist“, und weiter: „(…) der Sinn muss aus den Worten genommen werden können, er muss diesen gemäß seyn, denn Gesetz ist der in Worten ausgesprochene Wille des Gesetzgebers. Würde sich ergeben, dass der Gesetzgeber etwas ganz anderes gewollt, als was er ausgesprochen hat, so würde sein Wille nicht gelten, weil er nicht ausgesprochen ist, und die Worte nicht, weil sie den Willen des Gesetzgebers nicht enthalten“.142
und restriktiven die extensive zu, wenn der Gesetzgeber sich „ungenauer Weise zu eng ausgedrückt“ habe; hingegen sei ein „von dem möglichen Wortsinn ganz verschiedenes Resultat“ nicht zulässig (S. 42, 40). Gegen Hofacker (nur für die interpretatio extensiva sei ein gleicher, für die Analogie hingegen ein lediglich ähnlicher Gesetzesgrund zu verlangen) lässt Puchta die Analogie nur bei Gleichheit der Gründe zu (S. 43). Savignys Vier-Elemente-Lehre hält Vangerow mit einigen anderen für überflüssig, weil logisches, historisches und systematisches Element nichts anderes seien als logische Auslegung im überkommenen Sinne (7. Aufl. S. 51). 139 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 242 ff. mwN zum zeitgenössischen Meinungsbild; auch zu Puchta (sogleich, Rn. 88 f.). 140 Vgl. nochmals Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 226 f. Ausdrücklich parallelisiert etwa Brinz, Lehrbuch der Pandekten (1873), § 29, S. 120. Vgl. auch Regelsberger, Festgabe der Göttinger JuristenFakultät für Jhering (1892, Ndr. 1970), S. 52. Zu Otto Gradenwitz Baldus, in: ders./Kronke/Mager (Hrsg.), Heidelberger Thesen zu Recht und Gerechtigkeit, S. 207–225. 141 Zu dieser näher Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“; Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta (2004), S. 86–106; Mecke, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta (2009); Garrido Martín, Fuentes, método y sistema en la Escuela Histórica del Derecho. Georg Friedrich Puchta (1798–1846) (2019). Angesichts der Rolle, die Puchta Gewohnheitsrecht und Wissenschaft zuwies, bereitete es ihm keine Probleme, dem geschriebenen Gesetz relativ enge Schranken zu ziehen. Deswegen ist seine Aussage mit Vorsicht zu verwerten: Für ihn waren Auslegung und Analogie des positiven Rechts eben nicht die einzigen Mittel zur Rechtsgewinnung (vgl. auch die folgenden Fn.). 142 Puchta, Cursus der Institutionen, Erster Bd. (1841), S. 40 f.; dort S. 37 die drei Rechtsquellen: unmittelbare Volksüberzeugung, Gesetzgebung, Wissenschaft. Die Wissenschaft erscheint hier nicht als
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143 89 Grammatische und logische Interpretation sind nach Puchta nicht trennbar: Auch
und gerade wer in der Pandektistik nicht an das Gesetz als primäres Mittel rechtlicher Steuerung glaubte,144 beschränkte sehr wohl die Tragweite der Wortlautauslegung. Wie Puchta sich genau die Analogie vorstellte, namentlich im Verhältnis zum Systemund zum Konsequenzgedanken, wird in der Spezialliteratur noch erörtert.145 90 Josef Kohler, auf den entscheidende Impulse für eine objektive Auslegung zurückgehen,146 behält die Kategorien der restriktiven und extensiven Auslegung bei. Er zieht dem Wortlaut weite Grenzen,147 unterscheidet Auslegung im Allgemeinen aber scharf von der Analogie als „Neubildung auf Grund von Rechtsprincipien, welche ihrerseits allerdings aus dem Gesetze abstrahirt sind“.148 91 Zu untersuchen bleibt, inwieweit die Positionen der Zeitgenossen von ihrer Haltung zur Kodifikation insgesamt abhängen. Insgesamt schlägt jedenfalls seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Pendel gegenüber jener Wortlautorientierung zurück, die man in Savignys Methodenvorlesung angedeutet sehen mag. Im „System“ finden wir schon wieder einen recht großzügigen Umgang mit den Grenzen der Auslegung;149 und so bleibt es im Wesentlichen bis zu Windscheid, in dessen Pandekten eine wirklich exakte Grenzziehung nicht auszumachen ist:
(bloße) Quelle von Erkenntnissen über mögliche Analogien. Vielmehr: „Auch das Gewohnheitsrecht und das gesetzliche, in den Rechtssätzen nämlich, die einer inneren Begründung fähig sind, müssen diese durch die Wissenschaft erhalten; wir werden durch diese Behandlung erst, wodurch wir uns der inneren Gründe bewusst werden, des richtigen Verständnisses des unmittelbaren Volksrechts und der Gesetze sicher“ (S. 45). – Aus dem Gesagten folgt bei Puchta (in Abwendung von Savignys Lehre) eine klare Aufwertung der subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers gegenüber dem objektiven Entstehungszusammenhang der Norm (und für die römischen Quellen ein Bedeutungsgewinn des Wortlauts); vgl. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, S. 361–368 (364, 367). 143 Puchta, Cursus der Institutionen, Erster Bd. (1841), S. 42, freilich mit der Einschränkung, dass die sens clair-Regel richtigerweise besage, bei Identität von Wortlaut und Sinn dürfe von dem so gewonnenen Ergebnis nicht abgewichen werden. 144 Vgl. noch den Hinweis bei Puchta, Cursus der Institutionen, Erster Bd. (1841), S. 40, es sei „eine bloße Illusion, wenn man geglaubt oder behauptet hat, das Recht bloß dadurch, dass es in die Form von Gesetzen gebracht wird, gewisser, unbestrittener, und für Jedermann erkennbarer zu machen“. 145 Vgl. Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta (2004), S. 86–106 (die Aussagen S. 99 zum antiken Juristenrecht, in dessen Tradition Henkel Puchta sieht, S. 97 ff., wären weiter zu diskutieren; ebenso S. 158 zur Regel ambiguitas contra stipulatorem). Auch zum Kontext Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, S. 205, 222–230, 306 ff., 416 ff., 427–433; 361–368 u. ö. zur zentralen Abweichung von Savigny: Puchta privilegierte den Willen des historischen Gesetzgebers. Ausführlich jetzt Mecke, in: Meder u. a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik, S. 37–58, mit Betonung der nach Puchta im Ergebnis größeren Richterfreiheit (S. 56 ff.) 146 Zu denkbaren philosophischen Einflüssen Lennartz, Dogmatik als Methode (2017) S. 21. 147 Kohler, GrünhutsZ 13 (1886) 1, 42–47. In seiner Einführung in die Rechtswissenschaft (5. Aufl. 1919) spielt das Thema übrigens keine nennenswerte Rolle. 148 Kohler, GrünhutsZ 13 (1886) 1, 48 f.; sodann (bis S. 56) zu fehlerhaft gezogenen Analogien. 149 Oben Rn. 74.
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Bei Windscheid finden wir, wie so oft, die meisten Traditionen der Pandektenwis- 92 senschaft gebündelt, hier freilich unter geringem argumentativem Aufwand und in geradezu auffälligem Bemühen darum, nichts Neues zu schaffen. Die grammatische Auslegung ist die „auf die Sprachgesetze gegründete“, ihr steht die logische gegenüber.150 Die logische Auslegung hat eine gegenüber der grammatischen berichtigende Funktion (als einschränkende, ausdehnende, abändernde Interpretation). Hier nun sieht sich Windscheid der zeitgenössischen Streitfrage gegenüber, ob eine abändernde Auslegung überhaupt zulässig sei, wiewohl die Worte des Gesetzgebers sich mit dem Sinn nicht deckten. Er greift Puchtas oben erwähnte Formulierung151 auf, um eine nicht ganz klare 93 Mittelposition einzunehmen: „Nur muss, was die abändernde Auslegung angeht, die Beschränkung hinzugefügt werden, dass auch sie, in gleicher Weise wie dieß die einschränkende und ausdehnende Auslegung thut, den Ausdruck des Gesetzgebers immer nur in dieser oder jener einzelnen Beziehung verbessern kann; entsprechen die von dem Gesetzgeber gebrauchten Worte dem Sinne, welchen er hat ausdrücken wollen, überhaupt nicht, so gilt zwar nicht, was er gesagt hat, weil er es nicht hat sagen wollen, aber auch nicht, was er hat sagen wollen, weil er es nicht gesagt hat.“152
Was „überhaupt nicht entsprechen“ bedeutet, sagt Windscheid nicht. Er führt aber im 94 Anschluss aus, „die höchste und edelste Aufgabe der Auslegung“ sei es, „hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen eigentlichen Gedanken hervorzuziehen“; dies sei Auslegung und als solche zulässig, weil nur ausgesprochen werde, was der Gesetzgeber „selbst ausgesprochen haben würde, wenn er auf die Punkte, welche er sich nicht zum Bewusstsein gebracht hat, aufmerksam geworden wäre“, immer unter der Voraussetzung, dass „in der vom Gesetzgeber abgegebenen Erklärung, wenn auch kein vollständig entsprechender Ausdruck seines eigentlichen Gedankens, doch jedenfalls ein Ausdruck überhaupt gefunden werden kann“.153 Die hypothetische Erwägung zum „Bewusstsein“ des Gesetzgebers jedenfalls gleicht auffällig derjenigen, die Savigny im „System“ bekämpft hatte.154
150 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 21, S. 51; 54: „Eine jede Auslegung, welche über das durch Anwendung der Sprachgesetze gefundene Resultat hinausgeht, pflegt man eine logische zu nennen“. 151 Zitiert ist Puchta hier nicht. 152 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 21, S. 53. Naheliegenden Verbindungen zur Rechtsgeschäftslehre ist hier nicht nachzugehen (vgl. Rn. 87, 97). 153 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 54. Wiederum stellt sich die Frage nach rechtsgeschäftlichen Parallelen (etwa im Sinne einer „Andeutungstheorie“). 154 Oben Rn. 71. Baldus
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Dass dieses Vorgehen von der zuvor beschriebenen logischen Auslegung nicht klar abzugrenzen sei, sagt Windscheid selbst.155 Dass man es nach anderer Meinung auch als (Gesetzes-) Analogie bezeichnen könne,156 referiert er ohne weitere Kritik als „Ausdehnung des Gesetzes wegen Gleichheit des Grundes“, den man auch Prinzip nennen könne.157 Dann erst und getrennt hiervon, nämlich bei der Rechtsanalogie, erscheint die Gesetzeslücke als Analogie-voraussetzung.158 96 Windscheid bleibt also an der zentralen Stelle unpräzise. Die folgenden Entwicklungen gehen denn auch stärker von anderen Spätpandektisten aus, die sich darum bemühen, die Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts zu sichten und zu bündeln, so Dernburg159 und Regelsberger.160 Vor der Dogmatisierung einer Wortlautgrenze hüten aber auch sie sich – nicht zuletzt deswegen, weil auch ihre Methodenlehre von der Auslegung des justinianischen Rechts ausgeht, mögen auch Beispiele aus dem zeitgenössischen positiven Recht bereits bei ihnen zu finden sein.
3. Fortwirkungen 97 Eine entscheidende Zäsur bildet dann das Inkrafttreten des BGB. Nun galt ein umfas-
sendes und modernes Gesetz, geschaffen von einem konstitutionellen Gesetzgeber, der freilich viele Fragen bewusst „Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen“ hatte.161 Damit wurden viele Erwägungen hinfällig, die sich bis 1900 auf das justinia-
155 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 55: „(…) die Frage: hat der Gesetzgeber nicht gesagt, was er hat sagen wollen, oder hat er nicht gedacht, was er hat denken wollen? wird sehr häufig nicht mit Sicherheit beantwortet werden können.“ In Fn. 2 folgen Beispiele. 156 Die Rechtsanalogie bespricht er im folgenden § 23. 157 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 56. 158 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 23, S. 57. Das späte 19. Jahrhundert streitet gerade im hier berührten Feld intensiv über Begriffe; vgl. im Zusammenhang des ius singulare über den „ganz unglückliche[n] Ausdruck, Gesetzesanalogie‘“ Eisele, JhJb 1885, 119, 124 f.; der Angriff richtete sich vor allem gegen Wächter, dessen Gegenüberstellung von Rechts- und Gesetzesanalogie sich jedenfalls begrifflich durchsetzen sollte (vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 259 f.). 159 Vgl. Dernburg, Pandekten I (1884), S. 73–77, vorsichtig: die extensive Interpretation „unterstellt dem Gesetz Dinge, welche der Wortsinn nicht zu erfassen scheint“; aber „der Interpret würde auf eine schlüpfrige Bahn gerathen und seine Aufgabe verkennen, wenn er dieselbe darin suchen wollte, hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen vermeinten eigentlichen Gedanken hervorzuziehen, um so Fehler des Gedankens des Gesetzgebers zu korrigieren“ (mit Fn. 11: ausdrücklich gegen Windscheid, vgl. oben Rn. 94). Jetzt Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 104 f. 160 Regelsberger, Pandekten, Bd. I (1893), S. 140–161 (aber noch nicht mit der heutigen Wortlautgrenze, vgl. S. 159 f.). 161 Das ist ein typischer Zug des BGB, in dem man bereits eine Lehre aus der Erkenntnis sehen mag, dass Gesetze nicht alle Probleme lösen können. Das Kodifikationsdenken des späten 19. Jh. ist nicht mehr dasselbe wie zur Zeit Savignys. Vgl. Meder, Rechtsgeschichte (7. Aufl. u. a. 2020), S. 343 f., und
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nische „Gesetz“ bezogen hatten; es entstand mehr Raum, auch in der Methodenlehre, für die theoretischen Vorstellungen der Zeitgenossen vom Recht. Welche Rolle das pandektistische Traditionsgut für die weiteren methodologischen Entwicklungen noch spielte, ist bislang nicht vollständig ermittelt, etwa hinsichtlich der Betrachtung des Gesetzes als „Willenserklärung“ des Gesetzgebers.162 In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts herrscht jedenfalls eine erhebliche methodologische Unsicherheit. Vieles spricht dafür, dass es gerade die neue Gesetzeslage war, die intensiveres Nachdenken über die Rolle des Richters und über die Methoden, denen er zu folgen habe, mit sich brachte.163 Die Vorstellung, eine strenge und rechtssichere Abgrenzung zwischen beiden 98 Phänomenen sei prägend für die deutsche Rechtskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, trifft nach alldem nicht zu; auch nicht für jene Mehrheitsströmung, die es ausdrücklich ablehnte, den Richter im Sinne der Freirechtsschule weithin von der Normbindung freizustellen.164 Die strenge Betonung des Unterschiedes von Auslegung und Analogie setzt sich erst unter dem BGB wirklich durch, und auch dies nicht ohne Debatten. „Antipositivistische“ Stimmungen des späten Kaiserreichs und der Weimarer Zeit zeigten unter dem NS-Regime ihr Potential. Die Protagonisten dieser Zeit und damit ihr Gedankengut blieben nach 1945 präsent, unter anderem mit dem Effekt eines Auseinanderfallens von privatrechtlicher und rechtstheoretischer Diskussion.165 Im Ergebnis blieb es im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bei den angeblich sa- 99 vignyanischen „vier Auslegungsmethoden“ Wortlaut, Geschichte, System und télos, wobei von diesen Kanones der geschichtliche als nachrangig166 galt und die Dubiosität der Wortlautgrenze in der Praxis selten thematisiert wurde. Das spricht dafür, dass die Praxis ein Instrument wie die Wortlautgrenze braucht und dass eine strikte Rückbindung jedenfalls an Gesetzgebungsmaterialien für praktische Zwecke nicht taugt.
weiterhin vergleichend zu verschiedenen Modellen der Gesetzgebung im 19. Jh. Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen. 162 Vgl. Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte (2. Aufl. 1906), S. 85; Hölder, Kommentar zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1900), Einl. S. 16 ff., 20; ungeklärt ist u. a. die Position von Otto Gradenwitz (dazu Baldus, in: ders./Kronke/Mager [Hrsg.], Heidelberger Thesen zu Recht und Gerechtigkeit, S. 207–225). 163 Näher Haferkamp, AcP 214 (2014), 60, auch zu der Spannung zwischen den Modernisierungsbedürfnissen, die man wahrnahm, und dem Risiko (oder dem Vorsatz), dass die Rechtsanwendung sich politisierte. 164 Zum Methodenstreit des frühen 20. Jh. Meder, Rechtsgeschichte, S. 396–408. 165 Wiederum Haferkamp, AcP 214 (2014), 60; Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien. Originaltexte jetzt bei Meder u. a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik im 20. Jahrhundert (2018). 166 Die vieldiskutierte Rangfrage resultiert aus den Problemen, die ein fester Kanon erzeugt. Repräsentativ für die in Deutschland stilprägenden Debatten Canaris, FS Medicus (1999), S. 25–61. Kritisch Baldus, in: ders./Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“.
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Gegenpositionen167 zu dieser Hintanstellung des konkreten Gesetzgeberwillens, die vor dem Missbrauchspotential der „objektiven“ Auslegung ex nunc nach dem télos warnen, konnten sich nicht durchsetzen. Dies möglicherweise auch deswegen nicht, weil, wer konsequent für eine Bindung des Auslegers an subjektive Vorstellungen aus dem Gesetzgebungsverfahren eintrat, kaum umhin kam, dem Richter für schwierige Situationen offen eine Rechtsfortbildungsbefugnis einzuräumen.168 100 Geschichtlich lässt diese Entwicklung sich möglicherweise lesen als Ausdruck eines wiedergewonnenen Grundvertrauens in Richter und kodifiziertes Recht. Das wäre nicht der schlechteste Befund. 101 Die Praxis gewann erst durch den zunehmenden Einfluss des Europarechts in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts stärkeres Interesse an der Methodendiskussion.169 Da den Vorgaben des EuGH nicht zu entrinnen war und da, positiv formuliert, manche Entscheidungen auch erst unter diesem Einfluss möglich wurden, suchte man die Neuigkeiten im überkommenen System zu begreifen und handhabbar zu machen. 102 Relativ zügig setzte sich in der Lehre die Position durch, dass auch aus Unionsrecht keine Berechtigung folgt, gegen innerstaatliche Methoden zu entscheiden (sondern dass im Extremfall bei national richtigen, europarechtlich aber falschen Urteilen Staatshaftung eintritt).170 Unstreitig ist dies aber nach wie vor nicht, zumal das Meinungsbild in der deutschen wie in der ausländigen Rspr. uneinheitlich ist.171 167 Dafür namentlich Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 ff., und jetzt Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat (2. Aufl. 2016). 168 Vgl. nochmals Haferkamp, AcP 214 (2014), 60. 169 Weiterführend zu dieser Sichtweise N. Graf Vitzthum, GPR 2009, 129–132. Sie dürfte es sein, die auch über die außereuropäische Verwertbarkeit der in Europa erzielten Ergebnisse entscheidet; vgl. die weitere Besprechung der 1. Aufl. dieses Buches aus Lateinamerika, wo vielleicht das wichtigste Forum für neuere europäische Entwicklungen liegt: Nordmeier/Wingert Ody, Revista de Direito do Consumidor 69 (2009), 385–396. 170 Nicht gelöst ist mit dieser – richtigen – Grundentscheidung das bisweilen erscheinende Folgeproblem einer Wettbewerbsverzerrung zwischen Privaten durch falsche Rechtsanwendung, die dann nur durch Schadensersatz kompensiert wird, ohne dass der rechtswidrig Begünstigte seinen Vorteil hergeben müsste (vgl. bereits Baldus/Becker, EuR 34, 1999, 375–394; umfassend über „Schadensersatz im Unionsprivatrecht. Eine Studie zu Effektivität und Durchsetzung des Europäischen Privatrechts am Beispiel des Haftungsrechts“ nunmehr die so betitelte Monographie von Heinze, 2017). 171 Richterliche Selbstermächtigung zur „Rechtsfortbildung“ unter dem Vorwand des Unionsrechts kommt durchaus vor; zur Quelle-Judikatur des BGH in diesem Band, u. a. § 13 Rn. 58, 64 (vgl. Stichwort „Quelle-Urteil“ im Register). Der EuGH verfolgt (nach Ambivalenzen im atypisch gelagerten Fall DI, vgl. EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 DI, EU:C:2016:278, dazu etwa Kainer GPR 2016, 262–270) mittlerweile wieder konsequent die Linie, von den mitgliedstaatlichen Gerichten kein Judizieren gegen die jeweilige nationale Methode zu verlangen, s. etwa EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Pawlak, EU: C:2019:260 (dazu Rodi, GPR 2019, 18–21). Unter den obersten Bundesgerichten sind bis heute beide Tendenzen anzutreffen, die zur Selbstermächtigung wie auch die, an den Grenzen der nationalen Auslegungsmethoden eine unionsrechtskonforme Auslegung (zutreffend) abzulehnen (dafür etwa BGH, Beschl. vom 31.3.2020, XI ZR 198/19, Rn. 12 ff.).
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Was aus der europarechtlichen Überformung für den Methodenkanon insgesamt 103 folgt, ist u. a.172 Thema dieses Bandes.
VI. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert und Überschneidungsbereiche Unter dem Code civil kam es zunächst zu einer Neuorientierung der Rechtswissen- 104 schaft. Man spricht traditionell von der école de l’exégèse.173 In die Hochzeit der exegetischen Schule fällt ein zentraler Transfer aus der deutschen Rechtswissenschaft, nämlich die Übersetzung des Handbuches zum französischen Zivilrecht von Zachariä von Lingenthal durch Aubry und Rau (1. Auflage 1838), aus der das stilprägende Lehrbuch der Epoche wurde. Zachariä hatte auch im Handbuch im Wesentlichen die seinerzeit (jedenfalls vor Savigny) üblichen Kategorien übernommen: grammatische und logische Auslegung, letztere in der bekannten Dreiteilung.174 Er grenzt dann zwar formal von der Analogie ab, nicht aber nach dem Kriterium einer Wortlautgrenze. Im Einzelnen ist jedoch auch hinsichtlich der Zachariä-Rezeption in Frankreich vieles ungeklärt.175 Zu einer Rezeption der Methodenlehre176 Savignys kam es jedenfalls nicht. 105 Als sich in Frankreich eine freiere Auslegungsmethode durchsetzte, die von Ray- 106 mond Saleilles und François Gény177 begründete école de la libre recherche scientifique, eine entfernte178 Verwandte der Freirechtsschule, da postulierte diese neue Richtung
172 Vgl. weiterhin Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht; speziell zur historischen Auslegung Baldus, in: ders./Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung. 173 Grundlegend für ein zeitgemäßes Bild Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (2. Aufl. 1995), synthetisiert in: ders., RTD civ. 2000, 1–24. Jetzt Babusiaux, in diesem Band, § 25 Rn. 10. 174 Das kann hier ebensowenig vertieft werden wie einzelne Berührungspunkte mit Savigny. Auch Zachariä begreift die Auslegung als ars: „Die Auslegung führt den Nahmen einer Kunst, weil sie sich unmittelbar auf die Praxis bezieht“ (Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts, S. 5). – Savigny seinerseits verweist zum französischen Recht auf das Verbot des déni de justice (art. 4 CC) und problematisiert insbesondere die zeitgenössische Diskussion um die Kompetenzgrenzen der Cour de Cassation: Savigny, System I, S. 326 ff. (dies wird später Jhering aufgreifen, vgl. Rückert, Rechtsgeschichte 2005, 122–139, 137 f.); zu Abweichungen im rheinischen Recht S. 328 f. 175 Vgl. Baldus, ZEuP 27 (2019) 724–741. 176 In anderen Feldern ist Savigny international bekanntlich stärker wahrgenommen worden, maßgeblich über französische Übersetzungen. Vgl. Rückert/Duve (Hrsg.), Savigny international (2015); Meder/Mecke (Hrsg.), Savigny global 1814–2014: „Vom Beruf unsrer Zeit“ zum transnationalen Recht des 21. Jahrhunderts (2016). 177 Zu ihm jetzt Cachard/Licari/Lormant, La pensée de François Gény (2013); dort Baldus, Les lectures de François Gény: la doctrine française et l’École des Pandectes, S. 37–48. 178 Vgl. Babusiaux, in diesem Band, § 25 Rn. 10.
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ebenfalls keine Wortlautgrenze.179 Freilich hielt sie an der Vorstellung fest, es könne einen klaren Wortlaut geben: relevant für die Frage, ob auszulegen oder ob eine wissenschaftlich herzuleitende, eben „freie“ Entscheidung zu treffen sei.180 Das Ergebnis: In Frankreich vermochte sich eine strikte Richterbindung über die Wortlautgrenze auch später nicht zu etablieren, sehr wohl aber eine interprétation par analogie. Damit haben wir eine grundsätzliche Parallelität von deutscher und französischer Rechtsentwicklung im späten 19. Jahrhundert, die erst im 20. Jahrhundert abbricht, weil die deutsche Wissenschaft und Praxis – in Abwendung von Windscheid – nunmehr mit der Wortlautgrenze Ernst zu machen sucht. Zu diesem Zeitpunkt aber rezipierte Frankreich nicht mehr so viel deutsche Dogmatik, dass jene neuerliche Wendung mitvollzogen worden wäre. Vielerorts traf pandektistische Theorie auf französischen Gesetzestext. Im 19. Jahrhundert nach französischem Muster geschriebene Texte wurden mit dem Aufstieg der Pandektenwissenschaft zunehmend in deren Licht gelesen.181 Das ging so weit, dass gesetzesfremde Konstruktionen und Konzepte sich an die Stelle der gesetzlichen setzten (etwa das typisch deutsche „Rechtsgeschäft“). Diese Entwicklungen strahlten v. a. wegen der internationalen Verständlichkeit des Französischen und des Italienischen weiter aus, namentlich in den iberischen Sprachraum182 einschließlich Lateinamerikas.183 Aber: In vielen dogmatischen Feldern war die pandektistische Tradition artikuliert und geschlossen, in der Methodenlehre nicht. Wohl deswegen konnte sich in den soeben genannten Rechten die französische Linie halten, was die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung angeht. Die Sachfragen wurden also pandektisiert, ohne dass dieser Prozess auch die Methodenlehre ins Kielwasser der deutschen gebracht hätte.
179 Gény, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif, S. 314. 180 Neuere Lit. zur Auslegungslehre im geltenden französischen Recht ist hier, im historischen Teil, nicht nachgetragen. Vgl. jedoch wegen der über Frankreich hinausweisenden grundsätzlichen Perspektiven Benoît Frydman, Le sens des lois. Histoire de l’interprétation et de la raison juridique (3. éd. 2011). 181 Vgl. statt aller für Italien Furfaro, Recezione e traduzione della Pandettistica in Italia tra Otto e Novecento. Le note italiane al Lehrbuch des Pandektenrechts di B. Windscheid (2016; Rezension in deutscher Sprache: Varvaro ZNR 40 (2018) 156–159); zu bildungsgeschichtlichen Hintergründen Cianferotti, 1914. Le università italiane e la Germania (2016). Die Zentralfigur für viele Entwicklungen rund um den novellierten Codice civile von 1942 ist Emilio Betti; dazu jetzt Banfi/Stolfi/Brutti (a cura di), Dall’esegesi giuridica alla teoria dell’interpretazione. Emilio Betti 1890–1968 (2020). 182 Zu Puchta jetzt Garrido Martín, ¿Pandektenwissenschaft en España? La recepción de la teoría del derecho consuetudinario alemán en la ciencia jurídica española del s. XIX, in: IP III.2018.1, 85–115; ders., Recepción de la Escuela Histórica. La „teoría de la convicción“ en la ciencia jurídica española del s. XIX (2018). 183 Übersicht: Guzmán Brito, Historia de la codificación civil en Iberoamérica (2006); ders., Interpretación de las leyes y codificación del derecho civil (2011). Baldus
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Damit ging das Europa der Sechs methodologisch gespalten in die fünfziger Jahre 111 (Rn. 5 ff.). Das Europa der 27 seit dem Jahr 2020 speist sich primär aus den Traditionen der Sechs, aber es hat aus der Zeit der britischen Unionsmitgliedschaft weitere Impulse mitgenommen, und es verfügt über eine Unionsrechtsordnung, deren Methoden längst nicht mehr allein als Fortschreibung nationaler Tradition(en) verstanden werden können.
VII. Epilog: Was interessiert uns das 19. Jahrhundert? Es ist eine Binsenweisheit, dass geschichtliche Prägungen umso stärker wirken, je weniger man sich ihrer bewusst ist, weil sie die Wege des Wahrnehmens und Denkens vorzeichnen und beschränken. Für die juristische Methodenlehre gilt dies in besonderem Maße: Sie behandelt das Denken und Kommunizieren der Juristen untereinander. Das 19. Jahrhundert ist auch für die Rechtsgeschichte und speziell die Methodengeschichte ein „langes“. Es beginnt mit den von der Aufklärung ausgelösten Umbrüchen, die mit einer ersten Kodifikationswelle zusammenfallen, und endet nach einer zweiten Kodifikationswelle mit dem Zusammenbruch des nationalstaatlichen Systems im Ersten Weltkrieg. Die in diesem System entstandenen Gesetze gelten in vielen Staaten kaum verändert bis heute; die geistigen und politischen Grundlagen der Auslegungslehre hingegen haben sich verändert; bewältigt ist die hieraus resultierende Spannung nirgends. Nur anzudeuten ist hier ein bildungsgeschichtlicher Hintergrund, dessen Bedeutung für die juristische Methodenlehre im Lichte neuerer Forschungen zum 19. Jh. zu prüfen bleibt: Mit diesem „langen“ 19. Jh. als Zeit der Kodifikationen fällt weithin zusammen die Blütezeit des humanistischen Gymnasiums sowie die Zeit, in welcher die Fächer der Philosophischen Fakultät sich aufdifferenzierten und aus ihrem traditionellen Nachrang innerhalb der Universität befreiten.184 Dabei ist auch die sich konfigurierende Geschichtswissenschaft zunächst eine sprachlich konfigurierte Wissenschaft, die im Vergleich zu heute unter den Eliten wirkmächtigere Philosophie ohnehin. Das humanistische Gymnasium baut auf Erkenntnissen schon der Philologie des späten 18. Jh. auf und bekommt politischen Rückenwind mit den preußischen Reformen. Schon gegen Ende des Jahrhunderts kamen wieder neue Tendenzen auf, vor allem aus den exakten Wissenschaften. Das 19. Jh. (und in dieser Deutlichkeit kein früheres und kein späteres Jahrhundert) ist ein philologisches, vor allem altphilologisches Jahrhundert; seine Protagonis-
184 Einführend und vergleichend: Fuhrmann, Bildung. Europas kulturelle Identität (2002), S. 26–31; Fisch, Geschichte der europäischen Universität. Von Bologna nach Bologna (2015), S. 39–91. Baldus
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ten sind vom Denken in sprachgeschichtlichen Strukturen geprägt. Das gilt vor allem, aber nicht nur im deutschen Sprach- und Kulturrraum. Die Schöpfer, Interpreten und Theoretiker der großen Kodifikationen, vor allem der zweiten Welle am Ende des Jahrhunderts dachten Rechtswissenschaft unter sprachwissenschaftlichen Paradigmen. Dieser Einfluss nahm in der Folge langsam ab. Welche Folgen das für die Methodenlehre hatte, welche Phasenverschiebungen und welche „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“185 deswegen bis heute zu beobachten ist, ist noch ungeklärt. Wenn also ein deutscher, französischer oder italienischer Jurist des frühen oder späten 19. Jh., des frühen oder späten 20. Jh. vom „Wortlaut“ oder der „Analogie“, aber auch vom „System“ oder dem „Zweck“ reden, dann sprechen sie in geprägten Begriffen; in Begriffen, deren Prägung eine gemeinsame Wurzel hat, die aber unterschiedlichen geschichtlichen Einflüssen unterlag und nicht identisch ist. Eine zentrale Ungleichzeitigkeit – aus der Sicht der Nachbarwissenschaften vielleicht ein zentraler Anachronismus – dürfte die Vorstellungen vom Wortlaut betreffen, vor allem die dem Rechtsanwender normalerweise unbewussten sprachphilosophischen Grundannahmen. Die juristische Vorstellung von dem, was eine sprachliche Wortbedeutung sei, reflektiert in den seltensten Fällen die heute herrschenden philosophischen Strömungen. Was mit Wittgensteins Tractatus (1921/22) durchbrach, die sprachanalytische Konstruktion und Dekonstruktion der Welt insgesamt, ist bei den meisten Juristen bis heute nicht oder nicht bewusst angekommen. Vielmehr beruht der Umgang mit der Mehrdeutigkeit von Worten nach wie vor – und anders als im 19. Jh. oftmals unbewusst – auf der in den Schulen praktizierten Philologie: Am Ende gibt es eine Bedeutung und muss es – für die Übersetzung – eine Bedeutung geben. Soweit rechtsphilosophische Ansätze hingegen die Sprachphilosophie des 19. Jh. aufnehmen, erreichen sie die Rechtswissenschaft im Übrigen kaum, soweit sie – vor allem außerhalb Deutschlands – immerhin die juristische Methodenlehre stark sprachphilosophisch beeinflussen, erreicht die Methodenlehre die Rechtspraxis nicht. Das ist möglicherweise kein Zufall. Hier liegt vielmehr eine Funktionsgrenze der Interdisziplinarität, anders gesagt, ein bewusstes oder unbewusstes Festhalten an dem Umgang mit Sprache, der im 19. Jh. modern war und der für die Rechtsanwendung weiterhin passt. Für die heutige Praxis ist Philosophie – jedenfalls in bewusster Reflexion – weithin irrelevant. Ob eine Methodenlehre, die bewusst bei den Erfahrungen186 der Praxis
185 Zur Karriere dieses geschichtswissenschaftlichen Topos Landwehr, Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, in: Historische Zeitschrift 295 (2012) 1–34. 186 Zur Erfahrung als rechtshistorischer und -philosophischer Kategorie vgl. den Themenschwerpunkt in Interpretatio Prudentium IV.2019.2 (S. 31-354) und bereits Baldus, Esperienza giuridica, in: ders./Schmon (Hrsg.), Zivilprozess und historische Rechtserfahrung (2015) 11–19. Baldus
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ansetzt und diese in Wert zu setzen sucht, ohne neuerliche sprachphilosophische Reflexion auskommen wird, bleibt zu ermitteln.187 Unter den Bedingungen des Unionsrechts ist die Divergenz der Methoden zu einem praktisch relevanten Problem geworden. Welche Elemente der nationalstaatlich gewachsenen Rechtsordnungen erhalten bleiben, schält sich in der täglichen politischen und rechtlichen Praxis heraus; ebenso, welche Methoden diese Praxis steuern. Es gibt außer dem Unionsverfassungsrecht keine Metaordnung, die diesen Prozess formell steuern könnte. Die Rechtspflege selbst hat damit weithin in der Hand, wie er verlaufen wird. Will sie sinnvolle Ergebnisse und damit Akzeptanz erzielen, muss sie die jeweiligen Vorprägungen der Akteure berücksichtigen, gerade weil diese Vorprägungen nicht aus dem Recht der Union stammen. Neuestens wird deutlich, was sich schon länger abzeichnete: Die Verbindung von Methodik als Mittel der Machtausübung und Machtkontrolle einerseits, politischen Konflikten um Rechtsstaatlichkeit andererseits wird konkreter, als man sich wünschen kann. Die positiven Reaktionen auf das PSPP-Urteil des BVerfG188 aus Polen189 und Ungarn waren sicher weder vom BVerfG gewünscht noch sachlich angemessen, schon weil der Konflikt zwischen Karlsruhe und Luxemburg nichts mit einer Demontage des Rechtsstaats in Deutschland zu tun hat. Dass sie aber eintrafen, und zwar umgehend, zeigt die politische Konnotation von Methodenlehre – und damit, dass die rechtsstaatlich gesonnenen Beteiligten äußerste Umsicht in Methodenfragen walten lassen müssen. Ob in diesem Umfeld die zentrale Frage noch die Unterscheidung von Auslegung und (wie auch immer konstruierter) Rechtsfortbildung sein kann, bleibt zu klären. Dem Gerichtshof ist es bisher in beachtlicher Weise gelungen, einen pragmatischen Weg in Methodenfragen zu steuern, ohne dabei ganze Rechtskulturen durch Orientierung an einer einzigen Tradition zu verprellen. Die teils heftigen wissenschaftlichen Proteste gegen Entscheidungen erklären sich bisweilen mehr aus den Ergebnissen als aus deren Herleitung, und auch die deutsche Lehre konnte nicht ernstlich erwarten, ihre Weltsicht in Luxemburg getreulich abgebildet zu finden. Kein Obergericht kann in einen allzu ausführlichen Dialog über theoretische Fragen eintreten, und speziell das europäische Obergericht kann nationalen oder regionalen Traditionen nicht offen Raum geben. Wohl aber könnte der Gerichtshof, nachdem seine zwischenzeitlich etablierte Autorität nunmehr von Seiten des BVerfG, aber auch von rechtsstaatsfeindlichen Kreisen in Zweifel gezogen wird, möglicherweise deutlicher machen, in welchem Sinne
187 Für eine einigermaßen selbstbewusste Skizze zu Unsicherheiten und Defiziten in der neueren Methodengeschichte Lennartz, Dogmatik als Methode (2017) 58–62. 188 BVerfG, Urt. v. 5.5.2020, 2 BvR 859/15 u. a., PSPP; dazu kurz und bündig Müller-Graff, GPR 2020, 157, nunmehr umfassend ders., EUZ 2020, 154–167. Vgl. weiterhin F. Mayer, JZ 2020, 725–734. 189 Zur dortigen Situation Raff, § 25 Rn. 16–41.
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und in welchem Umfang er historischen Erwägungen Raum zu geben bereit ist.190 In einer Rechtsordnung, die sich immer schon als Rechtsgemeinschaft verstand und für die Rechtsstaatlichkeit immer wichtiger wird, sollte jede Ressource für Klarheit und Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung genutzt werden – gerade angesichts der Besonderheiten der Wortlautbestimmung in Europa. Die Rechtsanwender, namentlich europäische wie mitgliedstaatliche Behörden und vorlegende Gerichte, gewännen dadurch ein Mehr an Orientierung: das, was eine bloße Materialienschau gerade in Europa sicher nicht bieten kann. Der Blick auf den Gerichtshof, auf seinen denkbaren Umgang mit zu schaffenden Normen, beginnt praktisch schon heute in den Brüsseler Normbildungsprozessen, wie vor allem der Einsatz der Begründungserwägungen dokumentiert. Und der Gerichtshof überschritte seine Kompetenzen nicht, wenn er den Autoren künftiger wie den Anwendern bereits erlassener Gesetzestexte deutlicher machte, wie er all das einschätzt, was der Norm historisch vorausliegt. 125 Sicher ist freilich: Der Gerichtshof wird nichts explizieren, was seine Handlungsmöglichkeiten substantiell beeinträchtigte. Dies von einem historischen und sprachlich wie historisch sensiblen Akteur der Integration (und ihrer Grenzen) zu erwarten, wäre töricht.
190 Ähnlich Schorkopf, JZ 2014, 421, 422 f. Für den Versuch einer Aufarbeitung des Materials, an dem der Gedanke sich möglicherweise belegen lässt, Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht.
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§ 4 Die Rechtsvergleichung Literatur: Klaus Peter Berger, Vom praktischen Nutzen der Rechtsvergleichung – Die „internationalbrauchbare“ Auslegung nationalen Rechts, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Otto Sandrock (2000), S. 49–64; Albert Bleckmann, Die Rolle der Rechtsvergleichung in den Europäischen Gemeinschaften, ZVglRWiss 75 (1976), 106–124; Axel Flessner, Juristische Methode und europäisches Privatrecht, JZ 2002, 14–23; Michele Graziadei, ,Comparative Law, Transplants, and Receptions’, in: M. Reimann/R. Zimmermann (eds.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2nd ed (2019), 442–473; Stefan Grundmann/Karl Riesenhuber, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Constantinos N. Kakouris, Use of the Comparative Method by the Court of Justice of the European Communities, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267–283; Hein Kötz, Alte und neue Aufgaben der Rechtsvergleichung, JZ 2002, 257–264; Jan Kropholler, Internationales Einheitsrecht – Allgemeine Lehren (1975), S. 254–258, 278–285; Koen Lenaerts, Interlocking Legal Orders in the European Union and Comparative Law, ICQL 42 (2003), 673–906; Marcus Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593–607; Heinz-Peter Mansel, Rechtsvergleichung und europäische Rechtseinheit, JZ 1991, 529– 534; Ralf Michaels, Stichwort: Rechtsvergleichung, in: Jürgen Basedow/Klaus J. Hopt/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. 2 (2009), S. 1265–1269; Walter Odersky, Harmonisierende Auslegung und europäische Rechtskultur, ZEuP 1994, 1–4; Karl Riesenhuber, Rechtsvergleichung als Methode der Rechtsfindung, AcP 218 (2018), 693–723; Werner Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, 180–186; Reiner Schulze, Vergleichende Gesetzesauslegung und Rechtsangleichung, ZfRV 1997, 183–197; Jan M. Smits, European private law and the comparative method, in: Christian Twigg-Flesner (Hrsg.), European Union Private Law (2010), S. 33– 43; Stig Strömholm, Rechtsvergleichung und Rechtsangleichung – Theoretische Möglichkeiten und praktische Grenzen in der Gegenwart, RabelsZ 56 (1992), 611–623; Reinhard Zimmermann, Comparative Law and the Europeanization of Private Law, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law (2019), S. 557–598.
Systematische Übersicht Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode 1–5 II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht 6–21 1. Primärrechtliche Ebene 7–9 2. Sekundärrechtliche Ebene 10–21 a) Herkömmliche Rechtsangleichung 13–17 b) Neuartige Regelungsinstrumente 18–21 III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht 22–35
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Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH 24–30 2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte 31–35 IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht 36–42 1. Wissenschaftliche Projekte 37–39 2. Juristische Ausbildung 40–42 V. Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum 43–45
Schwartze https://doi.org/10.1515/9783110614305-004
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§ 4 Die Rechtsvergleichung
I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode 1 Auf den ersten Blick scheint es keinen Zweifel zu geben, dass die Rechtsvergleichung
für das Europäische Privatrecht eine bedeutende Rolle spielt. Die Relevanz dieser Methode fällt besonders ins Auge, wenn man die nebeneinander stehenden nationalen Privatrechtssysteme in Europa, insbesondere in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) betrachtet, die seit jeher reichhaltiges Material für die vergleichende Rechtswissenschaft geliefert und sich auch mittels deren Unterstützung gegenseitig befruchtet haben.1 Aber Ähnliches gilt auch für das Europäische Privatrecht im engeren Sinne, nämlich für die privatrechtlichen Regeln der Europäischen Union,2 die zum einen nicht unberührt von den Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten im „rechtsleeren Raum“ entwickelt werden können – vielmehr finden sich dort regelmäßig Bezüge zu den verschiedensten nationalen Bestimmungen, die manchmal bis zu einer Übereinstimmung im Wortlaut gehen –3 und die zum anderen auf die innerstaatlichen Privatrechte zurückwirken. Das lässt darauf schließen, dass zumindest bei der Entstehung, vermutlich aber auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts die privatrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten zur Kenntnis genommen und aus gemeinsamen, übergreifenden Perspektiven – hier: des Unionsrechts – betrachtet werden, wie es die vergleichende Methode verlangt.4 Inwieweit eine wertende Betrachtung der vorgefundenen Lösungsmöglichkeiten, die nach überwiegender Auffassung einen weiteren Bestandteil der Rechtsvergleichung bildet,5 die Entscheidungen über konkrete Regelungen des Europäischen Privatrechts oder deren Auslegung beeinflusst, kann dagegen nur für den jeweiligen Einzelfall festgestellt werden. 2 Allerdings besteht insoweit kein grundlegender Unterschied zur Entwicklung in den mitgliedstaatlichen Privatrechten, denn auch dort wurde – und wird – die Rechts1 Zu diesen Rezeptionsvorgängen etwa Rehm, RabelsZ 72 (2008) 1 ff; Rainer, Europäisches Privatrecht (2007), S. 75 ff.; Glendon/Gordon/Osakwe, Comparative Legal Traditions (1994), S. 54 ff.; Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. 2 (1972), S. 412 ff. 2 Diese sollen im Folgenden in Anschluss an Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 31 f., als „Europäisches Privatrecht“ bezeichnet werden. Flessner, JZ 2002, 14, 15, bezeichnet sie noch als „Gemeinschaftsprivatrecht“, nach Lissabon spricht man mittlerweile vom „Unionsprivatrecht“, so etwa Ebers, Rechte, Rechtsbehelfe und Sanktionen im Unionsprivatrecht (2016), vgl. dazu Baldus u. a., GPR 2011, 270–276. 3 So etwa Art. 2 lit. d) Alt. 3 KGRL (kaum verändert nunmehr Art. 7 (1) lit d WKRL), der vor allem mit nordischen Kaufgesetzen übereinstimmt, Schwartze, Europäische Sachmängelgewährleistung beim Warenkauf (2000), S. 98 f.; vgl. auch Grundmann/Bianca-Grundmann, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Art. 2 KGRL Rn. 34. Zu einem Beispiel aus dem Gesellschaftsrecht Lutter, JZ 1992, 593, 609. 4 Damit beginnt nach allgemeiner Ansicht erst die eigentliche Rechtsvergleichung, vgl. etwa Zweigert/ Kötz, Rechtsvergleichung, S. 43; Kischel, Rechtsvergleicnung, § 1 Rz 9; ähnlich Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. 2 (1972), S. 277 ff. 5 So Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 46; Kischel, Rechtsvergleichung, § 1 Rz 10 f; a. A. Rabel, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze (1967), S. 3.
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I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode
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vergleichung unabhängig vom Einfluss der europäischen Integration sowohl bei der Gesetzgebung6 wie in der Rechtsprechung7 zur Unterstützung herangezogen. Diese Hilfsfunktion wird allgemein sogar als eigentliche Aufgabe der „angewandten“ oder „legislativen“ Rechtsvergleichung angesehen, welche die in erster Linie zweckfreier Erkenntnis dienende „wissenschaftlich-theoretische“ Rechtsvergleichung für die Praxis nutzbar macht.8 Während jedoch auf nationaler Ebene der Vergleich mit ausländischen Rege- 3 lungen Reformen im Sinne einer inhaltlichen Weiterentwicklung des geltenden Rechts – sei es durch den Gesetzgeber oder den rechtsfortbildenden Richter – dient (Regelungsziel), dürfte für die Europäische Union die Rechtsvergleichung als Ausgangspunkt für die Zusammenführung der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unter einem „gemeinsamen Dach“ im Vordergrund stehen (Harmonisierungsziel).9 Besonders deutlich wird dies bei der Rechtssetzung auf europäischer Ebene, wo im Bereich des Privatrechts die bisher noch dominierende Rechtsangleichung10 gerade auf die Nivellierung von Unterschieden zwischen den nationalen Regelungen abzielt. Damit besitzt die Rechtsvergleichung für die Erarbeitung des Europäischen Pri- 4 vatrechts eine ganz ähnliche Funktion wie in anderen Gebieten der Rechtsvereinheitlichung: So wurde mit Hilfe rechtsvergleichender Studien zunächst im Gefüge der neu
6 Dazu allgemein Lupo/Scappardi (Hrsg.), Comparative Law in Legislative Drafting (2014). Zur Nutzung durch den deutschen Gesetzgeber Drobnig/Dopffel, RabelsZ 46 (1982), 253 ff.; Drobnig, RabelsZ 50 (1986), 610 ff. Aus schweizerischer Sicht Widmer, Rechtsvergleichung und Gesetzgebung, LeGes: Gesetzgebung & Evaluation 2003, 9 ff; Kunz, ZVglRWiss 108 (2009), 31, 34 ff. Zum Einfluss des österreichischen Zivilrechts auf das deutsche Bürgerliche Recht Schwartze, Das ABGB und das deutsche Zivilrecht, in: Barta u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel – 200 Jahre ABGB (2012), S. 201, 204 ff. Allgemein dazu Kischel, Rechtsvergleichung, § 2 Rz 22 ff. 7 Dazu allgemein Andenas/Fairgrieve (Hrsg.), Courts and Comparative Law (2019). Zur Verwendung in der deutschen Rechtsprechung Aubin, RabelsZ 34 (1970), 458 ff.; Reinhart, FS Juristische Fakultät Heidelberg (1986), S. 599 ff.; Mansel, JZ 1991, 529, 529 f.; rechtsvergleichend Drobnig/van Erp, The Use of Comparative Law by the Courts (1999). Zur Schweiz G. Walter, Die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, recht (2004), S. 91 ff. Für das komparative Sichten von Urteilen zur Gewinnung von „europäisch vertretbaren“ Lösungen Flessner, JZ 2002, 14, 19 f; vgl. auch Kadner Graziano, Ist justizielle Rechtsvergleichung legitim?, in: J. Schmid u. a. (Hrsg.), Die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung (2014), 11 ff. 8 Vgl. nur Brand, JuS 2003, 1082, 1084; Rösler, JuS 1999, 1084, 1087 f.; Koch/Magnus/Winkler von Mohrenfels, IPR und Rechtsvergleichung (2010), S. 278 f. 9 Damit wird allerdings weder ausgeschlossen, dass in der Union Regelungen ohne Vorbild in einem der Mitgliedstaaten neu entwickelt werden, noch dass Reformgesichtspunkte ebenfalls eine Rolle spielen. Zur Unterscheidung von Harmonisierungsfunktion und Regulierungsfunktion bei der Rechtsangleichung bereits Schwartze, Deutsche Bankenrechnungslegung nach Europäischem Recht (1991), S. 115; ähnlich unterscheidet in Regelungs- und Angleichungszweck Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 41, 44; als Sachzweck und Vereinheitlichungszweck Riesenhuber, AcP 218 (2018), 703, 705; als formale bzw. inhaltliche Regelungszwecke bei Heinrich, ÖJZ 2011, 1068, 1071. 10 Siehe unten II.2.a).
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gebildeten Nationalstaaten ein wesentlicher Teil der Bausteine zusammengetragen, welche für die Errichtung der Kodifikationsgebäude verwendet wurden.11 Später sind dann auf dem Fundament derartiger Untersuchungen zu den nationalen Rechten wiederum internationale Einheitsrechte gegründet worden.12 Bei der Rechtsanwendung muss insbesondere ein unterschiedliches Verständnis internationalen Einheitsprivatrechts in den beteiligten Rechtsordnungen durch eine „autonome“, vom jeweiligen nationalen Recht unabhängige und daher andere Rechte mit einbeziehende Auslegung verhindert werden,13 ebenso wie für das Europäische Privatrecht eine einheitliche Anwendung zu sichern ist. 5 Allerdings werden die mit der Verwendung der rechtsvergleichenden Methode im Unionsrecht, speziell auf dem Gebiete des Privatrechts, verbundenen Fragen bisher kaum grundlegend behandelt.14 In den einschlägigen Kommentaren und Lehrbüchern zum Europarecht finden sich nur wenige Hinweise,15 in den Werken zum Europäischen Privatrecht wird das Thema zwar angerissen, aber meist nur kurz erörtert.16 Auch in die Literatur zu Methodenfragen hat es bislang noch wenig Eingang gefunden.17 Ich werde daher im Folgenden versuchen, den Einsatz der Rechtsverglei-
11 Etwa für das schweizerische ZGB durch Huber in seinem „System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts“, 4 Bände (1886–1893). 12 Am prominentesten dürften die Vorarbeiten von Rabel, Das Recht des Warenkaufs I und II (1936, 1958), für das Einheitliche Kaufgesetz (EKG/EAG) und damit auch für das diesem nachfolgende UNKaufrecht sein. Allgemein zum Einfluss der Rechtsvergleichung auf die Rechtsangleichung Strömholm, RabelsZ 56 (1992), 611 ff.; Ress, ZaörV 1976, 227, 237 ff.; kritisch zu dieser Methode Smits, in: Twigg-Flesner (Hrsg.), European Union Private Law (2010), S. 35 f. 13 Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Auslegung internationalen Einheitsrechts Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts (2004), S. 198 ff. Zum Beispiel des Gebrauchs der Rechtsvergleichung bei der Auslegung des UN-Kaufrechts Janssen/Di Matteo, NTHR 2012, 52, 66 ff. 14 Dies kritisiert schon Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106. 15 Unter Bezug auf die Verflechtung von innerstaatlichem Recht und Unionsrecht allein zur Auslegung etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 59 f.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 33, 180, § 17 Rn. 4; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 19 EUV Rn. 17; Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Europarecht (6. Aufl. 2008), S. 72 zur Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH, S. 82 zur Auslegung; speziell zum Verwaltungsrecht: Streinz, Europarecht (2019), Rn. 206; zu den Grundrechten v. d. Groeben/Schwarze-Beutler, Art. 6 EUV Rn. 63, Mayer/Stöger-Winkler, EUV/AEUV (2019), Art. 6 EUV Rn. 23, 27, 40, 75; Schroeder, Grundkurs Europarecht (6. Aufl. 2019), § 15 Rn. 3. 16 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 47–51, 71; zur Auslegung Langenbucher-dies., § 1 Rn. 10a; bei der Auslegung nur kurz Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 143, etwas häufiger im Zusammenhang mit der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze aaO 1. Teil Rn. 184, 187, 189, 191; in Bezug auf die Hilfe bei der Kommentierung Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 65–75. Ähnlich wenig findet sich zu konkreten Unionsrechtsakten, z. B. Grundmann/BiancaGrundmann, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Art. 2 KGRL Rn. 12, Art. 8 KGRL Rn. 6. 17 Sehr kurz bei Zippelius, Methodenlehre, S. 58; Pawlowski, Methodenlehre, S. 117 Rn. 227; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 15; etwas mehr bei Kramer, Methodenlehre, S. 265–268 zur Lückenfüllung; sowie Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 385–387 zur Rechtsgewinnung, S. 461–463 zur Aus
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II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht
chung sowohl bei der Herausbildung des Europäischen Privatrechts (unten II.) wie auch bei dessen Anwendung (unten III.), darüber hinaus ergänzend im Bereich von Forschung und Lehre auf diesem Gebiet (unten IV.), möglichst umfassend darzulegen und die damit verbundenen Problemlagen herauszuarbeiten. Zum Schluss soll deutlich gemacht werden, inwieweit die Rechtsvergleichung im Europäischen Privatrecht methodisch eine besondere Stellung einnimmt bzw. worin diese besteht (unten V.).
II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht Der Einfluss der rechtsvergleichenden Methode auf die Rechtssetzung im Bereich des 6 Europäischen Privatrechts ist bisher wissenschaftlich fast nicht thematisiert worden, während ihr Einfluss auf die Auslegung (dazu unten Rn. 22) immerhin ein wenig mehr Beachtung gefunden hat. Das liegt sicherlich nicht unwesentlich daran, dass die Vorgehensweise der Legislative in Ausbildung und Praxis unterbewertet wird18 und sich die juristische Methode auf die Arbeit mit gegebenen Regelungen konzentriert. Inwieweit die Rechtsvergleichung bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts eingesetzt werden kann, hängt jedoch zum Teil von ihrer Rolle bei der Rechtssetzung ab, so dass auch mit Blick auf die in der Praxis als wichtiger angesehenen Probleme der Interpretation und Fortbildung des Europäischen Privatrechts der legislative Bereich zunächst zu untersuchen ist.
1. Primärrechtliche Ebene In den Unionsverträgen selbst sind auch mit Mühe Regelungen mit privatrechtlichem 7 Inhalt nur schwer zu entdecken, vielleicht einmal abgesehen vom Wettbewerbsrecht der Union, welches durch Art. 101 AEUV unmittelbar in die Wirksamkeit privater Verträge über konkretes Marktverhalten eingreift.19 Die vier Grundfreiheiten wirken allenfalls mittelbar auf das Privatrecht ein, indem sie die Grundlage für eine negative Harmonisierung privatrechtlicher Vorschriften ermöglichen,20 während die Kompetenznormen für die Rechtsangleichung, wie Art. 115 (und 114) AEUV oder Art. 50
legung. Daher das Plädoyer für eine gemeineuropäische Methodenlehre von Vogenauer, ZEuP 2005, 234 ff. 18 Meßerschmidt, ZJS 2008, 111 (112). 19 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 33, der außerdem noch das Diskriminierungsverbot des Art. 157 AEUV hinzurechnet. 20 Vom EuGH bisher abgelehnt, EuGH v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 Alsthom Atlantique, EU:C:1991:28; EuGH v. 13.10.1993 – Rs. C-93/92 CMC Motorradcenter, EU:C:1993:838; dazu Foglar-Deinhardstein, ZfRV 2005, 22 ff.
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Abs. 2 lit. g) AEUV, häufig zu einer positiven Harmonisierung führen, auch wenn sie selbst keine inhaltlichen Vorgaben für diesen Bereich enthalten. 8 Damit verbleiben im Primärrecht – neben der Entwicklung der Unionsgrundrech21 te – allein die allgemeinen Rechtsgrundsätze, welche die Bestimmungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union dort ergänzen, wo dieser Lücken aufweist. Ausdrücklich erfolgt ein Verweis auf derartige gemeinsame Prinzipien allein für den Bereich der außervertraglichen Haftung der Union (Art. 340 AEUV),22 aber der Europäische Gerichtshof ergänzt auch in anderen – allerdings wie bei den Grundrechten meist nicht privatrechtlich gelagerten – Fällen das unvollständige Primärrecht unter Berufung auf Art. 19 Abs. 1 EUV.23 Um in allen Mitgliedstaaten vorfindbare Grundregeln für eine bestimmte Fragestellung zu ermitteln, müssen sämtliche nationalen Rechtsordnungen innerhalb der Union daraufhin untersucht werden.24 So hat der EuGH, immerhin im weiteren Bereich des Schadensersatzrechts, die Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber den Bürgern aufgrund einer Verletzung des Unionsrechts unter anderem mit dem Verweis auf die allgemeinen Haftungsgrundsätze in den nationalen Rechtsordnungen begründet.25 Welcher Rechtssatz dann aus den vorgefundenen Regelungen abzuleiten ist, bleibt allerdings der Bewertung durch den EuGH überlassen, die er an den Aufgaben und Zielen der Union ausrichtet. Damit nimmt er eine rechtsvergleichende Analyse26 vor, was dazu führt, dass nicht etwa der gemeinsame Nenner gesucht wird: Konkret hält der EuGH in der eben erwähnten Ent-
21 Dazu etwa Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 385 ff.; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 4 Rz 12 f. 22 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 387 ff.; dazu auch S. Schumann, JRP 2010, 240, 241 f. Vgl. auch Stotz, in diesem Band, § 20 Rn. 24. 23 Kakouris, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267, 273. Daig, FS Zweigert (1981), S. 401 nennt hier als weitere Beispiele die Frage, was unter einem „Gericht“ i. S. v. Art. 177 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) zu verstehen ist, oder wann eine Willenserklärung als zugegangen gilt. Vgl. auch R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 188; ders., ZEuP 1993, 442, 454 f. Vgl. allgemein Schroeder, Grundkurs Europarecht (6. Aufl. 2019), § 6 Rn. 4. 24 Zu dieser Lückenfüllungsfunktion der Rechtsvergleichung bereits Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 109 f. 25 „… eine Ausprägung des in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geltenden allgemeinen Grundsatzes, dass eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht …“, EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur, EU:C:1996:79 Rn. 29; vgl. dazu Schroeder, JuS 2004, 180, 184; Lenaerts, ICQL 42 (2003), 878. 26 Sog. „wertende“ Rechtsvergleichung, vgl. etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim-Jacob/Kottmann, Art. 340 AEUV Rn. 31, wie sie sich vor allem im Bereich der Grundrechte herausgebildet hat; dazu näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 393 ff.; Schroeder, Grundkurs Europarecht (6. Aufl. 2019), § 15 Rn. 3; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 184 ff.; v. Danwitz, ZESAR 2008, 57, 60 ff. Im Grunde genommen wird die Herleitung rechtsfortbildend auf das Primärrecht gestützt, wobei die Rechtsvergleichung als Rechtserkenntnisquelle dient, Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 34 Fn. 18.
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scheidung kein Verschulden für erforderlich, obwohl diese Voraussetzung in vielen Mitgliedstaaten für die Staatshaftung verlangt wird.27 Abgesehen vom dargestellten engen Bereich der ausschließlichen Rechtsset- 9 zungsbefugnis der Union führt die vergleichende Ermittlung privatrechtlicher allgemeiner Rechtsgrundsätze jedoch nicht zu eigenständigem Unionsrecht,28 sondern kann nur bei der Anwendung und Auslegung bestehender Rechtsakte helfen (dazu unten Rn. 24). Im Bereich der Primärrechtssetzung hat die Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht daher nur eine sehr geringe Bedeutung.
2. Sekundärrechtliche Ebene Das Europäische Privatrecht im beschriebenen29 Sinne beruht bisher fast ausschließ- 10 lich auf Rechtsakten des sekundären Unionsrechts, vor allem auf Richtlinien und Verordnungen. Die früheren Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich des Internationalen Privat- und Prozessrechts, deren Abschluss im EG-Vertrag vorgesehen war (Art. 293 EG, in der Lissabonner Fassung aufgehoben), vor allem das noch bis Ende 2009 geltende Europäische Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ)30 sowie das bis Ende Februar 2002 anzuwendende Europäische Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ),31 bildeten eine Ausnahme: Bei ihnen handelte es sich um völkerrechtliche Verträge, die jedoch eng mit dem Gemeinschaftsrecht verknüpft waren (wie sich insbesondere an der eigens festgelegten Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung dieser Instrumente zeigte). Sie wurden allerdings nach der Erweiterung der Unionskompetenzen durch Art. 81 AEUV in Form von Verordnungen (Rom I-VO bzw. Brüssel I-VO) in das Sekundärrecht überführt. Mittels der Sekundärrechtsakte agieren die zuständigen Unionsorgane bisher 11 ähnlich wie nationale Gesetzgeber, indem sie bindende Regelungen für privatrechtliche Beziehungen aufstellen (unten a). Vor allem im Bereich des Vertragsrechts, aber in Ansätzen ebenso im Gesell- 12 schaftsrecht (etwa bei der Koordinierung der nationalen Corporate Governance-Kodi-
27 Schroeder, JuS 2004, 180, 184; zahlreiche Länderberichte zur Staatshaftung bietet Dörr, (Hrsg,), Staatshaftung in Europa (2013). Eine ähnlich selektive rechtsvergleichende Argumentation findet sich in EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, EU:C:2003:513 Rn. 48 f., dazu v. Danwitz, ZESAR 2008, 57, 60. 28 So dezidiert Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 182, Rn. 187 ff.; ähnlich Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 35. 29 Siehe oben Rn. 1. 30 Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht v. 19.6.1980, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 C 27/34. 31 Übereinkommen von Brüssel über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 C 27/1.
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zes durch ein europäisches Forum32 sowie bei der Bereitstellung eigenständiger europäischer Gesellschaftstypen33), war jedoch zwischenzeitlich eine neuartige Strategie der Kommission zu erkennen, mit der sie sich aus der Rolle eines klassischen Rechtssetzers zurück gezogen hat: Nach ihrem Aktionsplan zum Vertragsrecht34 sowie ihrer Mitteilung zum weiteren Vorgehen35 sollte auf die herkömmliche Rechtsangleichung weitgehend verzichtet werden, vielmehr wurden Regelungssysteme in Aussicht gestellt, an denen sich auch die privaten Parteien orientieren sollen (Gemeinsamer Referenzrahmen – GRR, dazu unten Rn. 19) oder vermittels derer sie ihre vertraglichen Beziehungen gestalten können (optionales Instrument, dazu unten Rn. 20). Damit operierte die Union wie „Formulierungsagenturen“ (formulating agencies),36 etwa UNIDROIT oder die International Chamber of Commerce (ICC), welche ohne legislative Befugnis im internationalen Wirtschaftsrecht den Akteuren einheitliche Bestimmungen als Empfehlung an die Hand geben. Der Einfluss der Rechtsvergleichung soll für diese beiden unterschiedlichen Arten der Rechtssetzung im Europäischen Privatrecht getrennt dargestellt werden.
a) Herkömmliche Rechtsangleichung 13 Üblicherweise wird dem Entwurf eines Rechtsaktes der Union auf dem Gebiet des Pri-
vatrechts eine – regelmäßig eher kurz gehaltene – Bestandsaufnahme vorausgeschickt, in der die Regelungen des betroffenen Sachgebiets in den Mitgliedstaaten dargestellt werden.37 Teilweise geschieht dies im Rahmen eines „Grünbuchs“,38 mit dem das Bedürfnis einer Maßnahme auf europäischer Ebene begründet werden soll (so etwa zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie39 oder zur Umwelthaftungsrichtlinie,40 im
32 Mittlerweile durch die Informelle Expertengruppe Gesellschaftsrecht, vgl, BeckOGK/AktG-Bayer/ Scholz, § 161 AktG Rn. 13. 33 Dazu etwa Dauses/Ludwigs-Kalss/Klampfl, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Teil E Rn. 550 ff; Fleischer, ZHR 174 (2010), 385–428. Vgl. Köndgen/Mörsdorf, in diesem Band, § 6 Rn. 82. 34 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1. 35 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg. 36 Vgl. Berger, The Creeping Codification of the New Lex Mercatoria (2010), S. 88 ff. 37 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 32 Rn. 2; Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 576. 38 Die Grünbücher können über https://eur-lex.europa.eu/collection/legislative-procedures.html aufgesucht werden. 39 Grünbuch der Kommission v. 15.11.1993 über Verbrauchsgütergarantien und Kundendienst, KOM (1993) 509 endg. 40 Grünbuch der Kommission v. 14.3.1993 über die Sanierung von Umweltschäden, KOM(1993) 47 endg.
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Zivilprozessrecht zum Mahnverfahren,41 im IPR zum Erb- und Testamentsrecht,42 sehr viel detaillierter rechtsvergleichend waren dagegen die Berichte zum EuGVÜ43 sowie zum EVÜ44 verfasst). Damit wird auch bereits eine wichtige Funktion dieser Art der Darstellung der verschiedenen Rechtsordnungen deutlich: Den dort angeführten Regelungsunterschieden zwischen den Rechten der Mitgliedstaaten werden negative Auswirkungen auf den Binnenmarkt zugeschrieben, so dass eine rechtsangleichende Maßnahme auf EU-Ebene zumindest sinnvoll erscheint und insoweit die Voraussetzungen der Kompetenzgrundlagen, etwa der Art. 114 oder Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV, als gegeben angesehen werden können.45 Zur Rechtfertigung der Harmonisierung reicht jedoch regelmäßig das Aufzeigen von Unterschieden zwischen den nationalen Rechtsordnungen aus, ohne dass es einer vertieften inhaltlichen Bewertung dieser Regelungsdifferenzen bedarf.46 Somit kommt es auf einen als wesentlich angesehenen Bestandteil der Rechtsvergleichung gar nicht mehr an, sondern es bleibt bei der bloßen Darstellung unterschiedlicher Bestimmungen. Außerdem genügt in der Regel eine Gegenüberstellung der Gesetzeslage im Sinne einer Normenvergleichung, ohne dass noch auf Unterschiede in Rechtsprechung oder Rechtspraxis einzugehen ist. Schließlich ist auch die Auswahl der Rechtsordnungen begrenzt: Sie beschränkt sich auf die Mitgliedstaaten der Union, weil nur diese für die Frage des Regelungsbedarfs ausschlaggebend sind. Die letztlich aufgrund der begrenzten Einzelermächtigung des Unionsgesetzgebers (Art. 5 Abs. 2 EUV) erforderliche Methode der Kompetenzbegründung erfordert daher nur eine reduzierte Art der Rechtsvergleichung. Eine weitere Funktion der Rechtsvergleichung bei der Angleichung des Privat- 14 rechts auf europäischer Ebene könnte in der Orientierung der zu erlassenden Bestimmungen an in einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Regelungen bestehen. Dies entspräche der klassischen Verwendung komparativer Studien bei der Rechtssetzung
41 Grünbuch der Kommission v. 20.12.2002 über ein Europäisches Mahnverfahren und über Maßnahmen zur einfacheren und schnelleren Beilegung von Streitigkeiten mit geringen Streitwert, KOM(2002) 746 endg, S. 53 ff. 42 Grünbuch der Kommission v. 1.3.2005 zum Erb- und Testamentsrecht, KOM(2005) 65 endg. 43 Bericht von Herrn P. Jenard zu dem Übereinkommen v. 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 1979 C 59/ 1 (Jenard-Bericht). 44 Bericht über das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht von Herrn Mario Giuliano, Professor an der Universität Mailand, und Herrn Paul Lagarde, Professor an der Universität Paris I, ABl. 1980 C 282/1 (Giuliano-Lagarde-Bericht). 45 Ähnlich Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 116 ff., der für die Rechtsangleichung allerdings den Nachweis verlangt, dass zumindest in einem Mitgliedstaat bereits eine Regelung vorhanden sein müsse. 46 Vgl. auch Michaels, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1268. Allenfalls muss noch festgestellt werden, ob das Ausmaß der Unterschiede die Unionsziele in dem Maße beeinträchtigt, dass ein Tätigwerden auf EU-Ebene erforderlich ist, vgl. schon Ress, ZaörV 1976, 227, 239.
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sowohl für Reformen auf nationaler Ebene47 wie bei der Schaffung internationalen Einheitsrechts.48 Ebenso wenig wie staatliche Gesetzgeber und internationale Regelsetzer ist die Union jedoch gehalten, ihre Rechtsvorschriften an denen von Mitgliedstaaten auszurichten. Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Privatrechten können vielmehr auch dadurch entschärft oder ausgeglichen werden, dass in sämtlichen Rechtsordnungen völlig neuartige Bestimmungen eingeführt werden. 15 Andererseits muss sich die Union bei der rechtsvergleichenden Ermittlung einer angemessenen Problemlösung im Bereich des Rechtsangleichungsakts nicht auf die Rechtslage in den Mitgliedstaaten beschränken, sondern kann auch „externe“ Regelungen berücksichtigen (so etwa bei der Abstimmung der europäischen Rechnungslegungsstandards mit den International Accounting Standards durch die IAS/IFRSVerordnung49 sowie die Änderung der Jahresabschluss-Richtlinien50 oder bei den vom U. S.-amerikanischen System beeinflussten Überlegungen zum zukünftigen Kapitalschutz im Gesellschaftsrecht)51 – immer vorausgesetzt, ihre Rezeption führt nicht zu Friktionen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, deren negative Folgen die positiven Wirkungen der Rechtsangleichung überwiegen. 16 Interessanterweise legt die Europäische Kommission ihre aus den Mitgliedstaaten übernommenen Anregungen für harmonisierende Bestimmungen weniger offen, als dies bei nationalen Gesetzgebungsprojekten oder Entwürfen internationalen Einheitsrechts der Fall ist.52 Anscheinend soll vermieden werden, dass die jeweilige Vorbildrechtsordnung als Grundlage für die Auslegung herangezogen und auf diese Weise das Unionsrecht vom Recht einzelner Mitgliedstaaten geprägt wird. Das wäre mit der Vorstellung einer „autonomen“ Rechtsordnung auf der Ebene der EU nicht vereinbar.53 Vielfach wird allerdings von außen, d. h. durch Wissenschaft und Praxis, versucht, das Ausmaß der Übereinstimmung von Unionsbestimmungen mit – meist na
47 So etwa bei der Erarbeitung des niederländischen „Nieuw“ Burgerlijk Wetboek, vgl. Hondius, AcP 191 (1991), 378, 394 f. Dazu oben Rn. 2, 4. 48 Dazu bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 254 ff. Vgl. oben Rn. 4. 49 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1, inhaltlich ausgeführt durch Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 der Kommission v. 3.11.2008, ABl. 2008 L 320/1. Vgl. dazu Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 592 ff; Beck'sches IFRS-Handbuch-Driesch, § 44 Rn. 2 ff. 50 Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2003 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG, 83/349/EWG, 86/635/EWG und 91/674/EWG über den Jahresabschluss und den konsolidierten Abschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, von Banken und anderen Finanzinstituten sowie von Versicherungsunternehmen, ABl. 2003 L 178/16. 51 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament v. 21.5.2003 „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union – Aktionsplan“, KOM(2003) 284 endg, S. 21. 52 So auch Lutter, JZ 1992, 593, 602. 53 Davon abgesehen wäre es wohl auch politisch unklug, zumindest vor Verabschiedung der Rechtsakte die inhaltliche Nähe zum Recht bestimmter Mitgliedstaaten deutlich zu machen, da dies unter
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tionalen – Vorschriften unter Zuhilfenahme der Rechtsvergleichung zu ermitteln: So wird etwa der Klauselrichtlinie 93/13/EWG ein prägender Einfluss des – mittlerweile in das BGB überführten – deutschen AGB-Gesetzes von 1976 zugeschrieben, insbesondere beim Prinzip der Überprüfung von missbräuchlichen Klauseln in jedem Zivilverfahren sowie bei der Ausrichtung dieser Kontrolle am Maßstab von Treu und Glauben.54 Auf ähnliche Weise wird der in der Bilanzrichtlinie 78/660/EWG (mittlerweile ersetzt durch 2013/34/EU) verwendete „true and fair view“ dem englischen Recht zugeordnet.55 Sichtbar wird eine Verwendung rechtsvergleichender Methoden bei der her- 17 kömmlichen Rechtsangleichung daher meist ausschließlich in den zur Rechtfertigung der Harmonisierungsziele vorgenommenen Zusammenstellungen der Regelungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, während ihr Einfluss auf die Inhalte und damit auf die Regelungsziele der Rechtsakte im Einzelnen erst nachträglich durch vergleichende Analysen zu entschlüsseln versucht wird.
b) Neuartige Regelungsinstrumente Im Aktionsplan für „ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht“ von 2003 wurden 18 die dort vorgeschlagenen Maßnahmen der Union soweit es den Inhalt, also das Regelungsziel betrifft, erstmals offen auf eine breite rechtsvergleichende Grundlage gestellt.56 So sollten als „Basisquellen“ für den Gemeinsamen Referenzrahmen „die geltenden nationalen Rechtsordnungen“ herangezogen werden.57 Dazu schienen auf den ersten Blick nur die der Mitgliedstaaten zu gehören, denn als Ziel wurde unter anderem ein „gemeinsamer Nenner“ ins Auge gefasst. Zumindest der Vergleich mit „geeigneten Drittstaaten“ wurde jedoch ebenfalls angeregt, da eine Annäherung der Ver-
Umständen Abwehrreaktionen der übrigen, die weniger erfolgreich waren, zur Folge haben könnte. Ähnlich R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 189. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 39. 54 Daneben wird aber auch die französische Herkunft einiger Vorschriften vermutet, wie etwa beim Merkmal des erheblichen Ungleichgewichts, vgl. Grabitz/Hilf-Pfeiffer, Recht der Europäischen Union (40. EL 2009), A 5 (AGBRL) Vorbem. Rn. 32. Zum Einfluss des UN-Kaufrechts auf die Kaufgewährleistungsrichtlinie 1999/44/EG etwa Grundmann, AcP 202 (2002), 40 ff.; ebenso, auch mit Blick auf die Warenkaufrichtlinie 2019/771/EU, Janssen, Die Bedeutung der Rechtvergleichung für die deutsche Zivilrechtslandschaft im 21. Jahrhundert, in: Janssen/Schulte-Nölke (Hrsg.), Researches in European Private Law and Beyond (2020), 299 (314 f.) 55 So etwa Claussen, AG 1993, 278, 279; MünchKommHGB-Reiner (3. Aufl. 2013), § 264 HGB Rn. 35; BeckOK HGB-Ruppelt, § 264 HGB Rn. 36. Vgl. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 466. 56 So auch Schmidt-Kessel, Vorauflage, § 17 Rn. 48, der von einer rechtsvergleichenden „Großstudie“ spricht. 57 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 63. Zum Aktionsplan Heutger, European Contract Law – The Action Plan, ERPL 2003, 579–586.
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tragsrechte auch im Verhältnis zu diesen bezweckt war.58 Außerdem sollte es nicht beim bloßen Normenvergleich bleiben, vielmehr war ausdrücklich auch „die Rechtsprechung der nationalen Gerichte … und die bestehende Vertragspraxis“ zu berücksichtigen.59 Schließlich wurde der Vergleichsraum über die traditionelle Rechtsvergleichung hinaus vergrößert, indem Einheitsprivatrecht, sowohl in Form damals vorhandener Gemeinschaftsregelungen wie auch internationaler Instrumente, etwa das UN-Kaufrecht, mit einzubeziehen war,60 welches seinerseits wiederum auf rechtsvergleichenden Erwägungen beruht. Dabei wurde wohl auch erwartet, dass Regelungen des internationalen Einheitsrechts aufgrund ihres neutralen Charakters den Mitgliedstaaten akzeptabel erscheinen,61 jedoch könnten die in ihnen enthaltenen Einflüsse aus Rechtsordnungen außerhalb der Union das Gegenteil bewirken.62 Aufgrund des Aktionsplans wurde jedenfalls gegenüber der bisherigen Rechtsangleichung der Einfluss der – vergleichenden – Rechtswissenschaft erheblich vergrößert, denn deren Forschungstätigkeiten sollten mit einbezogen und wirtschaftlich gefördert werden.63 Dazu hat wohl auch beigetragen, dass die zunächst auf bloße akademische Initiative hin geleisteten Vorarbeiten bereits umfangreiche Ergebnisse hervorgebracht hatten.64 19 Der Gemeinsame Referenzrahmen basiert in seiner akademischen Entwurfsfassung (Draft Common Frame of Reference – DCFR)65 somit auf intensiven rechtsvergleichenden Studien in den verschiedenen Forschungsgruppen des Joint Network on European Private Law (CoPECL).66 Es war zu erwarten, dass bereits der DCFR bei der zukünftigen Entwicklung des Unionsrechts berücksichtigt wird.67 Der eigentliche „politische“ Gemeinsame Referenzrahmen, der von der Europäischen Kommission auf
58 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 62. 59 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 63. 60 Nachweis wie vorige Fn. Dafür plädiert schon Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 257 f., sofern ein vergleichbarer sachlicher (oder räumlicher) Bereich gegeben ist. 61 So Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, Rn. 60. 62 Auch die Modernität des Einheitsrechts, Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, Rn. 60, ist relativ: Immerhin gibt etwa das UN-Kaufrecht von 1980 den Stand der Rechtsvergleichung vor mittlerweile vierzig Jahren wieder. 63 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 66 ff. 64 I.E. dazu unten Rn. 37. 65 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition. Zu den damit verbundenen Methodenfragen Schmidt-Kessel, Vorauflage, § 17 Rn. 47 ff. 66 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, S. 47. 67 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 8; s. a. Möslein/Röthel, in diesem Band, § 11 Rn. 45.
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der Grundlage des DCFR zu erarbeiten ist, sollte dann ausdrücklich dem Ziel der Verbesserung des bestehenden und künftigen Unionsrechts dienen.68 Für bereits im Aktionsplan mittelfristig in Aussicht gestellte und nach der Mittei- 20 lung zum weiteren Vorgehen auf ihre Zweckmäßigkeit zu überprüfende „optionale Instrumente“, also von den Parteien wählbare, neben die mitgliedstaatlichen Regelungssysteme tretende zusätzliche Vertragsordnungen, wird eine mögliche Hilfestellung der Rechtsvergleichung bei der inhaltlichen Erarbeitung nicht näher beschrieben. Da sie jedoch auf dem Gemeinsamen Referenzrahmen aufbauen sollen,69 wird die dort eingesetzte vergleichende Methode auf diese Weise weitergehend genutzt. Das erste Projekt eines derartigen den Akteuren zur Wahl gestellten Regelungssystems war eine Verordnung für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (V-GEKVO), welches unter Berücksichtigung der Durchführbarkeitsstudie einer Gruppe von Experten als Vorschlag der Kommission70 auf der Grundlage des DCFR erarbeitet worden ist und, nach einer kritischen Begutachtung durch das European Law Institute (ELI),71 unter Begrenzung des Anwendungsbereichs auf Fernabsatzverträge, insbesondere Online-Verträge, durch das Europäischen Parlament abgesegnet wurde,72 jedoch 2015 zurückgezogen wurde. Vergleicht man den beschriebenen komparativen Aufwand für die neuartigen Re- 21 gelungsinstrumente im Schuldrecht, insbesondere den DCFR (zum Gesellschaftsrecht finden sich diesbezüglich keine näheren Hinweise) mit dem früher eher reduzierten Einsatz der Rechtsvergleichung bei der herkömmlichen Harmonisierung durch Richtlinien, dann wird dieser nun für das gesamte Gebiet des Privatrechts anscheinend als lohnend angesehen, während ihn die Union in der Vergangenheit bei den überschaubaren Einzelregelungen eher gescheut hat. Die neue Strategie bei der Entwicklung des Europäischen Privatrechts hat daher dazu geführt, dass die Bedeutung der Rechtsvergleichung in diesem Prozess erheblich zugenommen hat. 68 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 59–64; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg, S. 2 f. 69 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 95, vgl. auch Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg, S. 21, v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 80. 70 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM(2011) 635 endg. Vgl. Köndgen/Mörsdorf, in diesem Band, § 6 Rn. 81 f. 71 Abrufbar einschließlich zweier Ergänzungen unter https://www.europeanlawinstitute.eu/projects-publications/completed-projects-old/proposed-cesl/, vgl. auch Wendehorst, AnwBl 2012, 536– 538. Generell zum ELI unten Rn. 37. 72 Legislative Entschließung v. 26.2.2014, Oral P7_TA-PROV(2014)0159.
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III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht 22 Während die Verwendung rechtsvergleichender Ansätze im Rahmen der Privatrechts-
setzung der Union bisher in der Literatur nur wenig Beachtung gefunden hat, scheint die „rechtsvergleichende Auslegung“ etwas mehr Interesse zu wecken. Dies mag – wie oben Rn. 6 bereits erwähnt – daran liegen, dass die Tätigkeit der Gerichte, die regelmäßig Normen interpretieren und damit laufend auf die Rechtsordnung einwirken, aus Sicht von Praxis und Lehre als wichtiger angesehen wird als der meist nur in größeren Abständen erfolgende Eingriff des Gesetzgebers. 23 Da die Auslegung und Fortbildung des primären Unionsrechts73 anderen Prinzipien folgt als die des auf sekundären Rechtsakten beruhenden Europäischen Privatrechts, wird hier nur letztere, d. h. im Wesentlichen die Interpretation von Richtlinien und Verordnungen mit privatrechtlichem Inhalt, auf ihren rechtsvergleichenden Hintergrund hin untersucht. Die Auslegungshoheit auch für diese Normen des Europarechts liegt letztlich beim EuGH, weshalb dessen Tätigkeit zunächst behandelt wird (unten 1.). Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben ebenfalls Europäisches Privatrecht anzuwenden und auch eigenständig auszulegen, solange sie diesbezüglich keine Zweifel haben, die sie gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH vortragen müssten. Darüber hinaus sind sie aber allein für das auf dem Unionsrecht beruhende – in der Regel nach dessen Vorgabe angeglichene – jeweilige nationale Recht zuständig, bei dessen Anwendung die Rechtsvergleichung ebenfalls zum Einsatz kommen kann (unten 2.).
1. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH 24 Bezieht sich der EuGH als Maßstab für seine Entscheidung auf ein nationales Recht,
was nur dann möglich ist, wenn das anzuwendende Unionsrecht im Ausnahmefall auf diese Rechtsordnung verweist,74 dann geht er keineswegs rechtsvergleichend vor, denn er stellt nicht mindestens zwei Regelungen einander gegenüber, um ihre Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herauszuarbeiten. Vielmehr wendet er, ähnlich wie ein nationaler Richter aufgrund einer Anordnung durch eine Verweisungsnorm des Internationalen Privatrechts, von vornherein eine bestimmte Rechtsordnung an. 25 Auch wenn der EuGH unterschiedliche Sprachfassungen eines Rechtsakts zur Interpretation bestimmter Begriffe heranzieht, liegt darin keine Rechtsvergleichung, denn es handelt sich ja um ein und dieselbe Regelung in gleichermaßen verbindli-
73 Dazu ausführlich Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 7. 74 Vgl. dazu Kohler/Knapp, ZEuP 2002, 701, 706 ff.; Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 39.
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III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht
chen Versionen. Damit ist aus den verschiedenen Sprachen zunächst der genaue, „eigentlich“ beabsichtigte Wortlaut zu ermitteln,75 der dann zum Gegenstand weiterer Auslegung wird. Wenn allerdings die Begriffe jeweils unter Zuhilfenahme der Rechtsordnungen analysiert werden, denen sie entstammen, liegt eine Art indirekte Rechtsvergleichung vor.76 Rein linguistische Vergleiche wird man dagegen regelmäßig weiterhin der Auslegung nach dem Wortlaut zuordnen.77 Damit bleibt – wenn man von der oben in Rn. 8 bereits erörterten Ermittlung all- 26 gemeiner Rechtsgrundsätze absieht, welche als Lückenschließung der Rechtssetzung zugeordnet wurde – die Nutzung der Rechtsvergleichung durch den EuGH, um im Rahmen der unionsautonomen Auslegung Erkenntnisse über mögliche Interpretationsvarianten des Europäischen Privatrechts zu gewinnen78 und vor allem die privatrechtliche Argumentationsbasis zu verbreitern. Dies ist deshalb erforderlich, weil der EuGH sich bei der Auslegung des EU-Rechts traditionellerweise ganz überwiegend an der Sichtweise des institutionellen Europarechts, im Bereich des Europäischen Privatrechts bisher vor allem an den Zielen des Binnenmarktes sowie der damit verbundenen Rechtsangleichung, kurz: dem Harmonisierungszweck (vgl. oben Rn. 3), orientiert. Die in Rede stehenden Rechtsakte, also derzeit – abgesehen von den früher geltenden gemeinschaftsnahen Übereinkommen (oben Rn. 10) – Richtlinien oder Verordnungen, bezwecken jedoch daneben immer auch eine inhaltliche, genuin privatrechtliche Problemlösung im Sinne eines Regelungsziels.79 Daher sind Rechtsmeinungen und Streitpunkte aus dem von der Anpassung betroffenen Rechtsgebiet in die Auslegung mit einzubeziehen, um die Sachfragen angemessen zu klären. Während es auf EU-Ebene derzeit vor allem an einer übergreifenden privatrechtlichen Systematik mangelt, auch wenn der DCFR80 die Lage um Einiges verbessert hat, bieten die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten diesbezüglich einen reichen Fundus, der nicht
75 Lutter, JZ 1992, 593, 599, sieht darin bloße Textkritik. Vgl. auch Martiny, ZEuP 1998, 227, 239 ff; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013), 339 ff. 76 R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 190; Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 456. Häberle, JZ 1989, 913, spricht insoweit von der Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode. 77 Kohler/Knapp, ZEuP 2002, 701, 720 f., M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 574 ff., E. Heinrich, ÖJZ 2011, 1068, 1070, Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 49 (die sie allerdings alternativ der systematischen Auslegung zuordnet). So auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 14; ebenso bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 266 ff. 78 Bei Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533, als Inspirationsfunktion bezeichnet. Basedow, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (2000), S. 98, spricht von der horizontalen Funktion einer „komparativen Dogmatik“. 79 So steht etwa bei der Kaufgewährleistungsrichtlinie neben der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt (BE 3) als Harmonisierungsziel die Stärkung des Vertrauens sowie ein Mindestmaß an Schutz für den Verbraucherkäufer (BE 5, 7) als Regelungsziel. 80 Dazu oben Rn. 19.
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unbeachtet bleiben sollte. Diese Art der Rechtsvergleichung ist jedoch auf die jeweils verwendete Auslegungsmethode abzustimmen. 27 Im Rahmen der historischen Auslegung einer Richtlinie oder Verordnung könnten etwa die privatrechtlichen Anwendungserfahrungen aus denjenigen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden, bei denen bereits vor Erlass des Rechtsakts der EU ähnliche Bestimmungen galten;81 dies darf jedoch keinesfalls dazu führen, dass auf längere Sicht eine national geprägte Interpretation der unionsrechtlichen Regelung nach bestimmten Vorbildern festgeschrieben wird, denn dies widerspräche dem bereits erwähnten autonomen Charakter des Unionsrechts.82 28 Für die systematische Auslegung, die sich ansonsten meist auf benachbartes Unionsrecht – hier etwa: andere Richtlinien im Bereich des Privatrechts – bezieht, wurde zunächst angeregt, zusätzlich die Europäischen Vertragsgrundregeln der Lando-Kommission (PECL)83 als Hilfsmittel heranzuziehen, wodurch die darin eingeflossene Rechtsvergleichung nutzbar gemacht würde.84 Die PECL wurden mittlerweile in den DCFR eingearbeitet,85 so dass nunmehr zur Auslegung auf dieses aktuelle Regelwerk zurückgegriffen werden könnte. Zwar wurde damit – ebenso wie durch die LandoGrundregeln – kein Unionsrecht geschaffen, aber in Anlehnung an die U. S.-amerikanischen Restatements bietet der DCFR ein privatrechtliches Argumentationsreservoir, welches leichter als die nationalen Rechtsordnungen zugänglich ist. Ebenso wie Regelungsentwürfe86 könnte er andere Auslegungsmittel ergänzen. Auch im Europäischen Privatrecht könnten damit Lücken geschlossen werden, wie es für den DCFR
81 Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts (2006), S. 165; Höpfner/ Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 16 f.; zur Klauselrichtlinie Grabitz/Hilf-Pfeiffer, Recht der Europäischen Union (1999), RL 93/13/EWG, Vorbem. Rn. 20. Dies ist jedenfalls dort möglich, wo die Bestimmung, die Modell gestanden hat, hinreichend eindeutig zu erkennen ist, dazu etwa Gruber, Methoden des Internationalen Einheitsrechts (2004), S. 192 f., E. Heinrich, ÖJZ 2011, 1068, 1071, sowie oben Rn. 16 bei Fn. 49. Für das UN-Kaufrecht wird unter diesen Umständen eine derartige nationale Einfärbung der Interpretation als Ausnahme von der autonomen Auslegung angeregt, Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 10 mwN; dazu auch Riesenhuber, AcP 218 (2018), 697. 82 R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 189; Lutter, JZ 1992, 593, 601 f.; Lenaerts, ICQL 42 (2003), 894. 83 v. Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, Teil I und II (2002), Teil III, (2005). Einführend etwa Busch/Hondius, ZEuP 2001, 223–247, vgl. auch Zimmermann, in: Reimann/ Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 560 ff, Kischel, Rechtsvergleichung, § 2 Rz 48 f. 84 Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 48, ebenso Berger, FS Sandrock, S. 60 f., zur Verwendung der UNIDROIT-Principles. Vgl. auch Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel I-VO Rn. 39. Kritisch Riesenhuber, AcP 218 (2018), 701. 85 Die PECL wurden bei der Erstellung des Gemeinsamen Referenzrahmens (dazu oben Rn. 18 f.) berücksichtigt, v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 49, vgl. auch Pfeiffer, ZEuP 2008, 679–707. 86 Dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 27 f.
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angedeutet wird,87 während es in Art. 1:101 Abs. 4 PECL noch ausdrücklich vorgesehen wurde.88 Ob darüber hinaus speziell bei der Auslegung von Richtlinien durch den EuGH im 29 Wege der teleologischen Auslegung eine Einbeziehung des von den Mitgliedstaaten in Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung angeglichenen nationalen Rechts – einschließlich der jeweiligen Rechtsprechung und Lehre – sinnvoll ist,89 dürfte dagegen zweifelhaft sein. In diesem Fall bestünde nämlich die Gefahr, dass die Auslegung der Richtlinie, an deren Inhalt die mitgliedstaatlichen Rechte auszurichten sind,90 von den Umsetzungsregeln in diesen Rechtsordnungen beeinflusst wird. Dieser Zirkelschluss ist jedoch zu vermeiden. Festzuhalten bleibt, dass die Auslegungsmethoden in unterschiedlichem Maße 30 Raum für eine Unterstützung durch die Rechtsvergleichung bieten, deren Anwendung in den Entscheidungen des EuGH jedoch nur selten offen gelegt wird.91 Überdies stützt sich der EuGH meist nur auf ausgewählte Rechtsordnungen, um daraus Anregungen zu entnehmen.92 Allerdings ist auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts das Unionsorgan, hier der EuGH, nicht verpflichtet, rechtsvergleichende
87 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 8. 88 Auch wenn in erster Linie an Lückenfüllung in einem nationalen Recht gedacht ist, v. Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (2002), S. 89 f. Vgl. dazu Schwartze, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung (2007), S. 149. 89 So Lutter, JZ 1992, 593, 604; Kakouris, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267, 274. Generell für eine Einbeziehung der Rechtsvergleichung in die teleologische Auslegung des Unionsrechts schon Grabitz/ Hilf-Nettesheim (2009), Art. 1 EGV Rn. 79, 87; ähnlich nun Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 59. 90 Siehe dazu sogleich Rn. 32. 91 Vgl. Rodriguez Iglesias, NJW 1999, 1, 8; Kakouris, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267, 275 ff.; Lenaerts, ICQL 42 (2003), 874; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533; Colneric, Die Rolle der Rechtsvergleichung in der Praxis des EuGH, in: Epiney ua. (Hrsg.), FS R. Bieber (2007), 316, 320; Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 576; Smits, in: TwiggFlesner (Hrsg.), European Union Private Law, S. 40; Everling, ZEuP 1997, 802, der auf deutlichere Hinweise in den Schlussanträgen der Generalanwälte verweist, ebenso Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013), 495, Hess, IPRax 2006, 348, 352, zum Europäischen Zivilprozessrecht, ähnlich Michaels, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1269; krit. zur vernachlässigten Rechtsvergleichung in Bezug auf deliktsrechtliche Entscheidungen B. Koch, in: Roth/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten (2008), S. 507. Beispiele bieten etwa GA Tizzano, Schlussanträge v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Simone Leitner, EU:C:2002:163 Tz. 40–42, wo recht pauschal die Entwicklung in den Mitgliedstaaten zum Ersatz entgangener Urlaubsfreude verglichen wird, oder GA Darmin Schlussanträge v. 2.12.1992 – Rs. C-172/91 Sonntag, EU: C:1993:144 Tz. 28–40, der im Überblick die Art des Rechtsweges bei Schadensersatzansprüchen gegen Beamte in den damaligen zwölf Mitgliedstaaten darstellt. S. a. Rebhahn/Franzen, in diesem Band, § 17 Rn. 47 f.; Stotz, in diesem Band, § 20 Rn. 24 ff. 92 Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 48; ebenso mit Blick auf das öffentliche Recht Bothe, ZaöRV 1976, 280, 285 f.
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Analysen vorzunehmen. Insofern besteht kein Unterschied zu den nationalen Gerichten, die bei der Auslegung ihres heimischen Rechts daran ebenso wenig gebunden sind.
2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte 31 Für die Auslegung des Unionsrechts durch die Gerichte der Mitgliedstaaten gilt das
eben zum EuGH Ausgeführte (oben 1.). Die Anwendung des an die Vorgaben vor allem aufgrund von Richtlinien angepassten innerstaatlichen Rechts, bei dem es sich ebenfalls um Europäisches Privatrecht, allerdings in nationalem Gewande, handelt, steht jedoch allein den heimischen Gerichten zu, weshalb dieser Teil ihrer Tätigkeit hier getrennt zu untersuchen ist. 32 Einhelligkeit besteht darüber, dass das vom Unionsrecht beeinflusste nationale Privatrecht bei der Rechtsanwendung anders zu behandeln ist, als die allein auf innerstaatlichen Erwägungen gegründeten Rechtssätze. Dies beruht auf der Fortwirkung der europäischen Vorgaben im nationalen Recht.93 Damit wird es erforderlich, einer national geprägten Anwendung und Auslegung des unionsrechtlich angeglichenen Rechts entgegenzuwirken und zu einer möglichst einheitlichen Interpretation innerhalb der EU zu gelangen. Dazu kann vor allem ein Vergleich mit der Rechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten zu einem Rechtsakt der Union oder zu den darauf beruhenden Umsetzungsbestimmungen beitragen.94 Eine derartige „Beobachtung“ parallel ergangener Entscheidungen wird deshalb im internationalen Einheitsrecht vielfach durch spezielle teleologisch geprägte Auslegungsregeln angeregt. So verlangt etwa Art. 7 Abs. 1 CISG unter anderem, bei der Interpretation des Übereinkommens „seine einheitliche Anwendung … zu fördern“, wozu in erster Linie die Aufdeckung möglicher abweichender Auslegung durch die Ermittlung ausländischer Rechtsprechung beiträgt.95 Auch im europäisch verankerten Einheitsrecht wurde dieser Grundsatz etwa in Art. 18 EVÜ für die Auslegung des Europäischen Vertragskollisionsrechts ganz ähnlich formuliert und verstanden,96 ebenso in den Europäischen Vertrags-
93 Zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13; zur primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 38 ff. 94 Basedow, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (1999), 79, 98. Zudem können auf diese Weise mögliche Umsetzungswidersprüche des eigenen Rechts aufgedeckt werden, vgl. Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 9. Vgl. auch Michaels, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1269. 95 Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 17; Staudinger-Magnus, Art. 7 CISG Rn. 21; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 304. 96 Zur rechtsvergleichenden Orientierung an ausländischer Rechtsprechung etwa Rummel-Verschraegen, ABGB (3. Aufl. 2004), Art. 18 EVÜ Rn. 13; Rudisch, in: Czernich/Heiss (Hrsg.), EVÜ (1999), Art. 18 Rn. 19.
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grundregeln (Art. 1:106 Abs. 1 S. 2 PECL)97 sowie in Art. I.-1:102 Abs. 3 lit. a) DCFR. Wenn auch in den EU-Richtlinien entsprechende Anweisungen fehlen, so verlangt der Vorrang des selbstverständlich einheitlich anzuwendenden Unionsrechts eine entsprechende rechtsvergleichend ausgerichtete Interpretation für das angeglichene Privatrecht der Mitgliedstaaten.98 Für den Vergleich heranzuziehen sind allerdings allein die Rechtsordnungen, für 33 die eine einheitliche Auslegung verlangt wird, also die EU-Mitgliedstaaten (einschließlich wohl auch der EWR-Staaten)99 – diese haben in Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung ihr nationales Recht angeglichen, so dass jeweils erkennbar wird, wie ihre Gesetzgeber und Gerichte die Zielvorgaben der Union verstehen. Dafür ist es allerdings erforderlich, den Gerichten die notwendigen Informationen über ausländische Gerichtsentscheidungen zugänglich zu machen. Der Aufbau entsprechender Datenbanken, ähnlich wie zum UN-Kaufrecht CLOUT oder UNILEX,100 steht jedoch noch am Anfang.101 Auch die aufbereitende Literatur fehlt bisher nahezu vollständig, da Kommentare zu den nationalen Umsetzungsregelungen kaum auf ausländische Entscheidungen zu parallelen Normen in anderen Mitgliedstaaten eingehen.102
97 Inhaltlich übereinstimmend Art. 1.6. UPICC. 98 Dafür auch Lutter, JZ 1992, 593, 604; Kötz, JZ 2002, 257, 258; Mansel, JZ 1991, 529, 531; Gruber, ZVglRWiss 101 (2002), 38, 42; weitergehend Odersky, ZEuP 1994, 1, 3 f., aus schweizerischer Sicht G. Walter, ZSR 125 (2007), 259, 273. Zum dadurch entstehenden Aufwand skeptisch Berger, FS Sandrock, S. 60. Krit. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006), S. 34 f. Ähnlich in Bezug auf Art. 4 V-GEK Schulze-Schulte-Nölke, CESL (2012), Art. 4 Rn. 3. 99 Die Schweiz oder andere, etwa osteuropäische, Staaten, in denen Unionsrecht teilweise freiwillig übernommen wird („autonomer Nachvollzug“, dazu etwa Schnyder, in: Furrer (Hrsg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs (2006), S. 206), sind aus dieser Perspektive nicht in die rechtsvergleichenden Überlegungen mit einzubeziehen. 100 Zu diesen Projekten etwa Herber, RIW 1995, 502–504. 101 Eines der ersten Projekte dieser Art stellte die „JURE Database – Jurisdiction Recognition Enforcement“ zur EuGVVO, https://eur-lex.europa.eu/collection/n-law/jure.html, dar, an der der Verfasser als zuliefernder Experte für österreichische Entscheidungen mitwirkte. Eine Weiterentwicklung führte zur, allerdings teilweise kostenpflichtigen, Datenbank zum internationalen und europäischen Einheitsrecht „Unalex“ (http://www.unalex.eu/), die eine Vielzahl von Entscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte etwa zur Rom I- und Rom II-VO sowie zur Brüssel I-VO enthält; dazu Simons, European and International Uniform Law: the need for an international system of uniform legal information and the unalex method, ELF 2007, 1–8. 102 So wird etwa in deutschen Kommentierungen zum Widerrufsrecht bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, welches in allen Mitgliedstaaten früher auf der Haustürgeschäfterichtlinie, nunmehr auf der Verbraucherrechterichtlinie basiert, meist gar nicht auf die Rechtsprechung anderer EU-Mitglieder eingegangen, ein wenig mehr findet sich im traditionell stärker auf Nachbarrechtsordnungen Bezug nehmenden Österreich, vgl. etwa Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Mayrhofer/Tangl, ABGB (3. Aufl. 2006), § 3 KSchG Rn. 23 Fn. 73, Rn. 35 Fn. 92, jedoch jeweils allein zur deutschen Rechtsprechung. Ausführlich auf Urteile aus zahlreichen Mitgliedstaaten gestützt wird die Kommentierung der EuGVVO dagegen von Simons/Hausmann (Hrsg.), unalex Kommentar Brüssel IVerordnung (2012).
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§ 4 Die Rechtsvergleichung
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Inwieweit eine Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte bezüglich dieser Art der Rechtsvergleichung angenommen werden kann, ist wie regelmäßig bei Auslegungsfragen nur schwer zu bestimmen: Zumindest sollte eine Auseinandersetzung mit dem Richtlinienverständnis in anderen Mitgliedstaaten erkennbar werden, die Bewertung unterliegt dagegen dem Ermessen der Richter. Natürlich besteht keine Bindung an die Entscheidungen ausländischer Gerichte, man sollte ihnen allerdings eine nicht unerhebliche persuasive authority zumessen.103 35 Da der Bestand des Europäischen Privatrechts in den letzten Jahren weiterhin zugenommen hat, dürfte vor allem bei den Gerichten der Mitgliedstaaten die Zahl der Entscheidungen zum umgesetzten Recht ansteigen. Damit müsste auch die Bedeutung der rechtsvergleichenden Methode bei der Anwendung dieser Regelungen wachsen.
IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht 36 Im Bereich der Wissenschaft tritt der bislang erörterte praxisorientierte Anwendungs-
bezug der rechtsvergleichenden Methode in den Hintergrund. Dort dient sie weniger als Hilfsmittel, vielmehr erfüllt sie vor allem ihre primäre Funktion, die Erkenntnisse über rechtliche Normen zu bereichern und die Vielfalt möglicher Regelungsmodelle zu veranschaulichen.104 Dadurch eignet sie sich besonders für die juristische Ausbildung,105 wo sie allerdings wiederum eine unterstützende Aufgabe wahrnimmt und ihre praktische Verwertung dominiert. Beide Aspekte, Forschung wie Lehre, wirken sich im Gegenzug auf die zuvor dargestellte Rechtssetzung und Rechtsanwendung aus, soweit die Ergebnisse der wissenschaftlichen Rechtsvergleichung wahrgenommen werden und die rechtsvergleichend ausgebildeten Juristen ihre erworbenen Kenntnisse anwenden. In welchem Maße dies für das Europäische Privatrecht gilt, soll daher ergänzend dargestellt werden.
1. Wissenschaftliche Projekte 37 Es drängt sich der Eindruck auf, dass in den letzten Jahren die wissenschaftlich fun-
dierte Rechtsvergleichung mit Bezug zum Europäischen Privatrecht einen starken Aufschwung erlebt hat. Das liegt sicherlich daran, dass eine ganze Anzahl unter-
103 Ähnlich für das UN-Kaufrecht Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 24. Vgl. auch Riesenhuber, AcP 218 (2018), 712. 104 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 14; Siems, Comparative Law (2018), S. 2 f. 105 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 20; Kischel, Rechtsvergleichung, § 2 Rz 16–19; vgl. auch Brand, JuS 2003, 1083, 1084.
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IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre
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schiedlicher Forschungsgruppen oder akademischer Netzwerke gebildet wurden, die sich mit verschiedenen Aspekten dieser Materie befassen:106 Neben der bereits Anfang der Achtziger Jahre von Ole Lando (Kopenhagen) gegründeten, aber erst etwa zehn Jahre später an die Öffentlichkeit getretenen107 „Commission on European Contract Law“, welche die bereits erwähnten PECL erarbeitete (vgl. oben Rn. 28), beschäftigen sich sowohl die „Accademia dei Giusprivatisti Europei“, gegründet von Giuseppe Gandolfi (Pavia), wie auch die von Stefan Grundmann (Berlin) geleitete „Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht (SECOLA)“ mit den Vertragsrechten der Mitgliedstaaten. Ein breiteres Gebiet bearbeiten sowohl die durch Christian von Bar (Osnabrück) geführte „Study Group on a European Civil Code“ mit ihren Untergruppen (einschließlich des in Innsbruck beheimateten Restatement-Projekts zum Versicherungsvertragsrecht, mittlerweile unter der Leitung von Helmut Heiss, Zürich) wie die von Hans Schulte-Nölke (Osnabrück) koordinierte „Acquis Group“, die sich am geltenden Privatrecht der Europäischen Union ausrichtet. Weitere derartige think tanks befassen sich mit dem Deliktsrecht („European Centre of Tort and Insurance Law – ECTIL“,108 gegründet von Helmut Koziol, Wien), dem Verfahrensrecht (Storme-Kommission, mittlerweile unter der Obhut von UNIDROIT) oder generell mit dem „Common Core of European Private Law (Trento Project)“109 (Mauro Bussani, Triest /Ugo Mattei, Turin). Eine völlig neue Dimension gewinnt die rechtsvergleichende Zusammenarbeit in Europa mit dem nach dem Vorbild des American Law Institute im November 2011 gegründeten European Law Institute (ELI), welches explizit praxisorientiert sowohl durch ELIStatements aktuelle Entwicklungen im Unionsrecht kritisch beleuchten als auch durch ELI-Instruments neue Projekte auf den Weg bringen will.110 Allen diesen Gruppen ist gemeinsam, dass sie dezidiert rechtsvergleichend arbei- 38 ten, einige vorwiegend (Acquis Group) oder teilweise (SECOLA) innerhalb des von der Union erlassenen Privatrechts. Ebenfalls sämtliche Initiativen haben bereits umfangreiche Ergebnisse vorgelegt oder planen dies in naher Zukunft, wobei sowohl Regelungstexte entstanden sind – am bekanntesten bisher die Europäischen Vertragsgrundregeln der Lando-Gruppe, mittlerweile jedoch der DCFR – wie auch monographisch-deskriptive Untersuchungen. Es war allerdings notwendig, die zwar personell teilweise verknüpften aber inhaltlich unabhängig voneinander operierenden Netz-
106 Dazu auch Schmidt-Kessel, RIW 2003, 481, 483 f.; Smits, in: Twigg-Flesner (Hrsg.), European Union Private Law, S. 41 f.; sowie ausführlich Riedl, Vereinheitlichung des Privatrechts in Europa (2004), S. 161 ff. 107 Lando, RabelsZ 56 (1992), 261 ff. 108 Zu den Principles of European Tort Law etwa Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 564 f. 109 Vgl. etwa Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 557 f. 110 Wendehorst, RZ 2012, 58, 59; Wicke, DNotZ 2011, 803, 806.
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§ 4 Die Rechtsvergleichung
werke zu koordinieren oder zumindest die Früchte ihrer Arbeit zu konsolidieren,111 was innerhalb des zur Erarbeitung des Gemeinsamen Referenzrahmens errichteten „Joint Network on European Private Law – CoPECL“ weitgehend geschehen ist. 39 Auf jeden Fall steht nicht zuletzt mit der voluminösen Full Edition des DCFR112 mittlerweile umfangreiches rechtsvergleichendes Material zur Verfügung, welches von Rechtssetzung und Rechtsprechung sowohl auf europäischer Ebene als auch in den Mitgliedstaaten, aber ebenso von Rechtsanwendern wie etwa Vertragsparteien, verwendet werden kann. In dem Maße, in dem dieses Angebot genutzt wird, steigt auch die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Weiterentwicklung des Europäischen Privatrechts. Der Aktionsplan der Kommission zum Vertragsrecht, in dem die Einbeziehung der Europäischen Vertragsgrundregeln vorgesehen war und dessen Ausführung zum gewichtigen Teil dem „CoPECL“ übertragen wurde, hat wesentlich dazu beigetragen, die Vorteile einer wissenschaftlich fundierten Rechtsvergleichung umfassend auszuschöpfen – auch wenn einige der oben erwähnten Ressourcen dabei noch wenig genutzt bleiben.
2. Juristische Ausbildung 40 Eine ähnliche Entwicklung wie in der rechtsvergleichenden Forschung deutet sich in
den juristischen Studiengängen an: Auf der Grundlage des DCFR sowie der vermehrt erscheinenden rechtsvergleichend angelegten Lehr- und Handbücher, vom „Europäischen Vertragsrecht“ (Kötz/Flessner sowie Kadner Graziano)113 sowie dem „European Tort Law“114 über das „Europäische Obligationenrecht“ (Ranieri)115 bis hin zum „Ius Commune Casebook – Contract Law“ (Beale/Kötz/Hartkamp/Tallon),116 wird eine Ein111 So für die Privatrechtsvereinheitlichung allgemein bereits die Forderung von Kramer, JBl. 1988, 477, 487. 112 v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition (2004), 6563 Seiten. 113 Bisher nur Kötz, Europäisches Vertragsrecht, Bd. I: Abschluss, Gültigkeit und Inhalt des Vertrages – Die Beteiligung Dritter am Vertrag (1996) bzw. Kadner Graziano, Europäisches Vertragsrecht (2008); in englischer Sprache etwa Monateri (ed.), Comparative Contract Law (2018); Kadner Graziano, Comparative Contract Law (2019). 114 Van Dam, European Tort Law (2. Aufl. 2013); Bussani/Sebok, Comparative Tort Law (2017); Kadner Graziano, Comparative Tort Law (2018); rechtsvergleichend auch Brüggemeier, Haftungsrecht: Struktur, Prinzipien, Schutzbereich (2006) sowie v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. I (1996), Bd. II (1999). 115 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (3. Aufl. 2009). 116 Beale u. a. (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Contract Law (3. Aufl. 2019). In der gleichen Reihe van Gerven/Larouche/Lever, Cases, Materials and Text on National, Supranational and International Tort Law (2000); Beatson/Schrage (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Unjustified Enrichment (2003); Micklitz u. a. (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Consumer Law (2010) sowie van Erp/Akkermans (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Property Law (2012).
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V. Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum
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beziehung der verschiedenen Privatrechte der Mitgliedstaaten im Sinne eines „gemeineuropäischen Privatrechts“ in die Veranstaltungen zum innerstaatlichen Recht erleichtert.117 Auf diese Weise gelangt die Rechtsvergleichung sinnvollerweise aus der Abgeschiedenheit der Wahl- oder Nebenfächer in das Zentrum des Rechtsunterrichts.118 Darüber hinaus werden Studiengänge entwickelt, in denen die Grundlagen auch 41 des Privatrechts ohne Beschränkung auf eine bestimmte nationale Rechtsordnung vermittelt werden, wie etwa das Beispiel der von Bremen, Oldenburg sowie Groningen getragenen „Hanse Law School“119 zeigt. Ähnlich wie in den USA wird in diesem Programm nicht mehr ein regionales (dort: Bundesstaaten-, hier: Mitgliedstaaten-)Recht gelehrt, sondern es werden die wesentlichen Elemente der europäischen Rechtsordnungen übergreifend dargestellt.120 Auch auf diesem Feld, der Vermittlung des Europäischen Privatrechts, ist damit 42 zu erwarten, dass die Bedeutung der Rechtsvergleichung zunimmt, was durch die Verbreitung von auf dieses Gebiet ausgerichteten Fachzeitschriften121 erleichtert wird.
V. Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum Die bisher vorgenommene Einschätzung der Bedeutung der Rechtsvergleichung für 43 das Europäische Privatrecht, nach der diese insgesamt eher ansteigt, basiert auf der derzeitigen Situation, in der sich eine gemeinsame europäische Rechtsordnung noch im Werden befindet – wenn dieser Prozess anscheinend auch weiterhin an Dynamik gewinnt. Geht man davon aus, dass in der EU mehr und mehr einheitliches Recht entsteht, bis diese Entwicklung irgendwann einmal an ihr Ende kommt, dann sinkt allerdings die Relevanz eines Vergleichs nationaler Rechtsordnungen innerhalb der Union, weil es dafür zunehmend weniger Material gibt sowie ein immer geringeres Bedürfnis besteht. Ähnlich wie früher zwischen den nationalen Rechtsordnungen nach der jeweiligen internen Vereinheitlichung durch die Zivilrechtskodifikationen
117 So auch Kadner Graziano, ZVglRWiss 106 (2007), 249, 269. 118 Eine derartige Entwicklung unterstützt etwa Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 548. 119 Das Programm findet sich unter https://hanse-law-school.org/. 120 Befürwortend etwa Werro, in: Furrer (Hrsg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs (2006), S. 119. 121 Beginnend 1993 sowohl mit der Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (ZEuP), als auch mit der European Review of Private Law (ERPL). Mittlerweile haben sich für einzelne Gebiete spezielle Titel etabliert, so etwa seit 2005 die European Review of Contract Law (ERCL) oder seit 2010 das Journal of European Tort Law (JETL). Schwartze
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§ 4 Die Rechtsvergleichung
Rechtsvergleichung betrieben wurde, könnte jedoch für den Vergleich mit außerhalb der EU bestehenden Privatrechten das Interesse zunehmen. 44 Zumindest im Vertragsrecht, aber wohl auch im Gesellschaftsrecht, erschien es nach der „Wende“ hin zu freiwilligen statt verpflichtenden Unionsregelungen eher wahrscheinlich, dass in vielen Bereichen neben den derzeit wieder 27 nationalen Regelungssystemen ein weiteres, europäisches Normengefüge dauerhaft etabliert wird. Auch im Hinblick auf die Wahl der Akteure zwischen diesen Rechtsordnungen müssten deren Vor- und Nachteile im Einzelfall verglichen werden, wodurch sich der Rechtsvergleichung ein zusätzliches Arbeitsfeld erschließen würde. Nach der Rückkehr zur traditionellen Harmonisierung seit 2015 ist diese Entwicklung in nächster Zeit jedoch nicht zu erwarten. 45 Letztlich ist aber festzuhalten, dass die Anwendung der Rechtsvergleichung im Europarecht – abgesehen vom Ausnahmebereich der allgemeinen Rechtsgrundsätze (oben Rn. 8) – in keinem der betrachteten Gebiete vorgeschrieben wird. Vielmehr hängt ihr Einsatz davon ab, dass die jeweiligen Nutzer (Gesetzgeber, Richter, Praktiker, aber auch Wissenschaftler, Studierende und Lehrende) sich von ihr Vorteile versprechen. Daher kann die künftige Bedeutung dieser Methode auch im Bereich des Europäischen Privatrechts langfristig nur schwer eingeschätzt werden.
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§ 5 Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt Literatur: Miriam C. Buiten, Harmonisation and the EU Internal Market (2017); Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995/3. Aufl. 2005); Thomas Eger/Hans-Bernd Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung (2007); dies. (Hrsg.), Research Handbook on the Economics of European Union Law (2012); Eva-Maria Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002); Klaus Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? (3. Aufl. 2009); ders. (Hrsg.), Law and Economics in Europe (2014); Willem Molle, The Economics of European Integration (5. Aufl. 2006); Richard A. Posner, Economic Analysis of Law (9. Aufl. 2014); Hans-Bernd Schäfer/Claus Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (5. Aufl. 2012); Michael Schillig, The Contribution of Law and Economics as a Method of Legal Reasoning in European Private Law, ERPL 17 (2009), 853–893; Hal R. Varian, Intermediate Microeconomics (9. Aufl. 2014).
Systematische Übersicht Einführung 1–2 Grundlagen 3–16 1. Utilitarismus und Wohlfahrtsökonomik 3–5 2. Posners „everyday pragmatism“ 6 3. Kritik folgenorientierter Denkweise (Hayek) 7–8 4. Ausdifferenzierung des ökonomischen Ansatzes 9–14 a) Neue Institutionenökonomik 9–10 b) Behavioural Law and Economics 11–12 c) Economics of Happiness 13–14 5. Zwischenfazit 15–16 III. Ausgestaltung der Rechtsregeln für den Binnenmarkt 17–46 1. Wirtschaftsverfassung und Wohlfahrtsgewinne durch die Inte-
I. II.
gration der mitgliedstaatlichen Märkte 17–22 2. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz 23–28 3. Zur Wahl der Regelungsebene 29–40 a) Vorteile einheitlicher Regelungen 32–34 b) Vorteile dezentraler Rechtsetzung 35–40 4. Verarbeitung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (Behavioural Economics) 41–46 IV. Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt 47–61 1. Grundfreiheiten 47–51 2. Sekundärrecht 52–58 3. Zur Zögerlichkeit des EuGH, explizit ökonomisch zu argumentieren 59–61
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§ 5 Vom Wert ökonomischer Argumente
I. Einführung 1 Die Frage nach dem Wert ökonomischer Erkenntnisse für das Recht beschäftigt die
Rechtswissenschaft, seitdem „Law and Economics“ in den 1960er- Jahren in den Vereinigten Staaten zum Siegeszug ansetzte1 und die Einsichten dieses Forschungsansatzes auch in Europa rezipiert wurden.2 Kaum zu bestreiten ist, dass das analytische und empirische Instrumentarium der Ökonomik in vielen Fällen geeignet ist, die Folgen einer Rechtsregel zu beobachten oder ausgehend von der Annahme rationalen und eigennutzorientierten Verhaltens vorherzusagen und zu bewerten, ob und unter welchen Voraussetzungen sie im Sinne des Regelgebers wirkt oder wirken kann. Deshalb konzentriert sich die Diskussion um die „ökonomische Analyse des Rechts“ auf die normative Frage, inwieweit diese beeinflussen darf, wie Rechtsregeln auszugestalten und anzuwenden sein sollen. Die moralphilosophische Legitimation (wohlfahrts‑) ökonomischer Analyse des Rechts ist Gegenstand fortdauernder Kontroversen. Die Aussagekraft ökonomischer Argumente für Normsetzung und -anwendung hängt vor diesem Hintergrund davon ab, ob dies in der Rechtsordnung selbst angelegt ist. Nachzugehen ist deshalb den übergreifenden Vorgaben für das Recht des Binnenmarktes. Mit ihnen wird einschätzbar, inwieweit Effizienzanalysen für Ausformung, Auslegung und Fortbildung dieser marktbezogenen Rechtsnormen Gewicht zukommen kann. Anhand von Beispielen soll veranschaulicht werden, dass Raum für ökonomisch fundierte Argumente besteht und mit ihrer Einbeziehung ein (Mehr‑)Wert einhergeht. 2 Ökonomische Theorie des Rechts ist kein Forschungsansatz „aus einem Guss“. Wie wohl im Grunde jede Wissenschaft ist auch die Ökonomik von Kontroversen hinsichtlich ihrer Methoden und Forschungsergebnisse geprägt. Die Überzeugungskraft
1 An U. S.-amerikanischen Law Schools ist „Law and Economics“ seit einigen Jahren ein dominierender Forschungsansatz. Standardlehrbuch ist neben Posner, Economic Analysis of Law etwa Cooter/ Ulen, Law & Economics (6. Aufl. 2014). Als enzyklopädisches Standardwerk gilt Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law (1998/2001). Eine wichtige Voraussetzung für diese Entwicklung liegt im Einfluss rechtsrealistischer Überzeugungen: Wer rechtsdogmatischen Argumenten keinen Eigenwert zubilligt, sondern diese lediglich als „Verschleierung der eigentlichen, machtpolitischen Absichten“ versteht, wird eher geneigt sein, konsequentialistischen Ansätzen zu folgen, sich also bei der Rechtsanwendung von den praktischen Folgen einer Rechtsregel leiten zu lassen. Siehe Hellgardt, Reglierung und Privatrecht (2016), S. 326 unter Hinweis auf Kennedy, Harv. L. Rev. 89 (1976), 1685. 2 Die Rezeption des Law and Economics-Ansatzes in Europa erfolgte zunächst nur zögerlich, s. Cooter/ Gordley, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 261–263, sowie die Länderberichte im gleichen Heft von Kirchner (Deutschland), 277–292, Hertig (Schweiz), 292–300, Pastor (Spanien), 309–317, Skogh (Schweden), 319–324 und Weigel (Österreich), 325–329; zu den Ursachen der schleppenden Rezeption und weiterhin weniger prominenten Rolle in Europa siehe Purnhagen, in: Mathis (Hrsg.), Law and Economics in Europe, S. 3; Grechening/Gelter, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 31 (2008), 295–360. Zur Diskussion in Frankreich und dem Vereinigten Königreich s. Encinas de Munagorri, RTD civ 2006, 505–510 bzw. Goodhart, MLR 60 (1997), 1–22. Franck
II. Grundlagen
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ökonomischer Argumente im rechtswissenschaftlichen Diskurs hängt deshalb davon ab, diese intradisziplinären Auseinandersetzungen nicht zu negieren, sondern auf Augenhöhe mit dem Stand der ökonomischen Forschung zu argumentieren. Gründete sich die „ökonomische Analyse des Rechts“ ursprünglich im Wesentlichen auf eine wohlfahrtsökonomische Analyse beschränkt auf das Instrumentarium neoklassischer Preistheorie,3 so muss eine zeitgemäße ökonomische Theorie des Rechts auch deren Erweiterungen und Alternativen in den Blick nehmen: spieltheoretische Ansätze, Auseinandersetzungen mit den „Unvollkommenheiten“ realer Märkte (externe Effekte, Transaktionskosten, systematische Informationsasymmetrien) und schließlich auch Herausforderungen durch von der Psychologie inspirierte Forschungsansätze der experimentellen Ökonomik („Behavioural Economics“ und „Economics of Happiness“).4
II. Grundlagen 1. Utilitarismus und Wohlfahrtsökonomik Die ethischen Grundlagen einer ökonomischen Theorie des (geltenden) Rechts sind 3 Gegenstand intensiver Debatten. Augenfällig ist der Traditionszusammenhang zum Utilitarismus.5 Das utilitaristische Prinzip geht davon aus, dass sich gesamtgesellschaftlicher Nutzen als Summe individueller Nutzen berechnen lässt. Ein Zustand höheren Gesamtnutzens ist vorzuziehen. In der Tat beruhte die klassische Wohlfahrtsökonomik Marshalls und Pigous auf utilitaristischen Grundannahmen, wie der Möglichkeit kardinaler Nutzenmessbarkeit6 und intersubjektiver Nutzenvergleiche. Unabhängig von der später einflussreich vorgetragenen sozialphilosophischen Kritik am Utilitarismus7 wendeten sich die Ökonomen von ihm ab, weil ihnen das Messproblem 3 Das gilt insbesondere für die Vertreter der sog. Chicago School, paradigmatisch hierfür Bork, The Antitrust Paradox (1978/1993), S. 117: „There is no body of knowledge other than conventional price theory that can serve as a guide to the effects of business behaviour upon consumer welfare.“ 4 Behandelt werden (fast) alle dieser Erweiterungen auch in Standardlehrbüchern zur Mikroökonomik, s. etwa Varian, Intermediate Microeconomics, Kapitel 29–31, 35, 37 f. 5 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 174–234. 6 Nutzen ist kardinal messbar, wenn ihm verrechenbare Größen zugeordnet werden können. Demgegenüber setzt eine ordinale Nutzenmessung nur voraus, dass sich verschiedene Zustände im Hinblick auf den darin realisierten individuellen Nutzen in eine Rangfolge bringen lassen. 7 Als problematisch am Utilitarismus gelten insbesondere dessen Indifferenz gegenüber Einkommens- und Vermögensverteilung und die mangelnde Gewährleistung grundrechtlicher Positionen als unveräußerliche Rechte des Individuums, Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 140–143. Zu den herausgehobenen Kritikern des Utilitarismus zählen Rawls, A Theory of Justice (1971); Nozick, Anarchy, State, Utopia (1976); Fried, Right and Wrong (1978); Dworkin, Taking Rights Seriously (1978). Zu Modifizierungen utilitaristischer Positionen in Reaktion auf die Kritik siehe im Überblick Broome, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2 (1998/2001), S. 651– 656.
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§ 5 Vom Wert ökonomischer Argumente
als nicht befriedigend lösbar erschien.8 Stattdessen tritt in der Mikroökonomik das Konzept der Präferenz in den Mittelpunkt: Aus beobachtbaren Wahlhandlungen wird eine individuelle Präferenzordnung und weiter eine individuelle Nutzenfunktion abgeleitet.9 Ordinale Skalierung ersetzt die Notwendigkeit kardinaler Nutzenmessung. 4 Basierend auf beobachtbaren individuellen Präferenzen wurde das Pareto-Kriterium formuliert: Die Veränderung eines sozialen Zustands, wie sie etwa durch Rechtsänderungen initiiert werden kann, sei dann vorzugswürdig, wenn mindestens ein Individuum den neuen Zustand präferiert, während alle anderen Individuen zumindest indifferent im Hinblick auf die Änderung sind.10 Praktisch gibt ein solches Einstimmigkeitspostulat einem Regelgeber kaum Hilfestellung an die Hand: Welche Umgestaltung rechtlicher Normen kennt keine Verlierer? Die Einführung eines Kompensationsmodells soll dem Rechnung tragen: Nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium liegt ein gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrtsvorteil auch dann vor, wenn die Gewinner die Verlierer entschädigen könnten und trotz dieser (hypothetischen) Kompensation noch besser stünden.11 Das Kriterium der möglichen Kompensation setzt nicht voraus, dass Nutzen transferierbar ist. Der Ausgleich erfolgt über den Transfer von Gütern oder auch Geld.12 Für den Fall des monetären Ausgleichs sind individuelle Zahlungsbereitschaften maßgeblich. Dem Kaldor-Hicks-Kriterium liegt deshalb konzeptionell kein interpersoneller Nutzenvergleich zugrunde.13 Allerdings ist zu bemerken, dass die hypothetische Kompensation in Geld zumindest fingiert, jeder Akteur ziehe aus einer Geldeinheit den gleichen Nutzen.14 Weniger als die für gewisse Konstellationen aufgezeigten Inkonsistenzen des Kaldor-Hicks-Kriteriums15 interessiert hier seine sozialphilosophische Überzeugungskraft. Ein Versuch konsenstheoretischer Legitimierung stützt sich auf die Idee der „Generalkompensation“ bei iterativer Anwendung des Kriteriums: Zwar werde jeder Rechtsunterworfene von staatlichen Entscheidungen in nicht vorhersehbarer Weise bevorzugt oder benachteiligt. Stütze sich eine endliche Zahl dieser Entscheidungen aber auf eine Analyse nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium,
8 S. etwa Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 4.1, S. 57 f. 9 Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 4, S. 54–59. 10 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 13. 11 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 20. 12 Feldman, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2 (1998/2001), S. 417, 418. 13 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 26 f. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 191 f., weist darauf hin, dass sich in der rechtspolitischen Praxis nicht mit individuellen Zahlungsbereitschaften argumentieren lasse und deshalb faktisch der Kaldor-Hicks-Test doch nur auf Basis kardinaler Nutzenmessung und interpersoneller Vergleiche angewandt werden könne; s. zum Messproblem auch Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 62 f. 14 Schwalbe, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 60. 15 Überblick bei Feldman, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2 (1998/2001), S. 417, 418–421.
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II. Grundlagen
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so stehe jeder Betroffene nach einem gewissen Zeitraum besser da als ohne die Anwendung des Kriteriums.16 Angesichts des potentiell großen Ausmaßes individueller Benachteiligungen, des unbestimmten Zeithorizonts einer Kompensation und des menschlichen Bedürfnisses nach individueller, auf den Einzelfall bezogener Gerechtigkeit ist allerdings keineswegs ausgemacht, dass das Kaldor-Hicks-Kriterium als Sozialwahlregel aufgrund der Perspektive einer Generalkompensation allgemeine Zustimmung erfahren würde.17 In der Ökonomik werden verschiedene Effizienzbegriffe unterschieden.18 Wenn im Folgenden un- 5 spezifisch von ökonomischer „Effizienz“ die Rede ist, bezieht sich dies auf Allokationseffizienz: Produktionsfaktoren sind danach so einzusetzen, dass der mit ihnen erzielte Nutzen maximiert und ein optimales Wohlfahrtsergebnis erzielt wird. Den Nachfragern am Markt sollen Güter in Qualität und Quantität entsprechend ihren Bedürfnissen zur Verfügung stehen. Ein Optimum an Allokationseffizienz wird modellhaft durch ein statisches Gleichgewicht beschrieben, bei dem die Grenzkosten der Produktion dem Grenznutzen der Nachfrager entsprechen.19 In diesem Zustand wird die volkswirtschaftliche Rente als Summe aus Konsumenten- und Produzentenrente maximiert. Davon zu unterscheiden ist der engere Blickwinkel der „Produktionseffizienz“ (oder auch „Inputeffizienz“), bei der die Verteilung der Konsumgüter vernachlässigt wird. Ihre Optimierung setzt voraus, dass für die Herstellung eines Gutes in einer Produktionseinheit bei gegebener Technologie ein möglichst geringes Maß an Produktionsfaktoren („Inputs“) verwendet wird. Von Bedeutung ist schließlich auch die sog. „dynamische Effizienz“ als Maß für die Innovationskraft eines Wirtschaftsprozesses. Für die Wohlfahrtsökonomik steht regelmäßig die Allokationseffizienz im Vordergrund. Dies hat seinen Grund vor allem darin, dass die Mikroökonomik zwar über eine ausgefeilte statische Theorie verfügt, es ihr aber an einer allgemein anerkannten Innovationstheorie mangelt.20 Es fehlen deshalb operable Mechanismen, statische und dynamische Effizienzvor- und -nachteile gegeneinander abzuwägen.21 Im Allgemeinen gilt deshalb aus ökonomischer Sicht Allokationseffizienz als aussagekräftiges Maß für die soziale Wohlfahrt.
2. Posners „everyday pragmatism“ Inwieweit der „ökonomischen Analyse“ eine überzeugende „Effizienzethik“ basie- 6 rend auf konsenstheoretischen Ansätzen zugrunde liegt, bleibt nach dem Gesagten
16 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 22 f. 17 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 67 f. Eingehend zu Einwänden gegen verschiedene Ansätze konsenstheoretischer Rechtfertigung des Kaldor-Hicks-Kriteriums Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 234–264. 18 S. für einen Überblick Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie (2006), S. 3–12; Schwalbe, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 43– 68. 19 Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 16.2, S. 292 f. 20 S. hierzu Schwalbe, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 67. 21 S. etwa das Problem der Optimierung der Patentlaufzeiten aus wohlfahrtökonomischer Sicht, Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 25.5, S. 467 f.
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zweifelhaft. Posner als der vielleicht markanteste Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts sieht mittlerweile ausdrücklich davon ab, Wohlfahrtsmaximierung und ökonomische Effizienz als Zwecke des Rechts ethisch zu fundieren und hat sich auf die Position eines „everyday pragmatism“22 bzw. „empirischen Pragmatismus“23 zurückgezogen:24 Der Erfolg und die Überlegenheit des wirtschaftlichen und rechtlichen Systems nach US-amerikanischem Vorbild – also: freie Marktwirtschaft, Gewährung individueller Freiheiten, Common Law – sei evident. Dessen immanente Rationalität offenbare sich durch die ökonomische Analyse und rechtfertige damit auch deren normativen Anspruch.25
3. Kritik folgenorientierter Denkweise (Hayek) 7 Ökonomische Analyse des Rechts basierend auf der neoklassischen Wohlfahrtsöko-
nomik argumentiert folgenorientiert: Maßgeblich für ihr Urteil sind die Folgen einer Rechtsregel für den Wohlstand der Gesellschaft. In der ideengeschichtlichen Tradition Hayeks wird dagegen bestritten, dass ein Regelgeber oder -interpret Rechtsnormen am Ziele der Wohlfahrtsmaximierung ausrichten und damit sein Handeln legitimieren könne. Kosten-Nutzen-Analysen seien nur auf individueller Ebene möglich. Eine Förderung der sozialen Wohlfahrt könne sich nicht als Ergebnis einer exakten Folgenabwägung einstellen, sondern nur als nicht planbare Folge des Wirkens von Marktund Wettbewerbskräften.26 8 Offen bleibt dabei allerdings, nach welchen inhaltlichen Kriterien der rechtliche Rahmen für ökonomisches Handeln ausgestaltet werden soll. Ein Verweis auf die Wettbewerbsfreiheit allein vermag sie nicht zu beantworten:27 Indem ein Regelgeber etwa die Preisbindung zweiter Hand erlaubt oder verbietet, entscheidet er darüber, der Wettbewerbsfreiheit des Produzenten oder der des Vertriebshändlers Vorrang einzuräumen.28
22 Posner, Law, Pragmatism, and Democracy (2003), S. 49–56. 23 Posner, Overcoming Law (1995), S. 5. 24 Siehe im Überblick zum Wandel Posners Position hin zum „Rückzug in den Pragmatismus“ Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 205–212. 25 Posner, The Problems of Jurisprudence (1990), S. 382–387. 26 Mestmäcker, A Legal Theory without Law, Posner v. Hayek on Economic Analysis of Law (2007), S. 33 f. 27 Ackermann, JZ 2008, 139, 140. 28 Eine Entscheidung nach dem Kriterium ökonomischer Effizienz liegt hier nahe. S. zu diesem und anderen Beispielen notwendiger Regulierungsentscheidungen im Kartellrecht von Weizsäcker, WuW 2007, 1078–1084. Gegen den Vorwurf, Wettbewerbsfreiheit führe zu einer Leerformel s. wiederum Mestmäcker, ORDO 59 (2008), 185, 195–206.
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4. Ausdifferenzierung des ökonomischen Ansatzes a) Neue Institutionenökonomik Die „Neue Institutionenökonomik“ integriert die Informations- und die Transaktions- 9 ökonomik und hebt die Bedeutung von Verfügungsrechten hervor. Insoweit versteht sie sich als alternativer Ansatz zur neoklassischen ökonomischen Theorie, deren Modelle Transaktionskosten typischerweise vernachlässigen. Wie diese bedient sie sich aber im Ausgangspunkt des sog. ökonomischen Paradigmas, d. h. sie geht von Ressourcenknappheit aus, nimmt eigennütziges Rationalverhalten an29 und betrachtet als handelnden Akteur das Individuum mit seinen Präferenzen und Interessen (methodologischer Individualismus). Die Bedingungen, welche die reale Marktgestaltung, den Ressourceneinsatz und die Kosten von Transaktionen bestimmen, werden als „Institutionen“ begriffen und untersucht wird, „welches institutionelle Arrangement […] ‚rational‘ oder ökonomisch vorzuziehen ist“.30 Da auch Rechtsnormen, insbesondere solche, die das Marktverhalten betreffen, als institutionelle Gegebenheiten zu verstehen sind, sollen sie darauf ausgerichtet sein, Ineffizienzen durch Transaktionskosten, Informationsasymmetrien, Unternehmenskooperationen etc. gering zu halten. Ein wichtiger Unterschied gegenüber wohlfahrtstheoretischen Ansätzen besteht 10 darin, dass die Informations- und Transaktionskostenökonomik nicht das ganze System der Volkswirtschaft in den Blick nimmt, sondern einzelne Märkte bzw. soziale Transaktionen betrachtet. Dies muss sich nicht zwangsläufig auf die normative Ausrichtung des Forschungsansatzes auswirken: Die modellhafte Einbeziehung etwa von Informationsasymmetrien und Transaktionskosten hindert nicht, Allokationseffizienz und Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt als Ziel eines funktionierenden Marktes zu begreifen. Indes verzichtet die „Neue Institutionenökonomik“ in ihrer normativen Ausprägung im Gegensatz zur neoklassischen Wohlfahrtstheorie auf Allokationseffizienz und die Optimierung der sozialen Wohlfahrt als Zielsetzungen und kappt damit die utilitaristischen Wurzeln. Stattdessen soll auf einen „normativen Individualismus“ (Buchanan) abzustellen sein: Maßgeblich sei danach, Regeln des Zusammenlebens zu finden, auf die sich „individuelle Akteure in freier Entscheidung einigen können, wenn sie jeweils nicht wissen, in welcher konkreten Situation sie sind (Schleier des Nichtwissens)“.31 Es sollen dafür nicht die Gewinne der Gewinner mit den Verlusten der Verlierer abzuwägen sein, sondern es ist die Frage zu beantworten, ob ein individueller Akteur einem institutionellen Arrangement auch dann zustimmen
29 Diese Annahme wird allerdings eingeschränkt, s. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts (1997), S. 12–21. 30 Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 319. 31 Kirchner, 2. Auflage dieses Bandes, § 5 Rn. 55. Überblick zur Etablierung des normativen Individualismus als methodischen Grundsatz durch Buchanan bei Pies, Normative Institutionenökonomik (1993), S. 130–138 mwN. Franck
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würde, wenn er möglicherweise zu den Verlierern gehörte. Maßgeblich ist damit eine individuelle Abwägung zwischen potentiellen Gewinnen und Verlusten.
b) Behavioural Law and Economics 11 Wohlfahrtsanalysen auf der Grundlage neoklassischer Modelle, erweitert um die
Transaktionskosten- und Informationstheorie, unterstellen den handelnden Individuen stabile Präferenzen und rationales, eigennütziges Verhalten. Forschungsergebnisse der Kognitionspsychologie und der experimentellen Ökonomik offenbaren demgegenüber vielfältige Phänomene systematisch irrationalen Verhaltens, insbesondere bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung und im Entscheidungsverhalten.32 Als „Behavioural Law & Economics“ hat sich ein Forschungsansatz etabliert, der sich den Auswirkungen des empirischen Befunds eingeschränkt rationalen Verhaltens auf die ökonomische Theorie des Rechts widmet.33 12 Unter Mikroökonomen herrscht Skepsis, ob und inwieweit es notwendig und möglich sei, kognitionspsychologische Erkenntnisse in neoklassische und spieltheoretische Modelle zu integrieren.34 Vorgebracht wird vor allem, dass Märkten eine Tendenz inhärent sei, Rationalverhalten zu honorieren und irrationale Verhaltensweisen zu bestrafen. Es seien deshalb die rational handelnden Marktakteure, die Preise, Mengen und andere für Marktmechanismen wichtige Parameter entscheidend beeinflussen. Zudem werden die Einsichten der Verhaltensökonomik infrage gestellt: Nicht wenige Fälle angeblicher „Verhaltensanomalien“ lassen sich auf einen zweiten Blick auch als rational und eigennützig erklären. Die Aussagekraft der durch Laborexperimente gewonnenen Ergebnisse für individuelles Handeln in der Realität sei zweifelhaft. Der Verhaltensökonomik fehle es an einem eigenständigen operationablen Leitbild menschlichen Verhaltens.35 Deshalb hat dieser Ansatz zwar einerseits viel Beachtung gefunden und sind die auf seiner Grundlage gewonnenen Einsichten auch relevant, um die Wirkung von Rechtsnormen abschätzen zu können. Andererseits hat aber die Verhaltensökonomik bislang das Theoriegebäude neoklassischer Wohlfahrtsökonomik – einschließlich des Modells vom Homo oeconomicus als tragenden Pfeiler – nicht nachhaltig erschüttert.36 32 S. für eine Zusammenfassung zahlreicher illustrativer Forschungsergebnisse Eisenberg, 47 Stan. L. Rev. (1995), 211, 216–218 mwN. Eine populärwissenschaftliche Darstellung findet sich bei Thaler/Sunstein, Nudge, Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness (2008). 33 S. für eine Einführung Jolls/Sunstein/Thaler, in: Sunstein (Hrsg.), Behavioral Law & Economics (2000), S. 13–58; Eidenmüller, JZ 2005, 216–224; Englerth, in: Engel u. a. (Hrsg.), Recht und Verhalten (2007), S. 60–130. 34 Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 31.5, S. 597 f. 35 Überblick mwN bei Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 110–116. 36 Und mithin auch nicht die ökonomische Analyse des Rechts, insoweit sie hierauf aufbaut, s. für eine Verteidigung des traditionellen Law and Economics-Ansatzes im Angesicht verhaltenswissenschaftlicher Herausforderungen etwa Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551–1575.
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c) Economics of Happiness Vertreter der „Economics of Happiness“ propagieren seit einigen Jahren ein Comeback 13 kardinaler Nutzenmessung: Empirische Methoden der „Glücksforschung“ sollen es ermöglichen, subjektives Wohlbefinden von Individuen zu messen. Die Ergebnisse bildeten praktikable Näherungswerte im Hinblick auf einen individuellen und in der Summe auch kollektiven „Nutzen“.37 Auf Basis dieses Forschungsansatzes scheint deshalb eine Rückbesinnung der Wohlfahrtsökonomik auf den Utilitarismus diskutabel.38 Allerdings sieht sich die empirische Erhebung der Lebenszufriedenheit (etwa: „Wie zufrieden sind Sie alles in allem gegenwärtig mit ihrem Leben auf einer Skala von 0 bis 10?“) mit nicht unerheblichen Messproblemen konfrontiert. Da befragte Personen eine vorgegebene Skala nicht einheitlich interpretieren, sind Daten intersubjektiv nicht vergleichbar.39 Die Glücksforschung kann deshalb zwar beispielsweise die Aussage treffen, dass höhere Einkommensungleichheit in einer Gesellschaft zu einer im Durchschnitt geringeren Lebenszufriedenheit führt.40 Ein höheres (geringeres) Aggregat an Lebenszufriedenheit lässt aber nicht den Schluss zu, dass beispielsweise eine bestimmte Umverteilungsmaßnahme wie die Bereitstellung eines öffentlichen Gutes aus Steuermitteln die Betroffenen im Ganzen zufriedener (unzufriedener) hinterlässt. Der Glücksforschung lassen sich verschiedentlich Handlungsempfehlungen an 14 Gesetzgeber entnehmen: Resultiert aus sozialen Kontakten und gemeinschaftlichen Erlebnissen eine höhere Lebenszufriedenheit, dann mag dies legitimieren, dass Vereine und gemeinnützige Organisationen steuerlich gefördert werden.41 Für die Überzeugungskraft der Vorstellung, dass dem Recht eine wohlfahrtsfördernde Funktion zukommt, indem es die Funktionsfähigkeit von Markt und Wettbewerb absichert, erscheint insbesondere die durch die neuere Forschung erfolgte Relativierung des sog. Easterlin-Paradoxons42 maßgeblich: Zwar trifft es zu, dass relative Positionen etwa im Hinblick auf das Einkommen die Lebenszufriedenheit wesentlich beeinflussen. Doch verliert erstens die absolute Position ihre Bedeutung für die Lebenszufriedenheit des Einzelnen erst ab einer bestimmten Einkommensschwelle, die letztlich nur von einem kleinen Teil an Personen überschritten wird. Zweitens tragen absolute Wohlfahrtsgewinne – verstanden in ihrer herkömmlichen Deutung als „Wirtschaftswachstum“, d. h. Steigerung des Bruttoinlandsprodukts – zu einer durchgehend höheren Lebens
37 Frey/Stutzer, Happiness & Economics (2002), S. 20–25. 38 Vgl. den insoweit programmatischen Titel bei Kahneman/Wakker/Sarin, QJE 112 (1997), 375–405: „Back to Bentham? Explorations of Experienced Utility“. 39 Weimann/Knabe/Schöb, Geld macht doch glücklich (2012), S. 150 f., 157. 40 Alesina/Di Tella/McCulloch, Journal of Public Economics 88 (2004), 2009–2042. 41 Weimann/Knabe/Schöb, Geld macht doch glücklich (2012), S. 52–54 mwN. 42 Easterlin, in: David/Reder (Hrsg.), Nations and households in economic growth (1974), 90–125, fand, dass nur relative Einkommensverbesserungen auch die Lebenszufriedenheit erhöhen.
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zufriedenheit bei, weil sie die allgemeinen Lebensbedingungen verbessern. Insbesondere ermöglichen sie, öffentliche Güter bereitzustellen.43
5. Zwischenfazit 15 Eine auf Förderung der sozialen Wohlfahrt (gemessen am Kaldor-Hicks-Kriterium) ab-
zielende ökonomische Analyse des Rechts ruht nicht a priori auf einem durch allgemeine, insbesondere moralphilosophische Gerechtigkeitsüberlegungen abgesicherten Fundament. Dies delegitimiert nicht schlechthin ihre Aussagekraft, sondern allenfalls einen Absolutheitsanspruch, den aber auch ihre Protagonisten nicht formulieren.44 Es offenbart sich hierin auch, dass es sinnvoll ist, nach alternativen Konzepten vorrechtlicher Legitimation zu suchen, wie sie etwa von Vertretern der „Neuen Institutionenökonomik“ mit dem Ansatz des „normativen Individualismus“ vorgelegt worden sind. 16 Ergebnisse der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik beruhen auf Annahmen über menschliches Verhalten, die teilweise durch empirische und insbesondere auch experimentelle Untersuchungen widerlegt worden sind. Deshalb kann es angezeigt sein, diese verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse bei der Normsetzung und -anwendung zu berücksichtigen. Andererseits können im Recht verankerte Wertungen normative Verhaltensannahmen rechtfertigen. Deutlich wird, dass die Berücksichtigung ökonomischer Erkenntnisse bei Rechtssetzung und -anwendung nicht per se legitimiert ist, sondern einer normativen Stütze im Einzelfall bedarf. Das Recht selbst kann darüber befinden, ob und welche ökonomischen Argumente methodisch legitimiert sind und welches Gewicht ihnen zukommen soll.
III. Ausgestaltung der Rechtsregeln für den Binnenmarkt 1. Wirtschaftsverfassung und Wohlfahrtsgewinne durch die Integration der mitgliedstaatlichen Märkte 17 Steht es generell im Ermessen eines Regelgebers, welchen Stellenwert er ökonomi-
schen Einsichten über die Wirkungen von Rechtsnormen beimisst, so handelt er doch jedenfalls im Wirkungsfeld höherrangiger, insbesondere verfassungsrechtlicher und im Kontext der EU also primärrechtlicher Vorgaben. Aus dem Grundgesetz sind im
43 Weimann/Knabe/Schöb, Geld macht doch glücklich (2012), S. 117–133 mwN. 44 S. etwa Posner, Economic Analysis of Law, S. 35: „Evidently there is more to justice than economics, and this is a point the reader should keep in mind in evaluating normative statements in this book“; s.a. Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. XXXIX f.
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nationalen Kontext keine Parameter für die hier interessierenden Fragen abzuleiten, soweit man dem Diktum des Bundesverfassungsgerichts von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes45 folgt: Wenn das Grundgesetz die Wirtschaftsordnung nicht auf eine Marktwirtschaft festlegt, dann kann der Gesetzgeber erst recht nicht verpflichtet sein, die Rechts- und Wirtschaftsordnung auf ein Effizienzziel hin auszurichten.46 Demgegenüber prägt nach Art. 119 AEUV47 der „Grundsatz einer offenen Markt- 18 wirtschaft mit freiem Wettbewerb“ die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union. Bemerkenswert ist, dass in Art. 120 und 127 AEUV diese wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundaussage im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungspolitik mit dem Ziel der Allokationseffizienz verknüpft wird: „Die Mitgliedstaaten und die Union“ bzw. „das ESZB [Europäische System der Zentralbanken]“ handeln „im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird […]“. Dieses Ordnungsprinzip verdichtet sich zusammen mit den konstitutionalisierten Freiheitsgewährleistungen durch die Grundfreiheiten und der Gewährleistung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs48 zu einer marktwirtschaftlich und freiheitlich geprägten Wirtschaftsverfassung. Im Lichte dieser Systementscheidung und Funktionsgarantie sind alle
45 BVerfGE 4, 7, 17 f.; 7, 377, 400; 50, 290, 336 ff.; hierzu Maunz/Dürig-Di Fabio, Grundgesetz (Stand der Bearbeitung: Juli 2020), Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 76, 87–90; Canaris, FS Lerche (1993), S. 878–880. 46 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 443–445. 47 Im Zuge der Reformen durch den Vertrag von Lissabon steht dieses Bekenntnis zur „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ als Grundsatz der Wirtschafts- und Währungspolitik damit nicht mehr an herausgehobener Stelle, s. hierzu v. Bogdandy/Bast-Drexl, S. 916–918. 48 Nach den Reformen durch den Vertrag von Lissabon ist das „System unverfälschten Wettbewerbs“ nicht im Text von Art. 3 EUV verankert. Dafür wird im Protokoll (Nr. 27) „Über den Binnenmarkt und den Wettbewerb“ festgelegt, „dass der Binnenmarkt, wie er in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Damit wird der (verfassungs-)rechtliche Stellenwert des Schutzes des Wettbewerbs nicht verändert, siehe BGHZ 188, 326 Rn. 33: „An der Verbindlichkeit des Wettbewerbsprinzips für die Union hat sich nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nichts geändert“. Die Verlagerung in ein Protokoll hat aber eine rechtspolitisch-symbolische Bedeutung, die (wohl) auf eine Initiative des französischen Präsidenten Sarkozy zurückgeht, nach dessen Verständnis Wettbewerb kein Ziel sei, sondern (allenfalls) ein Mittel, Woehrling, in: Schwarze/Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, 272, 273; v. Bogdandy/Bast-Drexl, S. 907–916; Monti, in: Heide-Jorgensen/Bergquist/ Neergaard/Poulsen (Hrsg.), Aims and Values in Competition Law (2013) S. 27, 31 (mit Fn. 29) und 44. Kritikwürdig erscheint dies insbesondere aus Sicht derer, die in der Tradition Hayeks nicht-konsequentalistisch argumentieren, s. etwa Mestmäcker, ORDO 59 (2008), 185, 198. Tatsächlich hatte der EuGH die Schaffung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG ausdrücklich als „Ziel“ bezeichnet: EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08, Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid v Asociación de Usuarios de Servicios Bancarios (Ausbanc), EU:C:2010:309 Rn. 47. Siehe aber Monti, a. a. O., S. 31 und 38–44, wonach es sich stets (lediglich) um eine Aufgabenzuweisung an die Union gehandelt habe.
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wirtschaftspolitisch relevanten Normen des Primär- und Sekundärrechts auszulegen.49 19 Relativiert werden diese wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundlagen durch den in Art. 3 Abs. 3 EUV enthaltenen Hinweis auf eine „soziale“ Marktwirtschaft sowie durch konkurrierende Zielvorgaben etwa im Rahmen der Sozial-, Kultur-, Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltpolitik, die durch die Vertragsreformen beginnend mit dem Vertrag von Maastricht kontinuierlich an Bedeutung gewonnen haben und nicht unmittelbar mit Effizienzüberlegungen verknüpft sind. Zudem setzen Verfassungsvorgaben – also insbesondere Grundrechte, aber auch Verfassungsprinzipien wie das Sozialstaatsprinzip – dem Regelgeber Grenzen bei der Berücksichtigung von Effizienzüberlegungen.50 Das gilt auf Europäischer Ebene grundsätzlich gleichermaßen wie für das nationale Recht. Analysiert man die (teils) konkurrierenden und kollidierenden Zielsetzungen im Unionsrecht anhand der hierfür bereit gehaltenen Kompetenzen, zeigt sich freilich immerhin, dass den marktintegrativen und damit „ökonomischen“ Zielen auch nach den Vertragsänderungen von Maastricht bis Lissabon ein Vorrang zukommt gegenüber „nicht wirtschaftlichen“, insbesondere also „sozialen“ Zielen.51 In diesem Sinne formulierte etwa Generalanwalt Szpunar, „die Vertragsbestimmungen über den Binnenmarkt […] [bilden] noch immer den Kern des Rechtssystems der Union und ihrer Wirtschaftsverfassung.“52 20 Diese Überlegungen lassen sich für die unionale Rechtsetzung zur Integration des Binnenmarkts präzisieren. Das Projekt des europäischen Binnenmarktes gründet auf Ideen klassischer Freihandelstheorie (Smith, Ricardo),53 die zu einer allgemeinen (ökonomischen) Theorie der Marktintegration fortentwickelt worden sind.54 Kernanliegen der Binnenmarktintegration ist es, die soziale Wohlfahrt in der Europäischen
49 In diesem Sinne weisen etwa Generalanwälte bei Auslegungsfragen, welche die Wettbewerbsregeln der Union tangieren, regelmäßig auf das in den Verträgen verankerte Ziel einer offenen und wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft hin. S. etwa GA Kokott, Schlussanträge v. 14.4.2011 – Rs. C-109/10 P Solvay/Kommission, EU:C:2011:256 Fn. 102; GA Sharpston, Schlussanträge v. 10.10.2017 – Rs. C-363/ 16 Kommission/Griechenland, EU:C:2017:746 Tz. 84. S. a. v. Bogdandy/Bast-Hatje, S. 811. 50 Hierzu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 445–449. 51 Monti, in: Heide-Jorgensen/Bergquist/Neergaard/Poulsen (Hrsg.), Aims and Values in Competition Law (2013) S. 27, 38: „Given the EU’s continued limited competences over the social aspect of the market, the social market economy that may be achieved with reference to the Treaty’s allocation of power is closer to the ordoliberal model [i.e. social justice should primarily be achieved through functioning markets] than to the European model [i.e. the state should be involved in achieving social justice by non-market means]!”; s. a. Basedow, FS Buxbaum (2000), S. 21–26; Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 871– 874. 52 GA Szpunar, Schlussanträge v. 2.6.2016 – Rs. C-148/15 Deutsche Parkinson Vereinigung, EU: C:2016:394 Tz. 1. 53 S. hierzu Irwin, Against the Tide: An Intellectual History of Free Trade (1996). 54 S. Buiten, Harmonisation and the EU Internal Market, S. 61–69. Franck
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Union zu steigern.55 Beredtes Zeugnis hierfür legt der Spaak-Bericht56 vom April 1956 ab, der das Konzept der wirtschaftlichen Integration vorbestimmte, wie es schließlich mit den Römischen Verträgen 1957 beschlossen wurde.57 Im Spaak-Bericht wird der Gemeinsame Markt als Mittel beschrieben, um einen Wirtschaftsraum aufzubauen, „in dem die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik geschaffen werden, die – gestützt auf die Einheit mächtiger Produktionskräfte – eine fortlaufende wirtschaftliche Ausweitung, größere Sicherheit gegen Rückschläge, eine beschleunigte Hebung des Lebensstandards und die Entwicklung harmonischer Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten zum Ziele haben wird.“58 Durch den integrierten Binnenmarkt soll der Wettbewerbsdruck in der Union erhöht werden. Hiervon erhofften sich die Konstrukteure des Gemeinsamen Marktes eine Steigerung ökonomischer Effizienz und mehr Wohlstand.59 Der Unionsgesetzgeber ist deshalb bei der Rechtsetzung für den Binnenmarkt60 dazu aufgerufen, sich bei der Regulierung auch61 von Effizienzgesichtspunkten leiten zu lassen. Denn das Ziel der Binnenmarktintegration wird
55 Hertig, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 331, 333: „[T]he Treaty of Rome aims at efficiency gains“; vgl. auch v. Bar/Beale/Clive/Schulte-Noelke, in: v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Full Edition, Bd. 1, S. 9 f.: „The most obvious way in which the welfare of the citizens and businesses of Europe can be promoted by the DCFR is the promotion of the smooth functioning of the internal market.“ 56 Regierungsausschuss, eingesetzt von der Konferenz von Messina, Bericht der Delegationsleiter an die Außenminister, MAE 120 d/56 (korr.), Brüssel, den 21. April 1956. 57 Einer Kommission unter Vorsitz des belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak war die Aufgabe übertragen worden, mögliche Wege einer weiteren wirtschaftlichen Integration zu prüfen. Dies war notwendig geworden, nachdem 1955 die Konferenz von Messina die Unstimmigkeiten über diese Frage unter den sechs Mitgliedstaaten der Montanunion deutlich gemacht hatte. Der Spaak-Bericht, der empfahl, eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und eine Europäische Atomgemeinschaft zu gründen, wurde im Mai 1956 von den Außenministern auf der Konferenz von Venedig angenommen und bildete die Grundlage für die Verhandlungen über die Vertragstexte. Zu Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Spaak-Berichtes Küsters, Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1982), S. 135–268. 58 Spaak-Bericht (o. Fn. 56 f.), Erster Teil, Einl. S. 15. 59 Vgl. Molle, The Economics of European Integration, S. 9 ff., 35 ff., 67. 60 Die Mehrzahl der privat- und wirtschaftsrechtlichen Normen im Unionsrecht ist der Marktintegration verpflichtet. Das gilt für Regelungen, die auf der Grundlage der Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 114 AEUV und 115 AEUV erlassen wurden sowie für die gesellschaftsrechtlichen Rechtsakte, die sich auf Art. 54 AEUV stützen. Zudem wird auch eine Hauptfunktion der Wettbewerbspolitik darin gesehen, die Integration des Binnenmarktes zu fördern und abzusichern. Nicht unmittelbar mit der Binnenmarktintegration verknüpft sind die arbeitsrechtlichen Regelungen auf Basis des Art. 153 AEUV und Verbraucherschutzvorschriften auf der Grundlage von Art. 169 Abs. 2 lit. b), Abs. 3 AEUV. Als Korrelat zu Freihandel und Freizügigkeit haben freilich auch diese Normen einen Bezug zum Binnenmarkt. Anders als noch Art. 65 EG, der zusammen mit Art. 61 lit. c) EG die Kompetenz vor allem für Kollisions- und Verfahrensrecht begründet hat, verweist Art. 81 AEUV nur als Beispiel auf die Erforderlichkeit der Rechtsetzung für den Binnenmarkt, setzt diese aber nicht mehr als notwendig voraus, um die Kompetenz zu begründen. 61 Siehe sogleich Rn. 23.
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verfehlt, wenn Wohlfahrtsnachteile aufgrund inhaltlich ineffizienter Regelungen überwiegen gegenüber den Wohlfahrtsgewinnen durch Harmonisierung. 21 Bei marktordnenden Eingriffen ist deshalb etwa im Vorhinein zu klären, ob tatsächlich ein regulierungsbedürftiges Problem vorliegt. Hierfür bedarf es einer Anschauung von der Wirkung bestehender Marktmechanismen. Ein kollektives Handlungsproblem mag etwa der Grund sein, warum sich eine effiziente Lösung nicht ohne gesetzgeberische Intervention durchsetzt.62 Zum anderen muss geprüft werden, ob die vorgesehenen Regelungsinstrumente geeignet sind, den definierten Marktunvollkommenheiten auf effiziente Weise entgegenzuwirken.63 Hierbei ist die Gefahr zu bedenken, dass eine Überregulierung kontraintentional zur Schutzrichtung wirken kann. Mit Hilfe theoretischer und empirischer ökonomischer Argumente lässt sich dieses Risiko insbesondere bei verbraucherschützender Gesetzgebung beurteilen.64 22 Die Notwendigkeit von Effizienzüberlegungen setzt sich auf der Ebene der Rechtsanwendung fort. So betonte Generalanwalt Geelhoed im Hinblick auf eine Auslegungsfrage zur Betriebsübergangsrichtlinie:65 „Die Richtlinie stützt sich auf Artikel 100 EG-Vertrag [jetzt Art. 115 AEUV]; aus diesem Grund dürfen Markt- und Wettbewerbserwägungen nicht aus den Augen verloren werden.“66 Die von ihm favorisierte enge Auslegung des Vorliegens eines „Betriebsübergangs“ begründete der Generalanwalt in der Folge wesentlich mit ökonomischen Erwägungen: „Unter Marktgesichtspunkten wäre eine zu weite Auffassung unverantwortlich und müsste zu irreführenden und unvorhersehbaren Folgen in einer dynamischen wirtschaftlichen Wirklichkeit führen.“67
62 Siehe etwa Franck/Massari, WM 2009, 1117, 1125, zur Frage, warum gesetzlich vorgegebene nutzerfreundliche Haftungs- und Beweislastregeln im Zahlungsverkehr notwendig sind, obwohl nach dem vorliegenden Datenmaterial auch die Anbieter hiervon profitieren und deshalb auf den ersten Blick unklar erscheint, warum sich die effizientere Lösung nicht ohne Intervention am Markt durchsetzt. 63 Zur Regelung von Informationsdefiziten Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 218–223. 64 S. etwa van den Bergh, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht (1997), S. 77–106; Kirstein/Schäfer, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 369–405; Schillig, ERPL 17 (2009), 886, 889–892. Ein instruktives Beispiel für einen Fall, bei dem die Europäische Kommission eben dies versäumt hat, bildet der ursprüngliche Vorschlag zur Reform des Verbraucherkreditrechts aus dem Jahre 2002 (KOM [2002] 443 endg, ABl. 2002 C 331 E/200). Eine Überregulierung des Kreditmarktes wirkt letztlich kontraproduktiv für die Wohlfahrt der Verbraucher, die Darlehen nachfragen und deren Interessen eigentlich geschützt werden sollen, hierzu Franck, ZBB 2003, 334–342. 65 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26. 66 GA Geelhoed, Schlussanträge v. 27.9.2001 – Rs. C-51/00 Temco, EU:C:2001:496 Tz. 40. 67 GA Geelhoed, Schlussanträge v. 27.9.2001 – Rs. C-51/00 Temco, EU:C:2001:496 Tz. 67. Franck
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2. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz Die Eignung einer Maßnahme, Märkte zu integrieren und hierdurch Effizienzvorteile 23 zu kreieren, wirkt kompetenzbegründend nach dem Art. 114 AEUV zu Grunde liegenden Konzept.68 Ob eine Harmonisierungsmaßnahme, die typischerweise ein Mehr an (einheitlicher) Regulierung mit sich bringt, auch tatsächlich Wohlfahrtsgewinne verspricht, muss deshalb ein wichtiges Kriterium bei der Frage sein, ob die Union sich auf die Binnenmarktkompetenz stützen kann.69 Allerdings bestimmt das Ziel der Förderung der Wohlfahrt im Binnenmarkt – obgleich hierin der zentrale kompetenzbegründende Aspekt nach Art. 114 AEUV liegt – nicht allein das erlaubte oder geforderte Regulierungsniveau. Dies wird insbesondere an Art. 114 Abs. 3 AEUV deutlich. Dem Gesetzgeber bleibt bei der Frage, welche Maßnahmen er als geeignet für die Binnenmarktintegration ansieht und welches Regulierungsniveau er dabei anstrebt, ein Ermessensspielraum, in dessen Rahmen er sonstige Regelungsziele wie Verbraucherschutz, Umweltschutz usw. berücksichtigen darf.70 Die Auswirkung einer Harmonisierungsmaßnahme auf die soziale Wohlfahrt ist 24 damit zunächst jedenfalls ein wichtiger Prüfstein, um die rechtspolitische Überzeugungskraft einer gesetzgeberischen Initiative bewerten zu können, die sich auf Art. 114 AEUV stützt. Darüber hinaus liefert die Analyse erwartbarer Wohlfahrtswirkungen durch die Binnenmarktintegration, besehen auch im Lichte denkbarer Vorund Nachteile dezentraler und einheitlicher Regelsetzung,71 gewichtige Argumente für die Anwendung kompetenzbegrenzender Regeln wie dem Subsidiaritätsgrundsatz gemäß Art. 5 Abs. 3 EUV.72 Insbesondere muss gelten, dass soweit Wohlfahrtsgewinne nicht zu erwarten sind und für die sonstigen Ziele einer Maßnahme eine Rechtsharmonisierung explizit ausgeschlossen ist, eine Binnenmarktkompetenz nicht be-
68 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. 69 Deutlich in diesem Sinne etwa der Evaluationsbericht der Europäischen Kommission zur Handelsvertreter-Richtlinie 86/653/EEC, in dem die Analyse der „Effizienz“ der Regelung einen zentralen Baustein bildet und zwar mit der Schlussfolgerung „[…] the costs arising from the Directive are limited and affordable. […] The Directive creates significant operational and commercial benefits by facilitating cross-border activities. An analysis of the costs and benefits at the level of individual businesses, based on responses to the stakeholder consultation, shows that the benefits of the Directive generally outweigh its costs.” European Commission, 16.7.2015, SWD(2015) 146 final, Evaluation of the Council Directive on the Coordination of the Laws of the Member States Relating to the Self-Employed Commercial Agents (Directive 86/653/EEC) / REFIT Evaluation, S. 4. 70 Tatsächlich räumt der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung dem Unionsgesetzgeber bei der Ausübung seiner Kompetenz aus Art. 114 AEUV einen weiten Spielraum ein. S. neben dem Urteil zur (zweiten) Tabakwerberichtlinie (unten Fn. 76) etwa EuGH v. 8.6.2010 – Rs. C-58/08 Vodafone u. a., EU:C:2010:321 Rn. 36. 71 Dazu sogleich Rn. 29 ff. 72 Buiten, Harmonisation and the EU Internal Market, S. 26–29.
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gründet werden kann. Dies kann am Beispiel der Tabakwerberichtlinie73 verdeutlicht werden.74 Die Richtlinie beschränkt die Werbung für Tabakerzeugnisse in erheblichem Maße, sie verbietet insbesondere die Werbung in der Presse (Art. 3) sowie die Rundfunkwerbung (Art. 4).75 Eine Kompetenz des Unionsgesetzgebers hierfür erscheint zweifelhaft, weil die Richtlinie faktisch die Binnenmarktintegration allenfalls geringfügig verbessert. Sachlich ist sie vom Ziel des Gesundheitsschutzes dominiert. Damit umging der Gesetzgeber aber Art. 152 Abs. 4 lit. c) EG, wonach Rechtsharmonisierung zum Schutze und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit ausgeschlossen ist. Letzteres entspricht auch der Rechtslage nach den Reformen durch den Vertrag von Lissabon, wonach auf Unionsebene gem. Art. 168 AEUV lediglich Fördermaßnahmen zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung vor dem Tabakkonsum erlaubt sind, Harmonisierungsmaßnahmen aber ausgeschlossen bleiben. 25 Ökonomische Argumente können die Ansicht76 stützen, dass beispielsweise die Tabakwerberichtlinie nicht überzeugend auf Art. 114 AEUV gestützt werden konnte: Die Beschränkung der Tabakwerbung im von der Richtlinie erfassten Bereich lässt einerseits im Ganzen kaum Wohlfahrtsgewinne durch eine Förderung der Binnenmarktintegration erwarten. Zwar ist es denkbar, dass der freie Verkehr insbesondere von Zeitungen oder Zeitschriften durch unterschiedliche nationale Regelungen über die Tabakwerbung beschränkt wird. Doch sind die damit verbundenen Wohlfahrtsnachteile wohl eher gering, bedenkt man, dass bei Printmedien typischerweise auf Grund der Sprachbarrieren und ihres thematischen Zuschnitts nur ein geringer Bruchteil des Umsatzes durch grenzüberschreitenden Absatz erzielt wird. Erhebliche
73 Richtlinie 2003/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.5.2003 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, ABl. 2003 L 152/16. Zur Regulierung der Tabakwerbung siehe Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 95 f., 266–269. 74 Die gleichnamige Vorgängerrichtlinie 98/43/EG, ABl. 1998 L 213/9, die jegliche Absatzförderung von Tabakprodukten untersagte und die der europäische Gesetzgeber auch auf Art. 95 EG (jetzt Art. 114 AEUV) gestützt hatte, wurde vom EuGH wegen mangelnder Kompetenzgrundlage für nichtig erklärt, EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, EU:C:2000:544 LS 3. 75 Jede Form der audiovisuellen kommerziellen Kommunikation – also insbesondere die Fernsehwerbung – für Zigaretten und andere Tabakprodukte wird untersagt durch Art. 3e Abs. 1 lit. d) der Richtlinie 89/552/EWG des Rates v. 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. 1989 L 298/23, zuletzt geändert durch Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. 2007 L 332/27. 76 Eine Kompetenz des Unionsgesetzgebers verneinten etwa Dauses, EuZW 2001, 577; Görlitz, ZUM 2002, 97; ders., EuZW 2003, 485; Oppermann, ZUM 2001, 950; Schwarze, ZUM 2002, 89; Wägenbauer, EuZW 2001, 450; anders allerdings EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-380/03 Deutschland ./. Parlament und Rat, EU:C:2006:772 Rn. 17–98.
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Wohlfahrtsnachteile drohen andererseits dadurch, dass die Richtlinie dem Markt für Tabakprodukte mit der Presse- und Rundfunkwerbung ein zentrales wettbewerbsstrategisches und transparenzförderndes Instrument entzieht. Werbeverbote zementieren damit tendenziell die Marktstruktur und schränken mithin die Funktionsfähigkeit des Marktes ein. Die Tabakwerberichtlinie wirkt damit in einer Art und Weise, die dem intendierten Wirkungsmechanismus der Binnenmarktintegration entgegensteht. Man mag einwenden, dass die Beschränkung der Tabakwerbung zu einem Rück- 26 gang des Tabakkonsums führen werde und damit wiederum zu Wohlfahrtsgewinnen. Dafür spricht, dass der Konsum von Tabakprodukten gesundheitsschädlich, potentiell sogar lebensgefährlich ist und damit gesellschaftliche Kosten verursacht, weil Humankapital vernichtet wird und den sozialen Sicherungssystemen durch die Behandlungskosten und Beitragsausfälle hohe Kosten entstehen. Indes begründen Wohlfahrtsgewinne durch Gesundheitsschutz keine Kompetenz zur Rechtsharmonisierung auf der Grundlage des Art. 114 AEUV. Selbst wenn der Europäische Gesetzgeber Rechtsharmonisierung zum Zwecke des Gesund- 27 heitsschutzes betreiben dürfte, wäre er jedenfalls aufgerufen, alle marktkonformen Regulierungsmaßnahmen auszuschöpfen, bevor er auf ein umfassendes Tabakwerbeverbot zurückgreift. Durch Anti-Tabakkonsum-Kampagnen und durch die Etikettierungsvorschriften der Tabaketikettierungsrichtlinie wird bereits kontinuierlich auf die gesundheitlichen Risiken, die mit dem Rauchen verbunden sind, hingewiesen.77 Nichtraucher können durch Rauchverbote am Arbeitsplatz, in Restaurants, an öffentlichen Plätzen etc. geschützt werden. Den Schutz Minderjähriger können Vertriebsverbote und Werbebeschränkungen gewährleisten. Negative externe Effekte auf Grund der erhöhten Kosten für das Gesundheitswesen können durch die Tabaksteuer aufgefangen werden. Soweit dem Europäischen Gesetzgeber für derartige Maßnahmen die Kompetenz fehlt, muss er es den Mitgliedstaaten überlassen, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Zu bedenken sind schließlich auch die Grenzen der Wirkung von Werbebeschränkungen bzw. 28 sogar mögliche kontraintentionale Effekte, die erst bei ökonomischer Betrachtung verständlich werden. Eine empirische Studie zu verschiedenen gesetzgeberischen Initiativen gegen das Rauchen und insbesondere auch zum Advertising Ban, mit dem amerikanisches Bundesrecht 1971 die Radio- und Fernsehwerbung für Zigaretten verbot,78 hat einerseits gezeigt, dass die Werbung die Nachfrage nach Zigaretten nur gering beeinflusst und deshalb ein Werbeverbot auch nur einen statistisch fast irrelevanten Rückgang der Nachfrage verursachte. Andererseits ist aber die Nachfrage nach Zigaretten sehr preiselastisch. Da die Werbeverbote eine Kostenersparnis für die Produzenten bedeutete, ermöglichten sie ihnen, die Preise für Zigaretten zu senken. Dies erklärt,
77 Empirische Studien haben gezeigt, dass der Tabakkonsum gesenkt werden kann, klärt man über die Gesundheitsschäden des Rauchens auf, Schneider/Klein/Murphy, J. Law & Econ. 24 (1981), 575–612. Insbesondere wurde nachgewiesen, dass Werbespots gegen Zigaretten das Rauchen bei Teenagern signifikant reduzieren können, weil die Präferenzen in dieser Gruppe noch weniger stark ausgeprägt sind, Lewitt/Coate/Grossman, J. Law & Econ. 24 (1981), 545–569. 78 Schneider/Klein/Murphy, J. Law & Econ. 24 (1981), 575, 599. Franck
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warum der Advertising Ban nach dem in der Studie verwendeten Regressionsmodell zu einem Anstieg im Zigarettenkonsum führte. Sehr zweifelhaft ist deshalb, ob ein Werbeverbot tatsächlich ein geeignetes Mittel im „Kampf gegen den Tabakkonsum“ darstellt. Angesichts der hohen Preiselastizität der Nachfrage wäre eine Steuererhöhung jedenfalls ein effektiveres und wohl auch effizienteres Mittel.79
3. Zur Wahl der Regelungsebene („Economics of Federalism“) 80 29 In einem Mehrebenensystem – wie dem des Rechts in der Europäischen Union –
können ökonomische Überlegungen auch maßgeblich sein für die Wahl der Regelungsebene und des Regelungsinstruments. Dem Unionsgesetzgeber steht zur Förderung der Integration der Märkte nicht nur die Möglichkeit der Rechtsharmonisierung zur Verfügung. Der Verzicht auf eine Vereinheitlichung des Rechts stellt sich gerade aus ökonomischer Perspektive, nämlich der economics of federalism,81 als grundsätzliche Alternative dar. Denn die Möglichkeit dezentraler Regulierung verspricht ökonomische Vorteile gegenüber einem einheitlichen Recht. Im Vordergrund steht neben der Möglichkeit, heterogenen Präferenzen durch Rechtsvielfalt gerecht werden zu können, die Möglichkeit eines Wettbewerbs der Regulierungssysteme.82 Damit soll ein Mechanismus erhalten bleiben, der Innovation im Recht fördern kann. 30 Ist die Integration im Binnenmarkt als Instrument zu begreifen, das die wirtschaftliche Effizienz in der Europäischen Union fördern soll, so muss auch die Frage nach dem „Ob“ einer Rechtsharmonisierung auf den Prüfstand der ökonomischen Theorie gestellt werden.83 Zu bemerken sind in diesem Zusammenhang vor allem verschiedene Ansätze, die Marktintegration zu fördern, ohne die mitgliedstaatlichen
79 Van den Bergh, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht (1997), S. 97. Es deutet sich hier das Potential ökonomischer Erwägungen für die Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit an, s. hierzu im Hinblick auf die Prüfung von Grundrechtseingriffen Lindner, JZ 2008, 957, 961 f. 80 S. Grundmann, in diesem Band, § 9 Rn. 2–12. 81 Grundlegend Oates, Fiscal Federalism (1972); ders., Journal of Economic Literature 37 (1999), 1120– 1149; ders., Regional Science and Urban Economics 31 (2001), 133–145. Für einen Überblick s. Buiten, Harmonisation and the EU Internal Market, S. 29–32. 82 Für einen Überblick s. Buiten, Harmonisation and the EU Internal Market, S. 32–35. Monografisch Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002). Zur Diskussion um die Nützlichkeit von Rechtsvereinheitlichung s. etwa auch Basedow, FS Mestmäcker (1996), S. 347–363; Behrens, RabelsZ 50 (1986), 19–34; Eidenmüller, JZ 2009, 641–653; Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 118–121; Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1–18. 83 Zur Notwendigkeit, im Kontext des EU-Binnenmarktes Freihandelstheorie mit den Einsichten der economics of federalism zusammenzuführen, um damit umfassender Wohlfahrtswirkungen, insbesondere trade-offs, erfassen zu können, s. Buiten, Harmonisation and the EU Internal Market, S. 69–74.
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Rechte anzugleichen.84 Neben dem (bedingten) Prinzip gegenseitiger Anerkennung auf Basis der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten85 oder einem sekundärrechtlich installierten Herkunftslandprinzip86 ist in letzter Zeit insbesondere die Möglichkeit in den Fokus geraten, den Binnenmarktakteuren ein supranationales Instrument zur Verfügung zu stellen, das neben die nationalen Instrumente tritt. Optionale Instrumente sieht das Unionsrecht bereits im Gesellschaftsrecht mit der Europäischen 31 wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV)87 und der Societas Europea (SE)88 vor, aber auch im Markenrecht mit der Gemeinschaftsmarke.89 Die Principles of European Insurance Contract Law (PEICL)90 sind im Gespräch als Grundlage für ein optionales Europäisches Versicherungsvertragsrecht.91 Ein optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex steht als Variante für die Zukunft des Europäischen Vertragsrechts und als Alternative zur weiteren Rechtsharmonisierung im Raum.92 Im Zuge der Diskussion über Sinn und Zweck des Draft Common Frame of Reference (DCFR) wurde ins Spiel gebracht, diesen oder Teile eines auf der Basis des DCFR akzeptierten Gemeinsamen Referenzrahmens als optionale Instrumente zu installieren.93 Ein in diesem Geiste von der Europäischen Kommission initiierter Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemein-
84 Hierzu Franck, in: Riesenhuber/Takayama (Hrsg.), Rechtsangleichung: Grundlagen, Methoden und Inhalte (2006), S. 53–58. 85 Die Einführung des (sog.) Herkunftslandprinzips mit der Entscheidung Cassis de Dijon (EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe-Zentral AG ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, EU:C:1979:42 Rn. 14) gab Anlass für eine vermehrte Auseinandersetzung mit der Binnenmarktintegration aus ökonomischer Perspektive, Hertig, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 331, 337. Zu beachten ist, dass mit dem Urteil – anders als oft vergröbernd festgestellt – streng genommen kein Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Regelungsstandards festgelegt wurde, weil die Mitgliedstaaten frei darin bleiben, einseitig strengere Standards durchzusetzen, soweit diese in verhältnismäßiger Weise einem legitimen Ziel dienen. 86 Siehe etwa Art. 3 EComRL (Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt, ABl. 2000 L 178/1). 87 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates v. 25.7.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung, ABl. 1985 L 199/1. 88 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft, ABL. 2001 L 294/1; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) Nr. 517/2013 des Rates v. 13.05.2013, ABL. 2013 L 158/1. S. zu ökonomischen Überlegungen hinsichtlich der Rolle der Societas Europea neben den nationalen Gesellschaftsrechten Enriques, ZGR 2004, 735; Röpke/Heine, JbJZ 2004, S. 265. 89 Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.06.2017 über die Unionsmarke, Abl. 2017 L 154/1. 90 Basedow u. a. (Hrsg.), Principles of European Insurance Contract Law (2009). 91 Basedow, ERA Forum 2008, 111, 115 f. Die Kommission hat eine Expertengruppe mandatiert, um zu klären, ob divergierendes Versicherungsvertragsrecht grenzüberschreitende Versicherungsgeschäfte tatsächlich erschwert, Art. 2 Beschluss v. 17.1.2013, ABl. C 16/6, hierzu Basedow, EuZW 2014, 1 f. 92 Dazu etwa Basedow, ZEuP 2004, 1–4; Staudenmayer, ZEuP 2003, 828–846. 93 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, S. 46 und v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Full Edition, S. 23; s. etwa auch Leible, BB 2008, 1469–1475; Beale, ERCL 3 (2007), 257, 269–272.
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sames Europäisches Kaufrecht (GEK)94 konnte sich allerdings nicht gegen den Widerstand einiger Mitgliedstaaten durchsetzen.95
a) Vorteile einheitlicher Regelungen96 32 Zentrale Regelungen können (negative) externe Effekte über die Grenzen der Zuständigkeitsbereiche einzelner Regelgeber hinweg vermeiden. Anschauliches Beispiel ist das Umweltrecht: Ein (Teil-)Regelgeber könnte versucht sein, den Industrie- und Gewerbebetrieben in seinem Hoheitsgebiet durch niedrige Umweltstandards Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, wenn die negativen Folgen gar nicht oder nur zu einem kleinen Teil sein Gebiet betreffen, sondern etwa durch Wind oder Wasser „kostenlos“ in das Nachbargebiet „transportiert“ werden. 33 Zweitens können durch einheitliche Regulierung Skalenerträge (economies of scale and scope) ausgenutzt und Transaktionskosten gespart werden. Sind rechtliche Lösungen lediglich einmal bereit zu stellen, kann dies Kosten bei Gesetzgebung und Rechtsprechung verringern. Unternehmen müssen weniger Mittel aufwenden, um sich über das geltende Recht und rechtsgestalterische Optionen zu informieren oder um ihre Produkte und Marketingstrategien unterschiedlichen Rechtsordnungen anzupassen. 34 Schließlich wird gerade im Zusammenhang mit dem Europäischen Binnenmarkt vorgebracht, dass einheitliche Regelungen Wettbewerbsverzerrungen vermeiden können. Dieses Argument kann aus ökonomischer Sicht infrage gestellt werden, weil unterschiedliche (nationale) Rechtsrahmen auch als (gleichsam) natürliche Komponenten eines Standortwettbewerbes aufgefasst werden können: Entsprechen sie den Präferenzen der betroffenen Individuen, sei es verfehlt, sie als „Wettbewerbsverzer94 KOM(2011) 635 endg. Zu den binnenmarktrechtlichen und -politischen Hintergründen eines optionalen Kaufvertragsrechts und seiner Einordnung in den Prozess der Europäisierung des Vertragsrechts s. im Überblick Franck/Riesenhuber, ZJapanR Sonderheft 7 (2013), 179–202; zur Law and EconomicsPerspektive auf das Europäische Vertragsrecht s. Gomez, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Economics of European Union Law, S. 229–259. 95 S. Weatherill, Contract Law of the Internal Market (2016), Ch. 3.10, S. 75 und Ch. 5.9, S. 211–216. Anstelle des GEK-Vorschlags sind als Element der „digital single market strategy“ zwei (vollharmonisierende) Richtlinien mit vertragsrechtlichem Inhalt getreten, nämlich die Richtlinie (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. 2019 L 136/1, und die Richtlinie (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. 2019 L 136/28. 96 Zu den im Folgenden skizzierten Vor- und Nachteilen zentraler und dezentraler Regulierung aus ökonomischer Sicht s. etwa Gatsios/Holmes, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 3 (1998), S. 271, 273–275; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 67, 84–87; Woolcock, in: McCahery u. a. (Hrsg.), International Regulatory Competition and Coordination (1996), S. 298–301.
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rungen“ zu beschreiben. Zudem gewährleiste ein freier Markt die Mobilität von Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren und damit die Freiheit, ungünstigen Standortbedingungen auszuweichen.97
b) Vorteile dezentraler Rechtsetzung Einen Markt kennzeichnen häufig räumlich unterschiedliche Präferenzen der Rechts- 35 unterworfenen und räumlich divergierende äußere Bedingungen. Ein einheitlicher Rechtsrahmen kann nur an durchschnittlichen Präferenzen ausgerichtet sein. Räumlich differenzierte Regelungen können demgegenüber heterogenen Präferenzen und kulturellen, geographischen oder ökonomischen Bedingungen gerecht werden.98 Dezentralität erleichtert es darüber hinaus, lokales Wissen für die Rechtsetzung fruchtbar zu machen. Spiegeln sich regionale und kulturelle Besonderheiten im Recht wider, so erhöht dies seine Überzeugungskraft und die Chancen auf dessen Akzeptanz und Beachtung. Dezentrale Rechtsetzung kann die Risiken des sog. Rent-seeking-Problems ver- 36 mindern.99 Recht wird durch Repräsentanten gesetzt. Es ist deshalb nicht gesichert, dass Recht tatsächlich darauf ausgerichtet ist, den Interessen und Präferenzen der Allgemeinheit bestmöglich zu entsprechen. Die Einflussnahme von Interessengruppen kann dazu führen, dass Partikularinteressen auf Kosten der Allgemeinheit bevorzugt werden. Kleinere Entscheidungseinheiten begrenzen Macht und Einfluss einzelner Regelgeber. Der Vergleich mit der rechtlichen Situation in anderen Gebieten kann einen Fehlgebrauch gesetzgeberischer Macht leichter erkennbar machen und damit erschweren. Das Argument einer höheren Innovationskraft durch einen Wettbewerb recht- 37 licher Lösungen ist in den Vordergrund der ökonomischen Diskussion um die Vorteile dezentraler Lösungen gerückt.100 Regionalisiert man Regelungskompetenzen, können verschiedene Ansätze zum rechtlichen Umgang mit einem Problem parallel ausprobiert werden. Prozesse des Experimentierens mit verschiedenen rechtlichen Lösungen und des wechselseitigen Lernens sind wünschenswert, weil sich auch Gesetzgeber dem permanenten Problem mangelnden Wissens gegenübersehen:101 Für viele Probleme ist noch nicht die „richtige“ Lösung gefunden worden; zudem treten ständig neue Probleme auf, für die Lösungen entwickelt werden müssen. Durch die Beschränkung auf eine zentrale Regulierungsinstanz verzichtet man auf einen Wettbewerb der
97 Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 85 mwN. 98 Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 34–38. 99 Im Überblick Buiten, Harmonisation and the EU Internal Market, S. 35f. 100 Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 25–34. 101 v. Hayek, Die Irrtümer des Konstruktivismus und die Grundlagen legitimer Kritik gesellschaftlicher Gebilde (1970). Franck
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Regulierungsideen und damit auf den Wettbewerb als Mittel, neues Wissen zu generieren und zu verbreiten.102 38 Die stärkere Innovationsfähigkeit dezentraler Systeme hängt auch damit zusammen, dass kleineren Einheiten eine einfachere, schnellere Anpassung an wandelnde Gegebenheiten möglich ist. Deutlich wird dies, vergleicht man die mitgliedstaatlichen Rechtssetzungsverfahren mit dem Verfahren nach Art. 294 AEUV, das der Rechtsharmonisierung zu Grunde liegt. Eine Reform von Rechtsakten der Union erfordert komplexere politische Kompromisse. Denn auszugleichen sind vielfach unterschiedliche Interessen und Anschauungen, einmal zwischen den Organen der Union (Parlament, Rat, Kommission) und zum anderen innerhalb des Europäischen Parlaments und – vermittelt durch die Auseinandersetzung im Rat – zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten. Dies begründet die Gefahr einer „Versteinerung“ juristischer Antworten bei sich wandelnden Sachfragen.103 39 Treten verschiedene Regelgeber als „Anbieter rechtlicher Regelungen“ auf einem gemeinsamen Markt in einen Wettbewerb, kann es allerdings ebenso wie beim Wettbewerb zwischen Unternehmen auf Gütermärkten zu einem Marktversagen kommen, also zu Ergebnissen, die nicht den Präferenzen der Marktgegenseite entsprechen. Diskutiert werden die Gefahr eines „race to the bottom“ im Regulierungsniveau (etwa aufgrund systematischer Informationsasymmetrien), das Risiko einer systematischen Unterversorgung mit öffentlichen Gütern, zu geringe Umverteilungseffekte angesichts eines Wettbewerbs der Steuersysteme, die Hemmung des technologischen Fortschritts aufgrund von Externalitäten oder die Möglichkeit von Wettbewerbsbeschränkungen durch Regelgeber.104 Die Gefahr eines Marktversagens verdeutlicht, dass auch der Markt für rechtliche Lösungen institutioneller, also auch rechtlicher Rahmenbedingungen bedarf, die den Wettbewerbsprozess zwischen Staaten und Rechtsordnungen absichern.105 Eine solche Metawettbewerbsordnung auszugestalten ist ein schwieriges Unterfangen. Notwendig ist hierbei vor allem, Regelungskompetenzen im Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten aufzuteilen und Mindeststandards zu definieren. Es stellt sich die Frage, wie man die Rechtsfindung für diese Metaregeln optimieren kann.
102 Grundlegend für diesen Ansatz einer evolutorischen Marktprozess- und Wettbewerbstheorie v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (1968). Zur Bedeutung des Lern- und Suchpotentials durch den Wettbewerb zwischen Vertragsrechtsordnungen Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 118 f. Skeptisch gegenüber dem Gewicht des Arguments des Verlusts an Regelungsvielfalt Basedow, FS Mestmäcker (1996), S. 360 f.; ablehnend zur Vorstellung eines – ähnlich dem Produktwettbewerb potentiell vorteilhaften – Wettbewerbs der Rechtsordnungen Rehberg, in: Towfigh u. a. (Hrsg.), Recht und Markt (2009), 29–51. 103 Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1, 12. Zur „Versteinerungsgefahr“ Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 185–187. 104 Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 81 f. mwN; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 65–74; 93–103; 201–221; 261 f.; 314 f., 329–332. 105 Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 82–84 mwN.
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Die verschiedenen theoretischen Argumente um die Vorteilhaftigkeit zentraler 40 oder dezentraler Lösungen verdeutlichen, dass kaum generelle Aussagen hierzu getroffen werden können. Für die Wahl der optimalen Regelungsebene kann daraus nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass je nach Problembereich die Vor- und Nachteile zentraler bzw. dezentraler Regulierung gegeneinander abzuwägen sind.106 Für die Auslegung und Anwendung der verschiedenen Kompetenzen zur Förderung der Binnenmarktintegration folgt jedenfalls, dass neben der Rechtsvereinheitlichung auch die Option mitzudenken ist, auf Mechanismen zurückzugreifen, die Freiraum für dezentrale Regelungen lassen. Aus der Einsicht in das Innovationspotential eines Wettbewerbs der Ideen darf man schließlich auch die Forderung ableiten, dass – politisch gewollte – binnenmarkt-einheitliche Regeln in einem möglichst offenen und unvoreingenommenen Diskurs mit angemessenem zeitlichen Rahmen gefunden werden.107
4. Verarbeitung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (Behavioural Economics) Die Einsicht in Phänomene systematisch eingeschränkter Rationalität ist für die 41 Normsetzung und -anwendung108 beachtenswert, wenn rechtliche Regelungen darauf abzielen, das Verhalten individueller Marktakteure zu steuern. Das erscheint dann besonders einleuchtend, wenn es darum geht, die Interessen dieser Akteure unmittelbar zu schützen. Es überrascht deshalb nicht, dass sich vor allem die jeweils für Verbraucherschutzpolitik zuständigen Generaldirektionen der Europäischen Kommission der Verhaltensökonomik und der Verhaltenswissenschaften im Allgemeinen angenommen haben.109 Dem (Europäischen) Regelgeber scheint sich ein Feld für „libertären 106 S. etwa die Einschätzungen Kieningers, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 375–380, über die Perspektiven der Entwicklung des Europäischen Gesellschaftsrechts und des Europäischen Vertragsrechts zwischen Rechtsharmonisierung und institutionellem Wettbewerb. 107 Dies gilt zumal, wenn es sich um eher „technische“, d. h. weniger vom (tages-)politischen Meinungskampf geprägte Materien wie das Vertragsrecht handelt, s. Riesenhuber, JZ 2011, 537–544. 108 Zur Analyse des Prozesses richterlicher Entscheidungsfindung in der EU siehe Winter, German Law Journal 21 (2020), 240, 251–264. 109 Die seinerzeitige GD Gesundheit und Verbraucherschutz veranstaltete etwa wiederholt Konferenzen zum Nutzen der Verhaltenswissenschaften für die Verbraucherpolitik, so etwa im Jahre 2013 unter dem Titel: „Applying behavioural insights to EU policymaking“. Siehe etwa den Abschnitt „Behavioural Insights“ im „EU Science Hub“, wo es u. a. heißt: „Behavioural insights provide empirical evidence that allows anticipating how people will react to policy options. Consider for example the EU energy label on electric appliances: behavioural insights were used to test different ways of presenting energy consumption to ensure that consumers understand these labels, in order to help them make better-informed choices, which could save energy and money”, https://ec.europa.eu/jrc/en/research/crosscut ting-activities/behavioural-insights. Siehe für eine aktuelle Studie etwa die „Behavioural study on digitalisation“, mit der die Gesetzgebung im Verbraucherkreditrecht und im Recht des Fernabsatzes für
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Paternalismus“110 zu eröffnen: Marktinterventionen können damit gerechtfertigt werden, dem einzelnen Marktakteur werde geholfen, präferenzkonforme Entscheidungen zu treffen bzw. damit, dass dieser daran gehindert werde, in irrationaler Weise gegen seine eigenen wohlverstandenen Interessen zu handeln. 42 Die Sensibilität des Europäischen Gesetzgebers für die Einsichten verhaltenswissenschaftlicher Forschung hat einen Grund darin, dass sich hier ein Spannungsverhältnis zum einflussreichen (und auch als primärrechtlich fundiert angesehenen111) Informationsmodell abzeichnet. Nach diesem Paradigma soll es zum Schutz der Vermögensinteressen der Verbraucher weithin genügen, ihnen eine informierte Transaktionsentscheidung zu ermöglichen.112 Die erforschten Phänomene systematisch beschränkten Rationalverhaltens knüpfen aber nicht am Maß oder der Qualität der Informationen an, über die ein Marktteilnehmer für eine Transaktionsentscheidung verfügt. Es handelt sich vielmehr vor allem um nachgelagerte Mechanismen, die in der Phase der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen wirken. Informationsregeln können hier allenfalls graduell abhelfen: Vorgaben über die Modalitäten der Informationsgewährung (etwa Standardisierung) können dazu beitragen, die kognitiven Anforderungen an die Informationsauswertung und -verarbeitung zu senken.113 43
Wie die Erkenntnisse der kognitiven Psychologie die Wirksamkeit traditioneller Schutzinstrumente in Frage stellen, sei veranschaulicht am Beispiel des Widerrufsrechts, einem „Urgestein“114
Finanzdienstleistungen unterstützt werden soll, https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/consu mers/financial-products-and-services/consumer-protection-financial-services_en#behaviouralstudyo ndigitalisation (abgerufen am 27.7.2020). 110 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159–1202, mit dem programmatischen Titel „Libertarian Paternalism Is Not an Oxymoron“. 111 Nach der Rechtsprechung des EuGH dürfen die Mitgliedstaaten keine zwingenden Inhaltsbeschränkungen vorsehen, die den grenzüberschreitenden Verkehr behindern, wenn den jeweiligen Schutzinteressen auch durch Information genügt werden kann, grundlegend EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 REWE ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, EU:C:1979:42 Rn. 13 – Cassis de Dijon. Die Grundsätze eines freien Wirtschaftsverkehrs binden auch die Unionsorgane. Hieraus leitet der EuGH ab, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine allgemeine Schranke für harmonisierende Normen des Sekundärrechts bildet, die den Handel innerhalb der Union beschränken und besonderen Schutzinteressen, etwa dem Verbraucherschutz, verpflichtet sind, EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-51/93 Meyhui, EU:C:1994:312 Rn. 9–22. 112 Zum Informationsmodell im Binnenmarkt s. etwa Grundmann, JZ 2000, 1133–1143; ders., in diesem Band, § 9 Rn. 41 f.; zu den Herausforderungen an das Informationsparadigma durch Behavioural Law & Economics s. Ulen, in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Autonomy, S. 111–127; Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 295–310. 113 Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221; Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 325–327. 114 Das Widerrufsrecht ist zentrales Schutzinstrument eines der ältesten Rechtsakte des Europäischen Verbrauchervertragsrechts, der Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den
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Europäischen Verbraucherrechts. Eine cooling-off period soll dem Verbraucher die Chance geben, Informationsdefizite zu kompensieren und frei von suggestiven Einflüssen die eigene Transaktionsentscheidung zu überdenken und ggf. zu korrigieren. Verschiedene verhaltenswissenschaftlich fundierte Phänomene stehen dem Abnehmer allerdings hierbei im Wege: Individuen nehmen unbewusst Informationen selektiv auf, um vorgefasste Anschauungen aufrechterhalten zu können und damit kognitive Dissonanzen zu vermeiden und sich also nicht selbst eine Fehlentscheidung eingestehen zu müssen.115 Hinzu kommt die empirisch belegte Einsicht, dass die subjektive Wertschätzung eines Gutes zunimmt, sobald man es besitzt (sog. Endowment-Effekt).116 Im Lichte dieser Erkenntnisse kann es zweifelhaft erscheinen, inwieweit ein Widerrufsrecht verhindern kann, dass Verbraucher an Transaktionen wider ihre Präferenzen festhalten. Alternativ wird deshalb etwa vorgeschlagen, dass Geschäfte, bei denen dies abhängig von der Vertragsschlusssituation oder dem Vertragsgegenstand angezeigt erscheint, nur wirksam werden, wenn der Verbraucher sie innerhalb einer bestimmten Frist bestätigt.117
Ob allerdings die verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse über die Verfeinerung 44 und Neujustierung von Informationsinstrumenten hinaus eine Abkehr vom Informationsparadigma verlangen, sollte mit Vorsicht diskutiert werden.118 Um systematische Informationsdefizite auf Märkten zu überwinden, kommt es nicht darauf an, dass jeder einzelne Verbraucher von einer Information Kenntnis nimmt und hiernach seine Transaktionsentscheidung ausrichtet. Angesichts von Marktmechanismen kann dies entbehrlich sein.119 Es mag beispielsweise auf manchen Märkten hinreichen, dass Informationsintermediäre (z. B. Verbraucherschutzinstitute, die unabhängige Produkttests durchführen) oder eine kritische Anzahl von Verbrauchern die am Markt vorhandenen Informationen verarbeiten und so eine adverse Selektion der Produktqualität aufgrund von Informationsasymmetrien verhindern.120 Das vom EuGH für die Auslegung der Grundfreiheiten und des Sekundärrechts 45 postulierte Leitbild vom mündigen, selbstverantwortlich am Markt agierenden Verbraucher121 ist als normatives Konstrukt zu verstehen. Das individuell durchsetzbare
Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. Das Widerrufsrecht für Fernabsatzverträge und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen findet sich jetzt in Art. 9 der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64, zuletzt geändert durch Richtlinie (EU) 2019/2161 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.11.2019 zur besseren Durchsetzung und Modernisierung der Verbraucherschutzvorschriften der Union, ABl. 2019 L 328/7. 115 Grundlegend Festinger, A theory of cognitive dissonance (1957); zur ökonomischen Charakterisierung Akerlof/Dickens, Am. Econ. Rev. 72 (1982), 307–319. 116 Thaler, J. Econ. Behav. & Org. 1 (1980), 39, 44; Knetsch, Am. Econ. Rev. 79 (1989), 1277–1284. 117 Eidenmüller, JZ 2005, 216, 222; ders., ERCL 2011, 2, 20. 118 S. mit Blick auf das Widerrufsrecht als Instrument des Binnenmarktvertragsrechts Riesenhuber, ULR 7 (2011), 117, 128 f. 119 Überblick bei Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 190–203. 120 S. etwa Tirole, Industrial Organization (1988/2001), S. 107 f. 121 Der Gerichtshof spricht in ständiger Rechtsprechung formelhaft vom Leitbild des „normal informierten und angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“, so EuGH v. 16.9.2004 – Rs. C-329/02 P-Sat.1, EU:C:2004:532 Rn. 24 und zuletzt EuGH v. 14.5.2020 – Rs. C-266/19
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Recht der Unionsbürger auf eine freie Teilnahme am grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr bildet mit dem im Binnenmarkt zu gewährleistenden System unverfälschten Wettbewerbs das Fundament der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung der Union. Es ist daher im Grundsatz folgerichtig, wird dem Verbraucher (normativ) die Rolle eines mündigen Marktbürgers zugewiesen, der durch Information zu selbstverantwortlichen Entscheidungen befähigt werden kann.122 Die Überzeugungskraft dieses normativen Leitbildes nimmt allerdings ab mit zunehmender Distanz vom empirischen Befund und schwindet gänzlich, wenn dem Einzelnen irreversible Freiheitsverluste drohen, Leib oder Leben auf dem Spiel stehen oder Vermögensverluste existenzbedrohenden Ausmaßes. 46 Einstweilen ist noch nicht abzusehen, inwieweit die verhaltenswissenschaftlich fundierte Kritik am Informationsmodell entweder eine Renaissance formal verstandener Vertragsfreiheit oder marktregulierender Eingriffe und insbesondere der Produktregulierung befördern wird.123 Die Europäische Kommission hat etwa im Bereich der Finanzdienstleistungen die Einführung einfacher, standardisierter Produkte als Antwort auf systematische Entscheidungsprobleme der Verbraucher in Betracht gezogen.124 Soweit solche Standardprodukte optional anzubieten wären, würde man dem Vorwurf der Einschränkung der Produktvielfalt entgehen. Allerdings deutet sich bereits an, dass es schwierig ist, auf Unionsebene einen politischen Konsens über solche Produktstandards zu erreichen und offenbart sich damit ein Problem, dass u. a. den Siegeszug des Informationsmodells befördert hat. Das Wissen um kognitionspsychologisch bedingte Grenzen der Informationsaufnahme und -verarbeitung ist in jedem Fall ein wichtiger Faktor, will man im Kampf gegen informationsbedingtes Marktversagen die Vor- und Nachteile von Informationsregelungen und einheitlichen (Mindest-)Produktstandards fair gegeneinander abwägen. Zu erwägen ist deshalb allemal, die kognitionspsychologischen Erkenntnisse nicht nur als Anlass dafür zu begreifen, marktunterstützende Regeln zu optimieren und marktregulierende Eingriffe
EIS, EU:C:2020:384 Rn. 37 und 40; grundlegend zuvor mit noch leicht variierter Formulierung die 6-Korn-Eier-Entscheidung EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 Gut Springenheide und Tusky, EU: C:1998:369 Rn. 37. 122 Zur normativen Begründung des Europäischen Verbraucherleitbildes Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 329–332; Franck/Purnhagen, in: Mathis (Hrsg.), Law and Economics in Europe, S. 329, 334 ff., 349 ff. S. a. Eidenmüller, ERCL 2011, 1, 6: Der (mögliche) „Lerneffekt“ auf Seiten eines Verbrauchers bei Abschluss eines im Nachhinein als unvorteilhaft angesehenen Vertrags kann als langfristiger Effizienzgewinn bewertet und damit als Kostenfaktor in eine Kosten-Nutzen-Abwägung zur Einführung eines Widerrufsrechts eingestellt werden. 123 S. etwa Schön, FS Canaris (2007), Bd. I, S. 1211. 124 Arbeitsdokument der Dienststellen der Kommission v. 22.9.2009 über Folgemaßnahmen zum Verbraucherbarometer in Bezug auf Finanzdienstleistungen für Privatkunden, SEK(2009) 1251 endg, S. 16; s.a. nachfolgend „Consumer Decision Making in Retail Investment Services: A Behavioural Economics Perspective“, Final Report, November 2010.
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neu zu legitimieren. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass sich in ihnen ein Menetekel offenbart, das uns mahnt, Steuerungsansprüche auf ein realistisches Maß zurückzuschrauben.125
IV. Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt 1. Grundfreiheiten Die konstatierte Ausrichtung des Binnenmarktes auf eine Steigerung der allgemeinen 47 Wohlfahrt setzt sich in den Grundfreiheiten126 fort. Verschiedene dogmatische Entwicklungen zu den Grundfreiheiten lassen sich vor diesem Hintergrund erklären. Instruktiv hierfür ist die Keck-Rechtsprechung, wonach bestimmte nationale Bestimmungen, die Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, grundsätzlich nicht als Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit anzusehen sind.127 Der Gerichtshof hatte damit ein Kriterium zur Einschränkung des Tatbestandes des Art. 34 AEUV postuliert, dessen Ausformung und Begründung der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft einige Rätsel aufgab. Schnell wurde klar, dass eine schematische, rein begriffliche Abgrenzung der produkt- von den vertriebsbezogenen Regelungen zum einen teilweise schwer handhabbar sein würde und zum anderen in vielen Fällen nicht zu überzeugenden Abgrenzungen führen konnte. So stellen Werbeverbote im Grundsatz bloße Verkaufsmodalitäten dar.128 Befindet sich die Werbung indes auf dem Produkt, handelt es sich um eine produktbezogene Regelung.129 Zudem war der Formulierung des EuGH zu entnehmen, dass es weiterhin einen Bestand nationaler Regelungen geben konnte, die zwar begrifflich als Verkaufsmodalitäten verstanden werden konnten, trotzdem aber als rechtfertigungsbedürftige Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit zu werten waren. Dies hat den Raum geöffnet für zwei ökonomisch begründete Argumentationslinien, um die Keck-Rechtsprechung zu rationalisieren und zu operationalisieren.
125 Vgl. in Bezug auf die Umsetzung des Informationsmodells im Europäischen Vertragsrecht Calliess, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlungen oder Erosion der Privatautonomie? (2007), S. 111. 126 Zu den Grundfreiheiten als Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Köndgen/Mörsdorf, in diesem Band, § 6 Rn. 28–38. 127 EuGH v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 Keck und Mithouard, EU:C:1993:905 Rn. 16. 128 EuGH v. 15.12.1993 – Rs. C-292/92 Hünermund u. a., EU:C:1993:932 Rn. 21–24 (Werbeverbot für apothekenübliche Produkte außerhalb von Apotheken); EuGH v. 9.2.1995 – Rs. C-412/93 Leclerc-Siplec, EU:C:1995:26 Rn. 21–24 (Verbot der Fernsehwerbung für eine bestimmte Form des Vertriebs von Kraftstoff). 129 EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, EU:C:1995:224 Rn. 11–14.
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Eine erste Argumentation betont, dass es Ziel der Warenverkehrsfreiheit sei, den Zutritt auf andere mitgliedstaatliche Märkte nicht zu erschweren.130 Davon ausgehend sollen aber nationale Maßnahmen nicht an den Grundfreiheiten zu messen sein, die nach erfolgtem Marktzutritt lediglich die Modalitäten des Wettbewerbs regeln und auch faktisch die grenzüberschreitend gehandelten Waren nicht anders betreffen als die Waren, die rein inländisch vertrieben werden. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten beschränken danach die Warenverkehrsfreiheit, wenn sie den Marktzutritt erheblich erschweren. Hierunter können vor allem Regeln fallen, die die Absatzförderung für bestimmte Produkte verbieten. Denn neu auf einen Markt drängende Erzeugnisse sind in viel größerem Maße auf Werbung und andere Maßnahmen der Absatzförderung angewiesen als die etablierten inländischen Erzeugnisse, mit denen die Verbraucher bereits vertraut sind.
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In GIP entschied der EuGH, dass das nahezu vollständige Verbot der Absatzförderung für alkoholische Produkte in Schweden – obwohl es sich nur um eine Verkaufsmodalität handelte – eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit darstellte, die allerdings rechtfertigungsfähig war.131 Eine Erschwerung des Marktzutritts ist gleichfalls zu konstatieren, wenn eine nationale Regelung eine Absatztechnik für eine Produktgruppe untersagt. Folgerichtig qualifizierte der Gerichtshof auch das deutsche Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln, die in Deutschland nur in Apotheken verkauft werden durften, als eine Maßnahme gleicher Wirkung i. S. v. Art. 34 AEUV, obgleich es sich auch hier begrifflich lediglich um eine Verkaufsmodalität handelte.132
50 Eine zweite dezidiert ökonomisch begründete Argumentationslinie hebt hervor, dass
Unternehmen von der Binnenmarktintegration profitieren sollen, indem sich für sie Synergieeffekte und Größenvorteile (economies of scale and scope) ergeben sollen. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten können indes verhindern, dass ein Produzent die Kostenvorteile, die ein einheitlicher Binnenmarkt mit sich bringen soll, auch durch eine einheitliche Marketingstrategie umsetzt. Dementsprechend wird unter dem Stichwort des Euro-Marketing argumentiert, dass vertriebsbezogene Regelungen auch nach der Keck-Rechtsprechung in den Tatbestand des Art. 34 AEUV fallen, wenn ein Anbieter durch sie gezwungen ist, eine einheitlich für mehrere Länder oder sogar
130 Ehlers, Jura 2001, 482, 485. Mittlerweile hat der Gerichtshof das Kriterium der Behinderung des Zugangs zum Markt eines Mitgliedstaats als allgemein hinreichende Voraussetzung für eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit anerkannt, EuGH v. 10.2.2009 – Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien, EU:C:2009:66 Rn. 36 f. Diese dogmatische Justierung eröffnet die Möglichkeit, das Merkmal der Beeinträchtigung mittels ökonomischer Überlegungen auszufüllen, s. Pecho, LIEI 36 (2009), 257, 264. 131 EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/98 GIP, EU:C:2001:135 Rn. 18–25; zuvor bereits EuGH v. 9.7.1997 – verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95 De Agostini u. a., EU:C:1997:344 Rn. 42 f. Vgl. Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S. 174 f.; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Leible/T. Streinz, Art. 34 AEUV Rn. 92; W.-H. Roth, CMLR 31 (1994), 845, 853; Stein, EuZW 1995, 435, 436. 132 EuGH v. 11.12.2003 – Rs. C-322/01 Deutscher Apothekerverband ./. DocMorris und Jaques Waterval, EU:C:2003:664 Rn. 55–76.
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den gesamten Binnenmarkt konzipierte Marketingstrategie zu ändern, ihm dadurch Anpassungskosten entstehen und deshalb der grenzüberschreitende Warenverkehr gestört wird.133 Die Ermöglichung einer einheitlichen Marketingstrategie durch die Warenverkehrsfreiheit hat der 51 EuGH im Urteil Douwe Egberts berücksichtigt. Dort wurde entschieden, dass das belgische Verbot der Werbung für Lebensmittel mit Bezugnahmen auf das „Schlankerwerden“ und „ärztliche Empfehlungen“ eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung des freien Warenverkehrs darstelle, weil es die Aufgabe eines Werbesystems verlangt, welches der Anbieter für besonders wirksam hält.134
2. Sekundärrecht Effizienzanalysen und -argumente werden vielfach, teils explizit, oftmals freilich le- 52 diglich implizit, als Maßstab für die Anwendung des binnenmarktintegrierenden Sekundärrechts herangezogen. Wie bereits eingangs angedeutet, wird es im Grundsatz kaum als kontrovers angesehen, ökonomische Überlegungen für die Auslegung fruchtbar zu machen, wenn sich dies dem Willen des Regelgebers oder dem objektiv abgeleiteten Ziel einer Rechtsnorm entnehmen lässt. Ökonomische Argumente dienen dann im Grunde als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung.135 Die Tatsache, dass sich ein Rechtsakt auf die Binnenmarktkompetenz stützt, erscheint für sich freilich zu unspezifisch, um darin eine Anordnung der Berücksichtigung wohlfahrtsökonomischer Argumente bei einer Auslegung, die das Regulierungsniveau hinsichtlich eines bestimmten Schutzziels (etwa Verbraucherschutz, Arbeitnehmerschutz, Umweltschutz etc.) beeinflusst, erkennen zu können. Denn es ist regelmäßig die Rechtsangleichung an sich, also unabhängig vom Regulierungsniveau, die bereits die Binnenmarktintegration fördert und damit (mittelbar) auch den dahinterstehenden ökonomischen Erwägungen dient. Wer Effizienzargumente für die Auslegung und Anwendung des Regelungsgehalts eines harmonisierenden Sekundärrechtsakts heranziehen will, sollte sich deshalb spezifisch auf Anhaltspunkte stützen können, die sich aus dem Rechtsakt und seinem Regelungsziel ergeben.
133 Ausdrücklich unter Hinweis auf den Aspekt der economies of scale Ackermann, RIW 1994, 189, 194; s.a. Leible/Sosnitza, K&R 1998, 283, 287 mwN; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Leible/T. Streinz, Art. 34 AEUV Rn. 92; Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S. 164 ff.; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 102, stellt darauf ab, ob durch die mitgliedstaatlichen Normen „Werbung oder andere wichtige Vertriebsparameter in ihrem Kern“ beschränkt werden. 134 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-239/02 Douwe Egberts, EU:C:2004:445 Rn. 52. 135 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Näher hierzu etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 450 ff., insbes. S. 452–454; Grundmann, RabelsZ 66 (1997), 423, 430–443; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts (1997), S. 29–31.
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Nahe liegt das vor allem dann, wenn Märkte und das Verhalten von Marktteilnehmern Gegenstand des Sekundärrechts sind. Lauterkeits- und kapitalmarktrechtliche Regelungen wollen das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Märkte schützen, indem sie das Marktverhalten reglementieren. In der zweiten Begründungserwägung zur Marktmissbrauchsverordnung136 wird dies explizit mit wohlfahrtsökonomischen Erwägungen verknüpft:137 „Ein integrierter und effizienter Finanzmarkt setzt Marktintegrität voraus. Das reibungslose Funktionieren der Wertpapiermärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Märkte sind Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand.“ Betroffen ist mit dieser Funktion der Marktordnung ein originärer Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaften. Hier erscheint es deshalb geradezu zwingend, ökonomische Erkenntnisse heranzuziehen, um intendierte Wirkungsmechanismen aufzuzeigen und ihnen bei der Anwendung der Regeln zum Durchbruch zu verhelfen. 54 Eine Besonderheit des Binnenmarktrechts besteht darüber hinaus darin, dass nicht nur Normen, die klassischerweise als wirtschaftsrechtliche verstanden werden, also etwa solche des Kartellrechts oder des Kapitalmarktrechts, als Regeln zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit von Märkten anzusehen sind. Vielmehr prägt dieses Ziel beispielsweise auch den wesentlichen Bestand des Europäischen (Verbraucher‑)Vertragsrechts.138 Deutlich wird dies beispielsweise am Instrument des Widerrufsrechts, wie es u. a. in Art. 9 Verbraucherrechterichtlinie für Fernabsatzverträge vorgesehen ist. Wird den Abnehmern ein Widerrufsrecht eingeräumt, erhalten sie eine erweiterte Möglichkeit, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und noch (nachträglich) für ihre vertragliche Entscheidung zu berücksichtigen. Der Europäische Regelgeber versteht das Widerrufsrecht als Instrument zur Überwindung von Informationsasymmetrien, um so den Fernabsatz als Absatztechnik zu unterstützen und ein Marktversagen infolge von strukturellen Informationsdefiziten zu verhindern.139
136 Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission Text von Bedeutung für den EWR, ABl. 2014 L 173/1. Die identische Formulierung fand sich zuvor bereits in der zweiten Begründungserwägung zur Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. 2003 L 96/16. 137 S. Kalss, in diesem Band, § 20 Rn. 37. 138 Grundmann, NJW 2000, 14, 17; s.a. Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 319 f. 139 Bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz sind die Informationsnachteile offenkundig: Beim Vertrieb etwa über Kataloge oder das Internet können Güter, die im Ladengeschäft erworben als Suchgüter zu qualifizieren wären, über deren Qualität sich die Abnehmer also mit nur geringem Aufwand durch bloßes Betrachten oder einfaches Ausprobieren informieren können, die Eigenschaften von Erfahrungsgütern annehmen, deren Qualität sich erst nach Vertragsschluss erschließt, nämlich nachdem der Abnehmer das Produkt zugeschickt bekommen hat, vgl. BE 14 FARL; Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 288–290; Rekaiti/Van den Bergh, JCP 23 (2000), 371, 380.
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Grundgedanke der Regelung ist also, dass ein funktionsfähiger Fernabsatzmarkt 55 wohlstandsfördernd und ein Widerrufsrecht ein nützliches Instrument ist, die Funktionsfähigkeit des Fernabsatzmarktes zu gewährleisten. Der Ausgestaltung der Fernabsatzrichtlinie ist jedoch auch zu entnehmen, dass der Regelgeber für bestimmte Konstellationen davon ausging, dass Wohlfahrtsnachteile durch die Einräumung eines Widerrufsrechts gegenüber den Vorteilen überwiegen würden. Dies kann einerseits bei relativ hohen Transaktionskosten für die Ausübung des Widerrufsrechts oder angesichts hoher Kosten aufgrund eines in bestimmten Konstellationen gesteigerten Risikos opportunistischen Verhaltens der Abnehmer der Fall sein.140 Diese Kosten fallen zwar beim Händler an, können von diesem aber – in Abhängigkeit von der Preiselastizität der Nachfrage – über die Preise an die Abnehmer weitergegeben werden. Andererseits ist der Nutzen des Widerrufsrechts geringer, wenn Marktmechanismen bereits die Risiken der Informationsasymmetrien im Fernabsatz (teilweise) kompensieren. Dieser Gedanke liegt etwa Art. 3 Abs. 3 lit. j) Verbraucherrechterichtlinie zugrunde, wonach der 56 Verbraucherschutz bei Fernabsatzverträgen bzw. bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen nicht für Verträge „über die Lieferung von Lebensmitteln, Getränken oder sonstigen Haushaltsgegenständen des täglichen Bedarfs“ gilt, wenn diese „im Rahmen häufiger und regelmäßiger Fahrten“ am Wohnsitz, Aufenthaltsort oder am Arbeitsplatz geliefert werden. Der Regelgeber vertraut hier darauf, dass das Interesse von Händlern, eine gute Reputation aufzubauen, in Bezug auf bestimmte Waren hinreicht, die Abnehmer zu schützen.141
Diese Mechanismen erschließen sich nicht unmittelbar aus der Regelung des Wider- 57 rufsrechts bzw. seines Anwendungsbereichs. Ihre Offenlegung gibt dem Rechtsanwender operable Kriterien an die Hand, um etwa die Fülle von Detailproblemen hinsichtlich der Ausnahmetatbestände vom Widerrufsrecht zu klären. So muss die Anwendung des Art. 3 Abs. 3 lit. j) Verbraucherrechterichtlinie davon abhängen, 58 dass der Reputationsmechanismus stark genug ist, um die Verbraucher vor den Risiken durch Informationsdefizite zu schützen. Dessen praktische Wirksamkeit hängt maßgeblich davon ab, dass sich gleichartige Transaktionen wiederholen, dass der Abnehmer vor einer wiederholten Transaktion die Qualität des Produktes verifizieren kann und dass der Anbieter seinem Geschäftsmodell entsprechend versuchen muss, eine gute Reputation aufzubauen und also auf Wiederholungskäufer angewiesen ist. Paradigmatisch hierfür stehen etwa Lieferservices für Pizzas.142
140 Diese Wertung lässt sich u. a. Art. 3 Abs. 3 lit. c), Art. 16 lit. b), c), e), g) Verbraucherrechterichtlinie entnehmen. In EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, EU:C:2009:502 Rn. 25 f., erkennt der Gerichtshof ausdrücklich an, dass dem Anbieter im Fernabsatz erlaubt sei, sich durch eine Wertersatzpflicht bei opportunistischem Verhalten des Kunden schadlos zu halten. 141 Rekaiti/van den Bergh, JCP 23 (2000), 371, 395 (noch zur Vorgängerregelung in der Fernabsatzrichtlinie). 142 Treffend wird die Bereichsausnahme denn auch als „Pizza-Klausel“ bezeichnet, MünchKommBGB-Wendehorst, § 312 BGB Rn. 68.
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§ 5 Vom Wert ökonomischer Argumente
3. Zur Zögerlichkeit des EuGH, explizit ökonomisch zu argumentieren 59 Das vorgenannte Beispiel der Keck-Rechtsprechung veranschaulicht, dass der Argu-
mentation des Gerichtshofs ökonomische Konzepte zugrunde liegen können, ohne dass dies in den Entscheidungsgründen explizit zum Ausdruck kommen würde. Die aus den Urteilen aufscheinende Zögerlichkeit des EuGH im Umgang mit ökonomischen Argumenten – die nicht nur im Hinblick auf die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten zu konstatieren ist, sondern für das gesamte Binnenmarktrecht143 – erklärt sich mit der unter Gerichten wohl verbreiteten Sorge, bei explizitem Rekurs auf ökonomische Theorie wie überhaupt bei Offenlegung von Entscheidungsmotiven, die über eine Einbettung in Präjudizien und dogmatische Erwägungen hinausgehen, ohne Not Angriffsflächen zu bieten.144 Hinzu kommt, dass Richter wohl wenig Interesse daran haben, ihre Entscheidungsmacht selbst zu beschränken: Denn insoweit sie ihre rechtliche Bewertung offen von der Einschätzung einer anderen Disziplin abhängen lassen, schränken sie letztlich ihre eigene Urteilsmacht ein.145 Erklärlich wird die Vorsicht aber auch angesichts der institutionellen Rahmenbedingungen. Beim EuGH treffen 27 Richterpersönlichkeiten mit heterogener juristischer Sozialisation und entsprechend differenziertem Methodenverständnis aufeinander.146 Schwierige und bedeutende Rechtssachen werden regelmäßig vor einer Großen Kammer mit 15 Richtern verhandelt; in außergewöhnlichen Fällen sogar durch das Plenum.147 Urteile sind deshalb nicht selten das Resultat einer schmerzhaften Kompromissfindung. Den beteiligten Richtern steht nicht die Möglichkeit offen, ein im Ergebnis zustimmendes, in der Begründung aber abweichendes Sondervotum zu formulieren (sog. „concurring opinion“). Unter diesen Bedingungen würden wohl auch exponierte Vertreter der „ökonomischen Analyse des Rechts“ wie Bork, Calabresi, Easterbrook oder Posner, die in den Vereinigten Staaten in hohe Richterämter gelangten,148 mit dem Versuch gezögert 143 Explizit auf ökonomische Erwägungen rekurrierte der Gerichtshof unter Hinweis auf die Gesetzgebungsmaterialien in EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov ./. Bilka, EU:C:2006:6 Rn. 28: Einen Zwischenhändler gleich einem Hersteller verschuldensunabhängig für durch fehlerhafte Produkte verursachte Schäden haften zu lassen, ergebe keinen Sinn, weil „der Lieferant in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle lediglich das gekaufte Produkt unverändert weitergebe und nur der Hersteller die Möglichkeit habe, auf die Qualität des Produktes einzuwirken“; anderenfalls würde „jeder Lieferant sich gegen eine solche Haftung […] versichern müssen, was zu einer starken Verteuerung der Produkte führen würde“. Der Gerichtshof begründet mithin die Konzentration der Produkthaftung beim Hersteller mit dessen Position als „cheapest cost avoider“, Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 883. 144 S.a. Baldus, in diesem Band, § 3 Rn. 123 und 125. 145 Nach Art. 25 EuGH-Satzung können die Richter Gutachten in Auftrag geben, die auch empirische oder theoretische ökonomische Fragen betreffen können, s.a. Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 893 f. 146 S.a. Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 3. 147 Art. 16 EuGH-Satzung und Art. 60 EuGH-VerfO. 148 Easterbrook ist Richter am U. S. Court of Appeals for the Seventh Circuit. Calabresi ist Senior Judge am U. S. Court of Appeals for the Second Circuit. Posner war Richter am U. S. Court of Appeals for the Seventh Circuit. Bork war Richter am U. S. Court of Appeals for the District of Columbia Circuit. Sei
Franck
IV. Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt
129
haben, einen Spruchkörper auf schneidige ökonomische Urteilsbegründungen festzulegen.149 Demgegenüber ist die institutionelle Stellung der Generalanwälte beim Europäi- 60 schen Gerichtshof eher dazu angetan, ökonomische Zielsetzungen so klar zu artikulieren, wie etwa der bereits zitierte150 Generalanwalt Geelhoed im Fall Temco oder auch Generalanwalt Maduro in der Rechtssache Viking mit Bezug auf die wohlfahrtsfördernde Ratio der Grundfreiheiten: „Im Wesentlichen schützen [die Vorschriften über den freien Warenverkehr und die Wettbewerbsregelungen] die Marktteilnehmer, indem sie es ihnen ermöglichen, gegen bestimmte Hindernisse vorzugehen, die es ihnen verwehren, auf dem Gemeinsamen Markt unter gleichen Bedingungen miteinander in Wettbewerb zu treten. Dass eine derartige Möglichkeit besteht, ist das entscheidende Element, wenn es darum geht, in der Union als Ganzem Kosteneffizienz [im Original heißt es präziser ‚eficiente afectação‘, also ‚Allokationseffizienz‘] herzustellen.“151 Gerade die dem Viking-Urteil zugrunde liegende Problematik einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch kollektive Maßnahmen der Arbeitnehmer (Streiks) offenbart freilich auch die Schranken derlei Rhetorik. Denn Entscheidungen zu den Grundfreiheiten laufen nicht selten auf eine Abwägung mit Schutzzielen nichtwirtschaftlicher Art hinaus, insbesondere mit Grundrechten152 oder sozialpolitisch induzierten Interessen.153 Hier stoßen Effizienzargumente an ihre „natürliche“ normative Grenze: Zielkonflikte zwischen Allokationseffizienz und anderen Gerechtigkeitsprinzipien (Verteilungsgerechtigkeit, Schutz unantastbarer bzw. nur der Abwägung zugänglicher subjektiver Rechte) kann die ökonomische Analyse nicht auflösen.154 Der EuGH tut deshalb gut daran, ökonomische Wohlfahrtsargumente aus solchen Abwä-
ne Nominierung für den U. S. Supreme Court durch Präsident Reagan scheiterte im Jahre 1987 am Votum des Senats. 149 S. etwa aus der U. S.-amerikanischen Rechtsprechung Eckstein v. Balcor Firm Investors, 8 F.3d 1121 (7th Cir. 1993) (Easterbrook, J.); Lake River Corp. v. Carborundum Co., 769 F.2d 1284 (7th Cir. 1985) (Posner, J.). 150 S. oben bei Fn. 66. 151 GA Maduro, Schlussanträge v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 Viking Line, EU:C:2007:292 Tz. 33. 152 EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 Schmidberger, EU:C:2003:333 Rn. 70–94 (Versammlungsfreiheit); EuGH v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 Omega, EU:C:2004:614 Rn. 32–41 (Menschenwürde). Vgl. mit Blick auf das normative Verbraucherleitbild der Binnenmarktregulierung Franck/Purnhagen, in: Mathis (Hrsg.), Law and Economics in Europe, S. 329, 353–355. 153 EuGH v. 25.10.2001 – verb. Rs. C-49, 50, 52–54, 68–71/98 Finalarte, EU:C:2001:564 Rn. 31–34, 49– 52 (Arbeitnehmerschutz); EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, EU:C:2007:772 Rn. 77–89 (kollektive Maßnahmen der Arbeitnehmer). 154 Ott/Schäfer, JZ 1988, 213, 219. Die ökonomische Analyse kann allerdings Aussagen darüber treffen, auf welchem Wege verteilungspolitische Ambitionen in effizienter Weise verwirklicht werden können: Die Ausrichtung privatrechtlicher Normen, die Markttransaktionen betreffen, ist hierbei nicht erste Wahl, Zusammenfassung der wesentlichen Argumente bei Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 170–172 und Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 874–876, jeweils mwN. Franck
130
§ 5 Vom Wert ökonomischer Argumente
gungsentscheidungen herauszuhalten.155 Zwar ist der Gerichtshof Wächter eines freien Binnenmarktes und Garant der damit bezweckten Effizienzvorteile. Die Marktfreiheit steht aber nicht über allem und der EuGH versucht mit gutem Grund durch ausgleichende Urteile, sich nicht in die Rolle eines einseitig auf Liberalisierung und Freihandel ausgerichteten Protagonisten drängen zu lassen. 61 Diese Relativierungen sollten allerdings keine Prozesspartei entmutigen, ökonomische Argumente in Form theoretischer oder empirischer Wirkungsanalysen hinsichtlich der Anwendung binnenmarktrechtlicher Normen vorzubringen.156 Fundierte ökonomische Argumente werden beim Europäischen Gerichtshof Gehör finden, auch wenn sie letztlich nicht explizit in einer Urteilsbegründung widerhallen.
155 Damit sei nicht gesagt, dass eine Wohlfahrtsanalyse nicht denkbar wäre, weil sich subjektiven Grundrechtspositionen etc. prinzipiell keine individuelle Zahlungsbereitschaft zuordnen ließe: Gegen Zahlung welcher Summe hätte sich wohl jeder einzelne Demonstrant, der am 12.6.1998 für mehr als 24 Stunden die Brenner-Autobahn blockierte und damit den freien Warenverkehr im Binnenmarkt behinderte (EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 Schmidberger, EU:C:2003:333), sein Recht auf Versammlungsfreiheit „abkaufen“ lassen? Oder: Wieviel wäre er bereit gewesen, für ein Blockaderecht zu zahlen? Vertreter der „Glücksforschung“ nehmen in Anspruch, mit ihren Methoden den individuellen und damit auch kollektiven Nutzen messen zu können, den Bürger aus ihren Freiheitsrechten und politischen Mitwirkungsrechten schöpfen können, s. Frey/Stutzer, Happiness & Economics (2002), S. 134–151. 156 S. a. Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 10.
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2. Teil Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen § 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Literatur: Christian Baldus, Ein weiterer Schritt zur horizontalen Direktwirkung? – Zu EuGH, C-201/02, 7.1.2001 (Delena Wells), GPR 2003/2004, 124–126; Christian Baldus/Thomas Raff, Good news, bad news zu horizontaler Direktwirkung und europäischer Methodenlehre: Weitere Konstitutionalisierung des unionalen und nationalen Privatrechts, GPR 2018, 175-179; Jürgen Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge (2. Aufl. 2009), S. 489–557; Albert Bleckmann, Zur Funktion des Gewohnheitsrechts im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 1981, 101–123; ders., Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Gerhard Lüke/Georg Ress/Michael R. Will (Hrsg.), Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatsintegration, Gedächtnisschrift für Léontin-Jean Constantinesco (1983), S. 61–81; Fabrizio Cafaggi, Private Regulation in European Private Law, in: Arthur S. Hartkamp u. a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (4. Aufl. 2011), S. 91–126; Claus-Wilhelm Canaris, Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, in: Hartmut Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht – Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 65. Geburtstags von Reiner Schmidt (2000), S. 29–67; Thomas Eilmansberger, Zur Direktwirkung von Richtlinien gegenüber Privaten – Ist nach CIA, Unilever, Ingmar, Daehmpaehl, Ferreira und Heiniger jetzt alles ganz anders?, JBl. 2004, 283–295 und 364–376; Beate Gsell/Carsten Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht. Die Konzeption der Richtlinie am Scheideweg? (2009); Bettina Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts – Insbesondere zur Reichweite europäischer Auslegung (2004); dies., Europäisches Privatrecht (5. Aufl. 2020); Martijn W. Hesselink, Non-Mandatory Rules in European Contract Law, ERCL 1 (2005), 44–86; Michael Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten – Untersuchung der Verpflichtung von Privatpersonen durch Art. 30, 48, 52, 49, 73b EGV (1997); Christian Joerges, Europäisierung als Prozess: Überlegungen zur Vergemeinschaftung des Privatrechts, in: Stephan Lorenz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag (2005), S. 205–224; Friedemann Kainer, Rückkehr der unmittelbar-horizontalen Grundrechtswirkung aus Luxemburg? NZA 2018, 894–900; Torsten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004); Katja Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (4. Aufl. 2017), S. 1–40; Sebastian A.E. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013); Christian Meurs, Normenhierarchien im europäischen Sekundärrecht (2012); Axel Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009); Hans-Werner Micklitz, Europäisches Regulierungsprivatrecht: Plädoyer für ein neues Denken, GPR 2009, 254–263; Oliver Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung von EG-Richtlinien zwischen Privaten in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 2009, 219–240; ders. Private Enforcement im sekundären Unionsprivatrecht – (k)eine klare Sache?, RabelsZ 83 (2019), 797 – 840; ders. Europäisierung des Privatrechts durch die Hintertür? – Einige Gedanken zum Einfluss der Grundrechte-Charta auf das nationale Privatrecht in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH (Egenberger, Bauer, CCOO u. a.), JZ 2019, 1066-1074; Peter-Christian Müller-Graff, Die horizontale Direktwirkung der Grundfreiheiten, EuR 2014, 3–30; Gunnar Pampel, Rechtsnatur und Rechtswirkungen horizontaler und vertikaler Leitlinien im reformierten europäischen Wettbewerbsrecht (2005); Oliver Re
Köndgen/Mörsdorf https://doi.org/10.1515/9783110614305-006
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§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
mien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003); Karl Riesenhuber/Ronny Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre – Zugleich eine Besprechung von EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u. a., RIW 2005, 47–54; WulfHenning Roth, Secured Credit and the Internal Market: The Fundamental Freedoms and the EU’s Mandate for Legislation, in: Horst Eidenmüller/Eva-Maria Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe (2008), S. 36–67; ders., Rechtssetzungskompetenzen für das Privatrecht in der Europäischen Union, EWS 2008, 401–413; ders., Privatautonomie und die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, in: Volker Beuthien u. a. (Hrsg.), Perspektiven des Privatrechts am Anfang des 21. Jahrhunderts: Festschrift für Dieter Medicus (2009), 393–422; ders., The Importance of the Instruments Provided for in the Treaties for Developing a European Legal Method, in: Ulla Neergaard/Ruth Nielsen/Lynn Roseberry (Hrsg.), European Legal Method – Paradoxes and Revitalisation (2011), S. 75–94; Christoph Schönberger, Normenkontrollen im EG-Föderalismus – Die Logik gegenläufiger Hierarchisierungen im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, 600; Wolfgang Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002); Konrad Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH (2009); Stephan Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2002).
Rechtsprechung: EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos, EU:C:1963:1; EuGH v. 12.9.1974 – Rs. 36/74 Walrave, EU:C:1974:140; EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 van Duyn, EU:C:1974:133; EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU: C:1994:292; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, EU:C:1995:463; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/ 97 Carbonari, EU:C:1999:98; EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, EU:C:2000:296; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-442/02 CaixaBank France, EU:C:2004:586; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, EU:C:2004:12; EuGH, v. 22.11.2005 – Rs- C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, EU:C:2007:772; EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, EU:C:2009:716; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21; EuGH v. 1.3.2011 – Rs. 236/09 Test-Achats, EU: C:2011:100; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 AMS, EU:C:2014:2; EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257; EuGH v. 14.5.2019, Rs. C- 55/18 CCOO, EU:C:2019:402.
Systematische Übersicht I.
II.
Grundlagen 1–26 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre 1–8 2. Mehrstufigkeit und Mehrdirektionalität: einige Grundbegriffe 9–13 3. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts 14–26 a) Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: von der unmittelbaren Berechtigung zur unmittelbaren Verpflichtung 15–19 b) Der regulatorsiche Charakter des Europäischen Privatrechts 20–26 Das Primärrecht als Rechtsquelle des Privatrechts 27–52 1. Grundfreiheiten 28–38
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a)
2.
Die Grundfreiheiten als Grenze und Inpflichtnahme mitgliedstaatlichen Privatrechts 28–32 b) Bindung der Union 33–34 c) Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) 35–38 EU-Grundrechte, insbesondere: die Grundrechte-Charta 39–52 a) Die Unionsgrundrechte als neuer Akteur auf der Bühne des Europäischen Privatrechts 39 b) Der Ausgangspunkt: Die Kontrolle der Union als ursprüngliche Funktion eines unionalen Grundrechtsschutzes 40–41 c) Umkämpftes Terrain: Die beschränkte Bindung der Mitglied-
I. Grundlagen
staaten an die GrundrechteCharta 42–47 d) Die Bindung Privater an die Unionsgrundrechte 48–52 III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion 53–85 1. Richtlinien 54–78 a) Richtlinien als „mediatisierte“ Rechtssetzung 55–57 b) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung 58–67 aa) Beschränkter Regelungsbereich und überschießende Umsetzung 59 bb) Mindestharmonisierung oder Vollharmonisierung? 60–66 cc) Defizite bei den Rechtsfolgen 67 c) Keine Horizontalwirkung von Richtlinien 68–74 d) Die Bedeutung der Begründungserwägungen 75–78 2. Verordnungen 79–83 a) Die Bedeutung der Verordnung für das Europäische Privatrecht 79
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b)
Keine Einwirkungs- sondern Abgrenzungsfragen im Fokus 80 aa) Die äußere Abgrenzung des Anwendungsbereichs privatrechtsvereinheitlichender Verordnungen, insbesondere bei optionalen Instrumenten 81–82 bb) „Innere“ Abgrenzungsprobleme: Das Binnenkollisionsrecht der supranationalen Rechtsformen 83 3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts 84 4. Richterrecht und richterliche Rechtsfortbildung 85 IV. Europäisches Soft Law 86–94 1. Mitteilungen und Aktionspläne 86–90 a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission 86 b) Leitlinien 87–88 c) Empfehlungen und Aktionspläne 89–90 2. Ko-Regulierung und „privatisierte“ Regulierung durch Expertenrecht 91–94 V. Résumé und Ausblick 95
I. Grundlagen 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre Seit geraumer Zeit schon rechnet die Rechtsquellenlehre zu jenen Gebieten der all- 1 gemeinen Rechtstheorie, die als eher steril und langweilig gelten und in denen theoretischer Fortschritt nicht mehr stattfindet. Sogar das Prädikat, eine „Theorie“ zu sein, wird ihr verweigert; man belässt sie auf dem Status einer Handvoll einfacher und praxistauglicher Definitions- und Systematisierungsregeln. Das provoziert geradezu die Grundsatzfrage: Wozu brauchen wir überhaupt eine Rechtsquellenlehre – von europäischer Rechtsquellenlehre ganz zu schweigen? Bei näherem Hinsehen erweist sich denn auch, dass die herkömmliche Rechts- 2 quellenlehre mindestens1 vier ziemlich heterogene Grundfragen der Rechtstheorie zu beantworten sucht.
1 Vgl. zu weiteren Fragestellungen etwa Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 64; Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, § 6. Köndgen/Mörsdorf
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3
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6
7
§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
Die erste Frage gilt der Herkunft von Recht. Dazu haben sich die Philosophen auf eine vorpositive Naturordnung, auf eine imaginäre volonté générale, eine Grundnorm oder schlicht auf die Verwirklichung der „Rechtsidee“ berufen. Die Soziologen – allen voran Max Weber – bevorzugen eine genetische Perspektive und sehen Recht entweder aus Tradition, aus autoritativer Setzung oder aus richterlicher Praxis (Präjudizien) entstehen. Ein zweites Thema der Rechtsquellenlehre ist die Abgrenzung der Rechtsquellen als Normen von anderen rechtserzeugenden Einzelakten wie Verwaltungsentscheidungen oder Verträgen, und zwar nach dem Kriterium der Allgemeinheit der Regelung. Die dritte Fragestellung begreift Rechtsquellen nicht nur als Verhaltensgebote und als Teil der normativen Struktur der Gesellschaft, sondern als Rechtserkenntnisquellen.2 Rechtsquellen haben demnach immer zwei Adressaten. Als Verhaltensprogramm berechtigen oder verpflichten sie ein (privates oder öffentliches) Rechtssubjekt. Als materielles Entscheidungsprogramm steuern sie das Entscheidungsverhalten des Rechtsanwenders. Diese bidimensionale Geltung wird sich gerade für die Rechtsquellen des Europarechts als wichtig erweisen. Mit dem Blick auf den Rechtssatz als Entscheidungsprogramm berührt die Rechtsquellenlehre sich mit der Methodenlehre der Rechtsanwendung. Aus dem so definierten Begriff der Rechtsquelle hat sich ein viertes Thema der Rechtsquellenlehre entwickelt. Es gilt jetzt, die Vielzahl vorfindlicher Quellen der Rechtsfindung definitorisch abzugrenzen und sie zugleich in ein hierarchisches System einzuordnen („Stufenbau der Rechtsordnung“).3 Wie schwierig dies im Einzelnen ist, zeigt sich etwa im Kontext mit der äußerst kontroversen Rechtsprechung des EuGH zum Binnenverhältnis von Unionsgrundrechten und Sekundärrecht und den hiermit einhergehenden Ausstrahlungswirkungen auf das Außenverhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht.4 Angesichts der Abstraktionshöhe der meisten Theoreme der Rechtsquellenlehre möchte man meinen, dass diese sich in den luftigen Höhen der Rechtstheorie bewegt und der Rechtssetzungspraxis wenig zu sagen hat. Rechtsvergleicher wissen, dass dies ein Irrtum ist. Auch die Rechtsquellenlehre ist in weiten Bereichen durch nationalstaatliche oder zumindest rechtskreisspezifische und rechtskulturelle Eigenheiten geprägt, und sie ist als solche nicht nur Gegenstand der Theorie, sondern verbindliches normatives (Meta-)Programm. Die Eigenständigkeit der angelsächsischen5 oder
2 Vgl. bereits Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und des Staates (1949), S. 116; neuerdings auch wieder Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 537 f. 3 Dazu statt vieler Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 272 f. 4 Zu den Eckpfeilern dieser noch nicht abgeschlossenen Rechtsprechungsentwicklung zählen die Urteile EuGH, v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 74 ff.; EuGH v. 1.3.2011 – C-236/09 Test Achats, EU:C:2011:100 Rn. 24 ff. sowie zuletzt EuGH v. 14.5.2019, Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402, Rn. 33, 71. 5 Repräsentativ Hart, The Concept of Law (2. Aufl. 1997); Stone, Legal System and Lawyers’ Reasonings (1964).
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I. Grundlagen
135
der französischen6 Rechtsquellenlehre erbringt dafür schlagenden Beweis – von den Besonderheiten des Völkerrechts7 ganz zu schweigen. Auch ein Beitrag zur Europäischen Rechtsquellenlehre wird deshalb nicht umhin können, unter Vermeidung jeglichen „methodologischen Nationalismus“8 von der Hypothese einer autonomen und originär europäischen Lehre auszugehen und deren Spezifika herauszuarbeiten. Für erhebliche Irritationen, aber auch für durchaus neuartige Fragestellungen in 8 der Rechtsquellenlehre sorgt der supranationale Charakter der Union.9 Die Produktion von Recht ist traditionell als nationalstaatliche Kompetenz begriffen worden. Im unionsrechtlichen Kontext, genauer gesagt: im Außenverhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht, verliert das Konzept eines „Stufenbaus der Rechtsordnung“, welches im deutschen Inlandsrecht kaum noch ein Streitgegenstand ist, bereits hinsichtlich der Existenz einer „Grundnorm“ an Tragfähigkeit: Schon das Europäische Primärrecht ist nach der sog. Lissabon-Entscheidung des BVerfG eine von souveränen Mitgliedstaaten „abgeleitete Grundordnung“.10 Erst recht sind die sog. „Handlungsformen“ des Art. 288 AEUV in ihrer Gesamtheit abgeleitetes Recht „zweiter Ordnung“ – abgeleitet jedoch nicht aus einer Grundnorm „Verfassung“, sondern aus einem völkerrechtlichen Vertrag,11 dessen „Grundnorm“ nicht eine wie immer verstandene umfassende Rechtsidee, sondern der Integrationsauftrag ist.12
2. Mehrstufigkeit und Mehrdirektionalität: einige Grundbegriffe13 Die Eigenart der Europäischen Rechtsquellenlehre zeigt sich darin, dass sie nicht nur 9 eine – so gut wie allen Rechtsordnungen geläufige – „hierarchische“ Mehrstufigkeit verschiedener Regelungsebenen kennt, sondern auch drei verschiedene Normadressaten (Mehrdirektionalität), nämlich die Union selbst, die Mitgliedstaaten und – für das Europäische Privatrecht besonders wichtig – die Unionsbürger. Im Mehrebenensystem der Rechtsquellen14 steht hierarchisch obenan das Primär- 10 recht, verkörpert im EU-Vertrag, im Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, letzterer in der Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), und in der Europäischen Grundrechte-Charta. Im Rang unter 6 Dazu Sonnenberger, FS Lerche (1993), S. 548 ff. 7 Dazu Tietje, ZfRSoz 24 (2003), 27. 8 Davor warnt etwa Joerges, FS Heldrich (2005), S. 206. Ein – vereinzelter – Vertreter dieser Richtung ist P. Kirchhof, DRiZ 1995, 253, 259; ders., JZ 1998, 965 Fn. 96. 9 I.E. W.-H. Roth, The Importance of the Instruments, S. 79 ff. 10 BVerfGE 123, 267 Rn. 231 – Lissabon-Vertrag. 11 Dies hat sich auch nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags nicht geändert. 12 Vertiefend hierzu Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 205 ff. 13 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf das für das Verständnis des Folgenden Unerlässliche. 14 Statt vieler und mwN Schwarze-Schwarze, Art. 288 AEUV Rn. 11 ff.
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136
§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
dem Primärrecht und auf dessen Grundlage geschaffen (vgl. allgemein Art. 288 AEUV) existiert das Sekundärrecht, bestehend aus Richtlinien und Verordnungen.15 Nicht vollständig geklärt ist hierbei der Status der als „ungeschriebenes Unionsrecht“ geltenden Allgemeinen Rechtsgrundsätze,16 die als lückenfüllende Prinzipien sowohl primärrechtlichen17 als auch sekundärrechtlichen Rang einnehmen können. Als „in“ der Union geltendes Recht kann schließlich auf einer dritten Ebene das Recht der Mitgliedstaaten in das Mehrebenensystem einbezogen werden. 11 In der konkreten Ausprägung gestaltet sich das hierarchische Verhältnis der einzelnen Ebenen indes deutlich komplexer als das dem deutschen Juristen geläufige Verhältnis zwischen Grundgesetz und einfachgesetzlichem Recht. Dies betrifft, anders als man vermuten möchte, bereits die innereuropäische Dimension des Mehrebenensystems, also das Binnenverhältnis zwischen unionalem Primär- und Sekundärrecht. Zwar besteht hier im Grundsatz Einigkeit hinsichtlich der Einordnung als klassisches Stufenverhältnis, wonach Normen niedrigeren Rangs (Sekundärrecht) durch Normen einer höheren Rangstufe (Primärrecht) legitimiert werden und an diesen zu messen sind.18 Erhebliche Friktionen mit diesem rechtsquellentheoeretischen Idealbild bis hin zu einer inversen Normenhierarchie in bestimmten Rechtsbereichen können sich aber aus Rückkoppelungseffekten des Außenverhältnisses zwischen dem Unionsrecht (im Ganzen) und dem mitgliedstaatlichen Recht ergeben.19 12 Letzteres Außenverhältnis weist gegenüber dem innerdeutschen Vergleichsobjekt ohnehin einige Besonderheiten auf, welche durch den Lissabon-Vertrag nicht restlos geklärt wurden. Statt einer einfachen derogatorischen Regel „Unionsrecht bricht Mitgliedstaatenrecht“ hat sich hier ein – terminologisch allerdings wenig unterscheidungskräftiges20 – Zweistufenkonzept durchgesetzt, welches sich auch das BVerfG zu eigen gemacht hat.21 Hiernach kommt bestimmten Normen des Unionsrechts zunächst „unmittelbare Geltung“ auch gegenüber einzelnen Bürgern und Unternehmen zu, ohne dass es hierzu eines mitgliedstaatlichen Transformationsakts bedarf; dies je-
15 Die in Art. 288 AEUV ebenfalls genannte Handlungsform des Beschlusses ist ein polyvalentes Konzept, das von verwaltungsaktähnlichen Einzelfallregelungen (z. B. Art. 108 Abs. 2, 122 Abs. 2 AEUV) über abstrakt-generelle Rahmennormen (z. B. Art. 95 Abs. 4, 96 Abs. 2 AEUV) bis zu Änderungen des Primärrechts im Wege des vereinfachten Änderungsverfahrens und des sog. Brückenverfahrens (Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV) reicht. 16 Nicht zu verwechseln mit den in Art. 2, 6 und 9 f. EUV formulierten „Werten“ und „Grundsätzen“. Vgl. im Übrigen wieder Schwarze-Schwarze, Art. 288 AEUV Rn. 11, 14–16. 17 Z. B. als gemeineuropäisches Verfassungsrecht. 18 I.E. Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 15 f.; W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 364: „Normhierarchie, wie dies für eine Verfassung typisch ist.“ 19 Mörsdorf, JZ 2019, 1066, 1067 ff.; siehe dazu noch ausführlich Rn. 45 f. 20 Rechtssoziologisch gesehen ist die Unterscheidung zwischen „unmittelbarer Geltung“ und „Anwendungsvorrang“ eher künstlich, kann man sich doch eine Normgeltung ohne gleichzeitige allgemeine Anwendbarkeit schwer vorstellen. 21 BVerfGE 123, 267 Rn. 335–339 – Lissabon-Vertrag.
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denfalls, soweit solche Normen einen derartigen Geltungsanspruch überhaupt erheben, was gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV ohne weiteres für Verordnungen zutrifft, nach der Rechtsprechung des EuGH aber auch für andere Normen, soweit sie klar und eindeutig, unbedingt, vollständig und rechtlich vollkommen sind, darunter insbesondere die Vorschriften über die Grundfreiheiten.22 Gilt hiernach eine unionsrechtliche Norm unmittelbar, dann stellt sich – in Stufe 2 – die Frage der Verdrängung entgegenstehenden Mitgliedstaatenrechts. Statt einer vollständigen Derogation durch „Geltungsvorrang“ besteht hier lediglich ein „Anwendungsvorrang“ des Unionsrechts,23 der das mitgliedstaatliche Recht nur insoweit zurückdrängt, „wie es die Verträge erfordern und nach dem (…) innerstaatlichen Anwendungsbefehl auch erlauben“24 – also eine Art Teilnichtigkeit, die die Geltung des Mitgliedstaatenrechts namentlich im nicht grenzüberschreitenden Bereich unberührt lässt. Auch die Mehrdirektionalität des Unionsrechts folgt keinem einheitlichen Prinzip. 13 Während es zumeist offensichtlich ist, wann eine Norm die Union selbst oder die Mitgliedstaaten adressiert, ist die Geltung einer Vorschrift im Privatrechtsverhältnis unter den Bürgern (bzw. den Unternehmen) teilweise strittig. Einige Normen – wie etwa Verordnungen mit rein privatrechtlichem Gehalt (unten Rn. 79 f.) oder die kartellrechtlichen Vorschriften des AEUV – zielen überhaupt nur auf solche „Privatwirkung“,25 für die meisten Normen, wie insbesondere die Grundfreiheiten und die Grundrechte bedarf sie indes einer besonderen Rechtfertigung, wobei die diesbezügliche Rechtsprechung des EuGH, wie zu zeigen sein wird, zum Teil erhebliche Inkonsistenzen aufweist.
3. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts Bei den folgenden Überlegungen zu den privatrechtsspezifischen Grundfragen der eu- 14 ropäischen Rechtsquellenlehre kann es nicht dabei bewenden, lediglich deskriptiv die verschiedenen Handlungsformen europäischer Rechtssetzung auf ihren privatrechtlichen Gehalt durchzudeklinieren. Fundamental für den Einfluss der europäischen Rechtsquellen auf das Privatrecht sind vor allem zwei Einsichten. Beide sind nicht mehr unbedingt neu; und doch ziehen sie sich wie ein roter Faden durch die Beiträge zu diesem Band.
22 Leading Case ist EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, EU:C:1963:1 Rn. 25 f.; Meinungsstand bei Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 1 AEUV Rn. 25 f. 23 Vgl. EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 54. 24 BVerfGE 123, 267 Rn. 335 – Lissabon-Vertrag. 25 Dies der Titel der gleichnamigen Schrift von Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht.
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a) Der (Markt)Bürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: von der unmittelbaren Berechtigung zur unmittelbaren Verpflichtung 15 Das Privatrecht ist dadurch charakterisiert, dass es Privatpersonen Rechte und ggf. hieraus abgeleitete Ansprüche gegen andere Privatpersonen einräumt. Mit dem Recht der einen Person korrespondiert mithin stets die Pflicht der anderen. In Bezug auf die Rechtsquellen des Unionsrechts sind aber sowohl die Berechtigung als auch die Verpflichtung von Privatpersonen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, seit jeher Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. 16 Der Herleitung privater Rechte aus unionalen Rechtsquellen schien ursprünglich die völkerrechtliche Konstruktion der europäischen Verträge entgegenzustehen, deren Eierschalen die europäische Rechtsquellenlehre bis heute noch nicht ganz abgestreift hat. Wie im Völkerrecht war auch unter den Römischen Verträgen nur den einzelnen Mitgliedstaaten Staatlichkeit (nach innen) und Rechtssubjektivität (nach außen) zu eigen. Selbst die Grundfreiheiten waren eher ein Rechtssetzungsauftrag für die Mitgliedstaaten zur Herstellung des Binnenmarktes als ein subjektives Recht der Marktbürger. Deren Rechtssubjektivität erschöpfte sich in einigen eher kümmerlichen und als akzidentielle Sanktionsdrohungen für mitgliedstaatliche Rechtsverletzungen begriffenen Klagerechten vor dem EuGH.26 Die den Vorrang des Unionsrechts prozessual sicherstellende Vorlagepflicht der nationalen Gerichte ist eine Verpflichtung der dritten Gewalt, kein Recht des privaten Klägers. Dass die Union als solche Adressatin des europäischen Primärrechts sein könnte, blieb ebenso einer viel späteren Einsicht vorbehalten wie dass der Marktbürger – bzw. später der Unionsbürger (Art. 9 EUV) – zentrales Subjekt des europäischen Rechts und seiner Quellen ist. 17 Den Wendepunkt in dieser traditionellen Hinsicht markierte zweifellos das Urteil Van Gend en Loos aus dem Jahr 1963. In dieser Leitentscheidung des Unionsverfassungsrechts hatte der Gerichtshof festgestellt, dass die Mitgliedstaaten mit dem Abschluss der Gründungsverträge eine eigene Rechtsordnung geschaffen haben, welche nicht nur wechselseitige Rechte der Mitgliedstaaten untereinander begründet, sondern zugleich – unter bestimmten Voraussetzungen – unmittelbar gegenüber den Mitgliedstaten geltend zu machende Rechte Einzelner.27 In der Folgezeit wurde dieses unionale Individualrechtsschutzkonzept28 um weitere Elemente ergänzt, wie etwa die Nichtanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts29 oder, aus privatrechtlicher Perspektive besonders bedeutsam, um Schadensersatzansprüche des Einzelnen im Falle einer Verletzung seiner individuellen Rechte durch einen Mitgliedstaat.30
26 Vgl. zum früheren Rechtszustand etwa noch v.d. Groeben/Thiesing/Ehlermann-Krück, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag (5. Aufl. 1997), Art. 173 EGV Rn. 38 ff. 27 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 Van Gend & Loos, EU:C:1963:1 Rn. 24 f. 28 Zum Individualschutzkonzept und seinen Elementen Mörsdorf, RabelsZ 83 (2019) 795, 800 ff. 29 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal II, EU:C:1978:49 Rn. 28, bestätigt in EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 77. 30 EuGH v. 19.11.1991 – Rs. 6/90 Francovich, EU:C:1991:428 Rn. 33 ff.
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Auch hinsichtlich der Herleitung individueller Rechte hat sich die Lage mit den Jahren weiter ausdifferenziert. Während dem Urteil van Gend en Loos ein bis heute das Binnenmarktrecht prägender funktionaler Ansatz zugrunde liegt, welcher den Marktbürger lediglich zum Zwecke der Durchsetzung des Unionsrechts mobilisiert, lieferte der unionale Normbestand schon früh auch Anknüpfungspunkte für originär-individuelle, dem Einzelnen um seiner selbst willen verliehene Rechtspositionen (etwa in Gestalt des heute in Art. 157 AEUV verankerten Grundsatzes der Entgeltgleicheit). Mit der Einführung der Unionsbürgerschaft und dem Inkrafttreten der Grundrechte-Charta als verbindliches Primärrecht hat dieser originäre Individualrechtsschutz als Ausweis der fortschreitenden Konstitutionalisierung des Unionsrechts einen weiteren Bedeutungszuwachs erfahren. Welch langen Weg das Europäische Recht hier inzwischen gegangen ist, erweist sich nicht zuletzt an einem Vergleich mit dem heutigen Entwicklungsstand der Institutionen und des Individualrechtsschutzes in der WTO. Trotz alledem bedurfte es aber noch eines weiteren grundsätzlichen Schritts, um 18 den Unionsbürger auch mit europäischer Privatrechtssubjektivität auszustatten. Denn zunächst schien sich die europäische Rechtssubjektivität des Marktbürgers darauf zu beschränken, dass er sich gegen unionsrechtswidriges Verhalten eines Mitgliedstaates, insbesondere gegen Verletzungen der Grundfreiheiten, zur Wehr setzen konnte – ein sozusagen öffentlich-rechtliches Verständnis.31 Schon rasch, parallel zur Entdeckung des Marktbürgers als Inhaber unionaler Rechte, zeigten indes weitere Urteile des EuGH, dass die Rechtsquellen des Unionsrechts den einzelnen Marktbürger auch unmittelbar verpflichten können und damit auch im Privatrechtsverhältnis von Marktbürger zu Marktbürger32 Wirkungen entfalten. Marksteine dieser Entwicklung (auf die im Einzelnen unten Rn. 35 ff. und Rn. 48 ff. noch einzugehen sein wird) sind die Bindung des privaten Arbeitgebers an das heute in Art. 157 AEUV verankerte Verbot der Entgeltdiskriminierung sowie die unmittelbare Geltung der Grundfreiheiten im Privatrechtsverhältnis. Erstaunlich an dieser Rechtsprechung mag für den deutschen Juristen erscheinen, 19 dass das Unionsrecht anders als das nationale Verfassungsrecht kaum Berührungsängste gegenüber einer Bindung Privater an fundamentale, originär staatsgerichtete Normen hegt. Dies erklärt sich gewiss zu einem Teil daraus, dass bestimmte Rechtsquellen des Primärrechts, wie etwa das an Unternehmen gerichtete Wettbewerbsrecht (Art. 101 ff. AEUV) und das den Arbeitgeber verpflichtende Gebot der Entgeltgleichheit (Art. 157 AEUV), bereits konzeptionell auf eine Privatrechtswirkung hin ausgerichtet sind. Noch schwerer dürfte aber der Umstand wiegen, dass der EuGH die Bindung Privater an die Verbürgungen des Primärrechts im Ausgangspunkt mit dem effet utile begründet hat, welcher den Mitgliedstaaten eine „Flucht ins Privatrecht“ verbauen
31 Zu einem Rückblick aus heutiger Sicht Langenbucher-dies., § 1 Rn. 29 ff. 32 Hier als Oberbegriff über Unternehmer/Unternehmer-Beziehungen („b2b“) und Unternehmer/Verbraucher-Beziehungen („b2c“).
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soll.33 Bezeichnenderweise gerät dann auch gerade dort Sand ins Getriebe der neuen Konzeption, wo der EuGH, wie bei der Direktwirkung von Richtlinien, auf einen effet utile-basierten Ansatz verzichtet und stattdessen mit der unzulässigen Berufung auf eigenes Fehlverhalten (in der Terminologie des Common Law: estoppel) wieder einen eher dem völkerrechtlichen Verständnis verhafteten Ansatz bemüht.34
b) Der „regulatorische“ Charakter des Europäischen Privatrechts 20 Noch eine weitere Erkenntnis muss am Anfang einer Betrachtung der Rechtsquellen
des europäischen Privatrechts stehen: Das traditionelle Verständnis sieht im Privatrecht35 den Inbegriff der Normen, die – im Regelfall als dispositives Recht – die Rechtsbeziehungen unter Privaten regeln. Die Funktion dieses Privatrechts ist, mit einem treffenden englischen Ausdruck, „facilitative“, d. h. es will den Privatrechtssubjekten die Ordnung ihrer privaten Beziehungen erleichtern, indem es ihnen Regelungsmuster offeriert, derer sie sich bedienen können oder auch nicht. Regelungen mit einem solchen Anspruch finden sich im Unionsrecht allerdings nicht. Umfassende Kodifikationsprojekte wie die Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuchs36 sind vielmehr schon mangels einer allgemeinen Privatrechtskompetenz der Union Wunschtraum geblieben, und selbst bescheidenere Vorhaben wie ein der Erleichterung des grenzüberschreitenden Online-Handels dienendes Gemeinsames Europäisches Kaufrecht37 scheiterten letztlich an der (vermeintlich) fehlenden Notwendigkeit einer unionseinheitlichen Regelung. 21 Insbesondere das letztgenannte Beispiel demonstriert denn auch auf anschauliche Weise, dass die Verbindung zwischen Unionsrecht und Privatrecht bis heute im Wesentlichen eine funktionale geblieben ist. Das nationale Privatrecht gerät, wie alle übrigen Teile des nationalen Rechts, mit dem Unionsrecht immer dann in Konflikt, wenn es dessen Integrationszielen zuwiderläuft; umgekehrt erlässt der Unionsgesetzgeber Regelungen mit Privatrechtsbezug nur dann, wenn solche Regelungen die Ziele der Union fördern. Diese Funktionsbezogenheit verleiht dem privatrechtsbezogenen Unionsrecht zwangsläufig einen fragmentarischen Charakter, was Versuche einer Systembildung erschwert, wenn auch nicht unmöglich macht. 22 Ein immer noch zentrales Ziel der Union ist die Errichtung des Binnenmarktes, welcher neben den Wettbewerbsregeln vor allem durch die Grundfreiheiten gewähr
33 Langenbucher-dies., § 1, Rn. 34. 34 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 22; siehe zur (fehlenden) Horizontalwirkung von Richtlinien noch unten Rn. 68 ff. 35 Hier ausschließlich verstanden als privates Vermögensrecht, d. h. unter Ausschluss personenrechtlich gefärbter Regelungsbereiche wie dem Familien- und Erbrecht. 36 Dazu der Beitrag von Schmidt-Kessel, Vorauflage, § 17 Rn. 47 ff. 37 Zu diesem Projekt, seinen Defiziten und den Gründen seines Scheiterns Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 6 ff.
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leistet wird. Unionsrecht mit Privatrechtsbezug ist dann auch in erster Linie Marktrecht. Am deutlichsten scheint dieser Bezug auf, wo nationales Privatrecht unmittelbar an den Vorgaben der Grundfreiheiten gemessen wird, wie etwa das nationale Gesellschaftsrecht am Maßstab der Niederlassungsfreiheit. Aber auch dort, wo der Unionsgesetzgeber privatrechtliche Regelungen und Regelungsvorgaben schafft, ist dieser Marktbezug stets vorhanden, wenn auch weniger sichtbar. Dies gilt insbesondere in den zahlreichen Konstellationen, in denen sich die Schaffung privatrechtlicher Regelungen als quid pro quo einer durch das Unionsrecht bewirkten Marktöffnung nach dem Herkunftslandprinzip darstellt. Dort, wo den Mitgliedstaaten, wie etwa im Kapitalmarktrecht oder im Datenschutzrecht, eine Anwendung ihrer nationalen Marktregeln unter Berufung auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses verwehrt sein soll, setzt das Unionsrecht zur Vermeidung transaktionshemmender Schutzdefizite und Wettbewerbsverzerrungen selbst auf einheitliche Verhaltensstandards. Dass es sich hierbei stets um privatrechtliche Standards mit entsprechenden Haftungsfolgen handeln muss, ist dabei alles andere als ausgemacht. Vielmehr sind privatrechtliche Gestaltungen nur ein mögliches Instrument der Marktregulierung, welchem hoheitliche Instrumente als Alternative gegenüberstehen.38 Die Wahl zwischen privatrechtlicher und hoheitlicher Regulierung oder auch einer Kombination aus beidem bleibt letztlich der autonomen Entscheidung des Unionsgesetzgebers überlassen. Einer etwas anderen, aber ebenfalls marktbezogenen Logik folgt die Harmonisierung von Rechts- 23 bereichen, für welche das internationale Privatrecht ein (kollisionsrechtliches) Marktortprinzip vorgibt, wie dies etwa im Verbraucherprivatrecht (Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO) oder im Produkthaftungsrecht (Art. 5 Rom II-VO) der Fall ist. Hier kommt der Angleichung mitgliedstaatlicher Verhaltensstandards eine unmittelbar marktöffnende Funktion zu, indem eine solche Angleichung die aus den Rechtsunterschieden erwachsenden Transaktionskosten (insbes. Informationskosten) senkt und hiermit einen einheitlichen unionsweiten Vertrieb ermöglicht.39 Auch insoweit hat der Unionsgesetzgeber letztlich die Wahl zwischen privatrechtlicher und hoheitlicher Marktregulierung, wobei bisher im Bereich des Verbraucherschutzes, der mitgliedstaatlichen Tradition folgend, privatrechtliche Regelungen dominieren
Was an dieser marktregulierenden Funktion privatrechtlicher Normen lange Zeit eher 24 unbemerkt blieb, sind die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die tradierte Zweiteilung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, mit der man sich nicht nur in Deutschland so bequem eingerichtet hatte.40 Denn die Indienststellung des Privatrechts für Zwecke der Marktregulierung hat nicht nur im Wirtschaftsrecht die Grenzlinien zwischen (privatautonomer) Wettbewerbsfreiheit und (öffentlicher) Wirt-
38 Zur marktregulierenden Funktion des Privatrechts sind in letzter Zeit einige Qualifikationsschriften erschienen, so etwa Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016 und Franck, Marktordnung durch Privatrecht, 2017; Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012. 39 Zu diesem Harmonisierungsziel etwa W.-H. Roth, in: Gsell/Herresthal, Vollharmonisierung im Privatrecht, 2009, S. 13, 38 ff. 40 Vgl. aber von Wilmowsky, JZ 1996, 590. Köndgen/Mörsdorf
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schaftsverwaltung flüssig gemacht,41 sondern sie stellt für den ganzen Bereich des Privatrechts den traditionellen Gegensatz von privatautonomer Gestaltung und hoheitlichem Eingriff in Frage.42 Regulierungsprivatrecht ist längst zu einer intermediären Kategorie geworden, bei der die formale Zuordnung zum privaten oder zum öffentlichen Recht eher ein Produkt von Effizienzüberlegungen als von Systemgerechtigkeit ist. Im Unionsrecht wird dies nur deutlicher als im nationalen Recht, weil hier der marktregulierende Charakter privatrechtsbezogener Regelungen wegen des auf Marktöffnung angelegten Binnenmarktziels klarer zutage tritt. 25
Nur zwei konträre Beispiele: §§ 63 ff. WpHG statuieren „Wohlverhaltenspflichten“ für Wertpapierdienstleister, welche auf entsprechende Regelungsvorgaben in Art. 24 ff. der Richtlinie 2014/65/ EU (MiFID II) zurückgehen. Auch wenn es sich bei diesen Pflichten in ihrem materiellen Kern um Geschäftsbesorgungsrecht und damit nach traditioneller Auffassung um Privatrecht reinsten Wassers handelt, hat sich der Unionsgesetzgeber für ein primär hoheitliches Durchsetzungsregime entschieden und die Etablierung ergänzender privatrechtlicher Sanktionen der Regelung durch die Mitgliedstaaten überlassen.43 Der BGH weigert sich indes ebenfalls, den von ihm als „öffentlich-rechtlich“ bezeichneten Pflichten unmittelbare Auswirkungen auf das Schuldverhältnis zwischen Wertpapierdienstleistungsunternehmen und Kunde zu bescheinigen.44 Das Gegenbeispiel: Die besonderen Informationspflichten beim Vertragsabschluss mit Verbrauchern – sämtlich ein Produkt des Europäischen Richtlinien-Privatrechts – verunzieren seit 2002 zunehmend das BGB (§§ 312a, 312d, 312j Abs. 2, 491a f. BGB; Art. 246a f. EGBGB). Anders als bei den kapitalmarktrechtlichen Wohlverhaltenspflichten sieht hier jedoch bereits das Unionsrecht privatrechtliche Rechtsfolgen vor, wie etwa die Verlängerung der Widerrufsfrist (§ 356 Abs. 3 BGB), die Vertragsnichtigkeit (§ 494 Abs. 1 BGB) oder eine Vertragsänderung zum Nachteil des Unternehmers (§ 494 Abs. 2–6 BGB). Weitere privatrechtliche Rechtsfolgen und hier namentlich Schadensersatzansprüche ergeben sich nach h. M. aus der Qualifikation der Informationspflichten als vorvertragliche Pflichten i. S. d. § 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB.45
26 Der Vollständigkeit halber darf in diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben, dass es
sich bei den Regelungen des Europäischen Privatrechts zwar zu einem großen Teil, aber nicht ausschließlich um Marktrecht handelt. Vielmehr hat sich dem (binnen) marktregulierenden Normbestand in den letzten Jahrzehnten privatrechtsgestalten-
41 Vgl. bereits Basedow, in: ders. u. a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition (2002), S. 15 ff.; vgl. auch daselbst, S. 322 f. 42 In diese Richtung auch Micklitz, GPR 2009, 245, 255 ff. Illustrativ ferner die bereichsspezifischen Analysen in Cafaggi/Muir Watt (Hrsg.), The Regulatory Function of European Private Law (2009). 43 Für die Vorgänger-Regelung (MiFID I) folgt dies bereits aus EuGH v. 13.5.2013 – Rs. C-604/11 Genil, EU:C:2013:344 Rn. 57 und es besteht, entgegen einzelnen Stimmen im Schrifttum kein Anlass, hinsichtlich der aktuellen, noch „verwaltungslastigeren“ Regelung von etwas Anderem auszugehen, vgl zum Ganzen Mörsdorf, RabelsZ 83 (2019) 795. 833 f. auch mN zur Gegenauffassung. 44 BGH, ZIP 2013, 2001, dazu kritisch J. Koch, ZBB 2014, 211, 215 f. 45 MüKoBGB/Wendehorst § 312c Rn. 139, 144). In der Praxis dürften solche Ansprüche aber meist an einem fehlenden Schaden des Verbrauchers scheitern. Nach h.L. soll die Versäumung dieser Pflichten auch keine Vertragsnichtigkeit zur Folge haben; vgl. nur Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch, § 312c BGB Rn. 27 mwN; a. A. Reich, EuZW 1997, 581, 585.
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II. Das Primärrecht als Rechtsquelle des Privatrechts
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des Unionsrecht mit anderer, insbesondere sozialpolitischer Zielkonzeption hinzugesellt. Angesprochen seien hier namentlich das Antidiskriminierungsrecht sowie die ebenfalls privatrechtlich ausgestalteten Regelungen zum Arbeitnehmerschutz, die jeweils aufgrund eigenständiger, vom Binnenmarktziel entkoppelter Kompetenzgrundlagen erlassen wurden. Auch insoweit stellt sich das Privatrecht für den Unionsgesetzgeber zwar grundsätzlich nur als ein mögliches Instrument zur Verwirklichung der mit derartigen Regelungen verfolgten Politikziele dar. Keine Wahl bleibt dem Unionsgesetzgeber freilich in Konstellationen, in welchen primärrechtliche Rechtsverbürgungen, wie insbesondere die Unionsgrundrechte, einen Individualschutz zwingend vorgeben.46
II. Das Primärrecht als Rechtsquelle des Privatrechts Anders als bei den spezifisch privatrechtsgestaltenden Sekundärrechtsakten er- 27 schließt sich die Privatrechtsrelevanz der abstrakt formulierten Verbürgungen des Primärrechts erst auf den zweiten Blick. Zudem zählt die Frage, ob und inwieweit die Normen des Primärrechts eine multidirektionale Rechtsquelle sind, immer noch zu den umstrittensten Fragen der europäischen Rechtsquellenlehre. Die Unsicherheit gründet darin, dass die einzelnen Rechtsquellen (Grundfreiheiten, Grundrechte) unterschiedlichen Zielkonzeptionen folgen, mit denen jeweils nur die Adressatenstellung einer Ebene (Mitgliedstaaten oder Union) zweifelsfrei korreliert, während die Adressatenstellung der jeweils anderen Ebene der Rechtfertigung bedarf. Als besonders problematisch gestaltet sich die Bindung von Privatpersonen an die Verbürgungen des Primärrechts, wobei auch insoweit erhebliche Unterschiede zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten bestehen.
1. Grundfreiheiten a) Die Grundfreiheiten als Grenze und Inpflichtnahme mitgliedstaatlichen Privatrechts Als zentrale Bausteine des Binnenmarktes binden die Grundfreiheiten unstreitig die 28 Mitgliedstaaten, indem sie diese zur Gewährleistung des reibungslosen Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital in die Pflicht nehmen. Die Grundfreiheiten etablieren damit unter anderem rechtfertigungsbedürftige (Art. 36 AEUV) inhaltliche Grenzen für das mitgliedstaatliche Privatrecht.47 Als Maßstab für das Privat46 Analyse dieser Konstellationen bei Mörsdorf, RabelsZ 83 (2019) 795, 819 ff. 47 Vgl. nur Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 399; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten, S. 178 und passim; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 22 ff.
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recht von Bedeutung ist dabei zum einen das in den Grundfreiheiten schon ursprünglich enthaltene Diskriminierungsverbot,48 darüber hinaus aber auch das durch den EuGH erstmals im Dassonville-Urteil zur Warenverkehrsfreiheit entwickelte, später auf die weiteren Grundfreiheiten übertragene Beschränkungsverbot. Hiernach können auch nichtdiskriminierende Regelungen des mitgliedstaatlichen Rechts als Beschränkung von Grundfreiheiten wirken, soweit jene „geeignet [sind], den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“.49 Allerdings ist dieser extensive Beschränkungsbegriff zwischenzeitlich durch das Keck-Urteil des EuGH50 und dessen Folgerechtsprechung insofern wieder reduziert worden, als Regelungen, die nicht spezifisch den Marktzugang behindern, nicht als Beschränkungen aufzufassen sind.51 29 Im Privatrecht betrifft diese Einschränkung nicht nur Teile des Lauterkeitsrechts (UWG), sondern weite Teile des Bürgerlichen Rechts. Andererseits sind produktgestaltende Vertragsvorschriften typischerweise vom Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten erfasst. Dies gilt insbesondere für Dienstleistungen in Form sog. Rechtsprodukte, deren Inhalt und Charakteristik erst durch ein Geflecht vertragsgesetzlicher und formularmäßiger Inhaltsbestimmungen konstituiert ist.52 Hauptbeispiele sind etwa Versicherungen, Konsumentenkredite oder Investmentanteile; nicht von ungefähr sah sich die Union gerade hier zur Vermeidung von Behinderungen des Binnenmarkts zu umfangreicher Harmonisierung veranlasst. Exemplarisch ist dazu eine Entscheidung des EuGH, die das im französischen Bankrecht bestehende Verbot verzinslich geführter Girokonten als Beschränkung des Marktzugangs ausländischer Anbieter solcher Konten verworfen hat.53 Stein des Anstoßes ist in diesem Kontext auch immer wieder § 489 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 4 BGB, der für den Darlehensnehmer vertraglich unabdingbare vorfällige Kündigungsmöglichkeiten statuiert und damit die Freiheit unionsweit operierender Banken hinsichtlich der Ausgestaltung und Kalkulation ihrer Geschäftsmodelle empfindlich einschränkt. 30 Unter den übrigen Materien des Privatrechts hat sich vor allem das Gesellschaftsrecht als anfällig für Konflikte mit den Grundfreiheiten erwiesen. So wurde etwa im
48 Eine Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit stand etwa im Raum in EuGH v. 12.9.1974 – Rs. 36/74 Walrave, EU:C:1974:140 (Verbandsregelung, wonach die Mitglieder von Radbahnrenn-Teams zwingend dieselbe Nationalität haben müssen) und EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC, EU: C:2005:762 (Einräumung der Möglichkeit zur Umwandlung von Gesellschaften nur auf inländische Geselschaften). 49 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, EU:C:1974:82. 50 EuGH v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91 Keck, EU:C:1993:905. 51 Zur Unzulänglichkeit der im Keck-Urteil für die Warenverkehrsfreiheit statuierten Dichotomie zwischen Produktregelungen und Vertriebsmodalitäten sowie dem in der späteren Rechtsprechung erfolgten schrittweisen Übergang zum flexibleren Marktzugangskriterium vgl. Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 50 ff. 52 I.E. Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, § 3 Rn. 84–86. 53 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-442/02 CaixaBank France, EU:C:2004:586 Rn. 11–16.
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II. Das Primärrecht als Rechtsquelle des Privatrechts
Nachgang zum VW-Urteil des EuGH diskutiert, inwieweit der nationale Gesetzgeber vor dem Hintergrund der (sekundären) Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit ein anlegerfreundliches Gesellschaftsrecht vorhalten muss.54 Der Hauptkonflikt zwischen den Grundfreiheiten (hier speziell der Niederlassungsfreiheit) und dem nationalen Recht ergibt sich allerdings in Bezug auf die Mobilität der Gesellschaften selbst. Hier hat der EuGH in einer Reihe von Urteilen aus der Niederlassungsfreiheit ein Recht von EU-Gesellschaften hergeleitet, ihren Verwaltungssitz rechtsformwahrend in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen oder sich in die Rechtsform eines anderen Mitgliedstaates umzuwandeln.55 Diese Rechtsprechung zeitigt nicht nur erhebliche Auswirkungen auf das materielle Gesellschaftsrecht, indem sie nationale Vorschriften zum Schutz von Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern und Arbeitnehmern einem Rechtfertigungsdiskurs unterstellt. Vielmehr ergeben sich auch deutliche Einschnitte in das nationale Gesellschaftskollisionsrecht, welches auf Basis der in einigen Mitgliedstaaten noch immer herrschenden Sitztheorie weder eine durch die Niederlassungsfreiheit vorgegebene Anerkennung von EU-Auslandsgesellschaften in ihrer heimischen Rechtsform noch ein grenzüberschreitender Formwechsel solcher Gesellschaften sinnvoll gewährleisten kann. In der Konsequenz gebietet die Niederlassungsfreiheit hier somit einen auf Binnenmarktkonstellationen beschränkten Übergang zur Gründungstheorie,56 welchen der BGH später auch nachvollzogen hat.57 Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass auch dem Internationa- 31 len Privatrecht im Ganzen ein erhöhtes Potential zur Beschränkung der Grundfreiheiten bescheinigt wird.58 Gerade im IPR können die Grundfreiheiten zudem nicht nur als Beschränkungsverbot wirken, sondern auch als „positive“ Pflicht der Mitgliedstaaten, den zwischenstaatlichen Güterverkehr erleichternde „internationale Sachnormen“ zu schaffen.59 Auf der Schnittstelle zwischen Sachenrecht und IPR liegt hier das Recht der Mobiliarsicherheiten im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr. Hier mag zwar die situs-Regel des IPR (Art. 43 EGBGB), soweit sie lediglich die Begründung dinglicher Mobiliarsicherheiten betrifft, keine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit darstellen (Art. 63 AEUV).60 Mit guten Gründen lässt sich jedoch behaupten, dass die Nichtanerkennung eines im Heimatstaat rechtswirksam begründeten Eigentumsvorbehalts
54 Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317. 55 Guter Überblick über die einzelnen Urteile und ihre Einordnung bei Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2019, § 3 Rn. 12-42. 56 So ausdrücklich W.-H. Roth, IPRaX 2006, 338, der insoweit von einer „Meta-Kolisionsnorm“ spricht; a. A. MüKoBGB-Kindler, IntGesR Rn. 123. 57 BGHZ 154, 185, 188. 58 Grundsätzlich zum Verhältnis von Grundfreiheiten und IPR Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 435 mwN; erste Überlegungen auch bereits bei W.-H. Roth, RabelsZ 55 (1991) 623, 638 ff. 59 W.-H. Roth, in FS Heldrich, 2005, S. 973, 988; zur Abwesenheit einer die grenzüberschreitende Verschmelzung von Gesellschaften erleichternden Vorschrift im deutschen Recht EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC, EU:C:2005:762 Rn. 21 ff., 30. 60 W.-H. Roth, in: Eidenmüller/Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe, S. 47 f.
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im Fall der Grenzüberschreitung der Vorbehaltssache sich vor der Warenverkehrsund der Kapitalverkehrsfreiheit nur rechtfertigen lässt, wenn der Vorbehalt in eine gleichwertige Sicherheit des „Importlandes“ umgewandelt wird.61 32 Umstritten ist im Schrifttum dagegen nach wie vor, ob auch dispositives Privatrecht am Maßstab der Grundfreiheiten zu messen ist.62 Dafür spricht die Erwägung, dass der durch eine dispositive Regelung belastete Marktteilnehmer neben der Informationslast auch die Abbedingungslast trägt, so dass die Wahlfreiheit der Kontrahenten in der Praxis allenfalls als virtuelle Wahlmöglichkeit, nicht jedoch als aktuelle Entscheidungsmacht existiert.63 Zudem sollte – und dies keineswegs nur im AGBRecht – die Leitbildfunktion dispositiver Regeln nicht aus dem Blick verloren werden. Auch dispositive Regeln reflektieren bestimmte Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers, mögen diese auch „weicher“ und ermessensabhängiger sein als beim regulierenden Recht. Andererseits ist jedoch anerkannt, dass allein die unionsweite Diversität der nationalen Privatrechte und die damit einhergehenden Informationskosten bei grenzüberschreitenden Geschäften in einem föderalen Verbund kein relevantes Integrationshindernis darstellen.64 Und auch die Abbedingungslast stellt sich bei näherem Besehen als weniger problematisch dar, als dies zunächst scheinen mag. Zum einen trifft eine solche Last ausschließlich Unternehmer im Verkehr mit anderen Unternehmern (b2b-Konstellation), weil Verbrauchern über Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO ohnehin die ihnen günstigen Vorschriften ihres Heimatrechts erhalten bleiben. Zum anderen ist die erschwerte Abbedingung einer bestimmten dispositiven Regelung letztlich nicht Ausdruck einer marktbeschränkenden Wirkung dieser Regelung, sondern, im Gegenteil, Ausdruck eines funktionierenden Marktes, indem die von der Regelung abweichende Leistung offensichtlich vom Markt nicht nachgefragt wird.65 Alles in allem sprechen daher die besseren Argumente dafür, dispositive Regelungen nicht am Maßstab der Grundfreiheiten zu messen. Dies gilt auch für Regelungen, die im nationalen Recht zwingend ausgestaltet sind, solange eine kollisionsrechtliche Abwahl dieser Regelungen möglich ist.66 Letzteres hat der EuGH, wenn auch nur im Rahmen eines obiter dictum, sogar ausdrücklich festgestellt.67
61 W.-H. Roth, in: Eidenmüller/Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe, S. 48–61. 62 Dafür Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 79; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 26 mwN.; dagegen W.-H. Roth, FS Everling (1995), S. 1231–1247; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 89–91; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 64 f. 63 Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 26 f. 64 Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 68; vgl. bereits EuGH v. 28.6.1978 – Rs. 1/78 Kenny, EU:C: 1978:140 Rn. 18/20; EuGH v. 1.2.1996 – Rs. C-177/94 Perfili, EU:C:1996:24 Rn. 17. 65 So zu Recht Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 64 f. 66 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 89–91; a. A. Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 64 f. 67 EuGH v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 Alsthom Atlantique, EU:C:1991:28 Rn. 15.
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II. Das Primärrecht als Rechtsquelle des Privatrechts
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b) Bindung der Union Weniger Klarheit als bezüglich der mitgliedstaatlichen Bindung besteht hinsichtlich 33 einer Bindung der Union selbst an die Grundfreiheiten bzw. der Intensität einer solchen Bindung. Dies mag überraschen, weil der Gedanke, dass die Union an das Verhalten ihrer eigenen Organe nicht den gleichen Maßstab anlegt wie an das Verhalten der Mitgliedstaaten auf den ersten Blick fernliegend erscheint. Gleichwohl wird von einigen Autoren die Adressatenstellung der Union mit durchaus beachtlichen Argumenten vollständig abgelehnt. Prominent ist der Ansatz von Kingreen, wonach die Grundfreiheiten, anders als die Grundrechte, von ihrer Zielkonzeption her nicht die supranationale Legitimation des Unionsgesetzgebers beschränken sollen, sondern als transnationale Integrationsnormen ausschließlich der Kompensation föderaler, von den Mitgliedstaaten ausgehender Gefährdungslagen dienen.68 Für diesen Ansatz spricht die klare, dem jeweiligen Entstehungskontext Rechnung tragende Trennung der beiden wichtigsten Rechtsquellenkategorien des Primärrechts. Auch würden durch eine Zurücknahme der Grundfreiheiten bei der Kontrolle des Unionsgesetzgebers keine „Schutzlücken“ entstehen, weil freiheitsbeschränkendes Sekundärrecht in jedem Fall an den EU-Grundrechten und hier namentlich an der in Art. 16 GRCh verbürgten Unternehmerfreiheit zu messen ist. Durchsetzen konnte sich diese Extremposition gleichwohl nicht, weil sowohl der 34 EuGH als auch große Teile des Schrifttums eine Bindung der Union an die Grundfreiheiten im Grundsatz anerkennen.69 Bezeichnend ist allerdings, dass der Gerichtshof den Organen der Union, anders als den Mitgliedstaaten, regelmäßig einen sehr weiten Entscheidungsspielraum einräumt.70 Die Bindung der Union an die Grundfreiheiten wird zudem dadurch konterkariert, dass der Gerichtshof bisweilen den Inhalt einer Grundfreiheit anhand konkretisierender Sekundärrechtsakte definiert.71 Erklären lässt sich diese Vorgehensweise wohl am ehesten mit einem Gedanken, den Schönberger als das „Phänomen gegenseitiger Hierarchisierungen“ umschrieben hat.72 Danach bedingt in jungen föderalen Ordnungen,73 in denen der Vollzug des Bundesrechts bei den teilstaatlichen Behörden liegt, die in diesem Falle notwendige starke Hierarchisierung zwischen Bundesrecht und Teilstaatenrecht eine geringe Binnenhierarchisierung
68 Calliess/Ruffert-Kingreen, EUV/AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 110. 69 EuGH v. 17.5.1984 – Rs. 15/83 Denkavit Nederland, EU:C:1984:183 Rn. 15; aus dem Schrifttum siehe nur Streinz-Schroeder, EUV/AEUV, Art. 34 AEUV Rn. 29 mwN. 70 EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-51/93 Meyhui, EU:C:1994:312 Rn. 20 ff. 71 Vgl. etwa EuGH v. 17.1.2008 – Rs. C-256/06 Jäger, EU:C:2008:20 Rn. 24; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C567/07, Woningsstichting Sint Servatius, EU:C:2009:593 Rn. 20 (jeweils Bestimmung der Recihweite der Kapitalverkehrsfreiheit am Maßstab der Nomenklatur in Anhang I der Richtlinie 88//361/EG [Kapitalverkehrs-Richtlinie]). 72 Schönberger, EuR 2003, 600, 613 ff. 73 Schönberger nennt als Beispiele die Schweiz und das Deutsche Reich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.
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zwischen den bundestaatlichen Ebenen.74 Überträgt man diesen Gedanken auf das europäische Mehrebenensystem, so kommt dem Sekundärrecht die Funktion zu, die oftmals abstrakten Rechtsverbürgungen des Primärrechts durch Konkretisierung als Maßstab für das mitgliedstaatliche Recht überhaupt erst handhabbar zu machen und hierdurch die Durchsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten zu erleichtern.75 Dies bedingt wiederum, dass das Primärrecht keine allzu starken materiellen Anforderungen an das Sekundärrecht entwickeln darf.76
c) Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) 35 Ebenso wenig wie eine Bindungswirkung gegenüber der Union war den Grundfreiheiten eine Bindungswirkung gegenüber Privatpersonen in die Wiege gelegt. Hierüber vermag auch die unstreitige Horizontalwirkung einzelner primärrechtlicher Verbürgungen wie das (private) Unternehmer adressierende unionale Wettbewerbsrecht (Art. 101 ff. AEUV) oder das (auch private) Arbeitgeber adressierende Gebot der Entgeltgleichheit (Art. 157 AEUV) nicht hinwegzutäuschen. Natürlicher Adressat der Grundfreiheiten sind vielmehr die Mitgliedstaaten, denen die in ihrem Kern völkerrechtlichen Verträge die Beseitigung der zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Handelshemmnisse auftragen.77 Die Feststellung, dass auch Privatpersonen an die Grundfreiheiten gebunden sein können, ist dagegen einer späteren Erkenntnis geschuldet und speist sich in ihren Ursprüngen aus dem effet utile-Gedanken. So hatte der EuGH schon in der ersten einschlägigen Entscheidung die Bindung eines Sportverbands an die Arbeitnehmerfreizügigkeit mit der Argumentation bejaht, dass andernfalls „die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkung beeinträchtigt würde, dass privatrechtliche Vereinigungen oder Eirichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichten.“78 Die Bindung privater Verbände und sonstiger „intermediärer Gewalten“ an die Grundfreiheiten beruht damit im Kern auf dem Gedanken eines Umgehungsschutzes, demzufolge sich die Mitgliedstaaten ihrer Integrationsverantwortung nicht durch eine „Flucht ins Privatrecht“ entziehen können sollen. In weiteren Urteilen hat der EuGH diese Rechtsprechung nicht nur auf sämtliche Personenverkehrsfreiheiten, sondern darüber hinaus auch auf nicht-regulative Grundfreiheitsbeschränkungen (Blockademaßnahmen seitens einer
74 Schönberger, EuR 2003, 600, 601 ff., 613 ff. 75 Schönberger, EuR 2003, 600, 601., 614.; zustimmend Jestaedt, VdVdDSL 64 (2005), 298, 323. 76 Schönberger, EuR 2003, 600, 601 f., 613 ff. 77 Gegen ein Vorverständnis der Grundfreiheiten als primär staatsgerichtete Beschränkungsverbote dagegen Müller-Graff, EuR 2014, 3, 7 ff. 78 EuGH v. 12.9.1974 – Rs. 36/74 Walrave, EU:C:1974:140 Rn. 16-19; bestätigt in EuGH v. 15.2.1995 Rs. C-415/93 Bosman, EU:C:1995:463 Rn. 82 ff. Köndgen/Mörsdorf
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Gewerkschaft) ausgedehnt,79 Alle genannten Fälle zeichnen sich indes dadurch aus, dass seitens der intermediären Gewalt „von außen“ auf den Marktprozess eingewirkt wird.80 Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat es der EuGH freilich nicht bei einer Adres- 36 satenstellung intermediärer, von außen auf den Marktprozess einwirkender Gewalten belassen, sondern darüber hinaus die Auswahlentscheidung eines einzelnen Arbeitgebers an dem in dieser Grundfreiheit enthaltenen Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit gemessen.81 Zwar ist auch eine solche Möglichkeit argumentativ schon im Urteil Walrave angelegt, wo der Gerichtshof ganz allgemein „sonstige Vereinbarungen, die nicht von staatlichen Stellen herrühren“ als potentiell unionsrechtswidrig eingestuft hat. Die Gleichsetzung von staatlicher Regelung und individueller Vereinbarung ist in diesem Kontext gleichwohl nicht unproblematisch, weil sie die individuelle Entscheidung der Marktakteure hinsichtlich der Wahl des Vertragspartners einem Rechtfertigungsdiskurs unterstellt. Ein solcher Rechtfertigungszwang zur Gewährleistung eines gleichen Zugangs zur Arbeit und sonstigen „öffentlichen Gütern“82 mag zwar unter dem Label eines auf dem Gedanken des Grundrechtsschutzes basierenden „Europas der Bürger“ geboten sein und ist inzwischen auch für zahlreiche Unterscheidungsmerkmale sowohl sekundärrechtlich als auch primärrechtlich etabliert. Im Recht des Binnenmarktes als einer auf der Privatautonomie der Marktteilnehmer basierenden Wettbewerbsordnung mutet eine solche Regelung hingegen auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper an, zumal der wohlfahrtsökonomische Nutzen privatrechtlicher Diskriminierungsverbote eher zweifelhaft ist.83 Dies hat den EuGH freilich nicht daran gehindert, die Bindung privater Arbeitgeber an das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit im Sinne eines „Erst-recht-Schlusses“ auf seine Rechtsprechung zur Bindung des privaten Arbeitgebers an das heute in erster Linie gesellschaftspolitisch motivierte Verbot der geschlechtsbezogenen Entgeltdiskriminierung (Art. 157 AEUV) zu stützen.84 In dieser Verschmelzung binnenmarktbezogener und gesellschaftspolitischer Diskriminierungsverbote85 manifestiert sich einmal mehr die Metamorphose der EU von der Wirtschafts- zur Wertgemeinschaft.86
79 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, EU:C:2007:772 Rn. 56 ff. 80 W.-H. Roth, FS Medicus, S. 393, 403; Leczykiewicz/Weatherill-Davies, The Involvement od EU Law in Private Law Relationships, S. 53, 62; Sponholz, Rechtsfolgen von Diskriminierungen, S. 37. 81 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, EU:C:2000:296 Rn. 35 f. 82 Zur Einstufung von Erwerbsgelegenheiten als „öffentliches Gut“ im Sinne des Antiskriminierungsrecht Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, S. 226. 83 Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 12 ff. 84 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, EU:C:2000:296 Rn. 35 f.; EuGH v. 9.7.2008 – Rs. C-94/07 Raccanelli, EU:C:2008:425 Rn. 45 f. 85 Die Unterscheidung binnenmarktbezogener und gesellschaftspolitischer Diskriminierungsverbote geht zurück auf Basedow, ZEuP 2008, 230, 234 ff. 86 Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 52 ff.
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Völlig unberührt von derartigen Wandlungen blieb hingegen lange Zeit die Warenverkehrsfreiheit, für welche der EuGH eine Bindung Privater nach anfänglich anderslautenden Signalen87 bis vor wenigen Jahren noch ausdrücklich ablehnte.88 Ob sich hieran durch das im Jahr 2012 ergangene Urteil Fra.bo89 Entscheidendes geändert hat, bleibt unklar.90 Zwar hat der Gerichthof in diesem Urteil die Bindung eines privaten Zertifizierungsvereins an die Warenverkehrsfreiheit bejaht.91 Aus der Begründung lässt sich indes mangels jedweder „Drittwirkungsrhetorik“ nicht herleiten, ob hierfür nicht letztlich die gesetzliche Einbindung der Zertifizierungstätigkeit in den hoheitlichen Prozess der Produktzulassung und damit die Zuordnung des Zertifizierungsvereins zur staatlichen Sphäre ausschlaggebend war. 38 Gerade in Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit findet sich freilich ein alternativer Ansatz zur Begründung einer mittelbaren Privatrechtswirkung. So hat der Gerichtshof wiederholt aus dieser Grundfreiheit eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten hergeleitet, von Privatpersonen ausgehende Beeinträchtigungen des Warenverkehrs zu unterbinden.92 Im späteren, zur Niederlasungsfreiheit ergangenen Urteil Viking begegnet dieses dem deutschen Verfassungsjuristen wohlvertraute Schutzpflichtkonzept sogar als Parallelbegründung für eine unmittelbare Bindung Privater,93 wobei das dogmatische Verhältnis beider Begründungsansätze (unmittelbare Bindung Privater versus staatliche Schutzpflicht) im Diffusen bleibt. In der neueren, sich zunehmend in den Bereich der Grundrechte verlagernden Drittwirkungs-Rechtsprechung taucht das Schutzpflichtkonzept erstaunlicherweise nicht mehr auf, obwohl sich so manches hier auftretende Problem mit diesem Konzept überzeugender bewältigen ließe.94
2. EU-Grundrechte, insbesondere: die Grundrechte-Charta a) Die Unionsgrundrechte als neuer Akteur auf der Bühne des Europäischen Privatrechts 39 Neben den Grundfreiheiten treten heute mehr denn je die Unionsgrundrechte als wichtige Rechtsquelle des Europäischen Privatrechts auf den Plan. Dies war nicht im-
87 EuGH v. 22.1.1981 – Rs. 58/80 Dansk Supermarket, EU:C:1981:17 Ls. 3 und Rn. 17. 88 EuGH v. 5.4.1984 – verb. Rs. 177/82 und 178/82 van Haar u.a., EU:C:1984:144 Rn. 11, 12; EuGH v. 1.10.1987 – Rs. 311/85 Vlaamse Reisbureaus, EU:C:1987:418 Rn. 30. 89 EuGH v. 12.6.2012 – Rs. C-171/11 Fra.bo, EU:2012:453. 90 Ein Bekenntnis des EuGH zur Horizontalwirkung der Warenverkehrsfreiheit bejahend etwa W.-H. Roth, EWS 2013, 16, 24; Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 1023, dort Fußnote 148 a. E. 91 EuGH v. 12.6.2012 – Rs. C-171/11 Fra.bo, EU:2012:453 Rn. 32. 92 EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 Kommission gegen Frankreich (Französiche Bauernproteste), EU: C:1997:595 Rn. 32; EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 Schmidberger (Brenner-Blockade), EU:C:2003:333 Rn. 59. 93 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, EU:C:2007:772 Rn. 62. 94 Siehe dazu noch unten Rn. 48 ff.
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mer so, fristete doch der zur Kontrolle des Unionsgesetzgebers entwickelte unionale Grundrechtsschutz über lange Jahre, jedenfalls in seiner Wahrnehmung durch die privatrechtliche Zunft, eher ein Schattendasein. Dies änderte sich schlagartig, nachdem das Mangold-Urteil des EuGH das privatrechtsgestaltende Potential der EU-Grundrechte vor Augen geführt hatte.95 Allerdings schien sich dieses Potential zunächst ausschließlich über die mitgliedstaatliche Bindung an die Unionsgrundrechte zu entfalten und damit zugleich an die seit jeher umkämpften Beschränkungen dieser Bindung gekoppelt zu sein. Die dynamische Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH auf diesem Gebiet zeigt indes, dass der Gerichtshof mit der Grundrechtsbindung der Union und der Grundrechtsbindung Privater Wege gefunden hat, sich dieser Beschränkungen zu entledigen und die Grundrechte zu eigenständigen Maßstabsnormen für das Privatrecht auszubauen.96
b) Der Ausgangspunkt: Die Kontrolle der Union als ursprüngliche Funktion eines unionalen Grundrechtsschutzes Vereinzelte Normen mit grundrechtlichem Gehalt enthielten schon die Gründungsver- 40 träge. Prominentestes Beispiel ist das Gebot der Entgeltgleichheit, welches heute in Art. 157 AEUV verankert ist. 97 Die eigentliche Geburtsstunde eines breitflächigen unionalen Grundrechtsschutzes schlug freilich, als der EuGH im Urteil Stauder die Vereinbarkeit eines Sekundärrechtsakts mit den in den allgemeinen Grundsätzen der Union enthaltenen Grundrechten feststellte, deren Einhaltung der EuGH sicherzustellen habe.98 Die Postulierung einer Grundrechtskontrolle für Rechtsakte der EU erfolgte indes nicht ganz freiwillig, sondern diente auch und vor allem der Besänftigung nationaler Verfassungsgerichte, welche die Zurücknahme der eigenen, nationalen Grundrechtskontrolle unter die Bedingung eines äquivalenten Grundrechtsschutzes auf Unionsebene stellten.99 Im Laufe der Zeit wurde der unionale Grundrechtsschutz stetig ausgebaut. Als Quelle für die Herleitung der Unionsgrundrechte dienten dabei anfangs allein die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und die EMRK (vgl. auch heute noch Art. 6 Abs. 3 EUV). Bisweilen hat der EuGH in dieser Phase dier Herleitung neuer Grundrechte sogar in methodisch fragwürdiger Weise überspannt. Paradebeispiel ist das bereits erwähnte Mangold-Urteil, in welchem der Gerichtshof ein bis dato national wie international weitgehend unbekanntes Verbot der Altersdiskrimi-
95 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709. 96 Eingehend Mörsdorf, JZ 2019, 1066 ff. 97 Zur Einordnung des ursprünglich ebenso im Binnenmarktziel wurzelnden Grundsatzes der Entgeltgleichheit als Grundrecht vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56. 98 EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, EU:C:1969:57 Rn. 7. 99 Zum Junktim zwischen einer Rücknahme des nationalen Grundrechtsschutzes und der Existenz eines äquivalenten unionalen Grundrechtsschutzes vgl. aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts BVerfGE 73, 339, 387 – Solange II. Köndgen/Mörsdorf
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nierung aus der Taufe hob.100 Letztlich hatte der EuGH mit dieser Rechtsprechung aber nur der im Jahre 2009 in den Status verbindlichen Primärrechts erhobenen Grundrechte-Charta vorgegriffen, die seitdem die wesentliche Quelle für Unionsgrundrechte darstellt (Art. 6 Abs. 1 EUV) und in Art. 21 Abs. 1 GRCh auch ein Verbot der Altersdiskriminierung statuiert. 41 Auf das nationale Privatrecht kann sich die Bindung der Union an die EU-Grundrechte mittelbar dahingehend auswirken, dass privatrechtsgestaltende Sekundärrechtsakte am Maßstab dieser Grundrechte zu messen sind. Dies beinhaltet im Einzelnen ein Gebot primärrechtskonformer Auslegung solcher Rechtsakte und – als ultima ratio – eine Wirksamkeitskontrolle mit der Folge der Nichtigkeit des Rechtsaktes oder einzelner seiner Bestimmungen. In Bezug auf bestimmte Rechtsakte kann dies zu Friktionen mit der beschränkten mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung führen, auf welche an späterer Stelle noch eingegangen wird (Rn. 45 f.).
c) Umkämpftes Terrain: Die beschränkte Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte-Charta 42
aa) Das privatrechtsgestaltende Potential der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung und seine Beschränkung durch Art. 51 Abs. 1 GRCh. Eine unmittelbare Auswirkung
auf das nationale Privatrecht entfalten die Unionsgrundrechte, soweit sie nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh auch die Mitgliedstaaten binden. Anders als bei den Grundfreiheiten und den sonstigen Verbürgungen der Gründungsverträge steht diese Bindung allerdings bei den erst später durch den EuGH entwickelten, heute in der GRCh verankerten Grundrechten nicht im Fokus. Dies liegt in der unterschiedlichen Zielsetzung beider Rechtsquellen begründet. Während die Grundfreiheiten als transnationale Integrationsnormen zuvörderst die Mitgliedstaaten zur Beseitigung von Binnenmarkthemmnissen in die Pflicht nehmen, zielen die EU-Grundrechte als supranationale Legitimationsnormen auf die Beschränkung und Kontrolle der EU und ihrer Organe.101 Eine Bindung auch der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte führt demgegenüber zu einer Ausdehnung unionaler Regelungsmacht zulasten der Mitgliedstaaten. Daher kann es kaum verwundern, dass die Frage, inwieweit die Mitgliedstaaten neben der Union an die Grundrechte der Charta gebunden sein sollen, zu den umstrittensten Materien im Grundrechte-Konvent gehörte.102 43 Ergebnis des Ringens um die Reichweite der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung ist Art. 51 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GRCh, wonach die Grundrechte der Charta die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts“ binden. Weil 100 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 74 ff. 101 Siehe zu dieser im Kern zutreffenden Klassifikation von Kingreen bereits oben Rn. 33. 102 Nachweise zur Diskussion bei Meyer/Hölscheidt-Schwerdtfeger, Charta der Grundrechte der Union, 5. Aufl. 2019, Art. 51 Rn. 9 ff. Köndgen/Mörsdorf
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der Durchführungsbegriff die Grenze zwischen mitgliedstaatlicher und unionaler Regelungsmacht markiert, entzündet sich naturgemäß die Kontroverse um die Reichweite der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung nunmehr an der Auslegung dieses Begriffs. Dies gilt insbesondere, seit der EuGH den Durchführungsbegriff zwischenzeitlich im Urteil Åkerberg Fransson derart extensiv ausgelegt hat, dass bereits jeder marginale Bezug einer nationalen Rechtsmaterie zu einem Regelungsziel der Union ausreichen sollte, diese Materie einer Kontrolle am Maßstab der Grundrechte-Charta zu unterstellen.103 Unstreitig einer solchen Kontrolle unterstehen die Mitgliedstaaten aber jedenfalls, 44 soweit sie Sekundärrechtsakte durchführen, also etwa Richtlinien umsetzen und hierbei eingeräumte Umsetzungsspielräume ausschöpfen. Über die Vielzahl privatrechtsgestaltender Richtlinien ergibt sich damit ein breites Einfallstor für eine Kontrolle nationalen Privatrechts am Maßstab der Charta-Grundrechte. Dies gilt umso mehr, seit der EuGH im Urteil Kücükdeveci festgestellt hat, dass eine Richtlinie, die der Konkretisierung eines Grundrechts dient, den Anwendungsbereich des Unionsrechts gerade auch hinsichtlich des durch sie selbst konkretisierten Grundrechts zu eröffnen vermag.104 Dem Grundrecht wächst auf diese Weise die Funktion zu, der seinen Inhalt definierenden sekundärrechtlichen Regelung unmittelbare Wirkung in privaten Rechtsstreitigkeiten zu verschaffen,105 eine Wirkung, die der Gerichtshof Richtlinien als solche nach wie vor versagt.106 Freilich ist die privatrechtsgestaltende Wirkung der Unionsgrundrechte in dieser letztgenannten Konstellation noch immer eine beschränkte, weil die inhaltliche Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes und damit die Kontrolle des Grades seiner Verwirklichung dem Unionsgesetzgeber obliegt. Der Unionsgesetzgeber und die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten haben somit hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung sozusagen eine „Türöffnerfunktion“ inne. bb) Grundrechtsbindung des Unionsgesetzgebers als Einfallstor für eine unbe- 45 schränkte mitgliedstaatliche Grundrechtsbindung? Eine das nationale Recht eigenstän-
dig gestaltende Rolle könnte dem Grundrecht in der soeben beschriebenen Konstellation freilich zukommen, soweit grundrechtskonkretisierende Sekundärrechtsakte selbst am Maßstab des durch sie konkretisierten Grundrechts gemessen werden. Paradigmatisch für eine solche Konstellation ist das Urteil Test Achats, in welchem der EuGH die Unvereinbarkeit des Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG (Unisex-Richtlinie) mit dem in Artikel 21, 23 GRCh verankerten Verbot der Geschlechtsdiskriminierung festgestellt hatte.107 Auf den ersten Blick mag eine solche, den Grundrechts-
103 EuGH v. 7.5.2013 – Rs. C-617/10 Åkerberg Fransson, EU:2013:105 Rn. 24–28. 104 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 24, 25. 105 Mörsdorf, EuR 2009, 219, 235 ff. 106 Zuletzt EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer, EU:C:2018:871 Rn. 76; vgl. zur (fehlenden) Horizontalwirkung von Richtlinien noch unten Rn. 68 ff. 107 EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 Test-Achats, EU:C:2011:100.
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schutz erweiternde Korrektur eines Sekundärrechtsaktes wenig spektakulär erscheinen, weil die Union selbst unbeschränkt an die Grundrechte der Charta gebunden ist. Auch bestehen im Prinzip keine Bedenken dagegen, den EU-Grundrechten, wie auch den Grundfreiheiten, eine Schutzfunktion zu entnehmen, welche die Union zum Schutz vor privaten Grundrechtsbeeinträchtigungen verpflichtet. Bei näherem Besehen wachsen gleichwohl die Zweifel an der Vorgehensweise des Gerichtshofs. Denn mit der Kassation der den Mitgliedstaaten in Art. 5 Abs. 2 Unisex-Richtlinie eingeräumten Möglichkeit, Versicherungsunternehmen eine geschlechtsbezogene Tarifkalkulation zu gestatten, werden nicht nur die Richtlinienvorgaben entgegen dem Willen des Unionsgesetzgebers ausgeweitet. Vielmehr wird den Mitgliedstaaten zugleich die ihnen in Art. 50 Abs. 1 GRCh eingeräumte Möglichkeit entzogen, über ihre Zustimmung zu grundrechtskonkretisierenden Sekundärrechtsakten die eigene Bindung an das konkretisierte Grundrecht zu steuern. Letzteres erscheint besonders in Bezug auf solche Rechtsakte problematisch, die bereits von ihrem Regelungsziel her der schrittweisen Verwirklichung eines Grundrechts dienen und eine insoweit bestehende Spezialkompetenz der Union in Anspruch nehmen.108 Denn anders als bei binnenmarktfinalen Rechtsakten, bei welchem der Unionsgesetzgeber alle hierdurch tangierten Grundrechte beachten muss, steht hier die Verwirklichung des Grundrechts gerade durch den Unionsgesetzgeber derart im Vordergrund, dass sich eine Überspielung der „Türöffnerfunktion“ des Unionsgesetzgebers jedenfalls insoweit verbietet. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum der Gerichtshof sein Nichtigkeitsverdikt im Urteil Test Achats nicht auf eine eigenständige Analyse des Grundrechtsinhalts gestützt hat, sondern auf die (vermeintlich) fehlende innere Kohärenz der Richtlinie.109 Mit dieser vielfach krititiserten110 Prüfung des Sekundärrechtsaktes „an sich selbst“111 wahrte der EuGH, jedenfalls formal, das Primat des Unionsgesetzgebers.112 46 In neuester Zeit hat der EuGH diese Zurückhaltung freilich aufgegeben, indem er wiederholt grundrechtskonkretisierende Richtlinien schutzverstärkend am Maßstab des konkretisierten Grundrechts ausgelegt hat. So hat der Gerichtshof im Urteil CCOO hat der Gerichtshof aus dem ebenfalls in Art. 31 Abs. 2 GRCh statuierten Grundrecht auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit hergeleitet, dass Art. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2003/88/EG den Mitgliedstaaten die Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfas-
108 Dies betrifft namentlich Rechtsakte im Bereich des Arbeitnehmerschutzes (Art. 153 AEUV), des Datenschutzes (Art. 16 Abs. 2 AEUV) und der Gleichbehandlung (Art. 19 AEUV). 109 EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 Test-Achats, EU:C:2011:100 Rn. 20 ff. 110 Vgl. aus der Vielzahl der kritischen Stimmen nur Kahler, NJW 20111, 894, 895; Lüttringhaus, EuZW 2011, 296, 297 f., Purnhagen EuR 2011, 690, 696 f. 111 So die treffendeUmschreibung der Vorgehensweise des EuGH bei Kahler, NJW 2011, 894. 112 Die Generalanwältin war hier schon damals weniger zimperlich, und definierte das als Maßstab dienende primärrechtliche Diskriminierungsverbot (Art. 21, 23 GRCh) autonom ohne Rückgriff auf die die zur Überprüfung anstehende Richtlinie, vgl. GA Kokott, Schlussanträge vom 30.9.2010, Rs. C-236/ 09 Test-Achats, EU:C:2011:100 Tz. 55 ff. Köndgen/Mörsdorf
II. Das Primärrecht als Rechtsquelle des Privatrechts
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sung vorgeben.113 Ferner hat der Gerichtshof im Urteil Maniero aus der Grundrechtsqualität des Art. 21 GRCh den Schluss gezogen, dass die dieses Grundrecht konkretisierende Richtlinie 2000/43/EG dahingehend weit auszulegen ist, dass der Begriff „Bildung“ auch den Zugang zu privaten Stipendienprogrammen erfasst.114 Gemeinsam ist den genannten Fällen, dass der EuGH den Inhalt der den Anwen- 47 dungsbereich des Grundrechts eröffnenden Richtlinie jeweils heteronom bestimmt, indem er seine eigenen Vorstellungen von der Intensität des Grundrechtsschutzes an die Stelle der Vorstellungen des Unionsgesetzgebers setzt. Dies geschieht zwar, anders im Falle einer Wirksamkeitskontrolle, normerhaltend unter Verweis auf den (vermeintlich) lückenhaften Richtlinientext. Das Ergebnis eines über die Vorstellungen des Unionsgesetzgebers hinausgehenden Grundrechtsschutzes ist jedoch letztlich dasselbe wie im Falle der Nichtigerklärung sekundärer Norminhalte. Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass die argumentative Berufung auf das Grundrecht in den genannten Fällen nur unterstützend neben einer Argumentation aus dem Sekundärrechtsakt selbst heraus erfolgt. Denn zum einen scheint es gerade der Verweis auf das Grundrecht zu sein, welcher einer schutzerweiternden Interpretation des Sekundärrechts besondere Legitimation verleihen soll. Zum anderen ist die Heranziehung des Grundrechts als Argumentationstopos für eine schutzerweiternde Auslegung des Sekundärrechts schon für sich genommen problematisch, da sie die bisweilen mühsame Herleitung des Ergebnisses aus dem Sekundärrecht als überflüssig erscheinen lässt.115
d) Die Bindung Privater an die Unionsgrundrechte Ebenso wie in Bezug auf die Grundfreiheiten stellt sich schließlich auch in Bezug auf die 48 EU-Grundrechte die Frage nach einer Bindung Privater (Horizontalwirkung). Im Hinblick auf das bereits in den Gründungsverträgen verankerte Verbot der geschlechtsbezogenen Entgeltdiskriminierung (Art. 157 AEUV) ist diese Frage seit langem im positiven Sinne geklärt.116 Dasselbe gilt für das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV),117 sofern man diesem außerhalb des Binnenmarktkontextes Grundrechtsqualität bescheinigt.118 Für die Grundrechte der Charta
113 EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402 Rn. 33, 71. 114 EuGH v. 15.11.2018 – Rs. C-457/17 Maniero, EU:C:2018:912 Rn. 36. 115 Eingehend zum Ganzen Mörsdorf, JZ 2019, 1066, 1067ff. 116 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56 Rn. 39. 117 Der EuGH bejaht jedenfalls die Bindung einer die Behandlungspreise einheitlich festsetzenden, privaten Krankenhausvereinigung an Art. 18 AEUV, vgl. EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-411/98 Ferlini, EU: C:2000:530 Rn. 47 ff.; zur Bindung einzelner am Leistungsaustausch beteiligter Privater an Art. 18 AEUV hat sich der Gerichtshof dagegen noch nicht geäußert. Der Verweis auf Art. 18 AEUV in den Urteilen, in welchen der EuGH eine Bindung privater Arbeitgeber an die Arbeitnehmerfreizügigkeit bejaht (Angonese und Raccanelli), legen eine solche Bindung aber nahe. 118 Zur Grundrechtsqualität des Art. 18 AEUV vgl. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, S. 62 f. mwN.
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§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
fehlte es indes bis vor kurzem an eindeutigen diesbezüglichen Aussagen. Der Text der Grundrechte-Charta schweigt sich zu diesem Thema aus, denn Art. 51 Abs. 1 GRCh spricht lediglich die Bindung der Union und der Mitgliedstaaten an. Hieraus darf man freilich nicht im Gegenschluss die fehlende Horizontalwirkung der Charta-Grundrechte herleiten, weil die Beantwortung dieser umstrittenen Frage bewusst offengelassen und dem EuGH zur Klärung überantwortet wurde.119 49 Eine solche Klärung durch den EuGH ließ allerdings lange auf sich warten. Sie ist insbesondere nicht bereits in den Urteilen Mangold und Kücükdeveci erfolgt, die von manchen als Bekenntnis des EuGH zur Horizontalwirkung des heute in Art. 21 GRCh verankerten Verbots der Altersdiskriminierung gedeutet wurden.120 Denn diskriminiert hatte in den zugrundeliegenden Sachverhalten nicht eine Privatperson, sondern der nationale Privatrechtsgesetzgeber selbst, so dass die diskriminierende Regelung schon aus diesem Grunde unangewendet bleiben musste.121 Die hiermit einhergehende Belastung des durch die Regelung begünstigten Arbeitgebers stellte sich dagegen nur als Reflexwirkung dar. Im späteren Urteil Dansk Industri122 ging es zwar um die Diskriminierung seitens eines privaten Arbeitgebers, welche das nationale Recht entgegen den Vorgaben der RL 2000/78/EG und dem durch diese Richtlinie konkretisierten Verbot der Altersdiskriminierung erlaubte. Die vom EuGH konstatierte Unanwendbarkeit der Vorschrift123 ließ sich indes nicht nur mit einer unmittelbaren Bindung des Arbeitgebers an Art. 21 GRCh begründen, sondern alternativ mit der Verletzung einer mitgliedstaatlichen Schutzpflicht. Welchem Begründungsansatz der EuGH folgt, war aus dem Urteil nicht ersichtlich. 50 Erst mit dem im Jahr 2018 ergangenen Urteil Egenberger hat die Ungewissheit ein (vorläufiges) Ende gefunden, indem der EuGH nunmehr ausdrücklich feststellt, „,dass das in Art. 21 GRCh Abs. 1 GRCh verankerte Verbot der Diskriminierung wegen bestimmter Merkmale (hier: der Religion) schon für sich allein dem Einzelnen ein Recht verleiht, das er in einem Rechtsstreit, der einen vom Unionsrecht erfassten Bereich betrifft, als solches geltend machen kann.“124 Der EuGH beruft sich in diesem Kontext auf seine Rechtsprechung zur Bindung Privater an die Verbürgungen der Gründungsverträge, und hier namentlich auf die Urteile Defrenne II (Art. 157 AEUV), Angonese (Arbeitnehmerfreizügigkeit), Viking (Niederlassungsfreiheit) und Ferlini (Art. 18 AEUV).125 Da
119 Meyer-Borowsky, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2014, Art. 51 Rn. 31. 120 So in Bezug auf das Urteil Mangold Classen, EuR 2009, 627, 645; Kroll-Ludwigs, JZ 2011, 734, 736, wohl auch Hartmann, EuZA 2019, 24, 36; in Bezug auf das Urteil Kücükdeveci Muir, CML Rev. 48 (2011), 39, 56 ff.; Peers, Eur L.Rev. 35 (2010), 849, 855. 121 Hierauf hinweisend bereits Thüsing, ZIP 2005, 2149 (bezüglich Mangold) und W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 825, dort Fußnote 264 (bezüglich Kücükdeveci). 122 EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-414/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278. 123 EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-414/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 37, 43. 124 EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 76. 125 EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 77. Köndgen/Mörsdorf
II. Das Primärrecht als Rechtsquelle des Privatrechts
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der EuGH in allen diesen Urteilen eine unmittelbare Bindung Privater an die jeweils in Rede stehende primärrechtliche Verbürgung festgestellt hatte, kann man die Bezugnahme auf diese Urteile im Urteil Egenberger nur so verstehen, dass dem EuGH auch hinsichtlich Art. 21 Abs. 1 GRCh eine unmittelbare Bindung Privater vorschwebt. Mit dem Verweis auf die genannten Urteile verknüpft sich freilich ein bisher kaum 51 beachtetes Problem, weil sich die in den Gründungsverträgen verankerten Verbürgungen und die Grundrechte der Charta in einem ganz wesentlichen Punkt unterscheiden. Während die Verbürgungen der Gründungsverträge die Mitgliedstaaten vollumfänglich binden, besteht eine solche Bindung an die Grundrechte der Charta ausschließlich im Rahmen der Durchführung von Unionsrecht (Art. 51 Abs. 1 GRCh). Der Umfang der mitgliedstaatlichen Bindung kann aber wiederum nicht isoliert von der Bindung Privater betrachtet werden, weil auch an Privatpersonen adressierte Verpflichtungen letztlich durch die mitgliedstaatlichen Gerichte durchzusetzen sind. Vor irgendeiner Instanz muss sich der begünstigte Rechteinhaber ja auf die Horizontalwirkung seines Rechts „berufen“ können. Eine unbeschränkte Bindung Privater an die Charta-Grundrechte wäre somit in der Lage, die hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Bindung bestehenden Beschränkungen auszuhebeln. Will man derartige, die wohlaustarierte Statik des unionalen Grundrechtsschut- 52 zes störende Wirkungen vermeiden, ist es dringend geboten, die Grundrechtsbindung Privater an die (beschränkte) Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten zu koppeln.126 Ob der EuGH dies auch so sieht, ist allerdings zweifelhaft. Zwar sollen Privatpersonen die ihnen aus dem Grundrecht erwachsenen Rechte gegenüber anderen Privatpersonen nur in einem „vom Unionsrecht erfassten Rechtsbereich“ geltend machen können. Zugleich betont der EuGH aber an gleicher Stelle, dass das in Art. 21 Abs. 1 GRCh niedergelegte Verbot „schon für sich allein dem Einzelnen ein Recht verleiht.“ Er verweist hierzu auf das Urteil AMS, in welchem der Gerichtshof die Qualität des Art. 21 GRCh als individuell durchsetzbares Recht auf das fehlende Konkretisierungsbedürfnis der Norm gestützt hatte.127 Dieser gerade im Kontext mit der Privatrechtsbindung des Art. 21 GRCh erfolgte Verweis könnte implizieren, dass der Gerichtshof auch insoweit, und nicht nur hinsichtlich der Rechtsqualität als solcher, auf eine Mitwirkung des Unionsgesetzgebers verzichten möchte. In diese Richtung deutet auch die Feststellung, dass sich Art. 21 GRCh in seiner Bindungswirkung grundsätzlich nicht von den Bestimmungen der Gründungsverträge unterscheide, die verschiedene Formen der Diskriminierung auch dann verbieten, wenn sie aus Verträgen zwischen Privatpersonen resultieren.128
126 Kainer, NZA 2018, 894, 899. 127 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 AMS, EU:C:2014:2 Rn. 47. 128 EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 77. Köndgen/Mörsdorf
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III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion 53 Während sich die privatrechtsgestaltende Wirkung der inhaltlich eher abstrakt gehal-
tenen primärrechtlichen Verbürgungen erst auf den zweiten Blick erschließt, liegt diese Wirkung bei den zahlreichen durch den Unionsgesetzgeber erlassenen Sekundärrechtsakten mit privatrechtlichen Inhalten auf der Hand. Dies gilt in besonderem Maße dort, wo solche Rechtsakte ungeachtet ihres binnenmarktfinalen Regelungsanlasses klassische privatrechtliche Materien regeln, wie z. B. die Gründung bzw. das Innen- und Außenverhältnis juristischer Personen,129 den Vertragsschluss und die Möglichkeit der Lösung vom Vertrag durch Widerruf,130 das Sachmängelgewährleistungsrecht beim Kaufvertrag131 oder die Haftung für fehlerhafte Produkte.132 Aber auch bei marktregulierenden Rechtsakten, die für sich genommen neutrale Verhaltensstandards setzen oder vorgeben, kann sich ein Bezug zum Privatrecht über das vom Unionsgesetzgeber oder vom nationalen Gesetzgeber gewählte privatrechtliche Sanktionsinstrumentarium (insbesondere: Schadensersatzansprüche) ergeben.133 Auch wenn die angeführten Beispiele keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; machen sie doch deutlich, dass bei den sekundärrechtlichen Quellen des Europäischen Privatrechts, anders als beim Primärrecht, der inhaltliche Bezug zum Privatrecht keiner näheren Erörterung bedarf. Erörterungsbedürftig ist aber auch hier das „Wie“ der Einwirkung wie etwa die Frage nach den Regelungsadressaten. Hierbei soll der Fokus auf den Richtlinien liegen, weil dieses Regelungsinstrument in quantitativer Hinsicht das Europäische Privatrecht dominiert und zugleich aus Sicht des nationalen Rechtsanwenders die meisten Anwendungsprobleme erzeugt.
129 Art. 2–6 sowie 44–86 Richtlinie (EU) 2017/1132 Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v.14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts ABl. 2017 L 169/46 (Gesellschaftsrechts-RL). 130 Art. 9–14 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64 (Verbraucherrechte-RL). 131 Art. 5–18 Richtlinie (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20. 5. 2019 über bestimmte Aspekte des Warenkaufs, zur Veränderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. 2019 L 136/28 (Warenkauf-RL). 132 Art. 1 ff. Richtlinie des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (85/374/EWG), ABl. 1985 L 210/29 (Produkthaftungs-RL). 133 Vgl. einerseits Art. 11 Verordnung (EU) 2017/1129 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.7.2017 über den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt zu veröffentlichen ist und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/71/EG (Prospekt-VO) sowie andererseits §§ 97, 98 WpHG als (nationale) Sanktion für Verstöße gegen die Informationspflichten des Art. 17 der Verordnung (EU) Nr. 296/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.4.2014 über Marktmissbrauch und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG (Marktmissbrauchs-VO). Köndgen/Mörsdorf
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III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion
1. Richtlinien Wie bereits erwähnt dominieren heute Richtlinien das unionale Sekundärprivatrecht. 54 Diese Erfolgsgeschichte war den Richtlinien allerdings nicht in die Wiege gelegt. Sie ergingen vielmehr zunächst nur in jenem engeren Bereich der Regulierung, den man früher Wirtschaftsverwaltungsrecht nannte. Gerade ihre spezifische rechtsquellentheoretische Struktur machte sie im weiteren Verlauf aber auch höchst geeignet als Instrument privatrechtlicher Rechtssetzung.
a) Richtlinien als „mediatisierte“ Rechtssetzung Ihrer ursprünglichen Konzeption nach waren Richtlinien allerdings überhaupt keine 55 Rechtsquellen im eigentlichen Sinne.134 Dafür fehlte es ihnen schon an einem konstitutiven Definitionsmerkmal aller Normen: der Allgemeinheit. Formal-konstruktiv gesehen waren sie nichts weiter als ein einmaliger Regelungsauftrag an die Mitgliedstaaten mit einem mehr oder weniger großen Ermessensvorbehalt, in staatsrechtlichen Begriffen: delegierte Normsetzung. Diese – herkömmlich aus Art. 288 Abs. 3 AEUV begründete135 – Delegation ist freilich kaum vergleichbar etwa mit der Verordnungsermächtigung unter dem Grundgesetz. Selbst wenn Richtlinien sich mit einer geringeren Regelungsdichte begnügen, ist der mitgliedstaatliche Gesetzgeber weitgehend nur Ausführungsorgan, dem allenfalls im Randbereich noch Regelungsspielräume verbleibt. Insofern konnte man die Richtlinien schon lange bevor man ihre sog. Direktwirkung entdeckt hat, als „mediatisierte“ Rechtssetzung bezeichnen.136 Doch kann auch diese für die Rechtsquellenlehre neuartige Qualifikation die Geltungs- und Anwendungsprobleme von Richtlinien nicht konsistent erklären. Zwei Beispiele: Mit dem Konzept der „mediatisierten“ Rechtssetzung ist ein Begriff dafür gefunden, dass Richt- 56 linien über das Durchführungsgesetz allgemeine und rechtsgestaltende Wirkung entfalten; nicht dagegen, dass Richtlinien auch den mitgliedstaatlichen Richter binden sollen. Adressat einer Rechtsquelle ist zwar nicht nur, wer aus einer Norm berechtigt oder verpflichtet wird (d. h. der mitgliedstaatliche Gesetzgeber), sondern auch der Rechtsanwender. Aber Rechtsanwender in Bezug auf Richtlinien ist unmittelbar nur der EuGH, der die korrekte Umsetzung prüft, nicht der nationale Richter, der das Ausführungsgesetz unabhängig und unter alleinigem Rückgriff auf sein nationales Methodeninstrumentarium anwendet. Mehr noch: Mangels Allgemeinheit des Rechtsakts waren Richtlinien zunächst überhaupt nicht auf „Anwendung“ angelegt. Geändert hat sich dies nicht nur mit der „Entdeckung“ der – ausnahmsweise – unmittelbaren Wirkung von Richt
134 Zur „Entdeckung der Richtlinie als Form der Gesetzgebung“ eindringlich v. Bogdandy/Bast-Bast, S. 502 ff. 135 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 26; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, EU:C:1999:98 Rn. 48; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU: C:2004:584 Rn. 113. 136 Von Richtlinien als einer „Hintergrundrechtsordnung“ des Privatrechts spricht Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 39.
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linien (sogleich Rn. 68 ff.), sondern auch mit dem Gebot an den nationalen Richter, richtlinienkonforme Rechtsfindung zu betreiben;137 inzwischen soll dieses Gebot u. U. sogar zu richtlinienkonformer Rechtsfortbildung verpflichten.138 Das ist hier nicht zu vertiefen.139 Festzuhalten ist jedoch, dass die Richtlinie in beiden Rechtsfindungsstrategien die Entscheidung des mitgliedstaatlichen Richters nicht nur methodisch im Sinne einer „interpretatorischen Vorrangregel“,140 sondern auch inhaltlich – und bis an die contra-legem-Schranke – im Sinne des Zielverwirklichungsgebots der Richtlinie (Art. 288 Abs. 3 AEUV) anleitet.141 Die offenkundige Verwischung der analytischen Grenzen zwischen Rechts-(Richtlinien-)geltung und Rechtsanwendung wird hier vom EuGH und der h.L. durch den Kunstgriff verschleiert, dass der Umsetzungsauftrag nicht nur den Gesetzgeber, sondern „sekundär“ auch die anderen Staatsgewalten und damit namentlich die Judikative verpflichte.142
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Auch gegenüber der sogenannten Direktwirkung von Richtlinien bei versäumter oder fehlerhafter Umsetzung gerät die traditionelle Rechtsquellenlehre in Erklärungsnotstand. Das „Umschlagen“ der konkret-individuellen Umsetzungsverpflichtung des Gesetzgebers in einen abstrakt-generellen Geltungsbefehl lässt sich dort rechtfertigen, wo infolge eines inhaltlich unbedingten und hinreichend bestimmten Richtlinientextes der mitgliedstaatliche Gesetzgeber keine eigenen Gestaltungsspielräume mehr hat. Gleichwohl wird, um im tradierten Paradigma zu bleiben, auch die Direktwirkung immer noch als „sekundäre Pflicht“ des Mitgliedstaates begriffen.143 Das klingt auch in der Rechtsprechung des EuGH an.144 Die direkte Berechtigung Privater erfolgt hiernach nicht um ihrer selbst willen und als „gesetzliches“ subjektives Recht, sondern nur als reflexhafte Begünstigung, die den effet utile der Richtlinie sozusagen im Wege der Naturalrestitution gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat herstellen soll.
b) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung 58 Dass Richtlinien bisher nur partikulare, fragmentarische oder gar punktuelle Rechts-
setzung produziert haben, ist ein vielbeschriebenes Phänomen,145 welches letztlich im Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 AEUV) und im Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wurzelt. Es ist außerdem einer gewissen Kurzatmigkeit des europäischen Rechtssetzungsprozesses geschuldet. Verfehlt ein erster Harmonisierungsversuch die
137 Dazu der Beitrag von W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 21 ff. 138 Angestoßen durch die sog. Quelle-Rechtsprechung des BGH (BGHZ 179, 27); dazu etwa der Rezensionsaufsatz von Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 7 ff., 123 ff.; schon vorher Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47; ferner Langenbucher-dies., § 1 Rn. 97. 139 Die Rechtsfortbildung durch den mitgliedstaatlichen Richter ist kein Problem der Europäischen Rechtsquellenlehre. Vgl. i.Ü. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 43 ff. 140 So Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123 f mwN. 141 Vgl. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 21 ff. 142 EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, EU:C:1999:98 Rn. 48. Zur Systematik der Umsetzungspflichten zusammenfassend Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48. 143 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47. 144 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 103 mwN. 145 Statt vieler Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 40.
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Herstellung eines (Teil-)Binnenmarkts zu deutlich, so fällt es der Kommission im zweiten Versuch leichter, die Regulierungssperre des Subsidiaritätsprinzips zu überwinden. In manchen Regelungsbereichen ist es demnach geradezu zur Übung geworden, einer ersten fragmentarischen Regelung zehn Jahre später eine deutlich regelungsintensivere Richtlinie mit kodifikatorischem Anspruch nachzuschieben; so geschehen etwa im Investmentrecht,146 im Konsumentenkreditrecht147 und in den Richtlinien über Zahlungsdienste.148 aa) Beschränkter Regelungsbereich und überschießende Umsetzung. Der frag- 59 mentarische Charakter des Richtlinienprivatrechts manifestiert sich zunächst im beschränkten sachlichen bzw. personellen Anwendungsbereich privatrechtsgestaltender Richtlinien, welcher ebeno kompetenziellen Grenzen wie Grenzen der politschen Einigungsfähigkeit geschuldet sein kann. Für den nationalen Gesetzgeber stellt sich hier letztlich immer die Frage, ob er das Regelungsprogramm der Richtlinie auch für weitere, nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie erfasste Materien des nationalen Rechts übernehmen möchte, so etwa geschehen bei der VerbrauchsgüterkaufRichtlinie oder den Antidiskriminierungsrichtlinien der neuen Generation. In einem solchen Fall „überschießender Umsetzung“ stellen sich schwierige Auslegungsfragen hinsichtlich des nationalen Rechts, welche im Beitrag von Habersack/Mayer in § 14 dieses Bandes eingehend beleuchtet werden. bb) Mindestharmonisierung oder Vollharmonisierung? Von der Frage nach dem 60 sachlichen bzw. personellen Anwendungsbereich einer Richtlinie zu trennen ist die Frage, welchen Harmonisierungsgrad die Richtlinie innerhalb ihres Anwendungs-
146 Die (erste) Investmentfondsrichtlinie 85/611/EWG stammt aus dem Jahr 1985, die wesentlich detaillierteren Änderungsrichtlinien 2001/107/EG und 2001/108/EG folgten erst am 13.2.2002; dazu Köndgen/Schmies, WM-Sonderbeilage 1/2004, 2, 3 f. Inzwischen sind bereits Richtlinien der „dritten und vierten Generation“ ergangen, namentlich Richtlinie 2009/[65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.7.2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW), ABl. 2009 L 302/32 und zuletzt Richtlinie 2014/91/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.7.2014 zur Änderung der Richtlinie 2009/65/EG, ABl. 2014 L 257/186. 147 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48 (1. Verbraucherkredit-RL); abgelöst durch Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/ 66 (2. Verbraucherkredit-RL). 148 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. 1997 L 43/25; abgelöst durch Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/ EG (Zahlungsdienste-RL), ABl. 2007 L 319/1.
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bereich anstrebt.149 Hier sind zwei Modelle zu unterscheiden: Nach dem Modell der Mindestharmonisierung wird den Mitgliedstaaten die Etablierung eines in der Richtlinie statuierten Mindeststandards vorgegeben, von welchen diese „nach oben“, durch Etablierung strengerer Vorschriften abweichen dürfen. Vollharmonisierende Regelungen geben dagegen den zu etablierenden Regelungsstandard in beide Richtungen verbindlich vor, so dass Abweichungen „nach unten“ (mildere Regelungen) wie Abweichungen „nach oben“ (strengere Regelungen) gleichermaßen untersagt sind. Einer Vollharmonisierung nahe kommt auch das – vor allem im Finanzmarktrecht unter dem sog. Lamfalussy-Prozess vielpraktizierte150 – „Nachschieben“ von richtlinienkonkretisierenden Durchführungsrichtlinien und -verordnungen im Wege delegierter Rechtssetzung durch die Kommission gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV.151 61 In der Frage Mindest- oder Vollharmonisierung verfolgt die europäische Gesetzgebung keine klare Linie. Lange Zeit wurde, vor allem im Verbraucherrecht, auf Mindestharmonisierung gesetzt und den Mitgliedstaaten zugestanden, ein höheres nationales Verbraucherschutzniveau beizubehalten oder einzuführen.152 Hingegen streben neuere Richtlinien in diesem Bereich zumeist eine Vollharmonisierung an, so etwa die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen,153 die 2. Verbraucherkre-
149 Zur notwendigen Trennung zwischen Anwendungsbereich und Harmonisierungsgrad Buchmann, Umsetzung vollharmonisierender Richtlinien (2008) S. 40; W.-H. Roth, in Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 13, 18. 150 Der Lamfalussy-Prozess ist eine speziell für bank- und kapitalmarktrechtliche Richtliniengesetzgebung eingeführte Erweiterung und Verfeinerung des sog. Komitologieverfahrens (zu letzterem vgl. Streinz-Gellermann, Art. 291 AEUV Rn. 16 ff.). Rechtsquellentheoretisch handelt es sich um eine mehrstufige Rechtssetzungsdelegation, bei der der Richtliniengeber nur noch Grundprinzipien fixiert, die Ausformung der (in der Regel überaus technischen) Details der Kommission (de facto: der zuständigen Generaldirektion) überträgt, die sich ihrerseits wieder auf den Rat und die Empfehlungen der Kapitalmarktaufsichtsbehörde ESMA stützt. Zu weiteren Details Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 258 ff. 151 Dazu allgemein Streinz-Gellermann, Art. 290 AEUV Rn. 1 ff.; vertiefend Meurs, Normenhierarchien im europäischen Sekundärrecht, S. 140 ff., 195 ff. Beispiel aus der jüngeren Richtlinienpraxis sind die Delegationsnormen in Art. 23 Abs. 4, 24 Abs. 13 und 14, 25 Abs. 8, 28 Abs. 3 der Richtlinie 2014/65/EU v. 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/ 92/EG und 2011/61/EU, ABl. 2014 L 173/349 („MiFID II“). 152 Vgl. etwa Art. 8 Richtlinie 85/577/EWG vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von; außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31 (HaustürgeschäfteRL); Art. 14 Richtlinie 7/97/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19 (Fernabsatz-RL); Art. 8 Abs. 2 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12 (Verbrauchsgüterkauf-RL). 153 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, ABl. 2002 L 271/16 (Fernabsatz-Finanzdienstleistungs-RL).
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ditrichtlinie,154 die zweite Zahlungsdiensterichtlinie,155 die Verbraucherrechte-Richtlinie156 sowie zuletzt die neue Warenkauf-Richtlinie als Nachfolgerin der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie157 und die Richtlinie über digitale Inhalte und Dienstleistungen.158 Andererseits zeigt die Entstehungsgeschichte der Immobiliarkredit-RL 2014159 – die mit einem vollharmonisierenden Richtlinienvorschlag begann, aber mit der Verabschiedung einer mindestharmonisierenden Richtlinie endete160 – dass die Frage Voll- oder Mindestharmonisierung leicht zum Spielball politischer Kompromisse wird.161 Die Alternative Mindest-/Vollharmonisierung ist aber, jedenfalls im Privatrecht, 62 nicht nur eine politische Frage, sondern auch eine Frage der Rechtssetzungskompetenz der Union. Denn nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung dürfen Rechtsakte nur zur Erreichung bestimmter, im AEUV genau festgeschriebener Ziele, wie etwa die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes (vgl. Art. 114 Abs. 1 AEUV) erlassen werden. Lässt sich ein bestimmtes, vom Unionsgesetzgeber zur Ausfüllung einer Kompetenz verfolgtes Ziel nur im Wege einer vollharmonisierenden Regelung erreichen, beschränkt sich die Auswahl des Unionsgesetzgebers auf dieses Instrument. Reicht dagegen eine mindestharmonisierende Regel zur Erreichung des Ziels aus, könnte sich eine gleichwohl erlassene vollharmonisierende Regelung als unverhältnismäßig erweisen.162 Derartige, für jeden Einzelfall gesondert anzustellende Erwägungen müssen auch im Rahmen der Auslegung eines Sekundärrechtsaktes herangezogen werden, sofern der Harmonisierungsgrad nicht, wie neuerdings üblich, ausdrücklich statuiert ist. Zur Veranschaulichung einige Beispiele: Im europäischen Gesellschaftsrecht herrschte lange Zeit Streit über den grundsätzlichen Har- 63 monisierungsgrad163 der heute in Art. 2-6 sowie Art. 44-86 der Gesellschaftsrechts-Richtlinie164 aufgegangenen Vorgaben zur Gründung und Finanzverfassung von Aktiengesellschaften (ehe-
154 Oben Fn. 147. 155 Oben Fn. 148; dort allerdings mit mitgliedstaatlichen Optionen in einzelnen Punkten. 156 Art. 4 Verbraucherrechte-RL (Fn. 130). 157 Art. 4 Warenkauf-RL (Fn. 131). 158 Art. 4 Richtlinie (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20. 5. 2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. 2019 L 136/1 (Digitale Inhalte-RL). 159 Richtlinie 2014/17/EU v. 4.2.2014 über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. 2014 L 60/24 (Immobiliarkredit-RL). 160 Art. 2 Immobiliarkredit-RL (Fn. 159). 161 Anschaulich Schürnbrand, ZBB 2014, 168, 171 f. 162 W.-H. Roth, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 13, 25 f. 163 Für einzelne Regelungen ist der Harmonsierungsgrad ausdrücklich festgelegt, vgl. etwa Art. 45 Gesellschaftsrechts-Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten das Mindestkapital auf nicht weniger als 25.000 Euro festsetzen dürfen. 164 Oben Fn. 129.
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malige Kapital-Richtlinie).165 Die vom Unionsgesetzgeber in Anspruch genommene Kompetenzgrundlage (Art. 44 Abs. 2 lit g EG, heute Art. 50 Abs. 2 lit g AEUV) ermöglicht, als Ausgleich für die durch die unmittelbare Geltung der Niederlassungsfreiheit bewirkte Konfrontation des Rechtsverkehrs mit Auslandsgesellschaften166 die Koordinierung von Schutzbestimmungen zugunsten der Gesellschafter und Dritter. Da es hierbei um den Schutz der genannten Gruppen um ihrer selbst willen geht, genügt schon eine Mindestharmonisierung zur Erreichung dieses Ziels.167 Ganz in diesem Sinne dient dann auch gem. Erwägungsgrund 3 der Richtlinie die Koordinierung der Vorschriften zur Gründung und Finanzverfassung von Aktiengesellschaften der Herstellung „eines Mindestmaßes an Gleichwertigkeit“ in diesem Rechtsbereich.168 Dagegen hat der EuGH den vollharmonisierenden Charakter der heute in Art. 28a-42 Gesellschaftsrecht-Richtlinie 2017 aufgezählten Offenlegungsgegenstände für Zweigniederlassungen festgestellt, weil diese Regelungen das zusätzliche Ziel verfolgen, über die Begrenzung der auf die Zweigniederlassung bezogenen Offenlegungsgegenstände die Niederlassungsfreiheit der EU-Gesellschaften zu fördern.169
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Auch im Verbraucherprivatrecht kommt der Trend zu vollharmonisierenden Regelungen nicht von ungefähr. Der alte Standard der Mindestharmonisierung war hier eng verwoben mit dem Ziel, über eine Förderung des Verbrauchervertrauens mehr grenzüberschreitenden Handel zu generieren.170 Dieser Förderung bedarf es jedoch jedenfalls in Bezug auf den passiven Verbraucher gar nicht, weil Letzterem über Art. 6 Rom I-VO ohnehin die ihm günstigen Vorschriften seines Heimatrechts erhalten bleiben.171 Die durch die letztgenannte Norm bedingte „Rechtszersplitterung“ erschwert allerdings Unternehmern, insbesondere im Online-Handel, einen standardisierten unionseinheitlichen Vertrieb. Dieses Hemmnis lässt sich nur über die Vereinheitlichung des Verbraucherschutzrechts beseitigen, was einen vollharmonisierenden Standard der einschlägigen Regelungen bedingt.172
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Schließlich kann man sich auch manche hochtechnischen Regulierungsprojekte, wie etwa die Berechnungsweise eines unionsweit gültigen Effektivzinses für Kredite173 oder die Etablierung eines standardisierten europäischen Lastschriftverfahrens,174 aber auch die Vereinheitlichung der Produkthaftung überhaupt nur als Vollharmonisierung von hoher Regelungsdichte vorstellen. In
165 Vgl. mwN Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2019, § 6 Rn. 6 f. 166 Eingehend zu den Motiven hinter der Schaffung des (heutigen) Art. 50 Abs. 2 lit g AEUV Timmermans, RabelsZ 48 (1984), 1, 12. 167 A. A. Kindler, ZHR 158 (1994), 339,352 f.; Steindorff, EuZW 1990, 251, 252. 168 Gegen eine Überbetonung dieses Erwägungsgrundes aber Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2019, § 6 Rn. 7. 169 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, EU:C:2003:512 Rn. 65 ff. 170 Vgl. etwa Erwägungsgrund Nr. 5 und 6 Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 93/29 (Klausel-RL) sowie Erwägungsgrund 4 Verbrauchsgüterkauf-RL (Fn. 152). 171 Hierauf in Bezug auf die Richtlinie 85/577/EWG hinweisend W.-H. Roth, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 13, 42. 172 W.-H. Roth, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 13, 40 f. 173 Art. 2 Abs. 2 Richtlinie 2014/17/EU. 174 Art. 63 ZDRL (umgesetzt in § 675x Abs. 2 BGB) musste insoweit durch Art. 5 VO (EU) 260/2012 v. 14.3.2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009 (sog. SEPA-VO) konkretisiert werden.
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diesem Bereich werden die Instrumente Richtlinie und Verordnung nahezu auswechselbar175 und lassen sich praktisch nur noch durch ihre äußere Bezeichnung identifizieren.176
Aus der Perspektive des nationalen Privatrechts erweist sich die Mindestharmonisie- 66 rung freilich als das deutlich schonendere Harmonisierungskonzept. Denn es belässt den Mitgliedstaaten die Chance, die Regelungsziele der Richtlinie in ihr nationales dogmatisches System und ihre eigene Fachbegrifflichkeit einzufügen. So konnte etwa der deutsche Transformationsgesetzgeber die Gewährleistungsvorschriften der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie177 relativ problemlos in sein eigenes System der Vertragsverletzungen einbauen.178 Dagegen stellen vollharmonisierende Regelungen den auf Kohärenz der eigenen Rechtsordnung bedachten nationalen Gesetzgeber vor erhebliche Probleme. Denn wegen der hier fehlenden Möglichkeit, strengere nationale Regelungen zu etablieren oder beizubehalten, können sich nicht nur Friktionen mit dem gewachsenen nationalen Recht ergeben.179 Erschwert wird auch die einheitliche Umsetzung mehrerer vollharmonisierender Rechtsakte. Dies zeigt sich nirgendwo so deutlich wie am Beispiel der §§ 355 ff. BGB, welche Ausübungsvoraussetzungen und -Folgen für mehrere, durch verschiedene Richtlinien vorgebenene Widerrufsrechte gebündelt regeln. Genügte zur Umsetzung der mindestharmonisierenden ersten Richtliniengeneration noch eine aus drei Normen bestehende, am Maßstab der strengsten Richtlinienvorgabe orientierte Regelung, machte die Umsetzung der vollharmonisierenden zweiten Richtliniengeneration ein aus mittlerweile 13 (!) Normen bestehendes, in sich verschachteltes Regelungskonvolut erforderlich, dessen textliche wie inhaltliche Erfassung dem Rechtsanwender ein hohes Maß an Leidensfähigkeit abverlangt. cc) Defizite bei den Rechtsfolgen. Privatrechtsgestaltende Richtlinien sind aus der 67 Perspektive des nationalen Rechtsanwenders auch darin fragmentarische Rechtssätze, dass sie nicht immer privatrechtliche Rechtsfolgen vorsehen. Detailiertere Rechtsfolgenregelungen finden sich primär (und hier selbstverständlich) in der Produkthaftungsrichtlinie180 sowie in einigen im engeren Sinne vertragsrechtlichen Richtlinien wie der Zahlungsdienste-Richtlinie (in Art. 74 ff.), der Verbraucherrechte-Richtlinie
175 Hinsichtlich der Wahl zwischen Richtlinie und Verordnung unter Art. 114 AEUV räumt der EuGH dem Unionsgesetzgeber ein großzügiges Ermessen ein; EuGH v. 6.12.2005 – Rs. C-66/04 Vereinigtes Königreich ./. Parlament und Rat, EU:C:2005:743 Rn. 45 f.; bestätigt durch EuGH v. 22.1.2014 – Rs. C-270/12 Vereinigtes Königreich ./. Parlament und Rat, EU:C:2014:18 Rn. 102 f. 176 v. Bogdandy/Bast-Bast, S. 526. 177 Oben Fn. 152. 178 Vertiefend hierzu Riehm, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 83, 97 f. 179 Beispiele der Auswirkungen eines (zum damaligen Zeitpunkt noch nicht realisierten) vollharmonisierenden Gewährleistungsregimes auf einzelne Regelungen des deutschen Gewährleistungsregimes bei Gsell, in Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 219, 239 f. 180 Oben Fn. 132.
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(Art. 10, 13, 14), der Warenkaufrichtlinie und der Richtlinie über digitale Inhalte und Dienstleistungen (jeweils Art. 13). Weitere Beispiele außerhalb des Vertragsrechts im engeren Sinne sind (zum Teil) die Antidiskriminierungsrichtlinien der neuen Generation (vgl. Art. 18 Richtlinie 2006/54/EG) sowie, nomen est omen, die Kartellschadensersatz-Richtlinie. Dagegen findet man im sonstigen Marktregulierungsrecht selten privatrechtliche Rechtsfolgen.181 Es gilt hier allein die vom EuGH aus dem Prinzip des effet utile hergeleitete Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Erlass wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen, 182 welche mittlerweile in den Text zahlreicher Richtlinien Eingang gefunden hat.183 Angesichts des den Mitgliedstaaten insoweit eingeräumten breiten Transformationsermessens184 lässt sich eine Pflicht zum Erlass privatrechtlicher „Sanktionen“ anhand dieser Formel allerdings nicht herleiten.185 Eine solche Pflicht besteht vielmehr nur in Konstellationen, in denen durch eine Richtlinie individuelle Rechte im Sinne der van Gend en Loos-Doktrin begründet werden sollen. Die Entscheidung über die Begründung solcher Rechte (mit obligatorisch-privatrechtlichem Schutzkonzept) liegt freilich grundsätzlich beim Unionsgesetzgeber,186 der sich hierbei häufig von Effizienzerwägungen (Privatperson als private attorney) leiten lassen wird. Anders ist dies nur dann, wenn ein Sekundärrechtsakt der Konkretisierung einer primärrechtlichen Norm dient, die selbst als Individualrecht ausgestaltet ist.187
c) Keine Horizontalwirkung von Richtlinien 68 Eine der hochkontrovers geführten Diskussionen des Europäischen Privatrechts be-
trifft die Frage, inwieweit privatrechtsgestaltende Richtlinien im Falle unterbliebener oder defizitärer Umsetzung den Ausgang eines Rechtsstreits zwischen Privaten zu beeinflussen vermögen. Die Rechtsprechung des EuGH hat sich in diesem Punkt über die
181 Als Ausnahme galt hier lange Zeit die Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/ 34/EG Prospekt-Richtlinie, ABl. 2003 L 345/64 (Prospekt-RL), die mittlerweile aber in eine Verordnung überführt wurde (oben Fn. 133). 182 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155, 210 – Maastricht; Streinz, FS Everling (1995), S. 1502–1504; Zuleeg, JZ 1994, 1; Stationen der Rechtsprechung sind EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153; EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edis, EU:C:1998:401; EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-78/98 Preston u. a., EU:C:2000:247. 183 Exemplarisch Art. 23 der 2. Verbraucherkredit-Richtlinie (Fn. 147). 184 Im Einzelnen Riehm, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 104 ff. 185 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153. 186 Mörsdorf, RabelsZ 83 (2019), 797, 810 ff. 187 Zu dieser Konstellation und zum individualschützenden Charakter der verschiedenen Quellen des Primärrechts Mörsdorf, RabelsZ 83 (2019), 797, 819 ff.
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Jahre als erstaunlich stabil erwiesen.188 Während sich eine durch eine Richtlinienbestimmung begünstigte Privatperson gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat (Vertikalverhältnis) unmittelbar auf diese Bestimmung berufen kann, 189 sofern die Bestimmung unbedingt und hinreichend genau ist, soll ihr solches in einem Rechtsstreit mit einer anderen Privatperson (Horizontalverhältnis) versagt bleiben.190 Diese Komplementarität von Rechten und Pflichten beider Parteien ist im Privatrechtsverhältnis 69 bzw. bei privatrechtlichen Richtlinien geradezu typischerweise gegeben. So löst etwa ein von der Richtlinie eingeräumtes Widerrufsrecht des Konsumentenkreditnehmers beim Kreditgeber eine entsprechende Belehrungspflicht und eine Verpflichtung zur Mitwirkung an der Rückabwicklung des Vertrages aus.191 Eine Horizontalwirkung lässt sich dann – und begrenzt auf den Fall fehlerhafter Umsetzung – allenfalls noch durch eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Fortbildung des nationalen Rechts erreichen (siehe unten Rn. 85 ff.).
Die vom Gerichtshof für die fehlende Horizontalwirkung von Richtlinien gelieferte Be- 70 gründung klingt auf den ersten Blick einleuchtend. Weil eine Richtlinie, anders als eine Verordnung, nur die Mitgliedstaten und nicht auch Privatpersonen binde, könnten aus dieser gegenüber Privatpersonen im Falle von Umsetzungsmängeln auch keine unmittelbaren Rechte gegenüber Privatpersonen hergeleitet werden.192 Bei eingehender Betrachtung weist diese Begründung indes argumentative Schwächen auf. Denn auch die primärrechtlichen Grundfreiheiten waren ja nach ihrer ursprünglichen Konzeption als Regelungsaufträge an die Mitgliedstaaten zu verstehen, ohne dass dies einer Horizontalwirkung derselben aus Sicht des EuGH entgegenstünde.193 Vielmehr hat der EuGH die Bindung Privater an diese Verbürgungen stets mit dem effet utile begründet. Diese Begründung hat sich der Gerichtshof indes im Falle der Richtlinien selbst verbaut, indem er den ursprünglich zur Begründung der Vertikalwirkung von Richtlinien herangezogenen effet utile-Ansatz194 im weiteren Verlauf durch den Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens des seine Umsetzungspflicht verletzenden Mitgliedstaates ersetzt hat.195 Diese Änderung des Begründungsansatzes musste gerade-
188 Zur Entwicklung dieser Rechtsprechung vgl. Mörsdorf, EuR 2009, 219, 221 f. 189 Ständige Rechtsprechung seit EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 van Duyn, EU:C:1974:133 Rn. 12; zuletzt EuGH v. 16.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer, EU:C:2018:871 Rn. 70. 190 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, EU:C:1986:84 Rn. 47 ff.; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292; zuletzt EuGH v. 16.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer, EU: C:2018:871 Rn. 76. 191 Zu diesem Beispiel ausführlich Stamm, ZBB 2005, 35, 38; vgl. auch EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C350/03 Schulte, EU:C:2005:637 sowie EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, EU: C:2005:640. 192 So bereits im Ansatz EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, EU:C:1986:84 Rn. 48; prononcierter dann in EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292. 193 Siehe bereits oben II.1.c. 194 EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 van Duyn, EU:C:1974:133 Rn. 12. 195 Erstmals EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Ratti, EU:C:1979:110 Rn. 22 f.
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zu zwangsläufig auf die Frage der Horizontalwirkung durchschlagen: Weil Privatpersonen keine Umsetzungspflichten treffen, kann ihnen im Falle defizitärer Richtlinienumsetzung auch kein widersprüchliches Verhalten vorgeworfen werden.196 71 Freilich sind in der Rechtsprechung hinsichtlich des Ausschlusses horizontaler Direktwirkung Aufweichungstendenzen zu erkennen.197 So ist der EuGH wiederholt bereit gewesen, einer in einer Richtlinie aufgestellten Bestimmung Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht zuzubilligen, soweit diese Bestimmung nur einen Grundsatz des Primärrechts konkretisiert, der seinerseits einer Direktwirkung fähig ist.198 Aus der kombinierten Anwendung der den primärrechtlichen Grundsatz inhaltlich konkretisierenden Richtlinie und des Grundsatzes selbst ergibt sich hiernach ein Anwendungsverbot für richtlinienwidriges nationales Recht im Privatrechtskonflikt, und zwar auch ohne dass der mitgliedstaatliche Richter zuvor eine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt hat.199 Jedenfalls einer grundrechtskonkretisierenden Richtlinie kommt damit im Privatrechtskonflikt eine faktische „negative Horizontalwirkung“ zu. 72
Welche Breitenwirkung dieser „Symbiose“200 von Primär- und Sekundärrecht beschieden sein würde, war zunächst unklar. Stand anfänglich, auch angesichts der Aufnahme des Verbraucherschutzes und diverser sozialer Rechte in die Grundrechtecharta, noch eine flächendeckende Horizontalwirkung privatrechtsgestaltender Richtlinien im Raum,201 brachte spätestens das AMS-Urteil des EuGH diesbezügliche Ernüchterung.202 Denn in diesem Urteil hatte der Gerichtshof dem in Art. 27 GRCh statuierten Recht von Arbeitnehmern auf Unterrichtung im Hinblick auf seine Einstufung als bloßer, ausgestaltungsbedürftiger „Grundsatz“ i. S.d Art. 52 Abs. 5 GRCh203 die Fähigkeit abgesprochen, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unmittelbar Anwendung zu finden.204
196 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 22 f. 197 Überblick über die Rechtsprechung bei Mörsdorf, EuR 2009, 219, 222 ff. 198 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 74 ff.; fortgeführt durch EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 50–54; EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 23 ff; zur Würdigung des Mangold-Urteils vgl. Thüsing, ZIP 2005, 2149 f.; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 232 ff. In allen Entscheidungen handelte es sich um ein – damals ungeschriebenes – primärrechtliches Verbot der Altersdiskriminierung, welches seit dem Lissabon-Vertrag zwanglos aus dem mekrmalsbezogenen Diskriminierungsverbot gem. Art. 21 GRCh entwickelt werden kann. 199 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 53–56; dazu Thüsing, ZIP 2010, 199 f.; Mörsdorf, NJW 2010, 1046–1049. Verfahrensgegenstand war die Richtlinienwidrigkeit der arbeitsrechtlichen Kündigungsregelung in § 622 Abs. 2 S. 2 BGB. 200 Ausdruck von Mörsdorf, EuR 2009, 219, 237. 201 Betrachtungen zur privatrechtsgestaltenden Wirkung des Art. 38 GRCh (Verbraucherschutz), gerade vor dem Hintergrund der Mangold-Rechtsprechung, etwa bei Mörsdorf, JZ 2010, 759 ff. 202 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 AMS, EU:C:2014:2 Rn. 47 ff. 203 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 AMS, EU:C:2014:2 Rn. 47 ff. 204 Die Einstufung als „Grundsatz“ iSd Art. 52 Abs. 5 GRCh findet sich in ausdrücklicher Form nicht im Urteil selbst, wohl aber bei GA Cruz Vilallón, Schlussanträge v. 18.7.2013, Rs. C-176/12 AMS, EU: C:2013:491, Tz. 53 ff.
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Überträgt man dies auf alle bloßen „Grundsätze“ einschließlich des Verbraucherschutzes, beschränkt sich die Anwendbarkeit der Mangold-Doktrin wohl auf wenige Richtlinien, die „echte“ Grundrechte im engeren Sinne konkretisieren, insbesondere also solche in den Bereichen Gleichbehandlung und Arbeitnehmerschutz.
In der Literatur wurde darüber hinaus auch das Urteil in der Rechtssache Wells205 als 73 Tendenzwende hin zu einer Horizontalwirkung von Richtlinien gedeutet.206 Dort hatte sich im Ausgangsverfahren ein Grundstückseigentümer gegen die Umweltbehörde gewandt, die richtlinienwidrig207 ohne vorige Umweltverträglichkeitsprüfung den Betrieb eines Steinbruchs auf einem Nachbargrundstück genehmigt hatte. Der EuGH stellte zur Frage der Horizontalwirkung klar: „Bloße negative Auswirkungen auf die Rechte Dritter, selbst wenn sie gewiss sind, [rechtfertigen] es nicht, dem Einzelnen das Recht auf [die] Berufung auf die Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat zu versagen“.208 Diese Aussage ist freilich weniger spektakulär, als dies zunächst den Anschein hat, weil die fragliche Richtlinienregelung überhaupt keine durch den Mitgliedstaat zu etablierenden Verhaltensstandards für Privatpersonen im Umweltbereich vorsah, deren Einhaltung die hierdurch begünstigte Person, in welcher Konstellation auch immer (Verwaltungsverfahren/Zivilrechtsstreit) hätte einfordern können. Regelungsprogramm der Richtlinie war vielmehr allein die Etablierung eines staatlichen Prüfverfahrens als solchem. Auf dessen Durchführung darf derjenige, dessen Schutz dieses Verfahren dient, selbstredend im Vertikalverhältnis gegenüber dem hierdurch verpflichteten Staat bestehen, und zwar, wie der EuGH zutreffend feststellt, ungeachtet etwaiger Reflexwirkungen auf Dritte. Diese Konstellation gilt daher zu Recht als unproblematisch,209 eben weil es an jedem Bezug zum Problem der Horizontalwirkung fehlt. Problematisch bleiben hingegen die Fälle, in denen eine Richtlinie den Mitglied- 74 staaten die Statuierung von an Privatpersonen gerichteten Verhaltenspflichten vorgibt, ohne dass diese Verhaltenspflichten mit einem primärrechtlich unterfütterten Individualrecht des Begünstigten korrespondieren. Dies betrifft immer noch weite Teile des Privatrechts wie insbesondere das Verbraucherrecht. Ob diese derzeit bestehende Zweispurigkeit zwischen grundrechtskonkretisierenden und „einfachen“ Richtlinien der Weisheit letzter Schluss ist, muss bezweifelt werden. Der EuGH fühlt sich im Grundsatz nach wie vor dem Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV verpflichtet, wonach Richtlinien im Vergleich zu Verordnungen keine unmittelbaren Verpflichtungen Privater begründen können. Die in diesem Wortlaut sowie im systematischen Binnenkontext des Art. 288 AEUV zum Ausdruck kommende Vorstellung, dass das Unions-
205 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, EU:C:2004:12. 206 Baldus, GPR 2003/2004, 124 ff. 207 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27.6.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1985 Nr. L 175/40. 208 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, EU:C:2004:12 Rn. 57. 209 Vgl. etwa Stuyck, CMLR 33 (1996), 1261; Craig/de Burca, EU Law (5. Aufl. 2011), S. 208.
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recht außerhalb des Instruments der Verordnung nur staatsgerichtete Regelungsaufträge kennt, darf aber heute angesichts besserer, im Bereich des Primärrechts gewonnener Erkenntnisse als überholt gelten. Dass stoische Festhalten des Gerichtshofs am Vertragstext gerade in Bezug auf Richtlinien stellt sich vor diesem Hintergrund als überaus lästiger Anachronismus dar.
d) Die Bedeutung der Begründungserwägungen 75 Nicht nur in der Richtliniengebung, sondern auch in den anderen Rechtssetzungsakten
der Union210 sind die gesetzgeberischen Begründungserwägungen gem. Art. 296 Abs. 2 AEUV integraler Bestandteil des Gesetzgebungsdokuments und werden gemeinsam mit diesem amtlich publiziert.211 Sie sind in den neueren Akten von geradezu kommentarartiger Breite.212 Wiederum ein Phänomen, welches uns aus der deutschen213 Rechtsquellen- und Methodenlehre nicht bekannt ist. Und wiederum sollten wir uns hüten, uns diesem Phänomen unbefangen mit den vertrauten inlandsrechtlichen Kategorien zu nähern. 76
Unbezweifelbar scheint allerdings, dass das Problem eher in der Methoden- (genauer: der Rechtsanwendungs-)lehre als in der Rechtsquellenlehre zu verorten ist; denn nicht um die Bedingungen der Normentstehung und Normwirkung geht es, sondern um Normanwendung. Um ihrerseits eine selbständige Rechtsquelle darzustellen, fehlt es den Begründungserwägungen bereits an der notwendigen Bestimmtheit und an dem normtypischen Konnex von Tatbestand und Rechtsfolge. Es ist daher wohl unstreitig, dass aus den Begründungserwägungen selbst dann keine Rechte des Bürgers hergeleitet werden können, wenn der verfügende Teil ausnahmsweise Direktwirkung äußert.214 Andererseits sind die Begründungserwägungen augenscheinlich mehr als einfache Gesetzesmaterialien, die traditionell vor allem die historische und die sog. subjektiv-teleologische Interpretationsmethode anleiten; in seinen Urteilsgründen rezitiert der Gerichtshof nämlich die Begründungserwägungen regelmäßig neben den einschlägigen Richtlinienartikeln unter der Ru-
210 Insbes. Verordnungen; die folgenden Ausführungen verstehen sich insofern als pars pro toto. 211 Kompetenzrechtlich haben die Begründungserwägungen auch die Funktion, in gerichtsfester Weise zu demonstrieren, dass der Richtlinien- bzw. Verordnungsgeber in Verfolgung der von der Ermächtigungsgrundlage vorgegebenen Zwecke tätig geworden ist; dazu etwa EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, EU:C:2000:544 Rn. 90 ff. („Tabakwerbung“). 212 Z. B. verfügte schon die zweite Roaming-VO (Verordnung [EU] Nr. 531/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union, ABl. 2012 L 172/10) über 100 Erwägungsgründe. Dass damit das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht war beweisen nunmehr die MiFID II (Fn. 151).) mit 170 Erwägungsgründen und – last but not least – die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/96/EG (Datenschutz-Grundverordnung), welche es gar auf die stolze Zahl von 173 Erwägungsgründen bringt! 213 Anders etwa im spanischen Recht, wo die Gesetzesbegründung Teil der amtlichen Veröffentlichung ist. 214 GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02 Paul, EU:C:2004:606 Tz. 77.
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III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion
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brik „Rechtlicher Rahmen“.215 Gesetzesmaterialien – dies zeigt bereits ihre separate Veröffentlichung außerhalb des Gesetzblatts – stehen im Rang immer unter dem verabschiedeten Normtext. Sie sind nicht Auslegungsgegenstand, sondern nur Auslegungshilfe. Außerdem gehen sie zeitlich der Verabschiedung des Normtextes voraus, und deshalb kann sich kein Interpret ganz sicher sein, dass die in den Materialien zum Ausdruck gekommenen Zielprojektionen der Gesetzesverfasser auch tatsächlich Eingang in das Gesetzeswerk gefunden haben. Hingegen haben die Begründungserwägungen Teil an der Autorität und Dignität des publizierten 77 Normtextes. Sucht man tatsächlich einmal nach nationalrechtlichen Vorbildern, dann käme man wohl am nächsten in Gestalt der in der Schweizer Gesetzgebungslehre und -praxis sogenannten Zweckartikel. Diese werden üblicherweise einem Gesetzeswerk als Artikel 1 vorangestellt und fixieren in bewusst pauschalen Formulierungen die – mit Ernst Steindorff216 zu sprechen – „ Politik des Gesetzes“.217 Von diesen Zweckartikeln unterscheiden sich die Begründungserwägungen primär durch einen höheren Detaillierungsgrad – der z. T. so weit geht, dass im verfügenden Teil der Wortlaut der entsprechenden Begründungserwägung praktisch dupliziert wird.
Welche Wirkungen kommen also den Begründungserwägungen im Rechtsanwen- 78 dungsprozess zu? Die Antwort, dass sie eines unter mehreren Auslegungselementen sind, ist ebenso richtig wie banal, denn diese Wirkung teilen sie mit normalen Gesetzesmaterialien. Was sie von letzteren unterscheidet, ist zunächst ihre prominentere Stellung im Mix der Auslegungselemente, also bei der Methodenwahl. Während die historische Interpretation anhand der Materialien nur eines der klassischen Auslegungselemente ist, welches überdies mit zunehmendem Alter eines Gesetzes immer mehr an Gewicht verliert, sind die Begründungserwägungen das primäre policy statement des Richtliniengebers und als solches die Richtschnur für jede teleologische Interpretation; in den Worten des Gerichtshofs: „Der verfügende Teil eines [Unions] rechtsakts ist (…) untrennbar mit seiner Begründung verbunden“.218 Das gilt für die teleologische Extension genauso wie für die teleologische Restriktion und Reduktion. Aber während das teleologische Argument ansonsten in dem Sinne „frei“ ist, als es einen Fokus für allgemeine Vernünftigkeits-, Effizienz- oder auch schlichte Praktikabili-
215 Vgl. etwa EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 Test-Achats, EU:C:2011:100 Rn. 3. 216 Steindorff, FS Larenz (1973), S. 217. 217 Vgl. als Beispiel nur Art. 1 des schweizerischen Börsen- und Effektenhandelsgesetzes (BEHG): „Dieses Gesetz regelt die Voraussetzungen für die Errichtung und den Betrieb von Börsen sowie den gewerbsmäßigen Handel mit Effekten, um für den Anleger Transparenz und Gleichbehandlung sicherzustellen. Es schafft den Rahmen, um die Funktionsfähigkeit der Effektenmärkte zu gewährleisten.“ 218 Exemplarisch EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, EU:C:2009:716 Rn. 41–44; vorher schon EuGH v. 13.12.2007 – Rs. C-463/06 FBTO Schadeverzekeringen, EU:C:2007:792 Rn. 28 f.; ferner die Schlussanträge von GA Jacobs v. 20.3.1997 – Rs. C-45/96 Dietzinger, EU:C:1997:174 Tz. 39 ff. Kaum noch zu rechtfertigen hingegen – und deshalb viel kritisiert – EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C236/09 Test-Achats, EU:C:2011:100 Rn. 30, der die Begründungserwägungen als „Prämisse“ des Gesetzgebungsakts sogar gegen den relativ klaren Wortlaut des verfügenden Teils ins Feld führt; dazu Hoffmann, ZIP 2011, 1445; Purnhagen, EuR 2011, 690, 696 f.; Armbrüster, Das Unisex-Urteil des EuGH (Test-Achats) und seine Auswirkungen (2012), S. 8 ff.
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§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
tätserwägungen bildet,219 ist die „begründungserwägungskonforme“ Auslegung des Richtlinientextes striktes Gebot für den Anwender.220 „Anwender“ in diesem Sinne ist offenkundig nicht nur der umsetzende Mitgliedstaat und der über die pflichtgemäße Umsetzung wachende EuGH, sondern auch der nationale Richter, der sein eigenes Recht richtlinienkonform auslegt.
2. Verordnungen a) Die Bedeutung der Verordnung für das Europäische Privatrecht 79 Die Handlungsform der unmittelbar geltenden und unmittelbar anwendbaren Verord-
nung nach Art. 288 Abs. 2 AEUV hat der Europäische Privatrechtsgesetzgeber lange Zeit relativ selten gewählt. Für die Methode der Privatrechtsgesetzgebung galt bisher, schon aus kompetenzrechtlichen Gründen: Nicht Rechtsvereinheitlichung (durch Verordnung), sondern lediglich Rechtsangleichung (durch ausfüllungsbedürftige Richtlinien) war das Generalziel. In neuerer Zeit ist hier allerdings eine Trendwende auszumachen. Diese betrifft bei weitem nicht nur Zielsetzungen wie die Etablierung eines einheitlichen Kollisionsrechts oder einer supranationalen Rechtsform, wo einer präzisen und unmittelbar anwendbaren Regelung naturgemäß eine herausragende Bedeutung zukommt. Vielmehr hat der Trend zur Verordnung zuletzt auch Bereiche wie das Kapitalmarktrecht und das Datenschutzrecht erfasst,221 in denen der Unionsgesetzgeber zuvor lange Zeit mit dem Instrument der Richtlinie operiert hatte. Die Verordnung scheint hier, nicht zuletzt aus informationsökonomischen Erwägungen, die bisher vollharmonisierenden Richtlinien zukommende Funktion als Endstufe eines fortschreitenden Integrationsprozeses einzunehmen.222
b) Keine Einwirkungs- sondern Abgrenzungsfragen im Fokus 80 Anders als die häufig fragmentarische, nur die Mitgliedstaaten bindende Richtlinie scheint die regelmäßig vollharmonisierende, im Horizontalverhältnis unmittelbar an-
219 Anschaulich Gast, Juristische Rhetorik (4. Aufl. 2006), S. 296 ff. 220 Auch diese Bindung kann zu einer gewissen Beliebigkeit führen, wenn die Begründungserwägungen mehrere policies ohne hierarchische Stufung vorgeben. So hat die Rechtsprechung zur Produkthaftungsrichtlinie sich früher auf BE 1 gestützt, die „binnenmarktfunktional“ die Vereinheitlichung der Haftungsrisiken der Produzenten bezweckt; EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-183/00 Gonzalez Sánchez, EU: C:2002:255 Rn. 3, 24, 25. In jüngeren Urteilen stützt sich der Gerichtshof jedoch auch auf BE 9, der die Effektuierung des Verbraucherschutzes vorgibt; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-285/08 Moteurs Leroy Somer, EU:C:2009:351 Rn. 27–31. 221 Zur Prospekt-Verordnung und Marktmissbrauchs-Verordnung siehe oben Fn. 133. 222 Vgl. etwa Erwägungsgrund 5 der Marktmissbrauchs-Verordnung und Erwägungsgrund 5 der Prospekt-Verordnung, beide oben Fn. 133 sowie Erwägungsgrund 7 der Datenschutz-Grundverordnung, oben Fn. 212.
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wendbare Verordnung den Rechtsanwender vor deutlich weniger Probleme zu stellen. Dieser Eindruck ist auch zutreffend, soweit die vertikale Einwirkung des unionalen Rechtsakts auf das nationale Recht in Rede steht. Denn es gibt hier nur eine Regelungsebene und die Bindung der Adressaten einer privatrechtsvereinheitlichenden Verordnung entspricht der eines nationalen Privatrechtsgesetzes. All dies bedeutet aber nicht, dass eine privatrechtsvereinheitlichende Verordnung den Rechtsanwender vor keinerlei Probleme stellt; nur sind diese Probleme von einer gänzlich anderen Art, indem sie die horizontale Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Verordnung von dem des nationalen Rechts betreffen. aa) Die äußere Abgrenzung des Anwendungsbereichs privatrechtsvereinheitli- 81 chender Verordnungen, insbesondere bei optionalen Instrumenten. Im Vordergrund steht bei sachrechtsvereinheitlichenden Verordnungen wie auch bei entsprechenden völkerrechtlichen Übereinkommen, die Festlegung ihres Anwendungsbereichs nach außen, d. h. gegenüber konkurrierenden, ebenfalls Anwendung erheischenden nationalen Regelungen. Letztlich geht es hierbei um eine kollisionsrechtliche Frage.223 Diese Frage kann die sachrechtsvereinheitlichende Verordnung entweder durch eigene ausdrückliche oder versteckte Kollisionsnormen selbst beantworten. Nationales IPR wird hierbei aufgrund des Vorrangs der Verordnung, vereinheitlichtes IPR nach dem lex specialis-Grundsatz verdrängt. Eine solche Kollisionsregel stellt etwa Art. 9 SE-VO dar, dem sich unter anderem224 die Aussage entnehmen lässt, dass das in dieser Verordnung geregelte Statut der suparanationalen Rechtsform SE auf spezifisch nach diesem Recht erfolgte Gründungen mit Satzungssitz in der EU Anwendung finden soll.225 Möglich ist aber auch eine Vorschaltung des allgemeinen IPR. Sofern hiernach die Rechtsordnung eines an die Regelung gebundenen Mitglied- bzw. Unterzeichnerstaats berufen wird, muss die Abgrenzungsfrage zwischen Verordnung und nationalem Recht dann allerdings auf der Sachrechtsebene als Rangkollisionsfrage nach den von der Verordnung hierfür aufgestellten Kriterien beantwortet werden. Eine solche Lösung wurde etwa für das (gescheiterte) Projekt eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts (GEK) diskutiert, wonach das GEK unter Vorschaltung der Rom I-VO als eine von zweien, innerhalb der berufenen Rechtsordnung geltenden Vertragsrechtsregelungen zur Anwendung kommen sollte. (2. Regime). Besondere Probleme werfen privatrechtsgestaltende Verordnungen auf, deren 82 Anwendbarkeit von einer Wahl (opt in) seitens der Normunterworfenen abhängig sein soll. Als ein solches „optionales Instrument“ sollte bekanntermaßen das GEK ausgestaltet werden. Aber auch im aktuellen Normbestand finden sich Beispiele optionalen Verordnungsrechts wie etwa die Verordnung über das Statut der Europäischen Ak
223 So auch W.-H. Roth, RabelsZ 55 (1991) 623, 629 (zur EWiV). 224 Die Norm grenzt erster Linie die Anwendungsbereiche der einzelnen Rechtsquellen des SE-Statuts voneinander ab; siehe dazu noch sogleich bb). 225 Engert, ZVglRWiss 114 (2005), 444, 453 ff. Köndgen/Mörsdorf
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§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
tiengesellschaft (Societas Europaea, SE) und der Europäischen Genossenschaft (Societas Cooperative EuropaeaSCE). Als schwierig gestaltet sich hier insbesondere die dogmatische Qualifikation des „Einwahlakts“.226 Um eine „Rechtswahl“ im klassischen Sinne kann es sich hierbei schon deshalb nicht handeln, weil eine solche nur zwischen gleichrangigen nationalen Rechten erfolgt, während es sich bei dem gewählten Verordnungsstatut um genuines, im Rang über dem nationalen Recht stehendes Unionsrecht handelt.227 Um ein im weitesten Sinne kollisionsrechtliches Anknüpfungskriterium handelt es sich bei der Einwahl freilich gleichwohl, weil über dieses Kriterium entweder auf kollisionsrechtlicher Ebene oder auf der Sachrechtsebene die Abgrenzung zwischen Verordnungsrecht und nationalem Sachrecht erfolgt. 83
bb) „Innere“ Abgrenzungsprobleme: Das Binnenkollisionsrecht der suprantionalen Rechtsformen. Nicht um die äußere, sondern um die innere Abgrenzung des Anwendungsbereichs einer privatrechtsgestaltenden Verordnung vom Anwendungsbereich des nationalen Rechts geht es dagegen bei denjenigen Vorschriften, welche für die supranationalen Rechtsformen SE und SCE das Rangverhältnis der einzelnen Rechtsquellen statuieren (Art. 9 SE-Verordnung, Art. 8 SCE-Verordnung). Denn auch wenn insoweit die Anwendungsbereiche von verordnungseigenem Recht und Sachrecht des Sitzstaates voneinander abgegrenzt werden, wird Letzeres gerade nicht in seiner Eigenschaft als nationales Recht zur Anwendung berufen, sondern als integraler Bestandteil des unvollkommenen SE-Statuts. Art. 9 SE-VO, Art. 8 SCE-VO statuieren somit nur das Binnenkollisionsrecht der jeweiligen supranationalen Rechtsform, während die äußere Abgrenzung des Statuts zum nationalen Gesellschaftsrecht, wie oben gesehen, auf Basis der Wahl der Gesellschaftsform durch die Gründer und der Belegenheit des Satzungssitzes in der EU erfolgt.
3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts 84 Unter den klassischen Rechtsquellen ist ein europäisches Gewohnheitsrecht praktisch
nicht existent.228 Die Bildung von Gewohnheitsrecht ist schon im nationalen Kontext pluralistischer Gesellschaften fragwürdig geworden, umso mehr unter dem Dach ei-
226 Hierzu M. Lehmann, in: Gebauer, Gemeinsames Europäisches Kaufrecht- Anwendungsbereich und kollisionsrechtliche Einbettung (2013), 67, 76 ff. 227 Zutreffend M. Lehmann, in: Gebauer, Gemeinsames Europäisches Kaufrecht ‒ Anwendungsbereich und kollisionsrechtliche Einbettung (2013), 67, 76 ff. Das zum GEK als eine weitere Variante erwogene Modell eines „28. Regimes“, welches eine solche kollisionsrechtliche Rechtswahl im Rahmen des Art. 3 Rom I-VO vorsah, vermochte daher schon aus diesem Grund nicht zu überzeugen, 228 Weitaus h. M.; vgl. nur Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 18; zumindest skeptisch auch Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 264 ff., der Gewohnheitsrecht allenfalls im organisationsrechtlichen und interinstitutionellen Bereich erkennen will.
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nes supranationalen Verbundes mit noch lange nicht konsolidierten institutionellen, legislativen und rechtskulturellen Strukturen. Wenigstens zum Teil werden die Funktionen des Gewohnheitsrechts in der Union durch den Rückgriff auf mitgliedstaatenübergreifende Rechtsgrundsätze substituiert.229 Diese hatten bisher ihren Hauptort im EU-Verfassungsrecht, insbesondere im Bereich der Grund- und Menschenrechte sowie der Staatszielbestimmungen, und zwar unter Rekurs auf die „gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten“.230 Diese Funktion ist mit der Erhebung der Europäischen Grundrechtecharta zum Unionsprimärrecht weitgehend obsolet geworden. Im Privatrecht wird die Suche nach „gemeinsamen Lösungen“ in Gestalt gemeineuropäischer Rechtsprinzipien vor allem von jenen propagiert, die das Projekt eines „European Civil Code“ derzeit für illusorisch halten.231 Es geht dabei um Strukturprinzipien, deren Generalisierungsniveau mehrheitlich über jenem der von Rechtsvergleichern gesammelten „European Principles“ liegt. Gleichwohl sind sie nicht lediglich Interpretationshilfe für bestehende Rechtsakte,232 sondern, sozusagen als „Harmonisierung von unten“,233 originärer Teil des Unionsrechts. Ausdrücklich autorisiert ist die Geltung solcher Prinzipien in Art. 340 Abs. 2 AEUV für den Bereich der außervertraglichen Staatshaftung, konkretisiert durch die Francovich-Rechtsprechung.234 Freilich sind die ausschließlich für das Staatshaftungsrecht rezipierten allgemeinen Grundsätze des Schadensrechts235 wohl kaum Teil des Europäischen Privatrechts. Einer auf der Verletzung von Unionsrecht (z. B. Kartellrechtsverstößen) beruhenden „gemeineuropäischen“ Deliktshaftung unter Privaten ist der EuGH nicht näher getreten,236 hat aber immerhin auf einige Sanktionsgrundsätze zur Wahrung des effet utile der Kartellverbote verwiesen, z. B. auf die Einbeziehung des entgangenen Gewinns und der Zinsen in die Schadensberechnung.237 Im Übrigen hat er sich nur auf sehr hoch generalisierte Prinzipien wie das Vertrauensprinzip (principle of legitimate expectation), Treu und Glauben (good faith) oder venire contra factum proprium (estoppel) gestützt.238 Zum
229 Vgl. allgemein Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 166 ff. Zur theoretisch anspruchsvollen Geltungsbegründung allgemeiner Rechtsgrundsätze Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 149 ff. 230 Hinsichtlich der Grundrechte jetzt positiviert in Art. 6 Abs. 3 EUV. 231 Vgl. etwa van Gerven, in: Hartkamp u. a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 101 f. 232 So aber wohl Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 35. 233 Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 271. 234 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich, EU:C:1991:428. 235 Vgl. insbes. EuGH v. 28.4.1971 – Rs. 4/69 Lütticke, EU:C:1971:40. Zum Ganzen Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts (2003); Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 337 ff. 236 Zu den Gründen van Gerven, in: Hartkamp u. a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 109 f. In der Rs. C-453/99 Courage und Crehan, EU:C:2001:465, hat der EuGH lediglich gefordert, dass es überhaupt ein privatrechtliches remedy geben müsse. 237 EuGH v. 13.7.2006 – Rs. C-295/04 Manfredi, EU:C:2006:461 Rn. 95–97. 238 Rechtsprechungsübersicht bei Usher, ERPL 1 (1993), 109, 113 f.
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Inhalt des deliktischen Schadensersatzes ist auf das schadensrechtliche Bereicherungsverbot und auf das Mitverschuldensprinzip rekurriert worden.239 Verweigert hat der EuGH die Anerkennung einer „europäischen“ Aufrechnung.240
4. Richterrecht und richterliche Rechtsfortbildung 85 Dass richterliche Rechtsfortbildung und, als deren kleiner Bruder, das Richterrecht
heute eine wichtige Rechtsquelle neben der lex scripta verkörpern, steht auch für die europäische Rechtsquellenlehre außer Frage. Sie stößt dabei allerdings wiederum auf deutlich andere Probleme als die nationale Rechtsquellenlehre. Das ist an gesonderter Stelle zu vertiefen.241
IV. Europäisches Soft Law 1. Mitteilungen und Aktionspläne a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission 86 Richtlinieninterpretierende Mitteilungen der Kommission finden sich vor allem im öffentlichen Recht, wo sie sich mit den Verwaltungsvorschriften des deutschen Rechts vergleichen lassen. Wie diese haben sie allgemeine Geltung und werden von den Adressaten faktisch auch befolgt.242 Im Privatrecht haben sie bisher keine Bedeutung. Sie wären auch gerade dort problematisch, weil sie die Ausfüllungsspielräume der Mitgliedstaaten beschneiden würden. Die Kommission selbst ist insoweit weder Gesetzgeber, der sein eigenes Werk „authentisch“ interpretieren könnte,243 noch Regulierungsbehörde, die mit der Konkretisierung einer Rechtsquelle betraut ist. Wo Richtlinien nur den Charakter von Rahmenregelungen haben, wird zu ihrer Konkretisierung denn auch zunehmend der Weg über sog. Durchführungsrichtlinien (als delegierte Rechtssetzung gem. Art. 290, 291 AEUV) beschritten (siehe schon oben Rn. 60). Einfache Mitteilungen, vor allem in der Form sog. Grün- und Weißbücher, spielen allerdings eine wichtige Rolle als Konsultationsdokumente im Vorfeld der Rechtssetzung.
239 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage und Crehan, EU:C:2001:465 Rn. 30, 31 ff. 240 EuGH v. 10.7.2003 – Rs. C-87/01 P Kommission ./. CCRE, EU:C:2003:400; dazu Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 346 f. 241 Neuner, in diesem Band, § 12. 242 Vgl. nur BGH, NJW-RR 2004, 689 („Leitlinien“ zur GVO für Vertikalverträge Nr. 2790/99 v. 22.12.1999); aus der Literatur Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 254 ff. 243 Auf diesen Fall beschränkt mit Recht Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 56 die Verbindlichkeit auslegender Erklärungen als authentische Interpretation.
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IV. Europäisches Soft Law
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b) Leitlinien Leitlinien (guidance documents / lignes directrices) ähneln in ihrem rechtsquellentheo- 87 retischen Status den Mitteilungen. Sie finden im Definitionskatalog der Handlungsformen unter Art. 288, 290, 291 AEUV keine Erwähnung. Vereinzelte primärrechtliche Ermächtigungen der Kommission (Art. 148 Abs. 2 AEUV) bzw. von Parlament und Rat (Art. 171, 172 AEUV) zu ihrem Erlass in Spezialfällen oder auch zur Ergreifung bloßer „Initiativen“ hierzu (Art. 156, 168 Abs. 2, 173 Abs. 2, 183 Abs. 2 AEUV) können schwerlich eine allgemeine Kompetenzgrundlage fundieren.244 Gleichwohl hat die Kommission namentlich zum Wettbewerbsrecht wiederholt mit dem Regelungsinstrument der Leitlinie operiert.245 Der EuGH hat dieses Vorgehen nicht grundsätzlich beanstandet, aber sich zu einer – begrifflich nicht restlos geglückten – Klarstellung und Begrenzung der normativen Reichweite von Leitlinien veranlasst gesehen.246 Zwar will das Gericht wettbewerbsrechtliche Leitlinien ungeachtet ihrer intendierten und abstraktgenerellen Außenwirkung nicht als „Rechtsnormen“ gelten lassen. Leitlinien begründeten jedoch „Verhaltensnormen“, die „einen Hinweis auf die zu befolgende Verwaltungspraxis enthalten und von denen die Verwaltung im Einzelfall nicht ohne Angabe von Gründen abweichen kann, die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sind.“247 Normativität wird folglich erzeugt durch öffentliche Selbstbindung hinsichtlich künftiger Ermessensausübung, auf die die Adressaten der Leitlinien berechtigter Weise vertrauen. Zumindest von größerer Klarheit sind die sekundärrechtlichen Kompetenzgrund- 88 lagen für den Erlass von Leitlinien; freilich fehlt es auch dort an einer Legaldefinition. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Befugnisse der europäischen Finanzaufsichtsagenturen EBA, ESMA und EIOPA gegenüber den mitgliedstaatlichen Aufsichtsbehöden.248 Dem soft law-Charakter der von den Agenturen erlassenen Leitlinien korrespondiert hier eine soft sanction bei Non-compliance der Adressaten: Diese haben jede Abweichung unter Angabe von Gründen mitzuteilen (comply or explain); darüber hinaus darf die zuständige Agentur die Abweichung öffentlich machen (name and blame).249
244 Zu Recht kritisch Callies/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rdnr. 102; Pechstein/Nowak/Häde-Gundel, Art. 288 AEUV Rdnr. 121. Offensichtlich unproblematisch sind Leitlinien, die ihrerseits in Gestalt einer in Art. 288 AEUV anerkannten primärrechtlichen Handlungsform ergehen; Beispiele hierzu bei Pechstein/Nowak/Häde-Gundel, Art. 288 AEUV Rdnr. 123. 245 Monographisch hierzu Pampel, Rechtsnatur und Rechtswirkungen horizontaler und vertikaler Leitlinien, 33 ff., 81 ff.; ferner Thomas, EuR 2009, 423. 246 EuGH v. 11.7.2013 – Rs. C-439/11 P Ziegler SA/Kommission, EU:C:2013, 513 Rn. 59 f. 247 EuGH v. 11.7.2013 – Rs. C-439/11 P Ziegler SA/Kommission, EU:C:2013, 513 Rn. 60. 248 Jeweils nahezu gleichlautend Art. 16 EBA-VO 1093/2010; Art. 16 ESMA-VO 1095/2010, und Art. 16 EIOPA-VO 1094/2010. 249 Jeweils Art. 16 Abs. 3 der in Fn. 268 genannten Verordnungen.
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§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
c) Empfehlungen und Aktionspläne 89 Empfehlungen kommt nach Art. 288 Abs. 5 AEUV keine Verbindlichkeit zu. Trotzdem
ist es gerechtfertigt, sie als eine Quelle von soft law zu begreifen, weil der EuGH von den Mitgliedstaaten und ihren Organen verlangt, Empfehlungen zwar nicht zu „befolgen“, aber sie doch zu „berücksichtigen“, d. h. sich damit auseinanderzusetzen und die Nichtbefolgung ggf. zu begründen.250 90 Aktionspläne – aus dem Privatrecht zu nennen der Aktionsplan zum Gesellschaftsrecht 2012, 251 der ambitionierte Aktionsplan für eine Kapitalmarktunion 2015, sowie die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt von 2015252 – sind nicht einmal eine „weiche“ Rechtsquelle. Sie begründen allenfalls eine lose Selbstbindung der Kommission, eine bestimmte Arbeitsagenda abarbeiten zu wollen.
2. Ko-Regulierung und „privatisierte“ Regulierung durch Expertenrecht 91 Weltweit erfordert die steigende Komplexität des Rechts in der „Wissensgesellschaft“
die Mobilisierung von Expertenwissen.253 Das geschieht inzwischen überwiegend durch Einrichtung institutionalisierter Expertengremien, die häufig Teil des Staatsapparates sind, aber zunehmend auch auf rein privater Basis operieren.254 Die typische Erscheinungsform des in diesen Gremien produzierten Expertenrechts im Privatrecht sind die sog. Kodizes (Codes of Best Practice). Ihre Herkunft haben die Kodizes in den angelsächsischen Ländern, und dort wieder primär im britischen Gesellschafts-, Bank- und Finanzmarktrecht. Unterschiedlich von Fall zu Fall ist die Intensität der staatlichen Einflussnahme auf das private Expertenrecht; sie reicht von völliger Enthaltsamkeit im Falle reiner Selbstregulierung bis zu kooperativer „Ko-Regulierung“. 92
Ein erster Anwendungsfall im europäischen Privatrecht war der „Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite“ (2001).255 Die Entwicklung dieses Kodex ist von der Kommission angeregt, begleitet und in Form einer Empfehlung „begrüßt“ worden.256 Seine Verbindlichkeit beruhte einzig auf einer Selbstverpflichtung der europäischen Dachverbände des Hypothekarkreditgewerbes, die diese Selbstverpflichtung „nach unten“ an ih-
250 EuGH v. 13.12.1989 – Rs. C-322/88 Grimaldi, EU:C:1989:646 Rn. 18. 251 KOM(2012) 740 endg. 252 KOM(2015) 192 endg. 253 Die Entwicklung und deren Faktoren zusammenfassend Köndgen, AcP 206 (2006), 477 ff., 481 ff. 254 Cafaggi, Private Regulation, S. 106 ff. 255 Europäische Vereinbarung über einen freiwilligen Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite v. 5.3.2001; dazu monographisch Berresheim, Europäischer Informationsverhaltenskodex der Realkreditwirtschaft (2008); ferner Schmies, ZBB 2003, 277, 287 ff. 256 Empfehlung der Kommission v. 1.3.2001 über vorvertragliche Informationen, die Darlehensgeber, die wohnungswirtschaftliche Darlehen anbieten, den Verbrauchern zur Verfügung stellen müssen, ABl. 2001 L 69/25.
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IV. Europäisches Soft Law
179
re Mitgliedsverbände bzw. -institute weiterzugeben hatten. Da der faktische Umsetzungsgrad die Erwartungen der Kommission nicht erfüllte, ist der Kodex inzwischen in das ius strictum der Immobiliarkreditrichtlinie (2014) überführt worden.257 Aktuelles und praktisch überragend wichtiges Beispiel ist die Ko-Regulierung im privaten Euro- 93 päischen Zahlungsverkehrsrecht. Zur Konstituierung eines einheitlichen europäischen Zahlungsraums (Standard European Payment Area, SEPA) war es unumgänglich, zumindest im Lastschriftund im Überweisungsverkehr standardisierte technische Verfahren zu entwickeln. Ermuntert durch die Kommission, hat sich der 2002 von den Dachverbänden der Europäischen Kreditwirtschaft ins Leben gerufene European Payment Council (EPC) dieser Aufgabe angenommen. Während der einheitliche Zahlungsraum schließlich durch eine äußerst knapp gehaltene Verordnung (sog. SEPA-VO) begründet wurde,258 beruht dessen gesamte technische Infrastruktur auf dem vom EPC in Abstimmung mit der Zahlungswirtschaft entwickelten mehrere hundert Seiten starken SEPA-Rulebook.259
Kompetenzrechtlich gilt: Kodizes passen weder in den Katalog der Handlungsformen in 94 Art. 288 Abs. 1 und 5 AEUV noch in die Delegations- und Durchführungsakte gem. Art. 290, 291 AEUV. Die Kompetenz der Kommission, nach Art. 288 AEUV Empfehlungen auszusprechen, deckt nicht den Fall richtlinienvertretender privater Normsetzung. Kodizes sind auch nicht mit anderen Formen von soft law, wie dem Komitologieverfahren nach der VO Nr. 182/2011, vergleichbar. Sie sind andererseits nicht schlichte Selbstregulierung, da sie im Einvernehmen zwischen Kommission und Fachverbänden entwickelt, angewendet und evaluiert werden. Da die Kodizes tendenziell richtlinienvertretend sind, die Mitwirkung der Union aber nur über die Kommission erfolgt, stellt sich unvermeidlich das Problem der parlamentarischen Verantwortlichkeit.260 Zur Sicherstellung des effet utile hat die Kommission die Anwendung der Kodizes laufend zu überwachen (BE 5 SEPA-VO). Als ultimative Sanktionsdrohung bleibt stets, den Richtlinienknüppel aus dem Sack zu holen und eine ineffektive Ko-Regulierung durch ius strictum zu ersetzen.
257 Immobiliarkredit-Richtlinie (oben Fn. 159), BE 40 ff. und Art. 13, 14 Abs. 1 und 2, sowie Anhang II. 258 Verordnung (EU) Nr. 260/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.3.2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009, ABl. 2012 L 94/22). Einen indirekten Regulierungsauftrag an den EPC mag man dem BE 5 der VO entnehmen. 259 Einzelheiten bei Köndgen, Das SEPA-Rulebook als Rechtsquelle des Zahlungsdiensterechts, FS Hopt (2020), 539, 541 ff., 547 ff.; zusammenfassend auch Cafaggi, in: Hartkamp u. a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code, S. 112. 260 So am Beispiel des Immobiliarkredit-Kodex schon Schmies, ZBB 2003, 277, 280. Die Beachtung des Demokratieprinzips mahnt auch Cafaggi, in: Hartkamp u. a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code, S. 124 an.
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§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
V. Résumé und Ausblick 95 Die nationale, traditionelle Rechtsquellenlehre hat infolge ihrer im Wesentlichen for-
malen Regeln zur europäischen Rechtsquellenlehre bisher wenig beizusteuern. Auch in der Rechtsquellenlehre hat sich nämlich das supranationale Recht noch nicht hinreichend von den traditionellen Leitsternen des Völkerrechts und des nationalen Rechts emanzipieren können. Im Besonderen die Streitfragen um die europäischen Privatrechtsquellen lassen sich mit dem theoretischen und methodischen Instrumentarium der Rechtsquellenlehre nicht befriedigend lösen. Not tut daher eine autonome europäische Rechtsquellenlehre. Auch wenn die zentrale Frage nach dem Geltungsradius des Europäischen Primär- und Sekundärrechts sich zunächst als typisch rechtsquellentheoretische Problematik, nämlich als solche des Stufenbaus der Rechtsordnung, präsentieren mag: die Würfel fallen ganz woanders und gehorchen sehr viel elementareren und wertungsgeladenen Prinzipien. Letztlich geht es um die altbekannten Grundsatzprobleme und Antinomien des Privatrechts, nämlich um Markteffizienz und Marktversagen, um Privatautonomie und staatliche Regulierung, um unternehmerische Freiheit und Verbraucherschutz, um Selbstverantwortlichkeit und Paternalismus.
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Abschnitt 2 Primärrecht § 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Literatur: Wilfried Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsfunktionen – Verfassungsprozessrecht im EWG-Vertrag (1987); Albert Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: ders. (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), S. 105–112; ders., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, NJW 1982, 1177–1182; Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Mariele Dederichs, Die Methodik des EuGH – Häufigkeit und Bedeutung methodischer Argumente in den Begründungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (2004); Ulrich Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217–227; Christian Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, in: Peter Behrens/Thomas Eger/Hans-Bernd Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analysen des Europarechts (2012); Pierre Pescatore, Recht in einem mehrsprachigen Raum, ZEuP 1998, 1–12; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001); Michael Potacs, Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465–487; Werner Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, 180–186; Isabel Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht – Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof (2004); Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (3. Aufl. 2010). Rechtsprechung: EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit Italiana, EU:C:1980:100; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335; EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, EU:C:1998:536. Systematische Übersicht Einleitung 1–2 Rechtliche Unterscheidung zwischen intergouvernementalem und supranationalem Europarecht 3–8 1. Rechtsnatur des supranationalen Unionsrechts 4–6 2. Rechtsnatur des intergouvernementalen Unionsrechts 7–8 III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht 9–12 IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht 13–41 1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen 14–15 2. Einzelne Auslegungsmethoden 16–39 a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung 17–21
b)
I. II.
V.
Systematische Auslegung 22–26 c) Teleologische Auslegung 27–32 d) Historische Auslegung 33–35 e) Rechtsvergleichende Methode 36–39 3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander 40–41 Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht 42–55 1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge 43–45 2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK 46–50 a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung 47 Pechstein/Drechsler
https://doi.org/10.1515/9783110614305-007
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
b)
3.
Systematische Auslegung 48 c) Teleologische Auslegung 49–50 Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK 51–54
Historische Auslegung 52 Rechtsvergleichende Auslegung 53–54 4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander 55 VI. Rechtsfortbildung 56–61 a) b)
I. Einleitung 1 1 Auslegung als „Rekonstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens“ erfolgt
mit unterschiedlichen Methoden, welche auch nebeneinander angewandt werden können. Für das Recht der Europäischen Union bieten sich zur Auslegung der Vertragsnormen drei verschiedene Methodengrundsätze an. Während einmal von den für das Völkerrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen ausgegangen werden könnte, könnte auch auf die nationalen Auslegungsgrundsätze zurückgegriffen werden, aber auch auf spezielle europarechtliche Grundsätze. Prinzipiell werden auch bei der Interpretation der Rechtsnormen im Europarecht die bekannten Auslegungsmethoden angewandt. In erster Linie finden die teleologische,2 die systematische3 und die grammatikalische4 Methode Anwendung. Anders als im nationalen Recht hat die historische Methode für die Auslegung des europäischen Primärrechts nur sehr eingeschränkte Bedeutung. Dies geht auf die Besonderheiten der Rechtsnatur des Unionsrechts zurück, auf welche im Folgenden einzugehen sein wird. 2 Zunächst werden die Besonderheiten des Unionsrechts mit der weiterhin erforderlichen Unterteilung in einen intergouvernementalen und einen supranationalen Bereich dargestellt (II.). Sodann werden für beide Bereiche die angewandten Auslegungsmethoden im Primärrecht analysiert (III.–V.). Neben den bekannten Auslegungsmethoden und ihren Besonderheiten soll die Rechtsfortbildung im Primärrecht dargestellt werden (VI.). Die Rechtsfortbildung selbst wird zwar teilweise als Auslegungsmethode angesehen, sie geht aber über eine Auslegung des geltenden Rechts hinaus, indem dieses „fortgebildet“ wird. Insoweit handelt es sich nicht um eine Auslegungsmethode. Da der Rechtsfortbildung im Unionsrecht jedoch eine besondere Bedeutung zukommt, wird sie in einem selbständigen Teil behandelt.
1 So Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1 (1840), S. 213. 2 EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, EU:C:1956:11, S. 311; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 20. 3 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, EU:C:1971:32 Rn. 15/19 – AETR; EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne III, EU:C:1978:130 Rn. 15. 4 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, EU:C:1985:55 Rn. 11 f.; EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, EU:C:1998:536 Rn. 14 f.
Pechstein/Drechsler
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II. Intergouvernementales und supranationales EU-Recht
II. Rechtliche Unterscheidung zwischen intergouvernementalem und supranationalem Europarecht Welche Auslegungsmethoden Anwendung finden, richtet sich nach der Rechtsnatur 3 der Rechtsordnung und den für die Auslegung zuständigen Organen. Für die Auslegung von Völkerrecht gelten andere Grundsätze und Normen als für die Auslegung von nationalem Recht. Das Völkerrecht ist getragen von den Grundsätzen der staatlichen Souveränität und der Gleichheit der Staaten. Insoweit sind vor allem der teleologischen Auslegung von Anfang an Grenzen gesetzt. Von wesentlicher Bedeutung ist daher, in welchen Rechtskreis die einzelnen Rechtsordnungen einzuordnen sind. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hat die Europäische Union erstmalig eine eigene Rechtspersönlichkeit erhalten, Art. 47 EUV. Die Europäische Union ist seither völkerrechtlich rechts- und handlungsfähig. Damit stellt das Unionsrecht jetzt zwar die Rechtsordnung eines einheitlichen Rechtssubjekts dar, die Trennung zwischen intergouvernementalem Recht und supranationalem Recht bleibt aber teilweise noch bestehen.5 Die Säulenstruktur der Europäischen Union ist mit dem Vertrag von Lissabon formell aufgelöst worden.6 Die Europäische Union ist gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV ausdrücklich Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft. In der Europäischen Union erfolgt prinzipiell eine supranationale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Die ehemals für die zweite und dritte Säule vorgesehene intergouvernementale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ist für die dritte Säule, den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ehemals Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, PJZS) aufgehoben worden. Hier findet nun eine supranationale Zusammenarbeit statt. Allein für die ehemals zweite Säule, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einschließlich der Gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik (GSVP, Art. 42 Abs. 1 S. 1 EUV), ist auch unter dem Lissabonner Vertrag eine Übertragung von Hoheitsrechten i. S. d. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG auf die Europäische Union nicht vorgesehen, diese ist weiterhin in Form einer intergouvernementalen Zusammenarbeit organisiert; es gibt keine unmittelbare Anwendbarkeit und keinen Anwendungsvorrang des GASP-Rechts.7 Damit ist der Europäische Gerichtshof für Handlungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht zuständig (Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV).8 Die Trennung der Bereiche des intergou
5 Haag/Kotzur, in: Bieber u. a. (Hrsg.), Die Europäische Union (13. Auflage 2019), § 6 Rn. 2, 3; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht (12. Aufl. 2020), Rn. 53ff. 6 Hellmann, Der Vertrag von Lissabon (2009), S. 2. 7 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (3. Aufl. 2010), S. 136 ff.; Pechstein, JZ 2010, 425 ff. 8 Für Fragen der Personalverwaltung im Rahmen von GASP-Missionen hat sich der EuGH hingegen für zuständig erklärt und die Ausnahme des Art. 275 AEUV nicht für anwendbar erklärt EuGH v. 19.7.2016 – Rs. C-455/14 P H ./. Rat der Europäischen Union u. a., EU:C:2016:569 Rn. 44.
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
vernementalen und des supranationalen Unionsrechts wird auch durch Art. 40 EUV unterstrichen, der ein Gebot wechselseitiger Unberührtheit von GASP und sonstigen Unionsbereichen – also intergouvernementalem und supranationalem Unionsrecht – statuiert. Die Rechtsordnung der Europäischen Union ist in ihrer Gesamtheit nicht mit einer nationalen Rechtsordnung vergleichbar. Sie basiert auf völkerrechtlichen Verträgen und wird durch völkerrechtliche Verträge, wie u. a. den Vertrag von Nizza und den Vertrag von Lissabon, weiterentwickelt.9
1. Rechtsnatur des supranationalen Unionsrechts 4 Es ist davon auszugehen, dass das Unionsrecht sich zu einer eigenständigen Rechts-
ordnung sui generis entwickelt hat. Denn allein von der Entstehungsgeschichte einer Rechtsordnung, der Gründung durch einen völkerrechtlichen Vertrag, kann nicht endgültig auf ihre Rechtsnatur geschlossen werden. Entscheidend für die Rechtsnatur einer Rechtsordnung ist die Struktur derselben.10 Für das Unionsrecht ergeben sich in diesem Gesamtzusammenhang im Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Verträgen folgende Besonderheiten: Zwar gilt weiterhin das Prinzip der Souveränität der Staaten, dieses ist für die Bereiche, in denen von den Mitgliedstaaten Kompetenzen auf die Union übertragen wurden, jedoch eingeschränkt. Auch das dem Völkerrecht innewohnende Konsensprinzip liegt dem Unionsrecht jedenfalls bei der Sekundärrechtssetzung nicht zugrunde. Vielmehr gilt in den meisten Tätigkeitsfeldern im Rat das Mehrheitsprinzip, für die Primärrechtsänderung dagegen bleibt es gemäß Art. 48 Abs. 4 EUV bei dem Erfordernis der Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Dies führt dazu, dass Rechtsakte in den Zuständigkeitsbereichen der Europäischen Union und auf dem Gebiet des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auch gegen den Willen eines Mitgliedstaates erlassen werden können und dieser Mitgliedstaat trotz Gegenstimme zum Vollzug des Rechtsaktes bzw. zur Umsetzung des Rechtsaktes verpflichtet ist. Die Verträge selbst dagegen können nur geändert werden, wenn alle Mitgliedstaaten die beabsichtigten Änderungen ratifizieren. 5 Weiterhin stellt das Unionsrecht, insbesondere die Regelungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes und vielfach unmittelbar anwendbares Recht dar.11 Es besitzt unter dieser Bedingung Vorrang vor jeder Norm des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten, wobei es sich um einen Anwendungsvorrang,12 nicht aber um einen Geltungsvorrang han-
9 Terhechte, EuZW 2009, 724, 729, 730. 10 Streinz, Europarecht (11. Aufl. 2019), Rn. 127. 11 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos, EU:C:1963:1, S. 25. 12 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., EU:C:1964:66, S. 1269–1271; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 19, Rn. 28. Pechstein/Drechsler
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II. Intergouvernementales und supranationales EU-Recht
delt.13 Diese beiden Grundsätze, unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten und Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor mitgliedstaatlichem Recht, bilden die zentralen Elemente der Rechtsordnung der Europäischen Union in der Form nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, die lediglich im Wege der Vertragsänderung aufgehoben werden könnten. Dies ist auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu den Beschlüssen der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm nicht anders zu interpretieren. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht diese zentralen Elemente der Rechtsordnung der Europäischen Union für rechtswidrig erklärt, sondern „lediglich“ den Umfang des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung im konkreten Fall als verletzt angesehen. Auch das Bundesverfassungsgericht geht weiterhin davon aus, dass die Unionsrechtsordnung ihrer Natur entsprechend über ein eigenes, nach autonomen Grundsätzen zu behandelndes „Verfassungssystem“ verfügt.14 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gilt auch gegenüber später ergangenem nationalen Recht. Daher gilt der Grundsatz lex posterior derogat legi priori im Verhältnis zwischen nationalem Recht und Unionsrecht nicht. Später ergangenes – oder auch spezielleres – nationales Recht bricht Unionsrecht demnach nicht. Neben der unmittelbaren Geltung sowie unmittelbaren Anwendbarkeit und dem darauf bezogenen Anwendungsvorrang des Unionsrechts stellt auch die weitgehende Rechtssetzungsbefugnis der Organe der Europäischen Union eine Besonderheit im Vergleich zu sonstigen völkerrechtlichen Verträgen und Institutionen dar. Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit können die Bürger aus dem Unionsrecht vielfach unmittelbar einklagbare Rechte ableiten oder daraus verpflichtet werden. Insoweit handelt es sich bei dem Unionsrecht weder um eine nationale noch um 6 eine klassische völkerrechtliche Rechtsordnung, vielmehr stellt sich das Unionsrecht als eigenständige und bislang einmalige Rechtsordnung dar, die besonderen Grundsätzen folgt. Für die Auslegung des Unionsrechts hat dies insoweit Bedeutung, als nicht allein nationale oder völkerrechtliche Grundsätze herangezogen werden können, denn sie würden der Rechtsnatur des Unionsrechts als Integrationsrechtsordnung nicht gerecht werden.15 Die letztlich verbindliche Auslegung des Unionsrechts ist gemäß Art. 19 Abs. 2 EUV dem Gerichtshof der Europäischen Union übertragen; das völkerrechtliche Prinzip der autonomen Vertragsinterpretation durch die Vertragsstaaten ist somit durchbrochen.
13 EuGH v. 22.10.1998 – verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97 IN.CO.GE.’90 u. a., EU:C:1998:498 Rn. 18 ff. 14 BVerfGE, 5.5.2020, 2 BvR 859/15, Rn. 158; Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 131. 15 So zuletzt EuGH v. 18.12.2014 – Gutachten 2/13 EMRK II, EU:C:2014:2454 Rn. 159.
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
2. Rechtsnatur des intergouvernementalen Unionsrechts 7 Nachdem der Vertrag von Lissabon eine Auflösung der Säulenstruktur der Europäi-
schen Union bewirkt hat, ist eine intergouvernementale Zusammenarbeit nur noch für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorgesehen. Obwohl der EU auch in der GASP nunmehr bestimmte Befugnisse eingeräumt wurden, sind die Mitgliedstaaten insoweit die dominanten Kompetenzträger geblieben und gestalten diesen Bereich damit in erster Linie nach völkerrechtlichen Grundsätzen. Entscheidungen der EU können hier nicht – anders als im Bereich des supranationalen Unionsrechts – nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden, sie unterliegen dem völkerrechtlich geltenden Konsensprinzip. Auch Art. 31 Abs. 1 UAbs. 2 EUV bildet insoweit keine Ausnahme, da der Rekurs auf die Einstimmigkeit im Europäischen Rat auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon erhalten bleibt. Eine Verpflichtung gegen den Willen eines Mitgliedstaates ist daher hier nicht möglich.16 Der Integrationsstand in der Europäischen Union wird aber insgesamt als höher eingestuft, als der in internationalen Organisationen übliche, da alle Kompetenzfelder der Europäischen Union dem Kohärenzgebot (Art. 7 AEUV) zur Vermeidung unabgestimmter, widersprüchlicher und einander konterkarierender Maßnahmen unterliegen.17 8 Für die Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts ist von Bedeutung, dass es, anders als das supranationale Unionsrecht, keine unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit und damit auch keinen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht aufweist. Demnach ist eine Berechtigung oder Verpflichtung einzelner durch das intergouvernementale Unionsrecht nicht möglich, es fehlt an der Durchgriffswirkung. Die supranationale Rechtsetzung in Form von Gesetzgebungsakten – und damit auch von darauf beruhendem Tertiärrecht – schließt Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 EUV für die GASP ausdrücklich aus. Auch für das intergouvernementale Unionsrecht der GASP kann jedoch die alleinige Anwendung nationaler und völkerrechtlicher Auslegungsmethoden nicht ausreichend sein. Das intergouvernementale Unionsrecht ist zwar einer völkerrechtlichen Auslegung weit stärker zugänglich als das supranationale Unionsrecht, weil es völkerrechtliche Strukturen aufweist, gleichwohl geht es aber auch über das „Normalmaß“ völkerrechtlicher Integration hinaus. Hinsichtlich der Zuständigkeit für die Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts ergeben sich weitere Unterschiede. Während gemäß Art. 19 EUV der Gerichtshof der Europäischen Union für die Auslegung des gesamten Unionsrechts und für die Gültigkeitskontrolle des Sekundärrechts uneingeschränkt zuständig ist, enthält der Unionsvertrag für die verbliebene intergouvernementale Zusammenarbeit der GASP einen ausdrücklichen judikativen Zuständigkeitsausschluss (Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV, Art. 275 Abs. 1 AEUV). Allein für die Abgrenzung des intergouvernementalen
16 Art. 28, 29 EUV/14, 15 EU. 17 Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 130 ff.; Streinz, Europarecht (11. Aufl. 2019), Rn. 139.
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III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht
187
Unionsrechts zum supranationalen Bereich ist der EuGH nach Art. 275 Abs. 2 AEUV zuständig. Daraus folgt auch, dass eine Auslegung des intergouvernementalen – primären wie sekundären – GASP-Rechts durch den EuGH nicht möglich ist. Insoweit besitzen die Mitgliedstaaten die alleinige – dezentrale – Auslegungszuständigkeit.18
III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Methodengrundsätze im Unionsrecht 9 Anwendung finden. Aufgrund der Besonderheiten der Unionsrechtsordnung kann nicht ausschließlich auf die nationalen Methodengrundsätze zurückgegriffen werden. Vielmehr ist im Bereich des primären supranationalen Unionsrechts auf eine Kombination der nationalen und völkerrechtlichen Methodengrundsätze und im intergouvernementalen Unionsrecht, aufgrund einer tiefergehenden Integration als in anderen völkerrechtlichen Verträgen, auf angepasste völkerrechtliche Methodengrundsätze zurückzugreifen.19 Für das supranationale Unionsrecht ergibt sich diese Kombinationsverpflichtung 10 nicht nur aus der eigenständigen Rechtsnatur, sondern auch daraus, dass die mitgliedstaatlichen Methodengrundsätze auf den anglo-amerikanischen, romanischen und mitteleuropäischen Rechtskreis zurückgehen20 und das supranationale Unionsrecht allen drei Rechtskreisen gerecht werden muss. Die ausschließliche Anwendung einer einzelnen Methode könnte dies nicht leisten. Die alleinige Anwendung der völkerrechtlichen Methodengrundsätze würde den Besonderheiten des supranationalen Unionsrechts ebenfalls nicht gerecht werden, da deren prägende Maximen, die Souveränität der Staaten und die Gleichheit der Staaten, im Unionsrecht nur eingeschränkt Anwendung finden. Weiterhin ist die im Völkerrecht nur beschränkt anzuwendende dynamische Aus- 11 legung im gesamten Unionsrecht unverzichtbar. Ein Integrationsprozess, wie er für die Union vertraglich vorgesehen ist, kann ohne eine dynamische Entwicklung der entsprechenden Rechtsordnung nicht vorangetrieben werden. Insoweit bedarf es eigenständiger europäischer Methodengrundsätze,21 welche sich zwar an den nationalen und völkerrechtlichen orientieren können, allerdings an die Rechtsnatur des Unionsrechts angepasst werden müssen.
18 Der EuGH ist im Bereich der gemischten Abkommen lediglich für die Auslegung der durch die Europäische Union übernommenen Verpflichtungen zuständig und damit für die Auslegung der anwendbaren völkerrechtlichen Normen, EuGH v. 8.3.2011 – Rs. C-240/09 Lesoochranárske zoskupenie, EU: C:2011:125 Rn. 30, 31. 19 Classen/Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim (Hrsg.), Europarecht (8. Auflage 2018), § 4 Rn. 25. 20 Vgl. dazu: Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 91–129. 21 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 136 mwN. Pechstein/Drechsler
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12
§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
Als Ausgangspunkt für die Auslegung des Unionsrecht wird, wie in der völkerrechtlichen Methode und den nationalen Methoden, der Wortlaut einer auszulegenden Norm angesehen.22 Für das Unionsrecht ergeben sich hinsichtlich seiner Struktur und Natur unterschiedliche Gewichtungen in den anderen Auslegungsmethoden. So wird für das intergouvernementale Unionsrecht eine engere Bindung an das Völkerrecht angenommen. Daraus folgend finden auch die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden aus Art. 31 ff. WVK Anwendung. Anders als dies für das intergouvernementale Unionsrecht zu beurteilen ist, sieht der EuGH das supranationale Unionsrecht nicht als Völkerrecht, sondern als autonome „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“23 an, so dass auch die völkerrechtlichen Auslegungsregelungen nicht zwingend auf diesen Teil des Unionsrechts angewendet werden müssen bzw. können. Insbesondere Grundsätze wie die Respektierung der staatlichen Souveränität und damit die enge Auslegung staatlicher Verpflichtungen bei der Interpretation der entsprechenden Normen oder die Auslegung aufgrund einer späteren Übung bei der Anwendung des Vertrages (Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK) können für die Auslegung des supranationalen Unionsrechts nicht fruchtbar gemacht werden.24 Vielmehr werden angepasste mitgliedstaatliche Auslegungsmethoden angewandt25 und eigene methodische Anforderungen gestellt.26 Die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten sind ausschließlich an die Verträge gebunden, insoweit kann eine nachträgliche Übung der Mitgliedstaaten nicht zur Interpretation des Vertragstextes herangezogen werden.
IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht 13 In der Anwendung der unterschiedlichen Methodengrundsätze ist nicht nur zwischen
supranationalem und intergouvernementalem Unionsrecht zu unterscheiden, sondern im Bereich des supranationalen Unionsrechts auch zwischen Primärrecht und Sekundärrecht. Der Gerichtshof wendet insoweit keine einheitlichen Auslegungsmethoden an. Zum Sekundärrecht sollen hier indes nur kurze notwendige Parallelen gezogen werden.27 Dabei wendet der Gerichtshof bei der Auslegung des Primärrechts eher objektive und bei der Auslegung des Sekundärrechts verstärkt subjektive Auslegungsmethoden an.28 Eine primärrechtskonforme Auslegung des supranationalen
22 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 137. 23 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos, EU:C:1963:1 S. 25. 24 Schwarze-Schwarze/Wunderlich, Art. 19 EUV Rn. 36. 25 Schwarze-Schwarze/Wunderlich, Art. 19 EUV Rn. 38. 26 Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 20. 27 Eingehend Riesenhuber, in diesem Band, § 1 Rn. 10 ff. 28 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1178, Gärditz, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union (3. Aufl. 2014), § 34 Rn. 58.
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IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht
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Unionsrechts ist auch nur bei untergeordnetem Recht möglich.29 Da das supranationale und intergouvernementale Unionsrecht in keinem Rangverhältnis zueinander stehen, scheidet eine Auslegung des supranationalen Unionsrechts am Maßstab des intergouvernementalen Unionsrechts ebenso aus wie eine Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts am Maßstab des supranationalen Unionsrechts. Weiterhin findet eine historische Auslegung des Unionsrechts nur in sehr engen Grenzen statt, da die hierfür relevanten Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen weiterhin nicht zugänglich sind und nach mittlerweile über 50-jähriger Geltung der Verträge auch notwendigerweise gegenüber den aktuellen Integrationsfragen in den Hintergrund treten müssten. Demnach sind bei der Auslegung des supranationalen Unionsprimärrechts die historische Auslegung und die Auslegung anhand höherrangigen Rechts unerheblich. Anwendung finden in erster Linie die systematische und teleologische Auslegungsmethode.
1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen Für das Recht der Europäischen Union besteht gemäß Art. 19 EUV eine obligatorische 14 und weitgehend umfassende Zuständigkeit des EuGH.30 Der EU-Vertrag führt für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Art. 275 AEUV eine abschließende Regelung für die Zuständigkeit des Gerichtshofes auf. Danach wird dieser auch weiterhin keine Entscheidungen in diesem Bereich treffen, Art. 275 Abs. 1 AEUV. Eine Zuständigkeit bleibt jedoch in den Fällen des Art. 275 Abs. 2 AEUV für die Zuständigkeitsabgrenzung erhalten. Der EuGH ist gemäß Art. 251 EUV für das gesamte supranationale Unionsrecht zuständig,31 er proklamiert für sich selbst insoweit eine letztinstanzliche Auslegungsbefugnis. Zusätzlich erklärte der Gerichthof sich zuständig für die Auslegung Gemischter Abkommen, soweit die Teilbereiche betroffen sind, die in die Zuständigkeit der Europäischen Union fallen32 und die Auslegung von Sitzabkommen.33 Wie allerdings der Begriff der Auslegung zu verstehen ist, insbesondere wie weit die Auslegung gehen darf, ist von ihm bislang nicht entschieden worden. Der Gerichtshof stellte bis jetzt nur das Ziel der Auslegung dar.34 In der Rechtssache Den-
29 EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 Zoi Chatzi./.Ypourgos Oikonomikon, EU:C:2010:534 Rn. 43; dazu näher Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 20 ff. 30 Pache/Rösch, NVwZ 2008, 473, 478. 31 A. A. Gaitanides, in: v.d. Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht (7. Aufl. 2015), Art. 19 EUV Rn. 51, die das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung berücksichtigt wissen will. 32 EuGH v. 7.10.2004 – Rs. C-239/03 Kommission ./. Frankreich, EU:C:2004:598 Rn. 25, 29. 33 EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-62/11 Feyerbach, EU:C:2012:486 Rn. 33 f. 34 Vranes, EuR 2009, 44, 66.
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
kavit Italiana hat er ausgeführt: „[Durch die Auslegung] soll erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht werden …, in welchem Sinn und Tragweite die betroffene Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“.35 Die Wahrung des Rechts bei der Auslegung der Verträge soll der EuGH nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV nicht einseitig zugunsten der Union vornehmen, sondern auch zum Schutz der Mitgliedstaaten.36 15 Neben dem EuGH sind aber auch unterinstanzliche mitgliedstaatliche Gerichte und mitgliedstaatliche Verwaltungsbehörden berechtigt und verpflichtet, das primäre und sekundäre supranationale Unionsrecht verbindlich auszulegen. Dies folgt aus der fehlenden Pflicht dieser Gerichte und Behörden, Zweifelsfragen aus dem Unionsrecht dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.37 Sie sind verpflichtet, unmittelbar anwendbares Unionsrecht unter Berücksichtigung des Anwendungsvorrangs anzuwenden. Unbestimmte Rechtsbegriffe müssen also täglich durch fast alle mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte ausgelegt werden. Dem EuGH kommt nur eine Art „letztinstanzliche Auslegungskontrolle“ zu.
2. Einzelne Auslegungsmethoden 16 Im Folgenden werden die einzelnen Auslegungsmethoden vor- und deren Anwen-
dung durch den Gerichtshof der Europäischen Union dargestellt. Dabei wird in erster Linie auf die teleologische und die systematische Auslegungsmethode eingegangen, weil diese beiden Methoden die weitgehendsten Folgen für die Auslegung der supranationalen unionsrechtlichen Normen aufweisen.
a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung 17 Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der im einschlägigen Gesetzesblatt veröffentlichte
Wortlaut der Norm. Mit der grammatikalischen Auslegung wird der allgemeine Sprachgebrauch erforscht und hinterfragt.38 Aus diesem allgemeinen Sprachgebrauch wird der mögliche Wortsinn und der Bedeutungsgehalt einer Norm ermittelt. Dieser Wortsinn und Bedeutungsgehalt wird sodann in die juristische Fachsprache „übersetzt“. Im Unionsrecht besteht jedoch die Herausforderung, dass die Normen in mehreren Sprachen abgefasst sind und in allen Sprachfassungen verbindlich und daher rechtlich gleichrangig sind (Art. 55 EUV).39 Dies gilt auch unabhängig von der Größe
35 36 37 38 39
EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit Italiana, EU:C:1980:100 Rn. 16. So auch Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, S. 2. So auch Schroeder, JuS 2004, 180, 181. Zippelius, Methodenlehre, S. 43. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 18.
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IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht
der Bevölkerung eines Mitgliedstaates oder der Zahl der Unionsbürger, die eine verbindliche Sprache sprechen.40 In der Praxis führen die unterschiedlichen Sprachfassungen des Primärrechts zu 18 besonderen Schwierigkeiten. Jede dieser verbindlichen Sprachfassungen der Norm enthält Rechtsbegriffe aus den nationalen Rechtsordnungen. Diese weichen aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen der Rechtsbegriffe jedoch nicht unerheblich voneinander ab.41 Der Gerichtshof hat daher zwar entschieden, dass auch im Bereich des primären Unionsrechts der Wortlaut einer Norm für die Auslegung die maßgebliche Rolle spielt,42 geht aber auch davon aus, dass jeder einzelne Rechtsbegriff in einem unionsautonomen Sinne zu interpretieren ist und dieser unionsspezifische Sinn zu ermitteln ist.43 Dies bedeutet, dass ein verbindlicher Rückgriff auf vergleichbare mitgliedstaatliche Rechtsbegriffe nicht vorgenommen wird.44 Auch Verweisungen auf einzelne nationale Normen oder Begriffe werden vermieden, da eine einheitliche Geltung des Unionsrechts geboten ist.45 In diesen Fällen definiert der Gerichtshof den Inhalt der einzelnen Begriffe in „apodiktischer Form“46 und demnach in einer Form der Rechtsschöpfung. Die Anwendung bestimmter Auslegungsmethoden ist hier selten erkennbar.47 Im Ergebnis kann dies dazu führen, dass Rechtsbegriffe im Unionsrecht und im nationalen Recht deutlich unterschiedlichen Gehalt erlangen können.48 Eine solche unionsweit einheitliche Auslegung der Rechtsbegriffe ist jedoch geboten, da eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts ansonsten nicht gewährleistet werden kann. Jeder Mitgliedstaat könnte für sich selbst festlegen, wie ein Begriff auszulegen ist und so dem Vorrang des supranationalen Unionsrechts seine Bedeutung nehmen. Aufgrund dieses Erfordernisses der unionsautonomen Begriffsauslegung präzi- 19 sierte der Gerichtshof für die Wortlautauslegung seine Auslegungsmethode dahingehend, dass er zunächst verschiedene Sprachfassungen vergleicht49 und bei sich widersprechenden bzw. widerstreitenden Sprachfassungen, nicht einer Sprachfassung
40 EuG v. 21.5.2014 – Rs. T-61/13 Melt Water ./. OHIM, EU:T:2014:265 Rn. 20. 41 v. Danwitz, EuR 2008, 769, 780. 42 EuGH v. 22.10.2013 – verb. Rs. C-105/12 bis C-107/12 Essent Nederland BV u. a., EU:C:2013:677 Rn. 65. 43 EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 EGKO ./. Produktschap, EU:C:1984:11 Rn. 11; EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105 Rn. 29. Zur Frage einer unionsautonomen Auslegung des Sekundärrechts s. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 4–7. 44 EuGH v. 22.11.1977 – Rs. 43/77 Industrial Diamond Supplies ./. Riva, EU:C:1977:188 Rn. 15 ff.; EuGH v. 2.4.1998 – Rs. C-296/95 The Queen ./. Commissioners of Customs and Excise, EU:C:1998:152 Rn. 30. 45 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 53, 60. 46 Bleckmann, NJW 1982, 1177. 47 Bleckmann, NJW 1982, 1177. 48 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 19. 49 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, EU:C:1985:55 Rn. 11.
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
den Vorzug gibt. Der Gerichtshof wendet bei der Bedeutungserkundung kein „Mehrheitsprinzip“ an. Er geht zwar von den einzelnen nationalen Bedeutungen der Rechtsbegriffe aus, wendet aber nicht automatisch diejenige an, welche die meiste Verbreitung in den nationalen Rechtsordnungen gefunden hat.50 Als Ansatzpunkt mag die Bedeutung in den nationalen Rechtsordnungen ausreichen, für die endgültige Bestimmung des Inhalts der Norm werden dann aber die systematische und die teleologische Auslegungsmethode herangezogen.51 Dies bedeutet, dass der allgemeine Aufbau und der Zweck der Regelung zu berücksichtigen sind.52 20 Beispielhaft für eine unionsautonome Auslegung ist die Auslegung des Begriffs „öffentliche Verwaltung“ in Art. 45 Abs. 4 AEUV. Die „öffentliche Verwaltung“ unterliegt als Ausnahme von der Regel nicht den Grundsätzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ ist im deutschen öffentlichen Dienstrecht sehr weit zu verstehen, während er im Unionsrecht sehr eng ausgelegt wird. Unionsrechtlich gehören nur solche Arbeitnehmer der „öffentlichen Verwaltung“ im Sinne von Art. 45 Abs. 4 AEUV an, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“.53 Dies bedeutet, dass auch das deutsche Beamtenrecht für EU-Staatsangehörige geöffnet werden musste, da keineswegs alle Beamtenstellungen diesen Kriterien genügen. Demnach ist der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ im Unionsrecht wesentlich enger zu verstehen als im deutschen Recht. Es handelt sich um eine unionsautonome Auslegung eines auch national bekannten Rechtsbegriffs. Gleiches gilt in vielen anderen Fällen, etwa hinsichtlich des Begriffs der „öffentlichen Sicherheit“ in Art. 36 AEUV, Art. 45 Abs. 3 AEUV und Art. 52 AEUV und dem entsprechenden Begriff des deutschen Polizeirechts oder bezüglich des Begriffs der „juristischen Person“ in Art. 263 Abs. 4 AEUV. 21 Die Gleichrangigkeit aller Sprachfassungen wird bei der Rechtsfindung durchbrochen. Interpretiert der Gerichtshof unbestimmte Rechtsbegriffe nicht unionsautonom, sondern berücksichtigt die Sprachfassungen, so greift er nur auf einige wenige Sprachfassungen, wie die französische, englische und deutsche zurück.54 Dies ist ins-
50 EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 300/86 Van Landschoot ./. Mera, EU:C:1988:342 Rn. 18; EuGH v. 24.5.1988 – Rs. 122/87 Kommission ./. Italien, EU:C:1988:256 Rn. 10, 11. 51 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 18; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u. a., EU:C:1996:406 Rn. 28. 52 EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, EU:C:1998:536 Rn. 16. 53 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 Lawrie-Blum ./. Land Baden-Württemberg, EU:C:1986:284 Rn. 27. 54 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509.
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IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht
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besondere der alleinigen internen Arbeitssprache – französisch – des Gerichtshofes geschuldet.55
b) Systematische Auslegung Mit der systematischen Auslegung wird die Funktion einer Norm im gesamten Norm- 22 gefüge erforscht.56 Im Zusammenhang mit anderen Normen oder dem gesamten Gesetzestext wird die entsprechende Norm auf ihren Rechtsgedanken hin untersucht. Diese Auslegungsmethode geht davon aus, dass alle Rechtsnormen eines Vertragswerkes in einer Beziehung zueinander stehen. Ihnen kommt je eine eigene Bedeutung zu, die allerdings erst in einer umfassenden Betrachtung ihren endgültigen Gehalt bekommt.57 So sind bei der Auslegung einer Norm die Überschrift unter der sie zu finden ist, ihr Stand im gesamten Normgefüge und ihre eigene Funktion für das Vertragswerk zu berücksichtigen. Der Gerichtshof geht dabei von einer rationalen Gesetzesstruktur mit einem ihr in- 23 newohnenden Regel-Ausnahme-Verhältnis,58 einem allgemeinen und einem besonderen Teil im gesamten Vertrag59 und einer Systematik der Überschriftenbildung60 aus. Dabei sollen einzelne Vorschriften innerhalb eines Kapitels aufeinander Bezug nehmen, der jeweils erste Artikel eines Kapitels von grundlegender Bedeutung sein und die folgenden Artikel ausschließlich der Präzisierung des ersten Artikels dienen.61 Er nimmt für die Inhaltsbestimmung einer Norm demnach auch auf die dieser Norm vorangestellten Gesetzesabschnitte Bezug. So sind alle auf die Grundsätze – Erster Teil des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union – folgenden Normen im Hinblick auf diese Grundsätze hin auszulegen. Als Beispiel kann die Bestimmung des Inhalts der Dienstleistungsfreiheit heran- 24 gezogen werden. Sie wird durch den Gerichtshof in einer Negativabgrenzung zu den bereits aufgeführten Grundfreiheiten, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit definiert.62 Nur bei dieser Auslegung kommt der Dienstleistungsfreiheit eine eigenständige Funktion zu und deckt mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit den gesamten denkbaren Personenverkehr ab. Würde die Dienstleistungsfreiheit fehlen, könnte ein Teil des Personenverkehrs nicht unter die Rege-
55 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509. Anders hingegen Stotz, in diesem Band, § 20 Rn. 12. 56 Zippelius, Methodenlehre, S. 43. 57 v. Danwitz, EuR 2008, 769, 782. 58 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-351/89 Overseas Union Insurance u. a. ./. New Hampshire Insurance Company, EU:C:1991:279 Rn. 16; EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 Dansk Jurist, EU:C:2013:603 Rn. 41. 59 EuGH v. 23.2.1988 – Rs. 68/86 Vereinigtes Königreich ./. Rat, EU:C:1988:85 Rn. 13. 60 EuGH v. 22.9.1988 – Rs. 187/87 Saarland u. a. ./. Minister für Industrie, EU:C:1988:439 Rn. 11. 61 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 179. 62 EuGH v. 30.4.1974 – Rs. 155/73 Sacchi, EU:C:1974:40 Rn. 7/8.
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
lungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union subsumiert werden. Das Gefüge ist also nur mit dieser Norm vollständig und aus dieser Überlegung heraus erhält sie ihren Inhalt. Weiterhin lässt sich an diesem Bespiel auch das RegelAusnahme-Verhältnis darstellen. Der Gerichtshof geht mit der systematischen Auslegung auch davon aus, dass im Vertrag grundsätzlich erst die Regel dargestellt wird, hinsichtlich der Dienstleistungsverkehrs also ihr Anwendungsbereich, und dann die Ausnahme, also die Abgrenzung des Anwendungsbereiches hinsichtlich der öffentlichen Verwaltung in Art. 45 Abs. 4 AEUV. 25 Ähnlich ging der Gerichtshof in der Rechtssache AETR63 vor. Er verwies darin ausdrücklich auf die Systematik des früheren Gemeinschaftsrechts und kam zu dem Schluss, dass für die Bestimmung der Gemeinschaftszuständigkeit zum Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten auf „das allgemeine System des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Beziehungen zu dritten Staaten zurückgegriffen werden“ muss.64 Es fanden sich im EG-Vertrag zwar Regelungen zum Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten und Kompetenzregelungen, diese mussten aber in das gesamte Gefüge des Vertrages eingebunden werden. Jeder Norm soll eine eigene Bedeutung zukommen, demnach ist der Bedeutungsgehalt einer Norm auch ihrem Stand im Vertrag entsprechend zu interpretieren. 26 Die systematische Auslegung des Unionsrechts findet jedoch ihre Grenzen65 in den dem Vertrag zugrundeliegenden Leitlinien und Grundsätzen. So weicht der Gerichtshof teilweise zugunsten der Rechtsgrundsätze effet utile und implied powers von einer bestehenden Systematik ab. Trotzdem kommt der systematischen Auslegung große Bedeutung für die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu, da sie ausschließlich auf den Vertrag und seine Struktur eingeht, also auf unionsrechtliche Bedingungen ohne nationale Einflüsse.
c) Teleologische Auslegung 27 Der teleologischen Auslegungsmethode gemäß ist eine Norm nach dem mit ihr verfolgten Zweck zu interpretieren. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen dieser Auslegungsmethode und der systematischen Auslegung ist in den Urteilen des Gerichtshofs nicht immer möglich, da der EuGH die Ziele der Vertragsparteien und die systematische Verortung einer Norm nicht vollständig trennt.66 Die teleologische Auslegungsmethode ist ausschließlich auf die Verwirklichung der Vertragsziele der Union gerichtet.67 Sie wird vom Gerichtshof häufig angewendet, da andere Auslegungsmethoden aufgrund der unterschiedlichen Sprachfassungen und der unterschiedli-
63 64 65 66 67
EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, EU:C:1971:32 Rn. 12. EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, EU:C:1971:32 Rn. 12. EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., EU:C:1964:34 S. 1270. EuGH v. 21.5.2015 – Rs. C-322/14 El Majdoub, EU:C:2015:334 Rn. 35. Schwarze-Schwarze/Wunderlich, Art. 19 EUV Rn. 36.
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chen Bedeutung von Rechtsbegriffen z. T. nur beschränkt Aufschluss über die Normen und deren gewollten Inhalt geben können. Der Gerichtshof interpretiert die Normen des Unionsrechts in erster Linie im Hinblick auf die Vertragsziele der Union.68 Damit soll die Funktionsfähigkeit der Union gesichert werden.69 Ausdruck der Anwendung der teleologischen Auslegungsmethode in den Urteilen des Gerichtshofs ist die generell enge Auslegung von Ausnahmen im Unionsrecht und die Anwendung der in den Grundsatzbestimmungen von EUV und AEUV normierten allgemeinen Rechtsgrundsätze.70 Der Gerichtshof geht dabei auch davon aus, dass jede Norm so angelegt ist, dass sie ihr Ziel auch verwirklichen kann.71 Für eine teleologische Auslegung sind neben dem Ziel und Zweck der Norm die 28 Sachgemäßheit der Regelung und die Verwirklichung des objektiven Zwecks des Rechts maßgeblich. Um die Ziele des Vertrages zu bestimmen, zog der Gerichtshof in erster Linie die Positivliste der zu regelnden Politikbereiche des Art. 3 EG heran. Auf Art. 2 EG und dessen Aufgabenaufzählung griff der Gerichtshof dagegen nur sehr selten zurück. Dies ist wohl der sehr weiten und undeutlichen Formulierung dieses Artikels geschuldet, konkrete Ziele ließen sich nur schwer herauslesen.72 Das tragende Ziel der Gemeinschaft war die Herstellung und der Ausbau eines gemeinsamen Marktes, demnach lag hier auch der Tätigkeitsschwerpunkt der Gemeinschaft und ihrer Organe. Von diesem Ziel war die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof geprägt. Soweit Art. 2 und 3 EG für die Auslegung herangezogen wurden, wurde der unverfälschte Wettbewerb als wichtigstes Ziel angesehen. Mit den Änderungen aufgrund des Vertrages von Lissabon bleibt dem Gerichtshof diese Möglichkeit der differenzierten Betrachtung nicht mehr. Entsprechend der Idee des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union beinhalten die neu gefassten Art. 1–17 AEUV die Grundsätze und Zuständigkeiten der Europäischen Union. Es ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof in seinen Entscheidungen künftig insbesondere neben der Zielbestimmung des Art. 2 EUV auch den Zuständigkeitskatalog in Bezug nehmen wird. Kritisch werden in der Literatur in diesem Zusammenhang die sehr weit und umfassend gefassten Ziele im AEUV gesehen, die insoweit dem EuGH ein nahezu endloses Entscheidungsfeld einräumen.73 Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang auch Querschnittsziele. Diese 29 im AEUV aufgeführten Querschnittsziele sichern die Interessen der Mitgliedstaaten. Sie finden sich in erster Linie in Politikbereichen, welche Ausdruck staatlicher Souve-
68 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 20. 69 EuGH v. 3.09.2015 – Rs. C-383/14 Sodiaal International, EU:C:2015:541 Rn. 20. 70 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 56. 71 EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, EU:C:1956:11 S. 311. 72 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 204. 73 Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, S. 4 spricht von fehlenden Spielregeln mit denen „virtuos jongliert werden kann“. Pechstein/Drechsler
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
ränität sind,74 z. B. in der Kulturpolitik Art. 167 Abs. 4 AEUV, der Gesundheitspolitik Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV und dem Verbraucherschutz Art. 169 Abs. 2 AEUV. Der Gerichthof bewertet die Querschnittsziele als integrativen Bestandteil aller Politikbereiche des Vertrages. So kommt er dann auch zu dem zwingenden Ergebnis, dass Maßnahmen der Unionsorgane, wenn sie auf die Erreichung von Querschnittszielen und anderen Politikzielen gerichtet sind, nicht auf die Querschnittszielklausel als Rechtsgrundlage gestützt werden müssen. Dies soll jedenfalls dann gelten, wenn die Querschnittsziele im Verhältnis zu den anderen Zielen der Maßnahmen nicht vorrangig sind.75 30 Neben der Orientierung an den Zielen des Vertrages hat der Gerichtshof die auszulegende Norm auch einer Funktionsanalyse unterzogen. Dabei bestimmte der Gerichtshof die Funktion der auszulegenden Norm im Gesamtgefüge des Vertrages. Zu berücksichtigen sind eine sinnvolle, bestimmungsgemäße und widerspruchsfreie Anwendung der Norm.76 So kann für die Berechnung von Zwangsgeldern keine den jeweiligen Staat wirtschaftlich gefährdende, überhöhte Forderung gestellt werden. Dies würde dem Sinn und Zweck des Vertrages zuwiderlaufen, da eine gemeinsame wirtschaftliche Funktionsfähigkeit erhalten bleiben soll. Da der Gerichtshof davon ausgeht, dass jeder Norm eine eigene Bestimmung und Funktion zukommt, muss sie so ausgelegt werden, dass sie ihr Ziel auch verwirklichen kann. Insoweit wendet der Gerichtshof für die Bestimmung der Sachgemäßheit einer supranationalen Unionsrechtsnorm den Rechtsgrundsatz des effet utile an. Den einzelnen Normen ist im Hinblick auf die Vertragsziele zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen.77 So hat der Gerichtshof „im Interesse der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts“78 unter anderem den Begriff des „Gerichts“ in Art. 177 EWG (nunmehr: Art. 267 AEUV) dahingehend ausgelegt, dass auch ein Streitsachenausschuss einer Berufsorganisation als ein solches anzusehen ist. 31 Zusätzlich zu berücksichtigen sind auch Kollisionsregelungen. Mit diesen kann der Versuch unternommen werden, eine fehlende Trennschärfe in den Zuständigkeitsbereichen zwischen Union und Mitgliedstaaten aufzulösen. Das Sekundärrecht steht im Rang unter dem Primärrecht.79 Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge allein über die Entstehung von primärem Unionsrecht entscheiden. Die einzelnen Rechtsakte des Primärrechts stehen nicht in einem Rangverhältnis, es wird auch nicht zwischen wichtigem und unwichtigem Primär
74 Drechsler, Europäische Förderung audiovisueller Medien zwischen Welthandel und Anspruch auf kulturelle Vielfalt (2009), S. 132. 75 EuGH v. 11.1.2006 – Rs. C-94/03 Kommission ./. Rat, EU:C:2006:2 Rn. 34, 35. 76 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 207. 77 Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 19 EUV Rn. 15; Potacs, EuR 2009, S. 465 ff. 78 EuGH v. 6.10.1981 – Rs. 246/80 Broekmeulen ./. Huisarts Registratie Commissie, EU:C:1981:218 Rn. 16. 79 Nettesheim, EuR 2006, 737, 740.
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recht unterschieden.80 Allerdings ist der AEUV in vielerlei Hinsicht spezieller als der EUV, so dass der zwischen gleichrangigen Normen anwendbare lex specialis-Grundsatz insoweit auch gilt.81 Kollisionen bzw. Wertungswidersprüche sind darüber hinaus nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz aufzulösen. Für die teleologische Auslegungsmethode sind bei der Auslegung des Sekundär- 32 rechts teilweise andere Ansatzpunkte heranzuziehen als im Primärrecht. Anders als im primären Unionsrecht werden im Bereich des sekundären Unionsrechts die Begründungserwägungen des jeweiligen Rechtsaktes für die teleologische Auslegung berücksichtigt. Begründungserwägungen zählen nicht zur Entstehungsgeschichte der Norm und fallen demnach auch nicht in den Bereich der historischen Auslegungsmethode. Sie sind Bestandteil des Rechtsaktes und sollen Aufschluss über die mit dem Rechtsakt verfolgten Ziele geben.82
d) Historische Auslegung Die historischen Auslegungsmethoden gehen von der geschichtlichen Entwicklung ei- 33 ner Rechtsnorm aus, dabei werden frühere ähnliche Gesetze und die Änderung solcher Normen berücksichtigt.83 Sowohl die subjektiv-historische als auch die objektivhistorische Auslegungsmethode haben für die Auslegung des Unionsrechts nur eine geringe Bedeutung.84 Dies zeigt auch eine Untersuchung, welche die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden für die veröffentlichten Entscheidungen des Jahres 1999 ermittelte.85 Mit der subjektiv-historischen Auslegungsmethode soll der wahre Wille des historischen Gesetzgebers erforscht werden, während mit der objektivhistorischen Methode die Funktion der Norm im Zeitpunkt ihres Erlasses ergründet werden soll.86 Für eine historische Auslegung des Unionsrechts ist schon deshalb kaum Raum, da Verhandlungsprotokolle bzw. Entstehungsdokumente zu den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft und Europäischen Union nicht zugänglich sind.87 Teilweise wurde in den Klagebegründungen von Seiten der Mitgliedstaaten auf die amtlichen Begründungen und Erläuterungen der mitgliedstaatlichen Regierungen und Parlamente zu den Verträgen Bezug genommen. Diese Bezugnahme hat der Gerichtshof jedoch bisher ignoriert.88 Viele der Normen des Unionsrechts sind 80 Nettesheim, EuR 2006, 737, 740. 81 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht (12. Aufl. 2020), Rn. 377. 82 Anders Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 35, 38. 83 Zippelius, Methodenlehre, S. 44. 84 A. A. Leisner, EuR 2007, 689, 702. 85 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 118; Vedder/Heintschel von Heinegg-Pache, Europäisches Unionsrecht (2. Aufl. 2018), Art. 19 EUV Rn. 18 spricht von „historisch-genetischer Auslegung“. 86 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 143. 87 Lecheler, Einführung in das Europarecht (2. Aufl. 2003), S. 141 (sub § 5 IV 2b). 88 EuGH v. 16.12.1960 – Rs. 6/60 Humblet ./. Belgischen Staat, EU:C:1960:48 S. 1194; EuGH v. 18.2.1970 – Rs. 38/69 Kommission ./. Italien, EU:C:1970:11 Rn. 12, 13. Pechstein/Drechsler
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
auch geprägt von politischen Entscheidungen und Kompromissen bei den Vertragsverhandlungen. Eine historische Auslegung unterläge insoweit auch politischen Zwängen und der Suche nach politischen Kompromissen, überdies dürften sich die Interessen der Mitgliedstaaten seither vielfach geändert haben. So würde dem Ziel einer zukunftsorientierten europäischen Integration eine Orientierung an der Vergangenheit daher widersprechen und die Dynamik des Unionsrechts einschränken.89 34 Im Wesentlichen hat der EuGH bisher für eine Auslegung mit Blick auf die Entstehung der Verträge auf die Begründungserwägungen in den Präambeln der Verträge Bezug genommen. Sie geben die Grundanschauungen und Motive der Vertragsparteien bei Abschluss der Verträge wieder.90 Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon wendet der EuGH jedoch die historische Auslegungsmethode häufiger an.91 Dies liegt im Wesentlichen daran, dass mit dem „Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“ in Art. 42 der Grundrechtecharte und zunehmender Transparenz der Entscheidungsprozesse zu den neuen Unionsverträgen Begründungen und Vorarbeiten einsehbar sind und entsprechend ausgewertet werden können. Insoweit könnte die Bedeutung der historischen Auslegung im Europarecht in den kommenden Jahren steigen. 35 Bisher hat auch für die Auslegung von Sekundärrecht die historische Auslegung kaum Bedeutung.92 Sie wäre zwar faktisch möglich, da die Entwurfsprotokolle für Sekundärrechtsakte einsehbar sind.93 Der Gerichtshof berücksichtigt jedoch für seine Entscheidungen keine Dokumente, welche als Erklärungen im Rat zu Protokoll gegeben wurden, „wenn sie in den Rechtsvorschriften keinen Ausdruck gefunden haben.“94 Dies folgt aus dem Gedanken der Rechtssicherheit, da bis zum Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags die Protokollerklärungen zu Abstimmungen im Rat nicht veröffentlicht wurden. Seither sind diese Erklärungen zu veröffentlichen, insoweit könnte zukünftig die historische Auslegung an Bedeutung gewinnen. Gegenwärtig nimmt der Gerichtshof zwar Rückgriff auf die Begründungserwägungen zu den Rechtsakten, dies aber in erster Linie um den Sinn und Zweck der Vorschriften zu erforschen.95
89 Schwarze u. a.-Schwarze/Wunderlich, EU-Kommentar (4. Aufl. 2019), Art. 19 EUV Rn. 37. 90 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Terhechte, Präambel EUV Rn. 6. 91 EuGH v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 Pringle, EU:C:2012:756 Rn. 135–137; EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami, EU:C:2013:625 Rn. 59; EuGH v. 10.12.2018 – Rs. C-621/18 Wightman ua., EU:C:2018:999 Rn. 44. 92 Anders Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 32. 93 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-17/96 Badische Erfrischungs-Getränke ./. Land Baden-Württemberg, EU: C:1997:381 Rn. 16. 94 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, EU:C:1991:80 Rn. 18; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C283/94, C-291/94 und C-292/94 Denkavit Internationaal u. a., EU:C:1996:387 Rn. 29. 95 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 148.
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IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht
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e) Rechtsvergleichende Methode Die rechtsvergleichende Methode kann grundsätzlich nur als ergänzende Methode an- 36 gewandt werden.96 Ihr kommt demnach auch nur eine untergeordnete Rolle zu. Wie bereits dargestellt, interpretiert der Gerichtshof Rechtsbegriffe unionsautonom. Dies bedeutet im Ergebnis auch, dass die einzelnen verbindlichen Sprachfassungen miteinander verglichen werden. Aus diesem Vergleich filtert der Gerichtshof einzelne Übereinstimmungen heraus und stellt sie mit Sinn und Zweck der entsprechenden Vorschrift in Zusammenhang. Insoweit handelt es sich zwar methodisch nicht wirklich um eine Rechtsvergleichung, aber um eine Inhalts- und Sinnvergleichung, die zu einer Rechtsvergleichung führen kann. Rechtsvergleichung wird nur insoweit unternommen, als geltendes Recht in un- 37 terschiedlichen Staaten und im Völkerrecht verglichen wird. Dabei handelt es sich aber nicht um den Vergleich einzelner Rechtsbegriffe, sondern um den Vergleich verschiedener Rechtsordnungen und -systematiken. Demnach muss einer Rechtsvergleichung grundsätzlich die Ermittlung fremden Rechts vorausgehen. Die Ermittlung des nationalen mitgliedstaatlichen Rechts führte im Ergebnis zu einem Vergleich der nationalen Rechtssätze, aus denen der Gerichtshof allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts entwickelt.97 Die wohl wichtigsten Entscheidungen des EuGH, welche durch eine rechtsverglei- 38 chende Auslegung geprägt sind, sind die Entscheidungen zu einem „gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch“.98 In keiner Vertragsbestimmung ist ein solcher Staatshaftungsanspruch gegen die Mitgliedstaaten vorgesehen. Der EuGH weist insoweit jedoch auf den Grundsatz des effet utile hin sowie darauf, dass eine Handhabe Privater gegen einen die Unionsrechtsnormen verletzenden Mitgliedstaat bestehen muss, da die Rechtsordnung ansonsten gravierende Lücken aufweisen würde. Nur mit einem solchen Staatshaftungsanspruch kann das Unionsrecht umfassende Geltung und Wirksamkeit erlangen. Der Gerichtshof verweist für das Bestehen eines solchen Staatshaftungsanspruchs auf das grundsätzliche – nicht notwendig das legislative Unrecht erfassende – Bestehen von Staatshaftungsansprüchen in den einzelnen Mitgliedstaaten und das Bestehen solcher Ansprüche im Völkerrecht.99 Auch die EMRK geht in Art. 41 EMRK von der Verpflichtung zur Wiedergutmachung aus, wenn ein Staat gegen zwingende Normen der EMRK verstößt und dabei kausal einen Schaden verursacht. Der EuGH verbindet hier also einen rechtsvergleichenden Ansatz mit einer teleologischen Erwägung.
96 Eingehend zum Sekundärrecht Schwartze, in diesem Band, § 4 Rn. 22 ff. 97 Bleckmann, Europarecht, Rn. 78 ff. 98 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u. a., EU:C:1991:327; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, EU:C:1996:79. 99 EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, EU: C:1996:79 Rn. 29 ff.
Pechstein/Drechsler
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
Auch andere Rechtsgrundsätze, wie Treu und Glauben und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs hat der Gerichtshof aus dem Vergleich der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hergeleitet.
3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander 40 Hinsichtlich des Rangverhältnisses der einzelnen anwendbaren Auslegungsmetho-
den ergibt sich aus dem primären Unionsrecht keine Regelung. Daher ist davon auszugehen, dass auch kein Rangverhältnis zwischen den Auslegungsmethoden besteht.100 Auch den Urteilen des EuGH ist ein entsprechendes Rangverhältnis nicht zu entnehmen. Vielmehr stehen die klassischen Auslegungsmethoden gleichberechtigt nebeneinander und werden vom Gerichtshof miteinander kombiniert und verknüpft. Wie bereits erwähnt, finden die historische, die grammatikalische und die rechtsvergleichende Auslegung aufgrund der Besonderheiten des Unionsrechts jedoch nur sehr eingeschränkte Anwendung.101 Insbesondere die systematische und die teleologische Auslegungsmethode werden vom Gerichtshof in den meisten Fällen kombiniert, um die gefundenen Ergebnisse gegeneinander abzuwägen und ihre Plausibilität zu unterstützen. Eine trennscharfe Abgrenzung ist daher auch nicht immer möglich. 41 Bezüglich des fehlenden Rangverhältnisses bildet das Urteil in der Rechtssache Continental Can eine die Regel bestätigende Ausnahme. Darin räumt der Gerichtshof der teleologischen Auslegungsmethode zumindest vor der grammatikalischen Auslegung den Vorrang ein. Der Gerichtshof stellte in diesem Urteil die Vertragsziele des damaligen Art. 3 EWG über den Wortlaut des Art. 86 EWG.102
V. Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht 42 Für die Methoden zur Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts im Rah-
men der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ergeben sich ungleich größere Schwierigkeiten, will man diese der Rechtsprechung des Gerichtshofes entnehmen. In diesem Bereich besitzt der Gerichtshof auch nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nur eine sehr eingeschränkte Kompetenz für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten. Der EuGH kann nach Art. 275 Abs. 1 AEUV im Bereich der GASP überhaupt
100 Leisner, EuR 2007, 689, 706. 101 A. A. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 66. Die Autorin hat die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden durch den EuGH für die im Jahre 1999 ergangenen Entscheidungen statistisch ermittelt und kommt zu dem Ergebnis, dass die grammatikalische Auslegungsmethode von den klassischen Auslegungsmethoden am häufigsten angewandt wurde. 102 EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72 Europemballage Corporation and Continental Can Company ./. Kommission, EU:C:1973:22 Rn. 22. Pechstein/Drechsler
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V. Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht
nicht tätig werden; dies entspricht auch der früheren Rechtslage. Dementsprechend liegen auch kaum einschlägige Urteile vor, denen bezüglich der Interpretationsmethoden auch nichts zu entnehmen ist.103 Ein Rückgriff auf die Auslegungsmethoden des supranationalen Unionsrechts wäre dabei jedenfalls insoweit unzulässig, als damit auf die Besonderheiten des supranationalen Unionsrechts abgestellt wird (effet utile). Eine andere Interpretation würde den Vertragsbestimmungen des Unionsvertrages und dem Willen der Vertragsparteien widersprechen.104
1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge Anzuwenden sind im intergouvernementalen Unionsrecht in erster Linie die Aus- 43 legungsmethoden für völkerrechtliche Verträge. Niedergelegt sind diese Auslegungsmethoden in der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK). Die 1969 verabschiedete und 1980 in Kraft getretene WVK stellt ein Vertragswerk dar, welches teilweise bestehendes Völkergewohnheitsrecht kodifizierte und zumindest insoweit grundsätzlich auch für die Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts herangezogen werden kann. Maßgeblich für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge sind die Normen des Art. 31 und 32 WVK. Bei Art. 31 WVK handelt es sich um eine allgemeine Interpretationsregel, während Art. 32 WVK ergänzende Auslegungsmittel aufführt. Zuständig für die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages sind grundsätzlich 44 die Vertragsparteien selbst. Diese können die Zuständigkeit aber auch unabhängigen Spruchkörpern übertragen. Bezüglich der Bestimmungen über die GASP ist dies durch Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV, Art. 275 AEUV hinsichtlich des EuGH jedoch gerade nicht erfolgt. Aufgrund des bereits erwähnten, auch im intergouvernementalen Unionsrecht geltenden Konsensprinzips (s. o. Rn. 7), findet ansonsten die authentische Auslegung Anwendung (Art. 31 Abs. 3 lit. a) und b) WVK). Die Vertragsparteien können Übereinkünfte über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen treffen. Auch kann eine Interpretation durch eine spätere Übung der Vertragsparteien erfolgen. Geprägt ist die Auslegung völkerrechtlicher Verträge von der staatlichen Souverä- 45 nität. Sämtliche die Vertragsparteien einengenden Verpflichtungen sind im Zweifel restriktiv auszulegen.105 Weiterhin ist vorrangig auf den übereinstimmenden subjektiven Willen der Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen, in
103 Vgl. EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-469/03 Miraglia, EU:C:2005:578; EuGH v. 11.2.2003 – verb. Rs. C187/01 und C-385/01 Gözütok und Brügge, EU:C:2003:87; EuGH v. 7.4.1995 – Rs. C-167/94 Grau Gomis, EU:C:1995:113. 104 Dazu siehe ausführlich: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union (3. Aufl. 2000), Rn. 50 ff. 105 Graf Vitzthum, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht (8. Aufl. 2019), 1. Abschnitt Rn. 124; Aust, EuR 2017, 106, 117.
Pechstein/Drechsler
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
dessen Rahmen sich aber auch der Effektivitätsgrundsatz entfaltet.106 Wie das supranationale Unionsrecht ist jedoch auch das intergouvernementale Unionsrecht auf eine dynamische Entwicklung gerichtet (vgl. Art. 1 Abs. 2 EUV). Eine Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts, dominant orientiert am subjektiven Willen der Vertragsparteien zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses, ist vor diesem Hintergrund nicht vollumfänglich möglich, vielmehr müssen hier die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden dem Recht der Union und seinen Zielen angepasst werden, wobei der Effektivitätsgrundsatz eine stärkere Rolle erhält. Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten Jahren der EuGH diesen Grundsatz auch auf die Teilbereiche der ehemals 3. Säule erweitert, die bislang noch nicht in die EuGH-Rechtsprechung Eingang gefunden haben.
2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK 46 Aus Art. 31 WVK ergibt sich, dass grundsätzlich auch im Völkerrecht der Wortlaut ei-
ner Norm den Ausgangspunkt für jede methodische Vorgehensweise bietet. Dieser Wortlaut wird nach dem Ziel der Norm, dem Zusammenhang der Norm im gesamten Vertragswerk und ihrem Sinn (Gegenstand) und Zweck (object and purpose) interpretiert. Zum Gesamtwerk eines Vertrages gehören neben dem Vertragstext auch die Präambel, die Anlagen und jede sich auf den Vertragstext beziehende Übereinkunft.107
a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung 47 Hinsichtlich der Grundsätze einer Wortlautauslegung gilt im Völkerrecht nichts Anderes als im supranationalen Unionsrecht. Es ist der allgemeine Sprachgebrauch zu erforschen und die Begriffe dementsprechend zu interpretieren. Für diesen allgemeinen Sprachgebrauch ist allerdings nicht der Zeitpunkt der notwendigen Interpretation entscheidend, sondern der Zeitpunkt des Vertragsschlusses.108 Allein wenn der Wortlaut eindeutig und ihm eine unmissverständliche Bedeutung zu entnehmen ist, ist dieses Verständnis der Norm verbindlich.109 Im Bereich des intergouvernementalen Unionsrechts kann dieser völkerrechtliche Grundsatz des in claris non fit interpretatio aufgrund der besonderen Vielfalt der verbindlichen Sprachfassungen und der damit oftmals fehlenden Eindeutigkeit des Wortlauts allerdings kaum Berücksichtigung finden.110 Auch besteht im Völkerrecht gemäß Art. 33 Abs. 1 WVK kein Rangverhältnis
106 Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (7. Aufl. 2018), § 14 Rn. 16. 107 Graf Vitzthum, in Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht (8. Aufl. 2019), 1. Abschnitt Rn. 123. 108 Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (7. Aufl. 2018), § 14 Rn. 6. 109 Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsfunktionen – Verfassungsprozeßrecht im EWGVertrag, S. 58. 110 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 162. Pechstein/Drechsler
V. Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht
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zwischen den verschiedenen Sprachfassungen eines Vertrages, vielmehr sind alle Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich.
b) Systematische Auslegung Neben der grammatikalischen Auslegungsmethode wird auch zur Interpretation völ- 48 kerrechtlicher Verträge die systematische Auslegungsmethode angewandt, dies ist insbesondere bei mehrsprachigen Verträgen notwendig, um den Sinn und Zweck einer Norm zu erforschen. Die entsprechende Norm wird danach im Kontext der anderen Normen des Vertrages untersucht und in einen Zusammenhang gestellt. Aus diesem Zusammenhang wird der Sinn einer Norm deutlicher, in der Regel wird keine unabhängige, sich selbst genügende Norm in einen Vertrag aufgenommen, die Normen bauen vielmehr regelmäßig aufeinander auf. Insbesondere zur Vermeidung von Widersprüchen kann daher die systematische Auslegung hilfreich sein.
c) Teleologische Auslegung Neben der systematischen Auslegungsmethode, welche alle Normen eines Vertrages 49 in einem Gesamtgefüge interpretiert, geht auch die teleologische Auslegung im Völkerrecht von den Zielen des Vertrages aus. Eine Norm ist im Zusammenhang mit dem Gesamtziel des Vertrages auszulegen. Dabei ist zu unterstellen, dass jede Norm ihren eigenen Sinngehalt hat, der für die Zielerreichung des Vertrages notwendig ist. Da grundsätzlich vom Wortlaut des Vertrages auszugehen ist, sind auch Ziel und Zweck eines Vertrages aus diesem selbst zu entnehmen.111 Eine objektiv-teleologische Auslegung im Hinblick auf den Grundsatz des effet 50 utile ist im Völkerrecht dagegen nur eingeschränkt möglich, nämlich soweit, wie sie die (festzustellende) subjektive Teleologie der Vertragsparteien nicht überschreitet. Eine derartige dynamische Interpretation, die auch weitgehende, bei Vertragsschluss unbedachte Beschränkungen der Handlungsfreiheit der Vertragsstaaten bewirken kann, ist im Völkerrecht aufgrund der Staatensouveränität und deren gebotenem Schutz regelmäßig nicht möglich, auch wenn es insoweit Gegenbeispiele gibt.112
111 Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (7. Aufl. 2018), § 14 Rn. 12. 112 Zu denken ist etwa an die Auslegung des Begriffs der „Bedrohung des Friedes“ in Art. 39 SVN durch den Sicherheitsrat, vgl. Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (7. Aufl. 2018), § 60 Rn. 8. Pechstein/Drechsler
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK 51 Entsprechend Art. 32 WVK sind die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des
Vertragsabschlusses ergänzende Mittel, um die sich aus der Auslegung anhand verschiedener Methoden ergebenden Bedeutungen einer Norm zu bestätigen.
a) Historische Auslegung 52 Eine historische Auslegung findet demnach nur ergänzend statt. Bei multilateralen
Verträgen, denen Staaten erst später beigetreten sind, sind die Entstehungsmaterialien nur dann zu berücksichtigen, wenn diese den später beitretenden Staaten vorher zugänglich gemacht wurden und von ihnen angenommen wurden.113 Die Vorarbeiten zum Vertrag von Maastricht und den darauf folgenden Änderungsverträgen sind zwar teilweise veröffentlicht und den Beitrittskandidaten zugänglich gemacht worden, sie sind bis jetzt vom Gerichtshof aber nicht zur Entscheidungsfindung herangezogen worden.114 Dies könnte daran liegen, dass die Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen, also zum Abschluss der Verträge zu den Europäischen Gemeinschaften, nicht veröffentlicht wurden und daher auch nicht für eine Auslegung herangezogen werden können. Insoweit ist es möglich, dass der Gerichtshof auf eine historische Auslegung der Gründungsverträge generell verzichten möchte, zumal die historische Auslegungsmethode prinzipiell geeignet ist, den vom EuGH bislang gezeigten Willen zur Förderung der Integration durch eine teleologische Auslegung zu bremsen.
b) Rechtsvergleichende Auslegung 53 Die Erkenntnis allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH, soweit er nach
Art. 275 AEUV zuständig ist, kann auch im intergouvernementalen Unionsrecht nur im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung erfolgen.115 Bei der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze der Europäischen Union ist eine Orientierung an den völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen und völkerrechtlichen Methoden geboten. Hinsichtlich der zu vergleichenden Rechtsordnungen stellt sich die Frage, ob es sich ausschließlich um die Rechtsordnungen der Vertragsparteien handeln muss, oder ob auch andere repräsentative Rechtsordnungen für einen Vergleich herangezogen werden können. Für allgemeine universelle Rechtsgrundsätze mögen für den Rechtsvergleich auch repräsentative „dritte“ Rechtsordnungen herangezogen werden können, wobei der Feststellung der über die Vertragsstaaten hinausreichenden Geltung aber nur bestätigende Wirkung zukommen kann.
113 Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (7. Aufl. 2018), § 14 Rn. 18. 114 Leisner, EuR 2007, 689, 696. 115 Streinz-Huber, Art. 19 EUV Rn. 20. Pechstein/Drechsler
VI. Rechtsfortbildung
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Für die Entwicklung regionaler allgemeiner Rechtsgrundsätze sind jedoch aus- 54 schließlich die Rechtsordnungen der entsprechenden Region ausschlaggebend.116 Dies lässt sich für das Recht der Europäischen Union inzwischen auch dem EU-Vertrag selbst entnehmen, wenn Art. 6 Abs. 3 EUV für die geltenden und zu achtenden Grundrechte auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verweist und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV die Charta der Grundrechte für verbindlich erklärt. Ob die Rechtsgrundsätze allerdings allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannt sein müssen, oder ob es genügt, dass die Rechtsordnungen einem solchen Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen, ist strittig.117 Aufgrund des das Völkerrecht tragenden Grundsatzes der Gleichheit der Staaten wäre zu vermuten, dass ein Rückgriff auf die nationalen Rechtsordnungen nur möglich ist, wenn die Rechtsgrundsätze in allen nationalen Rechtsordnungen der Vertragsparteien gelten. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungsdichte in den einzelnen Rechtsordnungen kann aber wohl davon ausgegangen werden, dass es ausreicht, wenn über die Geltung in mehreren Rechtsordnungen hinaus die anderen Rechtsordnungen dem entsprechenden Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften den Inhalt und die Bedeutung der Normen des EUVertrages bestimmen können. Vielmehr trägt die Rechtsvergleichung nur dazu bei, den Sinngehalt entlehnter Rechtsbegriffe zu ergründen.118
4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander Ähnlich wie im supranationalen Unionsrecht besteht auch im intergouvernementalen 55 Unionsrecht kein Rangverhältnis zwischen den anzuwendenden Auslegungsmethoden. Weder der Rechtsprechung des Gerichtshofes noch der WVK kann eine Entscheidung für den Vorrang der einen oder der anderen Auslegungsmethode entnommen werden. Es gelten einzig die bereits erwähnten Besonderheiten im Völkerrecht, wonach in erster Linie der subjektive Wille der Vertragsparteien zu erkunden ist. Die Anwendung der Auslegungsmethoden richtet sich nach diesem Grundsatz.
VI. Rechtsfortbildung Führen die klassischen Auslegungsmethoden zu absurden119 oder willkürlichen120 56 Auslegungsergebnissen, so lehnt der Gerichtshof diese ab. Um zu einem vertretbaren
116 117 118 119 120
Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 107. Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 107. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 60. EuGH v. 13.2.1980 – Rs. 77/79 Damas ./. FORMA, EU:C:1980:42 Rn. 10. EuGH v. 14.7.1977 – Rs. 1/77 Bosch GmbH ./. Hauptzollamt Hildesheim, EU:C:1977:130 Rn. 4. Pechstein/Drechsler
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
Ergebnis zu kommen, unternimmt er in solchen Fällen oft eine Rechtsfortbildung.121 Eine solche richterliche Rechtsfortbildung stellt einerseits grundsätzlich ein aliud zur Auslegung dar, da es sich dabei um eine Fortbildung des geltenden Rechts handelt und gerade nicht um eine Auslegungsmethode, denn die Grenzen der Auslegung sind in diesen Fällen überschritten.122 Andererseits fällt im primären supranationalen Unionsrecht mit einer sehr „ausdehnenden, teleologischen und am effet utile orientierten Auslegung“123 von oftmals tatbestandlich wenig konturierten Normen eine Abgrenzung zwischen teleologischer Auslegung und Rechtsfortbildung schwer. Auch die rechtsvergleichende Auslegung, welche insbesondere aufgrund der verschiedenen Sprachfassungen und der unterschiedlichen Rechtssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten im Unionsrecht Anwendung findet, geht teilweise in eine richterliche Rechtsfortbildung über. Voraussetzung für eine Rechtsfortbildung ist – wie bei der Analogie – eine planwidrige Regelungslücke,124 besteht diese, muss die Rechtsfortbildung zusätzlich durch besondere Funktionserfordernisse gerechtfertigt sein.125 57 Für die Gründungsverträge, aber auch für die Ergänzungsverträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon ist anerkannt, dass sie so rudimentär und ausfüllungsbedürftig angelegt waren, dass ein Bedürfnis zur Rechtsfortbildung und dynamischen Entwicklung von Anfang an bestand.126 Diese Ansicht jedoch findet ihre Grenzen in der Berechtigung der anderen EU-Organe zur Rechtssetzung. Die Kompetenzen des EuGH beschränken sich auf eine nachträgliche Kontrolle und Auslegung des bestehenden Rechts, neues Recht setzen darf er nicht. Er muss das geschriebene Recht achten und aus diesem im Bemühen um eine kohärente Rechtsordnung Recht sprechen.127 Eine über diese Berechtigung hinausgehende Setzung von Recht widerspricht dem Prinzip der Gewaltenteilung.128 Das Recht auf eine richterliche Rechtsfortbildung entnahm der Gerichtshof der Formulierung des Art. 220 Abs. 1 EG (jetzt Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV), wonach er selbst „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages“ sichern soll.129 Er ist in der Rechtsprechung autonom und kann zur Schließung von Lücken neues Recht schaffen.130 Insoweit ist er nicht nur auf die Anwendung des Vertrages festgelegt, sondern auch auf
121 Eingehend Neuner, in diesem Band, § 12. 122 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 50. 123 Everling, JZ 2000, 217, 218. 124 Zur Lückenfeststellung Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 28–30. 125 Lochmann, EuR 2019, 61, 75; Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 126 Everling, JZ 2000, 217, 220. 127 Die Rechtsfortbildung des EuGH wurde vom BVerfG in der Entscheidung vom 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, sub C. als möglicher „ultra-vires Akt“ kritisiert. 128 Politis, EuZW 2014, 8, 9. 129 Everling, JZ 2000, 217, 221. 130 Völter, Der Lückenschluss im Statut der europäischen Privatgesellschaft (2000), S. 177; so auch Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 30, der aber ausdrücklich darauf hinweist, dass der EuGH sich dabei nicht selbst binden muss. Pechstein/Drechsler
VI. Rechtsfortbildung
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das Recht selbst, wobei jegliche Erkenntnisquelle berücksichtigt werden kann und soll. Diese Interpretation unterstützt auch das Bundesverfassungsgericht. In seinem Maastricht-Urteil und dem Urteil zum Vertrag von Lissabon zieht es für eine mögliche Rechtsfortbildung des Gerichtshofes Grenzen, welche auch den nationalen Verfassungsgerichten gesetzt werden.131 Danach müssen die Ermächtigungen hinreichend bestimmbar und das rechtsverbindliche Tätigwerden der Union vorhersehbar sein.132 Die wohl wichtigsten Entscheidungen, welche von einer Fortbildung des Unions- 58 rechts getragen werden, hat der Gerichtshof in den Bereichen Grundfreiheiten, Grundrechte und dem „gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruch“ der Bürger bei Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten getroffen. Diese Entscheidungen sind wegweisend für eine dynamische Entwicklung des Gemeinschaftsrechts gewesen und stellen heute anerkannte Grundpfeiler des Unionsrechts dar. Im Bereich der Grundfreiheiten hat der Gerichtshof sehr früh anerkannt, dass die 59 Normen über ihren eigentlichen Wortlaut hinaus interpretiert werden müssen, um den steigenden Anforderungen an den Binnenmarkt gerecht werden zu können.133 Der Gerichtshof verstand und interpretierte die Grundfreiheiten zunächst weitgehend als Diskriminierungsverbote im Sinne des auch im völkerrechtlichen Fremdenrecht bekannten Inländergleichbehandlungsgrundsatzes. Mit zunehmendem Handel und zunehmenden staatlichen Abgrenzungstendenzen sowie protektionistischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten musste der Gerichtshof seine Interpretation verstärkt an den Zielen des Vertrags ausrichten. Dabei wendet er zwar auch die teleologische und systematische Auslegungsmethode an, gegen den z. T. eindeutigen Wortlaut konnten sie aber keine neuen Erkenntnisse bringen. Insoweit war der Gerichtshof im Sinne des Vertrages und seiner Ziele zu einer Rechtsfortbildung angehalten. Die Grundfreiheiten wurden daher verstärkt auch als Beschränkungsverbote interpretiert.134 Allein diese Interpretation wird auch den heutigen Anforderungen an einen gemeinsamen Binnenmarkt gerecht. Auch hat keiner der Mitgliedstaaten gegen diese Interpretation eine Vertragsänderung in den auf die Urteile folgenden Vertragsrevisionen gefordert. Vielmehr haben umfangreiche Rechtsfortbildungen des Gerichtshofes Eingang in den Vertrag von Lissabon gefunden. Ein Widerspruch dieser Interpretation zu dem Willen der Vertragsparteien lässt sich daher nicht feststellen. Gerade vor diesem Hintergrund sprechen die Argumente der Vertreter der integrationsdynamischen Auslegungsmethode135, eher für eine Rechtsfortbildung des Gerichthofes denn für eine eigene Auslegungsmethode. Der Gerichtshof darf auch mit Blick auf die Integration der Europäischen Union nicht die ihm übertragenen Kompetenzen überschreiten. Den Integra-
131 BVerfGE 89, 155, 209; BVerfGE 123, 267, Rn. 238. 132 BVerfGE 89, 155, 187; BVerfGE 123, 267, Rn. 239; BVerfGE v. 5.5.2020, Rn. 113. 133 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, EU:C:1974:82 Rn. 5. 134 EuGH v. 14.2.1995 – Rs. C-279/93 Schumacker, EU:C:1995:31 Rn. 26; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87 The Queen ./. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, EU:C:1988:456 Rn. 17 – Daily Mail. 135 Reyes y Rafales, EuR 2018, 498, 498 spricht von einer integrationsdynamischen Auslegung. Pechstein/Drechsler
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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
tionswillen der Unionsbürger haben die Staats- und Regierungschefs bei der Weiterentwicklung der Verträge zu berücksichtigen, erst danach kann der Gerichtshof diesen in seinem bestehenden Umfang in die Rechtsprechung einbeziehen.136 60 Eine ähnliche Entwicklung lässt sich beim Grundrechtsschutz beobachten. Enumerativ aufgezählte Grundrechte enthielten die Gemeinschaftsverträge und der Unionsvertrag nicht. Gleichwohl hat der EuGH eine Vielzahl von Grundrechten auf der Grundlage allgemeiner Rechtsgrundsätze, orientiert an der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, anerkannt und deren Inhalt selbständig entwickelt.137 Dies haben die Vertragsparteien später anerkannt und mit Art. 6 Abs. 2 EU (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) in die Verträge aufgenommen. Diese Grundrechte sind inzwischen in der verbindlichen Grundrechtscharta als „neue Primärrechtskategorie“ festgeschrieben worden.138 Insofern hat die richterliche Rechtsfortbildung der Kodifizierung vorgearbeitet und diese geprägt. Für die Auslegung der Grundrechte-Charta erklärte sich der EuGH konsequenterweise in den Fällen für unzuständig, in denen der streitige Gegenstand keinen Umsetzungsakt des EU-Rechts darstellte.139 61 Anders als bei den Grundfreiheiten und den Grundrechten, welche in den Verträgen zumindest aufgeführt werden und vom Gerichtshof nur ausgefüllt wurden, hat er im Staatshaftungsrecht Rechtsfortbildung ohne eine textuelle Grundlage im Vertrag betrieben.140 Für Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das Unionsrecht, soweit diese Verstöße Rechte von Bürgern betreffen, enthalten die Unionsverträge keinen Schadensersatzanspruch. Aus dem Sinn und Zweck des Vertrages, dem anerkannten Vorrang des Unionsrechts und dem Grundsatz des effet utile, hat der EuGH gefolgert, dass auch ein „gemeinschaftsrechtlicher Schadensersatzanspruch“ besteht.141 Dieser wurde im Laufe der Zeit nicht nur für legislatives Unrecht anerkannt, sondern gilt inzwischen selbst für judikatives Unrecht.142 Eingang in die Verträge hat er jedoch nicht gefunden.
136 Anders: Reyes y Rafales, EuR 2018, 498, 501 der den jeweils aktuellen Integrationszustand der EU vom EuGH berücksichtigt wissen möchte. 137 EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder ./. Stadt Ulm, EU:C:1969:57 Rn. 3, 4; EuGH v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 und 227/88 Hoechst AG ./. Kommission, EU:C:1989:337 Rn. 13; EuGH v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 Tanja Kreil, EU:C:2000:2 Rn. 23; EuGH v. 8.04.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 Digital Rights Ireland und Seitlinger ua., EU:C:2014:238 Rn. 47, 48. 138 Pechstein/Nowak/Häde-Pache, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, Art. 6 EUV, Rn. 26. 139 EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-106/13 Fierro u. a. ./. Ronchi u. a., EU:C:2013:357 Rn. 13 f. 140 Insoweit kann mit Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, S. 3 eine Rechtssetzung des EuGH angenommen werden. 141 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u. a., EU:C:1991:428 Rn. 31–36; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, EU:C:1996:79 Rn. 28 f. 142 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler ./. Republik Österreich, EU:C:2003:513 Rn. 51–55.
Pechstein/Drechsler
§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung Literatur: Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997); Marietta Auer, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Jörg Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007), S. 27–54; Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1998); Ulrich Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts – Ein Beitrag zu ihren Grundlagen und zu ihrer Bedeutung für die Verwirklichung eines „europäischen Privatrechts“, RabelsZ 59 (1995), 598–644; Olivier Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts – Erscheinungsformen und dogmatische Grundlagen eines Rechtsprinzips des Unionsrechts (2009); Carsten Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen – Methoden, Kompetenzen, Grenzen dargestellt am Beispiel des Privatrechts (2006); Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung – Zur Auflösung einfachgesetzlicher, verfassungsrechtlicher und europarechtlicher Widersprüche im Recht (2008); Kai Krieger, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des deutschen Rechts (2005); Alexander S. Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung (1995); Martin Nettesheim, Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, AöR 119 (1994), 261–293; Friedrich Rüffler, Aspekte primärrechtskonformer und sekundärrechtskonformer Auslegung nationalen Lauterkeitsrechts, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 97–112; Manfred Zuleeg, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung mitgliedstaatlichen Rechts, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 163–177. Rechtsprechung: EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, EU:C:1983:369; EuGH v. 25.11.1986 – verb. Rs. 201/85 und 202/85 Klensch, EU:C:1986:439; EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, EU:C:1988:62; EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, EU:C:1994:24; EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C264/96 ICI, EU:C:1998:370; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, EU:C:2000:492; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, EU:C:2004:161; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, EU: C:2006:168.
Systematische Übersicht I.
II.
Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung 3–6 Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts 7–37 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 8–19 a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht 8 b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheiten- und grund-
2.
rechtskonforme Auslegung 9–19 aa) Bindung der Unionsorgane an die Grundfreiheiten 10 bb) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung 11 cc) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung 12–19 Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 20–26 Leible/Domröse
https://doi.org/10.1515/9783110614305-008
210
§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Unionsrechts 21 b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Unionsrechts und die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers 22–26 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre 27–28 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 29–30 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 31–37 a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts 32–35 b) Das Verbot des contra-legemJudizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts 36–37 III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts 38–61 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts 39–43 a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht 39 b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunktes im Unionsrecht: das Verhältnis von richtlinien- und unionsgrundrechtskonformer Auslegung 40–41
c)
a)
2.
3.
4.
5.
Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts 42–43 Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts 44–51 a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben 45–46 b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? 47 c) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität 48–51 Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre 52–53 Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts 54–56 a) Nationales Recht des forum 54 b) Nationales Recht anderer EU-Mitgliedstaaten 55–56 Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts 57–61 a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts 57–58 b) Das Verbot des contra-legemJudizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? 59–61
1 Eine häufig praktizierte Auslegungsmethode ist die primärrechtskonforme Aus-
legung. Dem deutschen Juristen ist sie strukturell nicht unbekannt, da sie an die verfassungskonforme Auslegung erinnert und wie diese eine Erscheinungsform einer allgemeinen hermeneutischen Regel ist, nach der rangniedere Normen im Einklang mit Leible/Domröse
I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung
211
ranghöheren Normen auszulegen sind.1 Da der EuGH den EG-Vertrag (jetzt den EUund AEU-Vertrag) als Verfassungsurkunde der Gemeinschaft qualifiziert,2 kann man in der Tat anstatt von primärrechtskonformer auch von (europa-)verfassungskonformer Auslegung sprechen.3 Der EuGH verwendet inzwischen den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung.4 Bisweilen wird sogar angenommen, die Prinzipien der verfassungskonformen 2 Auslegung ließen sich auf das Europarecht übertragen.5 Das geht freilich zu weit, da für beide Auslegungsmethoden teilweise unterschiedliche Regeln gelten. Der primärrechtskonformen Auslegung sind beispielsweise andere Grenzen gesetzt als der verfassungskonformen Auslegung (vgl. Rn. 57 ff.). Einige Gemeinsamkeiten lassen sich allerdings nicht leugnen.
I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung Gemeinsam ist beiden Auslegungsmethoden vor allem ihre Funktion. Ebenso wie der 3 verfassungskonformen Auslegung6 kommt der primärrechtskonformen Auslegung die Aufgabe zu, einen Normenkonflikt zwischen höherrangigem und niederrangigem Recht dergestalt aufzulösen, dass das niederrangige Recht nicht zu verwerfen ist. Grundsätzlich sind Widersprüche zwischen unionsrechtlichen Normen unterschiedlichen Rangs durch Nichtig- bzw. Ungültigerklärung der niederrangigen Norm zu beseitigen, für die der Gerichtshof zuständig ist (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV, Art. 263, 264 Abs. 1 AEUV bzw. Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV). Der Sache nach nichts anderes gilt für Widersprüche zwischen Normen des Unionsrechts und des mitgliedstaatlichen Rechts. Die mitgliedstaatliche Norm, die gegen Unionsrecht verstößt, ist zwar nicht nichtig, doch die innerstaatlichen Gerichte dürfen diese Norm nicht mehr anwenden (vgl. Rn. 59 f.). Die primärrechtskonforme Auslegung erhält indessen die Geltung der Norm, die an und für sich im Widerspruch zum primären Uni
1 Vgl. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung (1986), S. 20; s.a. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 233, 456; Wank, Die Auslegung von Gesetzen (6. Aufl. 2015), S. 59 ff.; VwGH, ZfVB 1993/1555; VwGH, VwSlg 15065 A/1999; krit. Auer, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, S. 28 f. 2 Vgl. z. B. EuGH v. 23.4.1986 – Rs. 294/83 Les Verts, EU:C:1986:166 Rn. 23; ebenso schon BVerfGE 22, 293, 296. 3 So z. B. BAGE 71, 56, 65; GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 18.3.2004 – Rs. C-36/02 OMEGA, EU: C:2004:162 Tz. 57; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994), S. 75. 4 EuGH v. 28.2.2018 – Rs C-518/16 ZPT, EU:C:2018:126 Rn. 29. 5 So Engisch, Einführung in das juristische Denken (11. Aufl. 2010), S. 51 f. Fn. 51; wohl auch Rüffler, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 98. 6 Vgl. dazu z. B. Canaris, FS Kramer (2004), S. 148 ff.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
onsrecht steht. Die Norm wird so interpretiert, dass sie mit den Geboten des primären Unionsrechts vereinbar und deshalb nicht „zu verwerfen“ ist. Die primärrechtskonforme Auslegung dient also der Normerhaltung. Diese Funktion unterscheidet die primärrechtskonforme Auslegung von den übrigen Auslegungskanones, die nur der Ermittlung des Norminhalts dienen und nicht auch als „Auslegungsstrategien“ zur Geltungserhaltung von Normen fungieren.7 4 Ausgehend von ihrer Funktion ist der Begriff der primärrechtskonformen Auslegung zu bestimmen. Von primärrechtskonformer Auslegung sollte man immer nur dann sprechen, wenn eine primärrechtswidrige Auslegung möglich ist und es um die Entscheidung zwischen dieser und einer primärrechtskonformen Auslegungsvariante geht.8 Dieses Begriffsverständnis schließt nicht aus, dass man sich schon im Auslegungsprozess – im Rahmen der systematischen und teleologischen Interpretation – an den primärrechtlichen Geboten orientiert und primärrechtswidrige Auslegungsvarianten ausschließt, und nicht erst das Auslegungsergebnis am Maßstab des Primärrechts misst.9 Verzichten sollte man auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung hingegen, wenn die auszulegende Norm nicht in den Anwendungsbereich des Primärrechts fällt (näher dazu Rn. 42 ff.). Ebenso sollte man nicht von primärrechtskonformer Auslegung sprechen, wenn der europäische Gesetzgeber Begriffe im sekundären Unionsrecht oder der mitgliedstaatliche Gesetzgeber Begriffe im nationalen Recht so verstanden wissen will, wie sie im primären Unionsrecht ausgelegt werden, ohne dass das Primärrecht eine entsprechende Interpretation verlangt.
Die Richtlinie 2004/113/EG10 gilt für alle Personen, die Güter und Dienstleistungen bereitstellen. Ausweislich der Begründungserwägungen ist der Begriff der Güter (Art. 1, 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/113/EG) im Sinne der den freien Warenverkehr betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrages (jetzt AEU-Vertrages) und der Begriff der Dienstleistungen i. S. v. Art. 50 EG (jetzt Art. 57 AEUV) zu verstehen (BE 11). Nach dem Willen des Richtliniengebers sind diese Begriffe ebenso auszulegen wie die primärrechtlichen Begriffe. Es handelt sich allerdings nicht um primärrechtskonforme Auslegung, da es nicht darum geht, eine primärrechtswidrige Auslegungsvariante auszuscheiden. Der Sache nach geht es um eine vom Gesetzgeber gewollte Begriffsverweisung und damit um eine historische Auslegung. Dementsprechend ist der im Sekundärrecht verwendete Begriff nicht zwingend so auszulegen, wie er im primären Unionsrecht zu verstehen ist, denn teleologische Erwägungen können die Abweichung vom Willen des Unionsgesetzgebers gebieten.
5 Um primärrechtskonforme Auslegung geht es auch dann nicht, wenn im sekundären
und primären Unionsrecht identische Begriffe gebraucht werden und man sich bei der
7 Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen (1997), S. 153 f. 8 Zutreffend Canaris, FS Kramer (2004), S. 154 (für die verfassungskonforme Auslegung). 9 Zustimmend GA Trstenjak, Schlussanträge v. 24.11.2010 – Rs. C-316/09 MSD Sharp & Dohme GmbH, EU:C:2010:712 Tz. 66. 10 Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 33/37.
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I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung
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Bestimmung eines im Sekundärrecht verwendeten Begriffs an der Auslegung desselben Begriffs im Primärrecht orientiert. Die Orientierung an einem im Primärrecht verwendeten Begriff für die Bestimmung eines Begriffs des Sekundärrechts ist Ausdruck des Systemdenkens; sie ist nicht mehr als eine einfach-systematische Auslegung. In der Tat besteht grundsätzlich eine Vermutung dafür, dass Begriffe im Sekundärrecht dieselbe Bedeutung haben wie gleichlautende Begriffe im Primärrecht.11 Entsprechend dem Grundsatz der Relativität der Rechtsbegriffe12 können identische Begriffe im Primär- und Sekundärrecht aber auch eine unterschiedliche Bedeutung haben. Vor allem teleologische Erwägungen können eine unterschiedliche Interpretation identischer Begriffe gebieten. So hat es der EuGH beispielsweise abgelehnt, den Begriff der Dienstleistung i. S. v. Art. 5 Nr. 1 lit. b) EuGVVO a. F.13 so auszulegen, wie er in jetzt Art. 57 AEUV definiert ist.14 Und im Hinblick auf den Arbeitnehmerbegriff im Unionsrecht betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass seine Bedeutung nicht einheitlich ist, sondern vom jeweiligen Anwendungsbereich abhängt. Dementsprechend stimmt der Arbeitnehmerbegriff im Primärrecht nicht notwendigerweise mit dem Arbeitnehmerbegriff im Sekundärrecht überein.15
Die primärrechtskonforme Auslegung nimmt Maß am Primärrecht der Europäischen 6 Union.16 Das Unionsprimärrecht umfasst die in den Verträgen (EUV, AEUV) sowie in den Protokollen und Anhängen (Art. 51 EUV) enthaltenen Regelungen sowie die vom Gerichtshof gewonnenen allgemeinen Rechtsgrundsätze, soweit sie den Rang von Primärrecht einnehmen. Darüber hinaus umfasst der Begriff des Primärrechts auch das im EAG-Vertrag enthaltene und sonstige primäre Gemeinschaftsrecht der Europäischen Atomgemeinschaft. Dementsprechend müssen die mitgliedstaatlichen Gerichte das nationale Recht auch in Übereinstimmung mit den Vorgaben des EAG-Vertrages auslegen.17 Nach dem Bezugspunkt im primären Unionsrecht (Rn. 8, 39) können als
11 In diesem Sinne EuGH v. 4.4.1968 – Rs. 25/67 Milch-, Fett- und Eierkontor, EU:C:1968:21; v. d. Groeben/Schwarze/Hatje-Schmidt, Art. 288 AEUV Rn. 26. 12 Vgl. dazu nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 ff.; Wank, Die juristische Begriffsbildung (1985), S. 110 ff. 13 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/1; jetzt Art. 7 Nr. 1 lit. b) der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2012 L 351/1. 14 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-533/07 Falco Privatstiftung, EU:C:2009:257 Rn. 33–37. 15 Vgl. zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-208/07 v. Chamier-Glisczinski, EU:C:2009:455 Rn. 68. 16 Noch weitergehend Auer, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, S. 29 f., die mit dem Begriff der primärrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung jede Interpretation und Fortbildung niederrangigen am Maßstab des jeweils höherrangigen Rechts verstanden wissen will. 17 EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 EZ, EU:C:2009:660 Rn. 138, 140.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung insbesondere die grundfreiheiten-, die (unions-)grundrechts- und die rechtsgrundsatzkonforme Auslegung unterschieden werden. Nach der Provenienz der auszulegenden Norm kann man zwischen der primärrechtskonformen Auslegung von abgeleitetem Unionsrecht und der primärrechtskonformen Auslegung von nationalem Recht differenzieren.18 Diese Unterscheidung ist vor allem im Hinblick auf den Geltungsgrund und die Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung bedeutsam. Sie wird deshalb im Folgenden zugrunde gelegt. Eine andere Frage ist die, ob das Primärrecht seinerseits Gegenstand einer Konformauslegung sein kann, und zwar insbesondere einer sekundärrechts- und national-verfassungskonformen Interpretation.19
II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts 7 Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts ist eine Aus-
legungsregel, die ganz allgemein besagt, dass die Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts – z. B. einer Richtlinie –, die mit den Vorgaben des höherrangigen Primärrechts in Einklang steht, der Auslegung vorzuziehen ist, bei der die Vorschrift als mit dem Primärrecht unvereinbar eingestuft werden müsste.20 Diese Auslegungsregel hat der Gerichtshof zuletzt aus dem Grundsatz der Einheit der Unionsrechtsordnung abgeleitet (näher dazu Rn. 20 ff.).21 Zuvor hatte er diese Regel – anders als für das nationale Recht (Rn. 38) – nicht ausdrücklich anerkannt, ist aber in der Sache danach verfahren.22 Inzwischen stützt sich der EuGH auf eine ständige Rechtsprechung, ohne das Auslegungsgebot noch zu begründen.23
18 Zur primärrechtskonformen Auslegung von Übereinkünften i. S. v. Art. 351 AEUV vgl. EuGH v. 18.11.2003 – Rs. C-216/01 Budějovický Budvar, EU:C:2003:618 Rn. 168–170. Nicht überzeugend gegen den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 218 und ders./Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 23. 19 Vgl. dazu 2. Auflage, § 9 Rn. 60 ff. 20 Vgl. z. B. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, EU:C:1983:369 Rn. 13 ff.; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1986:463 Rn. 62; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C314/89 Rauh, EU:C:1991:143 Rn. 17. 21 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, EU:C:2006:168 Rn. 32. 22 Vgl. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, EU:C:1983:369 Rn. 15; EuGH v. 25.11.1986 – verb. Rs. 201/85 und 202/85 Klensch, EU:C:1986:439 Rn. 21; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1986:463 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, EU: C:1986:464 Rn. 15; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, EU:C:1991:143 Rn. 17; EuGH v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 und C-91/90 Neu, EU:C:1991:303 Rn. 12; EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink EU:C:1994:24 Rn. 9; EuGH v. 29.6.1995 – Rs. C-135/93 Spanien ./. Kommission, EU:C:1995:201 Rn. 37; EuGH v. 5.6.1997 – Rs. C-105/94 Celestini, EU:C:1997:277 Rn. 32. 23 EuGH v. 28.2.2018 – Rs C-518/16 ZPT, EU:C:2018:126 Rn. 29.
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II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts
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1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Unionsrechts a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung bezieht sich auf das gesamte Primär- 8 recht.24 Mögliche Bezugspunkte der primärrechtskonformen Auslegung in den Verträgen (EUV, AEUV) sind vor allem die Grundfreiheiten.25 Aber auch alle anderen Regelungen, wie z. B. Art. 4 Abs. 3 EUV,26 die Kompetenzgrundlagen27 oder das Wettbewerbsrecht (Art. 101 ff. AEUV),28 können als primärrechtlicher Auslegungsmaßstab heranzuziehen sein. Außerdem ist das abgeleitete Unionsrecht gemäß den allgemeinen Rechtsgrundsätzen,29 zu denen insbesondere die Unionsgrundrechte30 zählen, und den primärrechtlichen Prinzipien auszulegen.
Der EuGH hatte über die Frage zu entscheiden, ob es mit Art. 3 Abs. 1 Betriebsübergangsrichtlinie 197731 (BÜRL 1977) vereinbar ist, wenn der nicht tarifgebundene Betriebserwerber an eine Vereinbarung zwischen dem tarifgebundenen Betriebsveräußerer und dem Arbeitnehmer, nach der die jeweiligen Lohntarifverträge, an die der Betriebsveräußerer gebunden ist, Anwendung finden, in der Weise gebunden ist, dass der zur Zeit des Betriebsübergangs gültige Lohntarifvertrag Anwendung findet, nicht aber später in Kraft tretende Lohntarifverträge. Der Gerichtshof hat die Frage bejaht.32 Er stützt sich auf eine primärrechtskonforme Auslegung von Art. 3 Abs. 1 BÜRL 1977 am Maßstab der negativen Vereinigungsfreiheit, die das Recht umfasst, einer Gewerkschaft nicht beizutreten. Die Auslegung, die eine Bindung des Betriebserwerbers an künftige Kollektivverträge,
24 EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, EU:C:2009:716 Rn. 48. 25 Vgl. z. B. EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1986:463 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, EU:C:1986:464 Rn. 15; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize, EU:C:1992:250 Rn. 26; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u. a., EU:C:1996:282 Rn. 27; EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-352/95 Phytheron International EU:C:1997:170 Rn. 18. 26 EuG v. 18.9.1996 – Rs. T-353/94 Postbank ./. Kommission, EU:T:1994:288 Rn. 63. 27 Vgl. z. B. EuGH v. 5.7.1967 – Rs. 1/67 Ciechelski, EU:C:1967:27; EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-215/99 Jauch, EU:C:2001:139 Rn. 20; zu einem Beispiel vgl. Rn. 35. 28 Etwa EuGH v. 29.6.1995 – Rs. C-135/93 Spanien ./. Kommission, EU:C:1995:201 Rn. 36–39. 29 Vgl. z. B. EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, EU:C:1991:143 Rn. 17–25, EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, EU:C:1994:24 Rn. 9 und EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-181/96 Wilkins, EU:C:1999:29 Rn. 19 (Grundsatz des Vertrauensschutzes); EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-1/02 Borgmann, EU:C:2004:202 Rn. 30 (Grundsatz der Rechtssicherheit). 30 Vgl. z. B. EuGH v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 und 227/88 Hoechst, EU:C:1989:337 Rn. 12. 31 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26. Die BÜRL 1977 wurde inzwischen aufgehoben durch Art. 12 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16, deren Art. 3 Abs. 1 aber im Wesentlichen dem Art. 3 Abs. 1 BÜRL 1977 entspricht. 32 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, EU:C:2006:168 Rn. 31–37.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
denen er nicht angehöre, erlaube, könne sein Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit beeinträchtigen. Die Bindung des Erwerbers hätte Folgen, die denen von Verträgen zu Lasten Dritter gleichkämen.33 Dementsprechend hat der Gerichtshof Art. 3 Abs. 1 BÜRL 1977 dahin ausgelegt, dass der Betriebserwerber nicht an künftige Kollektivverträge gebunden ist. So wird sein Grundrecht auf negative Vereinigungsfreiheit umfassend gewährleistet.
b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheiten- und grundrechtskonforme Auslegung 9 Nicht immer orientiert der Gerichtshof die Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts am richtigen Bezugspunkt im Primärrecht. Das lässt sich am Beispiel der grundfreiheiten- und grundrechtskonformen Auslegung verdeutlichen. 10
aa) Bindung der Unionsorgane an die Grundfreiheiten. Ziel der Grundfreiheiten ist die Beseitigung sämtlicher Hemmnisse, die den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der Europäischen Union behindern. Beschränkende Maßnahmen sind verboten, soweit sie nicht ausnahmsweise gerechtfertigt werden können. Regelungsadressaten dieses Verbots sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, nach verbreiteter, wenn auch unzutreffender Auffassung weiterhin Private.34 Darüber hinaus werden aber auch die Union und ihre Organe durch die Grundfreiheiten gebunden.35 Denn ihre Tätigkeit bezieht sich auf einen Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist (Art. 26 Abs. 2 AEUV). Das nimmt sie in die Pflicht:36 Nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Union und ihre Organe haben den Freiheitsgehalt der Grundfreiheiten zu beachten.37 Diese Bindung spiegelt sich auch in der primärrechtskonformen Auslegung potentiell freiheitsbeschränkender Maßnahmen der Union wider.
33 Vgl. GA Colomer, Schlussanträge v. 15.11.2005 – Rs. C-499/04 Werhof, EU:C:2005:686 Tz. 52. 34 Vgl. zur Drittwirkung der Grundfreiheiten z. B. Canaris, in: Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 29; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten (2000); Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (1997); Remmert, Jura 2003, 13; W.-H. Roth, FS Everling (1995), Bd. II, S. 1231; Streinz/Leible, EuZW 2000, 459; Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), 6. 35 Ausführlich dazu Schwemer, Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten (1995); Scheffer, Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers (1997). 36 Streinz-Pechstein, Art. 3 EUV Rn. 7. 37 Vgl. z. B. EuGH v. 20.4.1978 – verb. Rs. 80/77 und 81/77 Commissionaires Réunies, EU:C:1978:87 Rn. 35/36; EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, EU:C:1983:369 Rn. 13; EuGH v. 17.5. 1984 – Rs. 15/83 Denkavit Nederland, EU:C:1984:183 Rn. 15; EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-51/93 Meyhui, EU:C:1994:312 Rn. 11; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u. a., EU:C:1996:282 Rn. 36; EuGH v. 25.6.1997 – Rs. C-114/96 Kieffer und Thill, EU:C:1997:316 Rn. 27; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-284/95 Safety Hi-Tech, EU:C:1998:352 Rn. 63; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-341/95 Bettati, EU:C:1998:353 Rn. 61; EuGH v. 13.9.2001 – Rs. C-169/99 Schwarzkopf, EU:C:2001:439
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II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts
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bb) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung. Zahlreiche 11 rechtsangleichende Akte des sekundären Unionsrechts führen zu keiner abschließenden Harmonisierung, sondern schaffen lediglich Mindeststandards und gestatten den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Festhalten an oder die Einführung von neuen strengeren Standards (Mindestharmonisierung).38 Derartige Ermächtigungsklauseln können nicht dahin ausgelegt werden, dass sie es den Mitgliedstaaten gestatten, Bedingungen vorzuschreiben, die den Bestimmungen über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- oder Kapitalverkehr zuwiderlaufen.39 Solche Ermächtigungsklauseln sind also stets primärrechtskonform dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit eröffnen, Regelungen beizubehalten oder neu zu erlassen, die mit den Grundfreiheiten vereinbar sind. cc) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung. Der Grundsatz 12 der primärrechtskonformen Auslegung ist aber und selbstverständlich auch bei der Interpretation von unionalen Rechtsakten zu beachten, die den Mitgliedstaaten jeglichen Erlass von Regelungen, die von den unionsrechtlichen Vorgaben abweichen, verwehren, also zu einer Totalharmonisierung geführt haben.40 (1) Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen. 13
Eine Auslegung im Lichte der Grundfreiheiten kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn die unionsrechtliche Regelung überhaupt zu ihrer Beschränkung geeignet ist. Denn die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung reicht nur so weit, wie es überhaupt zu Konfliktsituationen kommen kann. Das ist aber bei diskriminierungsfreien Regelungen der Union meist nicht der Fall. Scheidet z. B. eine Warenverkehrsbehinderung aufgrund der Beseitigung der Rechtsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten aus, ist die unionsrechtliche Regelung aus sich heraus und ohne Rückgriff auf die Art. 34 ff. AEUV auszulegen.41 Es besteht dann überhaupt kein Bedürfnis für eine grundfreiheitenkonforme Auslegung, da die Grundfreiheiten nur die Freiheit grenzüberschreitenden Wirtschaftens, nicht aber eine allgemeine Handlungsfreiheit garantieren sollen.42
Rn. 37; EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 Alliance for Natural Health, EU:C:2005:449 Rn. 47. 38 Vgl. dazu Streinz-Schröder, Art. 114 AEUV Rn. 49 ff.; ausführlich Conrad, Das Konzept der Mindestharmonisierung (2004); Wagner, Das Konzept der Mindestharmonisierung (2001). 39 EuGH v. 20.3.1990 – Rs. C-21/88 Du Pont de Nemours Italiana, EU:C:1990:121 Rn. 17; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize Frères, EU:C:1992:250 Rn. 26. 40 Zur Totalharmonisierung Streinz-Schröder, Art. 114 AEUV Rn. 46 ff. 41 Das übersieht – in anderem Zusammenhang – etwa EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C155/04 Alliance for Natural Health, EU:C:2005:449 Rn. 49. 42 Ausführlich zur Unterscheidung zwischen Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte (2004).
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
(2) Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung. Gleichwohl hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung Gut Springenheide bei
der Auslegung einer Verordnung das zu Art. 34 ff. AEUV entwickelte Leitbild eines verständigen Verbrauchers ohne weitere Reflektion auf das Sekundärrecht übertragen, d. h. ohne näher zu prüfen, ob der Unionsgesetzgeber mit der in Frage stehenden Verordnung und der in ihr enthaltenen Vorschriften zum Täuschungsschutz nicht vielleicht einen über den verständigen Verbraucher hinausgehenden Schutz auch des flüchtigen Verbrauchers anstrebte.43 Ebenso ist er in der Entscheidung Linhart und Biffl verfahren.44 Ihr lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Gottfried Linhart, Geschäftsführer der österreichischen Colgate Palmolive GmbH, wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenats Wien vom 22. Februar 1999 einer Verwaltungsübertretung schuldig erkannt, weil er es zu verantworten habe, dass diese Firma das kosmetische Mittel „Palmolive flüssige Seife Prima Antibakteriell“ mit der Angabe „Dermatologisch getestet“ auf der Verpackung in den Verkehr gebracht habe. Das verstieß gegen § 9 Abs. 1 lit. a) Lebensmittelgesetz (LMG). Danach ist es verboten, beim Inverkehrbringen von Lebensmitteln, Verzehrprodukten oder Zusatzstoffen sich auf die Verhütung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Krankheitssymptomen oder auf physiologische oder pharmakologische, insbesondere jungerhaltende, Alterserscheinungen hemmende, schlankmachende oder gesunderhaltende Wirkungen zu beziehen oder den Eindruck einer derartigen Wirkung zu erwecken. Nach Auffassung von Herrn Linhart ist eine Auslegung des österreichischen Rechts, die zu einem Verbot der Verwendung der Bezeichnung „dermatologisch getestet“ führt, mit dem Unionsrecht, insbesondere den Vorgaben der Kosmetikrichtlinie,45 nicht vereinbar.
15 Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle erforderlichen
Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass bei der Etikettierung, der Aufmachung für den Verkauf und der Werbung für kosmetische Mittel nicht Texte, Bezeichnungen, Warenzeichen, Abbildungen und andere bildhafte oder nicht bildhafte Zeichen verwendet werden, die Merkmale vortäuschen, die die betreffenden Erzeugnisse nicht besitzen. Der EuGH betont zunächst, dass die Kosmetikrichtlinie zu einer abschließenden Harmonisierung der nationalen Bestimmungen über die Verpackung und Etikettierung kosmetischer Mittel geführt hat.46 Daher sind alle nationalen Maßnahmen in einem Bereich, für den auf Unionsebene eine harmonisierte Regelung geschaffen worden ist, anhand dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand
43 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 Gut Springenheide und Tusky, EU:C:1998:369; kritisch dazu Leible, EuZW 1998, 528; Rüffler, wbl. 1998, 381, 383; ders., in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 97 ff. 44 EuGH v. 24.10.2002 – Rs. C-99/01 Linhart und Biffl, EU:C:2002:618. 45 Richtlinie 76/768/EWG des Rates v. 27.7.1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel, ABl. 1976 L 262/169. 46 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, EU:C:1999:30 Rn. 24; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, EU:C:2000:8 Rn. 23.
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II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts
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der Art. 34 und 36 AEUV zu beurteilen.47 Entscheidend ist folglich die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie. Wer nun allerdings erwartet hätte, dass der EuGH infolgedessen Art. 6 Abs. 3 Kos- 16 metikrichtlinie aus sich heraus auslegt, wird freilich enttäuscht. Der EuGH führt stattdessen weiter aus, dass Art. 36 AEUV den Mitgliedstaaten zwar erlaubt, Beschränkungen des freien Warenverkehrs aufrechtzuerhalten, doch die Anwendung dieser Bestimmung ausgeschlossen ist, wenn Richtlinien der Union die Harmonisierung der Maßnahmen vorsehen, die zur Verwirklichung des konkreten Zieles, das mit dem Rückgriff auf Art. 36 AEUV erreicht werden soll, erforderlich sind.48 Ungeachtet dessen müssten Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Durchführung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie den dem Art. 36 AEUV immanenten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.49 Unter Zugrundelegung dieser Prämisse hält der Gerichtshof das von ihm im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelte Leitbild des verständigen Verbrauchers auch für die Auslegung des Irreführungsbegriffs der Kosmetikrichtlinie für maßgeblich und gelangt daher zum Ergebnis, dass eine Irreführungsgefahr nicht besteht; denn die Angabe „dermatologisch getestet“ auf der Verpackung bestimmter kosmetischer Mittel wecke bei einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher allenfalls die Vorstellung, dass das Mittel einem Test zur Ermittlung seiner Auswirkungen auf die Haut unterzogen wurde, schreibe ihm aber keinesfalls Eigenschaften zu, die es nicht besitzt. Das kann jedoch nur im Ergebnis, nicht aber dogmatisch überzeugen. Wenn die 17 Kosmetikrichtlinie, was außer Zweifel steht, zu einer abschließenden Harmonisierung geführt hat, sind Beschränkungen des freien Warenverkehrs nicht zu befürchten, sofern ihre Regelungen diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen. Hielte man bei der Auslegung von sekundärrechtlichen Vorschriften des Täu- 18 schungsschutzes wie Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie statt des im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelten Leitbilds des verständigen Verbrauchers das eines flüchtigen und unaufmerksamen Konsumenten für maßgeblich, weil etwa der Erwerber kosmetischer Mittel besonders schutzbedürftig ist, wäre damit eine Beschränkung der Grundfreiheiten nicht verbunden; denn unionsweit würde der gleiche strenge Maßstab gelten. Das Inverkehrbringen mit „dermatologisch getestet“ bezeichneter Kosmetika wäre unionsweit untersagt. Aufgabe der Grundfreiheiten ist aber nicht die Beseitigung
47 EuGH v. 23.11.1989 – Rs. C-150/88 Parfümerie-Fabrik 4711, EU:C:1989:594 Rn. 28; EuGH v. 12.9.1993 – Rs. C-37/92 Vanacker und Lesage, EU:C:1993:836 Rn. 9; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-324/99 DaimlerChrysler, EU:C:2001:682 Rn. 32. 48 EuGH v. 19.3.1998 – Rs. C-1/96 Compassion in World Farming, EU:C:1998:113 Rn. 47; EuGH v. 25.3.1999 – Rs. C-112/97 Kommission ./. Italien, EU:C:1999:168 Rn. 54. 49 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, EU:C:1999:30 Rn. 27; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, EU:C:2000:8 Rn. 26. Leible/Domröse
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
jeglicher Begrenzungen wirtschaftlicher Freiheit.50 Gesichert werden soll lediglich der Marktzutritt von Produkten, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt oder in den Verkehr gebracht worden sind.51 Welche Waren und Wirtschaftsleistungen im europäischen Binnenmarkt überhaupt zulässig sind oder zulässigerweise verboten werden dürfen, ist eine den Verkehrsfreiheiten vorgelagerte Problematik. Sie muss daher im Rahmen einer „grundfreiheitenkonformen Auslegung“ außer Betracht bleiben. Folglich überzeugt es auch nicht, unter Hinweis auf eine mögliche unterschiedliche Handhabung des an sich einheitlichen Irreführungstatbestands Art. 34 ff. AEUV immerhin eine Maßstabsfunktion zuzuerkennen.52 19 Im Ergebnis ist den Ausführungen des EuGH gleichwohl zuzustimmen. Allerdings ist die Maßgeblichkeit des Leitbilds des verständigen Verbrauchers nicht die Folge einer Auslegung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie im Lichte der Grundfreiheiten, sondern im Lichte der Unionsgrundrechte.53 Im Raume steht bei Etikettierungsvorschriften u. a. eine Verletzung des auch unionsrechtlich garantierten Grundrechts der Berufsfreiheit,54 das die umfassende Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit enthält.55 Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Bereich sind u. a. nur dann zulässig, wenn sie verhältnismäßig sind.56 Verhältnismäßig i.d.S. kann mangels besonders schutzbedürftiger Gruppen ein Eingriff in die Berufsfreiheit der Produzenten und Vertreiber von Kosmetika aber nur sein, wenn er bei der Zulässigkeit des Verbots der Verwendung einer Bezeichnung auf das Verständnis abhebt, das diese bei einem „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“ hat. Denn die Grundfreiheiten und die Unionsgrundrechte sollten ungeachtet ihrer unterschiedlichen Schutzrichtung und der divergenten Interessenlage zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung kohärent ausgelegt werden.57 Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist daher im Rahmen sowohl der grundfreiheiten- als auch der grundrechtskonformen Auslegung von Irreführungsverboten des abgeleiteten
50 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Leible/T. Streinz, Art. 34 AEUV Rn. 18; ebenso W.-H. Roth, in: FIW (Hrsg.), Marktwirtschaft und Wettbewerb im sich erweiternden europäischen Raum (1994), S. 37 ff.; ders., FS Großfeld (1998), S. 944 ff. 51 Zur hier nicht zu diskutierenden Bedeutung der Wendung „in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht“ vgl. mwN Grabitz/Hilf/Nettesheim-Leible/T. Streinz, Art. 34 AEUV Rn. 71 ff. 52 So aber Streinz, JuS 2000, 807, 809 Fn. 10. 53 Allgemein zum Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten (2001); Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV (2005). 54 So explizit EuGH v. 13.12.1994 – Rs. C-306/93 SMW Winzersekt, EU:C:1994:407 Rn. 24. 55 EuGH v. 19.9.1985 – verb. Rs. 63/84 und 147/84 Finsider, EU:C:1985:358 Rn. 27; vgl. auch EhlersRuffert, § 16.4 Rn. 9 ff. 56 EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 Wachauf, EU:C:1989:321 Rn. 18; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-280/93 Deutschland ./. Rat, EU:C:1994:367 Rn. 90 ff.; vgl. dazu Ehlers-Ehlers, § 14 Rn. 50 ff. 57 So auch Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 792.
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II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts
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Unionsrechts von einem einheitlichen Verbraucherleitbild im oben skizzierten Sinne auszugehen.
2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Unionsrechts Worauf das Gebot primärrechtskonformer Auslegung sekundären Unionsrechts be- 20 ruht, ist noch nicht abschließend geklärt.
a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Unionsrechts Auf den ersten Blick mag es nahe liegen, dass der Unionsgesetzgeber, der eine rang- 21 höhere Norm durchführt, sich an dieser ausrichtet58 und deshalb eine Vermutung für die Primärrechtskonformität des sekundären Unionsrechts spricht.59 In dieser Vermutung könnte ein Prinzip zum Ausdruck kommen, das eine primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Unionsrechts verlangt. Diese Überlegung ist freilich insofern angreifbar als die Existenz von Verfahren, die – wie die Nichtigkeitsklage (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV, Art. 263, 264 Abs. 1 AEUV) und das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV) – eine Normverwerfung erlauben, Zeugnis dafür sind, dass die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ dem Unionsgesetzgeber „misstrauten“ und deshalb eine solche Vermutung gerade nicht zulassen.60
b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Unionsrechts und die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers Näherliegend ist es, das Gebot primärrechtskonformer Auslegung auf den System- 22 gedanken zu stützen.61 Dieser Gedanke beruht auf der zutreffenden Einsicht, dass Sekundär- und Primärrecht nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern eine
58 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1181; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 186; Müller/Christensen, Juristische Methodik (3. Aufl. 2012), Bd. II, S. 325. 59 Auch der Gerichtshof beruft sich mitunter auf die Rechtmäßigkeitsvermutung des Sekundärrechts, allerdings nicht um die primärrechtskonforme Auslegung zu legitimieren, sondern um seine alleinige Befugnis zur Verwerfung des Sekundärrechts argumentativ abzusichern, vgl. zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-475/01, Kommission ./. Griechenland EU:C:2004:585 Rn. 18. 60 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 222 f. 61 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1999), S. 194 („Systemgedanke und Autorität der Vertragsparteien“); Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 186; Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 19 EUV Rn. 19. Zu Systemdenken und Systembildung im Sekundärrecht s. Grundmann, in diesem Band, § 9.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
Einheit,62 ein System aufeinander abgestimmter Entscheidungen bilden. Als Teil des Unionsrechtssystems darf das Sekundärrecht nicht isoliert ausgelegt werden,63 vielmehr ist es im Lichte des gesamten Unionsrechts,64 also auch des Primärrechts, zu deuten. Auf den Systemgedanken beruft sich auch der EuGH: Bei der Auslegung der Bestimmungen einer Richtlinie sei „dem Gedanken der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung Rechnung zu tragen, der verlangt, dass das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ausgelegt wird.“65 23 Indessen reicht der Systemgedanke alleine nicht aus, um die primärrechtskonforme Auslegung zu legitimieren.66 Denn erstens ist dem Systemgedanken nur zu entnehmen, dass Widersprüche im System zu vermeiden sind, indem einzelne Normen im Lichte der Gesamtrechtsordnung möglichst systemkonform ausgelegt werden. MaW: Der Systemgedanke verbietet eine Auslegung, die im Widerspruch mit dem Primärrecht steht (Verbot primärrechtskonträrer Auslegung), er gebietet jedoch nicht die primärrechtskonforme Interpretation.67 Und zweitens könnte man dem Systemgedanken auch dadurch Rechnung tragen, dass man sekundärrechtliche Normen, die primärrechtswidrige Deutungen zulassen, als systemwidrig oder systemfremd einstuft und durch einschränkende Auslegung „isoliert“68 oder sogar verwirft.69 24 Ganz ähnliche Erwägungen sprechen auch dagegen, das Gebot primärrechtskonformer Auslegung nur im Vorrang des Primärrechts bzw. im Stufenbau des Unionsrechts zu verankern.70 Den Verträgen, vor allem Art. 19 Abs. 3 lit. a) und b) EUV, Art. 263, 267 Abs. 1 lit. b) AEUV lässt sich entnehmen, dass sekundärrechtliche Normen im Rang unter dem primären Unionsrecht stehen.71 In den Worten des Gerichtshofs ist das Vertragsrecht „Grundlage, Rahmen und Grenze“72 des darauf gestützten Rechts und die „Bestimmung eines Akts des abgeleiteten Rechts [kann] nach dem 62 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule (1976), S. I-40. 63 EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1986:463 Rn. 62. 64 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 20; ähnl. schon EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, EU:C:1969:71 Rn. 5, 7. 65 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, EU:C:2006:168 Rn. 32. 66 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 223–229. 67 Vgl. Michel, JuS 1961, 274, 275 f.; Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen (1973), S. 101. 68 In diesem Fall hat die vom Gerichtshof oft bemühte Regel, Ausnahmen seien eng auszulegen, ihre Berechtigung; vgl. auch Kramer, Methodenlehre (5. Aufl. 2016), S. 187 f. 69 Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff (2. Aufl. 1983), S. 130–132; ders., FS Kramer (2004), S. 148. 70 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 229; a. A. Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 9; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 20. 71 Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 308, 364; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 20. 72 EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, EU:C:1969:71 Rn. 5/7; EuGH v. 5.10. 1978 – Rs. 26/78 Viola, EU:C:1978:172 Rn. 9, 14.
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II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts
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Grundsatz der Normenhierarchie keine Abweichung von einer Bestimmung des Vertrages gestatten.“73 Dem Vorrang des Primärrechts ist jedoch auch Genüge getan, wenn die sekundärrechtliche Norm für nichtig bzw. ungültig erklärt wird. Aus „rechtshygienischen“ Gründen mag es sogar wünschenswert sein, eine Norm, die eine primärrechtswidrige Auslegung zulässt, aus der Rechtsordnung zu entfernen.74 Eine tragfähige Grundlage gewinnt man, wenn man den Systemgedanken und 25 den Vorrang des Primärrechts mit der Überlegung verknüpft, dass der primärrechtskonformen Auslegung die Funktion zukommt, den Unionsgesetzgeber vor Übergriffen der europäischen Gerichte zu bewahren.75 Der Respekt vor der Rechtsetzungsprärogative des Unionsgesetzgebers, den vor allem das allgemeine Gebot der richterlichen Zurückhaltung, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der Unionsorgane (Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV) und das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts der Judikative abverlangen, gebietet die Aufrechterhaltung des Sekundärrechts so weit wie möglich.76 Geht man weiterhin davon aus, dass auch im Verhältnis der Unionsorgane untereinander ein Übermaßverbot gilt,77 dann verdient die primärrechtskonforme Auslegung den Vorzug, weil sie sich im Verhältnis zur Normverwerfung als weniger einschneidendes Mittel erweist, die Normverwerfung also nicht erforderlich ist. Bedarf das Sekundärrecht der Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung durch 26 innerstaatliches Recht (angeglichenes Recht i. w. S.), schützt das Gebot primärrechtskonformer Auslegung zugleich die Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers und schont so die mitgliedstaatliche Souveränität. Denn die Verwerfung des Sekundärrechts hat zur Folge, dass der unionsrechtliche Verpflichtungsgrund für das angeglichene Recht entfällt und den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber jedenfalls dann zum Handeln zwingt, wenn der Gerichtshof die Rechtswirkungen des für nichtig erklärten Sekundärrechts nicht aufrechterhält (Art. 264 Abs. 2 AEUV) und der Verstoß gegen das Primärrecht auf das angeglichene Recht durchschlägt. In diesem Fall greift der Gerichtshof zwar nicht direkt in die Kompetenzen des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers ein, weil die Verwerfung des Sekundärrechts nicht auch den innerstaatlichen Befehl zur Anwendung des angeglichenen Rechts außer Kraft setzt. Jedoch werden die auf Grund des für nichtig erklärten Rechtsakts erlassenen Vorschriften unanwendbar
73 EuG v. 28.3.2001 – Rs. T-144/99 Institut der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter ./. Kommission EU:T:2001:105 Rn. 50; s.a. EuG v. 10.7.1990 – Rs. T-51/89 Tetra Pak, EU:T:1990:41 Rn. 25. 74 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre (2. Aufl. 1991), S. 233, 456 f. 75 Zust. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 229 f.; ähnlich Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 62; s.a. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 188; Müller/Christensen, Juristische Methodik (3. Aufl. 2012), Bd. II, S. 122, 325. 76 Vgl. auch Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule (1976), S. I-41. 77 Dazu, dass auch zwischen den Staatsfunktionen untereinander ein Übermaßverbot gilt, das die verfassungskonforme Auslegung stützt, Zippelius, FG 25 Jahre BVerfG (1976), Bd. II, S. 111; zust. Canaris, FS Kramer (2004), S. 152; Lüdemann, JuS 2004, 27, 29.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
und sind vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber aufzuheben oder zu korrigieren,78 da sie mit dem Primärrecht kollidieren und deshalb der Anwendungsvorrang des Unionsrechts eingreift. Indessen bleibt das angeglichene Recht anwendbar und der mitgliedstaatliche Gesetzgeber wird nicht mit Normkorrekturen behelligt, wenn sich das Sekundärrecht durch primärrechtskonforme Auslegung aufrechterhalten lässt. Der Gedanke der Souveränitätsschonung liegt freilich um so ferner, je mehr die Autonomie des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers durch detaillierte unionsrechtliche Vorgaben eingeschränkt ist. Umgekehrt ist die Verwerfung des Sekundärrechts um so unangemessener, je mehr Spielraum es dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber bei seiner Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung belässt. Unabhängig davon, wieviel Gestaltungsfreiheit dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber verbleibt, lässt sich das Gebot primärrechtskonformer Auslegung insoweit auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie ergänzend auf Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV stützen. Der Gerichtshof ist dementsprechend verpflichtet, das Sekundärrecht so lange mittels primärrechtskonformer Auslegung aufrechtzuerhalten, wie das nach Unionsrecht möglich ist.
3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre 27 Aus der Vorrangstellung des Primärrechts folgt, dass die primärrechtskonforme Aus-
legung Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien genießt. Von mehreren möglichen Interpretationen einer sekundärrechtlichen Regelung setzt sich in jedem Falle diejenige durch, die mit dem Primärrecht vereinbar ist. Eine Abwägung mit den gegenläufigen Deutungsmöglichkeiten ist weder erforderlich noch zulässig, selbst wenn sie in ihrer Zahl und Stärke das primärrechtskonforme Auslegungskriterium überwiegen. Methodologisch ist die primärrechtskonforme Auslegung deshalb als interpretatorische Vorrangregel zu qualifizieren.79 Das bedeutet allerdings nicht, dass den übrigen Auslegungskriterien überhaupt keine Bedeutung zukommt. Zwar können sie das Auslegungsergebnis nicht mehr bestimmen, sie können es jedoch ggf. noch bekräftigen und ihm so eine noch größere Überzeugungskraft verleihen und die Akzeptanz der richterlichen Entscheidung erhöhen. Außerdem übernehmen die übrigen Auslegungskriterien immerhin noch eine begrenzende Funktion, stecken sie doch den Bereich zulässiger Rechtsfindung ab.80
78 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Art. 264 AEUV Rn. 10 (demzufolge zwar die konkreten Folgen vom nationalen Recht abhängen, der aber insbesondere an „Rechtswidrigkeit, Aufhebbarkeit, Nichtigkeit“ denkt); Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 264 AEUV Rn. 4. 79 Grundlegend zu den Unterschieden von interpretatorischer Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 64–67; ders., FS Kramer (2004), S. 143–146. 80 Vgl. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 70 f.; ders., FS Kramer (2004), S. 145 f., 154.
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II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts
Im System der juristischen Methodenlehre hat die primärrechtskonforme Aus- 28 legung ihren Platz im Rahmen der systematischen und objektiv-teleologischen Auslegung.81 Dass es bei ihr nicht – wie bei der einfach-systematischen Auslegung – um eine Zusammenschau hierarchisch auf einer Stufe stehender Normen geht, sondern Vorschriften abgeglichen werden, denen innerhalb derselben Rechtsordnung ein unterschiedlicher Rang zukommt, rechtfertigt es nicht, ihr eine andere Stellung – etwa neben den übrigen Auslegungskriterien – zuzuweisen.82
4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts Vom Gebot primärrechtskonformer Auslegung erfasst ist das gesamte abgeleitete Uni- 29 onsrecht.83 Dazu gehört das sekundäre Unionsrecht, das neben Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen und Beschlüssen (früher: Entscheidungen) auch Rechtsakte, die nicht den in Art. 288 AEUV vertypten Rechtshandlungen zugeordnet werden können (z. B. wettbewerbsrechtliche Leitlinien), umfasst. Zudem sind auch Übereinkünfte der Union (Art. 216 Abs. 1 AEUV) mit Drittstaaten und internationalen Organisationen, die nicht zum Sekundärrecht gehören, sondern einen Zwischenrang zwischen jenem und dem Primärrecht einnehmen (arg. ex Art. 216 Abs. 2, 218 Abs. 11 AEUV), primärrechtskonform auszulegen. Zum abgeleiteten Unionsrecht zählen auch die Normen, die auf sekundärem Uni- 30 onsrecht beruhen und seiner Durchführung dienen (sog. Tertiärrecht). Diese Normen stehen im Rang unter den Bestimmungen des Rechtsakts, von dem sie abgeleitet sind.84 Die Stufung des Unionsrechts ist auch bei der Auslegung zu beachten. Dementsprechend ist z. B. eine Durchführungsverordnung, wenn möglich, so auszulegen, dass sie mit den Bestimmungen der Grundverordnung vereinbar ist.85 Die Grundverordnung ist ggf. ihrerseits primärrechtskonform auszulegen. Eine primärrechtskonforme Auslegung der Durchführungsverordnung verbietet sich, weil sonst der Rege
81 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Für Erscheinungsform der systematischen Auslegung: Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule (1976), S. I-40; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Franzen, Privatrechtsangleichung (1999), S. 447 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien (2003), S. 63; Dittert, Europarecht (5.. Aufl. 2017), S. 82 f. Für Anwendungsfall der teleologischen Auslegung Lutter, JZ 1992, 593, 603. 82 A. A. Müller/Christensen, Juristische Methodik (3. Aufl. 2012), Bd. II, S. 327 f. 83 EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u. a., EU: C:1996:282 Rn. 27; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, EU:C:2006:168 Rn. 32. 84 Vgl. EuGH v. 10.3.1971 – Rs. 38/70 Deutsche Tradax, EU:C:1971:24 Rn. 10; EuGH v. 2.3.1999 – Rs. C179/97 Spanien ./. Kommission, EU:C:1999:109 Rn. 20. 85 EuGH v. 24.3.1993 – Rs. C-90/92 Dr. Tretter, EU:C:1993:264 Rn. 11; EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-61/94 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1996:313 Rn. 52.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
lungsabsicht des jeweils kompetenten Regelgebers nicht Rechnung getragen werden könnte. Nach diesen Vorgaben ist z. B. bei der Auslegung der in das Unionsrecht inkorporierten internationalen Rechnungslegungsstandards zu verfahren. Die internationalen Rechnungslegungsstandards – International Accounting Standards (IAS) und International Financial Reporting Standards (IFRS) – werden vom International Accounting Standard Board (IASB), einem nichtstaatlichen Regelgeber, herausgegeben und können von der Kommission im sog. Endorsementverfahren gemäß Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 IFRS-VO86 übernommen werden. Die übernommenen Rechnungslegungsstandards werden als Kommissionsverordnung im Amtsblatt veröffentlicht (Art. 3 Abs. 4 IFRS-VO). Durch die Übernahme werden die Rechnungslegungsstandards verbindliches Unionsrecht, das von den Unternehmen anzuwenden ist, die ihre Abschlüsse gemäß Art. 4 IFRS-VO oder gemäß Art. 5 IFRS-VO iVm nationalem Recht nach internationalen Rechnungslegungsstandards zu erstellen haben. Bei den Kommissionsverordnungen handelt es sich um Durchführungsvorschriften. Sie sind deshalb am Maßstab der IFRS-VO – insbesondere dem True-and-fair-view-Prinzip (Art. 3 Abs. 2 IFRS) –, deren Durchführung sie dienen, auszulegen. Die IFRS-VO ist ggf. primärrechtskonform zu interpretieren.
5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 31 Die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers als tragender Begründungs-
ansatz des Gebots primärrechtskonformer Auslegung bedeutet nicht, dass abgeleitetes Unionsrecht um jeden Preis durch den Gerichtshof aufrechtzuerhalten ist. Der primärrechtskonformen Auslegung sind Grenzen gesetzt. Wo diese Grenzen verlaufen, ist bislang wenig erörtert.
a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts 32 Allgemein anerkannt ist, dass Gesetze lückenhaft sein können und deshalb nicht alle Sachverhalte durch Auslegung zu lösen sind. Gemeinhin wird deshalb eine richterliche Rechtsfortbildung akzeptiert. Im Grundsatz ist das auch für das Unionsrecht unbestritten, für das dem Gerichtshof die Befugnis zur Rechtsfortbildung zufällt.87 33 Grundsätzlich zulässig ist auch eine primärrechtskonforme Fortbildung des sekundären Unionsrechts. Der EuGH hatte die Befugnis zur Rechtsfortbildung zunächst sogar an die Voraussetzung geknüpft, dass das sekundäre Unionsrecht „eine Lücke enthält, die mit einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts unvereinbar
86 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1. 87 Ausdrücklich akzeptiert von BVerfGE 75, 223, 241 ff.
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II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts
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ist“.88 Zu Recht hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung aufgegeben. Denn selbstverständlich kann allein die Systematik und Teleologie des Sekundärrechts seine Fortbildung fordern.89 Da überwiegend Gleichheitsrechte (Grundfreiheiten, Diskriminierungsverbote, 34 allgemeiner Gleichheitssatz) den Bezugspunkt im Primärrecht bilden, ist eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung allerdings nur selten möglich. Verstößt sekundäres Unionsrecht gegen ein Gleichheitsrecht, so ist es Sache des Unionsgesetzgebers, wie er den Verstoß behebt. Er kann die benachteiligte Person, Ware usw. in die begünstigende Regelung einbeziehen, die Begünstigung aufheben oder den Kreis der Begünstigten gänzlich anders definieren. Der Gerichtshof respektiert die Gestaltungsfreiheit des Unionsgesetzgebers, indem er sekundäres Unionsrecht insoweit nicht für ungültig bzw. nichtig erklärt, sondern – wie das Bundesverfassungsgericht in den Fällen des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses90 – sich auf die Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Gleichheitsrecht beschränkt.91 Für die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung bedeutet das, dass sie grundsätzlich unzulässig ist, wenn mehrere Regelungsmöglichkeiten offenstehen, die alle mit dem Primärrecht vereinbar wären, da sie ansonsten ebenso wie die Normverwerfung der Entscheidung des Unionsgesetzgebers vorgreifen würde.92 Als Mittel der Ausfüllung von Lücken im sekundären Unionsrecht bieten sich – 35 wie auch sonst – insbesondere der Analogieschluss und die teleologische Reduktion an. Der Analogieschluss kommt als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung immer dann in Betracht, wenn das Sekundärrecht eine mit dem Primärrecht unvereinbare Lücke enthält, aber eine Regelung vorsieht, die zwar nicht nach ihrem Wortlaut, jedoch nach ihrem Sinn und Zweck angewandt werden kann, um die Lücke zu schließen und so den Primärrechtsverstoß zu vermeiden. Die primärrechtskonforme (teleologische) Reduktion des Sekundärrechts steht zu Gebote, wenn der Normtext verglichen mit der Teleologie des Primärrechts zu weit gefasst ist.
88 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, EU:C:1985:507 Rn. 14; vgl. auch EuGH v. 11.7.1978 – Rs. 6/78 Union Francaise de Cereales, EU:C:1978:154 Rn. 4; zust. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 318 f. 89 In diesem Sinne EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, EU:C:1979:156 Rn. 8; EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u. a., EU:T:2002:283 Rn. 131–135; EuG v. 28.1.2004 – verb. Rs. T-142/01 und T-283/01 OPTUC, EU: T:2004:25 Rn. 76–92; EuGH v. 8.11.2005 – Rs. C-443/03 Leffler, EU:C:2005:665 Rn. 65, 68; s.a. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1985:332 Rn. 12–18; EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 Berliner Kindl Brauerei, EU:C:2000:152 Rn. 18; GA Tizzano, Schlussanträge v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, EU:C:2006:159 Tz. 42–45. 90 Vgl. z. B. BVerfGE 33, 303, 349. 91 Vorbildlich EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel, EU:C:1977:160 Rn. 13. 92 Dänzer-Vanotti, FS Everling (1995), Bd. I, S. 221 spricht in diesem Fall von „unausfüllbaren Lücken“.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
Der EuGH hat z. B. die analoge Anwendung einer Verordnungsbestimmung – hilfsweise – damit begründet, dass andernfalls „sogar angenommen werden [könnte], dass der Rat seine Verpflichtung aus Art. 51 des Vertrages, die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen zu treffen, nicht vollständig erfüllt hat.“93 Enthalten die Verträge eine Pflicht zur Rechtsetzung und hat der Unionsgesetzgeber diese Pflicht unzureichend erfüllt, dann ist es – innerhalb der Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung – in der Tat überzeugend, die Norm entsprechend anzuwenden, die der Unionsgesetzgeber zur Erfüllung des Regelungsauftrags erlassen hat. Denn der Unionsgesetzgeber könnte auch nicht mehr tun als die Regelung entsprechend zu erweitern. Das gilt in aller Regel auch, wenn der Unionsgesetzgeber einer primärrechtlichen Schutzpflicht nicht hinreichend nachgekommen ist.94 Anders liegen die Dinge, wenn der Unionsgesetzgeber überhaupt nicht rechtsetzend tätig geworden ist.95
Eine primärrechtskonforme Reduktion ist z. B. im Hinblick auf einige Regelungen der EuGVVO geboten. Aus dem Wortlaut einiger Regelungen lässt sich entnehmen, dass diese nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwendung finden (z. B. Art. 5 Abs. 1 EuGVVO), während in anderen Regelungen dieses den Anwendungsbereich der EuGVVO begrenzende Merkmal fehlt (z. B. Art. 18 Abs. 1 EuGVVO). Gleichwohl sollen nach h. M. auch diese Regelungen auf reine Inlandssachverhalte nicht anwendbar sein.96 Dafür stützt man sich ganz überwiegend auf die Begründungserwägungen der EuGVVO.97, 98 Indessen können weder diese im Rahmen der historischen Interpretation noch die übrigen Kanones diese Auslegung stützen. Methodologisch lässt sich das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs nur im Wege einer teleologischen (primärrechtskonformen) Reduktion dieser Regelungen erreichen:99 Die Verordnung ist eine Maßnahme im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen i. S. v. Art. 81 Abs. 2 AEUV.100 Diese Bestimmung beschränkt die Rechtsetzungskompetenz der EU auf Maßnahmen mit grenzüberschreitenden Bezügen.101 Die Auslegung, die EuGVVO erfasse auch reine Inlandssachverhalte, ist dementsprechend nicht möglich. Die Regelungen der EuGVVO, die einen grenzüberschreitenden Bezug nicht vorsehen, sind in ihrem Wortlaut zu weit gefasst und daher in primärrechtskonformer Weise zu reduzieren.
93 EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, EU:C:1979:156 Rn. 8. 94 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (2002), S. 162. 95 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling (1995), Bd. I, S. 220. 96 Kropholler/v. Hein, Europäisches Zivilprozessrecht (9. Aufl. 2011), vor Art. 2 EuGVVO Rn. 6 f.; Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel Ia-VO Rn. 19; Thomas/Putzo-Hüßtege, ZPO (41. Aufl. 2020), Vorbem EuGVVO Rn. 20; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 27 Rn. 10; anders Zöller-Geimer, ZPO (33. Aufl. 2020), Anh. I Art. 4 EuGVVO Rn. 9. 97 Vgl. BE 2 EuGVVO. 98 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht (7. Aufl. 2017), Rn. 270; Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel I-VO Rn. 19. 99 I.E. ebenso Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel Ia-VO Rn. 19, der dieses Ergebnis aber durch primärrechtskonforme Auslegung erreichen möchte. 100 S.a. BE 3 EuGVVO. 101 Vgl. Streinz-Leible, Art. 81 AEUV Rn. 6 ff.
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III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts
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b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts Das Gebot primärrechtskonformer Rechtsfindung darf nicht dazu führen, dass der Ge- 36 richtshof die gesetzgeberische Entscheidung durch seine eigene ersetzt.102 Eine Korrektur des Sekundärrechts mit Hilfe der primärrechtskonformen Rechtsfindung kommt nicht in Betracht, liefe dies doch auf eine Änderung ihres Inhalts hinaus. Diese ist jedoch der Legislative vorbehalten und nicht Aufgabe der Judikative.103 Der EuGH nimmt eine primärrechtskonforme Korrektur des Sekundärrechts daher auch nur dann vor, wenn es „mehr als eine Auslegung gestattet“.104 Die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung findet ihre Grenze im Verbot des contra-legem-Judizierens. Danach ist dem Gerichtshof eine Rechtsfindung verboten, die sich über den Wortsinn und den Zweck der sekundärrechtlichen Regelung hinwegsetzt;105 je für sich bilden diese beiden Kriterien grundsätzlich keine unübersteigbare Hürde für den Richter.106 Soweit eine Aufrechterhaltung der Norm mit den der Rechtsprechung zur Ver- 37 fügung stehenden Mitteln nicht möglich ist, ist die Norm nichtig. Die Nichtigkeit ist vom EuGH festzustellen, entweder im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV, Art. 263, 264 Abs. 1 AEUV) oder eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV). Durch die Normverwerfung kann freilich eine Lücke entstehen, die in primärrechtskonformer Weise – etwa in Analogie zu einer anderen Norm – geschlossen werden kann.
III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts hat der 38 EuGH erstmals im Urteil Murphy ausdrücklich ausgesprochen. Der Gerichtshof stellte fest, dass es „Sache des nationalen Gerichts [ist], das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht
102 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1999), S. 194; Riesenhuber, System und Prinzipien (2003), S. 63. 103 EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, EU:C:2000:181 Rn. 117. 104 EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, EU:C:1983:369 Rn. 15; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1986:463 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, EU:C:1986:464 Rn. 15. 105 Vgl. Bydlinski, in: Koller u. a. (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken (1998), S. 27 ff.; ders., JBl. 1997, 617, 620; zust. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 92; anders Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (2. Aufl. 2005), S. 132. 106 Vgl. z. B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1985:332 Rn. 12; GA Tizzano, Schlussanträge v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, EU:C:2005:668 Tz. 42–45; s. a. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 94 f.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“107 Dieses Gebot wird gemeinhin akzeptiert. Allerdings ist noch nicht abschließend geklärt, worauf seine Verbindlichkeit beruht, wie es sich zu den übrigen Auslegungskriterien verhält, wie weit es reicht und welche Grenzen ihm gesetzt sind. Bevor diese Fragen erörtert werden können, ist zu überlegen, inwieweit primäres Unionsrecht überhaupt als Maßstab für die Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts in Betracht kommt.
1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht 39 Mögliche Bezugspunkte der primärrechtskonformen Auslegung sind insbesondere die Grundfreiheiten, die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften, das Verbot der Entgeltdiskriminierung (Art. 157 AEUV) sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV). Das BAG hat z. B. im Hinblick auf einen Streit um die tarifgerechte Eingruppierung einer Arbeitnehmerin entschieden, dass Art. 119 EWG (Art. 157 AEUV) erfordert, das Tatbestandsmerkmal der „schweren körperlichen Arbeit“ in einem Tarifvertrag primärrechtskonform auszulegen und auf alle den Körper belastenden Umstände abzustellen, die bei Männern und Frauen in gleicher Weise zu körperlichen Reaktionen führen können.108
Eine grundfreiheitenkonforme Auslegung ist beispielsweise im Hinblick auf § 1 Abs. 1 UmwG geboten. Nach bisher h. M. können nur Rechtsträger mit Sitz im Inland umgewandelt werden.109 Dementsprechend wäre z. B. die Verschmelzung einer englischen Ltd. auf eine deutsche AG nicht zulässig. Die Beschränkung der Umwandlungsfähigkeit auf Rechtsträger mit Sitz im Inland widerspricht indessen der Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV). Das hat der EuGH im Urteil SEVIC bestätigt.110 Allerdings kann man § 1 Abs. 1 UmwG unschwer dahin grundfreiheitenkonform interpretieren, dass es für eine Umwandlung genügt, dass einer der beteiligten Rechtsträger seinen Sitz im Inland hat.111 Dementsprechend sind Umwandlungen von Gesellschaften mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat oder einem EWR-Vertragsstaat auf deutsche Gesellschaften grundsätzlich zulässig. Diese Auslegung trägt der Niederlassungsfreiheit ausreichend Rechnung und verhindert, dass § 1 Abs. 1 UmwG bzw. das primärrechtswidrige Erfordernis des Inlandssitzes unangewendet bleiben muss. Darüber hinaus verpflichtet die Niederlassungsfreiheit die mitgliedstaatlichen Gerichte, die Vorschriften, die für Umwandlungen von Rechtsträgern mit Sitz im Inland gelten, auf grenzüberschreitende Umwandlungen entsprechend anzuwenden.
107 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, EU:C:1988:62 Rn. 11. 108 BAGE 71, 56, 65 f. 109 Vgl. dazu mwN Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt-Leible, GmbHG (3. Aufl. 2017), Syst. Darst. 2 Rn. 232 Fn. 686. 110 EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC, EU:C:2005:762 Rn. 11 ff. 111 Vgl. Kallmeyer, ZIP 1996, 535, 535; Leible/Hoffmann, RIW 2006, 161, 164; zu den praktischen Folgen vgl. z. B. Teichmann, ZIP 2006, 355, 360 f.; Geyrhalter/Weber, DStR 2006, 146, 148 ff.
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III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts
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b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunktes: das Verhältnis von richtlinien- und unionsgrundrechtskonformer Auslegung Die Auswahl des richtigen unionsrechtlichen Auslegungsmaßstabs ist für die Anwen- 40 dung des nationalen Rechts von größerer Bedeutung als für die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts (dazu Rn. 9 ff.), weil hier neben dogmatischen Überlegungen (vgl. Rn. 17) zusätzlich mitgliedstaatliche Souveränitätsbelange zu beachten sind. Dabei geht es aber weniger um die Auswahl des richtigen Bezugspunktes im Primärrecht, sondern vielmehr um die Ermittlung des Auslegungsmaßstabs, wenn die Anwendung sekundär- und primärrechtlicher Regelungsvorgaben in Rede steht. Damit angesprochen ist vor allem das Verhältnis von richtlinien- und unionsgrundrechtskonformer Auslegung. An Richtlinienvorgaben sind die Mitgliedstaaten umfassend gebunden, an die 41 durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Unionsgrundrechte indes ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh).112 Unionsrecht führen die Mitgliedstaaten u. a. durch, wenn die mitgliedstaatliche Judikative nationales Recht zur Umsetzung von Richtlinienvorgaben anwendet.113 Die Bindung an die Unionsgrundrechte bei der Anwendung von Umsetzungsrecht darf indes nicht das Verbot der Horizontalwirkung von Richtlinien im Privatrechtsverhältnis überspielen und den Stufenbau der Rechtsordnung missachten. Dementsprechend ist mitgliedstaatliches Umsetzungsrecht richtlinienkonform auszulegen und die jeweilige Richtlinie, die den Auslegungsmaßstab für das mitgliedstaatliche Recht bildet, ist ihrerseits unionsgrundrechtskonform auszulegen.114 Die Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts unmittelbar an den Unionsgrundrechten auszurichten bedeutete, die Richtlinienvorgaben nur noch auf die Funktion eines „Anwendungsvehikels“ für die Unionsgrundrechte zu begrenzen. Über die wirkungsmächtigeren Unionsgrundrechte, die am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teilnehmen, ließen sich im Privatrechtsverhältnis so Ergebnisse erreichen, die über Richtlinien mit einer auf richtlinienkonforme Rechtsfindung begrenzten Wirkkraft nicht zu erzielen sind. Der EuGH verfährt seit seinen Entscheidungen in Sachen Mangold und Kücükdeveci aber gleichwohl so und verlangt von den mitgliedstaatlichen Gerichten, in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fallende privatrechtliche Regelungen unangewendet zu lassen, soweit sie nicht richtlinienkonform auslegbar sind.115
112 Eingehend zur Bedeutung der Grundrechtecharta auf das Privatrecht Herresthal, ZEuP 2014, 238 ff. 113 Vgl. nur Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union (4. Aufl. 2021), Art. 51 Rn. 23 mwN. 114 A. A. Herresthal, ZEuP 2014, 238, 275 f. 115 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 78; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/ 07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 53.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
c) Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts 42 Eine primärrechtskonforme Auslegung ist von Unionsrechts wegen nur dann geboten, wenn das nationale Recht in den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts fällt.116 Deshalb ist mitgliedstaatliches Recht z. B. nur insoweit grundfreiheitenkonform auszulegen als ein (binnenmarkt-)grenzüberschreitender Bezug vorliegt. Denn auf rein innerstaatliche Sachverhalte sind die Grundfreiheiten nicht anwendbar. 43 Außerhalb seines Anwendungsbereichs kann das Primärrecht allerdings kraft nationalen Rechts bei der Auslegung zu berücksichtigen sein. Das ist zum einen dann der Fall, wenn das innerstaatliche Verfassungsrecht – wie z. B. in Österreich117 – (unionsrechtlich nicht zu beanstandende) umgekehrte Diskriminierungen verbietet. Insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz kann dann die Gerichte dazu verpflichten, von mehreren möglichen Auslegungen diejenige zu wählen, die primärrechtskonform wäre, wenn die zu interpretierende nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Primärrechts fallen würde. Insoweit handelt es sich aber nicht um primärrechtskonforme, sondern um (national-)verfassungskonforme Auslegung.118 Außerdem ist das Primärrecht bei der Auslegung zu beachten, wenn der nationale Gesetzgeber sein Recht freiwillig hieran angepasst hat oder wenn eine Norm die Orientierung am Primärrecht ausdrücklich anordnet.119, 120 Im Übrigen kann sich der Rechtsanwender von den primärrechtlichen Wertentscheidungen – etwa bei der Auslegung von Generalklauseln – inspirieren lassen.121 Da jenseits des europarechtlich determinierten Anwendungsbereichs eine unionsrechtliche Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts nicht besteht, kommt dem aus dem Primärrecht gewonnen Auslegungskriterium – anders als sonst (Rn. 52) – kein Vorrang vor den übrigen Kanones zu. Dementsprechend kann – nach Abwägung der Auslegungskriterien – auch der Deutung der Vorzug zu geben sein, die nicht primärrechtskonform wäre. Um
116 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, EU:C:1998:370 Rn. 34. 117 Vgl. VfGH, EuGRZ 1997, 362; VfGH, EuZW 2001, 219; VfGH, VfSlg 15.683/1999. 118 Vgl. z. B. OGH, SZ 71/192: Eine enge Auslegung des in § 1 Öffnungszeitengesetz gebrauchten Begriffes „für den Kleinverkauf von Waren bestimmte Betriebseinrichtungen“ ist von Verfassungs wegen geboten, um eine sich ansonsten für den Versandhandel ergebende Inländerdiskriminierung zu vermeiden. 119 Beispielsweise war in § 23 RegE-GWB eine Anordnung zur – wie es in der amtlichen Überschrift heißen sollte – europafreundlichen Anwendung vorgesehen: „Die Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts sind bei der Anwendung der §§ 1 bis 4 und 19 maßgeblich zugrunde zu legen, soweit hierzu nicht in diesem Gesetz besondere Regelungen enthalten sind.“ Ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs sollte sich diese Regelung insbesondere bei solchen Wettbewerbsbeschränkungen auswirken, die allein dem innerstaatlichen Recht unterliegen (BT-Drs. 15/3640, 47). Der Vorschlag ist nicht Gesetz geworden. 120 Vgl. zu der vergleichbaren Problematik der überschießenden Umsetzung von Richtlinien Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14. 121 Vgl. z. B. BAGE 84, 344, 359; BGH, NJW 1999, 3552, 3554; BGH, NJW 2000, 1028, 1030.
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III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts
diesen methodischen Unterschied auch terminologisch hervorzuheben, ist es ratsam, insoweit auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung zu verzichten und stattdessen – in Anlehnung an die bei der analogen Problematik der Auslegung richtlinienüberschießender Regelungen verwendete Begrifflichkeit122 – von quasi-primärrechtskonformer oder primärrechtsorientierter Auslegung zu sprechen.
2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts wird überwiegend 44 auf Art. 4 Abs. 3 EUV gestützt.123 Auch der EuGH hat in seinen Entscheidungen vereinzelt Art. 4 Abs. 3 EUV zur Begründung herangezogen.124 Das mag daran liegen, dass der Gerichtshof von einem allgemeinen Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung ausgeht,125 der neben dem Primärrecht auch sekundäres Unionsrecht als Auslegungsmaßstab für nationales Recht umfasst. In der Tat ist dann der Gedanke naheliegend, alle Spielarten der unionsrechtskonformen Auslegung (zusätzlich) auf die Loyalitätsverpflichtung als gemeinsame Basis zurückzuführen.126 Indessen bedarf es – wie auch sonst – keines Rückgriffs auf die lex generalis des Art. 4 Abs. 3 EUV, wenn sich eine andere, speziellere Legitimationsgrundlage finden lässt.127
a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben Primärrecht ist anders als die Richtlinie nicht auf Umsetzung in innerstaatliches Recht 45 angewiesen. Es ist – wenn es die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt – unmittel-
122 Vgl. Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. II, S. 915; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 123 Engisch, Einführung in das juristische Denken (12. Aufl. 2018), S. 124 f. Fn. 51; Langenbucherdies., § 1 Rn. 53; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 103; Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts (2001), S. 191; Streinz-ders., Art. 4 EUV Rn. 33; Calliess/Ruffert-Calliess/Kahl/Puttler, Art. 4 EUV Rn. 77 und 97; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Schill/Krenn, Art. 4 EUV Rn. 110. 124 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, EU:C:1994:359 Rn. 32–35; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, EU:C:2000:492 Rn. 38–40; implizit EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, EU: C:1998:370 Rn. 31–35. 125 Besonders deutlich EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU: C:2004:584 Rn. 114; GA Tizzano, Schlussanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:420 Tz. 117. 126 In diesem Sinne Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 268; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1999), S. 104; Zuleeg, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 167; v. d. Groeben/Schwarze/Hatje-Obwexer, Art. 4 EUV Rn. 117. 127 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 240–242.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
bar anwendbar. Ein Umsetzungswille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, der das Gebot primärrechtskonformer Auslegung stützen könnte, ist nicht vorhanden. Anders liegen die Dinge, wenn der Gesetzgeber – etwa infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs – innerstaatliches Recht an primärrechtliche Vorgaben anpasst. So hat beispielsweise der deutsche Gesetzgeber § 116 S. 1 Nr. 2 ZPO a. F., der nur inländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe einräumte und deshalb gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot und die Niederlassungsfreiheit verstieß,128 dahingehend geändert, dass ein solcher Anspruch auch ausländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen zusteht, die in einem anderen EG-/EWR-Mitgliedstaat gegründet und dort ansässig sind. Ein zweites Beispiel dafür, dass Primärrecht den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund einer nationalen Norm bilden kann, ist die Erfüllung grundfreiheitlicher Schutzpflichten durch den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber.129
46 Da in diesen Fällen ein Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers erkennbar ist, die
primärrechtlichen Vorgaben zu verwirklichen, könnte man die primärrechtskonforme Auslegung auf den „Umsetzungswillen“ stützen. Indessen sieht sich dieser Begründungsansatz – ebenso wie die Überlegung, den Geltungsgrund des Gebots richtlinienkonformer Auslegung nur im Umsetzungswillen des Gesetzgebers zu sehen130 – dem Einwand ausgesetzt, dass die unionsrechtliche Dimension außer Acht bleibt, obwohl sie auch nach Anpassung des nationalen Rechts den Maßstab für die Beurteilung der Primärrechtskonformität des nationalen Rechts bildet.
b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? 47 Ob sich der Systemgedanke als Legitimationsgrundlage für das Gebot primärrechtskonformer Auslegung eignet, hängt letztlich davon ab, ob Unionsrecht und nationales Recht als ein System gedacht werden können. Zweifel bestehen insoweit, als jedenfalls der EuGH annimmt, es handele sich um „zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen“.131 Das schließt freilich nicht aus, dass über eine innerstaatliche Ermächtigungsnorm die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung begründet werden könnte. Die Pflicht zur Konformauslegung wäre das Ergebnis der Öffnung der nationalen Rechtsordnung für das supranationale Unionsrecht und wür-
128 Vgl. BR-Drs. 267/04, S. 12 ff. Im Schrifttum wurde deshalb bereits vor der Änderung für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung plädiert, vgl. z. B. Heß, FS Jayme (2004), Bd. I, S. 345 Fn. 46; Rehm, in: Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2. Aufl. 2018), § 5 Rn. 137. 129 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (2002), S. 158. 130 Vgl. dazu Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 49–51. 131 Vgl. nur EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 Kledingverkoopbedriif de Geus en Uitdenbogerd, EU: C:1962:11.
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III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts
de auf nationalem (Verfassungs-)Recht – in Deutschland auf Art. 23 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG – beruhen.132 Eine Vorrangregel zugunsten der primärrechtskonformen Auslegung (vgl. Rn. 52) ließe sich dann aber nicht annehmen.
c) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität Eine tragfähige Legitimation lässt sich aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts 48 vor nationalem Recht gewinnen. Kraft des Anwendungsvorrangs sind alle innerstaatlichen Organe befugt und verpflichtet, nationales Recht, das Unionsrecht widerspricht, unangewendet zu lassen. Dann müssen sie erst recht befugt und verpflichtet sein, nationales Recht primärrechtskonform auszulegen.133 Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung ist damit eine Wirkungsform des Anwendungsvorrangs134 und findet in ihm seine Grundlage.135 Die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 3 EUV) kann damit allenfalls ergänzend zur Begründung herangezogen werden. Zudem kann man die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts mit der 49 gebotenen Rücksichtnahme der Europäischen Union und ihrer Organe auf die mitgliedstaatliche Souveränität – genauer: die Autorität des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers – begründen. Die primärrechtskonforme Auslegung vermeidet, dass der mitgliedstaatliche Gesetzgeber mit Normkorrekturen belästigt wird, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch die Gerichte erledigen können.136 Das haben die Unionsorgane zu respektieren. Gegen diesen Ansatz ließe sich einwenden, dass von Unionsrechts wegen gar kein 50 Bedarf für eine primärrechtskonforme Auslegung besteht, weil sich unmittelbar anwendbares Primärrecht im Konfliktfall gegenüber nationalem Recht ohnehin durchsetzt und dadurch dem Anwendungsvorrang Rechnung getragen wird. So gesehen könnte dem Unionsrecht nur ein Verbot primärrechtswidriger Auslegung, nicht aber ein Gebot primärrechtskonformer Auslegung entnommen werden.137 Dementsprechend wären die Ausführungen des EuGH (vgl. Rn. 38) so zu verstehen, dass er den mitgliedstaatlichen Gerichten nur die Möglichkeit der primärrechtskonformen Auslegung einräumt, sich aber allein nach nationalem Recht richtet, ob die Gerichte dazu
132 Zutreffend Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1999), S. 184 f. 133 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 213; Auer, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, S. 47. 134 Vgl. Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 19 EUV Rn. 33. 135 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 630; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 300; Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung, S. 174; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 240. 136 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 243 f.; s.a. Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 631 f.; Frank, ZöR 55 (2000), 1, 32. 137 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
auch verpflichtet sind. Für die deutschen Gerichte ergibt sich diese Pflicht aus ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Prinzip der Normerhaltung („favor legis“). Solange der semantische Entscheidungsspielraum der Norm eine primärrechtskonforme Deutung zulässt, sind die Gerichte daran gehindert, diese unangewendet zu lassen.138 51 Indessen sprechen zwei Gründe dafür, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte (auch) kraft Unionsrechts zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet sind. Erstens folgt aus dem Übermaßverbot, dass das Unionsrecht nicht mehr einfordern kann als zu seiner Durchsetzung tatsächlich erforderlich ist. Verglichen mit der Normverwerfung ist die primärrechtskonforme Auslegung das weniger einschneidende Mittel; sie verdient deshalb den Vorzug. Und zweitens ist es – gerade im Privatrecht – denkbar, dass nur die primärrechtskonforme Rechtsfindung, nicht aber die Nichtanwendung des nationalen Rechts einen Zustand herstellen kann, der den Anforderungen des Unionsrechts genügt. Dann aber liegt es auch im Interesse der Union, dass das nationale Gericht von der primärrechtskonformen Rechtsfindung Gebrauch macht.
3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre 52 Im Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien kommt der primärrechtskonformen
Auslegung Vorrang zu. Methodologisch handelt es sich bei ihr um eine interpretatorische Vorrangregel (vgl. Rn. 27). Lässt sich im nationalen Recht keine primärrechtskonforme Lösung finden, wandelt sie sich in eine derogatorische Vorrangregel, d. h. das Unionsrecht verdrängt die primärrechtswidrige nationale Norm (s. u. Rn. 60 f.). 53 Die primärrechtskonforme Auslegung stellt – wie die richtlinienkonforme Auslegung139 – einen eigenständigen Auslegungskanon dar. Das folgt schon daraus, dass die primärrechtskonforme Auslegung sich nicht in die herkömmlichen Kanones integrieren lässt. Anders als die primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Unionsrechts (Rn. 28) lässt sie sich insbesondere nicht als Erscheinungsform der systematischen Auslegung verstehen.
138 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269, der deshalb das Gebot gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung auf Art. 10 Abs. 2 EG (jetzt Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV) und auf das nationale Gebot der Normerhaltung stützt. 139 Vgl. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 79 mwN. Leible/Domröse
III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts
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4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts a) Nationales Recht des forum Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung erstreckt sich auf das gesamte mitglied- 54 staatliche Recht, das in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Es erfasst das Sach- und Kollisionsrecht. Auch Verfassungsrecht und zumindest der normative Teil von Tarifverträgen müssen im Einklang mit Primärrecht interpretiert werden. Die Frage nach der Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung steht in untrennbarem Zusammenhang mit der Frage nach der Bindungswirkung des Primärrechts. Geht man z. B. davon aus, dass Tarifvertragsparteien umfassend an die primärrechtlichen Regelungsvorgaben gebunden sind, dann ist auch der schuldrechtliche Teil von Tarifverträgen primärrechtskonform zu interpretieren.
b) Nationales Recht anderer EU-Mitgliedstaaten Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung wirkt ubiquitär, d. h. sie bezieht 55 sich nicht nur auf die lex fori, sondern auch auf das Recht anderer Mitgliedstaaten; denn der Anwendungsvorrang des Unionsrechts – auf dem das Gebot primärrechtskonformer Auslegung beruht (Rn. 48 ff.) – setzt sich auch gegenüber dem Recht anderer Mitgliedstaaten durch.140 Damit korrespondiert zur Vermeidung von Kollisionen die Pflicht der Mitgliedstaaten, das ausländische Recht bereits von vornherein primärrechtskonform zu interpretieren. Eines Rückgriffs auf Art. 4 Abs. 3 EUV bedarf es zur Begründung dieser Pflicht deshalb nicht. Darin unterscheidet sich die primärrechtskonforme von der richtlinienkonformen Auslegung, die nicht auf dem Anwendungsvorrang beruht, sondern auf der Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten (Art. 288 Abs. 3, 291 Abs. 1 AEUV).141 Die Umsetzungsverpflichtung richtet sich allerdings an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten. Deshalb bezieht sich die Pflicht der Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung immer nur auf die lex fori. Allenfalls über Art. 4 Abs. 3 EUV ließe sich begründen, dass die Gerichte auch verpflichtet sind, das Recht eines anderen Mitgliedstaats richtlinienkonform auszulegen.142 Die primärrechtskonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats 56 hat das Gericht nach den in diesem Staat maßgeblichen Methodenregeln vorzunehmen. Das schließt ggf. eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung des ausländischen Rechts ein. Lässt das ausländische Recht keinen Spielraum für eine primär
140 GA Alber, Schlussanträge v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, EU:C:2002:594 Tz. 82–84. 141 W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 3 f.; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 52–62; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 29–32. 142 Vgl. zum Ganzen Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 640 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 47; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. II, S. 878–880; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht (2003), S. 191 ff.; Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191 f.
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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
rechtskonforme Rechtsfindung, so muss es unangewendet bleiben.143 Führt auch die Nichtanwendung des ausländischen Rechts nicht zu einem primärrechtskonformen Zustand, kann es ausnahmsweise zulässig sein, auf die lex fori zurückzugreifen.
5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts 57 Der EuGH verlangt von den nationalen Gerichten, dass sie das innerstaatliche Gesetz „so weit wie möglich“144 bzw. „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen ihr nationales Recht einräumt“145 in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen. In diesem Verweis auf das nationale Recht kommt zum Ausdruck, dass der Gerichtshof die in den Mitgliedstaaten anerkannten Auslegungsmethoden respektiert. Dementsprechend variieren die methodologischen Grenzen der primärrechtskonformen Auslegung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. 58 Zu den in der deutschen Methodenlehre anerkannten Rechtsfindungsmethoden gehört auch die Rechtsfortbildung. Deshalb müssen die deutschen Gerichte ggf. auch eine gesetzesimmanente Fortbildung des nationalen Rechts in Konformität mit dem Primärrecht in Betracht ziehen. Als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung kommen insbesondere der Analogieschluss und die teleologische Reduktion in Betracht (vgl. Rn. 35).146 Beispielhaft für eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung ist § 239 Abs. 1 BGB, wonach ein zur Sicherheitsleistung Verpflichteter nur dann auf die Stellung eines Bürgen (§ 232 Abs. 2 BGB) ausweichen kann, wenn dieser seinen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland hat, also ein „tauglicher“ Bürge ist.147 In anderen EU-Mitgliedstaaten Ansässige werden dadurch an einer Erbringung der Dienstleistung „Bürgschaft“148 gehindert. Gründe, die sich zur Rechtfertigung der
143 GA Alber, Schlussanträge v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, EU:C:2002:594 Tz. 83 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 46. Zu den Folgen der Unanwendbarkeit nationalen Rechts vgl. Rn. 61. 144 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, EU:C:1994:359 Rn. 34; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, EU:C:2000:76 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, EU:C:2000:492 Rn. 39 f. 145 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, EU:C:1988:62 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, EU:C:1994:348 Rn. 29; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, EU:C:2004:161 Rn. 58. 146 Eingehend zum Gebot der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung des nationalen Rechts Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 233 ff. 147 Dazu Ehricke, EWS 1994, 259; Fuchs, RIW 1996, 280, 283 ff.; vgl. auch Reich, ZBB 2000, 177. 148 Das Stellen einer Bürgschaft weist zweifelsohne zahlreiche Dienstleistungselemente auf. Allerdings werden Bürgschaften auch in der „Nomenklatur für den Kapitalverkehr“ im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG genannt, deren Begriffsbestimmungen des Kapitalverkehrs vom EuGH auch heute
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III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts
Norm anführen lassen, sind nur in begrenztem Maße ersichtlich. Unbeachtlich ist jedenfalls der Einwand, der Gläubiger sei vor einer Vollstreckung im Ausland zu bewahren, da der Bürge leicht zu belangen sein müsse. Ein solches Vorbringen ist vom EuGH im Rahmen der zahlreichen Verfahren zur Ausländersicherheit stets mit dem Argument zurückgewiesen worden, dass mittlerweile sämtliche EU-Mitgliedstaaten zugleich Vertragsstaaten des Europäischen Gerichtsstandsund Vollstreckungsübereinkommens (EuGVÜ;149 bzw. – unter Ausnahme Dänemarks – der EuGVVO) seien.150 Nach Auffassung des Gerichtshofs sind daher „die Voraussetzungen für die Vollstreckung der Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen“.151 Daraus wird gefolgert, dass sich Regelungen wie § 239 BGB, die sich auch in den Bürgschaftsrechten einiger anderer europäischer Staaten152 finden, nicht rechtfertigen lassen, und die Vorschrift dahingehend teleologisch zu re-
noch zur Auslegung des Art. 56 EG (Art. 63 AEUV) herangezogen werden (vgl. EuGH v. 16.3.1999 – Rs. C-222/97 Trummer und Mayer, EU:C:1999:143 Rn. 21). Jedoch sagt das allein noch nichts über die Zuordnung aus. Abzustellen ist bei Maßnahmen, die sowohl die Dienstleistungs- als auch die Kapitalverkehrsfreiheit beschränken können, vielmehr auf den Charakter der Beschränkung. Die Verpflichtung zur Stellung eines „tauglichen“ Bürgen beschränkt in erster Linie die Möglichkeit ausländischer Bürgen zur Erbringung ihrer Dienstleistung „Bürgschaft“. Die mit der Verpflichtung zur Wahl inländischer Bürgen verbundene Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit tritt dahinter zurück. Mit gleichem Ergebnis etwa Baldus, JA 1996, 894, 897; Ehricke, EWS 1994, 259, 260 f.; Fuchs, RIW 1996, 280, 283 f.; OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776; Taupitz, FS Lüke (1997), S. 857 f.; OLG Düsseldorf, WiB 1996, 87; offen gelassen von OLG Koblenz, RIW 1995, 775. 149 Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968 (BGBl. 1972 II, 774) idF des 4. Beitrittsübereinkommens v. 29.11.1996 (BGBl. 1998 II, 1412). 150 Zwar erkannte der Gerichtshof an, dass „zwischen bestimmten Mitgliedstaaten tatsächlich die Gefahr [besteht], dass eine in einem Mitgliedstaat gegen Gebietsfremde ergangene Kostenentscheidung nicht oder zumindest sehr viel schwerer und unter höheren Kosten vollstreckt werden kann“ (vgl. EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-323/95 Hayes, EU:C:1997:169 Rn. 23; anders noch EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, EU:C:1994:52 Rn. 20), doch hob diese Aussage auf die seinerzeit noch unvollständige Ratifizierung des 4. Beitrittsübereinkommens zum EuGVÜ ab. Mittlerweile hat sich die Situation jedoch geändert, da nunmehr alle „Alt-EG-Mitgliedstaaten“ das 4. Beitrittsübereinkommen zum EuGVÜ ratifiziert haben und im Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten unter Ausnahme Dänemarks die EuGVVO direkt und im Verhältnis zu Dänemark über das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2005 L 299/62) gilt. Dass die Risiken einer Auslandsvollstreckung gegenüber einer reinen Inlandsvollstreckung, bei der es eines besonderen Vollstreckbarerklärungsverfahrens nicht bedarf, trotz EuGVÜ bzw. EuGVVO tatsächlich andere und durchaus höher sind, hat der Gerichtshof hingegen nie als Rechtfertigungsgrund gelten lassen (zur Kritik vgl. u. a. Mankowski, NJW 1995, 306, 308; Schack, ZZP 108 [1995], 47, 51 f.; Thümmel, EuZW 1994, 242, 244). 151 Vgl. z. B. EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, EU:C:1994:52 Rn. 20. Diese Tendenz lässt sich im Übrigen auch im Umkehrschluss aus EuGH v. 23.1.1997 – Rs. C-29/95 Pastoors und Trans-Cap, EU:C:1997:28 Rn. 21 entnehmen. Ob diese Aussage den tatsächlichen Gegebenheiten gerecht wird, erscheint freilich fraglich. 152 Vgl. etwa Art. 2018 C.civ, Art. 1828 Cc etc. und dazu Drobnig, in: Europäisches Parlament (Hrsg.), Untersuchung der Privatrechtsordnungen der EU im Hinblick auf Diskriminierungen und die Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches (1999), S. 112.
Leible/Domröse
240
§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
duzieren ist, dass ein allgemeiner Gerichtsstand innerhalb der EU genügt, unter „Inland“ also das „EU-Inland“ zu verstehen ist.153 Dass sich ein solches Ergebnis ohne gesetzgeberische Änderung des § 239 BGB in methodologisch zulässiger Weise durch eine teleologische Reduktion der Norm erzielen lässt, sollte angesichts der voranstehenden Ausführungen zu Inhalt und Reichweite der Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts außer Frage stehen.154 Zweifelhaft ist allein, ob es auch geboten ist. Das ist eine Frage der Auslegung des Unionsrechts, die einer teleologischen Reduktion vorgeschaltet ist; denn erst wenn feststeht, was das Unionsrecht überhaupt verlangt, wenn also der für die Auslegung des nationalen Rechts maßgebliche Rahmen abgesteckt ist, kann zu seiner primärrechtskonformen Auslegung übergegangen werden. Der EuGH geht zwar davon aus, dass die Voraussetzungen für die Vollstreckung von Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen sind, doch lässt sich Gleiches nicht vom Zivilprozess als solchem behaupten. EuGVÜ und EuGVVO regeln insoweit lediglich Fragen der internationalen Zuständigkeit, nicht hingegen der Verfahrensausgestaltung. Normen zur Angleichung zivilprozessualer Vorschriften finden sich im sekundären Unionsrecht nur wenige.155 Eine Klage im europäischen Ausland ist auch heute noch ein mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbundenes Unterfangen. Man wird daher, wie es das OLG Hamburg getan hat,156 immerhin verlangen können, dass Bürgen aus anderen Mitgliedstaaten der EU sich wenigstens der internationalen Zuständigkeit eines deutschen Gerichts unterwerfen.157 Eine derart umfassende teleologische Reduktion von § 239 BGB, wie sie von der wohl h. M. befürwortet wird, ist daher nicht zwingend. Wie weit die Vorgaben des Unionsrechts tatsächlich reichen, wäre freilich zunächst durch ein Vorabentscheidungsverfahren zu klären.
Vergleichbare Probleme stellen sich bei der Auslegung und Anwendung von § 108 ZPO, und zwar bei Beantwortung der Frage, ob die Gerichte in den Fällen, in denen nach den Vorschriften der ZPO die Leistung einer Sicherheit vorgesehen ist, auch Bürgschaften von in anderen EU-Mitgliedstaaten ansässigen Bürgen zulassen können oder vielleicht sogar müssen.158
153 Vgl. z. B. Soergel-Fahse, BGB (13. Aufl. 1999), § 239 BGB Rn. 4; AnwKomm-Fuchs, § 239 BGB Rn. 4; MünchKommBGB-Grothe, § 239 BGB Rn. 2; Palandt-Ellenberger, § 239 BGB Rn. 1; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 43 f.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 54; Staudinger-Repgen, § 239 BGB Rn. 3. 154 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 234 f.; a. A. jedoch Bamberger/Roth/ Hau/Poseck-Dennhardt, § 239 BGB Rn. 2; vgl. auch Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (2. Aufl. 2005), S. 214. 155 Vgl. dazu auch Leible, in: Müller-Graff (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005), S. 55 ff. 156 OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776. 157 Ebenso Fuchs, RIW 1996, 280, 289; Musielak/Voit-Foerste, ZPO (17. Aufl. 2020), § 108 ZPO Rn. 16; Reich, ZBB 2000, 177, 180; a. A. Taupitz, FS Lüke (1997), S. 860. 158 Dem und insbesondere der Frage nach der Maßgeblichkeit von § 239 BGB für § 108 ZPO ist hier nicht nachzugehen. Vgl. dazu Fuchs, RIW 1996, 280; Taupitz, FS Lüke (1997), S. 846 ff. jeweils mwN.
Leible/Domröse
241
III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts
b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? Anerkanntermaßen ist der Rechtsprechung ein contra-legem-Judizieren grundsätzlich 59 verboten.159 Ob diese Grenze für die primärrechtskonforme Fortbildung nationalen Rechts gilt, ist zweifelhaft.160 Bedenkt man, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte unionsrechtlich befugt und verpflichtet sind, nationale Normen unangewendet zu lassen, die dem Unionsrecht widersprechen, dann erscheint es folgerichtig, dass sie sich über die lex lata hinwegsetzen können. Da die Gerichte eine primärrechtswidrige nationale Norm kraft eigener Zuständigkeit unangewendet lassen müssen, ohne dass es der Durchführung eines Vorlageverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG bedarf,161 besteht keine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Normderogation, auf die Rücksicht zu nehmen wäre. Auf der Grundlage des Anwendungsvorrangs ließen sich auch die weiteren Hürden für ein zulässiges contra-legem-Judizieren – die Prinzipien der Volkssouveränität und des (subjektiven) Vertrauensschutzes162 – argumentativ überwinden. Andererseits darf nicht verkannt werden, dass die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem über den Anwendungsvorrang insoweit hinausgeht als der Richter einen Rechtssatz umbildet oder kreiert, wohingegen der Anwendungsvorrang nur bewirkt, dass ein Rechtssatz unangewendet bleibt. Hält man eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem für zulässig, wäre auch die Annahme, der EuGH respektiere die in den Mitgliedstaaten anerkannten Rechtsfindungsmethoden (vgl. Rn. 57), zu hinterfragen. Soweit das nationale Recht keinen Spielraum für eine primärrechtskonforme 60 Rechtsfindung (Auslegung und Rechtsfortbildung) lässt, muss es unangewendet bleiben.163 Anders als bei der verfassungskonformen Auslegung des nationalen Rechts bzw. der primärrechtskonformen Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts (Rn. 37) obliegt die Feststellung der Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm indes nicht dem Bundesverfassungsgericht bzw. dem EuGH, sondern dem Rechtsanwender.164 Er ist auch bei förmlichen Gesetzen verpflichtet, diese von Amts wegen unangewendet zu lassen, sofern nur so der unmittelbaren Wirkung des Primärrechts Rechnung getragen werden kann.165 Selbst das Vorlageverfahren des Art. 100 Abs. 1 GG kommt inso-
159 S. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre (3. Aufl. 1995), S. 245 ff. 160 Eingehend zu den Grenzen der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung des nationalen Rechts Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 300 ff. 161 Vgl. z. B. EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, EU:C:1978:49 Rn. 24; BVerfGE 31, 145, 174 f. 162 Eingehend Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (2. Aufl. 2005), S. 140 ff. 163 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, EU:C:1988:62 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, EU:C:1994:348 Rn. 29; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, EU: C:1994:359 Rn. 34; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, EU: C:1993:335 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, EU:C:2000:492 Rn. 39 f.; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, EU:C:2004:161 Rn. 58. 164 Näher Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts (1994), S. 100 ff. 165 Vgl. z. B. EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, EU:C:1989:256 Rn. 31.
Leible/Domröse
242
§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung
weit nicht zum Tragen.166 Zwar ist ein Vorabentscheidungsverfahren nicht ausgeschlossen, doch kann sich sein Inhalt nur auf die Ermittlung des Inhalts der als Maßstab geltenden primärrechtlichen Norm, nicht aber der Vereinbarkeit der nationalen Vorschrift mit dieser erstrecken. In der Praxis lässt sich diese Beschränkung freilich durch eine geschickte Formulierung des Vorabentscheidungsersuchens umgehen. 61 Die Unanwendbarkeit des primärrechtswidrigen nationalen Rechts hat zur Folge, dass es lückenhaft wird.167 Die durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gerissene Lücke im nationalen Recht ist allerdings in primärrechtskonformer Weise zu schließen. Ebendies hat das BAG entschieden.168 Das BAG stellte fest, dass eine Bestimmung eines Tarifvertrages mit Art. 45 AEUV unvereinbar und deshalb unanwendbar ist. Die entstandene Regelungslücke könne und müsse unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Tarifvertragsparteien geschlossen werden. Auf diese Weise gelangte das Gericht zu einer den Anforderungen des Art. 45 AEUV genügenden Lösung. Die Möglichkeit einer grundfreiheitenkonformen Auslegung der Tarifnorm hat das BAG offengelassen, da diese zu demselben Ergebnis geführt hätte. Die Entscheidung zeigt, wie der Anwendungsvorrang des Unionsrechts mitgliedstaatliche Gerichte dazu verführt, sich voreilig von ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) loszusagen und gegen das Prinzip der Normerhaltung zu verstoßen.
166 BVerfGE 31, 145, 174 f.; BVerfGE 82, 159, 181. 167 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 15. 168 BAG, DB 2005, 2248, 2249.
Leible/Domröse
Abschnitt 3 Sekundärrecht § 9 Systemdenken und Systembildung Literatur: Yehuda Adar/Pietro Sirena, Principles and Rules in the Emerging European Contract Law: From the PECL to the CESL, and Beyond, ERCL 9 (2013), 1–37; Jürgen Basedow, General Principles of European Private Law and Interest Analysis – Some Reflections in the light of Mangold and Audiolux, ERPL 24 (2016), 331–352; Christoph Busch/Christina Kopp/Mary-Rose McGuire/Martin Zimmermann, Konvergenz und Diskrepanz nationaler und europäischer Methodik – der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das äußere System des deutschen Privatrechts, GPR 2009, 150–159; Gralf-Peter Calliess, Nach der Schuldrechtsreform: Perspektiven des deutschen, europäischen und internationalen Verbrauchvertragsrechts, AcP 203 (2003), 575–602: Hugh Collins; The Freedom to Circulate Documents – Regulating Contracts in Europe, ELJ 10 (2004) 787–803; Holger Fleischer, Europäische Methodenlehre: Stand und Perspektiven, RabelsZ 75 (2011), 700–729; Stefan Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts – Gesellschafts-, Arbeits- und Schuldvertragsrecht (2000); ders., Die Struktur des Europäischen Gesellschaftsrechts von der Krise zum Boom, ZIP 2004, 2401–2412; ders., „Inter-Instrumental-Interpretation“ – Systembildung durch Auslegung im Europäischen Unionsrecht, RabelsZ 75 (2011), 882–932; ders./Wolfgang Kerber/Stephen Weatherill (Hrsg.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market (2001); ders./ Jules Stuyck, An Academic Greenpaper on European Contract Law (2002); Arthur Hartkamp, Principles of Contract Law, in: A. Hartkamp u. a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (4. Aufl. 2011), S. 239– 259; Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009); Nils Jansen, Principles of European Tort Law? Grundwertungen und Systembildung im europäischen Haftungsrecht, RabelsZ 70 (2006) 732–770; Peter Jung, Der Beitrag des Europäischen Gesellschaftsrechts zum System des Gemeinschaftsprivatrechts, GPR 2004, 233–244; Eva-Maria Kieninger, Kodifikationsidee und Europäisches Privatrecht, RW Rechtswissenschaft 3 (2012), 406–431; Sebastian Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013); Axel Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009); Karl Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003); ders., English Common Law versus German Systemdenken? Internal versus External Approaches, ULR 7 (2011), 117–130; Hannes Rösler, Aufgaben einer europäischen Rechtsmethodenlehre, Rechtstheorie 2012, 495–517; Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem – Eine Untersuchung zu den rechtsdogmatischen, rechtstheoretischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen des Systemdenkens im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2002); Jan Smits, The Europeanisation of National Legal Systems – Some Consequences for Legal Thinking in Civil Law Countries, in: Mark van Hoecke (Hrsg.), Epistemology and Methodology of Comparative Law (2004), S. 229–245; ders., A European Private Law as a Mixed Legal System – Towards a Ius Commune through the Free Movement of Legal Rules, Maastricht Journal of European and Comparative Law 5 (1998), 328–340; Tobias Tröger, Systemdenken im Europäischen Privatrecht, ZEuP 2003, 525–540.
Systematische Übersicht I. II.
Einleitung 1 Gesamtsystem 2–25 1. Zwei- bzw. Mehrebenensystem 2–12
a) b)
Phänomen 2–5 Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft 6–12 Grundmann
https://doi.org/10.1515/9783110614305-009
244
§ 9 Systemdenken und Systembildung
2.
Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell 13–18 a) Eckpunktemodell 13–15 b) Alternativmodell 16–18 3. Modell der materialen Freiheit 19–24 a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materialer Freiheit 19–20 b) Beispiele – auch allgemeine Prinzipien 21–24 4. Einführung zu den Einzelgebieten – Verantwortung des EuGH 25 III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht 26–44 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz 26–30 a) Vertragsrechtsregulierung 26–28 b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht 29–30 2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit 31–40 a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht 32–33 b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil 34–35 c) Der Beitrag des Akademischen Referenzrahmens 36 d) Wettbewerb der Formen (auch Gemeinsames Europäisches Kaufrecht)? 37–40
3.
Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells 41–44 a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells 41–42 b) Überblick zu weiteren Systemgedanken 43–44 IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht 45–69 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-) Aktiengesellschaften 45–57 a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften 45–49 b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung 50–52 c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften 53–57 2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen 58–66 a) Wettbewerb der Formen 58–59 b) Kompatibilität der Formen 60–62 c) Generalisierbarkeit? 63–66 3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells 67–69 V. Ausblick 70–71
I. Einleitung 1 Dem Herausgeber liegt das Thema „Systembildung“ am Herzen, er hat es für das Euro-
päische Vertragsrecht so durchdrungen, dass jede Diskussion nur auf der Grundlage seiner Monographie geführt werden kann.1 In der Folgezeit hat er die im Jahrzehnt zu-
1 Riesenhuber, System und Prinzipien. Eigentlich liegt darin, wenn man die Bemühung um einen Gemeinsamen Referenzrahmen beim Wort nimmt, schon weitgehend die Antwort auf die dort gestellten Grundmann
I. Einleitung
245
vor vorherrschende Umschreibung des geltenden Europäischen Privatrechts – im Sinne eines Gemeinschaftsprivatrechts – als „pointillistisch“2 feinfühlig umgewertet: Bilder des Pointillismus, etwa eines Seurat, erschließen sich erst durch Zurücktreten, doch dann als höchst kunstvolle Ensembles.3 In der Tat kann die dogmatische Durchdringung des Regelbestandes eines Gebiets, der Nachweis relativ großer Stimmigkeit, hier auch nicht ansatzweise geleistet werden (vgl. oben Fn. 1). Systembildung im Europäischen Privatrecht kann hier nur heißen: das Gesamtsystem beleuchten (unten II.) und dann zwei Teilgebiete gerade auch mit der Überlegung in den Blick nehmen, ob nicht gar über die Gebiete hinweg gemeinsame Strukturen zu sehen sind. Dafür erscheinen die beiden zentralen privatrechtlichen Organisationsformen – Vertrag und Gesellschaft –4 besonders prädestiniert (unten III. und IV.). Dies erschöpft selbstverständlich nicht alle Systemfragen, sondern konzentriert sich ganz auf die Europäische Ebene allein und hier mit einem dogmatisch auf Rechtsgebiete bezogenen, allerdings integrationspolitisch bewertenden Ansatz (näher unten Rn. 13). Unberührt gelassen werden damit etwa auf der einen Seite – abstrakter und theoretischer – Fragen der Methodik von Systembildung, auch etwa Ansätze in Logik, Epistemologie etc.5 und auf der anderen Seite – eine andere Ebene betreffend – vor allem auch Fragen zur na-
Fragen. Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003, „Ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan“, KOM(2003) 68 endg, ABl. 2003 C 63/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM (2004) 651 endg; aus stärker theoretischer Perspektive auch Adar/Sirena, ERCL 9 (2013), 1; für das zweite hier behandelte Teilgebiet, das Gesellschaftsrecht, etwa: Jung, GPR 2004, 233; in der Sache auch Grundmann, ZIP 2004, 2401; für die Kerngebiete des Privatrechts früh Grundmann (Hrsg.), Systembildung; breit, vor allem zu den „verfassungsrechtlichen“ Grundlagen, Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem. 2 Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1, 5, dort natürlich kritisch gemeint. 3 Riesenhuber, ERCL 1 (2005), 297–322. 4 Grundlegend zur Alternative zwischen diesen beiden Organisationsformen: Coase, Economica 4 (1937), 386; Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law (1991), S. 8 f.; Eidenmüller, JZ 2001, 1041, 1042; Hart, Firms, Contracts, and Financial Structure (1995), S. 6–8, 15–55. Beide schon als Hauptalternativen in den Blick genommen in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken; ausführlich zu den Querverläufen Grundmann, FS Hopt (2010), S. 45. Zum Deliktsrecht als einem weiteren Kerngebiet etwa Jansen, RabelsZ 70 (2006), 732. 5 Vgl. hierzu etwa Canaris, Systemdenken und Systembildung in der Jurisprudenz – entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts (1969, 2. Aufl. 1983) (sehr direkt etwa auch auf die Jurisprudenz des EuGH im Europäischen Privatrecht übertagbar); oder auch – völlig anders und systemtheoretisch inspiriert – Teubner, Recht als autopoetisches System (1989); allgemeiner Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts; und transdisziplinär, vor allem im Diskurs mit der philosophischen Logik oder politikwissenschaftlichen und staatsphilosophischen Ansätzen: Joerden, Logik im Recht – Grundlagen und Anwendungsbeispiele (3. Aufl. 2018); Weinberger, Normenlogik anwendbar im Recht, in: Logique et Analyse – Nouvelle Série 13 (1970), 93–106; Grimmel, Rationalität im Kontext des europäischen Rechts, in: ders., Europäische Integration im Kontext des Rechts (2013), S. 223.
Grundmann
246
§ 9 Systemdenken und Systembildung
tionalen Rechtsordnung, also solche nach der Rückwirkung Europäischer Einflüsse auf das äußere und innere System der nationalen Rechte, in denen die Umsetzung zu erfolgen hat und die nur peripher angesprochen werden.6
II. Gesamtsystem 1. Zwei- bzw. Mehrebenensystem a) Phänomen 2 Geht man vom äußeren System aus, so fällt zunächst auf, dass auch in den stark har-
monisierten oder vereinheitlichten Gebieten zentrale und dezentrale (d. h. idR nationale) Regelungsteile nebeneinander treten und eng mit einander verwoben sind. Dafür hat sich der Begriff eines Zweiebenensystems eingebürgert, obwohl natürlich die Wahl nicht nur zwischen zentral und dezentral gesetzten Regelungskomplexen eröffnet sein kann, sondern zwischen verschiedenen dezentral gesetzten Regelwerken und auch Kombinationen derselben (etwa Ltd. & Co. KG). Ein Zwei- oder Mehrebenensystem in diesem Sinne findet sich sicherlich in den Fällen des Vertrags- und des Gesellschaftsrechts (mit Kapitalmarktrecht).7 3 Zwei- bzw. Mehrebenensysteme gibt es nicht nur in Europa, das Zwei- und Mehrebenensystem in Europa ist freilich doch von eigener Art. Charakteristisch ist hier, dass die Regeln, die auf zentraler Ebene gesetzt wurden, nicht ein Rechtsgebiet (weitgehend) erschöpfen, die Regeln, die auf dezentraler Ebene gesetzt wurden, dann ein anderes. Vielmehr wirken beide Ebenen regelmäßig auch in den einzelnen Fragen je
6 Vgl. allerdings unten Rn. 29 f. sowie Beiträge unten §§ 22–25; hierzu etwa Busch/Kopp/McGuire/Zimmermann, GPR 2009, 150 (Transformation des äußeren Systems nationalen, vor allem kodifizierten Privatrechts durch EU-Einflüsse); Calliess, AcP 203 (2003), 575 (Schaffung eines ganz neuen, vielschichtigen und komplexen Verbraucherschutzrahmens innerhalb der Bürgerlichen Rechte); Kieninger, RW Rechtswissenschaft 3 (2012), 406 (zur Rückwirkung auf die Kodifikationsidee als solche); Smits, in: van Hoecke (Hrsg.), Epistemology and Methodology of Comparative Law (2004), S. 229 (allgemeiner zur Transformation privatrechtsystematischen Denkens in den Mitgliedstaaten); Teubner, Legal Irritants: Good Faith in British Law or How Unifying Law Ends Up in New Differences, (1998) 61 Modern Law Review 11 (zur Gefahr von Dysfunktionalität von Harmonisierungsvorgaben für nationales Vertrags- und Privatrecht). 7 Zum Europäischen Kapitalmarktrecht vgl. Beitrag von Kalss, in diesem Band, § 18. Eine Ausnahme bildet nur das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das von Anbeginn an für so wichtig gehalten wurde, dass es vor allem Europäisch verfasst sein sollte, und das angesichts der de facto-Angleichung auch der nationalen Wettbewerbsrechte, wo sie noch Anwendung finden, in der Tat vor allem Europäisch ist. Für diesen letzten Schritt in Deutschland, vgl. vor allem die 7. GWB-Novelle, 2005; dazu etwa Bechtold, DB 2004, 235; Kahlenberg, BB 2004, 389. Inzwischen 9. GWB-Novelle (zum Ordnungsrahmen für die digitalisierte Wirtschaft), vgl. BGBl. 2017 I, S. 1416 (und auch für die 10. Novelle liegt bereits ein Referentenentwurf vor: https://www.brak.de/w/files/newsletter_archiv/berlin/2020/2020_024anlage. pdf).
Grundmann
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II. Gesamtsystem
weils zusammen, etwa, wenn die Hauptversammlungszuständigkeit, wie häufig, in der Richtlinie vorgesehen wird, die Mehrheit aber im nationalen Recht, vielleicht wiederum mit einer Minimumregel in der Richtlinie, oder etwa, wenn das Bestehen eines Rückgriffrechts in der Absatzkette in der Richtlinie vorgesehen wird, seine Abdingbarkeit jedoch und mögliche Ersatzinstrumente dem nationalen Recht überlassen werden, oder auch, wenn die Einbeziehung von AGB den nationalen Rechten überantwortet wird, das Zentralkriterium für die Inhaltskontrolle in der Richtlinie zu finden ist, und der detaillierte Katalog missbräuchlicher Klauseln dann in der Richtlinie als evtl. unverbindlicher „Hinweis“ formuliert wird, die Festlegung dann wieder dem nationalen Recht überlassen wird. Selbst in detailliert harmonisierten Fragen hat die EuGHRechtsprechung einen Rekurs auf nationale Ausnahmetatbestände auf Grund von Instituten wie dem (Verbot des) Rechtsmissbrauch(s) zugelassen, wenn damit nicht die Zielsetzung und Vereinheitlichungswirkung der Richtlinienregelung gefährdet bzw. konterkariert wird.8 Und genereller ist auf die regelmäßig bestehende Möglichkeit der Mitgliedstaaten hinzuweisen, strengeres Recht im Anwendungsbereich und sogar in den Regelungsfragen der Richtlinie zu erlassen. Das Bild ist durchaus anders als etwa in den USA, in denen ebenfalls ein Zweiebe- 4 nensystem zu finden ist. Der Uniform Commercial Code (UCC) als Modellgesetz ist doch immer eine Materie für nur eine Art Vertragsbeziehung – b2b – geblieben und stellt für diese inzwischen flächendeckend auch das Gliedstaatenrecht dar.9 Und im Gesellschaftsrecht ist praktisch nur das Kapitalmarktrecht auf zentraler, d. h. Bundesebene geregelt, lange Zeit – und vielleicht auch noch heute – erschöpfender als in Europa, wo sich freilich ebenfalls gerade das Kapitalmarktrecht immer mehr verdichtet hat. In den USA ist das Gesellschaftsrecht hingegen nicht teilharmonisiert wie in Europa. Das Europäische Verschränkungsmodell ist sicherlich komplexer, zumindest 5 theoretisch hat es jedoch auch Vorteile. Insbesondere erlaubt es, auch innerhalb einzelner Rechtsgebiete danach zu unterscheiden, bei welchen Regeln eine zentrale Setzung vorteilhafter ist, bei welchen eine dezentrale, also die Erkenntnisse der Föderalismustheorie („Wettbewerb der Regelgeber“) auch wirklich ernst zu nehmen.10
8 Für das Vertragsrecht: EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner ./. Krüger, EU:C:2009:502; für das Gesellschaftsrecht: EuGH v. 16.12.1997 – Rs. C-104/96 Coöperatieve Rabobank „Vecht en Plassengebied“ ./. Minderhoud, EU:C:1997:610. 9 Garner (Hrsg.), Blacks Law Dictionary (11. Aufl. 2019), Stichwort: Uniform Commercial Code, und bereits Mentschikoff, RabelsZ 30 (1966), 403. 10 Esty/Geradin, J. Int’l Econ. L. 2000, 235, 240 f.; Gatsios/Holmes, in: Newman (Hrsg.), The new Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 1 (1. Aufl. 2002, 3. Auflage 2018), S. 273–275; Hauser/ Hösli, Außenwirtschaft 46 (1991), 497; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 84–87 (in Englisch Kerber, Fordham Int’l LJ 2000, 217); Siebert/Koop, Außenwirtschaft 45 (1990), 439; Woolcock, in: Bratton/McCahery/Picciotto/Scott (Hrsg.), International Regulatory Competition and Coordination (1996), S. 298 f. Vgl. zuletzt für weitere Spezifika speziell des Europäischen Privatrechts bei der
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b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft 6 Dass Vor- und Nachteile von zentraler und dezentraler Regelsetzung von Rechtsgebiet
zu Rechtsgebiet divergieren, ist eine Selbstverständlichkeit. Natürlich sind die Vorteile zentraler Regelsetzung im Vertragsrecht ungleich eingängiger als etwa im Familienrecht. Umgekehrt sind die Nachteile zentraler Regelsetzung, wenn eine solche etwa in der Versteinerungsgefahr gesehen wird, offensichtlich größer in Rechtsgebieten, in denen zwingendes Recht vorherrscht, als in solchen, in denen das nicht der Fall ist. 7 Wie bereits ausführlich dargelegt, ist jedoch m. E. Gleiches innerhalb der Rechtsgebiete zu konstatieren.11 Und selbstverständlich wirken faktische Umstände bei der Bewertung mit, etwa die Frage, welche Professionalität die Entscheidungsträger haben und wer konkret die Entscheidungsträger sind, nach Meinung mancher auch, ob denn die jeweiligen Gesetzgeber durch Wahl ihres Rechts Steuereinkünfte generieren können oder nicht.12 Hingegen handelt es sich bei der Frage, ob Rechtswahlfreiheit besteht,13 nicht um einen die Bewertung beeinflussenden Umstand. Vielmehr ist Einräumung von Rechtswahlfreiheit ein Mittel zur Förderung dezentraler Regelsetzung, mit Einräumung einer solchen wird also eine Antwort auf die Ausgangs- und Hauptfrage gegeben. Wichtig ist jedoch, dass innerhalb jedes Rechtsgebiets die Vorteile oder die Nachteile zentraler Regelung für einen Teil der Regeln überwiegen und für einen anderen Teil geringer wiegen können und auch die Gesamtabwägung von Regel zu Regel desselben Rechtsgebiets verschieden ausfallen kann. 8 Die Folge ist, dass etwa im Vertragsrecht für manche Regeln eine Harmonisierung zu begrüßen ist, für andere nicht. Und exakt dies entspricht bekanntlich der derzeitigen Praxis. Die Entscheidung zugunsten von Harmonisierung oder zuungunsten mag im Einzelfall verkehrt getroffen worden sein. Der Systemansatz ist jedoch zunächst einmal überzeugend (sieht man hier noch von Schwierigkeiten des Zusammenspiels beider Ebenen ab, die jedoch im bestehenden Unionsrecht durchaus auch bedacht werden, vgl. unten, Rn. 29 f.). 9 Vergleichbares wäre zu entscheiden gewesen, wäre ein Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex erlassen worden. In solch einem Fall stellt sich nicht nur die Fra
Konzeption von Normen zwischen verschiedenen Ebenen: Grundmann/Grochowski, Creation of Norms – an Evolutionary View on European Contract Law, in: Grundmann/Grochowski (Hrsg.), European Contract Law and the Creation of Norms (2021), S. 1. 11 Für das Vertragsrecht: Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; für das Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht: Grundmann, in: Ferrarini u. a. (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro (2002), S. 561 = Grundmann, ZGR 2001, 783; breite Untersuchung für das Vertragsrecht bei Eidenmüller (Hrsg.), Regulatory Competition in Contract Law (2013). 12 Merkt, RabelsZ 59 (1995), 543, 553 f.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 88 f. Für Delaware wird dies als maßgeblicher Systembaustein in den USA implizit oder explizit recht allgemein angenommen: bahnbrechend Winter, J. Leg. Stud. 6 (1977), 251; Romano, J. L. Econ. & Org. 1 (1985), 225. 13 Bekanntlich lange Zeit im Europäischen Gesellschaftsrecht als gering eingestuft, vgl. Nachw. Fn. 12; a. A. Grundmann, ZGR 2001, 783, 808 ff., 819 ff., 828 ff.; umfangreiche Studien dann von Eidenmüller, ZGR 2007, 168; ders., FS Heldrich (2005), S. 581.
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ge, ob opt-in oder opt-out für die eine oder andere Regelgruppe oder Konstellation vorzugswürdig ist, sondern auch die Frage, ob manche Regelgruppen einheitlich sein müssen – im Europäischen Kodex ebenso wie in den wahlweise zur Verfügung stehenden Mitgliedstaatsrechten („Europe only“) – oder ob eine Regel auf zentraler Ebene eben nur im Europäischen Kodex zu finden ist, nicht auch in den alternativ zur Wahl stehenden Mitgliedstaatsrechten.14 Die wichtigsten Regelungsgruppen im Vertragsrecht, die unterschiedlich zu be- 10 werten sind, sind m. E.: dispositive Normen, zwingende inhaltsgestaltende Normen und – zwischen beiden – zwingende, jedoch nur die Informationsweitergabe anordnende Normen (vgl. Nachw. Fn. 14). Während es offensichtlich erscheint, dass eine Vielzahl anderer Präferenzen und Experimentiermöglichkeiten bei zentraler Setzung von zwingenden inhaltsgestaltenden Normen ungleich stärker beschränkt werden als bei zentraler Setzung von dispositiven Normen, verdient die zentrale Setzung von zwingenden Informationsregeln eine besondere Bewertung: Hier ist die zentrale Setzung nicht so schädlich wie bei inhaltlich zwingenden Regeln, weil die Gestaltungsvielfalt im Inhaltlichen erhalten bleibt (und damit die Möglichkeit, heterogene Präferenzen zu bedienen und zu experimentieren); umgekehrt sind die Vorteile zentraler Setzung hier besonders groß, da diese u. a. auch in der Erleichterung der Information gesehen werden und hierfür ist Vergleichbarkeit – also die Setzung einheitlicher Standards – besonders wichtig. Das Kollisionsrecht bildet in dieser Sicht eine Rahmenordnung – eine Verfas- 11 sung –, mit der darüber entschieden wird, ob und in welchem Maße Privatrechtssubjekte einem einzigen Recht unterworfen werden oder Wahlfreiheiten haben. Freilich mag auch bei Wahlfreiheit beispielsweise ein Mindestsockel allgemein verbindlich sein, also Wahlfreiheit mit Zwang zu einem Recht verbunden sein. Noch weiter ginge eine Anerkennung aller Mitgliedstaatenrechte auf der Grund- 12 lage gegenseitigen (praktisch) unbegrenzten Vertrauens. Dies ist weitgehend der Zustand im U. S.-amerikanischen Gesellschafts- und auch Vertragsrecht. Die bisherigen Überlegungen sind jedoch geeignet, Zweifel zu säen, ob dies denn tatsächlich eine überlegene Lösung darstellen würde. Die Vorteile zentraler Regelsetzung könnten dann nämlich nicht mehr bewusst mit den Vorteilen von miteinander konkurrierenden Einzelrechten kombiniert werden. Gerade Letzteres scheint der interessante Punkt am Europäischen Systemansatz, der es verdient, intensiv ins Kalkül einbezogen zu werden.
14 Zu diesen Möglichkeiten: Basedow, ZEuP 2004, 1; Gomez, ERCL 4 (2008), 89; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; Müller, EuZW 2003, 683; Sinai, EBLR 2004, 47. Zum gesondert zu sehenden und für die EU zunehmend wichtigen sog. vertikalen Wettbewerb der Rechtsordnungen, in dem zentrale und dezentrale Regelsetzung als alternativ wählbare „konkurrierende“ Regelwerke aufeinander treffen, vgl. gleich noch Nachw. in Fn. 18. Grundmann
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2. Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell a) Eckpunktemodell 13 Das zum Zwei- bzw. Mehrebenensystem Gesagte legitimiert offensichtlich eine Lösung, in der auf zentraler Ebene nur Einzelfragen geregelt werden und zwar in jedem Rechtsgebiet bei gleichzeitiger Präsenz auch dezentraler Regelungen und Regelungsfelder. Dies kann mit dem Begriff eines Eckpunktemodells auf zentraler Ebene umschrieben werden. Verbreitet ist freilich für das Unionsprivatrecht auch die Sicht, dass zwar in der Tat nur einzelne Punkte auf zentraler Ebene geregelt wurden, deren Auswahl jedoch nicht oder nur zufällig einer sinnvollen Strategie folgen. Ob diese Sicht zutrifft oder eine sinnvolle Auswahl an Eckpunkten getroffen wurde, kann – je nach Ansatzpunkt – eigentlich nur für jeden Rechtsakt oder gar jede Norm konkret diskutiert werden. Jedenfalls muss für eine einigermaßen konkrete Antwort auf die Ebene je eines einzelnen Rechtsgebiets heruntergestiegen werden (vgl. daher unten Rn. 26 ff. und 45 ff.). Und selbst dann sind durchaus unterschiedliche Antworten möglich: Man kann wiederkehrende Leitlinien herausarbeiten und darin dann legitimer Weise System erkennen; unabhängig davon bleibt jedoch die Zuspitzung auf die (durchaus noch anders gelagerte) Frage interessant, ob denn gezielt jeweils in den Punkten harmonisiert wird, in denen sich zentrale Regelsetzung (nach den Erkenntnissen der Föderalismustheorie) besonders anbietet. Auch dann ist von System zu sprechen. 14 An dieser Stelle kann zunächst nur betont werden, dass Riesenhuber jedenfalls für das Vertragsrecht m. E. das nahezu flächendeckende Wiederkehren von Leitlinien, Modellen und Prinzipien eindrucksvoll belegt hat.15 Zugleich kann auch schon als Quintessenz vorweggenommen werden, dass m. E. in der Tat eine durchaus bewusste Verteilung zwischen zentraler und dezentraler Regelsetzung zu beobachten ist, die zudem zu einem Gutteil auch der Idee optimaler Nutzung von Vorteilen und Meidung von Nachteilen folgt. 15 Weiter muss an dieser Stelle bereits allgemeiner betont werden, dass die Frage, wann Zentralität der Regelsetzung funktional wichtig ist, auch im EG- und EU-Vertragswerk den zentralen Ausgangspunkt von Anfang an bildete und noch heute bildet. Dies ist jedenfalls auf der Primärrechtsebene so, denn diese Frage bildet das maßgebliche Kriterium für die Zuordnung von Kompetenzen sowohl in Art. 116 AEUV (Binnenmarktkompetenz) als auch in Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV jeweils i. V. m. Art. 5 EUV. Und dies sind die Kompetenzgrundlagen, auf denen das Europäische Vertragsrecht, Gesellschaftsrecht und Kapitalmarktrecht, jedenfalls die Harmonisierung, ausschließlich gründet. Abgestellt wird in allen Kompetenzgrundlagen darauf, dass zen
15 Riesenhuber, System und Prinzipien; später alternative Sicht der sog. Acquis-Gruppe: Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group) (Hrsg.), Principles of the Existing EC Contract Law (Acquis Principles) (2009). Grundmann
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trale Regelsetzung Skalenerträge aufgrund Vergrößerung der geographischen Betätigungsgebiete fördert und dies in spürbar effizienterer Weise, als dies durch dezentrale Regelsetzung möglich wäre.
b) Alternativmodell Zunehmend findet sich im Europäischen Recht ein Alternativmodell zum nationalen 16 Recht. Zwei Formen sind zu beobachten (zur Durchführung im Vertrags- und Gesellschaftsrecht dann unten Rn. 32 ff. und 58 ff.). Zunächst sind dies die Komplexe des Unionsprivatrechts, die parallele Rechtsfor- 17 men oder Regelwerke bereitstellen. Als erstes wurde an eine Europäische Aktiengesellschaft gedacht, damals in der Tat als voll ausformuliertes Modell.16 Bekanntlich ist die verabschiedete Fassung jedoch nur in Fragen der Gründung weitgehend vollständig, während sonstige Fragen weit überwiegend durch Verweis auf das Sitzstaatrecht geregelt werden und nur einige Eckpunkte wirklich Europäisch festgelegt wurden.17 Deswegen wird die Societas Europaea (SE) vor allem als Instrument der (zweifelsfreien Durchführung einer) grenzüberschreitenden Sitzverlegung und Fusion gesehen, weniger als echtes Alternativmodell. Deutlich dichter ist die Europäische Regelung noch bei der Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), die freilich kaum Bedeutung erlangte und bei der man ebenfalls nicht ganz ohne Verweis auskam. Ein wirklich vollständiges Regelwerk wurde dann jedoch für einen optionalen Vertragsrechtskodex gefordert – der allerdings nicht eingeführt wurde. Und all dies ist und wäre durchaus anders als etwa aus dem U. S.-amerikanischen Recht bekannt. Es geht hier gerade nicht um Modellgesetze, die, wie etwa beim UCC, ein (Mit-)Gliedstaat übernehmen kann oder nicht. Das Wahlrecht liegt bei den Parteien, die Wahlfreiheit wird kraft Europäischen Rechts begründet und zielt dann (auch) auf
16 Vorschlag einer Verordnung des Rates für das Statut für Europäische Aktiengesellschaften v. 30.6.1970, KOM(70) 600 endg, ABl. 1970 C 124/1; letztlich – viel später und „schlanker“ – verabschiedet als Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 L 294/1, zuletzt geändert durch: Verordnung (EU) Nr. 517/2013, ABl. 2013 L 158/1; vgl. nächste Fn.; zum Ursprungsvorschlag: Stellungnahmen des Europäischen Parlaments (ABl. 1974 C 93/22) und des Wirtschafts- und Sozialausschuss (ABl. 1972 C 131/32); ausf. zu diesem frühen Stadium: Lutter (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (1976). Angestoßen durch Sanders, AWD 1960, 1 (auch verantwortlich für den Entwurf); Thibièrge, in: Congrès des Notaires de France (Hrsg.), Le statut de l’étranger et le Marché Commun (1959), S. 270 ff., 360 ff.; E. Ulmer, Wege zu europäischer Rechtseinheit (1960), Münchener Universitätsreden N.F. 26, 12. 17 Vor allem die Hauptversammlungskompetenz bei Satzungsänderungen und das Wahlrecht der Gesellschaft, das Leitungsorgan ein- oder zweistufig auszubilden. Zur Societas Europaea vgl. etwa Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 29; Hirte, NZG 2002, 1; Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft (2. Aufl. 2014); Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar (2. Auflage 2015); Neye (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (2005); Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (2. Aufl. 2005).
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ein europaweit geltendes Regelwerk. Unterschiede im Ergebnis verbleiben freilich nur, wenn dem Regelwerk auch für den Inlandsfall Anwendbarkeit verliehen wird.18 Denn im grenzüberschreitenden Fall – in den USA im interstate-Fall – können Parteien auch ein Modellgesetz, das der einzelne (Mit-)Gliedstaat nicht übernommen hat, kraft Rechtswahl (kollisionsrechtlicher Parteiautonomie) zur Anwendung bringen; dies ist auch der Fall, wenn der Fall primär Bezüge zum fraglichen Gliedstaat haben sollte. 18 Bei der zweiten Form ist der Einfluss des Unionsrechts ein anderer, stärker vermittelt. Hier eröffnet das Unionsrecht nur ein Wahlrecht. Grundlage sind die Grundfreiheiten. Für das Gesellschaftsrecht bedeutete dies eine Revolution.19 Die Wahlfreiheit zielt dann jedoch auf ein Regelwerk nicht Europäischen Ursprungs, sondern in einem anderen Mitgliedstaat, etwa englisches Recht der Private Limited Company (Ltd.) oder in Zukunft potentiell einer anderen vorherrschend gewählten Gesellschafstform nach einem Mitgliedstaatenrecht. Und dies ist in der Wirkung etwa der full faith and credit clause sowie der commerce clause im U. S.-amerikanischen Verfassungs-, Handelsund Gesellschaftsrecht20 doch sehr weitgehend vergleichbar. Der Unterschied liegt vor allem darin, dass der jeweilige Mitgliedstaat auf Grund des Vorbehalts zwingender Gründe des Allgemeininteresses wohl doch noch (etwas) weitergehend die Möglichkeit hat, berechtigten Schutzinteressen, für die er sich einsetzt, die jedoch (noch) nicht auf zentraler Ebene geschützt werden, zum Durchbruch zu verhelfen.21
3. Modell der materialen Freiheit a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materialer Freiheit 19 Inhaltlich bildet das allgemeingültigste Systemprinzip im gesamten Europäischen Pri-
vatrecht wohl das, dass danach gestrebt wird, materiale – nicht nur formale – Freiheit möglichst weitgehend zu verbürgen. Damit steht das Europäische Privatrecht zwi-
18 Zu diesen Fragen für den Entwurf eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts (GEK) – bekanntlich sieht dieses kraft Europäischer Anordnung eine Anwendung zwingend nur für den grenzüberschreitenden Kauf vor, lässt aber eine Erstreckung auf Inlandsfälle durch das nationale Recht zu – vgl. statt aller Stadler, Anwendungsvoraussetzungen und Anwendungsbereich des Common European Sales Law, AcP 212 (2012), 473–501; für die Auswirkungen auf den damit intendierten sog. vertikalen Wettbewerb der Regelgeber: Grundmann, Kosten und Nutzen eines optionalen Europäischen Kaufrechts, AcP 212 (2012), 502–544. 19 Maßgeblich sind: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, EU:C:1999:126; EuGH v. 5.11. 2002 – Rs. C-208/00 Überseering, EU:C:2002:632; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, EU:C:2003:512; EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 Sevic, EU:C:2005:762; EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, EU:C:2008:723; EuGH v. 2.7.2012 – Rs. C-378/10 Vale, EU:C:2012:440; EuGH v. 25.10.2017 – C-106/16 Polbud, EU:C:2017:804. 20 Zu diesen Schapiro/Buzbee, Cornell L. Rev. 88 (2003), 1199; Hay, RabelsZ 35 (1971), 429, 485–489. 21 Grundmann, ZGR 2001, 783, 802–805. Grundmann
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schen einem neoliberalen Grundansatz, soweit dieser freiheitserhaltende Regeln für weitgehend überflüssig hält, und interventionistischen Ansätzen, die verstärkt auf inhaltlich zwingende Vorgaben setzen. Grundidee hierbei ist, dass vor allem Informationsungleichgewichte ausgeglichen werden … dann aber die Verarbeitung und Nutzung der Information den Betroffenen überlassen wird. Zentrales Instrument sind daher die Informationsregeln (näher unten Rn. 41 ff. und 67 ff.), auch wenn dies vielleicht zunehmend auch kritisch oder als teils reformbedürftig gesehen wird. Dieses Modell bedeutet mehrerlei: Dass das Modell auch Verlierer haben kann, wobei jedoch zu zeigen sein wird, dass Grenzen bei existentiellen Verlusten gezogen werden müssen und wurden (vgl. unten Beispiele Rn. 21 ff.); dass das Modell im Grundsatz durchaus auf Eigenverantwortung setzt und damit Chancen bei denen (auch etwa Verbrauchern) mehrt, die sich dem stellen; und dass das Modell sicherlich einem institutionenökonomischen Regulierungsansatz nahe steht, der – pragmatisch – sich nicht darauf beschränkt, die jeweils bestehenden Institutionen zu kritisieren, sondern auch als Voraussetzung für eine Änderung postuliert, dass eine bessere Alternative aufgezeigt wird, und der zugleich regulierende Eingriffe an mehrere Bedingungen knüpft, namentlich: dass Versagen oder suboptimale Wirkung des Marktmechanismus nachgewiesen sein müssen; und dass zugleich aufgezeigt werden muss, dass Regulierung wohl bessere Ergebnisse zeitigen wird als das Hinnehmen des suboptimalen Marktprozesses, mit anderen Worten: Dass auch ein gutes Mittel der Regulierung mit genügend Sicherheit angenommen werden kann (trotz all der Probleme von Regulierung wie rent seeking oder Wissensproblemen beim Regulierer). Mit all dem wird auch der Aussage eine Absage erteilt, Europäisches Privatrecht 20 sei systematisch überreguliert.22 Auch heute ist vor allem die Vertragsfreiheit als Ausgangspunkt nicht wirklich in Frage gestellt, obwohl in der legislativen Praxis nicht mehr ein formaler Freiheitsbegriff zugrunde gelegt wird und dieser auch konzeptionell zu Recht kritisiert wird. Dies gilt gerade auch für das Europäische Vertragsrecht. Zu Recht: (1) Das Subsidiaritätsprinzip, radikal verstanden, gibt Entscheidungsmacht primär den Betroffenen selbst – den Vertragsparteien oder den Gesellschaftern oder anderen stakeholdern –, zumindest, wenn diese die Entscheidungen sinnvoll treffen können und damit Dritte nicht belasten. Daher muss der Gesetzgeber zuvörderst versuchen, die Voraussetzungen für solches Handeln der Parteien herzustellen, und kann nur, falls dies nicht möglich ist, paternalistisch mit inhaltlich zwingendem Recht – oder mit sonstigen Anreizsetzungen – einschreiten bzw. einwirken und in
22 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 511; vgl. auch Canaris, AcP 200 (2000), 276. Zum immer wieder angenommenen Niedergang der Vertragsfreiheit: Atiyah, The Rise and Fall of the Freedom of Contract (1979); vgl. auch Buckley (Hrsg.), The Fall and Rise of Freedom of Contract (1999). Zur Kritik an einer jüngst vielleicht zu beobachtenden Tendenz in Richtung unhinterfragter, geradezu „logisch“ zwingender Zunahme an Verbraucherschutz vgl. (bezogen auf die letzten Initiativen/Vorschläge zum Vertragsrecht): Grundmann, Die EU-Verbraucherrechte-Richtlinie – Optimierung, Alternative oder Sackgasse? JZ 2013, 53. Grundmann
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letzter Konsequenz so weit gehen, auch seine Entscheidung an die Stelle derjenigen der Parteien zu setzen. (2) Gesetzgeber sind keineswegs fähig, die große Bandbreite heterogener Präferenzen zu erkennen. Zentralistisches Planen hat sich im Praxistest als deutlich suboptimal erwiesen. Wettbewerb – vor allem Vertragsfreiheit – bildet offenbar in der Tat das mächtigste Entdeckungsverfahren.23 Die eigentliche Frage ist nicht, ob Vertragsfreiheit den Ausgangspunkt bildet und bilden soll, sondern, wie formal diese gefasst werden darf und wie viel Materialisierung nötig ist, akzeptabel ist und gerechtfertigt werden kann. Vergleichbares gilt im Gesellschaftsrecht.
b) Beispiele – auch allgemeine Prinzipien 21 Der angedeutete Mittelweg zeigt sich vielleicht besonders plastisch an Beispielen. Diese sind Legion. Da das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen so offensichtlich der Idee einer materialen Freiheit, d. h. einer Freiheit, die durch eine Marktordnung zu schützen ist, verpflichtet ist,24 und da die Fragen im Gesellschaftsrecht auf Grund der Vielzahl von betroffenen Interessen besonders komplex sind, sollen zwei Beispiele aus den beiden sonst wohl prominentesten Gebieten im Vordergrund stehen: aus dem Recht gegen unlauteren Wettbewerb und aus dem Vertragsrecht. 22 Im Recht gegen unlauteren Wettbewerb ist wohl kein Konzept so bekannt geworden und doch auch umstritten wie das Konzept des sog. „informierten“ Verbrauchers. Der EuGH entwickelte es zuerst im Grundfreiheitenbereich, vor allem in Cassis de Dijon,25 und rechtfertigte damit den Vorrang von Informationsregeln, wann immer sie Marktversagen ausräumen können. Er wandte es dann auch auf die Werberichtlinie an:26 Ob Werbung irreführend ist, beurteilt sich nach dem Empfängerhorizont des
23 v. Hayek, in: ders. (Hrsg.), Freiburger Studien – Gesammelte Aufsätze (2. Aufl. 1994), S. 249; früh angelegt in v. Hayek, The Use of Knowledge in Society, 35 Am. Econ. Rev. 519–530 (1945) – ein Manifest der freien Marktwirtschaft; Diskussion (mit Kontext und Entwicklung) in: Grundmann, in: Grundmann/ Micklitz/Renner, New Private Law Theory – A Pluralist Approach, 2020, chap. 12. 24 Grundlegend schon W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik (7. Aufl. 2004), S. 278 (1. Aufl. 1952, S. 241 ff.). 25 EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, EU:C:1979:42 Rn. 13 – Cassis de Dijon. 26 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung, ABl. 1984 L 250/17; geändert durch Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997, ABl. 1997 L 290/18 (seitdem auch vergleichende Werbung) neu kodifiziert durch Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. 2006 L 376/21 und Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2005 (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22; vgl. EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Estée Lauder, EU:C:1994:34 LS 2 und Rn. 18–21; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, EU:C:1999:30 LS 1 und 2; krit. zum Konzept des „informierten“ Verbrauchers etwa: Weatherill, ERPL 3 (1995), 307, 312–318. Zu den neueren Entwicklungen, den Ausdifferenzierungen, die angedacht werden, aber auch einem Ruf nach Einfachheit, die beiden Sammelbände von Leszykiewicz/Weatherill (Hrsg.), The Images of the
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„hinreichend informierten“ Verbrauchers („reasonably well-informed consumer“). Sehr zentral ging es um vergleichende Werbung. Will man sie untersagen – weil einige Verbraucher keine „hinreichende“ Sorgfalt aufbringen –, schließt man damit auch einen der Hauptinformationskanäle für alle anderen aus (wir nehmen Werbung wahr, lesen aber keine Instruktionen) und zudem ein wichtiges Instrument des Markteintritts für Neuankömmlinge. Ein Verbot wirkt also potentiell schädlich in informationeller und wettbewerblicher Hinsicht. Zentral ist also, dass jeder – auch der informierte Verbraucher – die Chance hat, seine Interessen einbezogen zu sehen. Drexl hat zu Recht herausgearbeitet, dass es bei diesen Fragen nicht nur und nicht einmal primär um den Interessenwiderstreit zwischen Unternehmen und (uninformierten) Verbrauchern geht, sondern auch zwischen Verbrauchergruppen, die die Freiheiten und Instrumente nutzen können (sie wollen ihr „wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht“ ausüben),27 und solchen, die dies nicht können. Dann stellt sich freilich die Folgefrage, ob es nicht problematisch ist, wenn manche Verbraucher in die Irre geführt werden, weil auf den Empfängerhorizont eines recht aufmerksamen Verbrauchers abgestellt wird, und zwar auch, wenn andere davon profitieren. Auf diese Frage ist differenziert zu antworten. Beschränkte Rationalität ist ein Nachteil auch sonst im Leben: bei der Suche nach guten Gelegenheiten (jenseits des Vertragsrechts), nach guten Jobs etc. Wenn also Vertragsrecht Verbrauchern hinreichende Anstrengungen und Kapazitäten abverlangt, schafft es nur eine Parallele zum sonstigen Leben – auch, um anderen die notwendigen Chancen zu eröffnen. Auch hier stellt sich wieder eine Folgefrage und zwar nach den Grenzen: Existiert ein „Sicherheitsnetz“ für diejenigen, die hierbei verlieren? Europäisches Vertragsrecht einschließlich seiner institutionellen Rahmenbedingungen scheint ein solches in der Tat bereitzustellen, zumindest im Ansatz – obwohl nicht alle Verbraucher in jeder Hinsicht geschützt werden. Diese „Sicherheitsnetze“ werden in der Debatte zu wenig beachtet: Jenseits eines „sozialen“ Steuerrechts und des Sozialversicherungsrechts – die beide noch weitgehend in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen – handelt es sich vor allem um zwei Instrumente: Der EuGH zieht das Leitbild des „informierten“ Verbrauchers nicht allgemein heran, namentlich nicht, wo Gesundheit und Leben betroffen wären.28 Diese bilden ein zu wichtiges, „existentielles“ Gut, als dass auf den Schutz jedes Verbrauchers – auch bei beschränkter Rationalität – verzichtet werden könnte. Dieses ist nur ein Beispiel von vielen, die belegen, wie der EuGH – neben seiner breiten Auslegung der im Folgenden vorrangig erörterten Sekundärrechtsakte – über
‚Consumer‘ in EU Law – Legislation, Free Movement and Competition Law, (2016) bzw. Klinck/Riesenhuber (Hrsg.), Verbraucherleitbilder: Interdisziplinäre und europäische Perspektiven, (2015), im erstgenannten Band auch meine Sicht unter dem Titel „Targeted Consumer Protection“, S. 223–244 (ursprünglich mit dem Untertitel: „Assessing weaknesses more carefully“). 27 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998). 28 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, EU:C:1994:34 Rn. 29–31; EuGH v. 24.10.2002 – Rs. C-99/01 Linhart and Biffl, EU:C:2002:618 Rn. 31 f.
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seine Grundfreiheitenrechtsprechung prominent systembildend wirkt.29 Allgemeiner kann man dies – auch für das Privatrecht allgemein, namentlich unter Rückgriff auf Grundrechte, etwa im Antidiskriminierungsrecht – beobachten, wenn der EuGH hierzu verstärkt auf Generalklauseln zurückgreift.30 23 Existentielle Risiken ergeben sich jedoch teils auch aus finanziellen Verlusten – existentiell typischerweise erst, wenn nicht nur vorhandene Ressourcen verloren werden, sondern auch die Fähigkeit, zukünftig Einkünfte zu erzielen, verbraucht wird. Damit ist das vertragsrechtliche Beispiel angesprochen. Aus diesem Grunde ist nämlich Verbraucherkreditrecht so wichtig. Die Richtlinie von 198631 hat ein sehr wichtiges informationelles Instrument geschaffen, das die Konditionen im Zentralpunkt gut vergleichbar macht und auch die Gesamtbelastung in „guten Zeiten“, d. h. bei planmäßiger Erfüllung aufzeigt; weitere Regeln, d. h. ein Ausbau des bestehenden Netzes, erschienen dennoch nötig.32 In einer anderen Hinsicht wurde das Sicherheitsnetz gegen existentiellen finanziellen Verlust auf europäischer Ebene später deutlich verstärkt: Die Verbraucherinsolvenz ist, obwohl sie im nationalen Insolvenzrecht fußt,
29 Zur Einwirkung der Grundfreiheitenrechtsprechung auf nationale Privatrechtssysteme etwa: Collins. ELJ 10 (2004) 787 (mit dem Bild eines „Freedom to Circulate Documents“); Smits, Maastricht Journal of European and Comparative Law 5 (1998), 328 (mit dem Bild eines nationalen Privatrechts, das dadurch zu einem „Mixed Legal System“ wird); genereller für die systembildende Wirkung der EuGHRechtsprechung: Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882. 30 Hierzu etwa: Basedow, ERPL 24 (2016), 331 (vor allem im Lichte von Entscheidungen wie Mangold und Audiolux); breit Metzger, Extra legem, intra ius – Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009); und auch hierzu Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882. 31 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48; aufgehoben durch Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 32 Mindestens war zu fordern, dass auch die Folgen von Leistungsstörungen (etwa Tilgungsverzug wegen Scheidung, Arbeitslosigkeit etc.) aufgezeigt werden. Weitergehend wurde gefordert, in der verabschiedeten Fassung jedoch tendenziell abgelehnt, dass die Kreditinstitute eine (Mit-)Verantwortung dafür tragen, ob sich der Kunde den Kredit denn wirklich leisten kann („verantwortungsbewusste Kreditvergabe“). Vgl. Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1243, ABl. 2019 L 198/241; und dazu etwa Hofmann, in: Riesenhuber (Hrsg.), Perspektiven des Europäischen Schuldvertragsrechts (2008), S. 71; ausführlich Grundmann/Atamer (Hrsg.), Financial Services, Financial Crisis, and General European Contract Law – Failure and Challenges of Contracting, (2011) – namentlich der Beitrag von Atamer, Duty of Responsible Lending, S. 179–202. Außerdem war zu fordern, dass die Schutzinstrumente umfassend auf grundpfandrechtlich abgesicherte Kredite erstreckt werden. Dies erreicht heute Richtlinie 2014/17/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.2.2014 über Wohnimmobilienkredite für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. 2014 L 60/34, zuletzt geändert durch: Verordnung (EU) 2016/1011, ABl. 2016 L 171/1, insbes. dessen Art. 18 Abs. 5 lit. a) („verantwortungsbewusste Kreditvergabe“), allgemeiner auch Art. 7. Grundmann
II. Gesamtsystem
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europaweit anerkannt auf der Grundlage der Insolvenz-Verordnung.33 Solchermaßen können finanzielle Risiken für Verbraucher zwar substantiell sein, sie sind jedoch nicht mehr (zeitlich) grenzenlos. Solche „Sicherheitsnetze“ und ein liberaleres Verbraucherrecht, in dem auch Verlustrisiken hingenommen werden, korrelieren. Die angedeutete Suche nach einem Mittelweg – weder formale Freiheit noch In- 24 tervention durch eine Vielzahl inhaltlich zwingender Regeln – ist jedoch viel allgemeiner zu konstatieren, einige charakteristische Beispiele können das noch weiter illustrieren: Einerseits wurde europäisches Vertragsrecht überzeugend dahin verstanden, dass hier der Grundsatz eines caveat emptor abgelöst wurde durch einen Grundsatz des caveat praetor.34 Und der Kauf bildet noch immer den Vertragstyp mit Leitbildcharakter. Ebenso evident ist es, dass das Regime vorvertraglicher Information auf europäischer Ebene ungleich weiter geht als traditionell in den nationalen Vertragsrechten.35 Umgekehrt ist das Europäische Vertragsrecht jedoch auch nicht intensiv interventionistisch verfasst: Abgesehen von zwingenden Informationsregeln, die zwar den Vertrag vorbereiten, die eigentliche Gestaltungsfreiheit jedoch unberührt lassen, kennt es kaum (inhaltlich) zwingende Regeln, mit denen der Vertragsinhalt vorgegeben und die Parteiabrede ersetzt wird. Die eine große Ausnahme (bis 1999), das AGB-Recht, ist auch auf der Grundlage der (Informations-)Ökonomie gut begründbar (unten Rn. 41 f. mit Fn. 61). Und auch die jüngeren Beispiele – Antidiskriminierung und Konstitutionalisierung – sind solch einem Mittelweg verpflichtet (Fn. 34).
4. Einführung zu den Einzelgebieten – Verantwortung des EuGH Wenn das Gesagte für zwei Gebiete auf einen etwas niedrigeren Abstraktionsgrad he- 25 runtergebrochen werden soll, so bieten sich die zwei großen Organisationsformen des Privatrechts und privatwirtschaftlichen Handelns als besonders naheliegend an, der Vertrag bzw. das Vertragsrecht und die Gesellschaft bzw. das Gesellschaftsrecht, Austausch und Organisation, „Market and Firm“ (s. o. Rn. 1 mit Fn. 4). Näher ausgeführt wird jeweils: Dass der Harmonisierungsbestand zunehmend als flächendeckend zu
33 Primär Art. 16, 17 und 25 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1, aufgehoben durch Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren, ABl. 2015 L 141/19, zuletzt geändert durch: ABl. 2018 L 171/1; vgl. Homann, System der Anerkennung eines ausländischen Insolvenzverfahrens und die Zulässigkeit der Einzelrechtsverfolgung (2000); Paulus, EuInsVO – Europäische Insolvenzverordnung, (5. Aufl. 2017). 34 Hedley, JBL 2001, 114, 123. Diese Entwicklung ist von der ökonomischen Theorie her durchaus zu begrüßen: Grundmann/Bianca-Gomez, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Einl. Rn. 74–77 bzw. Grundmann/Bianca-Grundmann, ebd., Art. 2 KGRL Rn. 4; zum zunehmenden Trend der Materialisierung und den weiteren Beispielen unten: Grundmann, FS 200 Jahre HU (2010), S. 1025. 35 Vgl. etwa, für einen Vergleich mit dem italienischen Recht: Roppo, in: Grundmann/Schauer (Hrsg.), The Architecture of European Codes and Contract Law (2006), S. 283–299. Grundmann
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sehen ist und zwar als ein System der Eckpunkte, daneben jedoch auch (in statu nascendi) jeweils als Quelle einer Europäischen Alternativform, die mit den nationalen in Wettstreit tritt und im Wettbewerb steht (jeweils 1.); dass dieser Bestand zunehmend als allgemeines Leitbild auch außerhalb seines Anwendungsbereichs verstanden wird und darauf geradezu angelegt ist (jeweils 2.); und dass inhaltlich überall das Informationsmodell als Hauptinstrument und -philosophie zu sehen ist. Ein Ausblick auf sonstige Hauptgedanken im jeweiligen Gebiet komplettiert dann jeweils den Überblick (insgesamt jeweils 3.). Wenn die einzelnen Rechtsgebiete – bis hinein in die Details – in den Blick genommen werden, ist die Frage nach den maßgeblichen Akteuren von zentraler Bedeutung – sicher die Wissenschaft vom Europaprivatrecht, zentral jedoch (jedenfalls auch) der EuGH: Die „Übersetzung“ des Systems an der Schnittstelle zum nationalen Recht, in dem die Anwendung primär stattfindet, ist vor allem dem EuGH überantwortet, der dabei m. E. eine deutlich aktivere, System erklärende und fortbildende Rolle – gerade im Privatrecht – spielen sollte.36
III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz a) Vertragsrechtsregulierung 37 26 Bis zur Verabschiedung der Kaufgewährleistungsrichtlinie 1999 betraf Europäisches
Vertragsrecht kaum den klassischen Kern nationalen Vertragsrechts, d. h. das dispositive (und teils zwingende) Recht zu der Frage, wie die Parteien wohl entschieden hätten, hätte ihnen die nötige Information vorgelegen und wäre der Wettbewerb unbeschränkt gewesen. Diese Normen versuchen primär den Konsens nachzubilden, zu dem die Parteien unter solch idealen Bedingungen gelangt wären. 27 Europäisches Vertragsrecht versuchte demgegenüber vor allem, diese beiden Bedingungen (wieder) herzustellen, deren Fehlen den Konsensmechanismus (mit „Richtigkeitsgewähr“ oder „-chance“) mehr oder weniger weitgehend versagen und im Extremfall Märkte zusammenbrechen lässt: hinreichende Information und genügend
36 Ausf., zu der herausgegebenen Rolle, die der EuGH schon als einzige „einheitliche“ Stimme in Europa (auch rein linguistisch) spielt: Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882; und Nachw. unten Fn. 45; für eine bemerkenswerte (allerdings viel kritisierte) Entscheidung, die den systematischen Zusammenhang zwischen Primärrecht (Grundrechten und -prinzipien) und Sekundärrecht zentral betont und fruchtbar macht, vgl. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709; vgl. nochmals Basedow, ERPL 24 (2016), 331. 37 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12, zuletzt geändert durch Richtlinie 2011/83/EU, ABl. 2011 L 304/64. Inzwischen im Rahmen der Digitalagenda der EU ersetzt durch die (für das Folgende im Kern unveränderte) Warenkauf-Richtlinie (unten Fn. 42). Grundmann
III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht
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Wettbewerb. Kirchner sprach früh und sehr plastisch von einer Vertragsrechtsgestaltung „von den Rändern her“.38 Im Vordergrund steht in der Tat der Abbau von Informationsproblemen, was ge- 28 sondert auszuführen sein wird (unten Rn. 41 f.). Ein zweiter Komplex galt direkten und indirekten Wettbewerbsbeschränkungen, am evidentesten bei den Gruppenfreistellungsverordnungen, die wie Musterverträge für alle Unternehmen wirkten (und bis zu einem gewissen Grad auch heute noch wirken), die von der Gruppenfreistellung Gebrauch machen wollten. Wettbewerbsbezug haben auch die Harmonisierungsakte zum öffentlichen Auftragswesen und auch im Urheberrecht (vor allem Softwarefragen). Zuletzt besonders wichtig wurde der – ebenfalls weitgehend auf Wettbewerbsüberlegungen gegründete – Bereich der ehemals öffentlichen Unternehmungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse.39 Besonders „marktbezogen“ erscheint auch die Digitalagenda der EU, mit zwei komplementären Richtlinien aus dem Jahr 2019 (dazu sogleich).
b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht Klassisches Vertragsrecht in größerem Umfang findet sich im EG-Recht erstmals in der 29 Kaufgewährleistungs- und E-Commerce-Richtlinie,40 d. h. seit 1999/2000. Es handelt sich um Fragen des Vertragsschlusses, der Vertragserfüllung und des Leistungsstörungsrechts, d. h. Fragen, für die Gesetzgeber versuchen, die Abrede nachzubilden, die die Parteien getroffen hätten, hätten sie einen „vollständigen“ Vertrag (vgl. oben Rn. 26) geschlossen. Dass es zu solchen Regeln so spät kam, überrascht zunächst einmal, weil sie das Herz eines jeden nationalen Vertragsrechts bilden. Die herkömmliche Erklärung geht dahin, dass Verbrauchervertragsrecht deutlich umfassender Behinderungen für grenzüberschreitende Angebote begründen kann, da es international zwingend wirkt (vgl. oben Rn. 27). So sehr dies im Ansatz überzeugt, ist freilich festzustellen, dass die Kaufgewährleistungsrichtlinie doch auch nur den Verbraucherkauf erfasst und dennoch in ihrem Gehalt allgemeines Kauf- und Leistungsstörungsrecht regelt. Die Entwicklung mag auch institutionell zu erklären sein. Die GD Binnenmarkt konzentrierte sich mehr auf Gesellschafts- und Finanzrecht und zeichnet allein
38 Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 106; dann ausführlicher Grundmann, ZHR 163 (1999), 635; auch Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, S. 42 ff., 91–93. 39 Dazu etwa Rott, ERCL 1 (2005), 323–345; Essebier, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und Wettbewerb (2005); v. Danwitz, in: Krautscheid (Hrsg.), Die Daseinsvorsorge im Spannungsfeld von europäischem Wettbewerb und Gemeinwohl (2009), S. 103–130; und aus jüngerer Zeit Koukiadaki, EU governance and social services of general interest: When even the UK is concerned (2012); Ludlow/Rauhut, Services of General Interest: policy challenges and policy options (2013). 40 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr), ABl. 2000 L 178/1.
Grundmann
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für die E-Commerce-Richtlinie verantwortlich. Die GD Gesundheit und Verbraucherschutz schien zunächst nicht wirklich dazu berufen, ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln. Als sie in die Generaldirektion Justiz inkorporiert wurde, betrieb sie das Projekt des Optionalen Kodex (als sog. „Allgemeines Europäisches Kaufrecht“, CESL), das jedoch scheiterte. Auch das jüngste breitere Projekt, die Digitalagenda, betrieb mit der (neu gegründeten) Generaldirektion Informationsgesellschaft und Medien eine andere Generaldirektion. 30 Die Lösungen, die sich in den beiden Richtlinien von der Jahrtausendwende finden, können im vorliegenden Rahmen nicht diskutiert werden. Beide wurden ausführlich erörtert, häufig auch monographisch oder gar in Kommentaren beschrieben, ebenso das UN-Kaufrecht als Hauptmodell.41 Eine eigene Untersuchung wäre nötig, um darzustellen, warum die Kaufgewährleistungsrichtlinie das wichtigste Modell für Erfüllung und Leistungsstörung im EU-Recht enthält, wie weit dieses Modell reicht und wo seine Lücken und Schwächen liegen. Entsprechendes gilt für die Frage, inwieweit die Kaufgewährleistungs- und E-Commerce-Richtlinie im Zusammenspiel in der Tat ein Europäisches Modell des Vertragsschlusses schufen. Im Folgenden kann nur kurz angedeutet werden, welches wohl die Zentralfragen bei der Fortentwicklung dieses Bestandes sein werden. Zuvor ist freilich auf ein Konglomerat an Rechtsakten hinzuweisen, welches Teil der sog. Europäischen Digitalagenda 2010–2020 ist, mit der verschiedenste Rechtsbereiche auf die Anforderungen des Digitalzeitalters adaptiert werden sollten, vom Finanzrecht über das Recht des Geistigen Eigentums bis zum Recht des unlauteren Wettbewerbs, und die auch zwei zentrale Vertragsrechtsakte umfasst:42 (i) die Reform der EG-Richtlinie 1999/44 (Kaufrechts-Richtlinie) durch die EU-Richtlinie 2019/771, die weitestgehend den alten Rechtsakt übernimmt, jedoch darin abweicht, dass jetzt digitale Komponenten (etwa Board-Computer) mitgeregelt sind und auch ein Schadensersatzregime eingeführt wurde, und (ii) die Regelung von Verträgen über digitale
41 Für eine Interpretation aus Effizienzüberlegungen heraus und für meine eigene Auslegung der Richtlinie vgl. vor allem Grundmann/Bianca-Gomez, EU-Kaufrecht-Richtlinie (2002), Einl. Rn. 74–77 bzw. Grundmann/Bianca-Grundmann, ebd., Art. 2 KGRL Rn. 4; Grundmann, AcP 202 (2002), 40 mwN. Zum UN-Kaufrecht vor allem: Honnold/Flechtner, Uniform Law for International Sales under the 1980 United Nations Convention (4. Aufl. 2009); Staudinger-Magnus, Wiener UN-Kaufrecht (CISG) (Neubearb. 2013); Schlechtriem/Schwenzer (Hrsg.), Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht (7. Aufl. 2019). 42 Richtlinie (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. 2019 L 136/1; Richtlinie (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. 2019 L 136/28. Zur Digitalagenda vgl. die Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament, den Rat, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen; KOM(2010) 245 endgültig/2 – mit Unterdokumenten für einzelne Akte. Grundmann
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Inhalte in der EU-Richtlinie 2019/770 (Software, Clouds, digitale Dienstleistungen etc.), die freilich die Ordnung des Vertragsschlusses ausklammert und diesen Bereich weiter der E-Commerce-Richtlinie überlässt, ansonsten vor allem das Konzept von Daten als Gegenleistung regelt, außerdem das Verhältnis zur EU-Datenschutz-Grundverordnung sowie ein (EU-)Leistungsstörungsrecht für fehlerhafte digitale Inhalte etabliert.43
2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit Die Kernfrage geht m. E. dahin, ob der Gehalt beider Richtlinien von der Jahrtausend- 31 wende (und anderer, auch etwa der neuen Rechtsakte von 2019) verallgemeinert werden kann. Dies wirft einige Unterfragen auf:
a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht Generalisierungsfähig in großem Stile ist der acquis communautaire nur, wenn Ver- 32 braucherrecht generalisierungsfähig erscheint. M. E. (vgl. Fn. 41) ist dies in der Tat der Fall. Man könnte einfach darauf verweisen, dass die Kaufgewährleistungsrichtlinie nicht wirklich Verbraucherrecht ist – nahezu alle Lösungen sind ja aus dem UN-Kaufrecht übernommen, das nur den zweiseitigen Handelskauf regelt – und dass die ECommerce-Richtlinie ohnehin allgemein gilt. Unter den Hauptrichtlinien stellt sich daher die Frage nach der Generalisierbarkeit in ganzer Schärfe vor allem für die Klauselrichtlinie44 und hier optiert immerhin die damals vor allem vorbildliche Rechtsordnung, das deutsche Recht, weitgehend für eine Verallgemeinerung. Allein für die Richtlinie EU/2019/770 über Digitale Inhalte könnte – ausnahmsweise – argumentiert werden, dass sie allein Verbraucherrecht regelt – namentlich auch, weil das Zahlen mit persönlichen Daten ebenso wie der Konnex mit dem Schutz persönlicher Daten für diesen Bereich besonders charakteristisch ist. Allgemeiner jedoch ist zu betonen, dass Verbraucherrecht primär hinsichtlich der 33 Informationsregeln erheblich von sonstigem Vertragsrecht abweicht und dass daher
43 Vgl. Übersicht hierzu etwa durch Sein/Spindler, The new Directive on Contracts for the Supply of Digital Content and Digital Services – Scope of Application and Trader’s Obligation to Supply – Part 1 bzw. – Conformity Criteria, Remedies and Modifications – Part 2, 15 ERCL 2019, 257–279 bzw. 365–391; und breiter Grundmann/Hacker, The Digital Technology as a Challenge to European Contract Law – From the Existing to the Future Architecture, 13 ERCL 2017, 255–293; Grundmann (Hrsg.), European Contract Law in the Digital Age, (2017); De Franceschi (Hrsg.), European Contract Law and the Digital Single Market, (2017); De Franceschi/Schulze (Hrsg.), Digital Revolution – New Challenges for Law, (2019). 44 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29, zuletzt geändert durch: Richtlinie 2011/83/EU, ABl. 2011 L 304/64. Grundmann
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ein Gesetzbuch gruppenspezifisch überwiegend nur in diesem Bereich zu differenzieren hätte, manchmal auch (wenn Informationsregeln versagen) beim paternalistisch gesetzten Schutzstandard sowie bei verbraucherspezifischen Konstellationen wie ggf. dem Zahlen mit persönlichen Daten. Der Rest des Vertragsrechts, basierend auf Vorstellungen der iustitia distributiva und commutativa, ist allgemeiner Natur, nicht gruppenspezifisch.45 Verbrauchervertragsrecht und „sonstiges“ Vertragsrecht gemeinsam – integrativ – einzubringen, hätte weitere erhebliche Vorteile: Verbraucherrecht würde nicht marginalisiert, sondern in den Fokus der Dogmatik gerückt; und die Stellung der jeweiligen Regeln „Seite an Seite“ würde den Druck, Unterschiede stets zu überdenken und zu legitimieren, noch verstärken (Kohärenz der Wertung als Daueraufgabe).
b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil 34 Eine zweite Unterfrage ginge dahin, inwieweit vom besonderen Vertragsrecht auf das
allgemeine geschlossen werden kann. Denn viele Harmonisierungsmaßnahmen sind sektor- oder doch vertragstypspezifisch. Da sich eine Europäische Rechtswissenschaft noch immer erst entwickelt, sollte das System ohnehin zunächst für konkretere Fragen, d. h. ausgehend von speziellen Vertragstypen, geschaffen werden, um dann induktiv ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln. 35 Für die Antwort auf die Frage erscheinen zwei Punkte von vorrangiger Bedeutung: Das UN-Kaufrecht hat, obwohl es nur für das Kaufrecht formuliert wird, auch die Regelkataloge, die bisher im Allgemeinen Vertragsrecht entwickelt wurden,46 maßgeblich beeinflusst. Das wird in beiden Regelwerken selbst betont. Es liegt daher nahe, in der Tat für Verträge, die eine idealtypisch einmalig zu erbringende Leistung
45 Für eine stärker interdisziplinäre Begründung vgl. Grundmann, Three Views on Negotiation – An Essay between disciplines, FS Micklitz (2014), S. 3–30. Ein schlagendes Beispiel dafür, dass diese Verallgemeinerungsfähigkeit immer wieder zu eng verstanden wird, bildet die Endentscheidung des BGH in Sachen Putz und Weber, in der der maßgeblichen EuGH-Entscheidung, obwohl sinnvoll für das Vertragsrecht allgemein, entsprechend dem Anwendungsbereich der Kaufrechtsrichtlinie allein für den Verbraucherkauf Folge geleistet wurde: vgl. EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Weber und Putz, EU:C:2011:396; Darstellung und Kritik bei: Grundmann, FS Stuyck (2013), S. 725; allgemeiner zur Rolle des EuGH im Prozess der Systembildung: Nachw. oben Fn. 36. 46 UNIDROIT (Hrsg.), Principles of International Commercial Contracts (4. Aufl. 2016), S. xxix (nur Handelsverträge); Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Teil I (1996), Teil II (1999) (dort S. XXXV) und Teil III (2002) (alle Verträge); dazu u. a. Hesselink/de Vries (Hrsg.), Principles of European Contract Law (2001); Zimmermann, ZEuP 2000, 391; vgl. auch die Fortentwicklung in: v. Bar/ Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition und die inzwischen überarbeitete Ausgabe mit Kommentierungen v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition. Kritik dazu etwa bei Eidenmüller et al., JZ 2008, 529; Ernst, AcP 208 (2008), 248; Grundmann, ERCL 5 (2008), 225.
Grundmann
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betreffen (sog. spot contracts oder discrete contracts), Kaufgewährleistungsrichtlinie und UN-Kaufrecht sehr stark als Modell heranzuziehen. Umgekehrt ist es auch wichtig, das andere Extrem im Auge zu behalten. Dies sind die Langzeitverträge, häufig sehr komplex, regelmäßig vor allem mit Geschäftsbesorgungscharakter, häufig ein Netzwerk von Verträgen.47 Nur in diesem Spannungsverhältnis kann die Frage nach einer Übertragbarkeit von Wertungen aus dem acquis (Besonderen Teil im EG-Vertragsrecht) auf andere Verträge und die Generalisierbarkeit sinnvoll beantwortet werden.
c) Der Beitrag des Akademischen Referenzrahmens Der (akademische) Gemeinsame Referenzrahmen (Fn. 46), unter Einschluss der sog. 36 Acquis-Principles, die sich vor allem um die Systematisierung des acquis communautaire bemühten (Fn. 15), ging im Wesentlichen ebenfalls den Weg einer Verallgemeinerung: Es wurde nicht nur Verbrauchervertragsrecht ausgebildet, sondern allgemein Vertragsrecht geregelt; und es wurde danach gestrebt, aus den sektorspezifischen Regeln allgemeine Regeln abzuleiten. In diesem äußeren Zuschnitt ist dem Allgemeinen Referenzrahmen also zuzustimmen, obwohl er nicht nur Vertragsrecht betraf und obwohl in ihm das vertragsrechtliche System einer modernen Marktwirtschaft auch in der Breite eines allgemeinen Obligationenrechts geradezu unterzugehen schien. Schließlich ging er ein in den Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, dieses wieder primär auf Verbraucherkauf (und Verkauf an KMUs) zugeschnitten und optional. Hier ging es nun um den Wettbewerb der Formen:
d) Wettbewerb der Formen (auch Gemeinsames Europäisches Kaufrecht)? Wettbewerb der Formen – d. h. der Vertragsrechte – existiert derzeit nur einge- 37 schränkt. Natürlich ist eine Anlehnung an ausländische Modelle im Rahmen des inländischen zwingenden Rechts möglich. Zwingendes Recht reicht jedoch vor allem dort sehr weit, wo, wie in Deutschland, auch AGB im kaufmännischen Verkehr einer Inhaltskontrolle unterfallen. Eine Rechtswahl ist im rein inländischen Fall nicht möglich (Art. 3 Abs. 3 Rom-I-VO). Anders ist dies im grenzüberschreitenden Verkehr (Art. 3 Rom-I-VO), freilich mit 38 den bekannten Einschränkungen im Verbraucher- und Arbeitsvertragsrecht (Art. 6 und 8 Rom-I-VO) sowie zum Schutz von Allgemeininteressen (Art. 9 Rom-I-VO). Und selbst im kaufmännischen Verkehr, der mit diesen Vorbehalten direkt nicht angespro
47 Die Abweichungen vom Kreis der „Spot Contracts“ ausleuchtend und als sehr grundlegend einstufend, namentlich die Querschnittswerke von Grundmann/Cafaggi/Vettori (Hrsg.), The Organizational Contract, (2013), und – methodisch noch weiter ausgreifend – von Grundmann/Möslein/Riesenhuber (Hrsg.), Contract Governance (2014). Grundmann
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chen ist, schränkt der EuGH die Rechtswahl ein, soweit Richtlinien den Schutz einer Vertragspartei bezwecken.48 Auch wurde mit Verabschiedung der Rom-I-VO zugleich auch die vielfach geforderte Wählbarkeit nichtstaatlicher Regelwerke (etwa der Prinzipienkataloge) abgelehnt. 39 Grenzüberschreitende Verträge sind wichtig, bilden jedoch selbst für Deutschland einen relativ kleinen Prozentsatz: ca. 20 %, und rechnet man die Konzernbeziehungen heraus, in denen Streitigkeiten kaum einmal streng rechtlich durchgefochten werden, sogar wohl unter 10 %. Das ist anders als im Gesellschaftsrecht, wo die Wahl der ausländischen Rechtsform eben gerade auch bei Sitz im Inland eröffnet ist (dazu sogleich Rn. 58 f.). 40 Ein vergleichbarer Wettbewerb der Rechtsformen würde erst durch einen optionalen Kodex eröffnet, der auch im Inlandsfall wählbar ist. Die Erfahrung mit dem UNKaufrecht hatte in der Tat gelehrt, dass conditio sine qua non für einen nennenswerten Erfolg – noch nicht notwendig hinreichende Bedingung – die Wählbarkeit solch eines Kodex auch im Inlandsfall ist. Der Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht sah dennoch eine Hybridlösung vor: Kraft Europäischen Rechts sollte er nur für grenzüberschreitende Verträge und auch nur für Kaufverträge mit Verbrauchern und KMU gelten, es sollte jedoch ein Mitgliedstaatenwahlrecht eröffnet werden zur Erstreckung auf Inlandsfälle und auch auf alle Kaufverträge.49 Letztlich wurde der Vorschlag jedoch nicht weiterverfolgt und de facto durch eine neue Agenda, namentlich die beiden genannten vertragsrechtlichen EU-Richtlinien aus der Digitalagenda verdrängt. Zu einem Durchbruch von Alternativformen auf supranationaler Ebene, mit einem echten breitflächigen vertikalen Wettbewerb der Regelgeber, kam es also im Europäischen Vertragsrecht letztlich nicht.
3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells 50 41 Inhaltlich ragt das Informationsmodell hervor. Das gilt bereits für das Primärrecht.
Auf Grund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informationsregeln den Vorzug zu geben gegenüber inhaltlich zwingenden
48 EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-381/98 Ingmar GB, EU:C:2000:605. 49 Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM (2011) 635 endg; Nachw. aus der reichen Lit. in den in Fn. 18 zitierten Beiträgen. 50 Vgl. dazu v. a. (für das Vertragsrecht): Grundmann, JZ 2000, 1133; Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Autonomy; im „deutschen“ Markt aufgegriffen von: Schulze/Ebers/Grigoleit (Hrsg.), Informationspflichten und Vertragsschluss im Acquis communautaire (2003).
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Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.51 Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert der Europäische Gesetzgeber im 42 Sekundärrecht. Die meisten vertragsrechtsbezogenen EG-Richtlinien (jedenfalls bis 1999) zielen auf den Abbau von Informationsproblemen:52 So die wichtigsten sektorspezifischen Akte, die Pauschalreise-,53 Timesharing-54 und auch die Verbraucherkredit-Richtlinie (in der Novellierung55 inhaltlich moderat aufgeladen) sowie – etwas weniger – die Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie56 (seit 2004 und 2014 Finanzmärkte-Richtlinie I und II),57 alle enthalten sie ganz überwiegend Informationspflichten vorvertraglich und in der Vertragsabwicklung; so auch die Richtlinien zu speziellen Absatztechniken – die Haustürgeschäfte-58 und die beiden Fernabsatz-Richtli-
51 Bahnbrechend EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, EU:C:1979:42 Rn. 13 – Cassis de Dijon. 52 Zwei Gesamtkommentierungen lagen anfangs vor: Quigley, European Community Contract Law, Bd. I und II (1997); Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht; ausführlichere Kommentare zudem in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II (70. Auflage 2020). In diesen Werken Nachw. für alle im folgenden genannten Rechtsakte; die klassische Lehrbuchdarstellung ist Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, dort dann breite Darstellung in § 7 und auch § 8. 53 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59, ersetzt durch Richtlinie 2015/2302/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates, ABl. 2015 L 326/1. 54 Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/83; nunmehr ersetzt durch Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen, ABl. 2009 L 33/10. 55 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1243, ABl. 2019 L 198/241. 56 Richtlinie 93/22/EWG des Rates v. 10.5.1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. 1993 L 141/27; mehrfach geändert, dann ersetzt durch Richtlinien nächste Fn. 57 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/ 22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1; ersetzt durch Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU, ABl. 2014 L 173/349 (im Großteil freilich eher als Fortschreibung zu sehen). 58 Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31; ersetzt durch Richtlinie 2011/83/EU (unten Fn. 60). Grundmann
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nien,59 seit 2011 zusammengefasst und ersetzt durch die Verbraucherrechte-Richtlinie60 –, die vor allem ein Widerrufsrecht geben. Dieses kann als Informationsinstrument verstanden werden: Dem Kunden soll die Informations- und Reflexionsmöglichkeit nachgereicht werden, die ihm durch Einsatz dieser speziellen Absatztechnik genommen wurde. Und auch die letzte verbleibende, nicht sektorspezifische Richtlinie (bis 1999), die Klauselrichtlinie, hat immerhin Informationsprobleme zum Gegenstand. Freilich ist der Ansatz ein anderer, da die Informationsasymmetrie hier als grds. nicht ausgleichbar eingestuft wird. Folglich sieht die Richtlinie nicht primär Informationspflichten vor, sondern legt – paternalistisch, inhaltlich zwingend – weitgehend den anzuwendenden Standard fest. Das Gesamtbild ist also geprägt von den vielen Richtlinien, die primär Informationsprobleme abbauen, Märkte also (bei Teilversagen) unterstützen sollen, indem die nötigen Informationsverhältnisse wiederhergestellt werden, dann aber die Vertragsfreiheit erhalten, und der einen, die den Markt substantiell korrigiert – mit weitreichenden Wirkungen: Da Verträge meist unter Verwendung von AGB abgeschlossen werden, herrscht sehr weitgehend „quasizwingendes“ Recht, beruhend auf paternalistischen Erwägungen (bei Setzung sehr enger Grenzen für privatautonome Gestaltung).61 Zudem wird eine besonders große Zahl der europavertragsrechtlichen Streitigkeiten, über die der EuGH zu befinden hat, heute nach der Klauselrichtlinie entschieden.62
59 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19; auch diese aufgehoben durch Richtlinie 2011/83/EU (nächste Fn.); sowie Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG, ABl. 2002 L 271/16, geändert durch Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2005, ABl. 2005 L 149/22, und Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007, ABl. 2007 L 319/1. 60 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [Verbraucherrechte-RL], ABl. 2011 L 304/64, zuletzt geändert durch Richtlinie (EU) 2015/2302, ABl. 2015 L 326/1; intensive Analyse (noch zur Entwurfsfassung, d. h. zum damals viel weiter reichenden Systematisierungsansatz) in den Beiträgen von Whittaker, Möslein/Riesenhuber, Hesselink, und Roppo in ERCL 5 (2009), Heft 3 (S. 223– 349); zur (viel engeren) verabschiedeten Fassung, vor allem dem Systemgedanken Mehrebenensystem und Alternativen: Grundmann, Die EU Verbraucherrechte-Richtlinie – Optimierung, Alternative oder Sackgasse? JZ 2013, 53–65. 61 Hesselink, ERCL 1 (2005), 44, 66–68. Zur Begründung (auch in der ökonomischen Theorie) für die Regulierungsnotwendigkeit in diesem Bereich: Adams, BB 1989, 781, 787; und Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse (5. Aufl. 2012), S. 552–555. 62 Vgl. Rechtsprechungsübersicht Micklitz/Kas, EWS 2013, 314–334 und 353–380.
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III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht
b) Überblick zu weiteren Systemgedanken Mit dem prägenden Charakter des Informationsmodells im Europäischen Vertrags- 43 recht gehen wichtige weitere grundlegende Systemgedanken einher. Diese seien hier nur angesprochen:63 (1) Europäisches Vertragsrecht ist nicht als Verbrauchervertragsrecht konzipiert, sondern als Markt- oder Unternehmensaußenrecht, also mit dem Ziel, ungerechtfertigte (informationelle) Überlegenheit oder marktbeschränkende Verhaltensweisen von Unternehmen auszugleichen bzw. zurückzudrängen. Hinzu tritt gänzlich allgemeines, d. h. nicht rollenspezifisch ausgebildetes Vertragsrecht, vor allem in der Kaufgewährleistungs, seit 2019 Warenkaufrichtlinie (oben Rn. 26 und 29 f. mit Fn. 37, 41 f.). Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht auch Verbraucher – und sehr erheblich – vor den Folgen dieser Marktimperfektionen zu schützen sind. (2) Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung – d. h. Wahlrechte und die Tragung der Folgen ihrer Ausübung – sind ähnlich prägend. Dies muss nicht heißen, dass es keine Durchbrechung des pacta sunt servanda gäbe, gerade auch zugunsten des Verbrauchers.64 Diese sind jedoch eng umgrenzt, im Falle des recht kurz bemessenen Widerrufsrechts, wie gesagt, sogar eher nur als ein Instrument zum „Nachreichen“ der Informationsmöglichkeit zu verstehen, und jedenfalls nicht systemprägend. Ein dauerhaftes Recht zur Vertragsaufsage (jederzeitiges Kündigungsrecht) kennt fast nur das Verbraucherkreditrecht und auch dieses nur für ca. 10–20 % des Verbraucherkreditvolumens, insbesondere auch heute nicht beim grundpfandrechtlich gesicherten Kredit. Ein letzter Vorbehalt: Eine zentrale Systemfrage wurde – mangels Möglichkeit ei- 44 ner ähnlich vogelflugartigen Antwort – gänzlich ausgeblendet: Diese (wichtige) Unterfrage ginge dahin, ob denn der acquis communautaire in sich überhaupt kohärent ist, vor allem: ob nicht für manche Regelkomplexe ein zu enger Anwendungsbereich gewählt wurde, etwa bei den Absatztechniken, und ob sich die in ihnen enthaltenen Regeln nicht teils widersprechen.65
63 Näher zu ihnen: Grundmann, ZHR 163 (1999), 635; Riesenhuber, ERCL 1 (2005), 297–322; ders., EUVertragsrecht, S. 34 f., 76 ff. 64 Vgl. Micklitz, ZEuP 1998, 253, der freilich zu sehr ein dem Verbraucher gegenüber gar nicht mehr bindendes Vertragsrecht annimmt (etwas missverständlich mit dem Begriff eines „kompetitiven“ Vertragsrechts umschrieben). 65 Vgl. dazu nur Riesenhuber, System und Prinzipien, passim; ders., ERCL 1 (2005), 297–322; außer zur Verbraucherrechterichtlinie, die maßgeblich als Reaktion auf diese Kritik zu verstehen ist, vgl. oben Fn. 60.
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IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften 45 Die Privatrechtsharmonisierung hob zwar 1968 im Gesellschaftsrecht an (sieht man
einmal vom schon primärrechtlich verbürgten arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot ab). Doch war die Entwicklung – mit Ausnahme einer Verdichtung um die Jahrtausendwende und einem wichtigen Rechtsakt in 2007 – bis 2017 eine langsame. Intensiver war sie schon seit langem nur im (Teil-)Bereich des Kapitalmarktrechts. Die 2017 einsetzende „Kodifikationswelle“ für das genuine Gesellschaftsrecht suggeriert einen machtvollen Aufbruch. Eine genauere Analyse relativiert diesen Eindruck. Denn einerseits entstand zwar ein größerer Rechtsakt („Kodifikation“), der jedoch wenig homogene Rechtsmaterien in sich vereinte und dies ohne große Änderungen im Inhaltlichen. Und andererseits wurde eine Agenda aufgelegt, deren großer Name verschleierte, dass es inhaltlich um die Finalisierung des Regimes eines zwar wichtigen, jedoch recht fokussierten Teilbereichs ging – flankiert von einer Digitalisierungsagenda, die auch das Gesellschaftsrecht erfasste.66 Daher soll nicht das so entstandene „kodifizierte System“, sondern die organische Genese als systembildend nachgezeichnet werden. Dies bedeutet freilich nicht, dass die Entwicklungen seit 2017, namentlich auch die erhebliche Erweiterung der Aktionärsrechte-Richtlinie von 2007, nicht doch von erheblicher Dynamik wären. 46 Ausgangspunkt des Europäischen Gesellschaftsrechts war in jedem Falle das Außenverhältnis. Diese Sicht ist jedenfalls bis 2007 die dominante, flankiert nur durch ein Regime allein von „Grundrechten“ des Aktionärs im Innenverhältnis der Gesellschaft (zu Letzterem dann Rn. 53 ff.). Ganz auf das Außenverhältnis fokussiert war der erste Rechtsakt von 1968. Schon die 1. Richtlinie67 brachte die Handelsregisterpublizi
66 Vgl. zusammenfassend (freilich mit abweichender Bewertung) nur die BB-Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsreport(e) zum Europäischen Unternehmensrecht von J. Schmidt, BB 2017, 2114 ff., BB 2018, 2562 ff., BB 2019, 1922 ff., 2178 ff., BB 2020, 1794 ff. 67 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8 (Publizitätsrichtlinie); fortgeschrieben u. a. in Richtlinie 2012/17/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.6. 2012 zur Änderung der Richtlinie 89/666/EWG des Rates sowie der Richtlinien 2005/56/EG und 2009/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Verknüpfung von Zentral-, Handels- und Gesellschaftsregistern, ABl. 2012 L 156/1 (elektronische Verknüpfung der nationalen Handelsregister); heute kodifizierte Fassung: Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts, ABl. 2017 L 169/46 (sog. Kodifikations-Richtlinie), jüngste Änderung ABl. 2019 L 321/1.
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IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht
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tät, mit der zentrale Daten gegenüber dem Rechtsverkehr allgemein zugänglich gemacht wurden (für Zweigniederlassungen ergänzt durch die 11. Richtlinie).68 Dies sind namentlich die nahezu unbeschränkte Vertretungsmacht der registrierten Organe nach außen und die sehr eingeschränkte Nichtigkeit der Organisation, indem Letzteres beides jeweils aus dem Handelsregister umfassend zu ersehen ist. All dies diente bereits der Ausgestaltung der Gesellschaft in einer Form, die Vertrauen bei Gläubigern, teils auch schon beim Anleger verbürgen sollte. 2017 gingen diese beiden (zusammenhängenden) Richtlinien ein in die sog. Kodifikations-Richtlinie – gemeinsam mit einer Reihe weiterer Rechtsakte, die freilich sehr heterogen erscheinen. Dies sind einerseits weitere Richtlinien, die (vor allem) der weiteren Absicherung im Außenverhältnis dien(t)en und sich vor allem auf die Absicherung im laufenden Geschäft bezogen (2. und 12. Richtlinie), andererseits jedoch auch weitere, die eine Umgestaltung der Gesellschaft, d. h. eine völlig anders gelagerte Materie, zum Gegenstand haben/ hatten und dies ausschließlich oder primär für die Aktiengesellschaft, nicht die Kapitalgesellschaft allgemein (3., 6. und 10. Richtlinie) – während umgekehrt andere Richtlinien mit Absicherungsfunktion der Kapitalgesellschaft nach außen und ebenfalls mit Bezug zum laufenden Geschäft ausgeklammert blieben (4., 7. und 8. Richtlinie, vgl. nächste Rn.). Der Systembildung dient diese Kodifikation daher nur sehr bedingt, weil sie sehr heterogene Materien und Anwendungsbereiche in sich vereint (teils Kapitalgesellschaftsrecht allgemein, teils nur Aktienrecht; teils Einzelgesellschaft mit ihrer Gründung und ihrem laufenden Geschäft, teils Umstrukturierung derselben, also Grundlagenakte). Eher scheint es, als wären die numerisch ersten Richtlinien (1.–3.) mit ihren Annex-Richtlinien (11. und 12. einerseits sowie 6. und 10. Richtlinie andererseits) in einem Konglomerats-Rechtsakt zusammengefasst worden. Im Einzelnen ist das folgendermaßen zu beschreiben – zunächst zu den Rechtsakten und Regelungsmaterien, die weiterhin der Absicherung der Kapitalgesellschaft nach außen dien(t)en: Fortgebildet wurde das System des Schutzes von Gläubigern im Außenverhältnis, 47 das mit der 1. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie 1968 initiiert worden war, einerseits durch die 2. gesellschaftsrechtliche Richtlinie,69 die allerdings einen hybriden Charakter hat, schon an dem Umstand ersichtlich, dass es sich um die einzige Richtlinie
68 Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates v. 21.12.1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABl. 1989 L 395/36, aufgehoben durch und ebenfalls übernommen in die Kodifikations-Richtlinie (vorige Fn.). 69 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1977 L 26/1 (Kapitalrichtlinie); ebenfalls mehrfach reformiert, heute ebenfalls Teil der Kodifikations-Richtlinie (ABl. 2017 L 169/46, vgl. oben Fn. 67). Grundmann
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aus dem gesamten hier erörterten Komplex handelt, die allein auf die Aktiengesellschaft Anwendung findet (daher nochmals aufgegriffen unten Rn 53 ff.). Auch diese Richtlinie hat durchaus starke Bezüge zum Außenverhältnis, verbürgt sie doch, dass das Mindestkapital von 25.000 Euro und das gezeichnete Kapital einmal aufgebracht werden müssen und dass sie nicht an die Aktionäre zurückgezahlt werden dürfen, auch nicht Teile hiervon (wirtschaftliche Absicherung der AG als Schuldnerin). Mit dieser – Zweiten – Richtlinie wurde also der Schritt getan, neben eine formale Absicherung des Gläubigers von Kapitalgesellschaften – durch Sicherheit über Schuldner und seine Vertretungsmacht, verbürgt in der Ersten Richtlinie – eine wirtschaftlich „Mindestabsicherung“ treten zu lassen. Als flankierende Maßnahme hierzu ist auch die 12. gesellschaftsrechtliche Richtlinie zu sehen,70 die denn auch neben der 1. und 2. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie Eingang in die Kodifikations-Richtlinie 2017 fand. Fortgebildet wurde das System des Schutzes von Gläubigern im Außenverhältnis, das mit der 1. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie 1968 initiiert worden war, außerdem und andererseits jedoch auch durch die 4., 7. und 8. Richtlinie (die allerdings nicht Eingang in die Kodifikations-Richtlinie von 2017 fanden).71 Diese Richtlinien enthielten Regeln zur Rechnungslegung im Einzelunternehmen, die Adaptionen für den Konzern und die Regelung über die Abschlussprüfer, die die Rechnungslegung zu testieren haben. Im Kern finden sich die Gehalte noch heute in eigenen Richtlinien, inzwischen nur noch zwei, einerseits der – nach den Bilanzskandalen Anfang des Jahrtausends – verschärften und umfangreicheren Abschlussprüfer-Richtlinie, andererseits in der „Mikro-Kodifikation“ der beiden Rechnungslegungs-Richtlinien.72 Ne
70 Zwölfte Richtlinie 89/667/EWG des Rates v. 21.12.1989 auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter, ABl. 1989 L 395/ 40; kodifizierte Fassung, ABl. 2009 L 258/20 (mit letzter Änderung ABl. 2013 L 158/365); heute ebenfalls ersetzt durch die Kodifizierungs-Richtlinie (oben Fn. 67). Diese Richtlinie erstreckt die Möglichkeit, die Haftung auf die Juristische Person zu beschränken, auch auf Einmann-Unternehmungen – im Gegenzug gegen eine gesetzliche Absicherung der Gläubiger. Sie verbürgt dies primär für die GmbH, außerdem jedoch für die Einmann-AG, soweit im nationalen Recht überhaupt zugelassen. 71 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/ 11; Siebte Richtlinie 83/349/EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluß, ABl. 1983 L 193/1; beide aufgehoben und ersetzt durch einen Rechtsakt, der das Rechnungslegungsrecht des Einzelunternehmens ebenso wie des Konzerns in sich vereint („Mikro-Kodifikation“): Richtlinie 2013/34/EU (vgl. nächste Fn.); sowie Achte Richtlinie 84/253/EWG des Rates v. 10.4.1984 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen, ABl. 1984 L 126/20; diese ersetzt durch die strengere, in der Materie jedoch gleich bleibende Richtlinie 2006/43/EG (ebenfalls nächste Fn.). Zudem die IFRS-VO (unten Fn. 73). 72 Vgl. einerseits zur Abschlussprüfung Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates, ABl. 2006 L 157/87 (letzte Änderung ABl. 2014 L 158/196); und andererseits Grundmann
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ben dieses Richtlinienkonvolut traten seit 2004 alternativ zur 4. und 7. Richtlinie, heute der allgemeinen Bilanz-Richtlinie („Mikro-Kodifikation“) – kraft IFRS-Verordnung –73 auch die International Financial Reporting Standards. Mit ihnen soll – primär für Global Player – ein Alternativregime der Rechnungslegung geschaffen werden, das weltweit, vor allem auch in den USA vergleichbar ist. Mit diesem Gesamtregelungsbestand aus fünf Richtlinien zu Publizität, Kapitalschutz und Rechnungslegung (1., 2., 4., 7., 8., mit der 11. und 12. Richtlinie als zwei Annexen) wurde angestrebt und ist bis heute verbürgt, dass europaweit und sogar global eine als solche registrierte Kapitalgesellschaft dem Gläubiger als Schuldner erhalten bleibt (keine Nichtigkeit, keine Berufung auf fehlende Vertretungsmacht), über alle für eine Anspruchsgeltendmachung weiter nötigen rechtlichen Verhältnisse ebenfalls (Register-)Transparenz und weitergehend über die wirtschaftliche Lage der Kapitalgesellschaft – zertifiziert – Transparenz hergestellt wird (Rechnungslegung) und zumindest ein Mindestkapitalausstattungsschutz verbürgt wird (Kapitalschutz). All dies ist im Wesentlichen eine auf Gläubigerschutz – also das Außenverhältnis – ausgelegte Regelung – maßgeblich im Ausgangspunkt die 1., 2. und 4. gesellschaftsrechtliche Richtlinie. Rechtlich wie wirtschaftlich sollte die Gesellschaft als Schuldner „sicherer“ oder zumindest transparenter erscheinen. Bedenkt man, dass die 6. Richtlinie74 ursprünglich die börsenrechtlichen Anfor- 48 derungen regeln, also wiederum das Außenverhältnis gegenüber den Kapitalgebern betreffen sollte, zeigt sich, dass das Außenverhältnis – die Steigerung der Verlässlichkeit gegenüber Gläubigern, teils auch Anlegern – die Harmonisierungsüberlegungen seit Beginn dominierte. Nur die 3.75 und die 6. Richtlinie (in ihrem später gewählten Zuschnitt) gelten ganz überwiegend dem Innenverhältnis, die 2. Richtlinie immerhin noch teilweise (vgl. unten Rn. 53 ff.). Das Innenverhältnis ist demgegenüber nur sehr punktuell Gegenstand von Harmonisierung geworden, etwas intensiver dann erst seit 2007 und 2017 mit den beiden Aktionärsrechte-Richtlinien. Der geplante allgemeine
zur gesamten Rechnungslegung: Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/ 349/EWG des Rates, ABl. 2013 L 182/19 (letzte Änderung ABl. 2014 L 334/86). 73 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1; Änderung ABl. 2008 L 97/62. 74 Sechste Richtlinie 82/891/EWG des Rates v. 17.12.1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften, ABl. 1982 L 378/47; nun ebenfalls Teil der Kodifikations-Richtlinie (Fn. 67). 75 Dritte Richtlinie 78/855/EWG des Rates v. 9.10.1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften, ABl. 1978 L 295/36; inkorporiert in die Kodifikations-Richtlinie (Fn. 67). Grundmann
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Rechtsakt für das Innenverhältnis, die 5. Richtlinie,76 wurde gerade nicht verabschiedet, der dahingehende Vorschlag 2001 auch formal zurückgezogen. Für das Innenverhältnis konzentrierte sich das Europäische Recht auf die Strukturmaßnahmen, die den rechtlichen Rahmen fundamental verändern, sowie die Verbürgung der genannten „verfassungsmäßigen“ Aktionärsrechte (Gleichbehandlung, vor allem Quotenerhalt und Schutz vor Verwässerung und Ausbeutung). Hinzu kam – jedoch erst seit 2007 – eine Agenda spezifisch zum Stimmrecht, seine Stärkung durch ermöglichende Maßnahmen und (seit 2017) Instrumente, die Verzerrungsfreiheit unterstützen (vgl. unten Rn. 53 ff.). 49 All diese Regeln gelten allein für Kapitalgesellschaften (diejenigen in der 2. Richtlinie gar nur für Aktiengesellschaften, vgl. zur Erklärung noch unten Rn 53 ff.). Die Vergleichbarkeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten im Außenverhältnis wurde also bei diesen ungleich stärker als Voraussetzung für einen Binnenmarkt gesehen als bei anderen Gesellschaftsformen – aus zwei Gründen: Auf Kapitalgesellschaften entfallen ungleich größere Transaktionsvolumina, gerade auch grenzüberschreitende, so dass die Zahl der Fälle, in denen Rechtsunterschiede verunsichern und damit die grenzüberschreitende Transaktion behindern könnten, ungleich größer ist.77 Zudem geht es um diejenigen Gesellschaftsformen, bei denen die persönliche Haftung grundsätzlich ausgeschlossen ist, die jedoch zur erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit frei zugelassen sind. Bei Personengesellschaften ist Ersteres nicht oder nicht für alle Gesellschafter der Fall, bei anderen juristischen Personen ist Zweiteres nicht oder nur sehr eingeschränkt der Fall. Die Regelung gerade der Kapitalgesellschaften (in den Parametern des Außenverhältnisses) folgt also der Tatsache, dass das erwerbswirtschaftliche grenzüberschreitende Geschäft einerseits auf sie konzentriert ist, und (noch wichtiger) sie andererseits als einzige Unternehmensform unbeschränkt erwerbswirtschaftlich tätig werden dürfen, ohne dass eine natürliche Person für die Verbindlichkeiten haftet. Um grenzüberschreitend „Vertrauen“ in den Vertragspartner zu verbürgen und dies recht flächendeckend, genügte die Harmonisierung allein des Kapitalgesellschaftsrechts (Außenverhältnis). Erst sehr viel später
76 Vorschlag einer fünften Richtlinie zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter hinsichtlich der Struktur der Aktiengesellschaft sowie der Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe vorgeschrieben sind, ABl. 1972 C 131/49; Geänderter Vorschlag einer fünften Richtlinie des Rates nach Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Struktur der Aktiengesellschaft sowie die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe, ABl. 1983 C 240/2; Zweite Änderung zum Vorschlag für eine fünfte Richtlinie des Rates nach Artikel 54 EWG-Vertrag über die Struktur der Aktiengesellschaft sowie die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe, ABl. 1991 C 7/4; Dritte Änderung des Vorschlags für eine fünfte Richtlinie des Rates nach Artikel 54 EWG-Vertrag über die Struktur der Aktiengesellschaft sowie die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe, KOM(1991), 372 endg. 77 Schon die BE 1 der 1. Richtlinie hatte generell betont, dass Kapitalgesellschaften (auch GmbH) internationaler agieren. Grundmann
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wurde auch effektiv darangegangen, den Aktionärsschutz nach innen moderat anzugleichen, um einen Binnenmarkt der Kapitalanlagen zu befördern (unten Rn. 53 ff.). Ein abschließendes Wort zur Kodifikations-Richtlinie: Obwohl sie vorliegend eher als Konglomerats-Richtlinie gesehen wird denn als das Gesamtsystem letztgültig prägender und abbildender Rechtsakt, bildet sie doch den Ort, in den die jüngsten Reformen im Rahmen des sog. EU-Gesellschaftsrechtspakets integriert werden –78 teils zur Digitalisierung der Gründung, also in Ergänzung zur Materie, die ursprünglich die 1. Gesellschaftsrechtliche Richtlinie regelte, teils jedoch auch zur Umstrukturierung und inneren Organisation der Aktiengesellschaft (hierzu dann unten Rn. 58).
b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung Konstatiert man demnach eine starke „Extrovertiertheit“ von Europäischem Gesell- 50 schaftsrecht, so liegt es nahe, in diesem Zusammenhang auch über die Rolle des Europäischen Kapitalmarktrechts nachzudenken. Dies betrifft in besonderem Maße schon das äußere System. Die Harmonisierungsdichte ist im Kapitalmarktrecht ungleich größer als im Ge- 51 sellschaftsorganisationsrecht, ähnlich groß ist die Harmonisierungsdichte allenfalls im Bilanzrecht. Das Europäische Gesellschaftsrecht prägt also auch ein intensiv kapitalmarktorientierter Ansatz – einer der wichtigen Beiträge vor allem des britischen, jedoch auch des französischen und belgischen Rechts. Ein Ziel oberster Priorität war es also, vor allem die für eine optimale, auch grenzüberschreitende Kapitalallokation notwendigen Strukturen weitestgehend europaeinheitlich zu schaffen. Zwar sind Deutschland und die südeuropäischen Mitgliedstaaten noch immer ungleich weniger kapitalmarktorientiert als Frankreich, Benelux und vor allem Großbritannien (und verliert die EU daher mit dem Brexit auch die am stärksten kapitalmarktorientierte nationale Unternehmenslandschaft).79 Selbst Deutschland hat jedoch heute ein ungleich
78 Sog. Gesellschaftsrechtpaket vgl. EU-Rechtsrahmen für die Mobilität von Unternehmen im Binnenmarkt („Gesellschaftsrechtspaket“ zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132), Zustimmung des Europäischen Parlaments vom 18.4.2018, 2018/0113 (COD), 2018/0114 (COD), erhältlich unter https://ec.europa.eu/info/publications/company-law-package_en. Darauf basierend: (EU-DigitalRichtlinie): Richtlinie (EU) 2019/1151 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht, ABl. 2019 L 186/80; und (EU-Mobilitäts-Richtlinie) Richtlinie (EU) 2019/2121 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen, ABl. 2019 L 321/1. Lit.nachweise etwa bei J. Schmidt, BB 2020, 1794 (1795). 79 Die italienischen und deutschen Gesellschaften nehmen nicht einmal halb so viel Eigenkapital an den europäischen Kapitalmärkten auf (18,95 %), wie es ihrem Anteil am europaweiten Bruttosozialprodukt entspräche (40 %); auch die französischen fallen ins untere Drittel, während britische Gesellschaften bei einem Beitrag von 11,2 % zum europaweiten Bruttosozialprodukt 35,49 % des Eigenkapi
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stärker entwickeltes Kapitalmarktrecht als dies durch autonome deutsche Rechtsetzung zu erwarten war. 52 Die Systemfrage angesichts dieses dichten Harmonisierungsbestandes geht insbesondere dahin, in welchem Verhältnis es zum Europäischen Gesellschaftsrecht steht.80 M. E. kann Europäisches Kapitalmarktrecht nur als integrativer Teil des Europäischen Gesellschaftsrechts gesehen werden. Wenn in der Tat das Außenverhältnis von Kapitalgesellschaften so stark im Mittelpunkt steht, und wenn denn Kapitalgesellschaften durch den Faktor „Kapital“ besonders geprägt sind, ist Europäisches Gesellschaftsrecht sinnvoll nur unter Einschluss des Kapitalmarktrechts zu denken. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: beide Rechtsgebiete fußen in der gemeinsamen (speziell gesellschaftsrechtlichen) Kompetenzgrundlage des Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV); der Unionsgesetzgeber hat selbst mehrfach kapitalmarktrechtliche Richtlinien in den Kanon der nummerierten gesellschaftsrechtlichen eingereiht (Börsenrichtlinie,81 Übernahmerichtlinie);82 immer wieder wird betont, dass in den Regelungen die Unterscheidung zwischen kapitalmarktorientierter AG und nicht kapitalmarktorientierter AG deutlich mehr Bedeutung hat als jede andere Unterscheidung, auch als diejenige zwischen den Rechtsformen der AG und GmbH. Man muss nur an das Bilanzrecht (IFRS-Verordnung)83 und das Übernahme-Recht denken, aber auch die beiden Aktionärsrechte-Richtlinien, die die gesellschaftsrechtliche Agenda der letzten 15 Jahre prägen. Alle – d. h. alle zentralen EU-Rechtsakte nach Verabschiedung des SE-Statuts Anfang des Jahrtausends – definieren ihren sachlichen Anwendungsbereich dahingehend, dass nicht die Kapitalgesellschaft oder Aktiengesellschaft all
tals aufnehmen: Wymeersch, in: Hopt u. a. (Hrsg.), Comparative Corporate Governance (1999), S. 1155– 1157. Daten von 2019 zeigen eine deutliche Entwicklung und gehen dahin, dass die Marktkapitalisierung deutscher Unternehmen – global handelnd, global als Investment gesehen und daher wenig überraschend – inzwischen vergleichbar hoch liegt wie ihr Anteil am EU-Bruttosozialprodukt, bei jeweils gut 30 %. Vgl. für die Marktkapitalisierung https://data.worldbank.org/indicator/CM.MKT. LCAP.CD?locations=EU-DE-IT (zuletzt abgerufen 1.10.2020) (2.098 Trillionen € der deutsche Anteil an 5.768 Trillionen € für die EU). 80 Hierzu der Beitrag von Kalss, in diesem Band, § 18; sowie Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, §§ 18–21; ders., European Company Law (2. Aufl. 2012), §§ 19–24; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht (1999); Moloney, EU Securities and Financial Markets Regulation (3. Aufl. 2014); Weber, Kapitalmarktrecht (1999). Zum Gesamtbestand auf jüngstem Stand vgl. Grundmann, Bankvertragsrecht, Band 2: Investment Banking, (2021). 81 Richtlinie 2001/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen, ABl. 2001 L 184/1; jüngere Änderungen ABl. 2005 L 79/9. Ursprünglich, wie gesagt, geplant als 6. Gesellschaftsrechtliche Richtlinie. 82 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12, letzte Änderung ABl. 2014 L 173/190. Ursprünglich geplant als sog. 13. Gesellschaftsrechtliche Richtlinie. 83 Nachw. oben Fn. 73.
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gemein, sondern spezifisch die an Kapitalmärkten gehandelte AG adressiert wird. Die kapitalmarktorientierte AG ist so geradezu zu einer eigenen Rechtsform avanciert, die in Mitgliedstaaten wie Deutschland oder Österreich dann auch zum Hauptthema von Juristentagen gemacht wurde. Und äußerst wichtig: Für (Klein-)Aktionäre – und reflexartig für Vorstandsmitglieder – finden sich mit exit und voice zwei große Formen, wie sie auf Verhalten anderer Beteiligter reagieren: Innergesellschaftlich durch Ausübung von Mitverwaltungsrechten oder außergesellschaftlich über einen Kauf bzw. Verkauf des Anteils. Nur in der Zusammensicht entsteht ein organisches (Gesamt-) Bild. Die starke Ausrichtung auf kapitalmarktrechtliche Instrumente trägt dazu bei, dass etwa für die Corporate Governance, den rechtlichen Rahmen der Entscheidungsfindung in (Publikums-)Gesellschaften, zunehmend angenommen wird, die Reaktionsmöglichkeiten auf Kapitalmärkten (externe Corporate Governance) trügen heute bereits überhaupt die stärksten Anreize für gutes Management in sich.84
c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften Immer wieder wird die Einschränkung des Anwendungsbereichs wichtiger Richtlinien 53 auf die Aktiengesellschaft kritisch gesehen. In besonderem Maße gilt dies für die 2. Richtlinie, die Kapitalrichtlinie.85 Denn wenn diese vor allem Gläubigerschutz bewirken soll, ist kaum verständlich, warum sie nicht auch die GmbH erfasst, die insolvenzanfälliger ist. Zu erklären ist die Einschränkung demgegenüber, wenn man in diesen Richtlinien daneben auch oder gar vor allem das Anliegen verwirklicht sieht, denjenigen Gesellschaftern, die wie Gläubiger anonym und massenhaft einer Gesellschaft gegenübertreten, (und nur ihnen) wiederum einen Mindestsockel an Absicherung an die Hand zu geben. Und solche Gesellschafter kann es in allen Mitgliedstaaten auf Grund überall zu findender (verschiedener) Ausgestaltungsvorgaben nur im Falle der Aktiengesellschaft geben.86 Dann wären die 2. Richtlinie (Kapitalrichtlinie), die 3. Richt-
84 Vgl. etwa, mit einer Trennung zwischen den Mitgliedstaaten, die eher auf externe Mechanismen setzen (neben der angloamerikanischen Welt am ehesten Frankreich) und denjenigen, die dezidiert mehr interne Mechanismen betonen (alle anderen, besonders Deutschland): Wymeersch, AG 1995, 299, 309–315. Zur theoretischen Basis vgl. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty – Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, (1970); und Grundmann, in: Grundmann/Micklitz/Renner, New Private Law Theory – A Pluralist Approach, chapter 21. 85 Für diese etwa: Lutter, ZGR 2000, 1, 7 und 9 f.; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, (5. Aufl. 2019), § 4 Rn. 7 f. Umgekehrt wird etwa in England kritisiert, dass es überhaupt die KapitalRichtlinie für Aktiengesellschaften gibt: Vgl. Company Law Review Steering Group, Consultation Document „Modern Company Law – For a Competitive Economy – The Strategic Framework“ (Februar 1999), S. 21 f., 81 ff. (abrufbar unter https://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20070109061357/ http://www.dti.gov.uk/files/file23279.pdf) (zuletzt aberufen am 1.10.2020); dazu etwa Sealy, Int’l Comp. Corp. LJ 2 (2000), 155; lesenswert Bachmann, ZGR 2001, 351, bes. 362 f. 86 Vgl. Übersicht zu diesen Mechanismen, die in der einen oder anderen Form in allen Mitgliedstaaten zu finden sind (Höchstgesellschafterzahlen, Verbote öffentlicher Angebote oder Erfordernis nota
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linie (Fusionsrichtlinie) und auch die Übernahmerichtlinie als Richtlinien zu verstehen, die diese Mindestgarantien einheitlich für ganz Europa festlegen – teils neben Gläubigermindestschutzregeln – und die solchermaßen europaweit Vertrauen begründen helfen, auf Grund dessen dann vertrauensvoll in Aktien nach ganz verschiedenen Rechten investiert werden kann. Man kann hier von Europäischen Verfassungsrechten für (Klein-)Aktionäre sprechen. Hinzu kommen natürlich die besonderen Kautelen des Kapitalmarktrechts, wenn die Anteile – wiederum nur Aktien – auf Kapitalmärkten gehandelt werden. 54 Unter den substantiellen Regeln, die mehrheitsfest sind und als „verfassungsmäßige“ Garantien das Informationsmodell (vgl. oben Rn. 45 ff. und vor allem unten Rn. 67 ff.) komplettieren, steht zuvörderst eine Politik gegen Quotenveränderung. Durchgehend und in den verschiedensten Rechtsakten wird dem Aktionär seine Quote verbürgt: In jedem Fall soll er sie wertmäßig behalten, dies ist Mindestinhalt des Gleichbehandlungsgebots (Art. 42 KapRL).87 In vielen Fällen soll sogar der Anteil selbst mit gleich bleibender Quote erhalten bleiben. Offensichtlich ist dies beim Bezugsrecht, das ebenfalls die 2. Richtlinie (Kapitalrichtlinie) zumindest bei Kapitalerhöhung gegen Bareinlagen vorsieht.88 Auch bei der Umstrukturierung in Form der Fusion (und Spaltung) bildet der Austausch gegen Anteile der übernehmenden Gesellschaft auf Europäischer Ebene das gesetzliche Modell, und ist eine nicht verhältniswahrende Bedienung der Aktionäre überhaupt nur bei der Spaltung vorgesehen – die auch dann nicht etwa dazu führt, dass der Aktionär den Wert seines Anteils unvollständig abgegolten erhielte, sondern nur dazu, dass ihm Aktien nicht mehr verhältniswahrend zugeteilt werden. Auch in der Übernahmerichtlinie ist die Gleichbehandlung, d. h. die zumindest wertmäßige Gleichstellung der Aktionäre der Zielgesellschaft untereinander, einer der beiden Zentralinhalte und war schon seit einigen Jahren europaweit einheitlicher Standard, während sie in der Diskussion zum ersten Vorschlag in Deutschland doch noch als nachgerade revolutionierend empfunden wurde.89 Auch
rieller Beurkundung beim Anteilsverkauf im Falle der GmbH): Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 107. 87 Zu diesem Gebot BGHZ 120, 141, 150 f. (zur Kapitalrichtlinie); grundlegend Lutter, FS Ferid (1988), bes. S. 605–608; sowie Edwards, EC Company Law (1999), S. 56 (überragend wichtig); Kalss, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsprivatrecht – Teil 1: Gesellschaftsrecht (1994), S. 215; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 325. 88 Dazu (und zu seinem Ausschluss) statt aller Bagel, Der Ausschluß des Bezugsrechts in Europa (1999); Kindler, ZGR 1998, 35; Wymeersch, AG 1998, 382; dann Monographien etwa von: Natterer, Kapitalveränderung der Aktiengesellschaft, Bezugsrecht der Aktionäre und „sachlicher Grund“ (2000); Schumann, Bezugsrecht und Bezugsrechtsausschluß bei Kapitalbeschaffungsmaßnahmen von Aktiengesellschaften, (2001); Liebert, Der Bezugsrechtsausschluss bei Kapitalerhöhungen von Aktiengesellschaften, (2003); Böttger, Der Bezugsrechtsausschlussbeim genehmigten Kapital, (2005). 89 Für die damalige Kritik vgl. vor allem Hopt, in: Balzarini/Carcano/Mucciarelli (Hrsg.), I gruppi di società (1995), S. 45 (S. 53 „major stumbling block“); früh ausführlich Assmann/Bozenhardt, in: Assmann u. a. (Hrsg.), Übernahmeangebote (1990), S. 1; vgl. noch: Wymeersch, in: Hopt u. a. (Hrsg.), Com
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de facto darf also die Quote nicht verändert werden. All dies stellt zugleich ein durchgängiges Minderheitsschutzmodell dar, das auf der Idee beruht, dass sich auch Kleinaktionäre eher und unter faireren Bedingungen in die Hände aktiverer professioneller oder beherrschender Aktionäre geben mögen, wenn sie sich zwar für die Strategie, die zum gemeinsamen Erfolg führen soll, in deren Hand geben müssen, stets jedoch ihren gleichen Anteil so gut wie möglich verbürgt sehen. Das zweite Stück des Aktionärsschutzmodells („Verfassungsrechte“) hängt eng 55 mit dem Informationsmodell zusammen; hier werden nicht mehr individuelle Rechte verbürgt, wohl aber kollektive Entscheidungsmacht: Im Europäischen Recht ist, wann immer es zu dieser Frage Regelungen entwickeln konnte, durchgängig zu beobachten, dass alle Strukturmaßnahmen und auch alle Satzungsänderungen, namentlich Kapitalmaßnahmen, unter den Vorbehalt eines Hauptversammlungsbeschlusses gestellt werden und zwar bei allen strukturändernden Maßnahmen und auch beim Bezugsrechtsausschluss mit qualifizierter Mehrheit, so dass in diesen Fällen nicht nur die Entscheidungsmacht der Aktionäre, sondern auch ein kollektiver Minderheitenschutz europaweit verbürgt werden. Hinzuweisen ist namentlich auf Art. 29 Abs. 1, 33 Abs. 4, 5 und 44 der Kapitalrichtlinie (Kapitalmaßnahmen und Bezugsrechtsausschluss, in der Kodifikations-Richtlinie Art. 68 Abs. 1, 72 Abs. 4, 5 und 83), zudem Art. 17, 19 Abs. 1 lit. a), Art. 7 und 9 f. der Fusions- und Spaltungsrichtlinie (Strukturmaßnahmen-Grundmodell, in der Kodifikations-Richtlinie Art. 93, 95 f., 103, 105 Abs. 1 lit. a) und Art. 59 Abs. 1 SE-VO (Satzungsänderung), eigentlich auch Art. 9 der Übernahmerichtlinie (Hauptversammlungsvorbehalt bei Abwehrmaßnahmen gegen das Angebot insgesamt). Mit der Aktionärsrechte-Richtlinie von 200790 wird dieser zweite Ansatz – die Ver- 56 bürgung von „Verfassungsrechten“ für Aktionäre – noch weiter getrieben und darüber hinaus gegangen: Denn hier nun werden an einem zentralen Punkt auf individueller Ebene Rechte auch hinsichtlich des laufenden Geschäfts verbürgt: Was die Effizienz der Ausübung des individuellen Stimmrechts aus der Aktie angeht, schafft diese Richtlinie umfangreiche europaweit geltende Garantien. Ziel ist freilich nicht nur der Individual-, sondern auch der Funktionsschutz. Denn das niedrige Maß von Stimmrechtsausübung wurde als ein Problem für die Entscheidungsfindung und Kontrolle in der (börsennotierten) Aktiengesellschaft generell gesehen, also als eine zen
parative Corporate Governance (1999), S. 1196 f. (umstrittenste Regel); rechtsvergleichende Übersicht zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Übernahmerecht der Mitgliedstaaten (schon vor Verabschiedung der Richtlinie): De Beaufort, Les OPA en Europe (2001); Baums/Thoma, Takeover laws in Europe (Gesetzestexte) (2002); Wymeersch, EFSL 3 (1996), 301 und 4 (1997), 2; ders., ZGR 2002, 520; allgemeiner Mattig, Gleichbehandlung im europäischen Kapitalmarktrecht, (2019); auch Mehringer, Das allgemeine kapitalmarktrechtliche Gleichbehandlungsprinzip, (2007). 90 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. 2007 L 184/17, letzte Änderung ABl. 2017 L 132/1 (unten Fn. 93).
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trale Schwäche in der Corporate Governance. Daher wurden vor allem diejenigen Hindernisse ausgeräumt, die die Stimmrechtsausübung für (Klein-)Aktionäre über die Grenzen erschweren: Es werden seitdem Einberufungsfristen verbürgt, die – auch angesichts langer Verwahrketten – hinreichend lang sind; es wird zudem jede Form der Stimmrechtsvertretung verbürgt, besonders wichtig: auch der organisierten Stimmrechtsvertretung (Verwaltungsstimmrecht, Depotstimmrecht, Stimmrecht für Aktionärsvereinigungen); und es wird seitdem den Gesellschaften zumindest freigestellt, die Stimmabgabe in absentia zuzulassen (elektronisch, fernschriftlich); flankierend kommen Aktionärsinformationsrechte zur Tagesordnung hinzu. 57 All dies war eine wichtige, noch heute in Entwicklung befindliche Neuausrichtung, die freilich bereits früh als Auftakt für eine breitere Agenda zur Ausgestaltung der (nicht nur sektor-, spezifisch bankbezogenen) Corporate Governance auch des laufenden Geschäfts verstanden wurde.91 Dass es sich um eine allgemeinere Agenda handelt, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch andere Rechtsakte, namentlich die EURechnungslegungsregeln, hierfür instrumentalisiert werden, namentlich mit der sog. CSR-Richtlinie, die primär eine Offenlegung zu Kerngehalten der jeweiligen Corporate Social Responsibility hinsichtlich Zulieferketten vorsieht,92 damit jedoch auch nach innen verhaltenssteuernd wirken soll. 2017 folgte die Aktionärsrechte-Richtlinie II,93 die einerseits die Zielsetzung, Aktionären auch de facto ihre Quote zu verbürgen, dadurch vervollständigt, dass sie für Transaktionen der AG mit ihr nahestehenden Personen ein strenges Überwachungsregime einführt, die jedoch auch andererseits mit den Institutionellen Investoren und (ihren) Stimmrechtsberatern zentrale Spieler in der Corporate Governance und ihr Abstimmungsverhalten stärkeren Transparenzregeln unterwirft. Schließlich wurde 2019 auch der Zweig der Umstrukturierungsmaßnahmen fortentwickelt, diesmal mit der Zielrichtung, diese Maßnahmen umfassend auch grenzüberschreitend nutzen zu können – also das beschriebene Transparenz- und Hauptversammlungszustimmungsmodell binnenmarktgrenzüberschreitend umfassend verfügbar zu machen.94
91 Vgl. Grünbuch – Europäischer Corporate Governance-Rahmen v. 5.4.2011, KOM(2011) 164 endg; dazu etwa Grundmann, European Company Law, § 14; Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht (5. Aufl., 2012), S. 396–398 (mit umfangreichem Lit.nachw.); Bachmann, WM 2011, 1301–1310; Hopt, EuZW 2011, 609–610. 92 Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EG im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, ABl. 2014 L 330/1 – formal also eine Novelle zur allgemeinen EU-Rechnungslegungs-Richtlinie. 93 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, ABl. 2017 L 132/1. 94 Sog. EU-Mobilitäts-Richtlinie, Nachw. oben Fn. 78. Grundmann
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2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen a) Wettbewerb der Formen Für das Europäische Gesellschaftsrecht wurde in den letzten 20 Jahren der Wett- 58 bewerb prägend, teils der nationalen Rechtsformen untereinander, teils auch dies in grenzüberschreitenden Mischungen (etwa Ltd. & Co. KG), und teils der nationalen mit den Europäischen Rechtsformen. Der erste genannte Wettbewerb dominiert, vor allem auch deswegen, weil auch die Europäischen Rechtsformen, vor allem die Societas Europaea, im überwiegenden Teil der Rechtsfragen durch das nationale Recht des Sitzes geregelt werden. Abgesehen vom numerus clausus der Gründungsformen und der Gründung sind im Wesentlichen nur zwei Fragen von Gewicht vereinheitlicht: das Wahlrecht für die Struktur beim Leitungsorgan (wichtig für die Kompatibilität der Formen, dazu sogleich Rn. 60 ff.) und die zwingende Hauptversammlungskompetenz und -mindestmehrheit bei Satzungsänderungen. Die besondere Bedeutung der Europäischen Rechtsformen liegt deswegen wohl vor allem im Prestigefaktor und darin, dass mit ihnen ein Mittel zur Verfügung steht, das die identitätswahrende grenzüberschreitende Sitzverlegung und Fusion zweifelsfrei und weitgehend steuerneutral ermöglicht, außerdem in punktuellen Flexibilisierungsmöglichkeiten beim Leitungsorgan, und natürlich, wo relevant, die Flexibilisierung des Mitbestimmungsregimes. Mit der EU-Mobilitäts-Richtlinie sollte gleiches seit 2019 jedoch auch für die Parallelformen nach nationalem Recht endgültig verbürgt sein. Die drei Ansatzpunkte für diesen in den letzten 20 Jahren erheblich verstärkten 59 Wettbewerb der nationalen oder teileuropäisierten Formen bilden:95 (1) Die EuGH-Urteile zur Niederlassungsfreiheit (Fn. 19), die im Wesentlichen eine Freiheit, das anwendbare Recht zu wählen, im binnenmarktgrenzüberschreitenden Verkehr aus der Niederlassungsfreiheit ableiten, eingeschränkt nur durch die Möglichkeit, dass nationales beschränkendes Recht auf (eng auszulegende) zwingende Gründe des Allgemeininteresses gestützt werden kann, sowie dadurch, dass jeder Mitgliedstaat entscheiden kann, unter welchen Umständen er Gesellschaften sein nationales Statut eröffnet bzw. belässt (Registrierung oder zusätzlich Hauptverwaltungssitz). (2) die genannten Europäischen Gesellschaftsformen, bisher verfügbar für eine kleine Personenhandelsgesellschaft (EWIV), die Aktiengesellschaft (SE) und die Genossenschaft, alle nur teilvereinheitlicht; und (3) die mit der EU-Mobilitäts-Richtlinie 2019 zum Abschluss gekommenen Bemühungen um eine Reform der Richtlinie zur grenzüberschreitenden, identitätswahrenden Sitzverlegung und Fusion, die nunmehr die nationalen Formen erfassen soll und zwar zunehmend die ganze Bandbreite von
95 Näher etwa Grundmann, FS Raiser (2005), S. 81–98; wichtig daher zunehmend die Handbücher zu ausländischen Gesellschaftsformen in Deutschland, vor allem Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2. Aufl. 2010); Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüberschreitende Gesellschaften (2. Aufl. 2006). Nachweise für die im Folgenden zitierten Rechtsakte etwa oben und bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht. Grundmann
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diesen (beginnend mit der Internationalen Verschmelzungs-Richtlinie, in Kraft bereits seit 2005).96
b) Kompatibilität der Formen 60 Ein Wettbewerb der Formen wird erheblich erleichtert, wenn auf Kompatibilität der
Formen geachtet wird. So wird der Übergang von einer Rechtsform nach einem Recht zu einer nach einem anderen Recht erleichtert. Im Europäischen Gesellschaftsrecht ist ein Bemühen um solche Kompatibilität vielfach zu beobachten. Anschlussfähigkeit wird immer wieder gefördert, wenn auch nicht flächendeckend verbürgt. Zwei Beispiele mögen dies deutlich machen. 61 Das erste betrifft die Umstrukturierung einer Gesellschaft. Umstrukturierung bedeutet regelmäßig auch Wechsel des rechtlichen Kleides (Satzungsanpassung). Ändert sich jedoch schon die Grobstruktur, so erschwert dies zusätzlich die Strukturmaßnahme. Da die Hauptversammlung als Organ überall vorgegeben ist, ist zuvörderst an die Ein- oder aber Zweistufigkeit des Leitungsorgans zu denken, zumal die Wahl der einen oder anderen Form auch weitere Gestaltungsmöglichkeiten beeinflusst, etwa die Frage nach der unternehmerischen Mitbestimmung. Es lag daher nahe, für die Societas Europaea dem französischen Beispiel zu folgen und die Wahl zwischen beiden möglichen Strukturen des Leitungsorgans den Gesellschaften zu überlassen (Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 SE-VO). Und wenig später zog mit Italien ein weiterer großer Mitgliedstaat nach.97 62 Das zweite Beispiel betrifft die Strukturierung des Außenverhältnisses nach Europäischem Recht. Dies ist wichtig, da hier nach dem Gesagten ein Schwergewicht europäischer Harmonisierung liegt. Das Beispiel entstammt der 1. Richtlinie (Publizitätsrichtlinie, seit 2017 integriert in die EU-Kodifikations-Richtlinie) und betrifft die dort geregelte organschaftliche Vertretungsmacht. Nicht geregelt, also dem Variantenreichtum nationaler Rechte überlassen sind so zentrale Fragen wie die Organkompetenz oder die Frage nach den Grenzen der Vertretungsmacht im Innenverhältnis, nach Einzel- und Gesamtvertretungsmacht. Und doch ist die Regelung überall anschlussfähig. Hauptinstrument ist die Eintragungspflicht im Handelsregister: Ist Gesamtvertretungsmacht nicht eingetragen, kann der Dritte sich auf Einzelvertretungsmacht verlassen.98 Dies ist gut erkennbar, zugleich wird so jeder Gesellschaft doch
96 Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. 2005 L 310/1, integriert in die Kodifikations-Richtlinie (Fn. 67). 97 Zu dieser (liberalen) Grundsatzentscheidung des SE-Statuts: Hommelhoff, AG 2001, 279, 282 f.; Lutter, BB 2002, 1, 4; Schwarz, ZIP 2001, 1847, 1854. Das Wahlrecht war in Frankreich seit 1966 bekannt, hierzu und für Italien vgl. Hopt, ZGR 2000, 779, 815; Buse, RIW 2002, 676, 678. 98 Vgl. EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga GmbH, EU:C:1974:116 Rn. 6; zust. Fischer-Zernin, Der Rechtsangleichungserfolg der Ersten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie der EWG (1986), S. 261.
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ein Mittel an die Hand gegeben, Vorstandswillkür (in Form von Missbrauch der Vertretungsmacht) vorzubeugen. Daher muss umgekehrt nicht so weit gegangen werden, Beschränkungen im Innenverhältnis im Außenverhältnis weitgehend zum Tragen zu bringen – wie dies in allen Mitgliedstaaten außer Deutschland der Fall war. Vielmehr ist nur die Anmaßung einer Kompetenz, die dem Vorstand nach jeweiligem nationalen Recht auch abstrakt-generell nicht zustehen kann, für den Dritten schädlich.99 Und dies sind idR nicht viele Geschäfte und regelmäßig die gleichen, nämlich die Grundlagengeschäfte. In allen anderen Punkten schadet dem Dritten nur Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von Beschränkungen.
c) Generalisierbarkeit? Die Frage der Generalisierbarkeit Europäischer Modelle als einer weiteren Form der Ausstrahlungswirkung wird demgegenüber für das Europäische Gesellschaftsrecht ungleich weniger diskutiert und gedacht als für das Europäische Vertragsrecht. Freilich ist auch diese Form der Ausstrahlungswirkung an durchaus zentralen Stellen zu konstatieren. Für übertragbar erachtet wurde insbesondere das Handelsregisterrecht – Publizitätsinhalte, -instrumente und -wirkungen –, denn mit Ausnahme vor allem des Vereinigten Königreichs hat sich das Modell der 1. Richtlinie (seit 2017 EU-KodifikationsRichtlinie), das allein für Kapitalgesellschaften europäisch vorgeschrieben ist, in allen wichtigen Mitgliedstaaten zu einem allgemeinen Modell für alle Kaufleute/Unternehmer oder zumindest alle Handelsgesellschaften fortentwickelt. Auch das Europäische Bilanz- und das Umwandlungsrecht haben vielfach weit über ihren Anwendungsbereich ausgestrahlt. In Deutschland wurde beispielsweise Zweiteres – bei eigenen starken Wurzeln – die Grundlage eines ungleich systematischer durchgeführten Umwandlungsrechts und -gesetzes.100 Und das Europäische Bilanzrecht führte zur Ausgliederung aus dem Aktienrecht und zur Entwicklung eines allgemeinen Bilanzrechts im Handelsgesetzbuch. Relativ wenig Vorbildwirkung entfalteten die genuin Europäischen Rechtsformen, dies gilt auch heute (noch) selbst für die SE. Freilich mag sich im Anschluss an Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 SE-VO ein Trend entwickeln, dass der Gesellschaft selbst ein Wahlrecht eingeräumt wird, ob sie denn ein ein- oder ein zweistufiges Leitungsorgan haben will (Fn. 97).
99 Art. 10 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie (identisch Art. 9 Abs. 1 S. 1 der Kodifikations-Richtlinie), was freilich der EuGH in Rabobank verkannte, indem er dort eine Rechtsmissbrauchseinschränkung im Einzelfall zuließ: EuGH v. 16.12.1997 – Rs. C-104/96 Coöperatieve Rabobank „Vecht en Plassengebied“ ./. Minderhoud, EU:C:1997:610; vgl. für berechtigte Kritik Meilicke, DB 1999, 785, 786–788; Schmid, AG 1998, 127, 129–131. 100 Schön verschränkt sind beide dargestellt bei Hommelhoff/Riesenhuber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 259. Grundmann
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3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells101 67 Inhaltlich ragt auch im Europäischen Gesellschaftsrecht das Informationsmodell her-
vor,102 fast noch offensichtlicher als im Vertragsrecht. Das gilt wiederum bereits für das Primärrecht. Auf Grund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informationsregeln den Vorzug zu geben gegenüber inhaltlich zwingenden Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.103 68 Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert wiederum der Europäische Gesetzgeber im Sekundärrecht. Nicht nur hat das Herzstück, das im Wesentlichen alle Gesellschaftsformen erfasst, das Bilanzrecht, Informationsaufbereitung und -weitergabe zum Gegenstand. Vielmehr gilt gleiches auch für das Kapitalmarktrecht als das zweite Teilstück neben dem Organisationsrecht. Und selbst die Regelung von Umstrukturierungen ist vor allem informationsorientiert. Denn dies bedeutet stets, dass weitestmöglich auf autonome Entscheidung der Betroffenen gesetzt und diese – durch hinreichende Information – vorbereitet wird. Dabei wird Information in verschiedener Hinsicht „optimiert“. Im Recht der Umstrukturierung, für die die 3. Richtlinie (seit 2017 EU-Kodifikations-Richtlinie) das Modell bildet, sind alle wesentlichen Informationen sowohl zur Strukturmaßnahme insgesamt als auch zu den Auswirkungen auf den einzelnen Aktionär aufzubereiten und bestmöglich zugänglich zu machen, des Weiteren neutral und professionell zu überprüfen und trifft – auf dieser Grundlage – der Betroffene zuletzt selbst die Entscheidungen – jedenfalls im Kollektiv, denn die Hauptversammlungszuständigkeit wird garantiert, in vielen Fällen auch individuell, auf Grund eines Auskaufsrechts oder individueller Kauf- und Verkaufsentscheidungen. Zusätzlich unterstützt wird die Informationsverlässlichkeit durch Haftungsregeln. Das Modell ist mit all diesen Elementen wiederzufinden im Bilanzrecht und im Kapitalmarktrecht, wobei für den Betroffenen teils auch noch gewährleistet wird, dass die Information für ihn zusätzlich individualisiert, bezogen auf seine Situation, aufbereitet wird (im Wertpapierhandel).104 Und auch in der Übernahmerichtlinie ist die informationelle Vorbereitung der zwei wichtigsten Entscheidungen ausführlich ge-
101 Zu weiteren Systembausteinen und -charakteristika vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 31; ders., ZIP 2004, 2401; Jung, GPR 2004, 233. 102 Ausführlich Grundmann, FS Lutter (2000), S. 61; ders., DStR 2004, 232; monographisch vor allem Grohmann, Informationsmodell im Europäischen Gesellschaftsrecht (2006); Merkt, Unternehmenspublizität (2001). 103 Für die Niederlassungsfreiheit und das Gesellschaftsrecht: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, EU:C:1999:126, Rn. 34–38; auch EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, EU:C:2003:512. 104 Zu dieser Optimierung der Information für den individuellen Anleger durch Einschaltung und Regulierung von Informationsintermediären: Gemberg-Wiesike, Wohlverhaltenspflichten beim Vertrieb von Wertpapier- und Versicherungsdienstleistungen (2005), S. 94; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Autonomy, S. 269–271 und 291; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht (1999), S. 376–386. Grundmann
V. Ausblick
283
regelt: die Information zum Angebot, auf das durch individuelle Entscheidung zu antworten ist, und die Information zur Übernahme insgesamt, auf die durch kollektive Entscheidung zu Verteidigungsmaßnahmen zu antworten ist. Auch die sonstigen Rechtsakte, insbesondere die 1. und auch die 2. Richtlinie (bei- 69 de 2017 praktisch inhaltsgleich eingegangen in die EU-Kodifikations-Richtlinie), sind stark informationsorientiert (Fn. 103). Die 1. Richtlinie trug nicht von ungefähr den Titel einer Publizitätsrichtlinie. Und ist die Entscheidung einmal getroffen, so gehört ebenfalls zum Modell „informierte Entscheidung“, dass dieser idR sehr hohe Bestandskraft beigelegt wird: Die Nichtigkeit wird stark zurückgedrängt – sowohl in der 1. Richtlinie bei Gründung als auch in der 3. Richtlinie bei Umstrukturierung (beides jetzt EU-Kodifikations-Richtlinie) – und zudem wird eine weitere präventive (gerichtliche) Kontrolle vielfach vorgeschrieben. Rechtssicherheit ist gerade im grenzüberschreitenden Verkehr in der Tat von großer Bedeutung. Dieses Anliegen wird hier denn auch teils nochmals spezifisch bedient, etwa wenn die Europäische Fusionsregelung für internationale Sachverhalte die Nichtigkeitsgründe nochmals stärker eingrenzt.
V. Ausblick Das System des Europäischen Privatrechts entwickelt sich rasant. In den ca. 20 Jah- 70 ren, in denen der Begriff für das Europäische Privatrecht bisher positiv gedacht wird,105 hat sich unendlich viel ereignet: Das Kaufrecht als Kernstück im Europäischen Vertragsrecht wurde während der Laufzeit der damaligen Ringvorlesung gerade erst verabschiedet, inzwischen mit der EU-Warenkauf-Richtlinie neu aufgelegt. Es folgten die verschiedenen Mitteilungen der Kommission, die Systematisierung zum zentralen Ziel erklärten (oben Rn. 1 mit Fn. 1). Der Prozess zur Entwicklung eines Gemeinsamen Referenzrahmens hatte viel, vielleicht das meiste damit zu tun.106 Über alle Rechtsgebiete erstreckt sich eine Europäische Digitalagenda, sichtbar in den beiden näher erörterten Rechtsgebieten bis hin zu den beiden Vertragsrechts-Richtlinien von 2019. Riesenhuber schrieb die erste große Monographie, die das System „durchdekliniert“ (oben Rn. 1). Zunehmend entstanden Reihen von systematischen Lehrbüchern zum acquis. Im Gesellschaftsrecht wurde der Gesamtbestand später von einer Expertengruppe flächendeckend durchleuchtet.107 Allein im deutschen Schrifttum entstan-
105 Beginnend wohl mit den Beiträgen zu: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken. 106 Zu diesem oben Rn. 1, 36. 107 High Level Group I/II, Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über die Abwicklung von Übernahmeangeboten v. 10.1.2002 und Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa v. 4.11.2002,, abrufbar unter https://www.caplaw.eu/file_download. php?l=cn§=ov&mod=Gesellschaftsrecht&type=grundlagen&q=bericht_der_hochrangigen_grupp Grundmann
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§ 9 Systemdenken und Systembildung
den drei Lehrbücher (Habersack, Schwarz, Grundmann), die an die Seite des großen Kommentars von Lutter, heute Lutter/Bayer/J. Schmidt traten, drei dieser vier bis heute fortgeschrieben. Mit der Societas Europaea wurde die große Alternativform zu den nationalen Rechtsformen geschaffen und relativ gut angenommen. Das Kernstück Bilanzrecht wurde kodifiziert und ist auch global kompatibel ausgestaltet, das gesamte Kapitalmarktrecht ist in stetiger Reform und bildet ohnehin den dynamischsten Teil des Europäischen Gesellschaftsrechts im weiten Sinne – sichtbar auch an solchen Reformprojekten wie der sog. Kapitalmarktunion. 71 Systemdenken ist wichtiger denn je im Europäischen Privatrecht. Es ist nicht zuletzt auch die Grundlage für die zwei wohl wichtigsten Auslegungsmethoden, die systematische und auch in gewissem Maße die teleologische, und für die großen Fragen wie die Rechtsfortbildung und teils auch die richtlinienkonforme Auslegung. Eine der spannendsten Fragen wird weiterhin sein, ob die Europäische Privatrechtswissenschaft fähig ist, in den nächsten Jahren System wirklich überzeugend für das moderne Vertrags- und das moderne Gesellschaftsrecht zu schaffen, in geschriebener Form und nicht nur als Übernahme tradierter Systeme.
e_von_experten_auf_dem_gebiet_des_gesellschaftsrechts_ueber_moderne_gesellschaftsrechtliche_r ahmenbedingungen_in_europa&c=7&d=bericht_high_level_group.pdf (Jaap Winter [Vorsitzender], Jan Schans Christensen, José Maria Garrido Garcia, Klaus J. Hopt, Jonathan Rickford, Guido Rossi, Dominique Thienpont [Rapporteur]; Karel van Hulle [Sekretär]); dazu Stellungnahme der Group of German Experts on Corporate Law, ZIP 2002, 1310. Grundmann
§ 10 Die Auslegung Literatur: Thomas Ackermann, Sektorielles EU-Recht und allgemeine Privatrechtssystematik, ZEuP 2018, 741–781; Axel Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre (2009), S. 246 ff.; Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997); Anthony Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, in: Mads Andenas (Hrsg.), European Community Law in the English Courts (1998), S. 115–136; Jürgen Basedow, Sektorielle Politiken und allgemeine Privatrechtssystematik, ZEuP 2018, 782–787; Jürgen Basedow/Klaus J. Hopt/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), Stichworte „Auslegung des Gemeinschaftsrechts“, „Richtlinie“; Gunnar Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU (2012); Joxerramon Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence (1993); Anna Bredimas, Methods of Interpretation and Community Law (1978); Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Claus-Wilhelm Canaris, Die Bedeutung allgemeiner Auslegungs- und Rechtsfortbildungskriterien im Wechselrecht, JZ 1987, 543–553; ders., Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, in: Volker Beuthien u. a. (Hrsg.), Festschrift für Dieter Medicus (1999), S. 25–61; Rupert Cross/John Bell/George Engle, Statutory Interpretation (3. Aufl. 1995); Holger Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013); Stefan Grundmann, „Inter-Instrumental Interpretation“ – Systembildung durch Auslegung im Europäischen Unionsrecht, RabelsZ 75 (2011), 882–932; ders./Karl Riesenhuber, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Stephan M. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof (1997); Hans Christoph Grigoleit, Das historische Argument in der geltendrechtlichen Privatrechtsdogmatik, ZNR 30 (2008), 259–271; Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009); Carsten Herresthal, Die Rechtsgewinnung in einer fragmentarischen supranationalen Rechtsordnung, in: Stefan Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts (2013), S. 49–78; Burkhard Hess, Methoden der Rechtsfindung im Europäischen Zivilprozessrecht, IPRax 2006, 348–363; Heinrich Honsell, Der „effet utile“ und der EuGH, in: Erwin Bernat/Elisabeth Böhler/Arthur Weilinger (Hrsg.), Zum Recht der Wirtschaft – Festschrift für Heinz Krejci (2001), S. 1929–1940; Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung (2008); ders./Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Giulio Itzcovich, The Interpretation of Community Law by the European Court of Justice, GLJ 10 (2009), 537–559; Christoph Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte (2003); Detlef Leenen, Die Auslegung von Richtlinien und die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung des nationalen Rechts, Jura 2012, 753–762; Walter Georg Leisner, Die subjektiv-historische Auslegung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2007, 689–706; Marcus Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593–607; Neil D. MacCormick/Robert S. Summers, Interpreting Statutes – A Comparative Study (1991); Michael Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994); ders., Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465–487; ders., Wertkonforme Auslegung des Unionsrechts? EuR 2016, 164–176; Joel Reyes y Ráfaeles, Die integrationsdynamische Auslegungsmethode am Beispiel der europäischen Grundfreiheiten, EuR 2018, 498–525; Karl Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003); ders., Kein Zweifel für den Verbraucher, JZ 2005, 829–835; ders., Systembildung durch den CFR – Wirkungen auf die systematische Auslegung, in: Martin Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen (2009), S. 173–216; ders., Methodenfragen (der Systembildung) im Europäischen Arbeitsrecht, in: Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.), Systembildung im Europäischen Arbeitsrecht (2016), S. 15–52; ders., „Normative Dogmatik“ des Europäischen Privatrechts, in: Marietta Auer/Hans Christoph Grigoleit/Johannes Hager et al. (Hrsg.), Privatrechtsdogmatik im 21. Jahrhundert (2017), S. 181–203; ders., Rechtsvergleichung als Methode der Rechtsfindung?, AcP 218 (2018), 693–723; ders.,
Riesenhuber https://doi.org/10.1515/9783110614305-010
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§ 10 Die Auslegung
Neue Methode und Dogmatik eines Rechts der Digitalisierung? – Zu Grünbergers „responsiver Rechtsdogmatik“, AcP 219 (2019), 892–923; Frank Rosenkranz, Die Auslegung von „Ausnahmevorschriften“, Jura 2015, 783–788; Marek Schmidt, Privatrechtsangleichende EU-Richtlinien und nationale Auslegungsmethoden, RabelsZ 59 (1995), 569–597; Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999); Lovro Tomasic, Effet utile – Die Relativität teleologischer Argumente im Unionsrecht (2013); Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2 Bde. (2001); Stephen Weatherill, Can There be Common Interpretation of European Private Law?, Ga. J. Int’l & Comp. L. 31 (2002), 139–166; Thomas Wischmeyer, Der „Wille des Gesetzgebers“, JZ 2015, 95–7-966; Markus Würdinger, Das Ziel der Gesetzesauslegung – ein juristischer Klassiker und Kernstreit der Methodenlehre, JuS 2016, 1–6. S. ferner das Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur, S. LIII. Rechtsprechung. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335; EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, EU:C:1997:610.
Systematische Übersicht I. Autonome Auslegung 4–7 II. Ziel der Auslegung 8–11 III. Kriterien der Auslegung 12–49 1. Die grammatikalische Auslegung 13–20 a) Ausgangspunkt für die Auslegung 13 b) Wortlaut und Sprachenvielfalt 14–19 c) Relativität der Rechtsbegriffe 20 2. Die systematische Auslegung 21–31 a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang 21 b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang 22–26 c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? 27–28 d) Kollisionsregeln 29–31 3. Die historische und genetische Auslegung 32–40 a) Der Gesetzgeber 33–34 b) Zugängliche Materialien 35–37
c)
Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen 38 d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ 39 e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten 40 4. Die teleologische Auslegung 41–49 a) Regelungszweck und Angleichungszweck 41–44 b) Teleologische Auslegung und „praktische Wirksamkeit“ (effet utile) 45 c) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts 46 d) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung 47–49 IV. Rangfolge der Auslegungskriterien 50–55 V. Einzelne Auslegungsregeln 56–66 1. „In dubio pro consumente“? 57–61 2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? 62–66
1 Im Folgenden geht es um die Auslegung des Europäischen Privatrechts, allerdings nur
mit Einschränkungen. Das gilt erstens für den Gegenstand der Auslegung. Zum EuroRiesenhuber
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I. Autonome Auslegung
päischen Privatrecht gehören auch Regeln und Prinzipien des Primärrechts (i.E. § 6), man denke nur an das Kartellverbot des Art. 101 AEUV und das Prinzip der Vertragsfreiheit, das den Grundfreiheiten zugrunde liegt. Auslegung und Fortbildung des Primärrechts folgen indes teilweise besonderen Regeln, die bereits gesondert behandelt wurden (§ 7). Aber auch von den sekundärrechtlichen Rechtsakten werden im Folgenden im Wesentlichen nur Richtlinien und Verordnungen erörtert; die Auslegung von Entscheidungen (Art. 288 Abs. 4 AEUV: Beschlüssen), die auch im Privatrecht durchaus eine Rolle spielen, wird nicht behandelt. Sogenannte delegierte Rechtsakte i. S. v. Art. 290 AEUV, für deren Auslegung sich durchaus einige Besonderheiten ergeben können, haben im Privatrecht, soweit ersichtlich, noch keine Bedeutung. Zweitens bleiben zwei Themen, die nach umstrittener Auffassung auch für die 2 Auslegung von Bedeutung sind, an dieser Stelle unberücksichtigt: Die Rechtsvergleichung (§ 4)1 und die ökonomische Theorie (§ 5).2 Eigens erörtert wird zudem die primärrechtskonforme Auslegung (§ 8).
Nur hingewiesen werden kann an dieser Stelle auf Ansätze zur weitreichenden Einbeziehung außerrechtlicher, namentlich empirischer und sozialwissenschaftlicher Erwägungen in die Rechtsfindung, wie sie kürzlich insbesondere Grünberger vorgeschlagen hat.3 Seine „responsive Rechtsdogmatik“ ist als explizite Zurückweisung der herkömmlichen privatrechtsdogmatischen Methode für das Unionsprivatrecht formuliert. Eine nähere Durchsicht erweist jedoch, dass der Ansatz bislang jedenfalls nicht hinreichend bestimmt ist und ein unkontrolliertes Einfallstor für nicht legitimierte Eigenwertungen der Interpreten öffnet.4
Drittens schließlich geht es im Folgenden ausschließlich um die Auslegung, nicht 3 auch um die Konkretisierung von Generalklauseln (nachfolgend, § 11) oder die Rechtsfortbildung (nachfolgend, § 12). Das ist deswegen hervorzuheben, weil der EuGH – der französischen Tradition folgend – Auslegung und Rechtsfortbildung (sprachlich) nicht unterscheidet, sondern auch die Rechtsfortbildung als Auslegung bezeichnet.5
I. Autonome Auslegung Eine Vorfrage der Auslegung des Sekundärrechts – und damit zugleich weiter Teile des 4 Europäischen Privatrechts – ist oftmals, ob eine Regelung oder ein Begriff unions-
1 Zur eigenen Position Riesenhuber, AcP 218 (2018), 693 ff. 2 Dazu an dieser Stelle nur die Hinweise von Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532–534; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 49 f.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 625 f., 645–648. 3 Grünberger, AcP 218 (2018), 213 ff. 4 Riesenhuber, AcP 219 (2019), 892 ff. Dazu Grünberger, AcP 219 (2019), 924 ff. 5 Eingehend Baldus, in diesem Band, § 3; Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 2. S. a. Colneric, ZEuP 2005, 225, 230.
Riesenhuber
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§ 10 Die Auslegung
autonom auszulegen6 ist. Allerdings wird diese Frage teilweise schon in den einzelnen Rechtsakten selbst deutlich beantwortet. Unzweifelhaft ist ein unionsautonomes Konzept gewollt, wenn der Gesetzgeber einen Begriff in dem – weithin üblichen – Definitionsartikel selbst bestimmt hat.7 Und unzweifelhaft ist keine unionsautonome Definition gewollt, wenn der europäische Gesetzgeber für eine Definition auf das nationale Recht verweist. So sind etwa „Verbraucher“ und „Unternehmer“, wie sie in zahlreichen vertragsrechtlichen Richtlinien definiert sind, unionsautonome Begriffe, ebenso wie etwa der Garantiebegriff gem. Art. 1 Abs. 2 lit. e) der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie8 (VKRL) oder jener der „Massenentlassung“ in Art. 1 Abs. 1 lit. a) der Massenentlassungsrichtlinie9 (MERL). Und umgekehrt verweisen die arbeitsrechtlichen Richtlinien für die Begriffe „Arbeitnehmer“ oder „Arbeitnehmervertreter“ öfter auf das nationale Recht, sie sind also nicht unionsautonom auszulegen.10 Auch wo das Unionsrecht auf Begriffe und Regeln des nationalen Rechts verweist, ergibt sich freilich aus den Umsetzungspflichten (Äquivalenzgebot und Effektivitätsgebot) eine rahmenhafte Bindung.11 Besonders im Hinblick auf den Arbeitnehmerbegriff hat der Gerichtshof sich damit in jüngerer Zeit nicht mehr begnügt und in einer sophistisch anmutenden Weise eine Verweisung als bloße Teilverweisung verstanden, die dennoch von einem unionsautonomen Begriff ausgehe.12 Es ging um die Definition von Art. 3 Abs. 1 lit. a) Leiharbeitsrichtlinie 2008/104, nach der der Ausdruck Arbeitnehmer „eine Person“ bezeichnet, „die in dem betreffenden Mitgliedstaat nach dem nationalen Arbeitsrecht als Arbeitnehmer geschützt ist“.
5 Daneben gibt es aber zahlreiche Begriffe, für die es weder eine eigene Definition noch
eine Verweisung gibt, wie z. B. die Begriffe der „Entlassung“ und „Kündigung“ in der Massenentlassungsrichtlinie. Ob auch solche Begriffe unionsautonom auszulegen sind, erörtert der EuGH in jüngerer Zeit ausdrücklich vorab. In der Tat ist die Frage keineswegs selbstverständlich zu bejahen.13 Beruht das Europäische Privatrecht – wie in weiten Teilen des Privatrechts ganz unvermeidlich der Fall – auf der Rechtstradition
6 Dabei geht es nicht um die Autonomie der Auslegungsmethode, sondern um die Autonomie der auszulegenden Regelung; treffend Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 80–86; zust. jetzt Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 112. 7 EuGH v. 14.5.1985 – Rs. 139/84 van Dijk’s Boekhuis, EU:C:1985:195 Rn. 16. 8 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 9 Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.6.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 L 225/16. 10 Näher Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 2 ff.; Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht (2011), S. 207 ff. 11 S. z. B. EuGH v. 1.3.2012 – Rs. C-393/10 O’Brien, EU:C:2012:110 Rn. 34–42; EuGH v. 16.12.1993 – Rs. C-334/92 Wagner Miret, EU:C:1993:945 Rn. 15–23; EuGH v. 2.2.1989 – Rs. 22/87 Kommission ./. Italien, EU:C:1989:45 Rn. 15–19. 12 EuGH v. 17.11.2016 – Rs. C-216/15 Ruhrlandklinik, EU:C:2016:883. 13 Dazu bereits Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529.
Riesenhuber
I. Autonome Auslegung
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der Mitgliedstaaten, so könnten seine Regelungen auch als eine Verweisung auf die mitgliedstaatlichen Rechte oder das Recht eines Mitgliedstaats zu verstehen sein. Das könnte vor allem dann naheliegen, wenn ein Rechtsakt der Europäischen Union nach dem Vorbild einer mitgliedstaatlichen Regelung gestaltet wurde: wenn die Handelsvertreterrichtlinie14 dem Vorbild des deutschen Rechts folgt, kann man erwägen, sie ebenso auszulegen. Indes deutet schon die bloß vereinzelte Verweisung auf das nationale Recht da- 6 rauf hin, dass eine Bezugnahme sonst nicht gewollt ist. Zweck der Rechtsangleichung ist gerade, einen einheitlichen Maßstab für alle Rechtsunterworfenen aufzustellen.15 Die Verweisung auf das nationale Recht markiert eine Ausnahme von der grundsätzlich intendierten Rechtsangleichung. Mit diesen Erwägungen – Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und Gleichheitssatz – geht der EuGH von einer Vermutung („in der Regel“) für ein autonomes Konzept aus.16 Allerdings kann sich im Einzelfall eine Verweisung auf das nationale Recht auch 7 ohne ausdrückliche Regelung ergeben. Das hat der EuGH v. a. dann angenommen, wenn eine einheitliche Begriffsbildung nicht möglich war17 oder die bisher nur teilweise erfolgte Harmonisierung dies gebot.18, 19
14 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 15 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 140, 143; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, S. 797 ff. (freilich im Folgenden differenzierend nach Rechtsaktsformen). Die Aspekte von Einheitlichkeit und Autonomie unterscheidend Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Europäisches Privat- und Unternehmensrecht (EnzEuR Bd. 6), § 3 Rn. 40 ff. 16 St. Rspr. EuGH v. 18.10.2016 – Rs. C-135/15 Nikiforidis, EU:C:2016:774 Rn. 28 f.; EuGH v. 3.7.2012 – Rs. C-128/11 UsedSoft, EU:C:2012:407 Rn. 39 f.; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-467/08 Padawan, EU:C:2010:62 Rn. 31–35; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq, EU:C:2009:465 Rn. 27; EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C188/03 Junk, EU:C:2005:59 Rn. 27 ff.; EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, EU:C:1984:11 Rn. 11; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 19; für das Primärrecht EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos, EU:C:1963:1 S. 25. Selbst wenn eine Regelung den Zweck hat, vorbestehendes nationales Recht eines bestimmten Mitgliedstaats als richtlinienkonform abzusichern, hat der EuGH sie autonom ausgelegt und eine Auslegung mit Rücksicht auf die vorbestehende mitgliedstaatliche Regelung abgelehnt; EuGH v. 18.10.2001 – Rs. C-441/99 Gharehveran, EU:C:2001:551 Rn. 21–28. 17 Etwa EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-369/90 Micheletti, EU:C:1992:295 Rn. 10–15 (Staatsangehörigkeit); EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, EU:C:1976:133 Rn. 14 (Erfüllungsort im Rahmen des EuGVÜ). Ein differenziertes Ergebnis begründet EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C‑203/99 Veedfald, EU:C:2001:258 Rn. 25– 27 für den Schadensbegriff, der in Eckdaten von der Produkthaftungsrichtlinie vorgegeben wird, i.E. aber von den Mitgliedstaaten zu definieren ist. 18 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols Inventar, EU:C:1985:331 Rn. 22–27 (jetzt freilich Art. 1 lit. d) BÜRL). 19 Eingehende Analyse der Rechtsprechung bei Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 475–503 (der Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage der Unterscheidung von Verordnung und Richtlinie, der gewählten Kompetenzgrundlage, und der Unterscheidung von aktiver und reaktiver Rechtsangleichung entnehmen möchte); ferner Scheibeler, Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof –
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§ 10 Die Auslegung
II. Ziel der Auslegung 8 Es ist ein alter Streit, was das richtige Ziel der Auslegung ist: der subjektive Gesetz-
geberwille oder der objektive Normzweck, jeweils entweder entstehungszeitlich oder geltungszeitlich verstanden.20 Die aus der nationalen Methodenlehre bekannten Erwägungen gelten entsprechend für das Europäische Privatrecht. 9 Für die subjektive Theorie sprechen das Demokratieprinzip und der Gewaltenteilungsgrundsatz.21 Auch im Unionsrecht sind Rechtsetzungsaufgabe und Rechtsprechungsaufgabe getrennt, man spricht vom „institutionellen Gleichgewicht“ der Organe.22 Damit bezeichnet der EuGH das in den Verträgen vorgesehene „System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft (…), das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist.“23 Das institutionelle Gleichgewicht ist zwar nicht gleichbedeutend mit dem staatlichen Prinzip der Gewaltenteilung, da vor allem die Grenzlinie zwischen Legislative und Exekutive auf der Ebene der Europäischen Union nicht gleichermaßen scharf gezogen ist.24 Die Stellung des Gerichtshofs weist jedoch staatstypische Parallelen auf,25 gerade auch darin, dass ihm die Aufgabe der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ zukommt, aber grundsätzlich keine Rechtsetzungs-
autonom oder durch Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen? (2004) (mit Ausarbeitung von Indizien). 20 Eingehend Larenz, Methodenlehre, S. 32–35, 316–320; zusammenfassend Würdinger, JuS 2016, 1 ff. An der Differenzierung von Auslegungsmittel und Auslegungsziel zweifelnd Schroth, in: Kaufmann/ Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (7. Aufl. 2004), 6.3.3.2 (S. 284); von der „Unbrauchbarkeit der ,subjektiven‘ und der ,objektiven Theorie‘“ sprechen Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 442–444; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 627–632; Holoubek, FS Mayer (2011), S. 142 (Zurechnungsproblem). Vgl. auch die (auch rechtsvergleichende) Übersicht bei Gruber, Die Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 86–108 (freilich allgemein für „internationales Einheitsrecht“). 21 Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 18; ders., Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; für das nationale Recht Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 717–724; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 144, 147 f.; ders./Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 7; Wank, Methodenlehre, § 18 Rn. 69. A. A. Kaltenborn, FS Schnapp (2008), S. 779–796; Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158 f. 22 Dazu etwa EuGH v. 21.6.2018 – Rs. C-5/16 Polen ./. Parlament und Rat, EU:C:2018:483 Rn. 84 ff.; EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, EU:C:1995:220 Rn. 17 f.; EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C70/88 Parlament ./. Rat, EU:C:1991:373 Rn. 21–28; EuGH v. 29.10.1980 – Rs. 138/79 Roquette, EU: C:1980:249 Rn. 33; EuGH v. 5.5.1981 – Rs. 804/79 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, EU:C:1981:93 Rn. 23; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 9/56 Meroni I, EU:C:1958:7 S. 44; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 10/56 Meroni II, EU:C:1958:8 S. 82; Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 13 EUV Rn. 10–18. 23 EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, EU:C:1991:373 Rn. 21. 24 Siehe nur H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (1972), S. 317–321. 25 Jetzt einschränkend Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 13 AEUV Rn. 9 („nur teilweise“).
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II. Ziel der Auslegung
kompetenz.26 Zu den „Leitprinzipien der […] Union“ gehört aber auch das Demokratieprinzip, Art. 2, 10 EUV.27 Im Gesetzgebungsverfahren wird es durch das Parlament einerseits, aber auch durch die Vertreter im Rat andererseits verwirklicht, die in den Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert sind.28 Wenn daher auch im Unionsrecht Rechtsetzung und Rechtsprechung getrennt werden und es die Aufgabe der demokratisch legitimierten Organe ist, Recht zu setzen, dann muss man bei der Auslegung den subjektiven Gesetzgeberwillen ermitteln. Demgegenüber soll nach der objektiven Theorie die objektive Bedeutung der 10 Normen ermittelt werden, so wie sie sich im Entscheidungszeitpunkt darstellt.29 Die objektive Theorie stützt sich ihrerseits auf das – gleichfalls verfassungsrechtlich begründete – Gebot der Rechtssicherheit, welches gebietet, das Vertrauen auf den veröffentlichten Wortlaut des Rechtsakts (Art. 297 AEUV) zu schützen.30 Ein aus dem Wortlaut vielleicht nicht ersichtlicher und womöglich schwer zugänglicher Wille des Gesetzgebers könne daher nicht berücksichtigt werden. Zudem verlangten die sich andauernd ändernden tatsächlichen Verhältnisse und das sich ändernde Gesamtsystem des Rechts Berücksichtigung bei der Auslegung. Nicht zuletzt spricht auch die unvermeidliche Eigenständigkeit des Gesetzes, das sich mit der Anwendung weiterentwickelt, für die objektive Theorie.31 Bereits diese Begründungen deuten an, dass beide Lehren nicht in einem Verhält- 11 nis strenger Alternativität stehen, sondern sich ergänzen können („Vereinigungstheorie“).32 Mit Rücksicht auf die auch im supranationalen Unionsrecht fundamentalen Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung muss es allerdings im Ausgangspunkt um die Ermittlung des Gesetzgeberwillens gehen.33 Auch nach der Ansicht des EuGH, sind Vorschriften des Unionsrechts „nach dem wirklichen Willen ihres Urhe-
26 A.M. Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 39, der von einer „konkurrierenden Zuständigkeit“ von EuGH und Legislative zur Rechtsetzung spricht, die Kompetenz des Gerichtshofs dann aber – allerdings wohl nur unter dem Gesichtspunkt der Selbstbeschränkung – auf Fälle beschränkt, in denen der Gesetzgeber „aus sachlich nicht gerechtfertigten Gründen“ keine Regelung vorgesehen hat. 27 Dazu etwa EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, EU:C:1995:220 Rn. 17. 28 BVerfGE 89, 155, 184–187 – Maastricht. 29 Tendenziell etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428–436; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 137–141. Kritisch besonders Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 806–815a. 30 Dies hervorhebend Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 907 ff. 31 Larenz, Methodenlehre, S. 317 f. 32 Für das europäische Privatrecht Herresthal, ZEuP 2009, 600, 606 f.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 457 ff.; bestätigend auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 278 f. (Analyse der Rechtsprechung des EuGH; anders, stärker zur objektiven Theorie tendierend, freilich S. 372–377 für die rechtsvergleichend begründete „europäische Methodenlehre“). Allgemein Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 139 f.; Möllers, Methodenlehre, § 6 Rn. 77 ff.; Würdinger, JuS 2016, 1, 5 f. 33 Neuner, Allgemeiner Teil, § 4 Rn. 60; Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 18; Baldus/Vogel, FS Krause (2006), S. 243.
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§ 10 Die Auslegung
bers und dem von diesem verfolgten Zweck“ auszulegen.34 Anders als im Primärrecht steht dem im Sekundärrecht regelmäßig nicht entgegen, dass dieser Wille nicht erkennbar wäre: Entsprechend dem Begründungsgebot des Art. 296 Abs. 2 AEUV sind die Rechtsakte mit (zunehmend eingehenden) Begründungserwägungen versehen und gibt es zudem aus dem Rechtsetzungsverfahren üblicherweise eingehende Begründungen zu Kommissionsvorschlägen und Änderungen im Gesetzgebungsverfahren (nachfolgend Rn. 35). Diese Erwägungen schließen es nicht aus objektiven Erwägungen, etwa Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse, vor allem aber auch des rechtlichen Umfeldes Rechnung zu tragen. Im Hinblick auf das rechtliche Umfeld ist das nicht zuletzt wegen des in vielen Fällen real nachweisbaren, jedenfalls aber zu vermutenden „Systembildungswillens“ des Gesetzgebers35 berechtigt (s. noch nachfolgend Rn. 24). Allerdings spielen objektive Elemente in einer nur rahmenhaft ausgeformten Rechtsordnung keine gleichermaßen starke Rolle wie etwa im deutschen BGB.36
III. Kriterien der Auslegung 12 Nach der in Deutschland und auch in anderen Ländern weithin üblichen Einteilung
kann man ungeachtet fließender Übergänge und teilweiser Überschneidungen vier Auslegungskriterien unterscheiden, die grammatikalische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung.37 Diesen folgt auch der Gerichtshof.38
34 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, EU:C:2005:59 Rn. 33; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, EU:C:1969:57 Rn. 3; EuGH v. 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, EU:C:1988:377 Rn. 15; EuGH v. 20.11.2001 – Rs. C‑268/99 Jany, EU:C:2001:616 Rn. 47. 35 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 24; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 8 f. 36 S.a. Bleckmann, Europarecht (6. Aufl. 1997), Rn. 554. 37 Bankowski/MacCormick/Summers/Wróblewski, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, S. 25–27; Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 260 f.; Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Parts 1 and 2 (1999), S. 109, Note 1; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 114–118; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, passim. Zu der auf Savigny zurückgehenden Unterscheidung Baldus, in diesem Band, § 3 Rn. 30–40. Exemplarisch EuG v. 8.7.2008 – Rs. T-99/04 AC-Treuhand, EU:T:2008:256 Rn. 114 ff. (zur Auslegung von Art. 81 EG). 38 S. beispielsweise EuGH v. 1.10.2019 – Rs. C-673/17 Planet49, EU:C:2019:801 Rn. 48; EuGH v. 09.11.2017 – Rs. C-306/16 Maio Marques da Rosa, EU:C:2017:844 Rn. 38 ff.
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III. Kriterien der Auslegung
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1. Die grammatikalische Auslegung a) Ausgangspunkt für die Auslegung In nahezu jeder Entscheidung gibt der EuGH zunächst die umstrittene Norm wörtlich 13 wieder und beginnt die Auslegung, entsprechend „allgemein anerkannten Auslegungsprinzipien“, beim Wortlaut.39 Dabei ist nach unseren Vorüberlegungen (oben Rn. 4–7) zunächst zu ermitteln, ob die Wortwahl autonom-unionsrechtlich oder als Verweisung auf das mitgliedstaatliche Recht zu verstehen ist. Für ersteres spricht allerdings eine Vermutung (oben Rn. 6). Die Auslegung des Wortlauts muss von der konkreten und spezifischen Anordnung des Gesetzgebers ausgehen. Bezieht man sich – wie der Gerichtshof gelegentlich – nicht auf eine konkrete Regelung, sondern pauschal auf einen gesamten Artikel mit unterschiedlichen Anordnungen,40 liegt darin eine Flucht in die allgemeine Teleologie, die die Gesetzesbindung aufweicht.
b) Wortlaut und Sprachenvielfalt Das wichtigste eigenständige Problem der Wortlautauslegung im Unionsrecht bildet 14 die Sprachenvielfalt.41 Die 24 sprachlichen Fassungen von Rechtsakten der Union42 sind grundsätzlich gleich autoritativ, so dass nicht eine Vorrang vor der anderen beanspruchen kann.43 Daher muss die Wortlautauslegung grundsätzlich alle sprachlichen Fassungen berücksichtigen.44 Im Verfahren vor dem EuGH erfolgt das öfter
39 EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 53/81 Levin, EU:C:1982:105 Rn. 9; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C‑251/95 Sabèl, EU: C:1997:528 Rn. 18; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, EU:C:2008:231 Rn. 31–33; GA Trstenjak, Schlussanträge v. 4.6.2008 – Rs. C-324/07 Coditel Brabant, EU:C:2008:317 Tz. 73. Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Europäisches Privat- und Unternehmensrecht (EnzEuR Bd. 6), § 3 Rn. 98 ff. 40 S. etwa EuGH v. 27.4.2017 – verb. Rs. C‑680/15 und C‑681/15 Asklepios Kliniken Langen-Seligenstadt, EU:C:2017:317 („die Richtlinie 2001/23 und insbesondere ihr Art. 3“, ohne ausdrückliche Verortung bei Absatz 1 oder 3). 41 Monographisch Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht; eingehend ferner etwa Müller/ Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 315–346. Das Sachproblem ist freilich schon aus mehrsprachigen nationalen Rechtsordnungen sowie dem internationalen Einheitsrecht bekannt; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 134. 42 Art. 55 Abs. 1 EUV, Art. 342 AEUV, Art. 1 Verordnung Nr. 1 des Rates v. 15.4.1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ABl. 1958 17/385. 43 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 18; EuGH v. 2.4.1998 – Rs. C-296/95 EMU Tabac, EU:C:1998:152 Rn. 36; Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (10. Aufl. 2013), § 7 Rn. 43; Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 4. Einen Sonderfall (völkervertraglicher Hintergrund) betrifft EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-143/96 Knubben, EU:C:1997:597 Rn. 15; unter methodischem Aspekt krit. Anm. v. Schilling, EuZW 1998, 211 f. Ein Defizit bei der praktischen Umsetzung dieser Forderung konstatiert Mülller, FS Mayer (2011), S. 403 f. 44 EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-488/11 Brusse, EU:C:2013:341 Rn. 26; EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-511/08 Heinrich Heine, EU:C:2010:189 Rn. 51; EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, EU: C:1985:332 Rn. 10–12; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, EU:C:1969:57 Rn. 3; EuGH v. 20.11.2001 –
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§ 10 Die Auslegung
durch Erklärungen der Mitgliedstaaten, die ihrerseits von den jeweiligen Sprachfassungen ausgehen. Nicht selten erweist sich dabei, dass die unionsrechtliche Rechtssprache nicht annähernd so ausgefeilt ist wie die nationale.45 Diesem Defizit können auch die in den Rechtsakten üblichen Begriffsbestimmungen nicht vollständig abhelfen, da sie sich regelmäßig nur auf wenige tragende Konzepte beziehen, darüber hinaus aber weitere Begriffe und Regelungen autonom auszulegen sind (s. oben Rn. 4–7). 15 In keinem Fall kann die Auslegung beim Wortlaut bereits stehenbleiben. Ergibt sich aus dem notwendigen Vergleich der Sprachfassungen keine Divergenz oder lassen sich zumindest alle Fassungen in einem Sinne verstehen, so ist das zwar ein starkes Indiz für die vom Wortlaut nahegelegte Auslegung.46 Dieses Indiz ist aber noch anhand anderer Auslegungskriterien zu bestätigen (anders die sog. acte clair-Doktrin).47 Ergibt sich umgekehrt – wie praktisch nicht selten der Fall – eine Divergenz der Sprachfassungen, so muss diese mit Hilfe anderer Auslegungsmittel aufgelöst werden.48
Rs. C‑268/99 Jany, EU:C:2001:616 Rn. 47; Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Europäisches Privat- und Unternehmensrecht (EnzEuR Bd. 6), § 3 Rn. 75 ff.; Leenen, Jura 2012, 753, 757; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 344; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 799 f.; krit. Bewertung der Praxis des EuGH Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 168 ff. (die selbst Aspekte des Vertrauensschutzes berücksichtigen möchte, S. 322 ff.) sowie Rebhahn/Franzen, in diesem Band, § 18 Rn. 25–27. Der Vorschlag, einseitig die nationalen Gerichte von der Berücksichtigung aller Sprachfassungen zu entbinden, die aber der EuGH weiter zu berücksichtigen hätte (so Weiler, ZEuP 2010, 861 ff.), würde zwar eine weithin geübte Praxis rechtfertigen, ist aber auch praktisch nicht weiterführend, weil er zu zwei gleichermaßen methodisch richtig begründeten Ergebnissen führen würde, von denen eins indes einen Vorrang hätte. 45 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 179 f. 46 EuGH v. 28.10.2010 – Rs. C-203/09 Volvo Car, EU:C:2010:647 Rn. 41; EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, EU:C:1985:54 Rn. 13–15. 47 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1985:332 Rn. 10–20 (Bestätigung des schon als „eindeutig“ erkannten Wortlauts durch systematische und teleologische Erwägungen); EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, EU:C:1985:54 Rn. 13–15. In Richtung einer acte clair-Doktrin weist für die Frage der Vorlagepflicht EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 16, doch wird sie am Ende nicht übernommen, Rn. 20. Analyse der EuGH-Rechtsprechung bei Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 358–383. Gegen die acte clair-Doktrin GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 12.4.2005 – Rs. C-495/03 Intermodal Transports, EU: C:2005:215 Tz. 18; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 143–146; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 144; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 363 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 258. Für Beschränkung auf die Wortauslegung bei klarem Wortlaut aber Leisner, EuR 2007, 689, 701. 48 EuGH v. 20.11.2001 – C‑268/99, Jany, EU:C:2001:616 Rn. 47; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Aannemersbedrijf Kraaijeveld, EU:C:1996:404 Rn. 28; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, EU: C:1995:420 Rn. 28; EuGH v. 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, EU:C:1988:377 Rn. 15; EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, EU:C:1985:55 Rn. 11–13; EuGH v. 27.10.1977 – Rs. 30/77 Boucherau, EU:C:1977:172 Rn. 13/14; EuGH v.12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, EU:C:1969:57 Rn. 3–4.
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III. Kriterien der Auslegung
„Nach ständiger Rechtsprechung verbietet die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung und damit Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, sie in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Licht ihrer Fassung in allen Sprachen auszulegen.“49
Zuvor können sich allerdings schon aus dem Wortlaut Indizien für eine bestimmte 16 Auslegung ergeben. Keine große Hilfe ist aber von der Untersuchung der Arbeitssprache des Gesetzgebers zu erwarten,50 der gelegentlich größeres Gewicht beigemessen wird.51 Das ist schon deswegen problematisch, weil die Arbeitssprache regelmäßig nicht erkennbar ist und im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens oder in verschiedenen Gremien wechseln mag. Vor allem würde die normative Gleichwertigkeit der Amtssprachen wieder in Frage gestellt. Ausgangspunkt der Wortlautauslegung ist der gewöhnliche Sprachgebrauch.52 17 Nach einer auch im nationalen Recht anerkannten Regel kommt aber einem spezifischen Gesetzessprachgebrauch grundsätzlich Vorrang vor dem allgemeinen Sprachgebrauch zu.53 Verwendet eine sprachliche Fassung einen juristisch-technischen Begriff oderdenspezifischerenoderpräziserenTerminus,sokanndieseBedeutungvorzuziehen sein, wenn sich auch die anderen Sprachfassungen in diesem Sinne verstehen lassen.54 Bekannt ist etwa das primärrechtliche Beispiel der Auslegung von Art. 288 Abs. 3 AEUV: Entsprechend dem spezifischeren Wortlaut der romanischen Sprachen sind Ergebnisvorgaben in Richtlinien zulässig, nicht nur Zielvorgaben, auf die die deutsche Fassung hindeutet.55 Freilich hilft der technische Wortlaut nicht immer weiter. So definiert z. B. die englische Fassung der Massenentlassungsrichtlinie die Massenentlassung als dismissal, also mit dem normativen Begriff der Kündigung, die deutsche verwendet hingegen den (eher) deskriptiven Begriff der Beendigung. Für die Auslegung war dem Wortlaut indes nicht mehr als der Zweifel zu entnehmen, da die Regelung im Übrigen zeigt, dass der Gesetzgeber die Begriffe (dismissal, Beendigung) nicht bewusst unterschieden, sondern allein aus Gründen sprachlicher Konvenienz verwandt hat.56
Im Ergebnis führt die Ermittlung des Wortsinns meist nur zu einer Eingrenzung der 18 möglichen Auslegungsergebnisse, wobei die Sprachenvielfalt verbunden mit dem
49 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, EU:C:2005:59 Rn. 33 (Nachweise weggelassen); EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C- 476/11 HK Danmark, EU:C:2013:590 Rn. 40 ff. 50 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 139–142. 51 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 343. 52 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-49/11 Content Services, EU:C:2012:419 Rn. 32; EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easycar, EU:C:2005:150 Rn. 21. 53 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 439 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 322; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 119–121; diff. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 125–130. 54 Vgl. GA Lord Slynn, Schlussanträge v. 8.11.1984 – Rs. 19/83 Wendelboe, EU:C:1984:337 S. 459 f., vom Gerichtshof i.Erg. übernommen, vgl. aaO Rn. 13. 55 Gegen eine Beschränkung auf bloße Zielvorgaben schon H.P. Ipsen, FS Ophüls (1965), S. 73 f.; heute unstr. 56 Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97, 98 f.
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§ 10 Die Auslegung
Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Sprachen die Wortsinngrenze tendenziell erweitert.57 Aber auch ein (vermeintlich) eindeutiger Wortsinn bedarf der Bestätigung durch zusätzliche Erwägungen.58 19 Kommt damit dem Wortsinn bei der Auslegung ein geringerer Grad der Steuerung zu als in einem einsprachigen Rechtssystem, so ist seine fundamentale Bedeutung doch nicht zu leugnen. Insbesondere ist auch im Unionsrecht der Wortsinn die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.59
c) Relativität der Rechtsbegriffe 20 Im Unionsrecht ist ebenso wie im nationalen Recht die Relativität der Rechtsbegriffe
zu beachten:60 Derselbe Begriff kann in verschiedenen Zusammenhängen Unterschiedliches bedeuten. Innerhalb des Europäischen Privatrechts ist das mit einer fortschreitenden Ausbildung auch des äußeren Systems (sogleich Rn. 21–31) allerdings grundsätzlich nicht zu vermuten.61 Das Europäische Arbeits- und Gesellschaftsrecht sind bereits seit Längerem weitgehend durchstrukturiert, und auch im Europäischen Vertragsrecht hat die Kommission die Kohärenzaufgabe erkannt62 und bereits bei einzelnen Rechtsetzungsvorhaben aufgegriffen.63 In Einzelfällen haben dieselben Begriffe in verschiedenen Rechtsakten unterschiedliche Bedeutung. Zum Beispiel hieß der Reisende in der ursprünglichen Pauschalreiserichtlinie64 „Verbraucher“, obwohl es nicht im technischen Sinne um einen Verbraucher als eine natürliche Person geht, die
57 Exemplarisch EuGH v. 11.7.2018 – Rs. C-60/17 Somoza Hermo EU:C:2018:559 Rn. 26 (“Wegen der Unterschiede zwischen den sprachlichen Fassungen der Richtlinie und des unterschiedlichen Inhalts des Begriffs der vertraglichen Übertragung im Recht der Mitgliedstaaten hat der Gerichtshof diesen Begriff so weit ausgelegt, dass er dem Zweck der Richtlinie […] gerecht wird […].“). Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 292; krit. Schilling, ZEuP 2007, 754, 765 ff.; Baldus/Vogel, FS Krause (2006), S. 242 f. 58 In diese Richtung EuGH v. 17.11.1983 – Rs. 292/82 Merck ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas, EU: C:1983:335 Rn. 12. 59 Näher Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 2 f. Zu den historischen Wurzeln näher Baldus, in diesem Band, § 3 (selbst zweifelnd, Rn. 18, 39). 60 Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 192 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 f.; Wank, Die juristische Begriffsbildung (1985), S. 110–122. S. schon Müller-Erzbach, JherJb 61 (1912), 343–384. 61 S. EuGH v. 3.7.2012 – Rs. C-128/11 UsedSoft, EU:C:2012:407 Rn. 60. 62 Eingehend Mitteilung der Kommission v. 11.7.2001 an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg, bes. Rn. 34. 63 S. z. B. – freilich mit stärkerem Bezug zum inneren System – die Erklärung des Rates und des Parlaments zu Art. 6 Abs. 1 FARL, abgedruckt bei Schulze/Zimmermann, Basistexte zum Europäischen Privatrecht (3. Aufl. 2006), I.25 a. E. (S. 123); BE 11 EComRL. 64 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. Anders jetzt Art. 3 Nr. 6 Richtlinie 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, ABl. 2015 L 326/1.
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III. Kriterien der Auslegung
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zu privaten Zwecken handelt. Und das in der ursprünglichen Fassung der Timesharing-Richtlinie65 vorgesehene Rücktrittsrecht war der Sache nach ein Widerrufsrecht; das ist durch die Überarbeitung von 200866 klargestellt worden.
2. Die systematische Auslegung67 a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang Die Auslegung kann nicht bei einzelnen Wörtern stehenbleiben,68 sondern muss sie in 21 dem Bedeutungszusammenhang sehen, in den sie der Gesetzgeber gestellt hat. Dabei geht es zuerst – in Fortsetzung der Wortauslegung – um die Berücksichtigung des sprachlichen Kontextes, in dem ein Ausdruck verwendet wird. Für die Auslegung eines Wortes ist der Satzzusammenhang, für das Verständnis eines Satzes der Textzusammenhang entscheidend. Das ist freilich noch keine systematische Auslegung, sondern Bestandteil der grammatikalischen Auslegung.
b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang Bei der eigentlichen systematischen Auslegung geht es darum, eine Rechtsnorm als 22 Bestandteil eines äußerlich und innerlich geordneten Regelungsganzen zu verstehen und durch ihre Stellung in diesem System Rückschlüsse auf ihre Bedeutung zu ziehen. Die systematische Auslegung setzt dabei regelmäßig zunächst beim äußeren System des einzelnen Rechtsakts an. In einer Rechtsordnung, die sich als ein Gesamtrechtssystem versteht, berücksichtigt sie aber selbstverständlich auch rechtsaktübergreifend andere Regelungen, die z. B. durch ihre Komplementarität oder Spezialität oder durch ihre Höherrangigkeit Aufschluss für das Verständnis geben können.69 Schließlich lässt sich sowohl Einzelregelungen als auch dem Regelungsganzen ein inneres System entnehmen, das für die Auslegung fruchtbar gemacht werden kann.
65 Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/83. 66 Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen, ABl. 2009 L 33/10. 67 Zur primärrechtskonformen Auslegung Leible/Domröse, in diesem Band, § 8; zu der – das mitgliedstaatliche Recht betreffenden – richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13; s. a. noch nachfolgend Rn. 41 a. E. Allgemein zur systemkonformen Auslegung die gleichnamige Arbeit von Höpfner. 68 Eingehend kürzlich Paunio/Lindroos-Hovinheimo, ELJ 16 (2010), 395, 400 f. 69 S. beispielhaft EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402 Rn. 64 f. (freilich im konkreten Fall wenig überzeugend; mit Recht krit. Krause, NZA-Beilage 2019, 86, 93.
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§ 10 Die Auslegung
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Auch im Sekundärrecht ermöglicht die äußere Ordnung der Rechtsakte in Abschnitte, Artikel, Absätze, in Allgemeine und Besondere Teile usf. Rückschlüsse für die Auslegung.70 Ein solches systematisches Verständnis kommt seit jeher innerhalb eines Rechtsakts, innerhalb einer Richtlinie oder Verordnung, in Betracht.71 Die zunehmende Zahl „kodifizierter“, also systematisch und unter Berücksichtigung der ergangenen Rechtsprechung neu verabschiedeter Rechtsakte („2. Generation“) verbessert die normative Grundlage zunehmend. 24 Bereits seit der Anfangszeit gibt es darüber hinaus aber rechtsaktübergreifend eine äußere Ordnung. Das ist völlig unbestritten, was das Zusammenwirken von primärund sekundärrechtlichen Vorschriften angeht. Aber auch innerhalb des Sekundärrechts sind Einheit und Ordnung des Rechts nicht nur als normative Forderungen begründet, sondern ist weithin auch rechtsaktübergreifend ein Systembildungswille und Kohärenzanspruch des Gesetzgebers erkennbar,72 ungeachtet der Tatsache, dass die Auswahl der Regelungsbereiche („Harmonisierungskonzept“)73 nicht auf die Schaffung eines im pandektischen Sinne vollständigen Zivilrechtssystems gerichtet ist.74 Besonders deutlich ist das im Europäischen Gesellschaftsrecht und im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht,75 wo die Nummerierung der Rechtsakte den Ordnungsanspruch des Gesetzgebers ausweist, der im Gesellschaftsrecht zudem durch nachfolgende systematische Konsolidierung („Kodifikation“) in der Gesellschaftsrechtsricht-
70 Z. B. EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, EU:C:2009:716 Rn. 29–39; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, EU:C:2001:566 Rn. 35; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-251/95 Sabèl, EU:C:1997:528 Rn. 20–24; EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, EU:C:1996:92 Rn. 18–24; EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, EU:C:1985:55 Rn. 36 f.; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, EU: C:1997:581 Rn. 18–21; EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, EU:C:1998:189 Rn. 15. 71 Herresthal, ZEuP 2009, 600, 605 f.; Adrian, Grundprobleme einer (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 451 f. 72 Ebenso Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/ 9, S. 13; Holoubek, FS Mayer (2011), S. 150. 73 Zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Vertragsrecht Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 24–51; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 211–235; zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Arbeitsrecht Grundmann, GS Blomeyer (2004), S. 71–97; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 50–56; s. a. Rebhahn/Franzen, in diesem Band, § 18 Rn. 18 ff. Als Prinzipien für die Abgrenzung zentraler und dezentraler Regeln ist das Harmonisierungskonzept Bestandteil des Systems von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht; zu dieser Perspektive Ackermann, ZEuP 741, 753 f. 74 Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 905 und passim; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 158–160; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 411 ff.; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 55–58. Zweifelnd Herresthal, ZEuP 2009, 600, 605 f.; ders., in: Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts, S. 75 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 12 f. (freilich insoweit ohne Analyse der Rechtsprechung des EuGH); Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 11, 15; Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 64. 75 EuGH v. 31.01.2019, Rs. C-149/18, da Silva Martins, EU:C:2019:84 Rn. 23 ff. (Eingriffsnormen) Zur rechtsaktübergreifenden Auslegung der Rom I-VO mit Rücksicht auf die Brüssel I-VO Lüttringhaus, RabelsZ 77 (2013), 31 ff.; Rühl, GPR 2013, 122 ff.
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III. Kriterien der Auslegung
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linie76 bekräftigt wird. Aber auch im Arbeitsrecht (z. B. Regelungen zu Strukturmaßnahmen und Insolvenz, zum Arbeitsschutz, gegen Diskriminierung, zur Betriebsverfassung), im Vertragsrecht (s. jetzt die Zusammenfassung mehrerer Rechtsakte in der Verbraucherrechterichtlinie) oder im Urheberrecht77 sind zumindest für Teilbereiche Einheit und Ordnung eines Regelungsganzen erkennbar.78 So lässt sich das Europäische Privatrecht als (weitgehend) vollständig und nur in einzelnen Punkten lückenhaft (bzw. in Entstehung befindlich) verstehen.79 Auch rechtsaktübergreifend kommt daher eine systematische Auslegung in Betracht.80
Soweit das Unionsrecht autonom auszulegen ist (s. oben Rn. 4–7), versteht sich indes, dass das Zusammenspiel von Unions- bzw. Umsetzungsrecht einerseits mit autonom-nationalem Recht andererseits für die Auslegung des Unionsrechts ohne Belang ist.81 Ist beispielsweise das Unionsrecht bei einer Auslegung mit anderen Vorgaben des nationalen Rechts unvereinbar, so widerlegt das nicht diese Auslegung, sondern kann sich daraus ggf. Änderungsbedarf für das nationale Recht ergeben.
Das Europäischen Privatrecht hat darüber hinaus aber auch eine innere Ordnung. Ge- 25 bunden an den fundamentalen Gleichheitssatz, aber auch an das spezifische Kohärenzgebot von Art. 7 AEUV, ist der Unionsgesetzgeber gehalten, seine Rechtsetzung folgerichtig auszugestalten.82 Nicht von ungefähr lässt sich den Regeln jedenfalls für einzelne Regelungsbereiche durchaus eine innere Ordnung entnehmen lässt.83 Die Vielzahl der einzelnen Regeln und Rechtsakte steht nicht unverbunden nebeneinander, sondern ist vom Gesetzgeber als ein zusammenhängendes, nach Prinzipien geordnetes Ganzes angelegt.84 Dementsprechend lässt sich auch im Europäischen Se-
76 Richtlinie 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts, ABl. 2017 L 169/46 in der Fassung der Richtlinie 2019/2121 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.11.2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen, ABl. 2019 L 321/1. 77 EuGH vom 18.10.2018 – Rs. C- 149/17 Bastei Lübbe, EU:C:2018:841 Rn. 27 f.; Riesenhuber (Hrsg.), Systembildung im Europäischen Urheberrecht (2007); Leistner, Konsolidierung und Entwicklungsperspektive des Europäischen Urheberrechts (2008); Walter/v. Lewinski (Hrsg.), European Copyright Law (2010). 78 S. z. B. EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:637 Rn. 76; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, EU:C:2001:684 Rn. 37–39. 79 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 211 ff. 80 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-49/11 Content Services, EU:C:2012:419 Rn. 43 ff.; Rebhahn/Franzen, in diesem Band, § 18 Rn. 30 f. 81 EuGH v. 3.3.2011 – verb. Rs. C-235/10 bis 239/10 Claes, EU:C:2011:119 Rn. 47 f. 82 Ackermann, ZEuP 2018, 741, 756, 763 ff. 83 S. z. B. Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht; ders., Europäisches Gesellschaftsrecht; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht; Riesenhuber, System und Prinzipien; ders., Europäisches Arbeitsrecht. 84 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 20.
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§ 10 Die Auslegung
kundärrecht im Rahmen einer prinzipiell-systematischen Auslegung85 die Teleologie des Regelungsganzen und seine innere Ordnung durch Prinzipien für das Verständnis einzelner Vorschriften fruchtbar machen.86 Auch hier ist „jede Vorschrift des [Unions] rechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten [Unions]rechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“.87 26
Wenn der EuGH bei der Auslegung auf die „Ziele“ des Unionsrechts hinweist, macht er deutlich, dass für die Auslegung nicht nur die äußeren, sondern vor allem die inneren Zusammenhänge von Bedeutung sind. Die Bedeutung der zugrundeliegenden Prinzipien für die Auslegung der Rechtsordnung der Union hat der EuGH besonders in seinem EWR-Gutachten hervorgehoben. Darin hat er u. a. ausgeführt, dass Bestimmungen in einem völkerrechtlichen Abkommen, die mit solchen des EG-Vertrags (heute AEUV) wörtlich übereinstimmen, nicht notwendig gleich ausgelegt werden müssen, sondern aufgrund der unterschiedlichen Zwecke unterschiedlich verstanden werden könnten.88 Diese Erwägungen beanspruchen auch im Sekundärrecht Geltung.
c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? 89 27 In der Rechtssache Rabobank stellte sich die Frage, ob auch Regelungsentwürfe im Rahmen der systematischen Auslegung berücksichtigt werden können.90 In die85 Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung (1995). In der Sache verwandt ist die Heranziehung Allgemeiner Rechtsgrundsätze als Auslegungskriterium; dazu Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 194 ff. 86 Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 894 f.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 99–101, 154 f. und öfter („hoher Stellenwert“); Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 433 ff., 448 ff.; Itzcovich, GLJ 10 (2009), 537, 552 f., 555; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 27; für das nationale Recht Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht (1995); Larenz, Methodenlehre, S. 324. Ansatzweise z. B. EuGH v. 28.2.1980 – Rs. 67/79 Fellinger, EU:C:1980:59 Rn. 7 f. 87 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 20. Ferner EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C97/96 Daihatsu, EU:C:1997:581 Rn. 18–21; vgl. auch EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, EU:C:1971:32 Rn. 15/19 (AETR); EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, EU:C:1999:197 Rn. 22 f. Übersicht bei Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 240–251. 88 Vgl. EuGH v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91 EWR-Abkommen, EU:C:1991:490 Rn. 13–22 und 50 f. Ferner EuGH v. 9.2.1982 – Rs. 270/80 Polydor, EU:C:1982:43 Rn. 8, 14–20; EuGH v. 26.10.1982 – Rs. 104/81 Kupferberg, EU:C:1982:362 Rn. 30; EuGH v. 1.7.1993 – Rs. C-312/91 Metalsa, EU:C:1993:279 Rn. 9–12; EuGH v. 12.12.1995 – Rs. C-469/93 Chiquita, EU:C:1995:435 Rn. 52; EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, EU:C:1976:133 Rn. 9 a. E. Dazu Epiney/Felder, ZVglRWiss 100 (2001), 425–447 (Systembindung im Grundsatz anerkennend, aber anders als der EuGH im EWR-Gutachten weitgehend für irrelevant haltend). 89 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, EU:C:1997:610. 90 Eingehend zur Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 83–112 (der den hier erörterten Fall allerdings nicht der Vorwirkungsproblematik zuordnet, da erst ein Entwurf vorliegt; aaO S. 87 f.).
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III. Kriterien der Auslegung
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ser Entscheidung hat der EuGH angenommen, Art. 9 Abs. 1 Publizitätsrichtlinie (PublRL)91 lasse nationale Vorschriften über die Begrenzung der Vertretungsmacht wegen Interessenkonflikts unberührt.92 Diese Auslegung findet das Gericht in Art. 10 Abs. 1 und 4 des Entwurfs für eine Strukturrichtlinie93 bestätigt. Denn nach diesen Vorschriften bedarf ein Vertrag der Gesellschaft, der die Interessen des Leitungs- oder Aufsichtsorgans berührt, zumindest der Genehmigung des Aufsichtsorgans (Art. 10 Abs. 1 E-StruktRL); der Mangel der Genehmigung kann Dritten entgegengehalten werden, die davon Kenntnis hatten oder haben mussten.94 Dass der Entwurf der Strukturrichtlinie für diesen Fall eine Regelung enthielt, nimmt der Gerichtshof als ein Anzeichen dafür, dass die Kommission den Fall noch nicht als von der Publizitätsrichtlinie abgedeckt ansah, sondern ebenfalls davon ausging, die Regelung falle bislang in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Um eine systematische Auslegung kann es sich bei dieser Begründung schon 28 deswegen nicht handeln, weil ein Entwurf nicht Gesetz und damit nicht Bestandteil des Systems ist.95 Diese Einschränkung ist keineswegs nur formal gerechtfertigt, sondern auch in der Sache, weil dem Kommissions(!)-Entwurf nicht die demokratische Legitimation des verabschiedeten Rechtsakts (Richtlinie, Verordnung) zukommt. Wegen dieses Mangels demokratischer Legitimation lässt sich aus einem Regelungsentwurf in keinem Fall eine Veränderung des bestehenden Systems begründen.96 Richtlinienvorschläge können indes, wie die Rabobank-Entscheidung zeigt, in einer schwächeren Weise zum Verständnis des gesetzten Rechts beitragen, nämlich als ergänzendes Argument zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses.97 Soweit der Regelungsentwurf nur von der Kommission kommt, hat er indes nicht das Gewicht einer authentischen Auslegung – die ja nur der Gesetzgeber selbst vornehmen könnte –, sondern lediglich die Bedeutung einer Stellungnahme der Kommission.
91 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 5.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 65/8. 92 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, EU:C:1997:610 Rn. 21–24. 93 Nachweise zu dem – mittlerweile zurückgezogenen – Richtlinienvorschlag bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 366, 404–408. 94 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, EU:C:1997:610 Rn. 25–27. 95 So unzweideutig EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, EU:C:1996:92 Rn. 43. Ebenso Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 924 f. S.a. Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 20. 96 Zu weitgehend daher Schön, RabelsZ 64 (2000), 1, 7 f., der, unter der Voraussetzung, dass die Verabschiedung nicht schon durch „grundsätzliche Sachdifferenzen“ behindert wird, (wohl) auch Entwürfen „grundlegende Wertungen des Europäischen Gesellschaftsrechts … entnehmen“ möchte; so weit geht auch die Rabobank-Entscheidung nicht. 97 Ähnlich wohl EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, EU:C:1996:92 Rn. 43 (im konkreten Fall das Gewicht des Arguments aus dem Vorschlag als gering veranschlagend); Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 924 f. (dem EuGH indes in der Sache widersprechend); Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 35.
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§ 10 Die Auslegung
d) Kollisionsregeln 29 Im Zusammenhang mit der systematischen Auslegung werden regelmäßig auch ein-
zelne Kollisionsregeln erörtert.98 Zur Auslegung mit Rücksicht auf das Gesamtsystem gehört der Grundsatz lex superior derogat legi inferiori. Wie Art. 263 f. AEUV zeigen, gilt dieser Grundsatz auch im Verhältnis von Primär- und Sekundärrecht. Allerdings kann die harsche Derogationsfolge (Nichtigkeit) ggf. im Wege der primärrechtskonformen Auslegung (oben § 8) vermieden werden. Im Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht geht der EuGH von einem Anwendungsvorrang aus.99 30 Der Grundsatz lex posterior derogat legi priori löst eine Kollision mit Rücksicht auf die Chronologie.100 Vorausgesetzt ist dabei freilich, dass es sich um miteinander unverträgliche (nicht komplementäre) Vorschriften zum selben Gegenstand handelt und dass der Gesetzgeber der jüngeren Norm derogationsbefugt war.101 Zudem kommt der Grundsatz nur zur Anwendung, wenn die intertemporale Anwendbarkeit nicht spezifisch geregelt und dementsprechend differenziert zu behandeln ist, s. z. B. Art. 29–31 Verbraucherkreditrichtlinie,102 Art. 31, 34 Verbraucherrechterichtlinie.103 31 Der Spezialitätsgrundsatz, lex specialis derogat legi generali, schließlich, soll das Verhältnis von zwei Regelungen klären, deren eine (die spezielle) alle Tatbestandsmerkmale der anderen (der allgemeinen) enthält und darüber hinaus noch mindestens ein weiteres. Ob eine Regelung im Sinne dieses Grundsatzes ‚speziell’ ist, ist allerdings regelmäßig gerade die – durch Auslegung zu klärende – Frage.104 „Soweit nämlich die Rechtsfolgen der konkurrierenden Rechtssätze miteinander verträglich sind, kommt es darauf an, ob die Rechtsfolgen der spezielleren Norm für deren Anwendungsbereich die der allgemeineren Norm nach der Regelungsabsicht des Gesetzes nur ergänzen, sie modifizieren oder an ihre Stelle treten sollen.“105 Der Spezialitätsgrundsatz beschreibt daher regelmäßig nur das Auslegungsergebnis.106
98 Kramer, Methodenlehre, S. 104 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 422 ff.; für das Unionsrecht mit weiterführenden Erwägungen zur Vollharmonisierung Schmidt-Kessel, GPR 2011, 79– 86. 99 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. ENEL, EU:C:1964:66 S. 1270; EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, EU:C:1978:49 Rn. 17/18–24. 100 Vgl. GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 3.5.2001 – Rs. C-145/99 Kommission ./. Italien, EU: C:2001:240 Tz. 49 („Allgemeingut der rechtswissenschaftlichen Methodik“). 101 Schmidt-Kessel, GPR 2011, 79, 80 f. 102 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 103 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64. 104 Kramer, Methodenlehre, S. 111 ff. 105 Larenz, Methodenlehre, S. 267 f. Zu spezifischen Fragen des Unionsrechts Schmidt-Kessel, GPR 2011, 79, 81. 106 EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-355/12 Nintendo, EU:C:2014:25 Rn. 23; EuGH v. 3.7.2012 – Rs. C-128/11 UsedSoft, EU:C:2012:407 Rn. 51, 56; EuGH v. 19.6.2003 – Rs. C-444/00 Mayer Perry Recycling, EU:
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III. Kriterien der Auslegung
3. Die historische und genetische Auslegung Anders als im Primärrecht107 und entgegen mancher früheren Einschätzung108 spielt 32 auch die historische und genetische Auslegung, bei der es um die Vorgeschichte und die Entstehungsgeschichte geht, im Europäischen Privatrecht eine zentrale Rolle.109
a) Der Gesetzgeber Verfolgt die Auslegung – mit der Vereinigungstheorie (oben Rn. 11) – im Grundsatz 33 das Ziel, den Gesetzgeberwillen zu ermitteln, so ist zunächst zu bestimmen, wessen Wille maßgeblich ist. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber,110 das sind nur die Gesetzgebungsorgane, deren Zustimmung den Rechtsakt im konkreten Fall trägt.111 Verschiedene Organe sind hingegen lediglich anzuhören – Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA), der Ausschuss der Regionen (AdR), teils das Europäische Parlament –; und auch die Kommission hat nur ein Initiativrecht und die Möglichkeit,
C:2003:356 Rn. 53–57; EuGH v. 13.1.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, EU:C:2001:684 Rn. 37–39; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 429. 107 Dazu Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 7 Rn. 33. 108 Arnull, in: Andenas (Hrsg.), European Community Law in the English Courts, S. 120 ff.; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 568, 582; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 33 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 356 f. 109 S. z. B. EuGH v. 8.5.2019 – Rs. C-25/18 Kerr, EU:C:2019:376 Rn. 23 f.; EuGH v. 18.10.2016 – Rs. C135/15 Nikiforidis, EU:C:2016:774 Rn. 33 f.; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU: C:2013:650 Rn. 22; EuGH v. 28.10.2010 – Rs. C-203/09 Volvo Car, EU:C:2010:647 Rn. 40; EuGH v. 31.3.1998 – verb. Rs. C-68/94 und C-30/95 Frankreich u. a. ./. Kommission, EU:C:1998:148 Rn. 167 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 14; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 16; Leisner, EuR 2007, 689–706; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 800. A.M. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 287 (Analyse der EuGH-Rechtsprechung; abw. S. 387–389 für die von ihm rechtsvergleichend fundierte „europäische Methodenlehre“, dort freilich eine „historisch-dynamische“ Auslegung befürwortend); wegen des dynamischen Charakters krit. Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 219. 110 Verfehlt erscheint es, eine den Rechtsetzungsorganen (Kommission, Parlament, Rat) gleichwertige „demokratische Legitimation zur Gesetzgebung“ des EuGH anzunehmen; in diese Richtung aber wohl Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 383. „[V]on den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen nach Anhörung des in Art. 255 vorgesehenen Ausschusses … ernannt“ (Art. 253 Abs. 1 AEUV), ist schon ihre demokratische Legitimation nur sehr mittelbar begründet; Richter sind im Übrigen, wie sich aus Art. 253, 255 AEUV ergibt, nicht zur Rechtsetzung, sondern zur Rechtsprechung legitimiert. 111 Zust. GA Trstenjak, Schlussanträge v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 Caja de Ahorros, EU:C:2009:682 Tz. 83. Zu Protokollerklärungen: EuGH v. 21.1.1992 – Rs. C-310/90 Egle, EU:C:1992:27 Rn. 12 (ergänzende Heranziehung zur Bestätigung); EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, EU:C:2008:231 Rn. 32 (Presseerklärung des Vermittlungsausschusses); Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 451; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 63; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 399 ff.
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§ 10 Die Auslegung
Vorschläge zurückzuziehen, ihre Vorschläge können im Gesetzgebungsverfahren beliebig verändert werden.112 34 Indessen sind üblicherweise gerade (manchmal nur) die Vorschläge der Kommission eingehender begründet.113 Und auch die Stellungnahmen von Parlament, WSA, dem Ausschuss der Regionen oder der Europäischen Zentralbank (EZB) enthalten öfter weiterführende Erläuterungen.114 Sofern die entscheidenden Organe diese Erwägungen in ihren Willen aufgenommen haben („Paktentheorie“), können sie auch für die Auslegung herangezogen werden.115 Sofern Vorschläge bzw. Wünsche von Kommission, Parlament und WSA dezidiert116 nicht übernommen wurden, kann sich daraus allenfalls (aber nicht zwingend) ein e contrario-Argument ergeben.117
b) Zugängliche Materialien 35 Nach Art. 296 Abs. 2, 297 AEUV werden Verordnungen und Richtlinien unter Hinweis
auf die ihnen zugrundeliegenden Vorschläge sowie Stellungnahmen dazu und mit einer Begründung veröffentlicht.118 Diese Unterlagen, insbesondere die Begründungserwägungen, die allen Rechtsakten vorangestellt sind, stehen für die Ermittlung des Gesetzgeberwillens in jedem Fall zur Verfügung. Und tatsächlich erschöpfen sich die Begründungserwägungen jüngerer Rechtsakte regelmäßig nicht (mehr) in einer bloßen Skizze der Regelungsinhalte, sondern geben weiterführende Hinweise. 36 Darüber hinaus besteht nach Art. 15 Abs. 2, 3 AEUV ein grundsätzliches Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Union,119 und zwar seit dem Lissaboner Vertrag un-
112 Eine Kompetenz zur „authentischen Interpretation“ des Sekundärrechts kann die Kommission daher auch nicht haben. 113 Näher Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 396 ff. (aber krit. zur Paktentheorie S. 386 Fn. 461). 114 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 398 f. 115 S. z. B. EuGH v. 27.6.2013 – verb. Rs. C-457/11 bis 460/11 VG Wort, EU:C:2013:426 Rn. 69, 71 f.; EuGH v. 15.7.2010 – Rs. C-256/09 Purrucker, EU:C:2010:437 Rn. 84–87; GA Tizzano, Schlussanträge v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, EU:C:2002:31 Tz. 18; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 451 f.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 171–173. Enger Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64 f.; Pechstein, EuR 1990, 249, 253 f. Für das nationale Recht zutr. Wank, Die Auslegung von Gesetzen (3. Aufl. 2005), S. 93 f.; enger Larenz, Methodenlehre, S. 329. 116 Also nicht etwa nur „als selbstverständlich“. 117 EuGH v. 28.10.2010 – Rs. C-203/09 Volvo Car, EU:C:2010:647 Rn. 40; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C404/06 Quelle, EU:C:2008:231 Rn. 29 f.; EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, EU:C:1999:197 Rn. 49–52; EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, EU:C:1998:189 Rn. 11 und 16; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, EU:C:1995:420 Rn. 33; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, EU:C:1969:57 Rn. 5. 118 Daher für eine Berücksichtigungspflicht W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 800; Streinz, ZEuS 2004, 387, 402. 119 Näher ausgestaltet durch Verordnung (EG) 1049/2001 v. 30.5.2001 über den Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. 2001 L 145/43.
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III. Kriterien der Auslegung
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eingeschränkt auch zu Dokumenten des Rates.120 Daher stellt sich die Frage, inwieweit weitere Unterlagen als Materialien für die historische Auslegung herangezogen werden können.121 Die entscheidende Grenze muss darin liegen, welche Dokumente veröffentlicht sind.122 Das folgt zum einen aus der Bindung an den Gesetzgeberwillen, dem neben der Setzung der Regeln auch freistehen muss zu entscheiden, inwieweit er diese konkretisiert – auch durch Erläuterungen.123 Soweit er auf eine Veröffentlichung der Materialien verzichtet, entspricht es seinem Willen, sie bei der Auslegung nicht zu berücksichtigen.124 Der subjektive Wille wird auf diese Weise als nachrangig gegenüber einer objektivierten, autoritativen Festlegung der Ziele in der Präambel verstanden – z. B. weil Kompromisse gefunden werden, diese jedoch die Auslegung nicht belasten sollen.125 An der Beschränkung auf veröffentlichte Materialien ändern auch das Zugangs- 37 recht des Einzelnen und das Vorlagerechts des EuGH (Art. 24 EuGH-Satzung) nichts. Sowohl das Rechtsstaatsprinzip, das insofern in Art. 297 AEUV ausgedrückt ist, als auch der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangen, dass das Recht für die Rechtsunterworfenen vorhersehbar ist. Das ist gerade im Privatrecht als dem Handlungsrahmen für das Verhalten Privater von essentieller Bedeutung, da sie anfänglich Planungssicherheit benötigen, nicht nur nachträglich die Gewährung rechtlichen Gehörs. Das bestätigt auch das sog. intertemporale Recht – also die Regeln über das im Falle von zwischenzeitlichen Änderungen auf einen Vertrag anwendbare Recht –, denn danach regiert bei Gesetzesänderungen im Vertragsrecht grundsätzlich das bei Vertragsschluss geltende Recht.126
120 Nicht nur deshalb gehen Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 24 von einer steigenden Bedeutung der Materialen für die Auslegung aus. 121 Offen gelassen in EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easycar, EU:C:2005:150 Rn. 20 („die für ihre Auslegung maßgebenden Dokumente, wie etwa die vorbereitenden Arbeiten“). Auf der Grundlage der Theorie kollektiver Intentionalität entwickelt Wischmeyer, JZ 2015, 957, 964 vier Kriterien für die Relevanz von Materialien: Repräsentativität, Schlüsselstellung, Transparenz und Konsistenz. 122 Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (10. Aufl. 2013), § 9 Rn. 15; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 148; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 173–177; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64; Itzcovich, GLJ 10 (2009), 537, 554; Lutter, JZ 1992, 600 f.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 392 f.; Pechstein, EuR 1990, 249, 255. Weitergehend (Zugänglichkeit reicht) Leisner, EuR 2007, 689, 696; wohl auch Langenbucher-dies., § 1 Rn. 16. 123 Aus dem Prinzip der Rechtssicherheit leitet Neuner, FS Georgiades (2005), S. 1235 freilich eine „Pflicht zur hinreichenden Dokumentation der gesetzgeberischen Regelungsabsicht in flankierenden Protokollen“ ab; diese kann allerdings wohl nicht mehr als ein Minimum begründen. 124 Ebenso Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 174 f.; Leenen, Jura 2012, 753, 757 f. 125 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (10. Aufl. 2013), § 9 Rn. 15 (für das Primärrecht). 126 Hess, Intertemporales Privatrecht (1998), S. 143–159, 503–514. Zum Prinzip des vertraglichen Vertrauensschutzes auch EuGH v. 6.2.1973 – Rs. 48/72 Brasserie de Haecht II, EU:C:1973:11 Rn. 8–10/13.
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§ 10 Die Auslegung
c) Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen 38
Kommt den Begründungserwägungen eine zentrale Rolle bei der Ermittlung des Gesetzgeberwillens zu,127 so ist doch auf deren begrenzte Bedeutung hinzuweisen.128 Ebenso wie andere Gesetzesmaterialien129 können sie nicht selbst Rechte Einzelner begründen, dazu bedarf es einer Bestimmung im verfügenden Teil des Rechtsakts.130 Eine Regelungsabsicht, die im verfügenden Teil keinen Anhalt findet, kann man nicht berücksichtigten.131
d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ 39 Bezugspunkt historischer Auslegung könnte auch die Herkunft einer Regel aus dem Recht eines Mitgliedstaates sein (Bsp.: Vorbild des deutschen Rechts für die Handelsvertreterrichtlinie oder die Massenentlassungsrichtlinie). Das Vorbildrecht ist jedoch, soweit die oben (Rn. 4–7) erörterte Autonomie des Unionsrechts reicht, nicht autoritativ.132 Das folgt nicht zuletzt daraus, dass der EU-Gesetzgeber seinen Regeln andere Zwecke beilegen kann und sie in ein eigenes Rechtssystem einbettet. Das Vorbildrecht kann daher allenfalls Anhaltspunkte für eine mögliche Auslegung des Unionsrechts geben.133 Eine weitergehende Bindung wird erwogen, wenn das Unionsrecht (autonom, d. h. ohne völkervertragliche Bindung) einem einheitsrechtlichen Modell nachgebildet ist, so wie die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie dem UN-Kaufrecht.134 Auch insofern ist indes wegen der teleologischen und systematischen Eigenständigkeit des Unionsrechts Zurückhaltung geboten.
127 Hess, IPRax 2006, 348, 354; Müller, FS Mayer (2011), S. 408; differenzierend und kritisch Junker, EuZA 2020, 141 f. 128 Näher Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 48–52; Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Europäisches Privat- und Unternehmensrecht (EnzEuR Bd. 6), § 3 Rn. 126 ff. Zu den Präambeln von EUVertrag und EG-Vertrag nur Streinz-ders., Präambel EUV Rn. 17–19, Präambel AEUV Rn. 10–14. 129 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, EU:C:2008:231 Rn. 32 (Presseerklärung). 130 GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02 Paul ./. Deutschland, EU:C:2003:637 Tz. 132. Daher sind die Begründungserwägungen nicht der systematischen Auslegung zuzuordnen; a. M. Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 191 f. 131 Beispielhaft EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 Della Rocca, EU:C:2013:235 Rn. 38 f. m. zust. Anm. Franzen, EuZA 2013, 433 f. („Andeutungstheorie“). 132 Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice, S. 236; Bleckmann, ZGR 1992, 364, 365; Lutter, JZ 1992, 593, 603; teils a. A. Daig, FS Zweigert (1981), S. 409 f. („implizite Verweisung“). 133 S.a. Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 38 f. 134 S. nur Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 901, 906, 926 f. mwN.
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III. Kriterien der Auslegung
307
e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten Umgekehrt kann bei einer Rechtsordnung, deren Zweck regelmäßig gerade in der 40 Rechtsangleichung oder -vereinheitlichung besteht, die vorbestehende Regelungssituation in den Mitgliedstaaten für die Auslegung eine Rolle spielen. Das kommt im Rahmen der historischen Auslegung i. e. S. (im Gegensatz zur genetischen Auslegung) in Betracht, wenn der Gesetzgeber auf einen spezifischen Missstand reagiert hat oder von einer spezifischen Regelungssituation in den Mitgliedstaaten ausgegangen ist.135
4. Die teleologische Auslegung136 a) Regelungszweck und Angleichungszweck Weil Rechtsregeln dazu dienen, die Lebensverhältnisse in der Zukunft zu gestalten, 41 kommt ihrem Regelungszweck für die Auslegung eine entscheidende Bedeutung zu.137 Zu ermitteln ist primär der historische Gesetzeszweck (oben Rn. 11).138 Für ihn liefern im Europäischen Privatrecht vor allem die Begründungserwägungen Anhaltspunkte (Rn. 35).139 Zudem kann auch die vom Gesetzgeber gewählte Kompetenzgrundlage Aufschluss über das verfolgte Ziel geben.140 Die gewählte Kompetenznorm kann, wenn sich schon der Gesetzgeber auf deren Grenzen bezogen hat, schon im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigt werden, sonst im Rahmen der systematisch-teleologischen Auslegung. Dabei handelt es sich dann ggf. um einen Anwendungsfall der primärrechtskonformen Auslegung.141 Die „kompetenzkonforme Auslegung“ wird beispielsweise im Europäischen Arbeitsrecht diskutiert, nämlich im Hinblick auf die Beschränkungen in Art. 153 AEUV.142 So hat man z. B. erwogen, ob der Anwendungsbereich des Diskrimi
135 Vgl. z. B. EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, EU:C:1996:444 Rn. 18. 136 Zu den aus dem nationalen Recht bekannten und auch vom EuGH verwandten Schluss-Figuren (a fortiori; a maiore ad minus; e contrario; ad absurdum), die weithin der teleologischen Auslegung zuzuordnen sind, etwa Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 219 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 326 ff. 137 S. z. B. EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 Honyvem, EU:C:2006:199 Rn. 17–22, 26; eingehend Maduro, EJLS 1 (2007), S. 4 ff. 138 A. A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 159. 139 Z. B. EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, EU:C:1999:197 Rn. 42; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C97/96 Daihatsu, EU:C:1997:581 Rn. 22; EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, EU:C:1996:444 Rn. 13; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU:C:1990:395 Rn. 12; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 579 f. 140 So im Grundsatz EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:637 Rn. 61. 141 Dazu mit Beispielen Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 8, 35. S.a. Neuner, Allgemeiner Teil, § 4 Rn. 59. 142 Eingehend Rebhahn/Franzen, in diesem Band, § 18 Rn. 68.
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§ 10 Die Auslegung
nierungsverbots in der Leiharbeitsrichtlinie mit Rücksicht auf die Ausnahme des Arbeitsentgelts von der Regelungskompetenz der Union einschränkend auszulegen ist.143
42 Soweit es um den inhaltlichen Regelungszweck geht, darf man sich freilich nicht mit
allgemeinen Zweckrichtungen begnügen, etwa dem „Verbraucherschutz“, dem „Arbeitnehmerschutz“ oder dem „Urheberschutz“.144 Diese generellen Schutzrichtungen sind für die teleologische Auslegung schon deswegen ungeeignet, weil sie völlig unspezifisch sind, so dass sie in vielen Fällen nicht einmal eine Richtung weisen: Dient es dem Verbraucherschutz, wenn man dem Fernabsatzerwerber oder dem Pauschalreisenden mehr Informationen gibt oder entsteht so nicht eine Informations-Überforderung?145 Die erforderliche Bewertung von – z. B. – Verbraucher- und Unternehmerinteressen hat der Gesetzgeber im Europäischen Privatrecht regelmäßig differenziert vorgenommen. Für die teleologische Auslegung sind daher die spezifischen Zwecke einzelner Regelungen herauszuarbeiten,146 z. B. der Zweck der Widerrufsrechte, die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Geschützten zu wahren. 43 Im Schrifttum wird öfter eine Eindimensionalität des Schutzzweckdenkens im (Verbraucher-)Vertrags- und Arbeitsrecht gerügt.147 Der Kritik ist zuzugeben, dass die Privatrechtsetzung durch die EU meist dem Schutz einer bestimmten Gruppe dient und dieser Schutzrichtung von der Rechtsprechung und Lehre teils über Gebühr berücksichtigt wird (s.a. unten Rn. 57–61 gegen einen Auslegungsgrundsatz „pro consumente“). Bei der Auslegung ist zum einen der – nach wie vor in vielen Bereichen – punktuelle Charakter der Regelung mitzuberücksichtigen, bei dem vorausgesetzt ist, dass es daneben noch eine Fülle mitgliedstaatlicher Regeln gibt.148 Zum anderen ist zu beachten, dass auch etwa verbraucher- oder arbeitnehmerschützende Regelungen die Interessen des Vertragspartners regelmäßig nicht völlig unberücksichtigt lassen, sondern durch inhaltliche Regeln (etwa die Anzeigeobliegenheit des Pauschalreisenden oder die arbeitsschutzrechtlichen Pflichten des Arbeitnehmers) sowie Vorschrif
143 Dazu nur Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 11–13 mwN sowie EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, EU:C:2008:223 Rn. 105–133. 144 Ebenso Herresthal, ZEuP 2009, 600, 603 f. S.a. Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Europäisches Privat- und Unternehmensrecht (EnzEuR Bd. 6), § 3 Rn. 138 (krit. zur „Schwäche für diffuse Zweckerwägungen“ des EuGH). 145 S. nur Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 518–530. 146 So auch Wank, Methodenlehre, § 18 Rn. 96 ff. (mit guten Gründen krit. gegenüber der Praxis des EuGH). 147 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 461–465 (sprachlich im Anschluss an Schoch, JZ 1995, 109, 117 f.); ihm folgend etwa Junker, NZA 1999, 2, 10; Kaiser, NZA 2000, 1144, 1147. S.a. Rebhahn/Franzen, in diesem Band, § 18 Rn. 19 f. 148 S. z. B. EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, EU:C:2009:502 Rn. 25 f. Allgemein zur Berücksichtigung des fragmentarischen Charakters bei der Auslegung Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 554 f.
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III. Kriterien der Auslegung
ten über den Anwendungsbereich berücksichtigen.149 Dem trägt die Rechtsprechung des EuGH auch zunehmend Rechnung.150 Im Fall Messner hat der EuGH unter Berufung auf den Schutzzweck des Widerrufsrechts nach Art. 6 Fernabsatzrichtlinie151 (FARL) und seine effektive Durchsetzung – sehr weitgehend – angenommen, es sei mit den Richtlinienvorgaben unvereinbar, dem Verbraucher „generell“ eine Pflicht aufzuerlegen, im Fall des Widerrufs Wertersatz für die zwischenzeitliche Nutzung der gekauften Ware zu zahlen.152 Zustimmung verdient aber die weitere Hervorhebung: „Die Richtlinie 97/7 hat jedoch, auch wenn sie den Verbraucher in der besonderen Situation eines Vertragsabschlusses im Fernabsatz schützen soll, nicht zum Ziel, ihm Rechte einzuräumen, die über das hinausgehen, was zur zweckdienlichen Ausübung seines Widerrufsrechts erforderlich ist. Demzufolge stehen die Zielsetzung der Richtlinie 97/7 und insbesondere das in ihrem Art. 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 festgelegte Verbot grundsätzlich Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen, wonach der Verbraucher einen angemessenen Wertersatz zu zahlen hat, wenn er die durch Vertragsabschluss im Fernabsatz gekaufte Ware auf eine mit den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben oder der ungerechtfertigten Bereicherung unvereinbare Art und Weise benutzt hat.“153
Neben den inhaltlichen Regelungszwecken sind für die Auslegung subsidiär die for- 44 malen Regelungszwecke jeder Privatrechtsangleichung in der Europäischen Union zu berücksichtigen, nämlich die Rechtsvereinheitlichung,154 besonders die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen,155 und ihre Funktion zur Herstellung eines Binnenmarktes.156 Insofern trifft zu, dass im Falle von Konflikten zwischen mehreren Regelungszwecken im Zweifel der integrationsfreundlichen Auslegung der Vorzug zu geben ist.157 Vermittelt über diesen allgemeinen Zweck der Privatrechtsangleichung kommt man so zu einer Auslegung privatrechtlicher Vorschriften nach den Zwecken
149 S.a. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 72. 150 S. z. B. EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C- 426/11 Alemo-Herron, EU:C:2013:521 Rn. 25 ff.; EuGH v. 13.5.2015 – Rs. C-182/13 Lyttle u. a., EU:C:2015:317 Rn. 43 f.; EuGH v. 29.11.2017 – Rs. C-214/16 King, EU:C:2017:914 Rn. 55. 151 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 152 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, EU:C:2009:502 . Ebenso schon Micklitz, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Band IV (40. Aufl. 2009), A 3 (FARL) Rn. 85; abl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 343 (von der Richtlinie nicht geregelt). 153 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, EU:C:2009:502 Rn. 25 f. 154 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, EU:C:1974:116 Rn. 6 (Rechtssicherheit und Rechtsklarheit als Angleichungszweck); Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 241 f., 258, 276 f.; Canaris, JZ 1987, 543, 549. 155 EuGH v. 12.3.2002 – Rs. C-168/00 Leitner, EU:C:2002:163 Rn. 21. 156 EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Clinique, EU:C:1994:34 Rn. 12 f. 157 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 580; zum Einheitsrecht auch Canaris, JZ 1987, 543, 549. Krit. Herresthal, ZEuP 2009, 600, 605.
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§ 10 Die Auslegung
des EUV und des AEUV.158 Kann der historische Gesetzeszweck nicht sicher ermittelt werden, so ist der Zweck festzustellen, dem die Regelung nach objektiven Anhaltspunkten dient. Hierzu ist neben dem Wortlaut vor allem der äußere und innere Zusammenhang mit anderen Vorschriften festzustellen. Im Fall Haaga hatte der EuGH zu entscheiden, ob nach Art. 2 Abs. 1, 3 Publizitätsrichtlinie die Alleinvertretungsbefugnis des einzigen GmbH-Geschäftsführers in Deutschland im Handelsregister zu veröffentlichen ist, obwohl sie sich schon aus dem Gesetz ergibt. Der EuGH bejaht diese Frage vor allem deshalb, weil die gesetzliche Vertretungsbefugnis zwar in Deutschland bekannt sein mag, nicht aber interessierten Dritten anderer Mitgliedstaaten. Zweck der Publizitätsvorschrift sei aber gerade, Rechtssicherheit für interessierte Dritte aus anderen Mitgliedstaaten im gemeinsamen Markt herzustellen (BE 1 der Richtlinie und Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV).159
b) Teleologische Auslegung und „praktische Wirksamkeit“ (effet utile) 45 Der Gerichtshof beruft sich in seiner Rechtsprechung öfter auf das Gebot der „prakti-
schen Wirksamkeit“, den effet utile, den er u. a. auch als Auslegungstopos heranzieht, und zwar auch bei der Auslegung von Sekundärrecht.160 Dabei zeichnen sich zwei unterschiedliche Verwendungen des Gedankens ab.161 Zum einen stützt sich der Gerichtshof auf den effet utile, um zu begründen, dass einer europäischen Regelung „nicht jede praktische Wirksamkeit genommen“ werden dürfe. Das ist ein altbekannter und weithin unproblematischer Auslegungsgrundsatz, wonach eine Regelung so auszulegen ist, dass sie nicht sinnentleert wird.162 Zum anderen wird der effet utile herangezogen um zu begründen, dass ein Regelungsziel so weit wie möglich oder bestmöglich erreicht werden soll.163 Auch hier geht es um einen Vergleich von Rege
158 Aufgrund dieser bloß mittelbaren Wirkung haben die Vertragsziele daher nur geringere Bedeutung bei der Auslegung des Europäischen Privatrechts, Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 457. 159 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, EU:C:1974:116 Rn. 6; GA Mayras, EU:C:1974:107 S. 1214 f. 160 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, EU:C:2009:502 Rn. 24; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/ 03 Schulte, EU:C:2005:637 Rn. 69; EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, EU: C:2002:281 Rn. 15, 21; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis 244/98 Océano, EU:C:2000:346 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1996 – verb. Rs. C-178, 179, 188, 189, 190/94 Dillenkofer, EU:C:1996:375 Rn. 22; s.a. EuGH v. 1.10.2002 – Rs. C-167/00 Henkel, EU:C:2002:555 Rn. 35 (EuGVÜ); EuGH v. 11.7.2002 – Rs. C-96/ 00 Gabriel, EU:C:2002:436 Rn. 37. Monographisch jetzt Tomasic, Effet utile. 161 Potacs, EuR 2009, 465, 467 f.; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 805 f.; vgl. auch Hess, IPRax 2006, 348, 357 f.; Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft (2003), S. 8 f. 162 Honsell, FS Krejci, S. 1930 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 464; auch Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 94 f.; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 14. 163 In diese Richtung EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402; dazu krit. Höpfner/ Daum, RdA 2019, 270, 272 ff.; Krause, NZA-Beilage 2019, 86, 93 („Letztlich wird der Aspekt des effet utile in den Händen des EuGH zu einer Art Allzweckwaffe, mit der sich nahezu alles begründen lässt. Noch weitergehend Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 289 f., 391 („größtmögliche Wirkung“).
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III. Kriterien der Auslegung
lungszweck und praktischem Ergebnis, so dass man den Auslegungsgrundsatz der teleologischen Auslegung zuordnen kann.164 Gerade bei privatrechtlichen Regelungen, die stets gegenläufige Interessen Privater ausgleichen, besteht indes die Gefahr, unter dem Deckmantel der praktischen Wirksamkeit einseitig die Interessen einer Seite zu berücksichtigen („Eindimensionalität“; soeben Rn. 43).165 Bevor man die „praktische Wirksamkeit“ untersucht, ist daher geboten, den Regelungszweck mit Rücksicht auf den gesetzgeberischen Ausgleich der gegenläufigen Interessen sorgfältig herauszuschälen.166 Dass dabei einseitig ein Interesse unter Hintanstellung gegenläufiger Interessen „so weit wie möglich“ durchgesetzt werden soll, ist in einem differenzierten Privatrecht jedenfalls die Ausnahme. Hinzu kommt, dass die Rechtsetzung durch Richtlinien gerade nur eine Zielerreichung vorschreibt, die Wahl der Mittel aber den Mitgliedstaaten überlässt und dabei nicht verlangt, das Ziel müsse in bestimmter Weise oder optimal erreicht werden. Vor allem im Rahmen der Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf den effet utile sind die organkompetenziellen Grenzen der Gerichte zu beachten, auch bei der Auslegung nach dem effet utile zudem die verbandskompetentiellen Grenzen, die sich insbesondere aus der begrenzten Einzelermächtigung ergeben.167
c) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts Eine Besonderheit des Europarechts liegt in seinem „evolutiven Charakter“. Über die 46 bloße Veränderlichkeit, der jede Rechtsordnung unterliegt, ist das Europarecht von Primärrechts wegen (vgl. Präambel AEUV) auf eine zunehmende Verdichtung angelegt. Diese „Dynamik“ – der „Entwicklungsstand“ des Unionsrechts – ist auch bei der Auslegung zu berücksichtigen.168 Entwicklungsoffen ausgeformt ist allerdings das Primärrecht weit mehr als das Sekundärrecht. Ungeachtet seiner Dynamik beginnt die 164 Honsell, FS Krejci, S. 1933; Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft (2003), S. 7; s.a. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration (1996), S. 145 f. A.M. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 272–280 aufgrund einer empirischen Analyse der EuGHRechtsprechung („sechste Auslegungsmethode“; S. 276 f. spricht Seyr freilich davon, es handele sich um eine „gesteigerte, potenzierte Form der Teleologie“). 165 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 466 f. 166 In der Tat richtet sich die Kritik „nicht gegen den effet utile als Argumentationsfigur, sondern gegen seine Verwendung zur Ausweitung des Gemeinschaftsrechts“; Honsell, FS Krejci, S. 1937. 167 Eingehend Tomasic, Effet utile, S. 145 ff., der (a) auf die Grenzen der gegenwärtig in Anspruch genommenen Kompetenzen hinweist und (b) jenseits der Unionskompetenz eine Abwägung mit den Wertungen des (jeweiligen) nationalen Rechts begründet. 168 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 20: „[J]ede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts [ist] … im Lichte … des Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“. Herresthal, ZEuP 2009, 600, 606 f.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 474 ff. (für das Sekundärrecht mit Recht zurückhaltend); Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 65; Tomasic, Effet utile, S. 63; für eine eigenständige Auslegungsmethode Adrian, Grundprobleme einer (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 412 f.
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§ 10 Die Auslegung
Auslegung des Europarechts zunächst beim Wortlaut der Regelung. Soweit der Europäische Gesetzgeber bei einer späteren Ergänzung des Europäischen Privatrechts von der Möglichkeit keinen Gebrauch macht, die bestehenden Regeln zu ändern, ist das ein Anzeichen dafür, dass ihr Regelungsgehalt unverändert bleiben soll. Gerade eine am inneren System orientierte Auslegung kann aber dabei nicht stehenbleiben. Denn weil und soweit bei der Auslegung einzelner Vorschriften auch die der Rechtsordnung als Ganzes zugrundeliegenden Prinzipien und ihr Ausgleich zu berücksichtigen sind, kann eine Neuregelung auch ohne Änderung des Textes der bestehenden Regelungen Einfluss auf deren Auslegung haben.169 Erscheint z. B. eine Regelung zunächst als vielleicht systemfremde Ausnahme, so kann die Hinzufügung weiterer entsprechender Regelungen ergeben, dass der zugrundeliegende Regelungsgedanke damit vom Gesetzgeber zu einem allgemeingültigen Prinzip erhoben wird.170 Soweit der Wortlaut der Regelung das zulässt, kann daher aufgrund nachträglicher Entwicklungen auch bei unverändertem Wortlaut eine andere Auslegung geboten sein.
Anlass für die Berücksichtigung von Systemveränderungen könnte sich z. B. ergeben, wenn die Verbraucherkreditrichtlinie dahin ergänzt wird, dass unter ihren Schutz auch Existenzgründungsdarlehen fallen: Dann könnte im Interesse der Wertungseinheit auch die Entscheidung des EuGH im Fall Di Pinto zu überdenken sein, wonach ein Unternehmer auch dann nicht den Schutz der Haustürwiderrufs-Richtlinie genießt, wenn er sein Unternehmen verkauft.171
Auch in dem (freilich primärrechtlichen) Fall El Corte Inglés ging es um Systemwandlungen. Allerdings verneinte der Gerichtshof die Frage, ob nicht aufgrund der Einführung von Art. 129 EGV (jetzt Art. 169 AEUV) verbraucherschützenden Richtlinien entgegen früherer Rechtsprechung unmittelbare Privatrechtswirkung beizulegen sei.172
Selbstverständlich kann allerdings eine Änderung des Regelungsbestandes keine Auslegung (oder Rechtsfortbildung) gegen den Willen des Gesetzgebers rechtfertigen. Zu Recht hat daher der EuGH in der Rechtssache Schulte eine richterliche Ergänzung der Haustürgeschäfterichtlinie um eine Regelung über verbundene Geschäfte abgelehnt: „Während andere Richtlinien der Gemeinschaft, die die Interessen der Verbraucher schützen sollen, u. a. die [Verbraucherkredit-]Richtlinie 87/102, Vorschriften über verbundene Verträge enthalten, enthält die (…) [Haustürgeschäfte-]Richtlinie keine solche Vorschrift und bietet auch keine Grundlage für die Annahme, dass es stillschweigend derartige Vorschriften gibt.“173
Abzulehnen ist der Vorschlag einer „integrationsdynamischen Auslegungsmethode“, die sich an der Zustimmung des „Volkswillens“ zum Integrationsprojekt orientiert.174
169 170 171 172 173 174
Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 63 f., 67 ff. Vgl. Zöllner, WM 2000, 1, 3 f. EuGH v. 14.3.1991 – Rs. C-361/89 Di Pinto, EU:C:1991:118 Rn. 14–19. EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-192/94 El Corte Inglés, EU:C:1996:88 Rn. 15–21. EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:637 Rn. 76. Reyes y Ráfales, EuR 2018, 498 ff.
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Die Ermittlung des maßgeblichen Volkswillens erscheint bis zur Beliebigkeit unbestimmt, vor allem aber fehlt für eine solche Auslegung die normative Grundlage und die Legitimation im Hinblick auf Demokratie und Gewaltenteilung. Auch gegenüber der Vorstellung vom EuGH-Richter „als pontifex ulterior, als zweiter Systembildner mit weit reichenden Kompetenzen“,175 ist aus diesen Gründen Zurückhaltung geboten.176
d) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung Besonders im Recht gegen den unlauteren Wettbewerb und in der Grundfreiheiten- 47 rechtsprechung wird in Entscheidungen öfter auf ein Verbraucherleitbild Bezug genommen, das für die Auslegung fruchtbar gemacht wird.177 Der Verbraucher wird verstanden als ein „durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher“.178 Daneben können auch andere Leitbilder eine Rolle spielen, beispielsweise ein Unternehmerleitbild. Bei diesen Leitbildern handelt es sich um Kurzformeln, die die Rechtsanwendung erleichtern sollen, so wie sie in ähnlicher Weise im nationalen Recht verwendet werden, z. B. zur Konkretisierung eines Sorgfaltsmaßstabs. Die Leitbilder liegen auf einer mittleren Ebene zwischen Prinzipien und Regel (bzw. Tatbestandselement). Ihre Attraktivität für den Rechtsanwender rührt besonders daher, dass sie nicht „reine“ Prinzipien ausdrücken (z. B. Vertragsfreiheit oder Selbstverantwortung), sondern schon einen Prinzipienausgleich enthalten oder doch darauf hinweisen. Auf diese Weise können Leitbilder eine zentrale Rolle bei der Auslegung spielen – 48 und bedürfen daher der Rechtfertigung.179 Tatsächlich ist die Gefahr groß, dass der Rechtsanwender hier schlichtweg seine eigenen rechtspolitischen Vorstellungen in ein Leitbild projiziert. Daher muss etwa ein Verbraucherleitbild aus dem positiven Recht begründet werden.180 Der Grad der Selbstverantwortung kann nicht nach dem subjektiven Empfinden des Einzelnen bestimmt werden, sondern muss aus dem Ge
175 Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 908 f. 176 Ackermann, ZEuP 2018, 741, 772 ff.; Riesenhuber, in: Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.), Systembildung im Europäischen Arbeitsrecht (2016), S. 35 ff. 177 Zur Rechtsprechung des EuGH Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Europäisches Privatund Unternehmensrecht (EnzEuR Bd. 6), § 3 Rn. 147 ff. 178 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder ./. Lancaster, EU:C:2000:8 Rn. 27; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Kessler, EU:C:1999:35 Rn. 36; EuGH v. 12.3.1987 – Rs. 178/84 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1987:126 Rn. 31–36 (Reinheitsgebot); EuGH v. 7.3.1990 – Rs. C-362/88 GB-INNO, EU: C:1990:102 Rn. 13–19; EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93, Verein gegen Unwesen im Wettbewerb ./. Mars, EU:C:1995:224 Rn. 24; Streinz/Leible, ZIP 1995, 1236–1241. 179 Howells, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 118. 180 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, S. 427; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 264 ff. Zu pauschal daher Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 205 ff., die ihr Verbraucherleitbild nicht näher begründet.
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§ 10 Die Auslegung
setz hergeleitet sein. Dabei ist zudem zu beachten, dass ein solches Leitbild für verschiedene Rechtsgebiete unterschiedlich ausfallen kann, – ganz entsprechend dem unterschiedlichen Gewicht, das einzelnen Prinzipien für einzelne Rechtsbereiche zukommt. Das Prinzip der Selbstverantwortung hat im Vertragsrecht anderes Gewicht als im Produkthaftungsrecht, und dementsprechend müssen die aus dem Verbraucherleitbild abgeleiteten Verhaltensanforderungen unterschiedlich ausfallen. 49 Im Ergebnis bedeutet das, dass ein Leitbild als Kurzformel für die dahinterstehenden Prinzipien ein nützliches Hilfsmittel für die teleologische Interpretation sein kann. Aus dem Leitbild kann man indes nicht mehr herausholen, als man vorher hineingelegt hat. Aus einem Leitbild allein kann man Lösungen sowenig ableiten wie aus einem Begriff.
IV. Rangfolge der Auslegungskriterien 50 Soll das Ergebnis der Auslegung nicht beliebig sein, so ist zu überlegen, in welchem
Verhältnis die Auslegungskriterien stehen und ob einem Aspekt oder verschiedenen der Vorzug gebührt.181 Dabei geht es nicht nur um eine Reihenfolge des Vorgehens bei der Auslegung,182 sondern um eine Rangfolge für die Fälle, dass unterschiedliche Kriterien für unterschiedliche Ergebnisse sprechen.183 Zu diesem Thema – das mit den zuvor erörterten Fragestellungen des Ziels der Auslegung und der einzelnen Auslegungskriterien eng zusammenhängt – können hier nur einige Ansatzpunkte aufgezeigt werden.184 51 Nicht mehr als eine pragmatische Faustregel ist die acte clair-Regel,185 nach der dem klaren Wortlaut Vorrang vor anderen Auslegungskriterien zukommen soll (cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio; Dig. 32, 25 § 1). Für das Europäische Privatrecht ist dieser Theorie nicht zu folgen (s. schon oben Rn. 15):
181 A.M. Millett, Stat.L.R. 1989, 163, 173; auch Zuleeg, EuR 1969, 97 99. Krit. gegenüber (der Möglichkeit von) allgemeinen Vorrangregeln Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 499 ff. 182 Vornehmlich dazu verhält sich Kramer, Methodenlehre, S. 179–181. 183 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 434, beschränken den Konfliktbegriff auf Fälle des „frontalen Gegensatzes“, der nicht vorliegt, wenn mehrere Auslegungskriterien (Konkretisierungselemente) neben einem gemeinsamen Schnittbereich der möglichen Auslegungsergebnisse noch andere, nicht gemeinsam begründbare Ergebnisse zulassen. Auch wenn ein Element unergiebig ist, liegt kein Konflikt vor. 184 Zum Diskussionsstand in der deutschsprachigen Methodenlehre Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 553–571; Canaris, FS Medicus, 25–61; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 205–224; Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung (1996), S. 192–197; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 433–448; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 111–131; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 390–393, 400–427. 185 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 79/77 Kühlhaus Zentrum, EU:C:1978:47 Rn. 6.
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IV. Rangfolge der Auslegungskriterien
Einen völlig unzweideutigen Gesetzeswortlaut findet man bei der bestehenden Sprachenvielfalt praktisch nie, und die Frage der Eindeutigkeit ist schon ein Auslegungsergebnis. Daher ist der Wortlaut allein nie ausreichend.186 Auch die Subsidiaritätsthese Bydlinskis gibt nur eine erste Handhabe: Von einem einfachen Auslegungskriterium (Wortlaut und Systematik) müsse der Rechtsanwender dann nicht zu einem schwierigeren (Entstehungsgeschichte) übergehen, wenn schon das einfachere zu einem auch teleologisch überzeugenden Ergebnis führt.187 Richtigerweise geht diese Regel ohnehin über die acte clair-Theorie hinaus, da sie eine teleologische Absicherung verlangt.188 Die primärrechtskonforme Auslegung189 betrifft zunächst das Auslegungsergeb- 52 nis. Wenn von mehreren möglichen Auslegungsergebnissen einzelne als primärrechtswidrig ausgeschlossen werden, kann dies freilich auch im Wege der Gewichtung der Auslegungskriterien erfolgen. Da das Primärrecht (bzw. Verfassungsrecht) nur die äußersten Grenzen setzt, folgt aus dieser Vorrangregel zumeist freilich keine definitive Entscheidung einer Auslegungsfrage.190 Alternative zu einer primärrechtskonformen Auslegung ist die Nichtigkeit der Norm; diese Folge ist vorzuziehen, wenn das rangkonforme Ergebnis mit dem Willen des Gesetzgebers unvereinbar ist. Es entspricht der auf dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip fundierten, 53 im Grundsatz zu befolgenden subjektiven Theorie (Rn. 11), dem aus dem Gesetzeswortlaut erkennbaren subjektiven Willen des Gesetzgebers Vorrang zukommen zu lassen.191 Der aus dem Gesetz zumindest irgendwie erkennbare Wille des Gesetzgebers hat daher auch Vorrang vor objektiv-teleologischen oder teleologisch-systematischen Erwägungen.192 Umgekehrt hat der Gerichtshof aber auch hervorgehoben, dass der Wille des Gesetzgebers nur beachtlich sei, wenn er sich im Wortlaut niedergeschlagen hat (s.a. oben Rn. 38).193 Soweit es bei der systematischen Auslegung (auch) darum geht, den Forderungen nach Einheit und Folgerichtigkeit des Gesetzes zu genügen, kann sich diese Auslegung oft genug schon auf einen wahren oder zu vermutenden
186 Ähnlich Baldus/Vogel, FS Krause (2006), S. 247 („bloße Hilfsfunktion“). 187 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 556–558, 559; Canaris, FS Medicus, S. 34. Einschränkend Kramer, Methodenlehre, S. 181. 188 Ebenso Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 293. 189 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. Vgl. Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 52 f. 190 Weitergehend Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 44–51. 191 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 249 f. (Anm. 106b); Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 112–114. 192 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 132; Grigoleit, ZNR 30 (2008), 259, 263 f.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 122 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 9. Dezidiert a. M. Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 907 ff., 920 ff.; Baldus/Vogel, FS Krause (2006), S. 245 (untergeordneter Platz der historischen Auslegung). 193 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, EU:C:1991:80 Rn. 18 f.; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 Denkavit International u. a., EU:C:1996:387 Rn. 29.
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Gesetzgeberwillen berufen. Wenn indes ein gegenteiliger Wille des Gesetzgebers erkennbar ist, so geht dieser den Systemgeboten (bis zur Grenze der Willkür) vor.194 54 Schließlich ist dem Zweck einer Regelung größeres Gewicht beizulegen als ihrem Wortlaut.195 Gesetzliche Regelungen dienen der Erfüllung von Zwecken. Soll die Auslegung nicht zu einer „öden Buchstabenjurisprudenz“196 verkümmern, so versteht sich, dass der Rechtsanwender sich nicht mit den äußeren Anzeichen – Wortlaut und äußere Systematik – für den Bedeutungsgehalt begnügen kann, sondern versuchen muss, den Regelungszweck zu ermitteln und, soweit das im Rahmen der Auslegung und der zulässigen Rechtsfortbildung möglich ist, zu verwirklichen. 55 Mit diesen Vorrangregeln sind indes nur die wichtigsten Fälle der möglichen Kollisionen von Auslegungsergebnissen gelöst. Die Auslegung ist nicht durch ein vollständiges System von Kollisionsregeln determiniert. In weiten Teilen kann die Auslegungslehre nur dazu dienen, die möglichen Auslegungsargumente aufzuzeigen und allgemeine Regeln aufzustellen, die für die Gewichtung der einzelnen Argumente im Einzelfall von Bedeutung sein können. Eine erschöpfende Aufzählung aller möglichen Gewichtungsregeln erscheint dabei allerdings nicht möglich, vielmehr zeichnet sich ab, dass die Auslegungsargumente außerhalb der Reichweite fester Vorrangregeln gemäß der Methode des beweglichen Systems je nach Zahl und Gewicht zu bewerten sind.197
V. Einzelne Auslegungsregeln 56 Zum Schluss sind zwei Auslegungsregeln zu erörtern, die (insbesondere) im Europäi-
schen Privatrecht öfter erwähnt werden. Für das Verbraucher(privat)recht soll es nach Auffassung mancher eine Zweifelsregel in dubio pro consumente geben (1). Und ganz allgemein findet sich vor allem in der Rechtsprechung des EuGH die Regel, Ausnahmen seien „eng“ auszulegen (2).
194 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 112 ff. 195 Siehe nur EuGH v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 Bayerische Hypotheken und Wechselbank ./. Dietzinger, EU:C:1998:111 Rn. 19; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, EU:C:2001:566 Rn. 35 f.; s.a. Art. 1:106 Principles of European Contract Law und dazu Lando/Beale, Principles of European Contract Law, Part I and II (1999), S. 108 f.; Canaris, FS Medicus, S. 50–52; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 221 f.; Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 276. Gerade dagegen krit. aber Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 501 f.; Adrian, Grundprobleme einer (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 498 f. 196 Canaris, FS Medicus (1999), S. 34. 197 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 555 f.; Canaris, FS Medicus, S. 58 f.; Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung (1988), S. 53; Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 293, 312 ff.; Arnull, The European Union and its Court of Justice (2. Aufl. 2006), S. 617.
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V. Einzelne Auslegungsregeln
1. „In dubio pro consumente“?198 Von manchen Autoren wird angenommen, verbraucher(privat)rechtliche Vorschriften 57 seien „im Zweifel zugunsten des Verbrauchers“ auszulegen.199 Gleichsam verstärkend wird der Grundsatz lateinisch formuliert: in dubio pro consumente.200 Auch in anderen Rechtsgebieten wird Ähnliches erörtert, etwa ein urheberrechtlicher Auslegungsgrundsatz in dubio pro auctore, ein arbeitsrechtlicher favor laboris201. Die primärrechtliche Begründung für den Auslegungsgrundsatz zugunsten von Verbrauchern wird in der von Art. 114 Abs. 3 AEUV geforderten „Orientierung am hohen Schutzniveau“ gesehen;202 das verstehen manche als „Zielvorgabe“, die durch die Auslegungsmaxime zur Geltung gebracht werde.203 Die EuGH-Entscheidungen, aus denen der Grundsatz abgeleitet wird,204 sprechen ihn freilich nicht aus und sind mit herkömmlichen methodischen Mitteln begründet. Diese Auslegungsregel ist abzulehnen. Sie ist von ihren Verfechtern schon nicht 58 tragfähig begründet, wegen ihrer Unbestimmtheit unausführbar und zudem wegen ihrer Einseitigkeit mit einem differenzierten (Verbraucher-)Privatrecht unvereinbar.205 In der Rechtsprechung ist der Grundsatz soweit ersichtlich auch nicht tragend geworden.206 Art. 114 Abs. 3 AEUV trägt den Auslegungsgrundsatz nicht. Die Vorschrift bindet 59 keineswegs die Gesetzgebung unbedingt, sondern schreibt nur vor, dass die Kommission bei ihren Vorschlägen von einem hohen Schutzniveau ausgehen, Parlament und Rat dies anstreben sollen. Ein hohes Schutzniveau muss sich indes im letztlich ver-
198 Eingehend Riesenhuber, JZ 2005, 829–835 und JZ 2006, 404 f. gegen Rösler und Tonner, JZ 2006, 400–404. Der hier vertretenen Position zust. Palandt-Grüneberg, Einl. Rn. 50a; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 292; Leenen, Jura 2012, 753, 758. Zum „favor laboris“ Rebhahn/Franzen, in diesem Band, § 18 Rn. 18 ff. 199 Tonner, EuZW 2002, 403 f.; Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 6 f. Offengelassen von EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:637 Rn. 59–61. 200 Da das römische Recht einen Verbraucherschutz im modernen Sinne so wenig kannte wie das gemeine Recht, muss freilich die Suche nach einem treffenden lateinischen Begriff fruchtlos bleiben. In der Sache kann auch die lateinische Fassung dem Auslegungsgrundsatz keine größere Dignität verschaffen. Zur sprachlichen Fassung treffend Adomeit, JZ 2006, 557. 201 Rebhahn/Franzen, in diesem Band, § 18 Rn. 18 ff. 202 GA Tizzano, Schlussanträge v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, EU:C:2001:476 Tz. 26. Andeutungsweise Tonner, EuZW 2002, 403 f. 203 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 7. 204 EuGH v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 Club-Tour, EU:C:2002:272; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, EU:C:1999:306. S. ferner GA Tizzano, Schlussanträge v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, EU:C:2001:476 Tz. 26; ders., Schlussanträge v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, EU:C:2002:31 Tz. 21; GA Saggio, Schlussanträge v. 25.6.1998 – Rs. C-140/97 Rechberger, EU:C:1998:321 Tz. 17. 205 Vgl. auch Neuner, FS Canaris (2007), S. 909 (gegen pauschale Regeln der Vertragsauslegung zu Lasten einer Partei). 206 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:637 Rn. 59–61.
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§ 10 Die Auslegung
abschiedeten Rechtsakt nicht notwendig auch durchsetzen, zumal die Rechtsangleichung nach Art. 114 AEUV einem spezifischen Binnenmarktzweck dient. Verbraucherschutz kann in aller Regel nicht der einzige Zweck eines Angleichungsrechtsakts sein. Mindeststandardklauseln in zahlreichen Verbraucherschutz-Rechtsakten bestätigen das. 60 „Verbraucherschutz“ ist zudem viel zu vage, um eine Zweifelsregel sinnvoll zu unterfüttern (s. oben Rn. 42).207 Soll etwa im Zweifel die Auslegung regieren, die den im konkreten Fall betroffenen Verbraucher am besten schützt; das mag z. B. für eine Kollektivierung von Kosten in Form einer faktischen Zwangsversicherung sprechen. Oder soll es um den Schutz der Verbraucher als Gruppe gehen; dann mag eine individuelle Kostentragung vorzugswürdig sein. Diese Unbestimmtheit illustrieren bezeichnenderweise gerade die Fälle, die den Verfechtern Anlass für den Grundsatz erschienen. Dort ging es nämlich ausgerechnet um die Auslegung der Pauschalreiserichtlinie, die nun gerade nicht den Verbraucher schützt, sondern jeden (Pauschal-) Reisenden, auch den Geschäftsmann, der etwa Tagung und Unterkunft gebucht hat.208 Auch die bereits angesprochene Frage (oben Rn. 42), ob mehr oder weniger Information im Verbraucherinteresse ist, illustriert die Problematik. 61 Endlich würde aber eine einseitige Zweifelsregel zugunsten von Verbrauchern die Preisgabe einer differenzierten Rechtsetzung und Dogmatik bedeuten. Wenn das Verbraucherschutzrecht einen Ausgleich von Unternehmer- und Verbraucherinteressen darstellt, dann verträgt sich damit eine einseitige Begünstigung des Verbrauchers nicht. Nicht ausgeschlossen ist damit indes selbstverständlich, den Verbraucherschutzzweck einer Regelung bei der teleologischen Auslegung mitzuberücksichtigen. Dann freilich ist dieser Zweck in der vom Gesetzgeber konkretisierten Form zugrundezulegen, nämlich in seiner konkreten Ausformung (z. B. Schutz der wirtschaftlichen Selbstbestimmung) und unter Berücksichtigung etwaiger vom Gesetzgeber beachteter gegenläufiger Interessen.209
2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? 62 Eine aus dem nationalen Recht bekannte und alte Frage ist, ob Ausnahmeregeln
„eng“ auszulegen sind.210 So klar (jedenfalls) die deutschsprachige Literatur die pau-
207 Vgl. auch Herresthal, ZEuP 2009, 600, 604. Gegen die Anerkennung von Verbraucherschutz als Rechtsprinzip (auch) aus diesem Grunde Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 575. 208 Die Regelung ist daher nur formal dem Verbraucherschutzrecht zuzuordnen; Riesenhuber, EUVertragsrecht, § 5 Rn. 16 ff. 209 I.Erg. auch Micklitz/Rott, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (34. EL 2013), H.V. Rn. 102. 210 Zur Herkunft des Grundsatzes Knütel, JuS 1996, 768, 772; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 516–518.
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V. Einzelne Auslegungsregeln
schale Frage verneint,211 so persistent ist die bejahende Antwort in der Rechtsprechung des EuGH:212 singularia non sunt extendenda. Vor dem Bemühen des Gerichts, der Integration effektive Geltung zu verschaffen, 63 ist diese Haltung verständlich.213 Dahinter dürfte die Annahme stehen, Ausnahmevorschriften seien Ausdruck dafür, dass das eigentliche Angleichungsziel schon im Gesetzgebungsverfahren durch Kompromisse eingeschränkt wurde. Um die Rechtsangleichung so weit wie möglich durchzusetzen, müssten die Ausnahmen daher möglichst beschränkt werden.214 Mit diesen Überlegungen ginge es freilich in Wahrheit gar nicht um den „Ausnahmecharakter“ einer Vorschrift, sondern um ihre mangelnde teleologische Begründung. Die Vorschrift wird maW nicht als Ausnahme eng ausgelegt, sondern als teleologische Verfehlung. Damit ist die richtige Richtung gewiesen: Auch Ausnahmevorschriften sind nach den herkömmlichen Methoden auszulegen.215 Dabei kann die Tatsache, dass es sich um eine Ausnahme von einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse oder von einer grundlegenden Regel handelt, für die (systematisch-)teleologische Bedeutung von entscheidendem Gewicht sein.216 Will man die letztgenannte Erwägung berücksichtigen, dass eine Vorschrift von 64 einem Grundsatz abweicht, so muss man freilich zuerst begründen, dass dies der Fall ist. Ob maW eine Regelung nicht nur formal, sondern auch teleologisch eine Ausnahme darstellt, ist zuerst im Wege der Auslegung zu ermitteln.217 Nicht alles, was negativ 211 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 440; Larenz, Methodenlehre, S. 355 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370; Rosenkranz, Jura 2015, 783 ff.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen (3. Aufl. 2005), S. 66. S.a. Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 39. 212 S. nur EuGH v. 28.10.2010 – Rs. C-203/09 Volvo Car, EU:C:2010:647 Rn. 42; EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 Honyvem, EU:C:2006:199 Rn. 24; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, EU:C:2004:584 Rn. 67; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, EU:C:2003:437 Rn. 89; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, EU:C:2001:684 Rn. 31; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, EU:C:2001:258 Rn. 15; Colneric, ZEuP 2005, 225, 228; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 26. Übersicht über die Rechtsprechung des EuGH bei Schilling, EuR 1996, 44–57 (nur im Ergebnis der EuGH-Rechtsprechung [„im Ganzen“] zustimmend, in der Sache aber differenzierte Begründungen fordernd); s.a. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 449 f., 456 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 371–373. 213 Eingehende Rechtsprechungsanalyse bei Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Europäisches Privat- und Unternehmensrecht (EnzEuR Bd. 6), § 3 Rn. 63 ff. S.a. Schilling, EuR 1996, 44, 46 f. mit dem Hinweis, dass generell ein fundamentales Rechtsgut oder ein allgemeines Prinzip die enge Auslegung von Ausnahmen gebieten können. Das ist eine Form der prinzipiell-systematischen Auslegung, die auch sonst (nicht nur in Bezug auf Ausnahmen) Platz greifen kann; s. z. B. EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, EU:C:1969:57 Rn. 3–4. 214 S.a. Ulber, EuZA 2014, 202, 207 f. 215 So auch Herberger, EuZA 2019, 310, 325. 216 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 449 f. 217 Larenz, Methodenlehre, S. 355 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370; Rosenkranz, Jura 2015, 783, 784 ff. So z. B. EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq, EU:C:2009:465 Rn. 56–58.
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§ 10 Die Auslegung
formuliert ist, ist in der Sache eine Ausnahme.218 Vielmehr kann es sich um eine ergänzende Regelung handeln, durch die die Hauptregel erst ihren eigentlichen Sinn erhält. 65 Gelegentlich stellt eine Vorschrift sowohl technisch, als auch im Hinblick auf den Hauptzweck einer Regelung eine Ausnahme dar, trägt sie aber ihrerseits einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse Rechnung. Auch dann kommt eine „enge“ Auslegung nicht in Betracht. Ein Beispiel ist die Beschränkung der Diskriminierungsverbote in der Gleichbehandlungsrichtlinie 2004/113/EG219 auf „Personen, die Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung stehen“, Art. 3 Abs. 1. Diese Beschränkung ist technisch nicht als Ausnahme formuliert, doch könnte man sie so verstehen. Indes wird darauf hingewiesen, dass Diskriminierungsverbote selbst Ausnahmen vom fundamentalen Grundsatz der Privatautonomie sind, die Beschränkung also eine Bestätigung bzw. Erhaltung der Regel darstellt, keine Ausnahme.220 In der Tat weisen die Begründungserwägungen darauf hin, dass mit der „Ausnahme“ insbesondere zwei verfassungsrechtlich geschützte Rechte gewährleistet werden sollen, die Privatsphäre und die Vereinsfreiheit.221 Eine „enge“ Auslegung wäre daher zweckwidrig.
66 Aber auch wenn eine „echte“ Ausnahme vorliegt, ist diese nicht notwendig „eng“ aus-
zulegen. Vielmehr muss es hier – wie allgemein – auf die Absicht des Gesetzgebers und die von ihm verfolgten Zwecke ankommen. Denn nicht jede Ausnahme ist mit dem eigentlichen Regelungsanliegen unvereinbar, manche wird von ihm sogar gefordert. Das anerkennt in jüngerer Zeit auch der EuGH und legt Ausnahmen zweckentsprechend weit aus.222 Zum Beispiel mag man an die Ausnahmebereiche der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie denken. Der Gesetzgeber hat u. a. Kaufverträge über Strom von der – den Anwendungsbereich mitbestimmenden – Definition „Verbrauchsgüter“ ausgenommen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass insoweit besondere Vorschriften des Energierechts Anwendung finden können, vor allem aber die Gewährleistung in diesen Fällen keine erhebliche Bedeutung hat.223 Die Ausnahme stellt also den Regelungszweck in keiner Weise in Frage, im Gegenteil, sie bestätigt ihn. Gründe für eine „enge“ Auslegung sind von vornherein nicht ersichtlich.
218 S.a. das primärrechtliche Beispiel der ausgeschlossenen Regelungsbereiche nach Art. 153 Abs. 5 AEUV bei Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 5 Rn. 9 (Grundsatz ist die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten!). 219 Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 373/37. 220 Schöbener/Stork, ZEuS 2004, 43, 78. 221 Riesenhuber/Franck, EWS 2005, 245 f. 222 EuGH v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 Deckmyn, EU:C:2014:2132 Rn. 22–24; EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C336/03 easycar, EU:C:2005:150 Rn. 22–36. 223 Vgl. für die entsprechenden Erwägungen bei Art. 2 lit. f) CISG Staudinger-Magnus, Art. 2 CISG Rn. 50.
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V. Einzelne Auslegungsregeln
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Vereinzelte Anzeichen einer differenzierten, teleologischen Auslegung von Ausnahmevorschriften können indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Argumentation des Gerichtshofs im Hinblick auf Ausnahmevorschriften erhebliche „Heterogenität“ aufweist, der EuGH wendet die Auslegungsregel mal so und mal so und mal gar nicht an.224 Das führt zur Beliebigkeit225 und ist damit das Gegenteil von Methode.
224 So der Befund von Herberger, EuZA 2019, 310 ff. aufgrund einer empirischen Auswertung von Entscheidungen zum Arbeitsrecht. 225 Das kritisiert mit Recht Herberger, EuZA 2019, 310, 325.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln Literatur: Ivo Bach, Neue Richtlinien zum Verbrauchsgüterkauf und zu Verbraucherverträgen über digitale Inhalte, NJW 2019, 1705–1711; Christian Baldus/Peter-Christian Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht. Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft aus romanischer Perspektive (2006); Jürgen Basedow, Der Bundesgerichtshof, seine Rechtsanwälte und die Verantwortung für das europäische Privatrecht, in: Gerd Pfeiffer/Joachim Kummer/Silke Scheuch (Hrsg.), Festschrift für Hans Erich Brandner (1996), S. 651–681; Jorge Morais Carvalho, Sale of Goods and Supply of Digital Content and Digital Services – Overview of Directives 2019/770 and 2019/771, EuCML 2019, 194–201; Martin Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft (1999), §§ 15, 16; Stefan Grundmann/Denis Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law, Comparative Law, EC Law and Contract Law Codification (2006); Beate Gsell/Martin Schellhase, Vollharmonisiertes Verbraucherkreditrecht – Ein Vorbild für die weitere europäische Angleichung des Verbrauchervertragsrechts, JZ 2009, 20–29; Carsten Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen (2006); ders., Die Regelungsdichte von (vollharmonisierenden) Richtlinien und die Konkretisierungskompetenz des EuGH, in: Beate Gsell/Carsten Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht – die Konzeption der Richtlinie am Scheideweg? (2009), S. 115–161; Nils Jansen, Klauselkontrolle, in: Horst Eidenmüller/Florian Faust/Hans Christoph Grigoleit/Nils Jansen/ Gerhard Wagner/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis (2011), S. 53–107; Eva-Maria Kieninger, Die Vollharmonisierung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen – eine Utopie?, RabelsZ 73 (2009), 793–817; Irene Klauer, General Clauses in European Private Law and „Stricter“ National Standards, ERPL 8 (2000), 187–210; Sebastian A.E. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013); Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band II – Europarecht (3. Aufl. 2012); Wendt Nassal, Die Anwendung der EU-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, JZ 1995, 689–694; Oliver Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503–530; Christian Riegel, Einheitliche unionsweite Geschäftsbedingungen für Verbraucherverträge (2013); Wulf-Henning Roth, Generalklauseln im Europäischen Privatrecht, in: Jürgen Basedow/Klaus J. Hopt/Hein Kötz (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Drobnig (1998), S. 135–153; Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht (2004); dies., Missbräuchlichkeitskontrolle nach der Klauselrichtlinie: Aufgabenteilung im supranationalen Konkretisierungsdialog, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 1.4.2002 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, ZEuP 2005, 418–427; dies., Generalklauseln als Integrationsmotoren?, GPR 2008, 176–179; Martin Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im Europäischen Privatrecht (2009); Reiner Schulze, Die Digitale-Inhalte-Richtlinie – Innovation und Kontinuität im europäischen Vertragsrecht, ZEuP 2019, 695–723; Dirk Staudenmayer, Die Richtlinien zu den digitalen Verträgen, ZEuP 2019, 663–694; Takis Tridimas, The General Principles of EU Law (2. Aufl. 2007); Inke Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien (2002). Rechtsprechung: EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346; EuGH v. 1.4.2002 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209; EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C168/05 Mostaza Claro, EU:C:2006:675; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 Galatea, EU:C:2009:244; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon, EU:C:2009:350; EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C137/08 Pénzügyi Lízing, EU:C:2010:659; EuGH v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 Banco Espanol de Crédito, EU:C:2012:349; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-226/12 Constructora Principado, EU:C:2014:10; EuGH v. 6.4.2020 – Rs. C-495/19 Kancelaria Medius, EU: C:2020:431; EuGH v. 9.7.2020 – Rs. C-81/19 Banca Transilvania, EU:C:2020:532.
Möslein/Röthel https://doi.org/10.1515/9783110614305-011
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
Systematische Übersicht IV. Konkretisierungsmethoden 28–47 1. Unionsautonome Konkretisierungsmethode 28–30 2. Konkretisierung durch Auslegung am Beispiel der Klausel-Richtlinie 31–34 3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung 35–47 a) Referenzordnungen 36–41 aa) Erfordernis einer unionsautonomen Referenzordnung 37–40 bb) Sekundärrechtliche Referenzordnungen 41 b) Prinzipien und Leitbilder 42–44 c) Der gemeinsame Referenzrahmen 45–46 d) Vom Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht zu DigitaleInhalte-RL und Warenkauf-RL 47 V. Konkretisierung als Prozess 48–49
I.
Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung 3–6 II. Konkretisierung in der Kompetenzordnung der Union 7–16 1. Institutionelle Ordnung 8–11 a) Auslegungsbefugnis des EuGH 10 b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH 11 2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz 12–16 a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht 13–14 b) Rechtsangleichungsintention 15 c) Anwendung auf die KlauselRichtlinie 16 III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH 17–27 1. Rechtsprechungsübersicht 18–20 2. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung 21–22 3. Weiterführungen: Konkretisierung und Vollharmonisierung 23–27
1 Die Konkretisierung von Generalklauseln nimmt traditionell eine Sonderstellung in
Methodenfragen ein. Dies gilt gleichermaßen für eine europäische Methodenlehre. Gemeinsam sind den nationalen Rechtsordnungen und dem Unionsrecht auch die Gründe, aus denen sich eine Rechtsetzung mittels Generalklauseln empfiehlt: Einzelne Gegenstände der Rechtsetzung werden delegiert und damit richterlicher Einzelfallbeurteilung überlassen, zugleich werden Freiräume für Flexibilität und Wertungsoffenheit geschaffen. Aus diesen Gründen empfahlen sich Generalklauseln immer wieder den kontinentaleuropäischen Gesetzgebern,1 und auch der Unionsgesetzgeber setzt inzwischen vermehrt auf solche ausfüllungsbedürftigen Begriffe. Prominente
1 Zur Funktion von Generalklauseln im europäischen Privatrecht Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 ff.; rechtsvergleichend Kötz, in: Cane/Stapleton (Hrsg.), Essays in Celebration of John Fleming (1998), S. 243 ff.; Teubner, MLR 61 (1998), 11 ff.; Grobecker, Implied Terms und Treu und Glauben (1999), S. 38 ff.; Sonnenberger, FS Odersky (1996), S. 703 ff. sowie die Beiträge in Baldus/MüllerGraff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht; Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law; für einen kurzen Überblick Howells/Wilhelmsson, E.L.Rev. 28 (2003), 370, 382 f.
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I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung
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Beispiele für diese Rechtsetzungstechnik sind Art. 3 Abs. 1 der Klausel-Richtlinie2 und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (UGP-Richtlinie).3 Auch im – mittlerweile zurückgezogenen – Vorschlag für eine Verordnung (V-GEKVO) über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (V-GEK) ist an dieser Rechtsetzungstechnik festgehalten worden.4 Diese Rechtsetzungstechnik wirft besondere Fragen auf, und zwar sowohl auf 2 kompetentieller als auch auf methodischer Ebene.
I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung Die Forderung nach Methodengerechtigkeit ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck 3 spezifischer Anforderungen der Gewaltenordnung. Auf der nationalen Ebene geht es dabei um das Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung: Je größer die Besorgnis um unzulässige Richtermacht ist, umso aufmerksamer wird auf die Methode der Jurisdiktion geschaut. Und umgekehrt werden sich methodische Anforderungen umso mehr verlieren, je größer der an die Rechtsprechung konzedierte Freiraum zu eigenständiger Rechtsgestaltung ist. So spiegeln sich in Methodenfragen stets auch und vielfach sogar in erster Linie kompetentielle Fragen. Dieses Wechselspiel von Kompetenz und Methode ist besonders sichtbar bei 4 der Konkretisierung, d. h. der richterlichen Ausfüllung von Generalklauseln und normativ-unbestimmten Rechtsbegriffen. Wenn Konkretisierung heute beschrieben wird als gebundene Rechtsbildung,5 so kommt darin ein spezifischer Methodenpluralis
2 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/25 (Klausel-Richtlinie). 3 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.3.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern, ABl. 2005 L 149/22 (UGP-Richtlinie); zur Generalklausel der unlauteren Geschäftspraktiken: Micklitz, in: Howells/Micklitz/Wilhelmsson (Hrsg.), European Fair Trading Law. The Unfair Commercial Practices Directive (2013), S. 83–122; Keirsblick, The New European Law of Unfair Commercial Practices and Competition Law (2011), S. 271 f. Für weitere Beispiele siehe Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1, 6 Abs. 1 S. 2, 17 Abs. 2 a Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend der selbstständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17 (HandelsvertreterRichtlinie); Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, ABl. 2002 L 271/16; siehe auch Howells/Wilhelmsson, E.L.Rev. 28 (2003), 370, 382. 4 Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM (2011) 635 endg; mittlerweile zurückgezogen, siehe Arbeitsprogramm der Kommission für 2015, Anhang II (Nr. 60.), KOM(2014) 910 endg. So etwa Art. 2 Abs. 1 V-GEK (Treu und Glauben), Art. 5 Abs. 1 V-GEK (Angemessenheit, Vernünftigkeit), Art. 79 ff. V-GEK (Wirkung unfairer Vertragsbestimmungen). 5 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 124 ff.; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 42 ff.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
mus6 zum Ausdruck: In der Konkretisierung verbinden sich die Methoden der gebundenen Rechtsentscheidung durch Auslegung mit den rechtsschöpferischen Methoden der Rechtsbildung. Dahinter steht die Vorstellung, dass mit konkretisierungsbedürftigen Begriffen Aufgaben der Rechtsbildung übertragen werden. Konkretisierungsbedürftige Normen sind also Delegationsnormen. 5 Diese gedankliche Folie der Delegation von Rechtsgestaltungsbefugnissen bezeichnet in vergleichbarer Weise auch die auf unionsrechtlicher Ebene mit der Konkretisierung verbundenen Zweifelspunkte. Während allerdings auf nationaler Ebene allenfalls die Zulässigkeit oder der Umfang einer mit ausfüllungsbedürftiger Rechtsetzung intendierten Delegation klärungsbedürftig sein mag, stellt sich auf unionsrechtlicher Ebene im Umgang mit konkretisierungsbedürftigen Richtlinienbegriffen7 zunächst eine andere Frage: Sind die damit formulierten Gestaltungsaufträge an die Mitgliedstaaten oder an den EuGH adressiert? Dies wird namentlich mit Blick auf die Generalklausel aus Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie problematisiert. 6 Der Problemzugriff erfolgt dabei unausgesprochen über die Kompetenzordnung. Dies entspricht der bereits angedeuteten Komplementarität von Methode und Kompetenz. Dieser Problemzugriff wird auch den weiteren Überlegungen zugrundegelegt. Zunächst sind daher Grundsatz und Grenzen der Konkretisierungskompetenz des EuGH zu klären (unten II. und III.), bevor in einem zweiten Schritt über die unionsrechtlichen Konkretisierungsmethoden nachgedacht werden kann (IV.).
II. Konkretisierung in der Kompetenzordnung der Union 7 Ist Konkretisierung stets mehr oder weniger Rechtsgestaltung, so liegt in konkretisie-
rungsbedürftiger Rechtsetzung eine Aufgabendelegation. Ungeschriebenen Aufgabenverschiebungen steht das Unionsrecht mit gutem Grund ablehnend gegenüber,8 gehört es doch zu den Grundannahmen des Integrationsprozesses, dass die Kompetenzordnung auf einzelnen Aufgaben- und Befugniszuweisungen ruht. Die Union verfügt nicht über die für souveräne Staaten typische Allzuständigkeit, sondern bedarf ausdrücklicher Befugniszuweisungen (Prinzip der begrenzten Einzelermächti-
6 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 125; für das europäische Privatrecht Flessner, JZ 2002, 14, 18 ff.; allgemein Grundmann, RabelsZ 61 (1997), 423 ff.; krit. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 24 ff.: Methodenpluralität als „Vehikel der Richterfreiheit“; ähnlich Bobek, E.L.Rev. 39 (2014), 418, 424 f.; vgl. auch die Monographie: Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice (2012). 7 Im Folgenden soll nur auf die Kompetenzproblematik der Richtlinien-Konkretisierung eingegangen werden, da für die Konkretisierung von Verordnungen die Konkretisierungskompetenz des EuGH geklärt sein dürfte; so auch W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135 ff. 8 So Craig/de Búrca, EU Law (2011), S. 73 f.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 23.
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II. Konkretisierung in der Kompetenzordnung der Union
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gung) und muss bei der Kompetenzausübung die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit achten.9 Konkretisierungsbedürftige Rechtsetzung ist also in die vorgegebene institutionelle Ordnung des Unionsrechts einzufügen.
1. Institutionelle Ordnung Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz zwischen dem EuGH und den Mit- 8 gliedstaaten berührt sowohl die Verbandskompetenz als auch die Organkompetenz. Für das Kompetenzgefüge von Union und Mitgliedstaaten bedeutet konkretisierungsbedürftige Aufgabenwahrnehmung aber eine schwächere Beanspruchung unionsrechtlicher Rechtsetzungsbefugnisse als vollständig ausgeführte und insoweit „bestimmte“ Rechtsetzung. Daher erweisen sich insbesondere die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sogar als Fürsprecher geringerer Regelungsdichte und damit konkretisierungsbedürftiger Rechtsetzung. Nicht so leicht lässt sich die Zulässigkeit einer ungeschriebenen Aufgabenzuwei- 9 sung gerade an den EuGH begründen. Auch im Verhältnis der Unionsorgane untereinander bedarf es konkreter Aufgabenzuweisungen. Es gilt abermals das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.10 Allerdings erweist sich die Konkretisierung bei institutioneller Betrachtung als integraler Bestandteil der dem EuGH zugewiesenen Befugnis zur Auslegung und Fortbildung des Sekundärrechts.
a) Auslegungsbefugnis des EuGH Unabhängig davon, ob man Konkretisierung mehr als gebundene Rechtsentschei- 10 dung oder mehr als gestaltende Rechtsbildung versteht, lässt sich die Konkretisierung schon unter die dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zugewiesene Aufgabe fassen, über die „Auslegung“ der Handlungen der Organe zu entscheiden. Mit Recht wird Auslegung i. S. des Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV insoweit nicht methodisch eng nach Art des Savigny’schen Kanons verstanden. Gerade in Methodenfragen verbietet sich eine unbefangene Gleichsetzung nationaler Vorstellungen mit unionsrechtlichen Erwartungen. Die Eigengesetzlichkeit der Rechtsordnung der Union mit ihren institutionellen Besonderheiten supranationaler Rechtsetzung sowie die in der Union zusammentreffenden Methodentraditionen der Mitgliedstaaten haben den EuGH von Beginn an vor die Aufgabe gestellt, eigenständig das nötige unionsspe-
9 Siehe Dashwood, E.L.Rev. 21 (1996), 113–128; Craig/de Búrca, s. o. Fn. 9, S. 94 f.; Estella, The EU Principle of Subsidiary and its Critique (2002). 10 Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 13 EUV Rn. 19 f.; Schwarze-Hatje, Art. 13 EUV Rn. 36; großzügiger Everling, FS Ophüls (1965), S. 35: Ermächtigungen der Kommission durch den Rat wären auch ohne ausdrückliche Anordnung zulässig.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
zifische methodische Handwerkszeug zu entwickeln,11 zumal auch aus der Perspektive des deutschen Rechts die Abgrenzung zwischen Auslegung und Ausfüllung nicht immer trennscharf möglich ist.12 Der in Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV erteilte Auftrag zur „Auslegung“ ist daher mit Blick auf die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens zu entwickeln. Auslegung ist einerseits als Gegenbegriff zur Rechtsanwendung zu verstehen, die dem EuGH ohne Zweifel entzogen ist.13 Andererseits ist die Reichweite der dem EuGH mit Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV zugewiesenen Aufgabe anhand von Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens zu bestimmen, also mit Blick auf das Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung.14 Auslegung i. S. des Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV umfasst daher jede sachverhaltsgelöste, abstrakte Verdeutlichung von Inhalt und Bedeutung oder – so die Formulierung des EuGH – „Sinn“ und „Tragweite“15 des Unionsrechts. In dieser weit gefassten Auslegungsbefugnis ist bei institutioneller Betrachtung auch die Befugnis zur Konkretisierung enthalten.16
b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH 11 Im Übrigen ließe sich die institutionelle Organkompetenz des EuGH zur Konkretisierung – soweit sie nicht schon seiner Auslegungskompetenz zugeschlagen werden kann – jedenfalls auf die in Art. 19 Abs. 1 EUV mit enthaltene Befugnis zur Rechtsfortbildung stützen,17 zumal der EuGH ohnehin nicht scharf zwischen Auslegung und
11 Zu den Kriterien der Auslegung des EU-Sekundärrechts Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 12 ff.; sowie Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 249 ff.; zu den Methoden bei der Konkretisierung von Generalklauseln vgl. unten Rn. 28 ff. 12 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 130 ff. 13 St. Rspr.; siehe etwa EuGH v. 28.3.1979 – Rs. 222/78 ICAP, EU:C:1979:90 Rn. 10 ff.; EuGH v. 24.9.1987 – Rs. 37/86 Coenen, EU:C:1987:386 Rn. 8; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, EU: C:2001:258 Rn. 31 ff. 14 Zu Inhalt und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens EuGH v. 16.1.1974 – Rs. 166/73 Rheinmühlen Düsseldorf, EU:C:1974:3 Rn. 2; EuGH v. 24.5.1977 – Rs. 107/76 Hoffmann La Roche ./. Centrafarm, EU:C:1977:89 Rn. 5; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 7; siehe auch de la Mare/Donelly, in: Craig/de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law (2011), Kap. 13; Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (1986), S. 15 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 175 ff. 15 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit Italiana, EU:C:1980:100 Rn. 16. 16 Statt vieler Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 60 f. Soweit ersichtlich, stellt allein Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 536 ff., die Konkretisierungsbefugnis des EuGH im Hinblick auf die institutionelle Aufgabenzuweisung des Art. 234 EG (jetzt Art. 267 AEUV) in Frage, und zwar mit dem Argument, bei ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen ließen sich Auslegung und Anwendung nicht voneinander unterscheiden. 17 Zur Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 7 ff. Zur Konkretisierung als Bestandteil der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 60 f.: „Präzisierung“ von unbestimmten Rechtsbegriffen als „Auslegung im weiteren Sinne“; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH (1995), S. 133 ff.
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II. Konkretisierung in der Kompetenzordnung der Union
Rechtsfortbildung unterscheidet.18 Die grundsätzliche Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung steht heute außer Streit und gehört zur „Realität der Gemeinschaft“.19 Aus institutioneller Perspektive lässt sich die Konkretisierung daher zum vertraglich gekennzeichneten Aufgabenbereich des EuGH zählen.
2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz Aus dieser institutionellen Möglichkeit einer Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe 12 an den EuGH folgt nicht zwangsläufig, dass mit jedem ausfüllungsbedürftigen Rechtsakt auch eine solche Aufgabendelegation an den EuGH erfolgt. Diese Frage nach der Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Konkretisierungsakteuren und dem EuGH ist – für den Bereich des Privatrechts20 – in dieser Schärfe erst mit der KlauselRichtlinie in das wissenschaftliche Blickfeld gerückt und zum Gegenstand intensiver Befassung avanciert.21 Die damit aufgeworfene Kontroverse krankt allerdings daran, dass zumeist eine generelle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz versucht wird.22 Dies ist aber nicht möglich. Auch wenn dem EuGH mit der Befugnis zu Aus-
18 Eingehend Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I (2001), S. 394 ff.; siehe im übrigen Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 575 ff., 604 ff.; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), S. 57; Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 291; krit. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 65 ff., 72. – Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH bei Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1976), S. 105 ff. 19 So Everling, ZSchwR 1993, 337, 347; siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 35 ff.: richterliche Rechtsfortbildung als „Normalfall im Gemeinschaftsrecht“; hierzu im Einzelnen Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 7 ff. sowie Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 185 ff. 20 Für das öffentliche Recht werden Fragen der Konkretisierung bislang mit anderem Akzent diskutiert; siehe etwa Bleckmann, RIW 1987, 929 ff. mit Blick auf die Beurteilungsspielräume nachgeordneter Behörden oder Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1976). 21 Eine Konkretisierungskompetenz bejahend etwa Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 60 f.; Basedow, FS Brandner (1996), S. 680; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 2.10 Rn. 7, 19; ders., in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards, S. 141, 155; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 120 ff., 132 ff.; Joerges, ZEuP 1995, 181, 199 f.; Klauer, Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 131 ff.; Müller-Graff, in: ders. (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft (1999), S. 56 ff., 64; Reich, ZEuP 1994, 381, 391; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 517 ff., 520 ff., 523; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 74 ff., 79 f.; Weatherill, ERPL 3 (1995), 307, 316 ff. Krit. hingegen Canaris, EuZW 1994, 417; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 536 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 228 f.; Heinrichs, NJW 1996, 2190, 2196; Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544 f.; H. Roth, JZ 1999, 529, 535 f.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135 ff.; illustrativ Hondius, ERPL 3 (1995), 241–255. 22 Siehe nur Herresthal, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 123 ff.: Konkretisierungskompetenz der EU für Generalklauseln, diff. aber für unbestimmte Rechtsbegriffe;
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
legung und Rechtsfortbildung zugleich die Konkretisierung und damit auch die Bildung neuer Maßstabsnormen zugewiesen werden kann, heißt dies nicht, dass sie ihm auch automatisch zugewiesen ist. Und umgekehrt ist es zwar richtig, dass eine Richtlinie auf bloße Rechtsangleichung23 zielt und den Mitgliedstaaten typischerweise Gestaltungsfreiräume belassen soll.24 Doch folgt daraus genauso wenig wie aus dem Subsidiaritätsprinzip25 oder der Einschätzung, dass unionseinheitliche materielle Maßstäbe für die Konkretisierung nicht zur Verfügung stünden,26 sogleich die Unzulässigkeit einer Letztkonkretisierung durch den EuGH. Erforderlich ist vielmehr eine an der einzelnen Richtlinienbestimmung orientierte materielle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz.27 Maßstab kann nur die mit dem jeweiligen Rechtsakt im Einzelfall intendierte Rechtsangleichung sein.28 Dies ist durch autonome Auslegung zu ermitteln.29
a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht 13 Anhaltspunkte für eine solche Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe an den EuGH kann schon der gewählte konkretisierungsbedürftige Begriff selbst geben. Wurde eine Generalklausel als umschreibende „Leerstelle“ für bestehende mitgliedstaatliche Re-
ähnlich generalisierend Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 737, 799 ff.: Konkretisierungskompetenz der EU in vollharmonisierenden Richtlinien. 23 Wyatt/Dashwood, European Union Law (2006), S. 164f.; Canaris, EuZW 1994, 417; s.a. Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 229; Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544; umfassend Prechal, Directives in EC Law (2005). 24 W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 141 f.; ähnlich Canaris, EuZW 1994, 417 unter Hinweis auf die „Funktion der Richtlinie“; diff. zwischen Verordnung und Richtlinie auch Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 229. 25 Nassall, JZ 1995, 689, 691; Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Art. 3 Rn. 41; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 143 ff.; Schulze-Osterloh, ZGR 1995, 170, 179 f.; siehe auch die Argumentation von I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 204 ff. 26 So Heinrichs, NJW 1996, 2190, 2196; ähnlich Joerges, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 216 Fn. 36: Der EuGH sei zur Konkretisierung ungeeignet, weil er die nötigen „Folgeerwägungen“ nicht anstellen könne. – Zu den materiellen Maßstäben der Konkretisierung noch eingehend unten Rn. 28 ff. 27 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 74 ff. 28 Vgl. zum Folgenden Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 495 ff.; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 524 ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 148 ff.; I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 67 ff.; für Art. 3 Abs. 1 der Klausel-Richtlinie etwa Gavrilovic, ERCL 2013, 163–180; Leible, RIW 2001, 422, 426; für die Produkthaftungsrichtlinie Schaub, ZEuP 2003, 562, 569 ff. 29 Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 24; vgl. auch Herresthal, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 121 ff. mit der Unterscheidung zwischen „integrationsinduzierten“ und „regelungsinduzierten“ unbestimmten Rechtsbegriffen.
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II. Konkretisierung in der Kompetenzordnung der Union
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gelungen gewählt, liegt darin eine Verweisung auf das nationale Recht mit der Folge, dass die Befugnis zur Letztkonkretisierung den Mitgliedstaaten zugewiesen ist.30 Dies liegt nahe bei Begriffen, die wie die „öffentliche Ordnung“ auf spezifisch nationale Wertverwirklichungen verweisen.31 In der bisherigen Praxis haben sich solche Verweisungen aber als Ausnahmen erwiesen.32 Genauso wie im Umgang mit bestimmteren Begriffen33 wird im Zweifel davon auszugehen sein, dass der Unionsgesetzgeber mit der Rechtsangleichung auch die Prägung der tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen selbst vornehmen wollte.34 Genauso ist die Konkretisierungsaufgabe dem EuGH zugewiesen, wenn sich der 14 Unionsgesetzgeber zum Ziel setzt, die aufgrund unterschiedlicher Rechtsvorschriften bestehenden Wettbewerbshemmnisse durch „Klarstellung von Rechtsbegriffen“ zu beseitigen, wie beispielsweise im Zusammenhang mit der E-Commerce-Richtlinie.35 Die intendierte unionseinheitliche „Klarstellung“ lässt sich nur auf Unionsebene, d. h. durch den EuGH bewerkstelligen.36 Eine solche ausdrückliche Aufgabenzuweisung war auch im mittlerweile zurückgezogenen Vorschlag einer Verordnung über ein Ge
30 Zu den gesetzgeberischen Gründen für ausfüllungsbedürftige Rechtsetzung auf Unionsebene Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 sowie I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 59; mit Blick auf die Klausel-Richtlinie Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. – Denkbar ist auch, dass eine Generalklausel aus politischen Gründen die einzige politisch durchsetzbare Lösung i. S. eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“ darstellt; so Micklitz, ZEuP 1993, 522, 526 für die Klausel-Richtlinie. Dies könnte als Argument für eine Konkretisierungskompetenz der Mitgliedstaaten gewertet werden. Dagegen spricht allerdings, dass schon im Gesetzgebungsverfahren die „wichtige Rolle“ des EuGH bei der Konkretisierung zur Sprache gekommen ist; siehe Remien, ZEuP 1994, 34, 58. 31 Vgl. Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 487; weitergehend bzgl. der „guten Sitten“ Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), S. 361 f. 32 Für den Begriff des Schadens i. S. v. Art. 7 lit. a) der Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29, siehe EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, EU: C:2001:258; für eine Auslegungsbefugnis des EuGH Magnus, JZ 1990, 1100, 1103; genauso zum Schadensbegriff in Art. 5 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59 (Pauschalreiserichtlinie) Tonner, ZEuP 2003, 619, 627 ff.; für eine Verweisung auf mitgliedstaatliches Recht aber Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 511 ff. 33 Näher Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 478 ff. Siehe etwa EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, EU:C:2005:59 Rn. 29; allgemein Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 4 ff.; Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 488. 34 Anders für unbestimmte Rechtsbegriffe Herresthal, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 132 ff. 35 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft im Binnenmarkt, ABl. 2000 L 178/1. BE 6 der E-Commerce-Richtlinie. 36 Weitere Beispiele bei Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 365 ff.: „begriffsbezogene Argumente“.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
meinsames Europäisches Kaufrecht enthalten. Demnach wäre eine autonome Auslegung geboten gewesen, Art. 4 Abs. 1 V-GEK. Offene Fragen wären „ohne Rückgriff auf das einzelstaatliche Recht“ zu regeln gewesen, Art. 4 Abs. 2 V-GEK.
b) Rechtsangleichungsintention 15 Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus der Zielsetzung des Harmonisierungsaktes,
wie sie sich anhand der beanspruchten Rechtsgrundlage37 und den Begründungserwägungen38 ablesen lässt. Ein Beispiel hierfür liefert die Gegenüberstellung der neuen Richtlinie über den Warenkauf und der bisherigen Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.39 Erklärtes Ziel der bisherigen Richtlinie war die „Gewährleistung eines einheitlichen Verbraucherschutz-Mindestniveaus“ (Art. 1 der VerbrauchsgüterkaufRichtlinie), wohingegen die neue Richtlinie bezweckt, „für ein hohes Verbraucherschutzniveau zu sorgen“ (Art. 1 der Richtlinie über den Warenkauf) .40 Diese beiden für privatrechtsangleichende Richtlinien typischen Ziele verkörpern entscheidende Argumente zugunsten europäisch-einheitlicher Konkretisierung.41
c) Anwendung auf die Klausel-Richtlinie 16 Nach diesen Überlegungen muss auch die Konkretisierung der Generalklausel der Klausel-Richtlinie in letzter Konsequenz dem EuGH zugewiesen sein. Die Begründungserwägungen beschreiben als Regelungsanlass, dass die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Vertragsklauseln zwischen Warenverkäufern bzw. Dienstleistern einerseits und Verbrauchern andererseits, namentlich die Rechtsvorschriften über missbräuchliche Klauseln, „beträchtliche Unterschiede“ aufweisen, BE 3, 4 Klausel-
37 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 496 ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 148 f. 38 Näher I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 76 ff.; allgemein zur Bedeutung für die Auslegung Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 35 ff. 39 S. einerseits Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/ 12; andererseits Richtlinie (EU) 2019/771 vom 20. Mai 2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, ABl. 2019 L 136/28 (Warenkauf-RL). 40 S.a. BE 5 der Verbrauchsgüterkauf-RL: „Schaffung eines gemeinsamen Mindestsockels“. Ähnlich BE 7 der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Verbraucherrechte-Richtlinie): „Genuss eines hohen, einheitlichen Verbraucherschutzniveaus in der gesamten Union“. Vgl. andererseits Art. 4 der Warenkauf-RL: keine nationalen Vorgaben „für strengere oder weniger strenge Vorschriften zur Gewährleistung eines anderen Verbraucherschutzniveaus“. 41 Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 24.
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III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH
Richtlinie. „Um die Errichtung des Binnenmarktes zu erleichtern“ (BE 6), sollten „einheitliche Rechtsvorschriften“ (BE 10) geschaffen werden. Die erstrebten Regelungsziele – Erleichterung der Absatztätigkeit von Verkäufern und Dienstleistern sowie Schutz der Verbraucher im grenzüberschreitenden Verkehr (BE 5, 7) – können aber nur erreicht werden, wenn die Klauselkontrolle soweit als möglich europäisch-einheitlich erfolgt.42 Sonst könnten sich Verbraucher bei grenzüberschreitenden Geschäften nicht darauf verlassen, nicht durch die Verwendung missbräuchlicher Klauseln übervorteilt zu werden.43 Dies spricht für weitreichende Konkretisierungskompetenzen des EuGH.
III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH Die bislang angestellten Erwägungen sprechen gerade im Zusammenhang mit der 17 Klausel-Richtlinie für eine Kompetenz zur Letztkonkretisierung des EuGH. Der Rechtsprechungsbefund ist gleichwohl übersichtlich.44 Dies kann zunächst auf die Vorlagepraxis der nationalen Gerichte zurückgeführt werden. Immerhin können die nationalen Gerichte die Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH maßgeblich steuern: Ohne geeignete Vorlagen ergehen auch keine Konkretisierungsentscheidungen. So gibt es nach wie vor keine Rechtsprechung zur Konkretisierung der Treu und Glauben-Generalklausel (Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1) der Handelsvertreter-Richtlinie.45 Auch die zahlreichen normativ-unbestimmten Rechtsbegriffe der VerbrauchsgüterkaufRichtlinie46 und der Verbraucherkredit-Richtlinie47 sind bislang kaum näher aus-
42 So Leible, RIW 2001, 422, 426; Klauer, ERPL 8 (2000), 187; a. A. I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 205, die aus Art. 5 Abs. 3 EG (jetzt: Art. 5 Abs. 4 EUV) auch im Bereich der binnenmarktfinalen Rechtsangleichung eine Vermutung zugunsten nationaler Gestaltungsfreiräume folgert (S. 179); a. A. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 553, da er die Richtlinie der aktiven Rechtsangleichung zuordnet (aaO, S. 221 ff.). 43 Zu diesem Beispiel Leible, RIW 2001, 422, 426; vgl. auch Brandner, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 131, 136 im Hinblick auf die „Absichten und den Schutzgehalt“ sowie den „Geltungswillen“ der Richtlinie. 44 Für einen Fallüberblick siehe Micklitz/Reich, CLMR 51 (2014), 771. 45 S. o. Fn. 4. 46 S. o. Fn. 41; zu Art. 3 Abs. 3 der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie („unzumutbar“) siehe EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Gebr. Weber und Putz, EU:C:2011:396 Rn. 66 ff. Weitere Beispiele für ausfüllungsbedürftige Klauseln finden sich in Art. 3 Abs. 5 der RL („angemessene Minderung“) sowie in Art. 3 Abs. 6 der RL („geringfügige Vertragswidrigkeit“); dazu exemplarisch Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 1, 15 ff. 47 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG, ABl. 2008 L 133/66; zu Art. 24 siehe EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10 S. Volksbank România SA, EU:C:2012:443 Rn. 94 ff. Zu den in der Vorgängerrichtlinie (Richtlinie 87/102/EWG des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48) enthaltenen ausfüllungs
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
gefüllt worden. Selbst zur prominentesten sekundärrechtlichen Generalklausel – Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie – existieren bislang nur wenige Urteile, die sich speziell mit Fragen der Konkretisierung auseinandersetzen.48 Schon dieser Befund zeigt, dass so manche Aufgeregtheit und Sorge um eine hypertrophierende Konkretisierungsjudikatur des EuGH wohl unbegründet war.49
1. Rechtsprechungsübersicht 18 In seiner ersten Entscheidung zur Konkretisierung von Art. 3 Abs. 1 der Klausel-Richt-
linie aus dem Jahr 2000 – „Océano“50 – hat der EuGH nicht nur die Vorlagefrage des spanischen Instanzgerichts nach seiner Befugnis zur Missbräuchlichkeitskontrolle einer Gerichtsstandsklausel, sondern darüber hinaus auch inhaltlich die Missbräuchlichkeit der streitigen Klausel im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie bejaht.51 Dieses Judikat ist als Votum zugunsten einer unionsrechtlichen Letztkonkretisierungsbefugnis gelesen worden.52 Mit Recht wurde dabei kritisiert, dass die Vorlagefrage eine inhaltliche Klauselbeurteilung eigentlich nicht erfordert hätte.53 Nach dieser Entscheidung lag die Annahme nahe, dass sich der EuGH eine weit reichende
bedürftigen Klauseln, z. B. „angemessene Ermäßigung“ der Gesamtkosten des Kredits bei vorzeitiger Erfüllung (Art. 8), „angemessener Schutz“ des Verbrauchers bei der Verwendung von Wechsel und Scheck (Art. 10), sind keine Entscheidungen ergangen. 48 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346 und EuGH v. 1.4. 2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209; bestätigt durch EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, EU:C:2006:675; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, EU: C:2009:350; sowie EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing, EU:C:2010:659. Siehe EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C‑472/10 Invitel, EU:C:2012:242, sowie EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU: C:2013:164. Zur Rechtsnatur des Richtlinien-Anhangs EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, EU:C:2002:281 insbes. Rn. 20 ff. Weiterführend zur Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Klausel-Richtline siehe EuGH v. 4.6.2020 – Rs. C-495/19 Kancelaria Medius, EU:C:2020:431; zur Auslegung von Art. 1 Abs. 2 der Klausel-Richtlinie (Anwendungsbereich) EuGH v. 9.7.2020 – Rs. C-81/19 Banca Transilvania, EU:C:2020:532. 49 In diese Richtung auch GA Geelhoed, Schlussanträge v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2003:504 Tz. 29. 50 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346 = ZEuP 2003, 141 m. Anm. Pfeiffer = JZ 2001, 245 m. Anm. Schwartze; hierzu Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 377 ff.; Whittaker, L.Q.R. 117 (2001), 215. 51 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346 Rn. 24. 52 So etwa Leible, RIW 2001, 422, 435 f.; Möllers, JZ 2002, 121, 125; krit. I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 209 f. 53 Gegenstand der Vorlagefrage war nicht die Missbräuchlichkeit der streitigen Gerichtsstandsvereinbarung, sondern die sachlich davor liegende Frage, ob sich ein Verbraucher auf die Missbräuchlichkeit der Klausel berufen oder das angerufene Gericht die Missbräuchlichkeit von Amts wegen zu berücksichtigen hat. Krit. Hakenberg, ZEuP 2001, 888, 901 f.; Schwartze, JZ 2001, 246, 248.
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III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH
Konkretisierungskompetenz zuspricht und diese Kompetenz auch in Anspruch nehmen will und wird. In dieselbe Richtung wiesen die Ausführungen von Generalanwalt Saggio, der in seinen Schlussanträgen betont hatte, dass „die Beantwortung der Frage, ob eine Klausel … ‚missbräuchlich‘ ist, nicht mehr als eine Auslegung des Wortlauts der Richtlinie … erforderlich macht.“54 Differenzierter entschied der EuGH auf Vorlage des BGH55 in der Rechtssache Frei- 19 burger Kommunalbauten.56 Anders als in der Océano-Entscheidung nahm er nicht in der Sache zur Missbräuchlichkeit der streitigen Vorauszahlungsklausel Stellung, sondern wies diese Beurteilung den nationalen Gerichten zu: Im Rahmen der mit Art. 234 EG (jetzt: Art. 267 AEUV) übertragenen Befugnis zur Auslegung des Unionsrechts sei es Aufgabe des EuGH, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen, hingegen sei er nicht befugt, sich zur Anwendung dieser allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel zu äußern.57 Anderes gelte nur – so die klarstellenden Hinweise mit Seitenblick auf die OcéanoEntscheidung – wenn sich die Missbräuchlichkeit einer Klausel ohne weitere Berücksichtigung der Vertragsumstände und ihrer Auswirkungen im nationalen Recht feststellen lasse.58 Die mit der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten eingeführte Differenzie- 20 rung zwischen der Definition „allgemeiner Kriterien“ und deren Anwendung hat der EuGH in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt und weiter spezifiziert.59 Er sieht seine Zuständigkeit darin, durch Auslegung der Art. 3, 4 Klausel-Richtlinie abstrakt die Faktoren zur Beurteilung der Missbräuchlichkeit zu definieren und entsprechende Kriterien zur Anwendung durch das nationale Gericht zu entwickeln.60 Der EuGH könne daher dem nationalen Gericht nur „Hinweise an die Hand […] geben, die dieses bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit der betreffenden Klausel zu beachten“ habe,61
54 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346 Rn. 18 (Hervorhebung nicht im Original). 55 BGH, NZM 2002, 754 = ZIP 2002, 1197; zum Vorlagebeschluss Heiderhoff, WM 2003, 509, 512 ff. 56 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 = ZEuP 2005, 418 ff. mit Anm. Röthel; dazu Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 432 ff.; Freitag, EWiR 2004, 397–398.; ders./Riemenschneider, WM 2004, 2470–2481; Markwardt, ZIP 2005, 152–156; Wittwer, E.L.Rep. 2004, 380–385. 57 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 22. 58 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 23. 59 EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, EU:C:2009:350; EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing, EU:C:2010:659; EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 Invitel, EU:C:2012:242 = EuZW 2012, 786 m. Anm. Mathiak; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164. 60 EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, EU:C:2009:350 Rn. 37; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C415/11 Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 66 f. 61 EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C‑472/10 Invitel, EU:C:2012:242, Rn. 22.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
etwa den Hinweis, dass die streitige Klausel mit dispositivem Recht zu vergleichen sei.62
2. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung 21 Hinter diesem wenn auch schmalen Rechtsprechungsbestand stehen zwei Grund-
annahmen für die Aufgabenwahrnehmung des EuGH bei der Konkretisierung unionsrechtlichen Sekundärrechts. Die erste Grundannahme betrifft das Selbstverständnis des EuGH, ohne nähere Begründung zur Konkretisierung sekundärrechtlicher Generalklauseln befugt zu sein. So wenig der EuGH methodisch zwischen Auslegung und Rechts(fort-)bildung unterscheidet, so wenig kompetentielle Besonderheiten erkennt er Generalklauseln zu.63 Dies kommt auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten zum Ausdruck, wenn der EuGH betont, es sei seine Aufgabe, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen.64 Damit hat sich der EuGH auch nicht dem Votum von Generalanwalt Geelhoed angeschlossen, der verlangt hatte, dass der EuGH den Mitgliedstaaten keine ins Detail gehenden Vorgaben machen dürfe, weil sonst der Ermessensspielraum der nationalen Umsetzungsgesetzgeber unzulässig eingeengt werde.65 22 Hingegen sieht es der EuGH grundsätzlich nicht als seine Aufgabe an – und dies ist die zweite Grundannahme – die Kriterien der Missbräuchlichkeitskontrolle auf die konkrete streitige Vertragsklausel anzuwenden. Konsequenterweise lehnt er auch jede Beurteilung tatsächlicher Umstände ab66 und weist die Prüfung nationalen Rechts ebenfalls den mitgliedstaatlichen Gerichten zu.67 Dass der EuGH in der Rechtssache Océano auch über die Missbräuchlichkeit der streitigen Klausel entschieden hat, ist vielmehr ein Sonderfall geblieben.68 In jüngeren Folgeentscheidungen hat der EuGH
62 EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 68. 63 Differenzierend aber Herresthal, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 123 ff. 64 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 22; genauso etwa Palandt-Grüneberg, § 310 BGB Rn. 25: Die Zuständigkeit des EuGH beschränkt sich auf die „Auslegung der in der Richtlinie verwandten Begriffe“. In diese Richtung weist auch die Entscheidung vom 21.11.2002 – Rs. C-473/00 Cofidis, EU:C:2002:705 Rn. 23, wo der EuGH sich auf „Tatbestandsmerkmale“ der Generalklausel bezieht. Diese Diktion lässt keine Unterschiede im Umgang zwischen bestimmteren und unbestimmteren Begriffen erkennen. 65 GA Geelhoed, Schlussanträge v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU: C:2003:504 Tz. 27. 66 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 22. 67 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 21. Hierzu Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 6 Rn. 52. 68 So auch Palandt-Grüneberg, § 310 BGB Rn. 25.
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III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH
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hingegen an der Unterscheidung zwischen der Setzung allgemeiner Maßstäbe einerseits und der Anwendung der Maßstäbe andererseits festgehalten.69
3. Weiterführungen: Konkretisierung und Vollharmonisierung In jüngerer Zeit zeichnet sich im europäischen Verbraucherprivatrecht ein Paradig- 23 menwechsel in der Rechtsetzungsstrategie ab: der Übergang von mindestharmonisierenden zu vollharmonisierenden Richtlinien.70 Darunter werden Richtlinien verstanden, die den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit eröffnen, über das in der Richtlinie nur als Mindestschutzniveau verstandene Regelungskonzept hinauszugehen.71 Zunächst wurde für das gesamte europäische Verbraucherrecht ein Übergang zur Vollharmonisierung angestrebt.72 Die 2011 in Kraft getretene Verbraucherrechte-Richtlinie73 sieht eine Vollharmonisierung allerdings nur noch hinsichtlich bestimmter Aspekte von Fernabsatzverträgen und Haustürgeschäften vor; die Klauselkontrolle ist nunmehr ausgenommen.74 Inwieweit dieser Strategiewechsel auch ein Paradigmenwechsel für das Gefüge 24 der Konkretisierungskompetenz bedeutet, ist derzeit noch nicht absehbar. Im Schrifttum mehren sich die Stimmen, die aus der Entscheidung für das Konzept der Vollharmonisierung zugleich eine Entscheidung für eine weitergehende Aufgabenwahrnehmung bei der Konkretisierung von ausfüllungsbedürftigen Begriffen
69 Siehe EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, EU:C:2006:675 Rn. 22 f.; dazu Wagner, SchiedsVZ 2007, 49; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, EU:C:2009:350 = NJW 2009, 2367 mit Anm. Pfeiffer; dazu Mayer, GPR 2009, 220, 222 f.; EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C‑472/10 Invitel, EU: C:2012:242; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164. 70 Europäische Kommission, „Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006“, KOM(2002) 208 endg; „Verbraucherpolitische Strategie 2007 bis 2013“, KOM(2007) 99 endg; ausführlich Mittwoch, Vollharmonisierung und Europäisches Privatrecht (2013). 71 Siehe Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen (Timesharing-Richtlinie), ABl. 2009 L 33/10; die Verbraucherkredit-Richtlinie 2008 (s. o. Fn. 48) und die UGP-Richtlinie (oben Fn. 3). 72 Siehe dazu den Entwurf der ursprünglich als vollharmonisierend geplanten VerbraucherrechteRichtlinie v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg; dazu Micklitz/Reich, EuZW 2009, 279 ff. 73 S. o. Fn. 42.; siehe auch Hall/Howells/Watson, ERCL 2012, 139–166.; und Mittwoch, Vollharmonisierung und Europäisches Privatrecht (2013), S. 78 ff. mwN. 74 Zum anderen (vollharmonisierten) Ansatz des Vorschlags siehe Stuyck, in: Howells/Schulze (Hrsg.), Modernising and Harmonising Consumer Contract Law (2009), S. 115–144; Whittaker, ERCL 2009, 223–247; Rott/Terryn, ZEuP 2009, 456, 484 f. Zur beabsichtigten (Voll)Harmonisierung siehe Micklitz, in: Howells/Schulze (Hrsg.), Modernising and Harmonising Consumer Contract Law (2009), S. 47–86. Kritisch zur Strategie der Vollharmonisierung Grundmann, JZ 2013, 53, 62 ff.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
folgern.75 Dies gelte insbesondere für sog. „schwarze“ Listen in Klauselkatalogen vollharmonisierender Richtlinien.76 Dadurch sei den nationalen Gerichten die Konkretisierungskompetenz entzogen.77 25 Dies ist allerdings nicht zwingend. Denn auch bei vollharmonisierenden Richtlinien lässt sich zwischen der Bestimmung der allgemeinen, abstrakten Wertungskriterien einerseits und ihrer Anwendung im Einzelfall sinnvoll unterscheiden. Mit der Entscheidung für eine vollharmonisierende anstelle einer mindestharmonisierenden Richtlinie hat sich der Unionsgesetzgeber lediglich die Entscheidung über das Schutzniveau vorbehalten. Dies berührt die abstrakten, allgemeinen Wertungskriterien. Hingegen bedeutet es keinen Bruch mit der vollharmonisierenden Strategie, wenn die konkrete Anwendung der abstrakten Wertungskriterien nach wie vor als Aufgabe der nationalen Gerichte verstanden wird. Das mit den Entscheidungen Océano und Freiburger Kommunalbauten etablierte Regel-Ausnahme-Verhältnis kann also – vorbehaltlich ausdrücklich anderer Regelungsintention – auch bei vollharmonisierenden Richtlinien aufrechterhalten werden. Dies entspricht den Erfahrungen im Umgang mit der Produkthaftungs-Richtlinie:78 Der EuGH hat zwar mehrfach betont, dass in ihrem Regelungsbereich kein mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielraum besteht.79 Zugleich hat er aber z. B. für den Begriff des Schadens das Fortbestehen nationaler Ausfüllungsspielräume anerkannt.80 Abermals bedarf es also einer differenzierenden Beurteilung. Entscheidend ist die für jede Richtlinie neu zu prüfende Regelungsintention und Regelungsdichte.81 26 In diese Richtung weist auch die Entscheidung des EuGH zur UGP-Richtlinie in der Rechtssache Galatea.82 Auf eine niederländische Vorlage erklärte der EuGH eine mitgliedstaatliche Vorschrift für unzulässig, die über die „schwarze Liste“ der UGPRichtlinie hinausging. Dem nationalen Gesetzgeber stehe es in Anbetracht der mit der Richtlinie angestrebten Vollharmonisierung nicht zu, „die zwangsläufig anhand des
75 Insbes. Kieninger, RabelsZ 2009 (73), 793, 801 ff.; Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 23 f.; Möllers, ZEuP 2008, 480, 501 ff. Siehe auch Mittwoch, s. o. Fn. 72, S. 176 f. (Vollharmonisierung zumindest ein Indiz für Konkretisierung durch den EuGH). 76 So etwa Anhang I der UGP-Richtlinie, umgesetzt in deutsches Recht durch das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb vom 22.12.2008 (BGBl. 2008 I, 2949). Die Vollharmonisierung von “schwarzen Listen” befürwortend Micklitz, ERCL 2010, 347, 374; Whittaker, ERCL 2009, 223, 233. 77 Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 801 ff. 78 S. o. Fn. 33. 79 Etwa EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-52/00 Kommission ./. Frankreich, EU:C:2002:252, sowie Rs. C-154/ 00 Kommission ./. Griechenland, EU:C:2002:254; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov ./. Bilka, EU: C:2006:6. 80 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, EU:C:2001:258 Rn. 31 ff. 81 Genauso Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 23 ff. 82 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 Galatea, EU:C:2009:244.
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IV. Konkretisierungsmethoden
Sachverhalts des konkreten Falles vorzunehmende Beurteilung“83 durch eine Rechtsvorschrift zu ersetzen. Ähnlich hat der EuGH auf Vorlagebeschluss des BGH84 zu §§ 3, 4 Nr. 6 UWG entschieden.85 Dass vollharmonisierende Richtlinien dem umsetzenden Gesetzgeber zumeist engere Schranken ziehen, bedeutet aber nicht, dass damit zugleich den mitgliedstaatlichen Gerichten die Kompetenz entzogen sein soll, Generalklauseln einzelfallbezogen und gegebenenfalls unter Berücksichtigung nationaler Rechtsmaßstäbe zu konkretisieren. In diese Richtung betonte auch Generalanwältin Trstenjak, dass der Würdigung durch die nationalen Gerichte insoweit nicht vorgegriffen werden dürfe.86 Auch mit der Verbraucherrechte-Richtlinie ändert sich das Konzept der abgestuf- 27 ten Konkretisierungskompetenz zwischen EuGH und nationalen Gerichten nicht. Die Klauselkontrolle ist nicht Gegenstand der Vollharmonisierung, so dass die Mitgliedstaaten zum Erlass strengerer Bestimmungen befugt bleiben, Art. 8 Klausel-Richtlinie. Aber auch nach dem ursprünglichen Richtlinienentwurf87 wäre es in der eigentlichen Zweifelsfrage, der Konkretisierungskompetenz im Rahmen der Klauselkontrolle, bei einem abgestuften Vorgehen geblieben.88 Auch in einem vollharmonisierenden Rechtsakt entscheidet die Regelungsintention über die den nationalen Instanzen verbleibenden Befugnisse. Solange das Unionsrecht die Kontrollmaßstäbe nicht abschließend vorgibt, sind die Spielräume national aufzufüllen. Das Ziel der Vollharmonisierung wird damit nicht „verfehlt“.89
IV. Konkretisierungsmethoden 1. Unionsautonome Konkretisierungsmethode Aus der Perspektive des deutschen Rechts und der deutschen Methodenlehre lässt 28 sich eine methodische Modellvorstellung entwickeln, bei der sich in der Konkretisierung die Methoden der Auslegung mit den Methoden der Rechtsbildung und Rechts-
83 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 Galatea, EU:C:2009:244 Rn. 65. 84 BGH, EuZW 2008, 542; dazu Köhler, GRUR 2009, 626 ff. 85 EuGH v. 14.1.2010 – Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e. V. ./. Plus Warenhandelsgesellschaft mbH, EU:C:2010:12. 86 Vgl. GA Trstenjak, Schlussanträge v. 3.9.2009 – Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e. V. ./. Plus Warenhandelsgesellschaft mbH, EU:C:2009:511 Tz. 101 und 103. 87 S. o. Fn. 73. 88 Näher Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 805 mit Blick auf die Verweise in Anhang II lit. c) und lit. d) auf die Vorschriften des nationalen Rechts; dazu auch Rott/Terryn, ZEuP 2009, 456, 485 f. 89 So aber Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 801; allgemeiner zum Thema Riegel, Einheitliche unionsweite Geschäftsbedingungen für Verbraucherverträge (2013), insbes. S. 179 ff.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
fortbildung verbinden. Dieses Changieren der Konkretisierung zwischen gebundener Rechtsentscheidung und gestaltender Rechtsbildung ist bereits angeklungen (oben Rn. 3 f.). Danach sind im Wege der Auslegung die tatbestandlichen „äußeren“ Grenzen des konkretisierungsbedürftigen Begriffes aufzuzeigen, während die weitere Ausfüllung im Wesentlichen Rechtsgestaltung ist, die auf methodisch entsprechend weniger vorgezeichneten Bahnen verläuft. 29 Bei der Übertragung dieses Modells auf die Konkretisierung durch den EuGH ist allerdings Vorsicht geboten.90 Mag sich der europäische Gesetzgeber mit konkretisierungsbedürftigen Rechtsbegriffen und Generalklauseln auch für ein in vielen Rechtsordnungen bekanntes Regelungskonzept entschieden haben, so bestehen die rechtskulturellen und methodischen Divergenzen91 in diesem Bereich doch unverändert fort. Das deutsche Verständnis der Generalklausel kennt weder im Common Law, dem das Konzept traditionell fremd ist, noch in den romanischen Rechtsordnungen eine vollständige Entsprechung.92 Eine unionseinheitliche Konkretisierung von Generalklauseln im Sinne des EuGH durch nationale Richter aber kann ohne unionsrechtliche Methodik kaum gelingen.93 Dies bedarf eingehender und offener Auseinandersetzung94 und vor allem einer mehr funktional argumentierenden und vergleichenden Diskussion.95 30 In funktionaler Herangehensweise sind auch die in nationalen Methodenlehren vielfach gebräuchlichen Unterscheidungen zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu überprüfen. Eine trennscharfe Unterscheidung ist dem EuGH insoweit fremd.96 Dementsprechend vorsichtig ist auch mit methodischen Schlussfolgerungen umzugehen.
2. Konkretisierung durch Auslegung am Beispiel der Klausel-Richtlinie 31 Insbesondere zur Konkretisierung der Generalklausel der Klausel-Richtlinie, aber
auch im Hinblick auf andere Sekundärrechtsakte werden sich erste Anhaltspunkte der Konkretisierung schon aus den klassischen, vom EuGH verwendeten Auslegungs-
90 Zur Eigenständigkeit europäischer Auslegung vgl. bereits oben Rn. 10. 91 Näher Hager, Rechtsmethoden in Europa. 92 Eingehend die Beiträge in Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht und in Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards; dazu Röthel, GPR 2008, 176 ff. 93 Edward, Shifting Power From Legislation To Judges, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), S. 79, 80. 94 Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 242 ff. 95 Röthel, GPR 2008, 176, 178. 96 Siehe die Beiträge von Baldus (§ 3), Riesenhuber (§ 10) und Neuner (§ 12) in diesem Band; krit. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5 ff.
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IV. Konkretisierungsmethoden
argumenten ergeben.97 Anzusetzen ist bei dem Wortlaut der Generalklausel98 und ihrer systematischen Stellung innerhalb des Rechtsaktes. Im Beispiel der Klauselkontrolle sind also zunächst sämtliche inhaltlichen Vor- 32 gaben, die die Richtlinie bietet – und dies sind nicht wenige – zusammenzutragen. Sie konturieren die äußeren Grenzen der Konkretisierung. Als missbräuchlich soll eine Klausel gelten, die „entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten verursacht“ (Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie).99 Die Rechtsstellung von Verbraucher und Unternehmer sind also in Verhältnis zueinander zu setzen. Methodisch läuft dies auf eine Abwägung hinaus.100 Bestätigt wird dies durch die Begründungserwägungen, in denen die Missbräuchlichkeit als „umfassende Bewertung der Interessenlagen der Parteien“ umschrieben wird. Eine solche Abwägung stellt auch den Kern der Argumentation in der Rechtssache Océano dar: Darin hat der EuGH die Nachteile, die die Klausel für den Verbraucher erzeugt, den Vorteilen für den Gewerbetreibenden gegenüber gestellt und allein daraus die Missbräuchlichkeit der Klausel gefolgert.101 Weitere Anhaltspunkte enthält Art. 4 Abs. 1 Klausel-Richtlinie.102 Daraus ergibt 33 sich das Erfordernis einer konkret-individuellen Klauselbeurteilung.103 Im Einzelnen obliegt die Beurteilung der konkreten Vertragsumstände allerdings – wie bereits erläutert, oben Rn. 22 – den nationalen Gerichten.104 Neben dem Wortlaut und der Systematik misst der EuGH der Teleologie einer 34 Richtlinie, wie sie sich an den Begründungserwägungen ablesen lässt, regelmäßig große Bedeutung bei.105 Dies wird auch für die Konkretisierung von Generalklauseln gelten. Mit Blick auf die Konkretisierung der Klausel-Richtlinie finden sich in den
97 Näher zu den vom EuGH verwendeten Auslegungskriterien Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 12 ff. Zur Auslegung von Generalklauseln in vergleichender Perspektive de Boeck/van Hoecke, in: Collins (Hrsg.), Standard Contract Terms in Europe. A Basis for and a Challenge to European Contract Law (2008), S. 201–244. 98 Näher Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 13 ff. und 21. 99 Fast wortgleich Art. 32 Abs. 1 des Vorschlags einer Verbraucherrechterichtlinie, KOM(2008) 614 endg. 100 Zur Konkretisierung durch Abwägung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 146 ff. 101 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346 Rn. 22 f. 102 Vgl. EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 71; näher Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 6 Rn. 53 f.: „konkretisierende Kontrolltopoi“. 103 So auch Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 568 f.; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 52 ff. 104 Siehe EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346 Rn. 21; hierzu bereits oben Rn. 20. 105 Siehe Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 41 ff. sowie Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 10 ff., 15 ff.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
Begründungserwägungen nicht nur der allgemeine Hinweis auf das Gebot der Interessenbewertung, sondern auch die Vorgabe, dass besonders „das Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien“ zu berücksichtigen ist sowie der Umstand, „ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde, seine Zustimmung zu geben, und ob die Güter oder Dienstleistungen auf eine Sonderbestellung des Verbrauchers hin verkauft bzw. erbracht wurden“, BE 16 Klausel-Richtlinie. Daraus schließt der EuGH, dass das nationale Gericht insbesondere prüfen müsse, „ob der Gewerbetreibende bei loyalem und billigem Verhalten gegenüber dem Verbraucher vernünftigerweise erwarten durfte, dass der Verbraucher sich nach individuellen Verhandlungen auf eine solche Klausel einlässt“.106
3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung 35 Innerhalb dieser durch die Auslegung i. e. S. gezogenen Grenzen bedeutet Konkreti-
sierung richterlich-autonome Maßstabsetzung. Diese Rechtsgestaltung ist nach unserer methodischen Vorstellung Rechtsbildung, wobei die Rechtsprechung weniger methodischen als legislatorischen Bindungen unterworfen ist, d. h. den Bindungen, denen auch der Gesetzgeber bei abstrakt-genereller Regelsetzung unterliegt.107 Mit Blick auf das Unionsrecht ist die wohl vordringlichere Aufgabe aber – zumal auch eine europäische Gesetzgebungslehre derzeit allenfalls in Konturen erkennbar ist108 – die Verständigung darüber, woraus sich die materiellen Maßstäbe einer solchen Rechtsgestaltung durch den EuGH ergeben können.
a) Referenzordnungen 36 Solche materiellen Maßstäbe können sich vor allem aus Referenzordnungen ergeben.
Aus der AGB-Kontrolle des deutschen Rechts kennen wir die Vorstellung, die gerichtliche Inhaltskontrolle am Maßstab des dispositiven Rechts auszurichten (§ 307 Abs. 2 BGB).109 Dahinter steht das Anliegen, die gerichtliche Konkretisierung in die geschriebene Rechtsordnung einzubinden und hieraus die maßgeblichen Wertungen zu extrahieren, die ihrerseits als Konkretisierungsmaßstab dienen sollen. Ganz allgemein geht es dabei um die Rückanbindung der Konkretisierung an übergreifende Wertvorstel-
106 EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 69. 107 Zu den Bindungen judikativer Normsetzung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 86 ff. (Sachrichtigkeit, Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit, Normenklarheit). 108 Ansatzpunkte bei Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), § 3; Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung (2006). 109 Dazu EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 68: Bei der Prüfung eines Missverhältnisses sind insbesondere „diejenigen Vorschriften zu berücksichtigen, die im nationalen Recht anwendbar sind, wenn die Parteien in diesem Punkt keine Vereinbarung getroffen haben“.
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lungen, Leitbilder und Prinzipien. In diesem Streben nach „Rückanbindung“ verwirklichen sich die systematischen Ansprüche jeder Rechtsordnung.110 aa) Erfordernis einer unionsautonomen Referenzordnung. Ist die Konkretisierung ei- 37 ner sekundärrechtlichen Generalklausel aufgrund der Rechtsangleichungsintention dem EuGH zugewiesen, werden langfristig unionsautonome Referenzmaßstäbe entstehen.111 Rein nationale Referenzordnungen – etwa das geschriebene Vertragsrecht eines Mitgliedstaates – scheiden regelmäßig aufgrund der Rechtsangleichungsintention des Sekundärrechtsaktes112 als taugliche Referenzordnung aus. Da die KlauselRichtlinie eine unionseinheitliche Klauselkontrolle intendiert, kann dieser Anspruch nur eingelöst werden, wenn die Beurteilung der Treuwidrigkeit anhand unionseinheitlicher und daher unionsautonomer Maßstäbe begründet wird.113 Dies deckt sich mit der Erkenntnis, dass nationale „Vorbildrechtsordnungen“ auch für die Auslegung eines Sekundärrechtsaktes allenfalls untergeordnete Bezugspunkte verkörpern.114 Dies heißt nicht, dass die nationalen Rechtsordnungen überhaupt keine Bedeu- 38 tung für die Konkretisierung hätten.115 Bei der Klauselkontrolle werden sich die spezifischen Wirkungen einer Klausel vielmehr erst aus dem nationalen Rechtsumfeld ergeben. Diese Beurteilung hat der EuGH aber mit Recht den nationalen Gerichten zugewiesen.116 Daraus ergibt sich – was aus Gründen der Sachnähe auch einzig sinnvoll erscheint –, dass der EuGH im Rahmen seiner Zuständigkeit die generellen inhaltlichen Konkretisierungsmaßstäbe unionsautonom entwickelt, während die nationalen Gerichte im Rahmen ihrer Befugnisse, d. h. bei der Anwendung der abstrakten Vorgaben des EuGH auf die konkrete Klausel, in die Beurteilung auch das Umfeld des nationalen Rechts heranziehen müssen.117
110 Zu Systemdenken und Systembildung im Europäischen Privatrecht Grundmann, in diesem Band, § 9; ders., Systembildung und Systemlücken; zur Anwendung des Systemgedankens auf das Europäische Privatrecht Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 52 ff., insbes. zur Konkretisierung von Generalklauseln S. 74 ff.; krit. Flessner, JZ 2002, 14, 15 f. 111 Zur Konkretisierung als Prozess noch unten Rn. 48 f. 112 Hierzu bereits oben Rn. 15. 113 Siehe nur Staudinger, DB 2000, 2058; a. A. Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Freitag, EWiR 2004, 397 f.; ders./Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478; Basty, DNotZ 2004, 768, 771: als „Vergleichsmaßstab“. 114 Siehe Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 39 mwN; ähnlich der Befund von Schwartze, in diesem Band, § 4 Rn. 22 ff. 115 In diese Richtung auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 511; Wyatt/Dashwood, s. o. Fn. 24, S. 407. 116 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 21; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 66 f; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-226/12 Constructora Principado, EU:C:2014:10 Rn. 24. 117 Siehe EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 72 ff.; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-226/12 Constructora Principado, EU:C:2014:10 Rn. 24.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
Ähnlich ist für rechtsvergleichend entwickelte Referenzmaßstäbe118 oder die gemeineuropäisch erarbeiteten Principles119 zu entscheiden. Gerade für die Konkretisierung von Treu und Glauben mag es nahe liegen, in erster Linie an die sichtbaren gemeinsamen Begriffstraditionen anzuknüpfen.120 Eine gewisse Rechtsvereinheitlichung könnte damit sicherlich geleistet werden. Doch können weder rechtsvergleichend noch gemeineuropäisch entwickelte Maßstäbe121 den Anspruch auf systematische Einbettung der Konkretisierung in die Gesamtrechtsordnung der Union einlösen.122 In diese Richtung geht es jedoch, wenn für das vorgeschlagene Gemeinsame Europäische Kaufrecht der Begriff „Treu und Glauben“ als „Verhaltensmaßstab, der durch Redlichkeit, Offenheit und Rücksicht auf die Interessen der anderen Partei in Bezug auf das fragliche Geschäft oder Rechtsverhältnis gekennzeichnet ist“ aufgelöst wird (Art. 2 lit. b) V-GEKVO).123 40 Dies gilt namentlich für die Konkretisierung der Generalklausel in Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie. Auch wenn das Konzept einer an Treu und Glauben ausgerichteten Klauselkontrolle nach ihrer rechtskulturellen Provenienz und inhaltlichen Konzeption Ausdruck einer gemeinsamen Entwicklungstendenz der Mitgliedstaaten ist,124 hat die Konkretisierung doch ausschließlich mit Blick auf genuin unionsrechtliche Wertvorstellungen zu erfolgen.125 Dies entspricht der Erkenntnis, dass aus dem nationalen Recht bekannte Begriffe im Unionsrecht nicht notwendig denselben Bedeutungsgehalt haben.126 39
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bb) Sekundärrechtliche Referenzordnungen. Umso wichtiger sind daher die vom Unionsgesetzgeber selbst mitgegebenen Referenzordnungen. Beispiele für diese Re-
118 Hierfür Remien, ZEuP 1994, 36, 61 f.; Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Art. 3 Rn. 41 f. mwN, der i.Ü. auch auf das „in den Mitgliedstaaten vorhandene Entscheidungsmaterial“ zurückgreifen will (Rn. 65). Damit würde aber eine europäisch-autonome Konkretisierung im Ergebnis aufgegeben. Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung siehe Schwartze, in diesem Band, § 4. 119 Hierfür Schmidt-Kessel, WM 1997, 1732, 1738; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525; Leible, RIW 2001, 422, 426; Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Wittwer, E.L.Rep. 2004, 380, 384. – Siehe Art. 1:201, Art. 6:102 Principles of European Contract Law (sog. Lando-Principles). Zur Einordnung der principles in die Rechtsquellenlehre Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000), S. 15 ff. 120 Rechtsvergleichend Zimmermann/Whittaker (Hrsg.), Good Faith in European Contract Law (2000). 121 Zur Bedeutung des (D)CFR noch unten Rn. 45 f. 122 Näher Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, § 10 Rn. 38. 123 Siehe auch MünchKommBGB-Schubert, § 242 Rn. 165. 124 Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Vorbem. Rn. 32; siehe auch MünchKommBGB-G.H. Roth/Schubert (2012), § 242 BGB Rn. 151 ff.: Treu und Glauben als allgemeiner Grundsatz. 125 Die Entwicklung eines eigenständigen Begriffs von Treu und Glauben im Unionsrecht steht an ihren Anfängen; so etwa Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 284 ff. 126 So auch für Treu und Glauben W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, Bd. II (2000), S. 873.
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IV. Konkretisierungsmethoden
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gelungstechnik sind der Anhang zur Klausel-Richtlinie127 sowie der Anhang I der UGP-Richtlinie. Vergleichbare Kataloge waren in Anhang II und III des Entwurfs der Verbraucherrechte-Richtlinie enthalten.128 Auf eine solche sekundärrechtliche Referenzordnung hat sich auch der EuGH in der Océano-Entscheidung gestützt.129 Diese Anhänge verkörpern derzeit die wichtigsten Anhaltspunkte für einen unionsrechtlichen Treuemaßstab.130 Gleiches gilt für die ausdrückliche Regelung in Art. 2 lit. b) V-GEKVO (s. o. Rn. 39). Die dahinter stehenden gemeinsamen Grundgedanken können langfristig das Fundament für ein unionsrechtliches, autonomes Verständnis von Treu und Glauben und anderer konkretisierungsbedürftiger Rechtsbegriffe eröffnen.
b) Prinzipien und Leitbilder Schließlich halten auch die unionsrechtlichen Prinzipien und Leitbilder erste Steue- 42 rungspunkte einer unionsrechtlichen Referenzordnung für die Konkretisierung vor.131 Auch wenn sie keine „harten“ Maßstäbe verbürgen und regelmäßig in einem inneren Wechselspiel nach Art eines „beweglichen Systems“132 stehen, so garantieren sie doch die nötige wertungsmäßige Rückanbindung der Konkretisierung an die Unionsrechtsordnung. Dies gilt insgesamt für das europäische Vertragsrecht, dessen Prinzipien und 43 Grundstrukturen sich nun sichtbar konstituieren.133 Auch wenn dem Unionsrecht noch kein eigenständiges Prinzip von Treu und Glauben eigen ist,134 so deutet sich doch der Gedanke des Schutzes berechtigter Erwartungen als spezifisch unionsrecht-
127 Näher Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, § 10 Rn. 33; so auch Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 6 Rn. 49: „Indizwirkung“; Edward, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards, S. 79, 82; vgl. auch EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 20 sowie EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, EU:C:2002:281 Rn. 22. 128 S. o. Fn. 73. 129 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346 Rn. 22; denkbar wäre dies auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten gewesen; hierfür Wittwer, E.L. Rep. 2004, 380, 384. 130 So auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 512; skeptisch Freitag/Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478. – Für eine Berücksichtigungspflicht nationaler Gerichte Staudinger, DB 2000, 2058; vorsichtiger Schwartze, JZ 2001, 246, 248: „bloße Anregung“. 131 Für allgemeine Übersichten siehe Bernitz/Groussot/Schulyok (Hrsg.), General Principles of EU Law and European Private Law (2013); Reich, General Principles of EU Civil Law (2014). 132 Begriff von Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht; zur Rezeption dieses Gedankens bei Alexy und Dworkin u. a. sowie seiner Empfehlung als Methode des Europäischen Privatrechts Flessner, JZ 2002, 14, 18 ff. 133 Siehe hierzu die Untersuchungen von Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004); Riesenhuber, System und Prinzipien; Kraus, in: Riesenhuber (Hrsg.), Entwicklungen nicht-legislatorischer Rechtsangleichung im Europäischen Privatrecht (2008), S. 39 ff.; Schulze, ZEuP 2007, 130, 137 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law (2007). 134 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 410 ff.; a. A. Lando, ERPL 15 (2007), 841–853.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
licher Vertrauensgrundsatz an.135 Entsprechend der Regelungsintention von verbraucherschützenden Richtlinien kommt dabei dem Schutz der Verbraucher eine besondere Rolle zu, mag man auch einer pauschalierenden Zweifelsregel „im Zweifel für den Verbraucher“ skeptisch gegenüber stehen.136 Es ist also ein in besonderer Weise auf den Verbraucher ausgerichteter Vertrauensschutz,137 der sich als Grundlage für weitere konkretisierende Beurteilungsleitlinien im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 KlauselRichtlinie empfiehlt.138 44 Ähnliche Steuerungspotentiale haben Leitbilder.139 Auch sie tragen dazu bei, die Wertungsgrundlagen und Zielsetzungen konkretisierungsbedürftiger Rechtsakte plastisch zu verdeutlichen.140 Sie bewegen sich auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau als Prinzipien und Rechtsgrundsätze und haben sich – beispielsweise im Lauterkeitsrecht141 – gerade deshalb als besonders wirksam erwiesen. Dies setzt eine sorgsame, systemorientierte Begründung von Leitbildern aus dem positiven Recht voraus.142
c) Der gemeinsame Referenzrahmen 45 Auf einer ähnlichen Stufe wie die vorgenannten Prinzipien und Leitbilder steht der im Jahr 2009 vorgestellte Entwurf des Gemeinsamen Referenzrahmens (Draft Common Frame of Reference).143 Zwar handelt es sich dabei um einen akademischen Entwurf,
135 Micklitz, ZEuP 1998, 253, 263 f.; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 338 ff.; kritisch W.-H. Roth, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 45 ff. 136 Näher Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 57 ff.; ders., JZ 2005, 829; dazu die Erwiderungen von Rösler, JZ 2006, 400 ff., Tonner, JZ 2006, 402 ff. und Riesenhuber, JZ 2006, 404 f. 137 Zur Rechtsangleichungsintention der Klausel-Richtlinie bereits oben Rn. 15. 138 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 345, 435; dies., WM 2003, 509, 512; genauso – wenn auch im Ergebnis kritisch – Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 569: „Unterlegenenschutz als Auslegungsleitlinie“; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 51 ff. 139 Zur Wirksamkeit von Leitbildern für die Konkretisierung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 401 ff.; siehe auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 47 ff.: Leitbilder als Hilfsmittel teleologischer Auslegung. 140 Für das Verbraucherleitbild der Klausel-Richtlinie exemplarisch Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klauselrichtlinie) Vorbem. Rn. 24 ff. 141 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, EU:C:2000:8 Rn. 27; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Sektkellerei Kessler, EU:C:1999:35 Rn. 36; hierzu Streinz/Leible, ZIP 1995, 1236 ff. 142 So mit Recht die Mahnung von Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 48 f. 143 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke u. a. (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law; zur Entstehungsgeschichte Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 173, 175 ff.; Ernst, AcP 208 (2008), 248, 249; zur Politik Somma (Hrsg.), The Politics of the Draft Common Frame of Reference (2009).
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IV. Konkretisierungsmethoden
der sich als unverbindliche Erkenntnisquelle und Orientierungshilfe versteht.144 Weitergehende, normative Bedeutung kommt ihm nicht zu: Es handelt sich um eine lex academica,145 also ein Kompendium von Regeln wissenschaftlicher Provenienz und Prägung, die auch in erster Linie die Wissenschaft und weniger den Unionsgesetzgeber adressieren.146 Insbesondere ist er nicht Systembestandteil.147 Gleichwohl verkörpert der Referenzrahmenprozess nachhaltige Konvergenzaussichten durch „weiche“ Integration: als Orientierungs- und Bezugspunkt wissenschaftlicher Systematisierungen und autonomer Konvergenzen sowie als „Werkzeugkasten“ oder „Normspeicher“148 für den Unionsgesetzgeber. Jedenfalls sind im DCFR auch zahlreiche Generalklauseln enthalten.149 In der Praxis der Gutachten der Generalanwälte spielt der DCFR bereits eine sicht- 46 bare Rolle. Vielfach werden die Regelungsvorschläge des DCFR ähnlich den PECL als Auslegungsargument herangezogen.150 Allerdings ist – unabhängig von einer Zukunft des (D)CFR im politischen Prozess – sein Konkretisierungspotential realistisch einzuschätzen. Die zentralen Leerstellen im derzeitigen Richtliniengefüge haben auch durch den Referenzrahmen keine nähere Eingrenzung gefunden.151 Und dort, wo über den jetzigen Bestand hinausgehend nähere Eingrenzungen formuliert wurden, erheben sich sogleich Zweifel an der Aussagekraft des Textes: Je mehr der Referenzrahmen an Konkretisierung „leistet“, umso größer ist der akademische Anteil dieser Leistung.152
144 v. Bar, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.) Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 23, 32 f.; Schulte-Nölke, NJW 2009, 2161 ff.; krit. Jansen/Zimmermann, NJW 2009, 3401, 3406 f. 145 Zum Folgenden Röthel, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 287 ff.; siehe auch Zimmermann, in: Bumke/Röthel (Hrsg.), Privates Recht (2012), S. 21–48. 146 Röthel, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der gemeinsame Referenzrahmen, S. 287, 308 f. 147 Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 173, 202 ff. 148 Ernst, AcP 208 (2008), 248, 277 ff. 149 Kritisch zum Deliktsrecht etwa Wagner, in: ders. (Hrsg.), The Common Frame of Reference: A View from Law and Economics (2009), S. 225–266. 150 Siehe GA Trstenjak, Schlussanträge v. 11.6.2008 – Rs. C-275/07 Kommission ./. Italien, EU: C:2008:334 Fn. 48; Schlussanträge v. 11.9.2008 – Rs. C-180/06 Ilsinger, EU:C:2008:483 Tz. 49; Schlussanträge v. 18.2.2009 – Rs. C-489/07 Messner, EU:C:2009:98 Tz. 85; Schlussanträge v. 7.5.2009 – Rs. C-227/08 Martín Martín, EU:C:2009:295 Tz. 51; Schlussanträge v. 8.9.2009 – Rs. C-215/08 E. Friz, EU: C:2009:522 Fn. 62; Schlussanträge v. 6.7.2010 – Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing, EU:C:2010:401 Fn. 54; genauso dies., in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 235 ff. Siehe auch GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 15.11.2012 – Rs. C-103/11 P Kommission ./. Systran und Systran Luxembourg, EU:C:2012:714 Fn. 24 und GA Kokott, Schlussanträge v. 24.10.2013 – Rs. C-396/12 van der Ham, EU:C:2013:698 Fn. 39. 151 Siehe zur Klauselkontrolle Art. II-9:403 [Meaning of „unfair“ in contracts between a business and a consumer]. 152 Siehe im Zusammenhang mit Treu und Glauben Art. I-I.103 [good faith and fair dealing] und Principle 23: „rather open-ended concepts“.
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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln
d) Vom Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht zu Digitale-Inhalte-RL und Warenkauf-RL 153 47 Der Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht hätte per Verordnung ein „Zweites Regime“ neben den Vertragsrechten der Mitgliedstaaten etabliert154 und damit die Frage nach einem zusätzlichen, aber optional geltenden Maßstab für die Rechtsgestaltung aufgeworfen. Nachdem der Vorschlag offiziell zurückgezogen worden war,155 hat die Kommission Vorschläge für eine Richtlinie über die Bereitstellung digitaler Inhalte und Dienstleistungen sowie für eine Richtlinie über den Warenkauf erarbeitet, die inzwischen verabschiedet worden sind und derzeit intensiv diskutiert werden, auch weil ihre Umsetzung demnächst bevorsteht.156 Im Gegensatz zu den zuvor vorgelegten Vorschlägen werfen diese beiden Richtlinien methodisch jedoch keine spezifischen Konkretisierungsfragen auf. Im Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht war dagegen versucht worden, unionsautonome Definitionen für die im V-GEK geregelten Rechtsfragen zu entwickeln. Neben der Definition von Treu und Glauben (Art. 2 lit. b) V-GEKVO) enthielt Art. 2 V-GEKVO einen ausführlichen Katalog von Begriffen wie „Vertrag“ (lit. a), „Unternehmer“ und „Verbraucher“ (lit. e/f), „Preis“ (lit. i), „zwingende Vorschrift“ (lit. v) sowie „Verpflichtung“ (lit. y). Auch im Bereich der Klauselkontrolle sollte das GEK einheitliche Maßstäbe setzen.157 Das VGEK sollte somit einen autonomen Maßstab schaffen, der wohl auch zur Klauselkontrolle nach der Klausel-Richtlinie herangezogen hätte werden könnten.158 Im Vergleich dazu greifen die beiden verabschiedeten Richtlinien ungleich kürzer.
V. Konkretisierung als Prozess 48 Konkretisierung hat nicht nur eine kompetentielle und eine methodische Seite,
sondern auch eine ganz praktische und prozedurale: Konkretisierung ist ein Pro-
153 S. o. Fn. 5. 154 Eidenmüller et al., JZ 2011, 269 -289; umfassend Schulze (Hrsg.), Common European Sales Law (CESL) – Commentary (2012). 155 Im Arbeitsprogramm der Kommission ist der Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (GEK) als Nr. 60 im Anhang zurückgezogener Vorschläge gelistet, s. o. Fn. 5. 156 Richtlinie (EU) 2019/770 vom 20. Mai 2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. 2019 L 136/1 (Digitale-Inhalte-RL) und Warenkauf-RL, Fn. 41; dazu etwa Bach NJW 2019, 1705; Carvalho EuCML 2019, 194; Schulze ZEuP 2019, 695; Staudenmayer ZEuP 2019, 663. 157 Neben einer allgemeinen Definition von „unfair“ (Art. 83 V-GEK) enthielt es zwei verbindliche Listen von Klauseln, die von vornherein unwirksam sind bzw. deren Unfairness vermutet wird (Art. 84, 85 V-GEK); dazu kritisch Eidenmüller et al., JZ 2011, 269, 278 f. 158 Möslein, in: Purnhagen/Rott (Hrsg.), Varieties of European Economic Law and Regulation – Liber Amicorum for Hans Micklitz (2014), S. 71–92; siehe auch Eidenmüller et al., JZ 2012, 269, 279.
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V. Konkretisierung als Prozess
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zess.159 Für die Konkretisierung sekundären Unionsrechts gilt, was dem Unionsrecht insgesamt attestiert wird: Konkretisierung ist „Recht im Werden“.160 Solche langfristigen und vor allem arbeitsteiligen161 Rechtsetzungsprozesse sind auf Kommunikation und Kooperation angewiesen. Institutionelles Forum für den erforderlichen Konkretisierungsdialog ist das Vorabentscheidungsverfahren.162 Eine sinnvolle Gestaltung des Konkretisierungsprozesses erfordert auf Seiten der vorlegenden Gerichte die Auswahl sinnvoller und informativer Vorlagen und auf Seiten des EuGH eine gewisse Behutsamkeit im Umgang mit dem Konkretisierungsstand. Solange die Konturen der unionsrechtlichen Konkretisierungsmaßstäbe noch weitgehend diffus sind, sollte der EuGH umso sorgfältiger darauf bedacht sein, mit dem Prozesscharakter der Konkretisierung Maß zu halten. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus zu begrüßen, dass der EuGH mit seinem 49 Urteil Freiburger Kommunalbauten einen zunächst eher zurückhaltenden Kurs bei der Wahrnehmung seines Konkretisierungsauftrags angedeutet und in Folgeentscheidungen163 beibehalten hat.164 Die darin skizzierte Aufteilung der Konkretisierungsaufgaben ist nicht nur Ausdruck eines methodisch, kompetentiell und insoweit auch „ökonomisch“ sinnvollen Gefüges.165 Darüber hinaus garantiert sie, dass die richterliche Rechtsgestaltung ihren notwendigen Rückhalt im allgemeinen Integrationsprozess nicht verliert – und zwar nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die noch offenen methodischen Fragen.
159 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 167 ff., 381, 399 ff.; zu rechtlichen Präzedenzfällen siehe Wyatt/Dashwood, s. o. Fn. 24, S. 408 f. 160 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 38 f.; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 605 mwN. Zur „Dynamik“ des Unionsrechts auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 46. 161 Vgl. Röthel, ZEuP 2005, 418, 424 ff. 162 Zum Folgenden Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 381 ff. 163 EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, EU:C:2006:675; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/ 08 Pannon GSM, EU:C:2009:350; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-226/12 Constructora Principado, EU: C:2014:10. 164 Röthel, ZEuP 2005, 418, 425 ff. 165 In diese Richtung auch GA Geelhoed, Schlussanträge v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2003:504 Tz. 29: „ökonomischer Gebrauch der Rechtsbehelfe“.
Möslein/Röthel
§ 12 Die Rechtsfortbildung Literatur: Rebecca Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht (2012); Larry Alexander/Emily Sherwin, Demystifying Legal Reasoning (2008); Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997); Anthony Arnull, The European Union and its Court of Justice (2. Aufl. 2006); Christian Baldus/Thomas Raff, Richterliche Interpretation des Gemeinschaftsrechts, in: Martin Gebauer/Christoph Teichmann, Europäisches Privatund Unternehmensrecht (2016), § 3, S. 153–221; Gunnar Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU (2012); Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Gerard Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice (2012); Mariele Dederichs, Die Methodik des EuGH (2004); Wolfgang Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: Ole Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I (1995), S. 205–221; Ulrich Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217–227; Nils Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht (2011); Stefan Grundmann/Karl Riesenhuber, Die Auslegung des europäischen Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529– 536; Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009); Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer Europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Waldemar Hummer/Walter Obwexer, Vom „Gesetzesstaat zum Richterstaat“ und wieder retour?, EuZW 1997, 295–305; Stefanie Jung/Peter Krebs, Europäische Rechtsmethodik, in: Stefanie Jung u. a. (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in Europa (2019), S. 47–126; Katja Langenbucher, Vorüberlegungen zu einer Europarechtlichen Methodenlehre, JbJZ 1999, S. 65–83; Koen Lenaerts/José A. Gutiérrez-Fons, To say What the Law of the EU is: Methods of Interpretation and the European Court of Justice, EUI Working Papers AEL 2013/9; Axel Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009); Jörg Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Johannes Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung – Beiträge für Claus-Wilhelm Canaris zum 65. Geburtstag (2002), S. 83– 112; Oreste Pollicino, Legal Reasoning of the Court of Justice in the Context of the Principle of Equality between Judicial Activism and Self-restraint, GLJ 5 (2004), 283–317; Timo Rademacher, Reading Up and Down EU Legislation: A Plea for a Principled Approach to an Extraordinary Judicial Power, EPL 23 (2017), 319–346; Robert Rebhahn, Zur Methodenlehre des Unionsrechts – insbesondere im Privatrecht, ZfPW 2016, 281–306; Frederick Schauer, Thinking like a lawyer (2009); Theodor Schilling, Eine neue Rahmenstrategie für die Mehrsprachigkeit: Rechtskulturelle Aspekte, ZEuP 2007, 754–784; Wolfgang Schön, Die Analogie im Europäischen (Privat-)Recht, 2. Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris (2017), S. 147–180; Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002); Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999); Reiner Schulze/Ulrike Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft (2003); Jörg Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH (1995); Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I (2001); Konrad Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH (2009).
Rechtsprechung: EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, EU:C:1985:507; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, EU:C:2000:469; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u. a., EU:C:2003:604; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709; EuGH v. 11.5.2006 – Rs. C-340/04 Carbotermo und Consorzio Alisei, EU:C:2006:308; EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament ./. Kommission, EU:C:2008:176; EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-566/07 Stadeco, EU: C:2009:380; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq International, EU:C:2009:465; EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u. a., EU:C:2009:626; EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, EU:C:2009:716; EuGH v. 14.9.2010 – Rs. C-550/07 Akzo Nobel Chemicals Ltd u. a., EU:C:2010:512;
Neuner https://doi.org/10.1515/9783110614305-012
352
§ 12 Die Rechtsfortbildung
EuGH v. 5.5.2011 – verb. Rs. C-201/10 und C-202/10 Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU: C:2011:282; EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-509/11 ÖBB-Personenverkehr, EU:C:2013:613; EuGH v. 8.11.2016 – Rs. C-41/15 Dowling, EU:C:2016:836; EuGH v. 5.6.2018 – Rs. C-673/16 Coman, EU:C:2018:385; EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u. a., EU:T:2002:283; EuG v. 3.4.2003 – verb. Rs. T-44/01, T-119/01 und T-126/01 Vieira und Vieira Argentina, EU:T:2003:98.
Systematische Übersicht Grundlagen 1–6 1. Zur Terminologie des Unionsrechts 2–3 2. Zur Eigenständigkeit des Unionsrechts 4–5 3. Zur Besonderheit des Unionsrechts 6 II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung 7–10 1. Die rechtsprechende Gewalt 8 2. Die gesetzgebende Gewalt 9 3. Die faktische Gewalt 10 III. Die Schranken der Rechtsfortbildung 11–26 1. Die Bindung an das Gesetz 12–21 a) Die kompetentielle Dimension 13–15 aa) Das institutionelle Gleichgewicht 14 bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit 15 b) Die inhaltliche Dimension 16–18 aa) Die Wortsinngrenze 17 bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht 18 c) Die zeitliche Dimension 19–21 aa) Die Vorwirkung 20 bb) Die Rückwirkung 21 2. Die Bindung an das Präjudiz 22–26 I.
Neuner
a)
Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit 23 b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes 24–26 IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung 27–52 1. Die Rechtsfindung praeter legem 28–48 a) Die Lückenfeststellung 29–31 aa) Das externe System 30 bb) Das interne System 31 b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung 32–45 aa) Der Gleichheitssatz 33–42 bb) Das Primärrecht 43–45 c) Die Grenzen der Lückenausfüllung 46–48 aa) Analogieverbote 47 bb) Unausfüllbare Lücken 48 2. Die Rechtsfindung contra legem 49–52 a) Die Feststellung der Nichtigkeit 50 b) Die Folgen der Nichtigkeit 51 c) Die Einzelfallgerechtigkeit 52 V. Schlussbetrachtung 53
353
I. Grundlagen
I. Grundlagen Die unionsrechtliche Methodenlehre ist ein Unterfall der allgemeinen juristischen Me- 1 thodenlehre. Sie bildet zu den nationalen Methodenlehren1 kein aliud, sondern wird durch ihren speziellen Gegenstand in Form des Unionsrechts geprägt. Demgemäß stellt sich auch im sekundären Unionsrecht das Problem, ob der Richter an den Wortlaut des Gesetzes strikt gebunden ist oder dieses über den Normtext hinaus fortbilden darf.
1. Zur Terminologie des Unionsrechts Nach dem überwiegenden deutschen Sprachgebrauch bildet der noch mögliche 2 Wortsinn des Gesetzes die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.2 Diese terminologische Unterscheidung ist vor allem deshalb sachgerecht, weil dem Normtext eine limitierende Funktion zum Schutz der Rechtsunterworfenen sowie zur Wahrung mitgliedstaatlicher Kompetenzen zufallen kann.3 Der Gerichtshof verwendet allerdings nicht den Begriff „Rechtsfortbildung“,4 sondern spricht im Anschluss an die französische Methodenlehre ganz pauschal von interprétation.5 Dies mag damit zusammenhängen, dass Französisch die Arbeitssprache des Gerichts bildet. Aber auch in der Sache ist die terminologische Gleichstellung nicht weiter schädlich, solange der Gerichtshof dem Normtext eine eigenständige Bedeutung im Rahmen der
1 Einen Überblick zu den verschiedenen Methoden der Rechtsfindung in den einzelnen europäischen Staaten gibt Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 45 ff. 2 Vgl. BVerfG, NJW 2018, 3091 (Rn. 21); 2015, 3641 (Rn. 11); Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 143; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 441, 467 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 614 ff.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 90 ff. m. w. N.; kritisch z. B. Kudlich/Christensen, ARSP 93 (2007), 128 ff. 3 Siehe speziell zur Erforderlichkeit der Wortsinngrenze im Unionsrecht auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004), S. 25 f.; Schilling, ZEuP 2007, 754, 757 ff. (768: „Rang von Primärrecht“); Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535. 4 Ausnahme: EuGH v. 9.9.2014 – Rs. C‑488/13 Parva Investitsionna Banka, EU:C:2014:2191 Rn. 34: „um die festgestellte Lücke im Wege der Rechtsfortbildung (…) zu schließen“; ferner zahlreiche Schlussanträge, s. zuletzt GA Pitruzzella, Schlussanträge v. 30.1.2020 – Rs. C‑786/18 Ratiopharm, EU:C:2020:57 Rn. 19. 5 Vgl. nur Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 289 ff., 394 f., 607; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 39; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 55 ff. mwN; zur französischen Tradition der „Auslegung“ eingehend Babusiaux, in diesem Band, § 22.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
Gesetzesinterpretation beimisst.6 Die Kritik am Gerichtshof reduziert sich daher im Wesentlichen auf den Vorhalt eines unpräzisen Sprachgebrauchs. 3 Präferiert man stattdessen die differenzierende deutsche Terminologie, gilt es vor allem begriffsjuristische Fehlschlüsse zu vermeiden. Diese Gefahr besteht insbesondere bei der Übertragung der klassischen „Dreistufensystematik“7 von Gesetzesauslegung, Gesetzesergänzung und unzulässiger Gesetzesderogation auf die unionsrechtliche Methodik. Die Qualifizierung einer Rechtsprechung als Auslegung besagt nur, dass sie sich innerhalb des möglichen Wortsinns bewegt, ist aber noch kein hinreichender Legitimationsnachweis. Auch der Lückenbegriff ist eine bloße Umschreibung der Zulässigkeitskriterien praeterlegaler Rechtsfindung und ersetzt nicht die erforderlichen unionsrechtlichen Wertungen. Ebenso bleibt das Dogma vom Verbot des contra-legem-Judizierens begründungsdefizitär,8 solange nicht die maßgeblichen Sachgesichtspunkte zugunsten einer Gesetzesbindung benannt werden.
2. Zur Eigenständigkeit des Unionsrechts 4 Versucht man, die Voraussetzungen und Grenzen einer Fortbildung des sekundären
Unionsrechts näher zu bestimmen, ist zunächst der Begriff der „Autonomie“ von zentraler Bedeutung. Sowohl der Geltungsgrund9 als auch die Auslegung10 des Unionsrechts werden vielfach mit dem Attribut „autonom“ gekennzeichnet, sodass es nahe liegt, die Fortbildungsoptionen des sekundären Unionsrechts ebenfalls autonom, d. h. losgelöst von den mitgliedstaatlichen Standards, zu bestimmen. Diese Schlussfolgerung ist aufgrund des prinzipiellen Vorrangs sowie des besonderen Integrationstelos des Unionsrechts im Ansatz zutreffend, doch sind einige Relativierungen veranlasst. Als Erstes ist in geltungstheoretischer Hinsicht hervorzuheben, dass das Unionsrecht, jedenfalls nach dem derzeitigen Legitimationsstand, im
6 Eine Auswertung aller im Jahr 1999 veröffentlichten Entscheidungen des EuGH hat ergeben, dass die grammatische Auslegung die zweithäufigste Argumentationsform darstellt (nach dem Verweis auf die frühere Rechtsprechung); vgl. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 64 ff.; dies., EuR 2004, 345, 349 ff.; siehe zur Bedeutung des Normtextes auch Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 168 ff.; Zedler, Mehrsprachigkeit und Methode (2015), S. 221 ff. m.umf.N. 7 Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung (1969), S. 221. 8 S. z. B. Calliess, NJW 2005, 929, 932. 9 Vgl. nur EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage, EU:C:2001:465 Rn. 19; EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/ 64 Costa ./. E.N.E.L., EU:C:1964:66 S. 1259, 1269 ff. 10 Vgl. EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, EU:C:1984:11 Rn. 11; zuletzt EuGH v. 25.6.2020 – Rs. C-36/ 20 Ministerio Fiscal, EU:C:2020:495 Rn. 53.
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I. Grundlagen
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mer noch auf einem innerstaatlichen Anwendungsbefehl beruht,11 der seinerseits nach mitgliedstaatlichen Methodenstandards zu interpretieren ist. Zweitens ist in Bezug auf die Auslegung des Unionsrechts signifikant, dass es eine Lingua Franca, eine eigene „EU-Sprache“, nicht gibt. Der Gerichtshof muss deshalb die offiziellen Landessprachen gem. Art. 55 Abs. 1 EUV gleichwertig berücksichtigen und im Rahmen der grammatischen Interpretationsmethode einen entsprechenden Textvergleich12 vornehmen.13 Materiellrechtlich kommt als Drittes hinzu, dass die Union in Art. 2 EUV die tradierten mitgliedstaatlichen Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit übernimmt sowie über Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 3 EUV auf die in der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) und der EMRK enthaltenen justitiellen Grundrechte verweist, was sich ebenfalls auf die Kompetenzen der Judikative auswirkt.14 Die Voraussetzungen und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind also pri- 5 mär aus dem Unionsrecht herzuleiten, doch gibt es Parallelen und Interdependenzen zu den Methodenstandards sowie zu den allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen in den Mitgliedstaaten.
3. Zur Besonderheit des Unionsrechts Aus methodischer Sicht weist das Unionsrecht vor allem zwei Eigenarten auf: Zum ei- 6 nen die Mehrsprachigkeit und zum anderen die begrenzte Regelungskompetenz. Beide Phänomene sind allerdings nicht neuartig, vielmehr bekannte rechtstheoretische Herausforderungen. So wird das Problem der Mehrsprachigkeit bereits in Art. 33
11 Vgl. BVerfGE 126, 286, 302; BVerfG, NJW 2009, 2267 (Rn. 332 ff.); zuletzt BVerfG, NJW 2020, 1647 (Rn. 101 ff.); siehe zur Diskussion über den Geltungsgrund des Unionsrechts auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 229 ff.; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 174 ff. 12 Siehe am Beispiel des Begriffs „fortgesetzte Zuwiderhandlung“ EuG v. 17.5.2013 – verb. Rs. T-147/ 09 und T-148/09 Trelleborg ./. Kommission, EU:T:2013:259 Rn. 72 ff.; s. aber auch Baaij, in: ders., The Role of Legal Translation in Legal Harmonization (2012), S. 1 ff. (15 f.): „Between 1960 and 2010, the Court acknowledged discrepancies in only about 170 judgments. And in only about 110 judgments, the Court considered these to cause an interpretation problem. However, contrary to its stance that the interpretation of EU law requires a comparison of language versions, the Court itself did not explicitly compare language versions in more than about 245 judgments, which, when counting the judgments in the Eur-Lex website, is about 3 % of all jugdments between 1960 and 2010.“; ähnlich für den Zeitraum 2004–2008 Zedler, Mehrsprachigkeit und Methode (2015), S. 172 („knapp drei Prozent”). 13 Siehe Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 608 ff.; Vismara, in: Pozzo/Jacometti (Hrsg.), Multilingualism and the Harmonization of European Law (2006), S. 61 ff.; Lenaerts/GutiérrezFons, To say What the Law of the EU is, S. 8 ff.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 33 ff. 14 Vgl. auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 8 mwN.
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356
§ 12 Die Rechtsfortbildung
Abs. 4 WVK angesprochen und stellt sich gleichermaßen in Nationalstaaten mit verschiedenen Amtssprachen, wie etwa der Schweiz.15 Konkurrierende Rechtsordnungen und deren interpretatorische Abgrenzung sind ebenfalls kein Novum. Aus der Geschichte ist nur an das Verhältnis des ius commune zum Statutarrecht zu erinnern.16 Ein aktuelles Beispiel bildet der Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern gem. Art. 72, 74 GG. Mit der Diskussion über die Möglichkeiten einer Fortbildung des sekundären Unionsrechts betritt man also kein methodisches „Neuland“, sondern kann auf breite rechtstheoretische Vorarbeiten aufbauen.
II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung 7 Ebenso wie die nationalen Gerichte ist auch der Gerichtshof prinzipiell zur Rechtsfort-
bildung legitimiert.17
1. Die rechtsprechende Gewalt 8 Die Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung folgt sowohl aus den überlieferten
Grundsätzen des Art. 2 EUV als auch aus der speziellen Regelung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, wonach der Gerichtshof die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (sichert).“18 Flankierend dazu ist auf die entsprechende Intention der Gründungsmitglieder zu verweisen19 und hervorzuheben, dass das etablierte Richterrecht für Beitrittskandidaten zum verbindlichen acquis communautaire zählt.20 An Überzeugungskraft verliert hingegen der Hinweis auf den dynamisch-evolutionären Integrationsansatz des Primärrechts,21 da die Funktionsfähigkeit der Union mittlerweile als gesichert erscheint.22
15 Siehe z. B. Kramer, Methodenlehre, S. 89 ff.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 136 ff., 150 ff.; Schubarth, LeGes 2001, 49 ff., der die Mehrsprachigkeit als „große Chance“ und „echte Bereicherung“ betrachtet und betont, dass „sprachliche Minderheiten (nicht) ignoriert werden“ (a. a. O., S. 49). 16 Siehe näher Schröder, Recht als Wissenschaft (2. Aufl. 2012), S. 19 ff., 67 ff., 158 ff. mwN. 17 Zur nationalen Rechtslage siehe näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 47 ff. mwN. 18 Vgl. nur W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 821 ff. (mit zusätzlichem Verweis auf Art. 340 Abs. 2 AEUV für den Bereich der außervertraglichen Haftung); Everling, JZ 2000, 217, 221; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91 ff.; siehe zudem unten bei Rn. 49. 19 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 67 mwN. 20 Vgl. Stellungnahme der Kommission v. 19.1.1972 zu den Beitrittsanträgen Dänemarks, Irlands, des Königreichs Norwegen und Großbritanniens, ABl. 1972 L 73/3; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Ohler, Art. 49 EUV Rn. 45; Ott, EuZW 2000, 293 ff. mwN. 21 Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296 mwN. 22 Vgl. auch Streinz, ZEuS 2004, 387, 412; Nessler, RIW 1993, 206, 213.
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II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung
2. Die gesetzgebende Gewalt Obgleich die Befugnis des Gerichtshofs zur Fortbildung des Rechts weitgehend an- 9 erkannt ist,23 folgt hieraus keine gesetzgeberähnliche Kompetenz. Wie insbesondere die Art. 19 EUV, 251 ff. AEUV belegen, beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung.24 Funktionell ist kennzeichnend, dass der Gerichtshof über kein eigenes Initiativrecht verfügt25 und auf den Dialog mit den Verfahrensbeteiligten angewiesen ist. Institutionell fehlt den Richtern eine unmittelbare demokratische Legitimation26 und organisatorisch die Ausstattung, um legislative Aufgaben wahrnehmen zu können. Zu einer Rechtsetzung in Form abstrakt-genereller Regelungen ist der Gerichtshof somit nicht berufen.
3. Die faktische Gewalt Trotz dieser grundsätzlichen Begrenzung der richterlichen Kompetenz auf die Einzel- 10 fallentscheidung entfaltet die Judikatur des Gerichtshofs im Rechtsleben eine sehr breite Wirkung und bildet eine faktische Rechtsquelle. Die Unionsbürger orientieren sich an den Urteilen des Gerichtshofs und erwarten Rechtssicherheit durch eine Gleichbehandlung ähnlicher Fälle.27 Der Gerichtshof hat deshalb verallgemeinerbare Rechtsregeln auf einer „mittleren Abstraktionshöhe“ zwischen Norm und Fallentscheidung zu formulieren.28 Um legitime Kontinuitätserwartungen der Rechtsunterworfenen nicht zu enttäuschen, sind auch gelegentliche obiter dicta zulässig. Im Grundsatz ist jedoch allein über den anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. Angesichts dieser regelmäßigen Beschränkung auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung besteht für nachfolgende Verfahren auch keine strenge Präjudizienbin-
23 Siehe nur BVerfGE 142, 123 (Rn. 161); 126, 286, 305; 75, 223, 242 ff.; Horsley, CML Rev. 50 (2013), 931, 931 ff. m.umf.N. (einschließlich kritischer Stimmen). 24 Siehe dazu auch v. Danwitz, EuR 2008, 769, 772; Everling, RabelsZ 50 (1986), 193, 208; Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 213; speziell in Abgrenzung zur Rechtskraftbindung Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union (2009), S. 404 ff. 25 Vgl. Pollicino, GLJ 5 (2004), 283, 291; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 172. 26 Vgl. nur Everling, JZ 2000, 217, 221; Kirsch, Demokratie und Legitimation in der Europäischen Union (2008), S. 74, 169 ff. 27 Hinzu kommt eine Begründungspflicht; s. näher Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 116 f., 141 ff.; W.H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 838 ff.; Rebhahn, ZfPW 2016, 281, 288 ff.; Lochmann, EuR 2019, 61, 76 ff. (mit Kritik an EuGH v. 8.9.2015 – Rs. 105/14 Taricco, EU:C:2015:555). 28 Vgl. Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien (1986), S. 123 ff.; Schulze/Seif, in: dies. (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 8; Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt (2013), S. 241.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
dung im Sinne der stare-decisis-Doktrin, zumal sonst für jede Rechtsprechungsänderung ein aufwendiges Gesetzesänderungsverfahren29 nötig wäre.30 Wollen nationale Gerichte von der Rechtsprechung des EuGH abweichen, wird allerdings die Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV jeweils aktualisiert.31
III. Die Schranken der Rechtsfortbildung 11 Ungeachtet seiner prinzipiellen Kompetenz zur Rechtsfortbildung unterliegt der Ge-
richtshof im Regelfall der Bindung an das Gesetz. Darüber hinaus können auch Präjudizien die Entscheidungsoptionen des Gerichtshofs einschränken.
1. Die Bindung an das Gesetz 12 Die Gesetzesbindung hat eine kompetentielle, eine inhaltliche und eine zeitliche Di-
mension.
a) Die kompetentielle Dimension 13 Kompetentiell ist kennzeichnend, dass der Gerichtshof nicht nur an die Entscheidungen des Unionsgesetzgebers gebunden ist, sondern zugleich auch dessen beschränkte Regelungszuständigkeit berücksichtigen muss. 14
aa) Das institutionelle Gleichgewicht. Das Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“ bildet das unionsrechtliche Pendant zur klassischen Gewaltenteilung.32 Es legt das Kompetenzgefüge der Unionsorgane untereinander fest und wirkt sich zugleich auf die Freiheit der Unionsbürger sowie den Einflussbereich der Mitgliedstaaten aus. Für die dritte Gewalt folgt aus dem Prinzip des „institutionellen Gleichge-
29 Siehe zu den besonderen unionstypischen Schwierigkeiten einer Gesetzesänderung Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 585 ff. 30 Vgl. Seif, FS Schlüchter (1998), S. 137 f.; siehe zudem auch unten bei Rn. 23. 31 Zu den Ausnahmen der Vorlagepflicht nach der „acte-clair-Doktrin“ (klarer Fall; unzweifelhafte Auslegung) und der „acte-éclairé-Doktrin“ (bereits geklärte Konstellation; gesicherte Rechtsprechung) ausführlich Kühling/Drechsler, NJW 2017, 2950 ff.; Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 626 f.; Schmidt-Räntsch, in diesem Band, § 21 Rn. 23 ff. 32 Vgl. EuGH v. 6.5.2008 – Rs. C-133/06 Parlament ./. Rat, EU:C:2008:257 Rn. 56 f.; EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, EU:C:1990:217 Rn. 21 ff.; zur Vergleichbarkeit mit der herkömmlichen Gewaltenteilung siehe näher Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre (8. Aufl. 2016), Rn. 1119 ff.; Goeters, Das institutionelle Gleichgewicht – seine Funktion und Ausgestaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2008), S. 248 ff.; Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice, S. 194 ff.
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III. Die Schranken der Rechtsfortbildung
359
wichts“, dass sowohl der Ermessensspielraum der Verwaltung zu respektieren ist,33 als auch die Entscheidungsprärogative des Unionsgesetzgebers, da Letzterer sonst als Rechtsbildungsinstanz funktionslos bliebe. bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit. Im Unterschied zu den Mitglied- 15 staaten verfügt die EU nicht über eine Kompetenz-Kompetenz; vielmehr gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV.34 Eine zusätzliche Einschränkung bewirkt das Prinzip der Subsidiarität gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV. Dem Gerichtshof obliegt die Aufgabe, die Einhaltung dieser Kompetenzregel durch die Exekutive und Legislative zu kontrollieren. Umstritten ist, ob der Gerichtshof im Rahmen rechtsfortbildender Judikate das Subsidiaritätsprinzip ebenfalls beachten muss.35 Eine justitielle Bindung wird dabei insbesondere mit dem Argument verneint, dass die europäischen Gerichte für die ihnen zugewiesenen Rechtsstreitigkeiten eine ausschließliche Kompetenz besitzen.36 Diese Ansicht überzeugt nicht, weil ein Urteilsspruch, der das Subsidiaritätsprinzip missachtet, auf das Zuständigkeitsgefüge gleichermaßen einwirkt wie ein analoger Legislativakt. Die Judikative ist zwar kein „Ersatzgesetzgeber“, doch wird bei der konkret-individuellen Entscheidungsfindung unter eine abstrakte Norm subsumiert, für deren Erlass allein die Mitgliedstaaten zuständig sind. Auch wertungsmäßig macht es keinen Unterschied, ob der Unionsgesetzgeber beispielsweise den Anwendungsbereich einer Richtlinie unzulässig weit fasst oder ob der Gerichtshof eine entsprechende Extension richterrechtlich vornimmt. Insgesamt dürfen die europäischen Gerichte somit keine Rechtsfolge festlegen, die nicht auch der Unionsgesetzgeber als Norm erlassen dürfte.37
b) Die inhaltliche Dimension Die kompetentielle Bindung des Gerichtshofs an das Unionsrecht wirft die Anschluss- 16 frage auf, was unter jener Verpflichtung im Detail zu verstehen ist. Diese Thematik ge-
33 Vgl. nur Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 41; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 412 f. 34 Siehe dazu näher BVerfG, NJW 2020, 1647 (Rn. 101 ff.); BVerfGE 126, 286, 302 ff.; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001), S. 149 ff. 35 S. bereits Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 303; generell kritisch zur mangelnden Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips Huber, in: Kirchhof u. a., Europa: In Vielfalt geeint! (2020), S. 143 ff. (154: „zahnloser Tiger“). 36 Vgl. v.d. Groeben/Schwarze/Hatje-Kadelbach, Art. 5 EUV Rn. 32; Lenz/Borchardt-Langguth, Art. 5 EUV Rn. 28; Hirsch, FS Odersky (1996), S. 200. 37 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 66, 500 ff.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 325; M. Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht (2009), S. 50; Jung/Krebs, in: Jung u. a. (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in Europa, Rn. 166; Horsley, JCMS 50 (2011), 267, 273 ff.; Schön, 2. FS Canaris, S. 147, 153.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
hört zwar im Kern zu dem Problemkreis der „Auslegung“, doch hängt die Feststellung einer Gesetzeslücke von der Methode der Gesetzesinterpretation ab. Ebenso setzt das Urteil über eine Normderogation eine Interpretation des Gesetzes voraus. Daher sind an dieser Stelle zumindest zwei knappe Bemerkungen zur Wortsinngrenze sowie zum Ziel der Auslegung geboten. 17
aa) Die Wortsinngrenze. Der Wortlaut des Gesetzes ist nicht nur Ausgangspunkt
der Interpretation,38 sondern es fällt ihm auch eine Begrenzungsfunktion zu. Namentlich bei Analogieverboten kann der noch mögliche Wortsinn eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Darüber hinaus begründet der Normtext ganz generell einen Vertrauenstatbestand für die Rechtsunterworfenen, den es bei einer Rechtsfortbildung zu berücksichtigen gilt. Im Unionsrecht besteht dabei die Besonderheit, dass es verschiedene gleichwertige Vertragssprachen gibt. Diese Mehrsprachigkeit führt indes zu keiner prinzipiellen Verringerung der Begrenzungsfunktion des Wortlauts.39 Entsprechend den Bedeutungsvarianten der verschiedenen Sprachfassungen existieren vielmehr zusätzliche Möglichkeiten einer Grenzziehung, die es im Einzelfall zu bewerten gilt. In Betracht kommen insbesondere ein Vorrang der Mehrheit der übereinstimmenden Sprachfassungen, ein Vorrang des gemeinsamen Minimums aller Sprachfassungen sowie die Maßgeblichkeit jener Sprachfassung, die den Unionsbürger am wenigsten belastet.40 Weitere Varianten sind denkbar41 und jeweils vor dem Hintergrund der konkreten Schutzbedürfnisse der Rechtsunterworfenen sowie unter Berücksichtigung des Kompetenzgefüges der Union als Schranke richterlicher Rechtsfortbildung in Erwägung zu ziehen. Nach der Rechtsprechung muss grundsätzlich bei Divergenzen der verschiedenen Sprachfassungen eines Unionstextes „die fragliche Vorschrift anhand des Zusammenhangs und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.“42 18
bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht. Ebenso wie in der nationalen Metho-
dendiskussion wird in Bezug auf das Unionsrecht die traditionelle Kontroverse über
38 Entsprechend verfährt auch der EuGH; vgl. nur exemplarisch EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 53/81 Levin, EU:C:1982:105 Rn. 9; s. ferner Colneric, EuZA 2008, 212, 216; Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 77; Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann, Europäisches Privat- und Unternehmensrecht, § 3 Rn. 99 mwN. 39 A. A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen nationalen Rechts, S. 157. 40 Vgl. Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 234 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 153 ff.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 64 ff. mwN. 41 Siehe etwa Schilling, ZEuP 2007, 754, 763 („die dem Bürger sprachlich zugängliche Norm müsse die für ihn maßgebliche sein“); Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 151 f. („klarste Fassung“, „Vorrang des Urtextes“). 42 EuGH v. 12.9.2019 – Rs. C‑709/17 Kolachi Raj Industrial, EU:C:2019:717 Rn. 88; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-1/02 Borgmann, EU:C:2004:202 Rn. 25 mwN.; s. hierzu auch Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 37 ff.
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III. Die Schranken der Rechtsfortbildung
das Ziel der Auslegung geführt.43 Richtigerweise ist auch im sekundären Unionsrecht primär die gesetzgeberische Regelungsabsicht maßgebend.44 Hierfür sprechen insbesondere die Prinzipien der Demokratie und des institutionellen Gleichgewichts. Auch im Interesse der Methodenklarheit ist ein zweistufiges Verfahren indiziert, das zunächst eine Rekonstruktion der gesetzgeberischen Regelungsabsicht verlangt und sodann eine Offenlegung und Gewichtung jener Gründe, die eine Abweichung legitimieren sollen. Die Erforschung des historischen Gesetzgeberwillens wird dabei im sekundären Unionsrecht insofern erleichtert, als nach Art. 296 Abs. 2 AEUV eine Begründungspflicht für Rechtsakte besteht und zudem nach Art. 15 Abs. 3 AEUV die Dokumente des Rates der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind.45 Mittlerweile berücksichtigt daher auch der EuGH zunehmend die Gesetzesmaterialien.46
c) Die zeitliche Dimension Gesetze können schon vor ihrem Inkrafttreten eine Rechtsfortbildungsschranke be- 19 gründen.47 aa) Die Vorwirkung. Für den Gerichtshof ergibt sich die Pflicht zur Berücksichti- 20 gung von noch nicht in Kraft getretenen Gesetzen aus dem Prinzip der Unionsverfassungsorgantreue.48 Eine Sperrwirkung entsteht in der Regel erst mit der Veröffentlichung des zukünftigen Legislativakts im Amtsblatt der EU gem. Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1 AEUV.49 Ein früherer Zeitpunkt scheidet grundsätzlich aus, weil es bis dahin noch zu Abänderungen kommen kann oder noch überhaupt kein Konsens erzielt wurde. Inhaltlich führt die Sperrwirkung zu keinem generellen Rechtsfortbildungsverbot, sondern nur zu dem Gebot, das intendierte gesetzgeberische Ziel nicht zu ver-
43 Vgl. Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice, S. 247 ff.; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 mwN. 44 Siehe Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 11, 32 ff., 53; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; aus neuerer Zeit Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 13 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 383 ff.; a. A. z. B. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 375 f. 45 Einzelheiten bei Streinz-Gellermann, Art. 15 AEUV Rn. 8 ff.; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 15 AEUV Rn. 6 ff. 46 Vgl. etwa EuGH v. 28.5.2020 – Rs. C-796/18 Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung, EU: C:2020:395 Rn. 33; EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-509/11 ÖBB-Personenverkehr, EU:C:2013:613 Rn. 43 ff.; EuGH v. 7.12.2010 – Rs. C-585/08 Pammer, EU:C:2010:740 Rn. 43; EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-199/08 Eschig, EU:C:2009:538 Rn. 57 f.; s. zur Judikatur des EuGH auch Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To say What the Law of the EU is, S. 22 ff.; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 800; Leisner, EuR 2007, 689 m.umf.N. 47 Siehe zur Vorwirkung von Unionsrecht ausführlich Neuner, in: Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 110 f. sowie Hofmann, in diesem Band, § 15. 48 Vgl. näher Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 213 ff. 49 Vgl. Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen (1994), S. 141 f.; Messerschmidt, ZG 1993, 11, 22 ff., 28 ff.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
eiteln. Der EuGH hat eine solche Sperrwirkung in seiner grundlegenden Entscheidung Inter-Environnement Wallonie für die Vorwirkung von Richtlinien auf nationale Gesetzgebungsverfahren bereits formuliert.50 Dieser am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Maßstab ist sachgerecht und als generelle Rechtsfortbildungsschranke geeignet, zumal er eine Parallele im völkerrechtlichen Frustrationsverbot gem. Art. 18 WVK findet. Neben einer Sperrwirkung können zukünftige Normen als Ausdruck eines legislativen Konsenses eine Rechtsfortbildung auch positiv im Sinne einer „Rechtsgewinnungsquelle“51 inspirieren sowie legitimieren und damit zugleich für Rechtssicherheit sorgen. 21
bb) Die Rückwirkung. Im Unterschied zur Vorwirkung beruht die Rückwirkung auf
dem Anwendungsbefehl eines in Kraft befindlichen Gesetzes. Dieses ist prinzipiell bindend, solange es nicht wegen eines Primärrechtsverstoßes für nichtig erklärt wurde.52 Wie der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Racke feststellte, verbietet der Grundsatz der Rechtssicherheit in der Regel eine (echte) Rückwirkung, es sei denn, die Rückwirkung ist gemessen am angestrebten Ziel erforderlich und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen wird gebührend beachtet.53
2. Die Bindung an das Präjudiz 22 Die richterlichen Rechtsfortbildungsoptionen werden nicht nur durch legislative Vor-
gaben, sondern auch durch Präjudizien begrenzt.
a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit 23 Im Unterschied zum Common Law gibt es im Unionsrecht keine strikte Präjudizienbin-
dung im Sinne einer Rechtsfortbildungssperre.54 Dadurch wird der Gefahr einer Versteinerung der Rechtsprechung vorgebeugt und verbesserte Rechtserkenntnisse kön-
50 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 35 ff., 44 f.; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 68 (egal, ob die nationale Regelung die Umsetzung bezweckt oder nicht); EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 122 (Unterlassenspflicht gilt auch für nationale Gerichte); EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-378/07 bis C380/07 Angelidaki u. a., EU:C:2009:250 Rn. 206; s. dazu auch Röthel, ZEuP 2009, 34, 36 ff. 51 Ausdruck nach Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000), S. 9. 52 Siehe dazu auch unten Rn. 49 ff. 53 EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 98/78 Racke, EU:C:1979:14 Rn. 20; ferner EuGöD v. 13.3.2013 – Rs. F-125/11 Isabel Mendes, EU:F:2013:35 Rn. 72; siehe hierzu auch Latzel, EuR 2015, 415, 419 ff. mwN. 54 Vgl. Langenbucher, JbJZ 1999, S. 75 f.; Edward, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 76; Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 69; Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (2015),
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III. Die Schranken der Rechtsfortbildung
nen sich durchsetzen. Folgerichtig sieht sich auch der Gerichtshof durch anders lautende Urteile nicht prinzipiell an einer Rechtsfortbildung gehindert.55
b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes In der Regel orientiert sich der EuGH indes an seiner früheren Rechtsprechung.56 Die- 24 se Selbstbindung ist im Interesse der Rechtsunterworfenen auch geboten, da Präjudizien, ebenso wie Legislativakte, einen herausragenden Vertrauenstatbestand bilden können.57 Ein Vertrauenstatbestand kann schon mit einem einzigen Urteil begründet werden und verfestigt sich im Rahmen einer ständigen Rechtsprechung. Er nimmt noch an Intensität zu, wenn die Rechtsprechung von der Wissenschaft weitgehend konsentiert wird. Ein Schutz des Vertrauens kann allerdings auch hinfällig sein,58 wenn ein Urteil keinen Vertrauenstatbestand verkörpert, weil es zum Beispiel in sich widersprüchlich ist. Das Gleiche gilt, wenn Gründe in der Person des Vertrauenden entgegenstehen. Dies ist beispielsweise bei einem treuwidrigen Verhalten der Fall. Die von den Präjudizien des Gerichtshofs ausgehenden Kontinuitätserwartungen sind also keine feststehende, sondern eine variable Größe, die es gegen den konkurrierenden Anspruch auf die materiell an sich gebotene Entscheidung abzuwägen gilt.59 In den seltenen Fällen, in denen der EuGH bislang seine eigene Judikatur abgeändert hat, geschah dies jeweils retroaktiv, d. h. rückwirkend und nicht nur für zukünftige Entscheidungen im Sinne eines bloßen prospective overruling.60 Der EuGH legt Rechtsprechungsänderungen freilich nur selten offen.61 Er grenzt 25 insbesondere das Abweichen von einer bereits bestehenden Rechtsprechung nicht hinreichend von einer erstmaligen Interpretation ab, bei der gleichsam „justitielles Neuland“ im Wege (extensiver) Auslegung oder Rechtsfortbildung betreten wird.62
S. 21 f.; siehe ferner auch schon oben Rn. 10; zum Common Law siehe u. a. Alexander/Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, S. 53 ff.; Schauer, Thinking like a lawyer, S. 57 ff. 55 Siehe dazu näher GA Trstenjak, Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 Internationaler Hilfsfonds, EU:C:2007:191 Rn. 84 ff.; Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 629 f.; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 254 f.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 189 f. mwN. 56 Zum „Distinguishing“ in der Rechtsprechung des EuGH s. näher Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 243 ff., 257 ff. 57 Vgl. auch Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 255 ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 190 ff., 353. 58 Siehe näher Neuner, ZHR 153 (1993), 243, 280 ff. 59 Vgl. Langenbucher, JZ 2003, 1132, 1134 ff.; dies., Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht (1996), S. 121 ff. 60 Vgl. Bydlinski, JBl. 2001, 1, 26; Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft (2009), S. 209 ff. 61 Vgl. Rosenkranz, ZfPW 2016, 351, 357; Düsterhaus, EuR 2017, 30, 35. 62 Vgl. auch Weiß, EuR 1995, 377, 386.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
Nach Ansicht des EuGH kann in diesen Konstellationen, in denen „eine objektive, bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission beigetragen hatte“63, die Rückwirkung nur ausnahmsweise beschränkt werden, wenn zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, „nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen.“64 Als Legitimationsgrundlage solcher Rückwirkungsbeschränkungen im Rahmen von „Interpretationsentscheidungen“ dient dem EuGH der allgemeine primärrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit.65 26 Bei Nichtigkeitserklärungen kann der Gerichtshof nach Art. 264 Abs. 2 AEUV von der grundsätzlich geltenden ex-tunc-Wirkung absehen, „falls er dies für notwendig hält“. Der Gerichtshof beruft sich hierauf, „wenn zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit, die mit allen betroffenen öffentlichen wie privaten Interessen zusammen (hängen), es geraten erscheinen (lassen), die Erhebung oder Zahlung von Geldbeträgen, die auf der Grundlage dieser Regelung erfolgt waren, für den Zeitraum vor Verkündung des Urteils nicht in Frage zu stellen.“66
IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung 27 Jenseits der Wortlautgrenze werden von der traditionellen deutschsprachigen Metho-
denlehre die Bereiche praeter und contra legem unterschieden.67 Gegen das Gesetz kann allerdings auch innerhalb der Wortlautgrenze judiziert werden, wenn bei mehreren möglichen (normtextuellen) Bedeutungen jene gewählt wird, die nicht der gesetzgeberischen Zweckvorstellung entspricht. Mit der Differenzierung zwischen praeter und contra legem korrespondiert zudem eine unterschiedliche Wertung, je nachdem welchen Gesetzesbegriff man zugrunde legt. Nach der objektiven Auslegungstheorie
63 EuGH v. 13.12.2018 – Rs. C-385/17 Hein, EU:C:2018:1018 Rn. 58; EuGH v. 28.2.2018 – Rs. C-672/16 Imofloresmira-Investimentos Imobiliários, EU:C:2018:134 Rn. 59. 64 EuGH v. 23.4.2020 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2020:295 Rn. 56; EuGH v. 3.10.2019 – Rs. C-274/18 Schuch-Ghannadan, EU:C:2019:828 Rn. 61 mwN.; s. hierzu auch Düsterhaus, EuR 2017, 30, 39 ff.; Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 17 sowie Rosenkranz, in diesem Band, § 16 Rn. 21 ff. 65 Ausführlich Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft (2009), S. 161 ff. m. w. N. 66 EuGH v. 9.2.2017 – Rs. C-585/15 Raffinerie Tirlemontoise, EU:C:2017:105 Rn. 38 mwN.; ausführlich hierzu sowie zur analogen Rechtslage bei Feststellung der Ungültigkeit von Sekundärrechtsakten nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (2015), S. 3 ff. 67 Siehe z. B. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff. mwN.; nach Metzger, Extra legem, intra ius, S. 185 f. m. Fn. 116 stellt bereits jede Entscheidung gegen den Wortlaut des Gesetzes ein contra-legem-Judizieren dar, das aber nicht zwangsläufig unzulässig ist.
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IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung
ist mit der Kennzeichnung einer Rechtsfindung als „contra legem“ ein normatives Unzulässigkeitsurteil verbunden, das freilich davon abhängt, was der Interpret jeweils als „objektives“ Auslegungsergebnis annimmt.68 Folgt man hingegen der subjektiven Auslegungslehre, wird der contra-legem-Sektor nicht stigmatisiert, sondern lediglich durch erhöhte Begründungsanforderungen geprägt. Nach dieser vorzugswürdigen Ansicht ist eine Gesetzesderogation nicht a priori illegitim, sondern in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen zulässig und geboten.
1. Die Rechtsfindung praeter legem Analysiert man zunächst die Voraussetzungen und Grenzen einer praeterlegalen Fort- 28 bildung des sekundären Unionsrechts, bietet es sich an, auf das Bild der „Lücke“ als „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts (…) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“69 zurückzugreifen.70 Es ist allerdings unschädlich, wenn der EuGH dieser Terminologie nur vereinzelt folgt,71 solange er die maßgeblichen funktionalen Sachkriterien transparent darlegt und beachtet.
a) Die Lückenfeststellung In Bezug auf die Feststellung einer Lücke besteht im Unionsrecht die Besonderheit, 29 dass nicht die Rechtsordnung als Ganzes, sondern nur die europäische Teilrechtsordnung den Vergleichsmaßstab bildet.72 Im Anschluss an die Terminologie im internationalen Einheitsrecht kann man deshalb interne von externen Lücken unterscheiden73 und beide Systeme entsprechend abgrenzen.
68 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 250 ff. 69 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 39, 198. 70 A. A. Flessner, JZ 2002, 14, 21; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 254; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, S. 109 ff. 71 Der Begriff der „Gesetzeslücke“ bzw. „Lücke“ wird z. B. verwandt in EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, EU:C:1979:156 Rn. 8; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u. a., EU:C:2003:604 Rn. 49; EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-566/07 Stadeco, EU:C:2009:380 Rn. 35; s. auch GA Tanchev, Schlussanträge v. 14.11.2019 – Rs. C-454/18 Baltic Cable, EU:C:2019:973 Rn. 34 f. 72 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 68 ff. mwN. 73 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 605 ff.; Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700, 713 f.; entgegen Metzger, Extra legem, intra ius, S. 397 ff. erscheint diese Terminologie vor allem zur Abgrenzung der justitiellen Kompetenzen und zur Wahrung der mitgliedstaatlichen Interessen durchaus sachgerecht (auch im Vergleich zur open-texture-Konzeption). Unerheblich ist ferner, ob der Gesetzgeber quantitativ „eine (einigermaßen) vollständige Regelung angestrebt“ hat, da der Lückenbegriff funktional nur zum Ausdruck bringen soll, dass die Rolle der Legislative als Rechtsbildungsinstanz nicht in Frage gestellt wird; a. A. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 56.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
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aa) Das externe System. Eine planwidrige Unvollständigkeit des Europarechts kann von vornherein nur in jenem Bereich auftreten, der kompetentiell der Union zugeordnet und nicht den Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Nach dem Plan des Unionsrechts gelten die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität. Die Judikative darf deshalb keine Regelungslücke annehmen, sofern nicht auch der Unionsgesetzgeber für diesen Fall zu einer Lückenfüllung befugt wäre.74
31
bb) Das interne System. Eine Rechtsfortbildung praeter legem setzt zudem eine Planwidrigkeit im internen System des Sekundärrechts voraus. Diese Feststellung bemisst sich primär aus der Perspektive des Unionsgesetzgebers und hängt davon ab, inwieweit jener eine abschließende Regelung treffen wollte oder nur unvollständig legiferierte.75 Eine gesetzestechnische Besonderheit bildet dabei im Bereich des Sekundärrechts das Instrumentarium der Richtlinie. Richtlinien können zwar ebenso wie Verordnungen Lücken aufweisen, doch gilt dies nicht, soweit die konkrete Auslegung ergibt,76 dass den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel überlassen wird.77 Räumt eine Richtlinie beispielsweise den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen mehreren Regelungsalternativen ein, liegt auf Seiten des Unionsrechts keine planwidrige Unvollständigkeit vor.
b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung 32 Als Mittel zur Ausfüllung von Lücken im Sekundärrecht kommen im Wesentlichen der
Gleichheitssatz sowie das Primärrecht in Betracht. 33
aa) Der Gleichheitssatz. Der positive Gleichheitssatz gebietet, dass gleichartige Tatbestände gleich zu behandeln sind, also die Rechtsfolge R nicht nur für den im Gesetz geregelten Tatbestand T1, sondern analog auch für den gleich liegenden Tat-
74 Siehe auch schon oben Rn. 15. 75 Siehe zum Umkehrschluss, der die Annahme einer Lücke grundsätzlich ausschließt, weil das Gesetz eine negative Regelung enthält (die Rechtsfolge R soll nur für den Tatbestand T1 und nicht für T2 gelten, um Ungleiches ungleich zu behandeln) aus der jüngeren Rechtsprechung: EuGH v. 11.3.2020 – Rs. C-192/19 Rensen Shipbuilding, EU:C:2020:194 Rn. 33; EuGH v. 23.5.2019 – Rs. C-634/17 ReFood, EU: C:2019:443 Rn. 55; aus dem Schrifttum: Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 173 f.; Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 221 f.; Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann, Europäisches Privat- und Unternehmensrecht, § 3 Rn. 161 ff.; abgrenzend zum Analogieverbot (Ähnlichkeitsfall, aber keine Gleichbehandlung wegen Rechtssicherheit) Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 47. 76 Siehe näher I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien (2002), S. 60 ff. 77 Vgl. auch EuGH v. 6.2.2003 – Rs. C-245/00 Sena, EU:C:2003:68 Rn. 34; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, EU:C:2000:469 Rn. 48 f.; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u. a., EU:C:2003:604 Rn. 49; Bultmann, JZ 2004, 1100, 1103 f.
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IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung
bestand T2 gilt.78 Solche Analogieschlüsse finden sich immer wieder in der Rechtsprechung des EuGH.79 Der Gerichtshof machte im Urteil Krohn80 die Lückenausfüllung mittels Analogie allerdings noch von einem Verstoß gegen höherrangiges Unionsrecht, insbesondere von einem Verstoß gegen Diskriminierungsverbote, abhängig.81 Diese Bezugnahme war zu restriktiv. Zum Primärrecht gehören nicht nur die expliziten Diskriminierungsverbote, sondern auch der induktiv aus diesen Verboten sowie aus Art. 6 EUV iVm Art. 20, 21 GRCh ableitbare allgemeine Gleichheitssatz, der überdies als wesentliches Element der Rechtsidee zu den apriorischen Bestandteilen der Unionsrechtsordnung gerechnet werden kann.82 Mittlerweile interpretiert der EuGH den Grundsatz der Gleichbehandlung daher ebenfalls als einen „allgemeine(n) Grundsatz des Unionsrechts, der (…) nach ständiger Rechtsprechung verlangt (…), dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist.“83 Geradezu ein methodologisches Lehrstück einer Gleichbehandlung im Sinne des Analogieverfah- 34 rens enthält die Entscheidung Sturgeon84 zu Entschädigungspflichten im Flugverkehr: Zunächst arbeitet der EuGH den Unterschied zwischen der Annullierung und der Verspätung eines Fluges heraus.85 Als Zwischenergebnis hält er sodann fest, dass „sich aus dem Wortlaut der Verordnung Nr. 261/2004 nicht unmittelbar“ ein Entschädigungsanspruch bei Verspätungen ergibt (Rn. 41). In der weiteren Argumentation legt der EuGH dar, dass Art. 6 der Richtlinie über Unterstützungsleistungen bei Verspätungen wegen der Verschiedenartigkeit der Schäden und der erforderlichen Sofortmaßnahmen keine abschließende Regelung darstellt (Rn. 64 ff.). Zudem verweist er auf die Begründungserwägungen (Nr. 1 bis 4, vor allem auf die Gleichstellung von Verspätung und Annullierung in Nr. 15; vgl. Rn. 43 ff., 67) sowie objektiv-teleologisch auf den jeweiligen Zeitverlust, „der angesichts seines irreversiblen Charakters nur mit einer Ausgleichszahlung ersetzt werden
78 Vgl. nur Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 71; zum „Analogical Reasoning from Case to Case“ siehe näher Alexander/Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, S. 66 ff.; Schauer, Thinking like a lawyer, S. 85 ff.; Sunstein, Legal Reasoning and Political Conflict (1996), S. 62 ff. 79 Siehe näher Schön, 2. FS Canaris, S. 147, 150 ff.; Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann, Europäisches Privat- und Unternehmensrecht, § 3 Rn. 180 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 321 ff. mwN. 80 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, EU:C:1985:507 Rn. 14, 23. 81 Siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 318 ff. mwN. 82 Siehe dazu näher Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 57, 71 mwN. 83 EuGH v. 14.9.2010 – Rs. C-550/07 Akzo Nobel Chemicals Ltd u. a., EU:C:2010:512 Rn. 54 f. (unter Berufung auf Art. 20, 21 GRCh); EuGH v. 20.6.2019 – Rs. C-682/17 ExxonMobil, EU:C:2019:518 Rn. 90. 84 EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, EU:C:2009:716; zur Verspätung aufgrund verpasster Anschlussflüge EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-11/11 Air France ./. Folkerts, EU: C:2013:106 Rn. 25 ff.; s. zu dieser analogiebildenden Rspr. auch Wendehorst, 2. FS Canaris, S. 681, 701. 85 Eine Verspätung liegt, ungeachtet der Dauer, vor, wenn der Flug „entsprechend der ursprünglichen Flugplanung des Luftfahrtunternehmens durchgeführt wird“; Rn. 39 des Sturgeon-Urteils.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
kann“ (Rn. 52). Schließlich vergleicht der Gerichtshof beide Sachverhalte und kommt zu dem Ergebnis (Rn. 60): „Da die von den Fluggästen im Fall einer Annullierung und einer Verspätung erlittenen Schäden einander entsprechen, können die Fluggäste verspäteter Flüge und die annullierter Flüge nicht unterschiedlich behandelt werden, ohne dass gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen würde.“ Man mag diese Entscheidung im Hinblick auf die konkrete Feststellung einer Regelungslücke angreifen,86 methodisch demonstriert sie gleichwohl den klassischen Analogieschluss.87 88 35 Mitunter wird ein Ähnlichkeitsschluss auch zu früheren Judikaten gezogen. Einzel-
ne Gesetzgebungsakte werden ebenfalls miteinander verglichen. So hat der Gerichtshof im Fall „Coman“ hervorgehoben, dass aus der Freizügigkeitsrichtlinie (2004/38/ EG) zwar kein Aufenthaltsrecht des gleichgeschlechtlichen Ehegatten hergeleitet werden kann, als Grundlage jedoch Art. 21 Abs. 1 AEUV in Betracht kommt und die Voraussetzungen dabei nicht strenger sein dürfen als diejenigen nach der Freizügigkeitsrichtlinie.89 In einem anderen Fall hat der Gerichtshof geprüft, ob die in einer bestimmten Richtlinie vorgesehene Ausnahme im Anwendungsbereich einer anderen Richtlinie analog anzuwenden ist.90 Dies wurde in concreto zwar unter Hinweis auf den unplausiblen Methodensatz, dass Ausnahmen strikt auszulegen sind,91 abgelehnt, das Ergebnis aber zusätzlich in mehrfacher Hinsicht teleologisch abgesichert.92 36 Gelegentlich verwendet der EuGH auch ein argumentum a fortiori, mit dem dargelegt wird, dass die Gründe einer Norm in noch stärkerem Maße auf einen nicht explizit geregelten Fall zutreffen.93 So hat der EuGH beispielsweise in der Entscheidung Marra
86 Die Vorinstanzen in Deutschland und Österreich hatten Ausgleichsansprüche verneint, vgl. Rn. 16, 24 des Urteils; siehe auch kritisch Riesenhuber, in: Karakostas/Riesenhuber (Hrsg.), Methoden- und Verfassungsfragen der Europäischen Rechtsangleichung (2011), S. 55 ff. 87 Weiteres Beispiel: EuGH v. 2.7.2009 – Rs. C-302/08 Davidoff, EU:C:2009:422 Rn. 24 f.: „Ihrem Wortlaut nach ermöglicht es diese Vorschrift nur dem ‚Rechtsinhaber einer Gemeinschaftsmarke‘ (…) das Tätigwerden der Zollbehörden eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten herbeizuführen. Jedoch ist wegen der Gleichstellung international registrierter Marken mit Gemeinschaftsmarken der Schluss zwingend, dass gemäß der Intention des Gemeinschaftsgesetzgebers, der die Verordnung Nr. 1992/ 2003 erließ, die Anwendung des Art. 5 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1383/2003 auch vom Inhaber einer international registrierten Marke beansprucht werden kann.“; zur bestehenden Gesetzeslücke Jung/ Krebs, in: Jung u. a. (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in Europa, Rn. 168. 88 EuGH v. 2.4.2020 – Rs. C-897/19 Russische Föderation, EU:C:2020:262 Rn. 75; EuGH v. 21.9.2016 – Rs. C-478/15 Radgen, EU:C:2016:705 Rn. 47: „analog die Grundsätze heranzuziehen, die in der (…) angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt wurden.“ 89 EuGH v. 5.6.2018 – Rs. C-673/16 Coman, EU:C:2018:385 Rn. 25, 39. 90 EuGH v. 11.5.2006 – Rs. C-340/04 Carbotermo und Consorzio Alisei, EU:C:2006:308 Rn. 51. 91 Siehe zu dieser verfehlten Auslegungsregel ausführlich Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 62 ff.; Herberger, „Ausnahmen sind eng auszulegen“ (2017). 92 EuGH v. 11.5.2006 – Rs. C-340/04 Carbotermo und Consorzio Alisei, EU:C:2006:308 Rn. 55, 53 f. 93 Siehe hierzu auch Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 220 f. mwN.
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IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung
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ausgeführt: „Da Art. 23 dem Parlament (…) das Recht verleiht, schriftliche Erklärungen in Fällen abzugeben, in denen es um die Gültigkeit oder die Auslegung einer vom Parlament als Mitgesetzgeber erlassenen Handlung geht, ist ein solches Recht erst recht dann anzuerkennen, wenn es sich um ein Vorabentscheidungsersuchen handelt, das die Auslegung einer von diesem Organ als alleinigem Urheber erlassenen Handlung wie etwa der Geschäftsordnung betrifft.“94 Mitunter bezieht sich die Rechtsprechung mit einem argumentum a fortiori auch auf frühere Urteile, wie etwa in der Entscheidung Région Nord-Pas-de-Calais: „Der Gerichtshof hat (…) den Organen der Union das Recht zuerkannt, eine Entscheidung, mit der ihrem Adressaten ein Vorteil gewährt worden war, wegen ihrer Rechtswidrigkeit zurückzunehmen. Dieses Recht zur Rücknahme einer rechtswidrigen Entscheidung muss den Organen der Union a fortiori zustehen, wenn es wie bei der angefochtenen Entscheidung um einen nicht begünstigenden Akt geht, der sich als rechtswidrig erweist.“95 Der negative Gleichheitssatz verlangt, Ungleichartiges verschieden zu behandeln, 37 d. h. die für den Tatbestand T1 bestimmte Rechtsfolge R darf nicht auf den ungleich liegenden Tatbestand T2 entsprechend angewandt werden. Der EuGH demonstriert dies beispielhaft im Urteil „ÖBB-Personenverkehr“: „Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die jeweilige Lage der in den verschiedenen Verkehrssektoren tätigen Unternehmen nicht miteinander vergleichbar ist (…). Demnach können die im Unionsrecht für die anderen Beförderungsformen vorgesehenen Ausschlussgründe nicht analog auf die Beförderung im Eisenbahnverkehr angewandt werden.“96 Das Gebot der Ungleichbehandlung gilt auch dann, wenn der Normtext zu weit 38 gefasst ist und eine erforderliche Einschränkung vermissen lässt, also eine restriktive Interpretation erforderlich ist,97 die man nach deutschem Sprachgebrauch als teleologische Reduktion bezeichnet.98 Der EuGH differenziert zwar nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung,99 reflektiert jedoch restriktive Norminterpretationen und leitet diese oftmals mit dem methodischen Prolegomenon ein: „Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern
94 EuGH v. 21.10.2008 – Rs. C-200/07 und C-201/07 Alfonso Luigi Marra ./. Eduardo De Gregorio u. a., EU:C:2008:579 Rn. 22; s. ferner z. B. EuGH v. 27.10.1971 – Rs. 6/71 Rheinmühlen Düsseldorf ./. Einfuhrund Vorratsstelle, EU:C:1971:100 Rn. 5. 95 EuG v. 12.5.2011 – verb. Rs. T-267/08 und T-279/08 Région Nord-Pas-de-Calais u. a., EU:T:2011:209 Rn. 189 f. 96 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-509/11 ÖBB-Personenverkehr, EU:C:2013:613 Rn. 47 f. 97 Vgl. z. B. EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament ./. Kommission, EU: C:2008:176 Rn. 65 ff., 71; EuGH v. 4.10.1991 – Rs. C-183/90 van Dalfsen u. a., EU:C:1991:379 Rn. 19 ff.; siehe ferner auch Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 217 ff. mwN. 98 Einige Generalanwälte/innen verwenden allerdings bereits den Terminus „teleologische Reduktion“; s. GA Kokott, Schlussanträge v. 1.3.2018 – Rs. C-118/16 X Denmark AS, EU:C:2018:146 Rn. 94; GA Saugmandsgaard Øe, Schlussanträge v. 14.9.2017 – Rs. C-372/16 Sahyouni, EU:C:2017:686 Rn. 81; GA Bobek, Schlussanträge v. 22.6.2016 – Rs. C-177/15 Nelsons, EU:C:2016:474 Rn. 37. 99 Siehe bereits oben Rn. 2.
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auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.“100 39
Zur Veranschaulichung einer teleologischen Reduktion bietet sich eine aktuelle Entscheidung zu Art. 25 Abs. 1 S. 1 der 2. RL 77/91/EWG (= Art. 29 Abs. 1 S. 1 RL 2012/30/EU) an. Die Vorschrift lautet: „Jede Kapitalerhöhung muss von der Hauptversammlung beschlossen werden.“ Gleichwohl erhielt der irische Finanzminister in der Wirtschaftskrise 2008 ohne Beschluss der Hauptversammlung gegen eine Kapitaleinlage neue Aktien einer Gesellschaft. Nach Ansicht des EuGH erstreckt sich „der den Aktionären und Gläubigern einer Aktiengesellschaft durch die Zweite Richtlinie verliehene Schutz in Bezug auf das Gesellschaftskapital der Aktiengesellschaft (…) nicht auf eine derartige, in der Situation einer gravierenden Störung der Wirtschaft und des Finanzsystems eines Mitgliedstaats getroffene nationale Maßnahme, die eine aus der unzureichenden Eigenkapitalausstattung der betroffenen Aktiengesellschaft resultierende systemische Bedrohung der finanziellen Stabilität der Union beseitigen soll.“101
40 Wie bei anderen rechtsfortbildenden Urteilen ist auch bei einer teleologischen Reduk-
tion das Subsidiaritätsprinzip zu beachten. Die Argumentationslast für eine das Sekundärrecht erweiternde und zugleich das nationale Recht einschränkende Rechtsfortbildung ist folglich höher als im umgekehrten Fall der teleologischen Reduktion des Unionsrechts.102 41 Für die Annahme eines allgemeinen ungeschriebenen Grundsatzes des Sekundärrechts verlangt der EuGH hinreichende Indizien.103 Im Audiolux-Urteil wird betont, „dass der bloße Umstand, dass es im abgeleiteten [Unions-]recht verschiedene Vorschriften zum Schutz von Minderheitsaktionären gibt, für sich genommen noch nicht für den Nachweis der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des [Unions-]rechts genügt, insbesondere wenn ihr Anwendungsbereich auf sehr genau festgelegte und bestimmte Rechte beschränkt ist.“104 Einen Indizwert besitzen diese Vorschriften nur, „soweit sie zwingend formuliert sind und sich der genaue Inhalt des gesuchten Grundsatzes aus ihnen ergibt“.105 In concreto lehnt der EuGH die induktive Gewinnung eines allgemeinen Grundsatzes vor allem deshalb ab, weil sich die maßgeb-
100 EuGH v. 12.9.2019 – Rs. C-709/17 Kolachi Raj Industrial, EU:C:2019:717 Rn. 82; EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament ./. Kommission, EU:C:2008:176 Rn. 67 mwN. 101 EuGH v. 8.11.2016 – Rs. C-41/15 Dowling, EU:C:2016:836 Rn. 50; s. hierzu auch Jung/Krebs, in: Jung u. a. (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in Europa, Rn. 106, 175: „Weil der Fall allerdings eine Umwertung des Normzweckes vornahm, ist er zugleich zumindest im Grenzbereich zur Rechtsfortbildung contra legem.“ Die Einordnung als contralegal würde eine Missachtung der gesetzgeberischen Zweckvorstellung voraussetzen, könnte aber als exzeptioneller Ausnahmefall gerechtfertigt sein; s. unten Rn. 52. 102 Vgl. Langenbucher, ZGR 2010, 75, 84 f. 103 Siehe zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Maßstab der Lückenfüllung auch Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 168 ff. mwN. 104 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u. a., EU:C:2009:626 Rn. 34 m. Anm. Klöhn, LMK 2009, 294692; zurückhaltend auch GA Trstenjak, Schlussanträge v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 Dominguez ./. Centre informatique, EU:C:2011:559 Rn. 140. 105 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u. a., EU:C:2009:626 Rn. 34 mwN.
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IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung
lichen Vorschriften „nur auf ganz bestimmte Situationen beziehen“,106 es sich also lediglich um eine Reihe von Sondertatbeständen handelt.107 Als (positives) Beispiel eines induktiv gewonnenen Standards gilt die „Infopaq“-Entscheidung108 zur „Informationsgesellschaftsrichtlinie“ (2001/29/EG), in der aus verschiedenen Richtlinien ein allgemeiner europäischer „Werkbegriff“ abgeleitet wurde.109 Enthält eine Richtlinie oder Verordnung kein ausdrückliches Umgehungsverbot, 42 kann mitunter bereits eine restriktive oder extensive Auslegung eine Gesetzesumgehung ausschließen. Über die Wortlautgrenze hinaus kommt eine Analogie oder teleologische Reduktion in Betracht, falls die Parteien den Zweck eines gesetzlich nicht erlaubten Geschäfts mit Hilfe eines anderen, nicht explizit verbotenen zu erreichen suchen.110 bb) Das Primärrecht. Ebenso wie im nationalen Recht ist im Unionsrecht das nie- 43 derrangige Recht im Lichte des höherrangigen Rechts zu interpretieren.111 Im Stufenbau des Unionsrechts bildet dabei das Primärrecht die lex superior gegenüber dem Sekundärrecht. Diese Normenhierarchie folgt aus dem verfassungsähnlichen Charakter des Primärrechts, insbesondere aus der Regelung des Art. 288 AEUV über die Rechtsetzungskompetenz auf der sekundären Ebene.112 Vor allem der Systemgedanke sowie die Autorität der Vertragsparteien gebieten es, das abgeleitete Unionsrecht soweit als möglich primärrechtskonform auszulegen.113 Zu den materiellen Vorgaben des Primärrechts gehören alle rechtsstaatlichen 44 Grundsätze, namentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip.114 Daneben sind auch die
106 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u. a., EU:C:2009:626 Rn. 35. 107 Siehe zur methodologischen Abgrenzung auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 97 ff. 108 EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq International, EU:C:2009:465 Rn. 35, 37: „Ebenso sind gemäß Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 91/250, Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/9 und Art. 6 der Richtlinie 2001/ 116 Werke wie Computerprogramme, Datenbanken oder Fotografien nur urheberrechtlich geschützt, wenn sie Originale in dem Sinne sind, dass es sich bei ihnen um eine eigene geistige Schöpfung ihres Urhebers handelt. (…). Unter diesen Umständen kann das Urheberrecht im Sinne des Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29 nur in Bezug auf ein Schutzobjekt angewandt werden, bei dem es sich um ein Original in dem Sinne handelt, dass es eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt.“ 109 Siehe näher Metzger, ZEuP 2017, 836, 849 ff.; Roder, Die Methodik des EuGH im Urheberrecht (2016), S. 8 ff., 359 ff., 496. 110 Siehe Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 117; von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht (2009), insbes. S. 196 ff. zur Umgehungsrechtsprechung des EuGH. 111 Siehe nur EuGH v. 7.9.2017 – Rs. C-559/16 Bossen u. a., EU:C:2017:644 Rn. 19; EuGH v. 5.10.2016 – Rs. C-32/16 Wunderlich, EU:C:2016:753 Rn. 26 mwN. 112 Vgl. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 363 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 541 f. 113 Vgl. Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 22 ff.; Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 895 ff. 114 Siehe EuGH v. 30.1.2019 – Rs. C-220/17 Planta Tabak-Manufaktur, EU:C:2019:76 Rn. 50 ff.; Trstenjak/Beysen, EuR 2012, 265 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law (2. Aufl. 2006), S. 136 ff. mwN.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
Unionsgrundrechte im Rahmen einer primärrechtskonformen Rechtsfindung mitzuberücksichtigen.115 45 Terminologisch kann man im Hinblick auf die Wortlautgrenze zwischen einer primärrechtskonformen Auslegung und einer primärrechtskonformen Rechtsfortbildung unterscheiden.116 Eine primärrechtskonforme Interpretation kommt aber nur subsidiär in Betracht, wenn nach Ausschöpfung der herkömmlichen canones eine konkrete Regelungsabsicht nicht rekonstruierbar ist.117 Anderenfalls missachtet das Gericht das institutionelle Gleichgewicht.118 Verfolgt der Gesetzgeber einen primärrechtswidrigen Zweck, darf die rechtswidrige Norm ebenfalls nicht im Lichte des Primärrechts uminterpretiert werden. Der Gerichtshof hat vielmehr eine rechtswidrige Norm für nichtig zu erklären, und zwar entweder im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV oder einer Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 Abs. 1 AEUV.119 Dieses Prozedere ist sachlich geboten, weil dem Unionsgesetzgeber sonst potentielle Handlungsalternativen abgeschnitten würden und das institutionelle Gleichgewicht durch eine judikative Normsubstitution aus den Fugen geriete.120 Bestehen hingegen mehrere Auslegungsoptionen, ist diejenige vorzuziehen, die mit dem Primärrecht vereinbar ist.121
c) Die Grenzen der Lückenausfüllung 46 Das sekundäre Unionsrecht ist seiner Natur nach nicht analogiefeindlich, obgleich es zum Teil einen Ausnahmecharakter aufweist. Ein Analogieschluss darf zwar ein Regel-Ausnahme-Verhältnis durch die Herausbildung eines allgemeinen Prinzips nicht auf den Kopf stellen, doch sind zwei rechtsähnliche Sondertatbestände grundsätzlich gleich zu behandeln.122 Eine Lückenausfüllung scheidet im Wesentlichen nur in zwei Fällen aus: 47
aa) Analogieverbote. Der noch mögliche Wortsinn kann vor allem zum Schutz der
Grundrechte und Grundfreiheiten der Unionsbürger eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Dies gilt einmal für Regelungen, die eine Bestrafung anordnen oder zumindest einen strafähnlichen Charakter aufweisen (z. B. die Verhängung von Buß
115 Siehe näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 180 ff.; Fenyves/Kerschner/VonkilchRebhahn, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 66 ff. mwN. 116 Vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 197. 117 Siehe Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194. 118 Insofern kritisch zur EuGH-Rechtsprechung im Bereich des Arbeitsrechts Wank, RdA 2020, 1, 3 ff. 119 Vgl. auch Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. 120 Vgl. auch unten Rn. 51. 121 Vgl. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, EU:C:1983:369 Rn. 15; EuG v. 9.7.2009 – verb. Rs. T-246/08 und T-332/08 Melli Bank, EU:T:2009:266 Rn. 76; Jung/Krebs, in: Jung u. a. (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in Europa, Rn. 132 mwN. 122 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 181; Schilling, EuR 1996, 44, 52 f. mwN.
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IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung
geldern durch die EU-Kommission).123 Über den Grundsatz nulla poena sine lege stricta hinaus ist ein Analogieverbot grundsätzlich bei belastenden Eingriffen indiziert.124 Deshalb lehnt der EuGH namentlich im Abgabenrecht eine analoge Anwendung von Regelungen prinzipiell ab, die den einzelnen Bürger belasten.125 Ebenso müssen nach ständiger Rechtsprechung gerichtliche Zuständigkeitsregeln vorhersehbar sein, sodass „eine Auslegung über die ausdrücklich in der Verordnung (EG 44/2001) vorgesehenen Fälle hinaus unzulässig (ist).“126 bb) Unausfüllbare Lücken. Neben Lücken, bei denen eine Ausfüllung aufgrund ei- 48 nes Analogieverbotes unzulässig ist, gibt es Lücken, bei denen eine Ausfüllung rechtlich nicht möglich ist.127 Der EuGH sieht sich zu einer Lückenausfüllung außer Stande, wenn bloße Zweckmäßigkeitserwägungen zu treffen sind. Das Gleiche gilt, wenn mehrere primärrechtskonforme Regelungsalternativen bestehen.128 Der EuGH verweist zur Lückenausfüllung dann folgerichtig auf die nationalen Gerichte und Gesetzgeber129 sowie die zuständigen Unionsorgane.130
123 Vgl. EuGH v. 25.9.1984 – Rs. 117/83 Könecke, EU:C:1984:288 Rn. 11, 13, 16; EuGH v. 29.3.2011 – Rs. C-352/09 ThyssenKrupp, EU:C:2011:191 Rn. 80: „(…) verlangt, dass eine unionsrechtliche Regelung klar die Zuwiderhandlungen und die Sanktionen definiert (…)“; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 76 f.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 289 ff. mwN. 124 Vgl. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 402 f.; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 77; einschränkend nach Maßgabe des „no surprise effect approach“ Rademacher, EPL 23 (2017), 319, 343 ff. 125 EuGH v. 15.12.1987 – Rs. 325/85 Irland ./. Kommission, EU:C:1987:546 Rn. 18; siehe auch EuGH v. 5.5.2011 – Rs. C-201/10 und C-202/10 Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas, EU:C:2011:282 Rn. 52: „Dürfte ein nationales Gericht in einer solchen Situation (…) eine bisher angewandte bestimmte Verjährungsfrist verkürzen, um sie auf ein mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbarendes Maß zu bringen, obwohl ihm jedenfalls in seiner Rechtsordnung eine unmittelbar anwendbare unionsrechtliche Verjährungsvorschrift zur Verfügung steht, liefe dies den Grundsätzen zuwider, dass zum einen eine Verjährungsfrist, um ihren Zweck, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, zu erfüllen, im Voraus festgelegt sein muss (…) und dass zum anderen jede ‚analoge‘ Anwendung einer Verjährungsfrist für den Betroffenen hinreichend vorhersehbar sein muss (…).“ 126 EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-616/10 Solvay, EU:C:2012:445 Rn. 21; EuGH v. 1.12. 2011 – Rs. C-145/10 Painer, EU:C:2011:798 Rn. 74 f. mwN; s. hierzu auch Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann, Europäisches Privat- und Unternehmensrecht, § 3 Rn. 70 f. 127 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 172. 128 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 221; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 324 ff. 129 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, EU:C:2000:469 Rn. 48 f.; EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-566/07 Stadeco, EU:C:2009:380 Rn. 35; s. ferner auch schon EuGH v. 11.5.1983 – Rs. 87/82 Rogers, EU:C:1983:131 Rn. 21. 130 EuGH v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-310/98 und C-406/98 Met-Trans, EU:C:2000:154 Rn. 32; EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel u. a., EU:C:1977:160 Rn. 13.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
2. Die Rechtsfindung contra legem 49 Mit dem Gebot richterlicher Gesetzesbindung korrespondiert ein grundsätzliches Ver-
bot richterlicher Gesetzesderogation. Der EuGH ist sich dieser Einschränkung bewusst und betont ausdrücklich seine fehlende Kompetenz zur Normkorrektur bei Bestimmungen, die er für unbefriedigend erachtet.131 Wie bei jedem Prinzip gibt es allerdings auch in Bezug auf die richterliche Gesetzesbindung Ausnahmen.132 Folgerichtig bestimmt Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, dass der Gerichtshof das „Recht“ und nicht allein das „Gesetz“ zu wahren hat.133
a) Die Feststellung der Nichtigkeit 50 Im Unionsrecht sind die grundsätzlichen rechtstheoretischen Relativierungen der
richterlichen Gesetzesbindung insofern hinfällig, als der EuGH gem. Art. 263 Abs. 1, 267 Abs. 1 lit. b) AEUV eine Norm für nichtig erklären kann.134 Diese Verwerfungskompetenz umfasst alle Fälle, in denen eine Sekundärrechtsnorm mit dem Primärrecht kollidiert. Den Maßstab bilden dabei insbesondere auch die in den Mitgliedstaaten anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätze gem. Art. 2 EUV135 sowie die gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 3 EUV einbezogenen Grundrechte der GRCh und der EMRK.
131 Siehe z. B. EuGH v. 26.4.1972 – Rs. 92/71 Interfood, EU:C:1972:30 Rn. 5; weitere Nachweise bei Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 41; kritisch zu einzelnen Entscheidungen namentlich Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 395 ff. mwN; aus steuerrechtlicher Sicht Leitl, UVR 2008, 138 ff.; aus arbeitsrechtlicher Sicht Wank, FS Birk (2008), S. 929 ff. 132 Siehe dazu näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 139 ff. 133 Analoge Formulierungen finden sich auch in den meisten anderen Textfassungen, vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91 f. mwN; kritisch zur Interpretation von Art. 220 EG als Rechtsfortbildungskompetenz Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts (2006), S. 145, der sich einerseits vom Normtext des Art. 220 EG a. F. löst, um andererseits die (bereits im nationalen Recht verfehlte) These von der notwendigen Rückführung richterlicher Entscheidungen auf Normtexte aufrechterhalten zu können. 134 Vgl. z. B. EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, EU:C:2003:42 Rn. 72 (Verstoß gegen die Begründungspflicht); EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, EU:C:2000:544 Rn. 115 ff. (fehlende Rechtsgrundlage); EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C‑92/09 und C‑93/09 Schecke u. a. ./. Hessen, EU:C:2010:662 Rn. 53 ff. (Grundrechte/Datenschutz); der EuGH erklärt eine Norm aber nur äußerst selten für nichtig; in aller Regel wird die Gültigkeit bestätigt, wie etwa in: EuGH v. 17.10.2013 – Rs. C-101/12 Schaible ./. Baden-Württemberg, EU:C:2013:661 Rn. 76 ff., wonach der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz gem. Art. 20 GRCh nicht zulasten von Schaf- gegenüber Rinderhaltern verletzt wird, weil die eingeführte elektronische Kennzeichnung schrittweise erfolgen darf und erst zukünftig anhand der erworbenen Erfahrung zu überprüfen ist; siehe zur Kontrolle durch den Gerichtshof auch Everling, FG Gündisch (1999), S. 92 ff., mit Kritik an dessen relativ weitgehender Zurückhaltung gegenüber dem Unionsgesetzgeber; Huber, in: Kirchhof u. a., Europa: In Vielfalt geeint! (2020), S. 143, 151 ff. 135 Siehe dazu auch schon oben Rn. 44 sowie Metzger, Extra legem, intra ius, S. 458 ff. mwN.
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V. Schlussbetrachtung
b) Die Folgen der Nichtigkeit Eine Nichtigkeitsfeststellung bewirkt in der Regel eine erneute Zuständigkeit des Uni- 51 onsgesetzgebers. Dieser kann nunmehr anstelle der nichtigen Norm über rechtmäßige Alternativentscheidungen befinden. Angesichts dieser kompetentiellen Rückverlagerung erweist sich eine Nichtigkeitsfeststellung als der moderateste Eingriff in das Gewaltenteilungsgefüge. Dem trägt die subjektive Auslegungstheorie dadurch Rechnung, dass sie bei einer Abweichung von der gesetzgeberischen Regelungsabsicht grundsätzlich eine Nichtigkeitserklärung verlangt. Der objektiven Auslegungstheorie gelingt es zwar, eine Nichtigkeitserklärung tendenziell zu vermeiden, doch besteht die Gefahr, dass der Verzicht auf die Normkassation um den Preis einer richterlichen Normsetzung erkauft wird. Der Gerichtshof ist nur ausnahmsweise zu einer eigenen Lückenausfüllung befugt, falls das Primärrecht keine Alternativen eröffnet und eine bestimmte Regelung fordert.
c) Die Einzelfallgerechtigkeit Ungeachtet der rechtsstaatlichen Standards des Primärrechts kann die sehr seltene Si- 52 tuation eintreten, dass das allgemein gefasste Sekundärrecht den Besonderheiten des Einzelfalles nicht gerecht wird. Eine Nichtigkeitserklärung durch den Gerichtshof scheidet in einer solchen Konstellation aus, denn der Fehler liegt hier „weder im Gesetz noch beim Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache“.136 Ein contra-legem-Judizieren kommt also in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen in Betracht, wenn der konkrete Streitfall vom gesetzlich fixierten Normaltypus so eklatant abweicht, dass die Gesetzesbindung zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.
V. Schlussbetrachtung Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Gerichtshof auch im Sekundärrecht zur 53 Rechtsfortbildung grundsätzlich befugt ist. Er hat dabei weder die Aufgabe eines „Integrationsmotors“, noch unterliegt er einem judicial self-restraint. Ersteres birgt die Gefahr der Kompetenzüberschreitung durch eine eigenständige Integrationspolitik, Letzteres die Gefahr der Kompetenzunterschreitung durch eine Missachtung unionsrechtlicher Vorgaben. Der Gerichtshof muss bei seiner Kompetenzausübung auch keiner bestimmten Methodenterminologie folgen, solange die maßgeblichen Sachkriterien beachtet werden.137 Dazu zählen vor allem die Grundsätze der horizontalen und
136 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik (Übersetzung von O. Gigon) (7. Aufl. 2006), 1137b 18 f.; siehe dazu auch Schauer, Thinking like a lawyer, S. 119 f. 137 Siehe i.Ü. die berechtigte Forderung von Kühling/Lieth, EuR 2003, 371, 384 nach einer behutsamen Übertragung nationaler dogmatischer Figuren auf unionsrechtliche Fragestellungen.
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§ 12 Die Rechtsfortbildung
vertikalen Gewaltenteilung sowie das Prinzip des Vertrauensschutzes. Der Gerichtshof ist deshalb in seiner Methodenwahl nicht frei.138 Er hat vielmehr auch bei der Fortbildung des sekundären Unionsrechts in erster Linie die Wertungen des Primärrechts zu achten.
138 A. A. Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To say What the Law of the EU is, S. 4: „(…) the ECJ is, in principle, free to choose which of the methods of interpretation at its disposal best serves the EU legal order“; kritisch hierzu Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 28; siehe auch BVerfG, NJW 2020, 1647 (Rn. 112); BVerfGE 142, 123 (Rn. 160): „Eine offenkundige Außerachtlassung der im europäischen Rechtsraum überkommenen Auslegungsmethoden (…) ist vom Mandat des Art. 19 I 2 EUV nicht umfasst.“
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Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht § 13 Die richtlinienkonforme Auslegung Literatur: Marietta Auer, Neues zu Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung, NJW 2007, 1106–1109; Ulrike Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht – Ein rechtsvergleichender Beitrag zur europäischen Methodendiskussion (2007); Nicole Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis (2013); Christian Baldus/Thomas Raff, Unionsrechtliche Überformung mitgliedstaatlicher Methodik?, GPR 2016, 71–76; dies., Quelle in Leipzig?, GPR 2017, 158–162; Florian Braunschmidt, Der Widerruf im Bankrecht – Richtlinienkonforme Auslegung und Belehrungswirren, NJW 2014, 1558–1560; Winfried Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung – Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie (1994); Martin Brenncke, Europäisierung der Methodik richtlinienkonformer Rechtsfindung, EuR 2015, 440–461; ders., Judicial Law-Making in English and German Courts (2018); ders., Hybrid Methodology for the EU Principle of Consistent Interpretation, Statute Law Review 39 (2018), 134–154; Simon Burger, Richtlinienkonforme Auslegung als Ersatz der legislativen Umsetzung?, DVBl. 2013, 1431–1439; Peter Bydlinski, Richtlinienkonforme „gesetzesübersteigende“ Rechtsfindung und ihre Grenzen, JBl. 2015, 2–16; ders., Richtlinienkonforme Rechtsfindung: Die Lex-lata-Grenze und die Kernfunktion von Gesetzesrecht, ZfRV 2019, 172–176; Claus-Wilhelm Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Helmut Koziol/Peter Rummel (Hrsg.), Im Dienste der Gerechtigkeit – Festschrift für Franz Bydlinski (2002), S. 47–103; ders., Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung, in: Hartmut Bauer u. a. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat – Festschrift für Reiner Schmidt zum 70. Geburtstag (2006), S. 41–60; Ronny Domröse, Der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Anwendung des autonomen Privatrechts der Mitgliedstaaten, JbJZ 2009, S. 109–125; Alexander Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich (2012); Wolfgang Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung (2010); Ulrich Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, RabelsZ 59 (1995), 598–644; Martin Ebers, Rechte, Rechtsbehelfe und Sanktionen im Unionsprivatrecht (2016); Christian N.K. Franklin, Limits to the Limits of the Principle of Consistent Interpretation? Commentary on the Court’s Decision in Spedition Welter, E.L. Rev. 40 (2015), 910–924; Martin Franzen, „Heininger“ und die Folgen: ein Lehrstück zum Gemeinschaftsprivatrecht, JZ 2003, 321–332; Tino Frieling, Gesetzesmaterialien als Grenze richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, JbJZ 2015, S. 37–73; Olivier Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts – Erscheinungsformen und dogmatische Grundlage eines Rechtsprinzips des Unionsrechts (2009); Martin Gebauer, „Nationales“ Europarecht – Zur Anwendung „ausländischen“ Europarechts durch deutsche Gerichte, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht (2003), S. 187–201; ders., Umsetzungsprobleme von EGRichtlinien und ihre Lösung, AnwBl. 2007, 314–319; Nils Grosche, Effectiveness and Application of EU Law in German Courts – A Constitutional Perspective, in: Christian N.K. Franklin (ed.), The Effectiveness and Application of EU and EEA Law in National Courts – Principles of Consistent Interpretation (2018); ders./Jan Höft, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ohne Grenzen?, NJOZ 2009, 2294–2309; Stefan Grundmann, Richtlinienkonforme Auslegung im Bereich des Privatrechts – insbesondere: der Kanon der nationalen Auslegungsmethoden als Grenze?, ZEuP 1996, 399–424; Sim Haket, The EU Law Duty of Consistent Interpretation in German, Irish and Dutch Courts (2019); Helene Hayden, Richtlinienkonforme Interpretation und Methodenautonomie, ZfRV 2016, 244–251; Carsten Herresthal, Rechts
Roth/Jopen https://doi.org/10.1515/9783110614305-013
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
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380
§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia, EU:C:2012:306; EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 VALE, EU: C:2012:440; EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-42/11 Lopes Da Silva Jorge, EU:C:2012:517; EuGH v. 11.9.2012 – Rs. C43/10 Nomarchiaki Aftodioikisi Aitoloakarnanias u. a., EU:C:2012:560; EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C581/10 und C-629/10 Nelson u. a., EU:C:2012:657; EuGH v. 17.1.2013 – Rs. C-206/11 Köck, EU:C:2013:14; EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-11/11 Folkerts, EU:C:2013:106; EuGH v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, EU:C:2013:180; EuGH v. 18.4.2013 – Rs. C-413/11 Germanwings, EU:C:2013:246; EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-81/12 Asociaţia Accept, EU:C:2013:275; EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-397/11 Jőrös, EU:C:2013:340; EuGH v. 19.9.2013 – Rs. C-140/12 Brey, EU:C:2013:565; EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-59/12 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, EU:C:2013:634; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU: C:2013:650; EuGH v. 24.10.2013 – Rs. C-151/12 Kommission ./. Spanien, EU:C:2013:690; EuGH v. 24.10. 2013 – Rs. C-22/12 Haasová, EU:C:2013:692; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, EU:C:2013:829; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, EU:C:2013:864; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2014:2; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-429/12 Pohl, EU:C:2014:12; EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-371/12 Petillo, EU:C:2014:26; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, EU:C:2014:110; EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-599/12 Jetair und BTWE Travel4you, EU:C:2014:144; EuGH v. 9.4.2014 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, EU:C:2014:242; EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, EU: C:2014:282; EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 u. a. Specht u. a., EU:C:2014:2005; EuGH v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 Deckmyn, EU:C:2014:2132; EuGH v. 4.9.2014 – Rs. C-162/13 Vnuk, EU:C:2014:2146; EuGH v. 10.9.2014 – Rs. C-34/13 Kušionová, EU:C:2014:2189; EuGH v. 17.9.2014 – Rs. C-562/12 Liivimaa Lihaveis, EU:C:2014:2229; EuGH v. 5.11.2014 – Rs. C-311/13 Tümer, EU:C:2014:2337; EuGH v. 12.2.2015 – Rs. C-396/13 Sähköalojen ammattiliitto, EU:C:2015:86; EuGH v. 16.4.2015 – Rs. C-388/13 Nemzeti, EU:C:2015:225; EuGH v. 26.11.2015 – Rs. C-166/14 MedEval, EU:C:2015:779; EuGH v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 Finanmadrid, EU: C:2016:98; EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri (DI), EU:C:2016:278; EuGH v. 13.7.2016 – Rs. C-187/15 Pöpperl, EU:C:2016:550; EuGH v. 8.11.2016 – Rs. C-554/14 Ognyanov, EU:C:2016:835; EuGH v. 9.11.2016 – Rs. C-149/15 Wathelet, EU:C:2016:840; EuGH v. 17.11.2016 – Rs. C-216/15 Betriebsrat der Ruhrlandklinik, EU:C:2016:883; EuGH v. 29.6.2017 – Rs. C-579/15 Popławski, EU:C:2017:503; EuGH v. 7.9.2017 – Rs. C-559/16 Bossen u. a., EU:C:2017:644; EuGH v. 21.9.2017 – Rs. C-605/15 Aviva, EU: C:2017:718; EuGH v. 10.10.2017 – Rs. C-413/15 Farrell, EU:C:2017:745; EuGH v. 19.10.2017 – Rs. C-295/16 Eurapamur Alimentación, EU:C:2017:782; EuGH v. 24.1.2018 – verb. Rs. C-616/16 und C-617/16 Pantuso u. a., EU:C:2018:32; EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-485/17 Verbraucherzentrale Berlin, EU: C:2018:642; EuGH v. 6.9.2018 – Rs. C-17/17 Hampshire, EU:C:2018:674; EuGH v. 11.9.2018 – Rs. C-68/17 IR, EU:C:2018:696; EuGH v. 13.9.2018 – Rs. C-176/17 Profi Credit Polska, EU:C:2018:711; EuGH v. 4.10.2018 – Rs. C-384/17 Link Logistik N&N, EU:C:2018:810; EuGH v. 17.10.2018 – Rs. C-167/17 Klohn, EU:C:2018:833; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871; EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-684/16 Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, EU:C:2018:874; EuGH v. 21.11.2018 – Rs. C-452/17 ZAKO, EU:C:2018:935; EuGH v. 13.12.2018 – Rs. C-385/17 Hein, EU: C:2018:1018; EuGH v. 22.1.2019 – Rs. C-193/17 Cresco Investigation, EU:C:2019:43; EuGH v. 23.1.2019 – Rs. C-430/17 Walbusch Walter Busch, EU:C:2019:47; EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Pawlak, EU:C:2019:260; EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402; EuGH v. 23.5.2019 – Rs. C-52/18 Fülla, EU: C:2019:447; EuGH v. 24.6.2019 – Rs. C-573/17 Popławski, EU:C:2019:530; EuGH v. 26.6.2019 – Rs. C-407/18 Addiko Bank, EU:C:2019:537; EuGH v. 11.7.2019 – Rs. C-502/18 České aerolinie, EU:C:2019:604; EuGH v. 29.7.2019 – Rs. C-516/17 Spiegel Online, EU:C:2019:625; EuGH v. 29.7.2019 – Rs. C-354/18 Rusu, EU: C:2019:637; EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C-331/18 Pohotovost', EU:C:2019:665; EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701; EuGH v. 1.10.2019 – Rs. C-673/17 Planet 49, EU:C:2019:801; EuGH v. 7.11.2019 – verb. Rs. C-419/18 und C-483/18 Profi Credit Polska, EU:C:2019:930; EuGH v. 5.12.2019 – verb. Rs. C-708/17 und C-725/17 EVN Bulgaria Toplofikatsia, EU:C:2019:1049; EuGH v. 18.12.2019 – Rs. C-666/18 IT Development, EU:C:2019:1099; EuGH v. 19.12.2019 – verb. Rs. C-453/18 und C-494/18 Bondora, EU:C:2019:1118; EuGH v. 19.12.2019 – verb. Rs. C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 Rust-Hackner u. a., EU:C:2019:1123;
Roth/Jopen
381
§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167; EuGH v. 11.3.2020 – Rs. C-511/17 Lintner, EU:C:2020:188; EuGH v. 26.3. 2020 – Rs. C-66/19 Kreissparkasse Saarlouis, EU:C:2020:242; EuGH v. 23.4.2020 – Rs. C-401/18 Herst, EU: C:2020:295; EuGH v. 4.6.2020 – Rs. C-495/19 Kancelaria Medius, EU:C:2020:431; EuGH v. 11.6.2020 – Rs. C-146/19 SCT, EU:C:2020:464; EuGH v. 1.10.2020 – Rs. C-526/19 Entoma, EU:C:2020:769; EuGH v. 8.10.2020 – Rs. C-568/19 Subdelegación del Gobierno en Toledo, EU:C:2020:807; EuGH v. 10.12.2020 – Rs. C-735/19 Euromin Holdings (Cyprus), EU:C:2020:1014; EuGH v. 11.2.2021 – Rs. C-760/18 M.V. u. a., EU: C:2021:113.
BVerfG v. 11.6.1980 – BVerfGE 54, 277; BVerfG v. 8.2.1983 – BVerfGE 63, 131; BVerfG v. 15.1.1985 – BVerfGE 69, 92; BVerfG v. 12.3.1985 – BVerfGE 69, 209; BVerfG v. 14.5.1985 – BVerfGE 69, 315; BVerfG v. 22.10.1985 – BVerfGE 71, 81; BVerfG v. 3.4.1990 – BVerfGE 82, 6; BVerfG v. 26.6.1991 – BVerfGE 84, 212; BVerfG v. 3.11.1992 – BVerfGE 87, 273; BVerfG v. 2.3.1993 – BVerfGE 88, 103; BVerfG v. 30.3.1993 – BVerfGE 88, 145; BVerfG v. 26.4.1994 – BVerfGE 90, 263; BVerfG v. 12.11.1997 – BVerfGE 96, 375; BVerfG v. 8.4.1998 – BVerfGE 98, 49; BVerfG v. 17.2.2000, NJW 2000, 2015; BVerfG v. 14.10.2004 – BVerfGE 111, 307; BVerfG v. 7.6.2005 – BVerfGE 113, 88; BVerfG v. 14.6.2007 – BVerfGE 118, 212; BVerfG v. 15.1.2009 – BVerfGE 122, 248; BVerfG v. 25.1.2011 – BVerfGE 128, 193; BVerfG v. 20.6.2012 – BVerfGE 131, 268; BVerfG v. 11.7.2012 – BVerfGE 132, 99; BVerfG v. 6.6.2018 – BVerfGE 149, 126; BVerfG v. 29.1.2019 – BVerfGE 158, 1; BVerfG v. 29.7.2004 – BVerfGK 3, 348; BVerfG v. 30.8.2010 – BVerfGK 17, 533; BVerfG v. 4.4.2011, NJW 2011, 1723; BVerfG v. 26.9.2011 – BVerfGK 19, 89; BVerfG v. 17.1.2013, ZIP 2013, 924; BVerfG v. 31.7.2013, NJW 2013, 2957; BVerfG v. 3.3.2014, WM 2014, 647; BVerfG v. 2.2.2015, NJW 2015, 1294; BVerfG v. 10.12.2014, ZIP 2015, 335; BVerfG v. 23.5.2016, WM 2016, 1431; BVerfG v. 28.7.2016, WM 2016, 1780; BVerfG v. 17.11.2017, NJW-RR 2018, 305; BGH v. 8.5.1992, NJW 1992, 3106; BGH v. 5.2.1998 – BGHZ 138, 55; BGH v. 9.4.2002 – BGHZ 150, 248; BGH v. 9.4.2002 – BGHZ 150, 264; BGH v. 12.11.2002 – BGHZ 152, 331; BGH v. 23.6.2003, NJW 2003, 2685; BGH v. 14.10.2003, NJW 2004, 154; BGH v. 8.6.2004, NJW 2004, 2744; BGH v. 14.6.2004 – BGHZ 159, 280; BGH v. 3.11.2004, NJW 2005, 53; BGH v. 9.11.2004, NJW 2005, 418; BGH v. 22.12.2004, NJW 2005, 1045; BGH v. 16.8.2006, NJW 2006, 3200; BGH v. 26.11.2008 – BGHZ 179, 27; BGH v. 24.8.2010, NVwZ-RR 2011, 55; BGH v. 5.10.2010 – BGHZ 187, 231; BGH v. 13.4.2011 – BGHZ 189, 196; BGH v. 21.12.2011 – BGHZ 192, 148; BGH v. 21.12.2011, NJW 2012, 2276; BGH v. 24.4.2012, NJW 2012, 2422; BGH v. 26.6.2012, NJW 2012, 2873; BGH v. 26.6.2012, BKR 2013, 17; BGH v. 17.10.2012 – BGHZ 195, 135; BGH v. 7.5.2013, NJW-RR 2013, 1065; BGH v. 16.5.2013, NJW 2013, 2674; BGH v. 8.1.2014, NVwZ 2014, 1111; BGH v. 14.1.2014, NJW 2014, 1244; BGH v. 28.1.2014 – BGHZ 200, 38; BGH v. 7.5.2014 – BGHZ 201, 101; BGH v. 13.5.2014 – BGHZ 201, 168; BGH v. 28.5.2014 – BGHZ 201, 290; BGH v. 16.7.2014 – BGHZ 202, 102; BGH v. 17.12.2014, NJW 2015, 1023; BGH v. 16.12.2014 – BGHSt 60, 121; BGH v. 29.7.2015, NJW 2015, 3098; BGH v. 28.10.2015 – BGHZ 207, 209; BGH v. 23.3.2016, VersR 2016, 1169; BGH v. 7.6.2016 – BGHZ 210, 292; BGH v. 12.10.2016 – BGHZ 212, 224; BGH v. 28.6.2017 – BGHZ 215, 126; BGH v. 5.10.2017, NJW-RR 2018, 424; BGH v. 19.4.2018, NJW 2018, 3242; BGH v. 17.5.2018, EuZW 2018, 732; BGH v. 3.7.2018 – BGHZ 219, 161; BGH v. 3.7.2018, NJW-RR 2018, 1204; BGH v. 26.3.2019 – BGHZ 221, 325; BGH v. 19.3.2019, ZIP 2019, 1006; BGH v. 15.10.2019, NJW 2020, 148; BGH v. 11.12.2019, NJW 2020, 982; BGH v. 29.1.2020 – BGHZ 224, 302; BGH v. 18.3.2020, VersR 2020, 614; BGH v. 31.3.2020, WM 2020, 838; BGH v. 14.5.2020 – BGHZ 225, 297; BGH v. 28.5.2020, NJW 2020, 2540; BGH v. 24.6.2020, NJW 2020, 3035; BGH v. 26.8.2020 – BGHZ 227, 15; BGH v. 22.9.2020, NJW 2020, 3649; BGH v. 27.10.2020, ZIP 2020, 2391; BGH v. 5.11.2020, WM 2021, 117; BGH v. 10.11.2020, ZIP 2021, 26; BGH v. 18.11.2020, BB 2021, 590; BGH v. 10.12.2020, WRP 2021, 201; BGH v. 16.2.2021; ZIP 2021, 566; BAG v. 23.3.2006 – BAGE 117, 281; BAG v. 24.3.2009 – BAGE 130, 119; BAG v. 17.11.2009 – BAGE 132, 247; BAG v. 23.3.2010 – BAGE 134, 1; BAG v. 4.5.2010 – BAGE 134, 196; BAG v. 23.6.2010 – BAGE 135, 34; BAG v. 9.9.2010 – BAGE 135, 278; BAG v. 7.8.2012 – BAGE 142, 371; BAG v. 10.12.2013 – BAGE 146, 384; BAG v. 22.10.2015 – BAGE 153, 138; BAG v. 28.7.2016 – BAGE 156, 23; BAG v. 25.10.2018 – BAGE 164, 117; BAG v. 23.1.2019 – BAGE 165, 116; BAG v. 19.2.2019 – BAGE 165, Roth/Jopen
382
§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
376; BAG v. 20.2.2019 – BAGE 166, 1; BAG v. 19.11.2019 – BAGE 168, 360; BAG v. 13.2.2020, NZA 2020, 1006; BAG v. 7.7.2020, NZA 2020, 1541; BVerwG v. 19.7.2012 – BVerwGE 143, 369; BVerwG v. 20.12.2012 – BVerwGE 145, 290; BVerwG v. 25.6.2014 – BVerwGE 150, 74; BVerwG v. 31.1.2017 – BVerwGE 157, 249; BVerwG v. 21.8.2018 – BVerwGE 162, 382; BVerwG v. 10.4.2019, NVwZ 2019, 1840; BFH v. 15.2.2012, BStBl II 2013, 712; BFH v. 8.3.2012, BStBl II 2012, 630; BFH v. 28.5.2013, BStBl II 2013, 879; BFH v. 8.8.2013 – BFH/NV 2014, 123; BFH v. 11.12.2013, BStBl II 2014, 428; BFH v. 22.8.2013 – BFH/ NV 2014, 278; BFH v. 11.11.2014 – BFH/NV 2015, 629; BFH v. 22.1.2020, BStBl II 2020, 601; KG v. 29.11.2010, ZIP 2011, 1048; KG v. 26.9.2011, WRP 2012, 102; OLG München v. 20.6.2013, VersR 2013, 1025; OLG Köln v. 26.2.2016, WRP 2016, 640; OLG Frankfurt v. 11.7.2019, DAR 2020, 89; OLG Celle v. 23.7.2019, NJW 2019, 3596; OLG Hamm v. 23.7.2019, NJW 2020, 247; OLG Düsseldorf v. 28.1.2020, NZBau 2020, 393; OLG Celle v. 9.12.2020 – 14 U 92/20 (bei juris); öOGH, ÖJZ 2011, 603; öOGH, ecolex 2014, 634; öOGH, GRUR Int. 2017, 455; öOGH, GRUR Int. 2019, 299. Systematische Übersicht I. II.
Einleitung 1–2 Unionsrechtliche Vorgaben 3–42 1. Grundlagen im Unionsrecht 3–8 a) Auslegung der lex fori 3–5 b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates 6–8 2. Richtlinien- und unionsrechtskonforme Auslegung 9–10 3. Zeitpunkt 11 4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit 12–15 5. Anwendungsbereich 16 6. „Auslegung“ und Rechtsfindung 17–20 7. Methodische und inhaltliche Vorgaben für die nationalen Gerichte 21–34 a) „So weit wie möglich“ 22 b) Umsetzungsgesetzgebung und Absicht des Gesetzgebers 23–25 c) Äquivalenzgrundsatz 26–27 d) Effektivitätsgrundsatz 28–30 e) Besonderheiten bei „quasi wörtlicher“ Übernahme von Richtlinienbestimmungen 31 f) Verpflichtung zur Änderung der Rechtsprechung 32–33 g) Entscheidung anhand der Umstände des Einzelfalls 34
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8.
Schranken der richtlinienkonformen Auslegung 35–42 a) Unionsrechtliche Schranken 35–40 aa) Allgemeine Rechtsgrundsätze 35 bb) Insbesondere: contra legem Auslegung 36–39 cc) Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen? 40 b) Schranken des nationalen (Verfassungs-)Rechts 41–42 III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht 43–76 1. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts 43–44 a) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG 43 b) Wille des deutschen Gesetzgebers 44 2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden 45 3. Richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel 46–48 4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen; „Auslegung im engeren Sinne“ 49–50 5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung 51–76
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I. Einleitung
a)
b)
c)
d)
Zulässigkeit und Grenzen der Rechtsfortbildung im Allgemeinen 52–54 Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG 55 Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? 56–59
e) f) g)
Die Instrumente der Rechtsfortbildung 60 Wortlaut und Regelungszweck 61–64 Einzelfälle 65–72 Vertrauensschutz 73–76
I. Einleitung Die Richtlinie als sekundärrechtlicher Gesetzgebungsakt hat – anders als die Verord- 1 nung (Art. 288 Abs. 2 AEUV) – als Adressaten die Mitgliedstaaten und verpflichtet diese zur Umsetzung ihrer Ziele in die jeweilige nationale Rechtsordnung (näher dazu in diesem Band § 6 Rn. 54 ff.). Nach ihrem Grundkonzept begründet sie keine unmittelbare Wirkung im Verhältnis zu den einzelnen Bürgern und zwischen den Bürgern untereinander (Rn. 12 f.; s. aber Rn. 14 f.). Richtlinien entfalten diesbezüglich aber indirekte Wirkungen: Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) geht von einer unionsrechtlichen Pflicht aller nationalen Träger der öffentlichen Gewalt, Gerichte und Behörden (näher Rn. 4),1 aus, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen. Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage, welche Konsequenzen sich im Einzelnen aus der Existenz von Richtlinien für die Auslegung des nationalen Rechts ergeben. Dabei sind zunächst die unionsrechtlichen Grundlagen der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts sowie ihre Grenzen zu skizzieren (unter II.). Sodann geht es um die Anwendung des Grundsatzes der richtlinienkonformen Auslegung im Rahmen des deutschen Rechts (unter III.). Die richtlinienkonforme Auslegung hat als ihren Gegenstand das nationale Recht. 2 Es geht damit im Folgenden nicht um die dieser Auslegung des jeweiligen nationalen Rechts vorausliegenden Fragen der Auslegung von Richtlinien und ggf. ihrer Fortbildung durch den EuGH (dazu in diesem Band § 10 und § 12). Nicht behandelt werden (zur Vermeidung von Überschneidungen zu anderen Beiträgen dieses Bandes) auch die folgenden Themenkreise: die Vorwirkungen von Richtlinien (dazu § 15), die sog. überschießende Umsetzung einer Richtlinie in das nationale Recht (dazu § 14) sowie die Rollenverteilung zwischen dem EuGH und den Organen der Mitgliedstaaten bei der Auslegung und Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen in Richtlinien (dazu § 11). Zur Praxis der richtlinienkonformen Auslegung
1 Z. B. EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 30; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, EU:C:2013:829 Rn. 34. Im Folgenden werden Behörden neben den Gerichten nicht eigens erwähnt. Die Aussagen gelten jedoch regelmäßig (aber nicht immer; vgl. z. B. Rn. 4–5) auch für sie.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
in anderen Mitgliedstaaten sei darüber hinaus auf §§ 22–25 in diesem Band verwiesen.2
II. Unionsrechtliche Vorgaben 1. Grundlagen im Unionsrecht a) Auslegung der lex fori 3 Seit langem geht der EuGH von einer aus dem Unionsrecht folgenden Pflicht der
mitgliedstaatlichen Gerichte aus, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen.3 Diese Verpflichtung folgt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH aus Art. 288 Abs. 3 AEUV4 und zusätzlich aus Art. 4 Abs. 3 EUV.5 Der EuGH hat diese Rechtsprechung auch auf vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b) EU erlassene Rahmenbeschlüsse erstreckt („rahmenbeschlusskonforme Auslegung“).6 Die Auslegung des Richtlinienrechts hat grundsätzlich unionsrechtsauto-
2 Vgl. zur richtlinienkonformen Auslegung in Frankreich auch Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 216 ff. sowie Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 98 ff. (für England) und S. 171 ff. (für Frankreich). Für einen Vergleich der „Umsetzung“ der Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung durch deutsche und englische Gerichte auch Brenncke, Judicial Law-Making in English and German Courts, S. 257 ff. Rechtsvergleichend jüngst Kamanabrou, Richtlinienkonforme Auslegung im Rechtsvergleich. 3 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 26; st. Rspr. 4 Z. B. EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, EU:C:2009:466 Rn. 60; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:650 Rn. 29; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/ 16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 66, u. ö. 5 So etwa EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 26; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 26 (jeweils zu ex Art. 5 EWGV) u. ö.; ebenso zuletzt etwa BGHZ 225, 297 Rn. 22; BGH, NJW 2020, 2540 Rn. 53. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die nationalen Gerichte von sich aus oder nur auf Rüge der Verfahrensbeteiligten das Richtlinienrecht berücksichtigen können bzw. müssen; dazu GA Kokott, Schlussanträge v. 30.4.2020 – Rs. C-254/19 Friends of the Irish Environment, EU:C:2020:320 Rn. 67, 69. Das Verbraucherschutzrecht ist von Amts wegen anzuwenden; z. B. EuGH v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 Radlinger, EU:C:2016:283 Rn. 62 mwN; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 18; dasselbe gilt für Richtlinienvorgaben, die sich auf das nationale Verfahrensrecht beziehen (s. näher Rn. 30 mit Fn. 156 und 157). 6 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, EU:C:2005:386 Rn. 33 ff.; EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-42/11 Lopes Da Silva Jorge, EU:C:2012:517 Rn. 53 ff.; EuGH v. 8.11.2016 – Rs. C-554/14 Ognyanov, EU: C:2016:835 Rn. 58 ff.; EuGH v. 24.6.2019 – Rs. C-573/17 Popławski, EU:C:2019:530 Rn. 72 ff.; EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 65 ff. Vgl. auch BVerfGE 140, 317 Rn. 77. Vertiefend zum Gebot der rahmenbeschlusskonformen Auslegung und ihren Grenzen: Först, Die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung (2012); Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 321 ff.; Röcker, Die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung nationalen Rechts (2013); Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 187 ff.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
nom zu erfolgen, d. h. eigenständig und unabhängig vom Begriffsverständnis der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (dazu näher in diesem Band § 10 Rn. 4 ff.).7 In Ausnahmefällen verweist das Unionsrecht jedoch zur Konkretisierung eines Rechtsbegriffs, etwa zur Bestimmung des Anwendungsbereichs eines Rechtsakts, („vertikal“) auf das materielle Recht der Mitgliedstaaten.8 Dabei ist zu beachten, dass eine solche vertikale Verweisung den Mitgliedstaaten zwar einen Konkretisierungsspielraum eröffnet, diesem aber seinerseits Schranken durch den Zweck der Richtlinienregelung sowie deren praktische Wirksamkeit gezogen sind und damit die Konkretisierung insoweit richtlinienkonform zu erfolgen hat.9 Art. 288 Abs. 3 AEUV statuiert eine Verpflichtung, die Vorgaben einer Richt- 4 linie bei der Anwendung des nationalen Rechts zu beachten. Dies gilt auch in solchen Fällen, in denen die einzelne Richtlinienregelung nicht inhaltlich unbedingt10 oder nicht hinreichend genau gefasst ist.11 Hier kann und muss das Regelungsziel der Richtlinie(-nregelung) ohne weiteres in die Auslegung des nationalen Rechts mit einfließen. Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung richtet sich an die Mitgliedstaaten, aber auch an ihre Untergliederungen (z. B. Länder und Kommunen).12 Sie ist nicht auf den Gesetzgeber beschränkt, sondern erstreckt sich auf alle Träger der öffentlichen Gewalt, und damit etwa auch auf Behörden, mit der Maßgabe, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, die für die Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziels von Bedeutung sind.13 Sie bindet darüber hinaus auch die Gerichte,14 die eine richtlinienkonforme Auslegung und ggf. eine Rechtsfortbildung des nationalen Rechts vorzunehmen haben. Im Hinblick auf die
7 EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-485/17 Verbraucherzentrale Berlin, EU:C:2018:642 Rn. 26–27; EuGH v. 16.4. 2015 – Rs. C-388/13 Nemzeti, EU:C:2015:225 Rn. 33; EuGH v. 9.11.2016 – Rs. C-149/15 Wathelet, EU: C:2016:840 Rn. 28; EuGH v. 9.11.2017 – Rs. C-306/16 Maio Marques da Rosa, EU:C:2017:844 Rn. 38. 8 Z. B. Art. 3 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit (ABl. 2008 L 327/9) für den Begriff des „Arbeitnehmers“; vgl. auch EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 42 ff. für den Begriff der „juristischen Person“ im Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. 2005 L 76/16). 9 EuGH v. 1.3.2012 – Rs. C-393/10 O’Brien, EU:C:2012:110 Rn. 34–35; EuGH v. 5.11.2014 – Rs. C-311/13 Tümer, EU:C:2014:2337 Rn. 35, 42–43; weitergehend EuGH v. 17.11.2016 – Rs. C-216/15 Betriebsrat der Ruhrlandklinik, EU:C:2016:883 Rn. 32 (die Konturen des Arbeitnehmerbegriffs werden durch das Unionsrecht selbst umrissen). Dazu im Einzelnen W.-H. Roth, FS Prütting (2018), S. 117. 10 EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari u. a., EU:C:1999:98 Rn. 47 f. 11 Vgl. EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 27 f. 12 EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u. a., EU:C:1996:404 Rn. 55; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, EU:C:2013:829 Rn. 34; st. Rspr. 13 Z. B. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 40; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, EU:C:2013:829 Rn. 34. 14 Z. B. EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 47; EuGH v. 24.1.2018 – verb. Rs. C-616/16 und C-617/16 Pantuso u. a., EU:C:2018:32 Rn. 42; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU: C:2018:631 Rn. 38; EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402 Rn. 68, u. ö.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
aus Art. 288 Abs. 3 AEUV und aus der Richtlinie selbst folgende „zwingende Pflicht“15 zu ihrer Umsetzung ist für die Bindung der Gerichte an die Richtlinienvorgaben ein Rückgriff auf die Kooperationsverpflichtung des Art. 4 Abs. 3 EUV nicht vonnöten.16 Letztere hat insoweit nur ergänzenden Charakter.17 5 Die Verpflichtung, das nationale Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen, erschöpft sich nicht in dem (korrekten) legislativen Umsetzungsakt (soweit ein solcher erforderlich ist). Sie ist auch keine nur einmalige, nach Inkrafttreten der Richtlinie sich ergebende und bis zum Ablauf ihrer Umsetzungsfrist zu erfüllende Aufgabe, sondern eine fortdauernde Verpflichtung, die den Gesetzgeber bei all seiner künftigen Tätigkeit bindet und ggf. zu Ergänzungen und Änderungen seines nationalen Rechts verpflichtet. Die Gerichte (und Behörden18) haben das nationale Recht, auch soweit es keine Änderung erfahren hat,19 im Lichte der Richtlinien auszulegen und – auch dies ist als eine fortwährende19a Pflicht zu verstehen – die Ziele der Richtlinien bei der Auslegung in der Zukunft zu beachten. Dies hat Konsequenzen vor allem dann, wenn die Auslegung einer Richtlinie durch den EuGH eine Konkretisierung bzw. Änderung erfährt. Für die nationalen (Höchst-)Gerichte ergibt sich hier ggf. die Konsequenz, ihre eigene, auch gefestigte Rechtsprechung abändern zu müssen (s. Rn. 32 f.).20
15 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 40; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, EU:C:2013:829 Rn. 34; EuGH v. 7.11.2019 – verb. Rs. C-419/18 und C-483/18 Profi Credit Polska, EU:C:2019:930 Rn. 73. 16 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 40 stellt insoweit auch nur auf ex Art. 189 Abs. 3 EWGV (jetzt Art. 288 Abs. 3 AEUV) ab; ebenso EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 113 und seither st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 41. Zutreffend erscheint eine Berufung auf Art. 4 Abs. 3 EUV, wenn der EuGH die nationalen Verwaltungsbehörden der Verpflichtung unterwirft, im Rahmen ihres Verfahrensrechts alles zu tun, um der (nicht umgesetzten) Richtlinie zur Geltung zu verhelfen; z. B. EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, EU:C:2004:12 Rn. 64 f.; EuGH v. 15.9.2011 – Rs. C-53/10 Franz Mücksch, EU:C:2011:585 Rn. 29; EuGH v. 28.2.2012 – Rs. C-41/11 InterEnvironnement Wallonie und Terre wallonne, EU:C:2012:103 Rn. 43. 17 Der EuGH beruft sich auf Art. 4 Abs. 3 EUV, um – über die Bindung an Art. 288 Abs. 3 AEUV hinausgehend – die Mitgliedstaaten zu verpflichten, „alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen“ (etwa EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402 Rn. 68) sowie Sanktionsmöglichkeiten einzuführen, mit denen Verstöße gegen das Unionsrecht anhand materieller und Verfahrensregeln in geeigneter Weise geahndet werden können (z. B. EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 25). 18 S. oben Fn. 1. 19 St. Rspr.: vgl. zuletzt etwa EuGH v. 18.12.2019 – Rs. C-666/18 IT Development, EU:C:2019:1099 Rn. 48. 19a Dazu gehört auch die stetige Vergewisserung, ob an einer einmal vorgenommenen richtlinienkonformen Auslegung des deutschen Rechts aufgrund einer zwischenzeitlichen Änderung auf Ebene des Unionsrechts nicht länger festgehalten werden sollte bzw. kann; vgl. hierzu zuletzt etwa BGH, NJW 2020, 3649 Rn. 23, 26 ff. sowie auch den Text bei und in Fn. 367. 20 St. Rspr.: EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 33; EuGH v. 8.11.2016 – Rs. C-554/14 Ognyanov, EU:C:2016:835 Rn. 67; EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402 Rn. 70; EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701 Rn. 38 u. ö.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates Art. 288 Abs. 3 AEUV reicht als Geltungsgrund für die Pflicht zur richtlinienkonfor- 6 men Auslegung nicht aus, soweit das Gericht eines Mitgliedstaates das Recht eines anderen Mitgliedstaates (aufgrund einer kollisionsrechtlichen Regelung im Privatrecht) anzuwenden hat.21 Da sich die Umsetzungsverpflichtung an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten richtet, kann die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung die Gerichte immer nur im Hinblick auf die lex fori treffen:22 Denn ein deutsches Gericht ergänzt durch seine Auslegung die Tätigkeit des eigenen (deutschen) Gesetzgebers und ist bei dieser Tätigkeit durch die (verfassungsmäßige) Rollenverteilung zwischen Judikative und Legislative legitimiert und zugleich eingeschränkt. Bei der Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates steht das deutsche Gericht dagegen nicht in der Pflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV, geht es doch nicht um die Auslegung deutschen Rechts. Kraft der kollisionsrechtlichen Verweisung muss das deutsche Gericht vielmehr in die Rolle des Gerichts des jeweils anderen Mitgliedstaates schlüpfen und das Recht dieses Staates so auslegen und anwenden, wie es Gerichte dieses Staates tun23 bzw. tun würden.24 Aufgrund der Loyalitätspflicht des Art. 4 Abs. 3 EUV ist aber eine weitergehende 7 Rolle der Gerichte der Mitgliedstaaten insoweit anzunehmen, als die Gerichte im Rahmen einer kollisionsrechtlichen Verweisung auf das Recht eines anderen Mitgliedstaates bei dessen Auslegung und Anwendung25 auch die unionsrechtlichen Vorgaben und insbesondere das Gebot richtlinienkonformer Auslegung, das in gleicher Weise für die Gerichte des anderen Mitgliedstaates gilt, zumindest insoweit in Betracht zu ziehen haben,26 wie dies die Gerichte dieses Staates kraft ihrer Stellung im
21 Vgl. zu einem solchen Fall etwa EuGH v. 24.10.2013 – Rs. C-22/12 Haasová, EU:C:2013:692 Rn. 56– 58. 22 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. 2, S. 847, 879; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, S. 187, 195; Remien, FS W.-H. Roth (2015), S. 431, 435 ff. 23 So zumindest der Ansatz im deutschen Kollisionsrecht: BGH, NJW 1992, 3106, 3106 f.; BGH, NJW 2003, 2685, 2686; BGH, NJW 2014, 1244 Rn. 15; BGHZ 210, 292 Rn. 70; BGH, EuZW 2018, 732 Rn. 12; BGH, VersR 2020, 614 Rn. 23; BVerwG, NJW 2012, 3461 Rn. 14. 24 S. nur Art. 12 Abs. 1 lit. a) Rom I-VO. Die Anwendung fremden Rechts umfasst die Anwendung der Auslegungsmethoden diesen Rechts; Hahn, ZfRV 2003, 163. 25 Ggf. auch durch Berücksichtigung als Faktum bzw. „Datum“; dazu etwa Harms, Neuauflage der Datumtheorie im Internationalen Privatrecht (2019); M.-Ph. Weller, RabelsZ 81 (2017), S. 747, 775 ff. Zur gebotenen Berücksichtigung auch unionsrechtswidriger Normen aufgrund ihrer faktischen Wirkungen Mankowski, IPRax 2016, 485, 490; W.-H. Roth, AcP 220 (2020), 458, 521. 26 Vgl. aus der Praxis etwa BAGE 153, 138 Rn. 90; KG WRP 2012, 102 Rn. 54; OLG Köln, WRP 2016, 640 Rn. 27. Für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer AGB-Rechtswahlklausel am Maßstab der – ggf. richtlinienkonform auszulegenden – Umsetzungsvorschriften der Richtlinie 93/13/EWG (s. Fn. 174) des in Aussicht genommenen (Art. 3 Abs. 5 Rom I-VO), gewählten Rechts eines anderen Mitgliedstaats öOGH, JBl. 2018, 464, 465 im Nachgang zu EuGH v. 28.7.2016, Rs. C-191/15 Verein für Konsumenteninformation, EU:C:2016:612 Rn. 61 ff. Ebenso zur Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Gerichtsstandsklausel zugunsten der Gerichte bzw. eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats nach
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
Verhältnis zur Legislative tun können.27 Insoweit wird für die richtlinienkonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates im Grundsatz dasjenige nachvollzogen, was in ähnlicher Weise für das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates gilt, geht doch der EuGH insoweit davon aus, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte – in ihrer Funktion als Unionsgerichte28 – die Rechtssätze des inländischen Rechts wie diejenigen anderer Mitgliedstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht überprüfen müssen.29 8 Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Verweist deutsches oder europäisches Kollisionsrecht auf einen Rechtssatz eines anderen Mitgliedstaates, der mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, ist nicht etwa die Verweisung auf das ausländische Recht unionsrechtswidrig.30 Vielmehr ist im Rahmen des ausländischen Sachrechts nach einer Lösung zu suchen, die zu einem unionsrechtskonformen Ergebnis führt. Lässt sich ein solches Ergebnis nicht über eine richtlinienkonforme Auslegung des ausländischen Rechts erreichen, wird oftmals mit der (rechtsfortbildenden) Umformulierung des ausländischen Rechtssatzes (etwa durch teleologische Reduktion) oder aber der Bildung eines ergänzenden Rechtssatzes (evtl. durch Analogie), wie dies auch bei der ordre public-Kontrolle im Rahmen des Art. 6 EGBGB möglich ist,31 geholfen werden können, wenn und soweit ein solches Vorgehen auch in der Kompetenz des ausländischen Gerichts liegen würde (s. dazu Rn. 41 f.). Nur ganz hilfsweise ist auf die lex fori zurückzugreifen.32
den Rechtsvorschriften des Staates, dessen Gericht(e) in einer Gerichtsstandsklausel bestimmt ist bzw. sind (Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia-VO) jüngst EuGH v. 18.11.2020, Rs. C-519/19 DelayFix, EU:C:2020:933 Rn. 51 und 61. 27 Dies schließt ggf. auch eine Fortbildung des ausländischen Rechts mit ein; Palandt-Thorn, Einl. vor Art. 3 EGBGB Rn. 34. 28 Zu dieser Rolle grundlegend EuGH v. 8.3.2011 – Gutachten 1/09, EU:C:2011:123 Rn. 68 ff., 83. 29 Z. B. EuGH v. 16.12.1981 – Rs. 244/80 Foglia, EU:C:1981:302 Rn. 26, 30 (implizit); EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize, EU:C:1992:250 Rn. 11 ff. (implizit; belgisches Gericht zu einem dem belgischen Recht unterstehenden Kaufvertrag; Vereinbarkeit der spanischen Abfüllregelung mit ex Art. 34 EWGV (jetzt Art. 35 AEUV) als Vorfrage). Vgl. auch den Sachverhalt in EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-318/00 Bacardi-Martini, EU:C:2003:41 sowie GA Alber, Schlussanträge v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, EU: C:2002:594 Tz. 83–86 (der Vorrang des Gemeinschaftsrechts müsse sich auch gegenüber dem Recht eines anderen Mitgliedstaates durchsetzen). Auf einem anderen Blatt steht allerdings, dass die Gerichte im Rahmen des Vorlageverfahrens gem. Art. 267 AEUV besonders sorgfältig begründen müssen, aus welchem Grunde sie ausländisches Recht für mit dem Unionsrecht unvereinbar halten; vgl. EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 der Weduwe, EU:C:2002:735 Rn. 38; vgl. auch EuGH v. 16.12.1981 – Rs. 244/80 Foglia, EU:C:1981:302 Rn. 29–30. 30 Das gilt erst recht, wenn die Verweisung auf das Recht des anderen Mitgliedstaates nicht von einer nationalen, sondern einer unionsrechtlichen Kollisionsnorm ausgesprochen wird. 31 Heidel u. a. Makowsky/G. Schulze, Nomos-Kommentar BGB, 4. Aufl. (2021), Art. 6 EGBGB Rn. 30. 32 Eine subsidiäre Anwendbarkeit der lex fori unter Verweis auf den effet utile des Unionsrechts erwägt z. B. Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 151.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
2. Richtlinien- und unionsrechtskonforme Auslegung Im Urteil Pfeiffer deutet der EuGH (wohl erstmals) das Gebot der richtlinienkonformen 9 Auslegung als einen (Unter-)Fall des Gebots der gemeinschafts- bzw. unionsrechtskonformen Auslegung.33 Seitdem ist manchmal auch nur von einer unionsrechtskonformen Auslegung die Rede,34 zum Teil werden beide Figuren im selben Urteil abwechselnd und gleichsinnig verwendet.35 Im Schrifttum wurde hingegen verschiedentlich die Unterschiedlichkeit beider Institute in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen betont.36 Während die unionsrechtskonforme Auslegung – im Rahmen des primären Unionsrechts (dazu näher in diesem Band § 8 Rn. 38 ff.) – auf dem Vorrang des Unionsrechts beruht und in ihren Rechtsfolgen notfalls auch zur Unanwendbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts im konkreten Fall führen kann,37 nimmt die richtlinienkonforme Auslegung am Vorrang des Unionsrechts in seiner unmittelbaren Wirkung nicht teil, beschränkt sich vielmehr auf die Ebene der Auslegung und führt (in seiner horizontalen Anwendung) auch nicht zur Unanwendbarkeit richtlinienwidrigen nationalen Rechts38
33 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 114 f., 118; seither st. Rspr.; z. B. EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, EU:C:2014:282 Rn. 65 f. sowie zuletzt EuGH v. 11.6.2020 – Rs. C-146/19 SCT, EU:C:2020:464 Rn. 47. Ebenso hinsichtlich der Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts: EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C42/11 Lopes Da Silva Jorge, EU:C:2012:517 Rn. 54 ff. 34 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 23 ff.; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 65, 67–69; EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701 Rn. 37 f.; EuGH v. 18.12.2019 – Rs. C-666/18 IT Development, EU: C:2019:1099 Rn. 48; EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Pawlak, EU:C:2019:260 Rn. 83, 85; EuGH v. 23.5.2019 – Rs. C-52/18 Fülla, EU:C:2019:447 Rn. 47. 35 EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 72, 75; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 41 f. und 45. 36 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 299 f. mwN; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 81 mit Fn. 347. 37 Z. B. EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, EU:C:1988:62 Rn. 11; EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 ČEZ, EU:C:2009:660 Rn. 138; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 53; EuGH v. 16.12.2010 – Rs. C-239/09 Seydaland Vereinigte Agrarbetriebe, EU:C:2010:778 Rn. 52. Zuletzt etwa EuGH v. 14.9.2017 – Rs. C-628/15 The Trustees of the BT Pension Scheme, EU:C:2017:687 Rn. 49, 54 sowie EuGH v. 19.11.2019 – verb. Rs. C-585/18 u. a. A.K. u. a., EU:C:2019:982 Rn. 160 f. (mit Blick auf Art. 47 GRCh). In seiner jüngeren Rspr. betont der Gerichtshof allerdings, dass (als Frage des Unionsrechts) die Unanwendbarkeit einer nationalen Bestimmung auch in diesem Zusammenhang subsidiär zur Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung und nur für den Fall eingreift, dass Letztere nicht möglich ist; vgl. zuletzt EuGH v. 21.1.2021 – Rs. C-308/19 Whiteland Import Export, EU:C:2021:47 Rn. 63. Anders etwa Herresthal/Weiß, Fälle zur Methodenlehre, Rn. 216 sowie Repasi, Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR, S. 45 f., der eine entsprechende Pflicht allein aus der nationalen Verfassung ableiten will. 38 EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, EU:C:2014:110 Rn. 48; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 44; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU: C:2018:871 Rn. 78; EuGH v. 22.1.2019 – Rs. C-193/17 Cresco Investigation, EU:C:2019:43 Rn. 73.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
(s. Rn. 15). Diese Unterschiede in der Einwirkung des primären Unionsrechts einerseits und des (nicht unmittelbar anwendbaren) Richtlinienrechts andererseits auf das nationale Recht werden jedoch keineswegs in Abrede gestellt,39 wenn man die richtlinienkonforme Auslegung als Unterfall des Grundsatzes der unionsrechtskonformen Auslegung begreift,40 gibt es doch neben dem primären Unionsrecht und den Richtlinien auch noch andere Rechtsakte (Verordnungen und Beschlüsse) und Verlautbarungen der Union, die nach einerBerücksichtigung aufder Ebene des nationalen Rechts verlangen. Die unionsrechtskonforme Auslegung lässt sich daher als Oberbegriff für in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen durchaus unterschiedliche Formen der Berücksichtigung des Unionsrechts verstehen, die alle darauf abzielen, dem Unionsrecht in seiner Vielfalt der Rechtsquellen41 zur Beachtung zu verhelfen.42 10 Seit dem Urteil Pfeiffer wird das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung und damit auch das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung vom EuGH als dem EGbzw. AEU-Vertrag „immanent“ bezeichnet.43 Damit wird für die richtlinienkonforme Auslegung nicht die Legitimationsgrundlage ausgewechselt. Da sich die unionsrechtskonforme Auslegung (Rn. 9) nicht zur Gänze mit Art. 288 Abs. 3 AEUV begründen lässt, bedarf es für sie – mangels ausdrücklicher Regelung im Vertrag – in der Tat eines Bezugs auf Ziele und Zwecke des Vertrags im Allgemeinen. Diese Begründung entwertet aber nicht die Verankerung der richtlinienkonformen Auslegung in Art. 288 Abs. 3 AEUV.44
39 Der Gerichtshof verwendet den Terminus der richtlinienkonformen Auslegung vor allem auch dann, wenn – in einem ersten Schritt – eine solche Auslegung des nationalen Rechts nach den Angaben des vorlegenden nationalen Gerichts nicht möglich sein soll und sich – in einem zweiten Schritt – die Frage der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit unmittelbar anwendbaren Regelungen der Grundrechte-Charta stellt; z. B. EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 75 ff.; EuGH v. 22.1.2019 – Rs. C-193/17 Cresco Investigation, EU:C:2019:43 Rn. 75 ff. 40 In diesem Sinne etwa die in Fn. 34 angeführten Urteile. 41 Dazu im Einzelnen näher Köndgen/Mörsdorf, in diesem Band, § 6. 42 Ebenso Möllers, GS Wolf (2011), S. 669, 670. 43 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 114; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 24; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:650 Rn. 29; st. Rspr.; zuletzt EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU: C:2020:167 Rn. 41 und EuGH v. 11.6.2020 – Rs. C-146/19 SCT, EU:C:2020:464 Rn. 47. Ebenso hinsichtlich der Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-42/11 Lopes Da Silva Jorge, EU:C:2012:517 Rn. 54. 44 Von Interesse ist allein, dass der EuGH das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung mit dem Gedanken der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts verknüpft und begründet und dabei die Verpflichtung der nationalen Gerichte betont, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten; EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Mau, EU:C:2003:280 Rn. 34. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 114; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 24 und 27; EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 u. a. Specht u. a., EU:C:2014:2005 Rn. 88; st. Rspr.
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3. Zeitpunkt Für die Umsetzung der Richtlinienvorgaben gilt die in der jeweiligen Richtlinie vorgege- 11 bene Umsetzungsfrist. Dies bedeutet für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, dass diese erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist45 eingreift.46 Dies ist in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt.47 Damit ist eine Richtlinie im Stadium vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist jedoch keineswegs völlig bedeutungslos.48 Zunächst ist zu beachten, dass das Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung nach der Rechtsprechung des EuGH vom Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist an auch für die künftigen Auswirkungen eines Sachverhalts anzuwenden ist, der vor diesem Zeitpunkt entstanden ist.49 Darüber hinaus greift vor Ablauf der Umsetzungsfrist zwar noch nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV, doch kommt für den Gesetzgeber die auf Art. 4 Abs. 3 EUV beruhende Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten ins Spiel: Der Mitgliedstaat hat alle Maßnahmen zu unterlassen, die geeignet sind, das von den Richtlinien angestrebte Ziel ernsthaft in Frage zu stellen.50 Für die
45 Für den Fall, dass die Richtlinie, wie etwa Art. 28 der Richtlinie 2011/83/EU vom 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher (ABl. 2011 L 304/64) und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2019/770 vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (ABl. 2019 L 136/1) sowie der Richtlinie (EU) 2019/771 vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs (ABl. 2019 L 136/28), für den Erlass der erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen und für den Beginn ihrer Anwendbarkeit verschiedene Zeitpunkte festlegt, ist für den Beginn des unionsrechtlichen Gebots richtlinienkonformer Auslegung auf den Zeitpunkt des Beginns ihrer Anwendbarkeit abzustellen. 46 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 115; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., EU:C:2009:250 Rn. 201; v. Danwitz, JZ 2007, 697, 700. Mit Blick auf den Beginn der Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung ebenso EuGH v. 8.11.2016 – Rs. C-554/14 Ognyanov, EU:C:2016:835 Rn. 61. Ab diesem Zeitpunkt gilt die Pflicht bis zum Ablauf der Umsetzungspflicht einer späteren Richtlinie, mit der die in Rede stehende Richtlinie (nbestimmung) geändert wird, bzw. zur Aufhebung der Richtlinie. Letzteres spielt in der Praxis insbesondere in Fällen einer vollständigen Ersetzung einer Richtlinie durch einen anderen Unionsrechtsakt eine Rolle; vgl. hierzu EuGH v. 17.3.2021 – Rs. C-64/20 An tAire Talmhaíochta, Bia agus Mara u. a., EU:C:2021:207 Rn. 33–37; BGH, BB 2021, 590 Rn. 24. 47 Vgl. neben den in der vorigen Fn. genannten Entscheidungen auch EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo u. a., EU:C:2000:346 Rn. 31; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 74 ff.; ebenso BVerfG, NJW 2013, 2957, 2958; BGH, NJW 2013, 2674 Rn. 40; BGH, BKR 2013, 17 Rn. 32; BGH, NJW 2012, 2873 Rn. 27; BGH, NJW 2012, 2422 Rn. 20, 22 f.; BGHZ 138, 55, 61. Auf das (bloße) Inkrafttreten der Richtlinie stellt (unzutreffend) BVerfGK 17, 533 Rn. 54 ab. 48 Dazu eingehend Röthel, ZEuP 2009, 34; Gronen, Die „Vorwirkung“ von EG-Richtlinien (2006); Kubitza, EuZW 2016, 691; sowie Hofmann, in diesem Band, § 15. 49 EuGH v. 17.10.2018 – Rs. C-167/17 Klohn, EU:C:2018:833 Rn. 39 f., 43–45. 50 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 45, 50; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 121; EuGH v. 13.3.2014 – Rs. C-599/12 Jetair und BTWE Travel4you, EU:C:2014:144 Rn. 35; ausführlich (auch mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH) Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 7 ff.
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mitgliedstaatlichen Gerichte ist eine gleichlaufende Pflicht zwar auch anzunehmen,51 doch sind Judikate nur schwer vorstellbar,52 die eine solche Gefahr heraufbeschwören könnten.53 Im Übrigen ist es allein eine Frage des nationalen Rechts, ob die Gerichte schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist die Vorgaben der Richtlinie bei der Auslegung ihres nationalen Rechts berücksichtigen können.54
4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit 12 Wegen der im Grundsatz nicht gegebenen unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richt-
linie (s. aber Rn. 14; insgesamt dazu in diesem Band § 6 Rn. 68 ff.) gewinnt die Auslegungsfigur55 der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts in der Anwendungspraxis der Mitgliedstaaten eine überragende Bedeutung. Dies gilt zum einen in den Fällen, in denen eine Umsetzung gar nicht oder aber nur unvollkommen vorgenommen worden ist und mittels der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts im Rahmen des Möglichen (zumindest vorübergehend bis zu einer Nachbesserung durch den Gesetzgeber) geholfen werden kann; und zum anderen im Hinblick auf die Auslegung des gesamten (unverändert gebliebenen) nationalen Rechts, soweit es im Anwendungsbereich einer Richtlinie liegt, das immer auch im Lichte der Zielsetzungen der Richtlinie auszulegen ist (dazu Rn. 22, 44). 13 Eine Richtlinie kann im Horizontalverhältnis, also in den Beziehungen zwischen Privaten, nach st. Rspr. des Gerichtshofs von den nationalen Gerichten nicht
51 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 122 f.; EuGH v. 11.9.2012 – Rs. C43/10 Nomarchiaki Aftodioikisi Aitoloakarnanias u. a., EU:C:2012:560 Rn. 57; BVerfG, NJW 2013, 2957, 2958; BGH, NJW 2012, 2873 Rn. 27; BGH, BKR 2013, 17 Rn. 32. Im Einzelnen Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 29 ff. 52 Herresthal, JuS 2014, 289, 290 denkt an den Fall einer Änderung einer bestehenden Judikatur entgegen den Vorgaben der Richtlinie kurz vor Ablauf der Umsetzungsfrist. 53 BVerfG, NJW 2013, 2957, 2958; BGH, NJW 2012, 2873 Rn. 28; BGH, BKR 2013, 17 Rn. 33; Perner, EURichtlinien und Privatrecht, S. 122; W.-H. Roth, ZBB 2012, 429, 433; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 110 a. E.; weitergehend Franzen, JZ 2007, 191, 192, wo als mögliches Beispiel BGHZ 138, 55, 59–64 angeführt wird, und Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 52 ff. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 28 empfehlen eine Ankündigung im Urteil, dass das Gericht nach Ablauf der Umsetzungsfrist an der mit der Richtlinie nicht vereinbarten Rechtsprechung nicht mehr festhalten werde. 54 Dazu BGHZ 138, 55, 61–64. Nach BGH, NJW 2012, 2422 Rn. 23 und KG, ZIP 2011, 1048, 1050 soll diese Möglichkeit auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe begrenzt sein. Für den Fall, dass der Gesetzgeber die Richtlinie mit Wirkung vor Ablauf der Umsetzungsfrist umsetzt, wird man für Sachverhalte zwischen Inkrafttreten des Umsetzungsgesetzes und Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie für die Auslegung der Umsetzungsgesetzgebung den Willen des Gesetzgebers zu richtlinienkonformer Umsetzung vermuten können (hierzu auch unten Rn. 44). S. auch Langenbucher-dies., § 1 Rn. 108. 55 Möllers, Methodenlehre, § 12 Rn. 46.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
unmittelbar56 in dem Sinne angewendet werden, dass sie Rechte bzw. Verpflichtungen des Einzelnen (mit unmittelbarer Wirkung) begründet57 oder entgegenstehendes nationales Recht unangewendet bleiben muss (s. hierzu noch Rn. 15).58 Dies gilt auch dann, wenn eine Richtlinienbestimmung als unbedingt und hinreichend genau anzusehen ist59 (dazu näher in diesem Band § 6 Rn. 68 ff.). Insoweit lässt sich die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung als Kompensation der fehlenden Direktwirkung der Richtlinie begreifen,60 die mittels ihrer indirekten Wirkung dem Unionsrecht doch zu praktischer Wirksamkeit verhelfen soll.61 Im Horizontalverhält
56 In seiner jüngsten Rspr. betont der EuGH immer wieder den Unterschied zwischen einer Richtlinie und einer zur unmittelbaren Anwendung fähigen Verordnung; z. B. EuGH v. 10.10.2017 – Rs. C-413/15 Farrell, EU:C:2017:745 Rn. 31; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 42; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 76; EuGH v. 22.1.2019 – Rs. C-193/17 Cresco Investigation, EU:C:2019:43 Rn. 72. Grundlegend EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 24. 57 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 20; EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/ 14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 30; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 42; EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-684/16 Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, EU: C:2018:874 Rn. 66; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU: C:2018:871 Rn. 76; BVerfG, NZA 2015, 375 Rn. 29. Unklar und widersprüchlich OLG Düsseldorf, NZBau 2020, 393 Rn. 63 f. Dies schließt es nicht aus, dass Richtlinien auch in privatrechtlichen Streitigkeiten von den nationalen Gerichten unmittelbar anzuwenden sind, nämlich dann, wenn sie nicht Rechte oder Pflichten des Einzelnen begründen sollen, sondern allein Pflichten der Mitgliedstaaten (z. B. Information der Europäischen Kommission über technische Vorschriften gem. RL 94/10/EWG und Stillhaltepflicht), deren Nichteinhaltung (mit Konsequenz der Unanwendbarkeit der nationalen Vorschrift) als Vorfrage im Zivilrechtsstreit auftaucht; EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-194/94 CIA Security International, EU:C:1996:172 Rn. 54; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-443/98 Unilever, EU:C:2000:496 Rn. 37 ff. In EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 52 wird dies als „Sonderfall“ bezeichnet. Vgl. hierzu auch BGHZ 225, 297 Rn. 37–39. Zu verfahrensrechtlichen Vorgaben s. unten Rn. 14 mit Fn. 71 ff. und Rn. 15 mit Fn. 83 ff. 58 EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, EU:C:2014:110 Rn. 48; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 44; EuGH v. 22.1.2019 – Rs. C-193/17 Cresco Investigation, EU:C:2019:43 Rn. 73. S. die Nachweise aus der Rspr. unten in Fn. 81 und 82. Verkannt in OLG Celle, NJW 2019, 3596 Rn. 16 und OLG Celle, NJW 2020, 3663 Rn. 46; zutreffend dagegen etwa OLG Hamm, NJW 2020, 247 Rn. 44, 47. 59 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 109 („Daraus folgt, dass sogar eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden kann.“); EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 43; zuletzt EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 77 und EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-684/16 MaxPlanck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, EU:C:2018:874 Rn. 67. 60 Vertiefend Mörsdorf, EuR 2009, 219, 222–232; Craig, E.L.Rev. 34 (2009), 349, 357–364. 61 Als weiterer Fall der Kompensation fehlender Horizontalwirkung der Richtlinie lässt sich die Rspr. zur Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303/16) verstehen, soweit der Gerichtshof einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters (dazu EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 74–77 und EuGH
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
nis kommt der richtlinienkonformen Auslegung damit eine besondere Bedeutung zu.62 14 Die richtlinienkonforme Auslegung hat jedoch auch Bedeutung in Fällen, in denen eine Richtlinienbestimmung das Verhältnis Bürger-Staat („Vertikalverhältnis“)63 betrifft und hier zugunsten des Bürgers unmittelbare Anwendung findet, also einseitig eine vertikale Wirkung entfalten kann64 (sofern die dafür notwendigen Voraussetzungen der Unbedingtheit der Regelung, ihrer hinreichenden Bestimmtheit sowie der Fristablauf für ihre Umsetzung gegeben sind; dazu im Einzelnen in diesem Band § 6 Rn. 68–70). In st. Rspr. betont der Gerichtshof, dass der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts in dieser Fallkonstellation Vorrang vor der Geltendmachung von Rechten aus der Richtlinie65 oder aber der Unanwendbarkeit einer nationalen Norm wegen Richtlinienverstoßes66 (dazu Rn. 15) zukommen muss. Der nationale Richter hat also immer zunächst dem Umsetzungsbefehl des Art. 288 Abs. 3 AEUV Folge zu leisten und eine richtlinienkonforme Auslegung zu versuchen. Erst wenn ihm eine solche nicht möglich ist (dazu unten Rn. 35, 36 ff.), kann eine Richtlinienbestim
v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 50–55) bzw. nunmehr Art. 21 GRCh (dazu EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 23 ff. und 35–37 sowie EuGH v. 17.4. 2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 76 f., 81) Horizontalwirkung zuschreibt und die Konkretisierung des Diskriminierungsverbots durch die Richtlinie in die Auslegung des Art. 21 GRCh hineinliest. Vgl. hierzu aber auch EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2014:2 Rn. 48 f. und Köndgen/Mörsdorf, in diesem Band, § 6 Rn. 46 f. und 71 f. 62 Langenbucher-dies., § 1 Rn. 83; Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, S. 8; Ebers, Rechte, Rechtsbehelfe und Sanktionen im Unionsprivatrecht, S. 401. Vgl. auch EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 113. 63 Zum sehr weit gezogenen Begriff des „Staates“ zuletzt z. B. EuGH v. 10.10.2017 – Rs. C-413/15 Farrell, EU:C:2017:745 Rn. 33–35; EuGH v. 6.9.2018 – Rs. C-17/17 Hampshire, EU:C:2018:674 Rn. 55; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 70 ff. Ob auch im (Kontroll-)Eigentum des Staates befindliche Unternehmen des Privatrechts ohne weitere Voraussetzungen (wie z. B. staatliche Aufsicht oder Einräumung besonderer Rechte) dem Staat zugerechnet werden können, ist noch nicht entschieden; wohl dazu tendierend BVerfG, NJW-RR 2018, 305 Rn. 43 ff.; ablehnend BGHZ 224, 302 Rn. 32 ff. (dazu mit Recht kritisch Ellerbrok, RIW 2020, 303 und Walter, EnWZ 2020, 250). Der (im konkreten Fall letztlich nicht entscheidungserheblichen) Annahme des Bundesarbeitsgerichts, dass eine gemeinnützige Organisation des Privatrechts nicht bereits deshalb dem Staat zuzurechnen ist, weil sie sich größtenteils aus öffentlichen Mitteln finanziert (vgl. BAG, NZA 2017, 271 Rn. 19) ist der Gerichtshof nicht (aktiv) entgegengetreten; EuGH v. 6.11.2018 – Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, EU:C:2018:871 Rn. 65. 64 Dazu aus jüngerer Zeit etwa EuGH v. 10.10.2017 – Rs. C-413/15 Farrell, EU:C:2017:745 Rn. 32 ff.; EuGH v. 6.9.2018 – Rs. C-17/17 Hampshire, EU:C:2018:674 Rn. 54 ff.; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 70 ff. 65 Z. B. EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 Fuß, EU:C:2010:717 Rn. 38, 40. 66 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 23, 32, 41; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:650 Rn. 28; EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU: C:2016:278 Rn. 35 f.; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 41 und 46. Verkannt in OLG Celle, NJW 2019, 3596 Rn. 16.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
mung im Vertikalverhältnis (nur) zugunsten67 des Bürgers unmittelbar angewendet werden.68 Diese Subsidiarität der unmittelbaren Anwendbarkeit (im Vertikalverhältnis) ist – auch wenn sie in der Praxis nicht immer beachtet wird69 – eine notwendige Konsequenz des Instruments der Richtlinie: Primär muss es darum gehen, den Organen der Mitgliedstaaten die Aufgabe zu überlassen, die geeignete Einpassung der Zielsetzungen der Richtlinie in das nationale Recht zu erreichen. Dazu dient auch das Instrument der richtlinienkonformen Auslegung. Erst wenn diese Einpassung nicht gelingt, kann ggf. zum Instrument der unmittelbaren Anwendbarkeit gegriffen werden.70 Dieselben Grundsätze gelten für das nationale Verfahrensrecht, soweit das Unionsrecht den nationalen Gerichten eine Prüfung des Richtlinienverbraucherrechts von Amts wegen71 vorgibt oder auch eigenständig vorzunehmende Untersuchungsmaßnahmen (etwa in Form der Vorlage von Dokumenten) anmahnt,72 und dieser Pflicht entgegenstehende Verfahrensregeln unangewendet bleiben müssen:73 Die
67 Nicht zu seinen Lasten: EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, EU:C:2014:110 Rn. 47 sowie jüngst EuGH v. 8.10.2020 – Rs. C-568/19 Subdelegación del Gobierno en Toledo, EU:C:2020:807 Rn. 34–36. 68 EuGH v. 25.7.2008 – Rs. C-237/07 Janecek, EU:C:2008:447 Rn. 36; EuGH v. 28.1.2010 – Rs. C-406/08 Uniplex (UK), EU:C:2010:45 Rn. 48 f.; EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 Fuß, EU:C:2010:717 Rn. 40; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 23; EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia, EU:C:2012:306 Rn. 27, 30 f.; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:650 Rn. 28; BVerfG, NJW-RR 2018, 305 Rn. 43 ff.; BAGE 142, 371 Rn. 30. 69 Z. B. BAGE 130, 119 Rn. 54 ff. und BFH, BStBl II 2013, 879 Rn. 33. 70 Dieser Grundsatz ist insbesondere von Bedeutung, wenn es um Bestimmungen geht, die zu Lasten der Einzelnen gehen. Eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen zu Lasten der Einzelnen wird (im Verhältnis zum Staat) seit jeher in st. Rspr. verneint: EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431 Rn. 13; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, EU:C:2004:10 Rn. 61; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 37; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, EU:C:2014:110 Rn. 47. Eine richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts zu Lasten des Einzelnen ist hingegen grundsätzlich auch im Vertikalverhältnis möglich, soweit sie nach nationalem Recht zulässig ist und die Grenzen eines unzulässigen contra legem Judizierens (s. Rn. 36 ff.) beachtet; vgl. näher Rn. 40, 49. 71 Dazu etwa EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, EU:C:2009:350 Rn. 32; EuGH v. 10.9.2014 – Rs. C-34/13 Kušionová, EU:C:2014:2189 Rn. 67; EuGH v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 Finanmadrid, EU:C:2016:98 Rn. 36; EuGH v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 Radlinger, EU:C:2016:283 Rn. 77; EuGH v. 13.9.2018 – Rs. C-176/17 Profi Credit Polska, EU:C:2018:711 Rn. 42, 44; EuGH v. 19.12.2019 – verb. Rs. C-453/18 und C-494/18 Bondora, EU:C:2019:1118 Rn. 43. 72 EuGH v. 7.11.2019 – verb. Rs. C-419/18 und C-483/18 Profi Credit Polska, EU:C:2019:930 Rn. 66 f.; EuGH v. 19.12.2019 – verb. Rs. C-453/18 und C-494/18 Bondora, EU:C:2019:1118 Rn. 50; EuGH v. 11.3.2020 – Rs. C-511/17 Lintner, EU:C:2020:188 Rn. 36; EuGH v. 4.6.2020 – Rs. C-495/19 Kancelaria Medius, EU:C:2020:431 Rn. 51. 73 Insoweit geht es nicht um eine horizontale Anwendung der Richtlinie, die Rechte oder Pflichten des Einzelnen begründet, sondern um eine unmittelbare Bindung der Gerichte an die unionsrechtlichen Verfahrensvorgaben, die sich allerdings auf die Privatrechtsverhältnisse mittelbar auswirken. Vgl. hierzu EuGH v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 Radlinger, EU:C:2016:283 Rn. 77. Dasselbe gilt für Fälle, in denen in einer Verordnung (wie etwa in Art. 7 Abs. 2 und Abs. 6 Rom I-VO) auf eine Richtlinienbestimmung Bezug genommen wird. Auch insoweit resultiert die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlini
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
richtlinienkonforme Auslegung ist auch hier der erste Prüfungsschritt.74 Insoweit ist auch eine Parallele zum Verhältnis von richtlinienkonformer Auslegung und Unanwendbarkeit des nationalen Rechts aufgrund eines Verstoßes gegen primäres Unionsrecht gegeben, das ebenfalls von der richtlinienkonformen Auslegung (und hierbei auch der Auslegung der Richtlinie im Lichte des Primärrechts75) als erstem Prüfungsschritt vor der unmittelbaren Anwendung des Primärrechts geprägt ist.76 15 Soweit in der Rspr. zur richtlinienkonformen Auslegung formuliert wird, dass ein Gericht sein nationales Recht, das mit Richtlinienvorgaben nicht vereinbar ist, „unangewendet“ lassen muss, mag auf den ersten Blick der Eindruck entstehen, dass in den Beziehungen zwischen Privaten (also im Horizontalverhältnis) zwar nicht Rechte und Pflichten der Privaten unmittelbar aus der Richtlinie abgeleitet werden können, wohl aber mit der Richtlinie unvereinbares nationales Recht von seiner Anwendung ausgeschlossen wird77 bzw. – wie der Gerichtshof bisweilen formuliert – die Richtlinie dessen Anwendung „entgegensteht“.78 Immerhin verwendet der Gerichtshof dieselbe Terminologie auch, soweit es um den Konflikt nationalen Rechts mit unmittelbar anwendbarem primärem Unionsrecht geht.79 Und für die vertikale Wirkung einer Richtlinie (dazu Rn. 14 sowie in diesem Band § 6 Rn. 68–70) heißt es, dass das nationale Gericht mit der Richtlinie unvereinbares nationales Recht von der Anwendung „ausschließen“, also unangewendet lassen muss.80 Dies ist aber – trotz gleich oder ähnlich lautender Formulierungen – im Fall eines Rechtsstreits zwischen Privaten anders: Diesbezüglich hat der Gerichtshof wiederholt klargestellt, dass sich die „Unanwendbarkeit“ einer konkreten nationalen Regelung allein als Ergebnis einer richtlinienkonformen
enbestimmung nicht aus der Richtlinie selbst, sondern ihrer Inkorporation in die Verordnung bzw. der in der Verordnung enthaltenen und damit nach Art. 288 Abs. 2 AEUV mit unmittelbarer Anwendbarkeit ausgestatteten Verweisungsbestimmung. 74 So im Ergebnis BGHZ 219, 161 Rn. 40 f. 75 Z. B. EuGH v. 12.2.2015 – Rs. C-396/13 Sähköalojen ammattiliitto, EU:C:2015:86 Rn. 38 f. sowie jüngst EuGH v. 2.2.2021 – Rs. C-481/19 Consob, EU:C:2021:84 Rn. 49 f. 76 EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 37; EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 75 (zu Art. 21 GRCh); EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 65; BAGE 165, 376 Rn. 21 (zu Art. 31 Abs. 2 GRCh); zuletzt OLG Düsseldorf, NZBau 2020, 393 Rn. 55 ff., 75 ff. Vgl. auch Fn. 37 a. E. 77 So ist EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU:C:1990:395 aufgrund der insoweit nicht eindeutigen Tenorierung verbreitet verstanden worden; so auch heute noch Craig/de Búrca, EU Law, 7th ed. 2020, S. 258 („exclusionary effect“) mit Verweis auf EuGH v. 13.7.2000 – Rs. C-456/98 Centrosteel, EU:C:2000:402. Gegen diese Deutungsweise des Urteils Marleasing mit aller Klarheit EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 17, 20, 44–45. 78 EuGH v. 13.7.2000 – Rs. C-456/98 Centrosteel, EU:C:2000:402 Rn. 19; zuletzt etwa EuGH v. 5.12.2019 – verb. Rs. C-708/17 und C-725/17 EVN Bulgaria Toplofikatsia, EU:C:2019:1049 Rn. 71, 91; EuGH v. 19.12.2019 – verb. Rs. C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 Rust-Hackner u. a., EU:C:2019:1123 Rn. 111 und Leitsatz 4; EuGH v. 26.3.2020 – Rs. C-66/19 Kreissparkasse Saarlouis, EU:C:2020:242 Rn. 49. 79 Z. B. EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 79. 80 EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 45.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
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Auslegung und Anwendung dieser Regelung darstellt;81 oder, wie in jüngerer Rspr. formuliert wird, dass eine Richtlinie im Horizontalverhältnis zwischen Privaten nicht angeführt werden könne, um die Anwendung einer richtlinienwidrigen nationalen Regelung „auszuschließen“ oder die Regelung „unangewendet“ zu lassen.82 Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass es um nationales Verfahrensrecht geht und dieses der Wirksamkeit z. B. des Richtlinienverbraucherrechts entgegensteht: Hier greift die aus Art. 288 Abs. 3 AEUV folgende und die nationalen Gerichte unmittelbar bindende Pflicht,83 die Richtlinienvorgaben so weit wie möglich durchzusetzen. Nationale Verfahrensregeln, die der Anwendung des unionalen Verbraucherrechts von Amts wegen84 (als unionsrechtlicher Verfahrensregel85) oder aber der Anordnung einer Dokumentenvorlage (im Rahmen des Dispositionsgrundsatzes86) entgegenstehen, sollen unangewendet bleiben.
5. Anwendungsbereich Seit langem ist anerkannt, dass sich das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung 16 nicht nur auf den Umsetzungsakt erstreckt, mit dem der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie erfüllen will, sondern auf das nationale Recht insgesamt87 und insoweit
81 EuGH v. 13.7.2000 – Rs. C-456/98 Centrosteel, EU:C:2000:402 Rn. 13 ff.; EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C81/12 Asociaţia Accept, EU:C:2013:275 Rn. 72. Dies wird verkannt etwa in OLG Celle, NJW 2019, 3596 Rn. 16, wo von einer Direktwirkung der RL 2006/123/EG ausgegangen wird, anstatt (in Rn. 17 kaum angesprochen) eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts zu versuchen. Anders nunmehr OLG Celle v. 9.12.2020 – 14 U 92/20, Rn. 52 ff. (bei juris). 82 EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, EU:C:2014:110 Rn. 48; EuGH v. 22.1.2019 – Rs. C-193/17 Cresco Investigation, EU:C:2019:43 Rn. 73; vgl. auch EuGH v. 26.3.2015 – Rs. C-316/13 Fenoll, EU:C:2015:200 Rn. 48; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 44; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 78; EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-684/16 Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, EU:C:2018:874 Rn. 68. Zutreffend etwa OLG Hamm, NJW 2020, 247 Rn. 44, 47, 50. Der VII. Zivilsenat des BGH hat im Anschluss an die vorgenannte Entscheidung diese Frage jüngst noch einmal dem EuGH (dort anhängig als Rs. C-261/20) vorgelegt, BGHZ 225, 297, 1. Vorlagefrage. 83 EuGH v. 10.9.2014 – Rs. C-34/13 Kušionová, EU:C:2014:2189 Rn. 67; EuGH v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 Finanmadrid, EU:C:2016:98 Rn. 35; EuGH v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 Radlinger, EU:C:2016:283 Rn. 76– 77; EuGH v. 13.9.2018 – Rs. C-176/17 Profi Credit Polska, EU:C:2018:711 Rn. 41; EuGH v. 19.12.2019 – verb. Rs. C-453/18 und C-494/18 Bondora, EU:C:2019:1118 Rn. 43. 84 EuGH v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 Radlinger, EU:C:2016:283 Rn. 51 f. 85 EuGH v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 Radlinger, EU:C:2016:283 Rn. 62, 66. 86 EuGH v. 21.4.2016 – Rs. C-377/14 Radlinger, EU:C:2016:283 Rn. 54; EuGH v. 7.11.2019 – verb. Rs. C419/18 und C-483/18 Profi Credit Polska, EU:C:2019:930 Rn. 66–68; EuGH v. 19.12.2019 – verb. Rs. C453/18 und C-494/18 Bondora, EU:C:2019:1118 Rn. 52; EuGH v. 11.3.2020 – Rs. C-511/17 Lintner, EU: C:2020:188 Rn. 36; EuGH v. 4.6.2020 – Rs. C-495/19 Kancelaria Medius, EU:C:2020:431 Rn. 51; vgl. auch schon EuGH v. 18.2.2016 – Rs. C-49/14 Finanmadrid, EU:C:2016:98 Rn. 46. 87 Z. B. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 115: Der „vom Gemeinschaftsrecht aufgestellte Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des na
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auch auf Regelungen, die zeitlich vor der Richtlinie erlassen worden und unverändert geblieben sind.88 Letztlich kommt hierin die alle Träger der öffentlichen Gewalt der Mitgliedstaaten – und damit auch die Gerichte – treffende Verpflichtung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV zum Ausdruck, für eine Durchsetzung der von der Richtlinie verfolgten Ziele zu sorgen.89
6. „Auslegung“ und Rechtsfindung 17 Wenn und soweit der EuGH in seiner Rechtsprechung von der Verpflichtung spricht,
das nationale Recht im Lichte der Richtlinienziele „auszulegen“ („interpret“; „interpréter“),90 ist diese Begrifflichkeit nicht etwa gleichbedeutend mit dem in der deutschen Methodenlehre verbreiteten Verständnis der Gesetzesauslegung im Sinne einer Sinnermittlung aufgrund der klassischen Auslegungsmethoden („Gesetzesauslegung im engeren Sinne“91; s. Rn. 49–50), sondern sie umfasst auch – französischer Tradition folgend92 – die Methoden zulässiger Rechtsfortbildung93 („judicial development of the
tionalen Rechts betrifft zwar in erster Linie die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, beschränkt sich jedoch nicht auf die Auslegung dieser Bestimmungen, sondern verlangt, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt“. EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 u. a. Specht u. a., EU:C:2014:2005 Rn. 88 („unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts“); u. ö. Dies gilt sowohl für das materielle als auch für das Verfahrensrecht, vgl. EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia, EU:C:2012:306 Rn. 31. 88 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU:C:1990:395 Rn. 8; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/ 92 Faccini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 26; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo u. a., EU:C:2000:346 Rn. 30; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 108; EuGH v. 17.2.2009 – Rs. C-465/07 Elgafaji, EU:C:2009:94 Rn. 42; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., EU:C:2009:250 Rn. 197; zuletzt EuGH v. 11.2.2021 – Rs. C-760/18 M.V. u. a., EU:C:2021:113 Rn. 65. 89 Vgl. z. B. EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, EU:C:2013:829 Rn. 34. 90 Z. B. EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 40; EuGH v. 18.12.2019 – Rs. C-666/ 18 IT Development, EU:C:2019:1099 Rn. 48. 91 Dazu näher Möllers, Methodenlehre, § 12 Rn. 46 ff.; aus der Rspr. etwa BGHZ 179, 27 Rn. 20 f.; BGHZ 192, 148 Rn. 26, 28; BGHZ 201, 101 Rn. 20 f. 92 Zur französischen Tradition vgl. die differenzierten Ausführungen von Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht, S. 29 ff.; dies., in diesem Band, § 22 Rn. 9 ff. S. auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5. Langenbucher-dies., § 1 Rn. 98 zählt die etablierten Institute richterlicher Rechtsfortbildung zu dem für die „Auslegung“ erforderlichen Spielraum. 93 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 358; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 38; Canaris, FS Bydlinski, S. 81 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 4 ff.; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht (2011), S. 1. In der deutschen Rechtsprechung ist dies inzwischen allgemein anerkannt; siehe im Einzelnen die umfangreichen Nachweise in Fn. 272 ff. Für Österreich: öOGH, ÖJZ 2011, 603; öOGH, GRUR Int. 2017, 455, 457 (unter 3.) und öOGH, GRUR Int. 2019, 299, 303 (unter 7.3). Das BVerfG spricht zwar von einer Pflicht zur „richtlinienkonformen Auslegung“ und sieht deren Grenzen am nach innerstaatlicher Rechts
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law“). Dem steht nicht entgegen, dass der EuGH bisweilen bei der Auslegung des sekundären Unionsrechts den Eindruck zu erwecken versucht, seine eigene Rolle sei auf diejenige einer Auslegung im herkömmlichen Sinne (Rn. 18) beschränkt. So formuliert der Gerichtshof in st. Rspr. mit Bezug auf die rückwirkende Tragweite seiner Auslegung des Sekundärrechts, seine Befugnisse im Rahmen des Art. 267 AEUV bestünden allein darin, zu erläutern und zu verdeutlichen, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite die jeweilige Vorschrift „seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre.“94 Der Gerichtshof betont hier den “rein deklaratorischen“ Charakter seiner Rechtsprechung,95 um damit die auch rückwirkende Tragweite seiner Urteile im Vorabentscheidungsverfahren begründen zu können. Verneint wird jeder konstitutive Charakter96 und damit jede rechtsgestaltende (rechtsfortbildende) Wirkung der Judikatur (auch wenn sich das rechtliche Umfeld zwischen Erlass des unionsrechtlichen Rechtsakts und Zeitpunkt der Entscheidung geändert haben mag), womit zugleich dem Rückwirkungsverbot als allgemeinem Rechtsgrundsatz97 aus dem Weg gegangen wird. Der Gerichtshof bedient sich bei der Auslegung des europäischen Sekundär- 18 rechts – vergleichbar mit der Gesetzesauslegung i. e. S. im deutschen Recht – ganz regelmäßig der tradierten klassischen Auslegungsmethoden – der grammatikalischen (Wortlaut-), der systematischen, der historischen und vor allem der teleologischen Auslegung (näher in diesem Band § 10 Rn. 12 ff.) –,98 angereichert durch den Topos
tradition methodisch Erlaubten; BVerfGK 19, 89 Rn. 47. Die anschließenden Ausführungen (Rn. 49 ff.) machen aber deutlich, dass das BVerfG auch die richterliche Rechtsfortbildung – in ihren verfassungsrechtlichen Grenzen – als von der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung erfasst ansieht. Vgl. auch BVerfG, ZIP 2013, 924 Rn. 33, wo zwar erneut von einer richtlinienkonformen Auslegung die Rede ist, aber durch den (erstmaligen) Verweis auf die Quelle-Entscheidung des BGH deutlich gemacht wird, dass diese auch zu einer Rechtsfortbildung des nationalen Rechts verpflichtet. 94 St. Rspr.; EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, EU:C:1980:100 Rn. 16; EuGH v. 19.10. 1995 – Rs. C-137/94 Richardson, EU:C:1995:342 Rn. 31; EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06 Kempter, EU: C:2008:78 Rn. 35; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u. a., EU:C:2010:181 Rn. 90; EuGH v. 21.3. 2013 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, EU:C:2013:180 Rn. 58; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, EU: C:2013:864 Rn. 35; EuGH v. 9.4.2014 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, EU:C:2014:242 Rn. 50; EuGH v. 17.9.2014 – Rs. C-562/12 Liivimaa Lihaveis, EU:C:2014:2229 Rn. 80; EuGH v. 13.12.2018 – Rs. C-385/17 Hein, EU:C:2018:1018 Rn. 56; EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C-331/18 Pohotovost', EU:C:2019:665 Rn. 53; EuGH v. 23.4.2020 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2020:295 Rn. 54. 95 EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06 Kempter, EU:C:2008:78 Rn. 35; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-429/12 Pohl, EU:C:2014:12 Rn. 30. 96 EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-429/12 Pohl, EU:C:2014:12 Rn. 30. 97 Mit Blick auf die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung EuGH v. 21.9.2017 – Rs. C-605/15 Aviva, EU:C:2017:718 Rn. 37 sowie zuletzt etwa EuGH v. 19.3.2020 – verb. Rs. C-103/18 und C-429/18 Sánchez Ruiz u. a., EU:C:2020:219 Rn. 123 und EuGH v. 11.2.2021 – Rs. C-760/18 M.V. u. a., EU:C:2021:113 Rn. 67. 98 Zuletzt etwa EuGH v. 9.7.2020 – Rs. C-264/19 Constantin Film Verleih, EU:C:2020:542 Rn. 29 ff. und EuGH v. 18.11.2020 – Rs. C-299/19 Techbau, EU:C:2020:937 Rn. 38 ff. Vgl. zur Anwendung der „klassischen“ Auslegungsmethoden (Wortlaut; Entstehung; Systematik; Zweck) exemplarisch die Schlussanträge des GA Léger v. 13.11.2003 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier, EU:C:2003:615 Tz. 29 ff., 44 ff., 79 ff. und der GA Trstenjak v. 16.12.2010 – Rs. C-29/10 Koelzsch, EU:C:2011:789 Tz. 59 ff., 65 ff.,
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der „praktischen Wirksamkeit“ (effet utile) des Unionsrechts.99 Diese Auslegung des Unionsrechts in „klassischen Bahnen“ (und die durch sie gesetzten Grenzen) wird in der Sache bestätigt, wenn der Gerichtshof ausdrücklich oder implizit eine Korrektur (oder „erweiternde“ Auslegung) vor allem beim Richtlinienrecht ablehnt und eine solche dem Gesetzgeber überlassen will.100 Damit korrespondieren Aussagen der Generalanwälte, die darauf hinweisen, dass der Wortlaut einer Bestimmung als unüberschreitbare Schranke der Auslegung anzusehen ist, die weder durch eine Berufung auf den Zweck der (Richtlinien-)Bestimmung noch auf den effet utile überwunden werden könne;101 oder wenn der Grundsatz der Rechtssicherheit betont wird, der es erfordere, dass die unionsrechtlichen Vorschriften klar und ihre Anwendung für alle Betroffenen vorhersehbar sein müssten,102 was in besonderem Maße dann gelte, wenn es sich um eine Regelung handele, die sich für den Einzelnen nachteilig,103 insbesondere finanziell belastend,104 auswirken könne. 19 Im Schrifttum wird jedoch zu Recht auch auf den bisweilen rechtsfortbildenden Charakter der Rspr. des EuGH hingewiesen (in diesem Band § 12 Rn. 7 ff., 27 ff.),105 der sich vor allem im Primärrecht, aber auch im Verordnungsrecht zeigt: Als Beispiele für Letzteres mögen etwa die Urteile Leffler106 zu Art. 8 Abs. 1 der VO Nr. 1348/
70 ff., 80 f. Umfassend Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 329–478; s.a. Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 26 ff.; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787. 99 Dazu umfassend Tomasic, Effet utile, S. 77 ff. 100 So i. E. etwa EuGH v. 10.2.2004 – Rs. C-85/03 Mavrona, EU:C:2004:83 Rn. 17 ff.; EuGH v. 23.11. 2006 – Rs. C-5/05 Joustra, EU:C:2006:733 Rn. 46 (zum Steuerrecht); EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 Navas, EU:C:2006:456 Rn. 56; EuGH v. 9.7.2020 – Rs. C-264/19 Constantin Film Verleih, EU:C:2020:542 Rn. 36. Betreffend eine Verordnung implizit EuGH v. 9.10.2019 – Rs. C-548/18 BGL BNP Paribas, EU: C:2019:848 Rn. 37; EuGH v. 1.10.2020 – Rs. C-526/19 Entoma, EU:C:2020:769 Rn. 41–43. 101 GA Léger, Schlussanträge v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:568 Tz. 81 ff. Bei einem klaren Wortlaut bestehe „die einzige mögliche Lösung somit darin, sich an die durch den Wortlaut der Vorschrift vorgegebene Auslegung zu halten und den Zweck zu vernachlässigen, den die Richtlinie, zu der die Vorschrift gehört, verfolgt. Es wäre mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit nämlich nicht vereinbar, auf die teleologische Auslegung oder den Begriff der 'praktischen Wirksamkeit' zurückzugreifen, um einer Gemeinschaftsrechtsvorschrift aufgrund dessen, dass ihr Wortlaut nicht zur Erreichung des Zieles beiträgt, das mit der Richtlinie, zu der sie gehört, verfolgt wird, einen Sinn zu verleihen, den sie offensichtlich nicht haben kann“ (Tz. 94). Bestätigt durch EuGH v. 1.10.2020 – Rs. C-526/19 Entoma, EU:C:2020:769 Rn. 36, 41–42 (keine Auslegung des Unionsrechts contra legem; Rn. 43). 102 GA Jacobs, Schlussanträge v. 21.4.2005 – Rs. C-174/03 Impresa Portuale di Cagliari, EU:C:2005: 244 Tz. 65 unter Verweis auf EuGH v. 15.1.1998 – Rs. C-44/96 Mannesmann Anlagenbau Austria, EU:C:1998:4 Rn. 34; ebenso GA Sharpston, Schlussanträge v. 2.7.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, EU:C:2009:416 Rn. 90. 103 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-337/07 Altun, EU:C:2008:744 Rn. 60; EuGH v. 22.6.2017 – Rs. C-49/16 Unibet International, EU:C:2017:491 Rn. 43. 104 EuGH v. 2.12.2009 – Rs. C-358/08 Aventis Pasteur, EU:C:2009:744 Rn. 46 f. 105 Vgl. etwa Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 503 ff. 106 EuGH v. 8.11.2005 – Rs. C-443/03 Leffler, EU:C:2005:665 Rn. 43 ff. Vgl. auch die Schlussanträge von GA Stix-Hackl v. 28.6.2005 – Rs. C-443/03 Leffler, EU:C:2005:409 Tz. 61 ff.
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2000107 und Lindner108 zum persönlichen Anwendungsbereich der Brüssel I-VO109 dienen, in denen der spezifisch rechtsfortbildende Charakter des jeweiligen Urteils allerdings nicht näher thematisiert wird. Es liegt von daher nicht fern anzunehmen, dass die in Rn. 18 zitierten Aussagen des EuGH auch dazu dienen (sollen), die durchaus legitime, sich im Rahmen der Unionskompetenzen bewegende rechtsfortbildende Funktion der Rechtsprechung des EuGH110 eher zu verschleiern, um einem denkbaren Konflikt mit den Mitgliedstaaten über die Rolle des Gerichtshofs im System der Institutionen der Union aus dem Wege zu gehen.111 Im Urteil Sturgeon112 wird die Ausdehnung des Ausgleichsanspruchs des Art. 7 der VO Nr. 241/2004113 auf Fälle einer gro-
107 Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates v. 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2000 L 160/37. Inzwischen ersetzt durch Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates, ABl. 2007 L 324/79. 108 EuGH v. 17.11.2011 – Rs. C-327/10 Lindner, EU:C:2011:745 Rn. 32 (bei unbekanntem Wohnsitz des Beklagten). 109 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/1. Inzwischen ersetzt durch Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2012 L 351/1. 110 Die Kompetenz des EuGH zur Rechtsfortbildung wird auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannt; vgl. etwa BVerfGE 75, 223, 242 f.; BVerfGE 126, 286, 305 ff.; BVerfGE 142, 123 Rn. 161; vgl. aus dem Schrifttum Horsley, CMLR 50 (2013), 931; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 819 ff. sowie Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 7 f. S. auch Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU (2013); Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice (2012); Dawson/de Witte/ Muir, Judicial Activism at the European Court of Justice (2013); Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht (2011); Sankari, European Court of Justice Legal Reasoning in Context (2013); Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH (2009). 111 Frühe Kritik an der aktiven Rolle des Gerichtshofs vor allem im Hinblick auf das Primärrecht bei Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice (1986); später etwa die Beiträge in G.H. Roth/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten (2008); Gerken/Rieble/G.H. Roth/Stein/Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt (2009). S. auch Wieland, NJW 2009, 1841; Haltern/Bergmann (Hrsg.), Der EuGH in der Kritik (2012); Adams u. a. (Hrsg.), Judging Europe’s Judges (2013). 112 EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, EU:C:2009:716. Vgl. zu diesem Urteil etwa die Besprechung von Riesenhuber, in: Karakostas/Riesenhuber (Hrsg.), Methoden- und Verfassungsfragen der Europäischen Rechtsangleichung (2011), S. 41–62 und Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 34. 113 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 L 46/1.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
ßen Verspätung eines Fluges114 zwar ausdrücklich auch auf den primärrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt, der rechtsfortbildende Charakter dieser Judikatur aber nicht näher thematisiert.115 20 Wie auch immer im Einzelnen die Rolle des EuGH bei der Anwendung und Fortbildung des Unionsrechts einzuschätzen ist, so sollte doch eines klar sein: Für das Gebot der richtlinienkonformen „Auslegung“ gilt, dass dieses Gebot nicht unmittelbar auf ein „Auslegungs“-Verständnis verweist, wie es von den Unionsgerichten im Umgang mit dem Unionsrecht praktiziert wird. Vielmehr geht es um eine von Art. 288 Abs. 3 AEUV gesteuerte Aufgabe für die nationalen Gerichte, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten (dazu Rn. 22) – wozu dann auch die Rechtsfortbildung gehören kann (aber nicht muss) – das nationale Recht in Übereinstimmung mit den unionsrechtlichen Vorgaben zu bringen. Im Schrifttum wird deshalb zu Recht vorgeschlagen, statt von einem Gebot richtlinienkonformer Auslegung von einem Gebot richtlinienkonformer Rechtsfindung zu sprechen.116
7. Methodische und inhaltliche Vorgaben für die nationalen Gerichte 21 Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung auf der Grundlage des Art. 288 Abs. 3 AEUV
eine Reihe von methodischen und inhaltlichen Vorgaben entwickelt, an die sich die nationalen Gerichte bei der Auslegung und Anwendung ihres nationalen, sich im Anwendungsbereich einer Richtlinie befindlichen Rechts zu halten haben.
114 Diese Rechtsprechung ist inzwischen vielfach bestätigt worden: EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u. a., EU:C:2012:657 Rn. 34 ff.; EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-11/11 Folkerts, EU:C:2013:106 Rn. 32, 47; EuGH v. 7.9.2017 – Rs. C-559/16 Bossen u. a., EU:C:2017:644 Rn. 21; EuGH v. 11.7.2019 – Rs. C-502/18 CS, EU:C:2019:604 Rn. 19; EuGH v. 29.7.2019 – Rs. C-354/18 Rusu, EU: C:2019:637 Rn. 26. Vgl. auch den merkwürdig schroffen und argumentativ sehr knappen Beschluss des EuGH v. 18.4.2013 – Rs. C-413/11 Germanwings, EU:C:2013:246 Rn. 16 ff., wonach durch die vom EuGH in der Rs. Sturgeon vorgenommene „Auslegung“ der VO der Grundsatz der Gewaltenteilung in der Union nicht berührt werde. Ebenso BGH, NJW-RR 2013, 1065 Rn. 18. Im Schrifttum ist die Sturgeon-Entscheidung immerhin zunächst heftig kritisiert worden; s. etwa Politis, EuZW 2014, 8, 11 („ultra vires“). 115 Die (am Gleichbehandlungsgrundsatz orientierte) primärrechtskonforme „Auslegung“ der VO betont etwa EuGH v. 7.9.2017 – Rs. C-559/16 Bossen u. a., EU:C:2017:644 Rn. 19. Zu den Grenzen der Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH etwa Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 511–514; Neuner in diesem Band § 12 Rn. 11 ff.; Schwarze, FS Hirsch (2008) 165; di Fabio, Grenzen der Rechtsfortbildung in Europa (2012); Lochmann, EuR 2019, 61. 116 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 50. Ebenso etwa Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 77. Das BVerfG spricht von „rechtsfortbildende[r] Auslegung“ und „Rechtsfindung“; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 35, 40, 43.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
a) „So weit wie möglich“ Seit dem Urteil von Colson werden die nationalen Gerichte dazu angehalten, die richt- 22 linienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfindung (Rn. 20) im Rahmen ihrer Zuständigkeit „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den [ihnen] das nationale Recht einräumt“,117 zu praktizieren. Damit wird zunächst auf das nationale Recht mit den darin entwickelten und anerkannten Auslegungsmethoden verwiesen.118 Freilich bleibt es nicht bei dieser Verweisung auf das nationale Recht. Seit dem Urteil Marleasing119 wird die Zielrichtung für die volle Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums dahingehend umschrieben, dass es darum gehen müsse, die Auslegung des nationalen Rechts „soweit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten,120 um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen.121 Die richtlinienkonforme Auslegung gewinnt hier die Bedeutung einer interpretatorischen Vorrangregel,122 wonach einer im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethode gegenüber einer anderen der Vorrang einzuräumen ist, wenn und soweit dies dem Ziel der Richtlinie dient (s. unten Rn. 46 ff.).123 Dies gilt für das gesamte nationale Recht, und dies auch, soweit es der Richtlinie vorausgehend erlassen worden ist.124
117 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 28. 118 St. Rspr.; zuletzt z. B. EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701 Rn. 37; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 42; EuGH v. 11.2.2021 – Rs. C-760/18 M.V. u. a., EU:C:2021:113 Rn. 68. 119 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU:C:1990:395 Rn. 8. 120 So die st. Rspr.; z. B. EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo u. a., EU: C:2000:346 Rn. 30; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 113, 117, 119; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, EU:C:2009:466 Rn. 60; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 24; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2014:2 Rn. 38; EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU: C:2016:278 Rn. 31; EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402 Rn. 69; s. auch BVerfG, ZIP 2015, 335 Rn. 31. 121 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 111; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car, EU:C:2009:466 Rn. 60; st. Rspr. 122 So die gegenüber der „Vorzugsregel“ (EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Groupo u. a., EU:C:2000:346 Rn. 32; so auch Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616; Möllers, GS Wolf (2011), S. 669, 674 mit Fn. 48) vorzugswürdige Terminologie bei Canaris, FS R. Schmidt, S. 49 f.; Herresthal/Weiß, Fälle zur Methodenlehre, Rn. 224; Herresthal, JuS 2014, 289, 291; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 168 f. („Beachtungsvorrang“). Vgl. auch BVerfGK 19, 89 Rn. 46, wo von einem sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergebenden „Optimierungsgebot“ die Rede ist. Im Anschluss an den Kammerbeschluss des BVerfG auch BAGE 142, 371 Rn. 30 und BAGE 165, 376 Rn. 19 sowie jüngst BFH, BStBl II 2020, 601, Rn. 23. Vgl. auch EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C-331/18 Pohotovost', EU:C:2019:665 Rn. 54 („bestmöglich“). 123 Z. B. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 124. Aus der Literatur etwa bereits Lutter, JZ 1992, 593, 604 f. (dazu W.-H. Roth, ZIP 2020, 2488, 2493 f.); Gebauer, AnwBl 2007, 314, 317. S. auch Brenncke, Judicial Law-Making, S. 272. 124 Z. B. EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Groupo u. a., EU:C:2000:346 Rn. 30 sowie die in Fn. 88 aufgeführten Nachweise.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
b) Umsetzungsgesetzgebung und Absicht des Gesetzgebers 23 In der Rechtssache Pfeiffer formulierte der EuGH (im Anschluss an das Urteil Wagner
Miret125) eine unionsrechtliche Vorgabe speziell für die Auslegung solcher innerstaatlichen Vorschriften, die zur Umsetzung einer Richtlinie erlassen worden sind: In einer solchen Konstellation habe, so der EuGH, „[d]as Gericht […] in Anbetracht des Artikels 249 Absatz 3 EG [nunmehr Art. 288 Abs. 3 AEUV] davon auszugehen, dass der Staat, wenn er von dem ihm durch diese [Richtlinien-]Bestimmung eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat, die Absicht hatte, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen.“126
Die potentielle Tragweite dieser Auslegungsregel wird deutlich, wenn man sie mit einer eher beiläufigen Stellungnahme zum Verhältnis richtlinienkonformer und historischer Auslegung des nationalen Rechts im Urteil Björnekulla Fruktindustrier AB in Zusammenhang bringt, wo es heißt: Eine richtlinienkonforme Auslegung sei vorzunehmen „und zwar ungeachtet entgegenstehender Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben könnten“.127 Nimmt man den EuGH hier beim Wort, würde damit die für das nationale Recht diskutierte Frage, ob und inwieweit auf den konkreten Willen des Gesetzgebers, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen, zurückzugreifen ist (dazu Rn. 63, 65 ff.), durch das Unionsrecht überlagert bzw. eingefärbt: Der Wille des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, wäre für das nationale Gericht nicht nur als Auslegungstopos relevant. Vielmehr müsste der nationale Richter bei der Auslegung des Umsetzungsrechts immer davon ausgehen, dass der Gesetzgeber den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen „in vollem Umfang“ nachkommen wollte.128 Damit würde eine wichtige Vorgabe für die Auslegung (bzw. Fortbildung) (zumindest129) des Umsetzungsrechts festgeschrieben: Die konkrete Zwecksetzung des Gesetzgebers hätte hinter seinem (bloß) zu vermutenden Willen, richtlinienkonform umzusetzen, zurückzutreten – dies zumindest immer dann, solange nicht konkrete Hinweise dafür vorlägen, dass der Gesetzgeber bewusst eine richtlinienwidrige Lösung verfolgt hat. 24 Ob der EuGH an dieser Auslegungsregel festhalten will, erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil in der Folgerechtsprechung auf sie nicht mehr Bezug genommen
125 EuGH v. 16.12.1993 – Rs. C-334/92 Wagner Miret, EU.C:1993:945 Rn. 20. 126 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 112; darauf Bezug nehmend BGHZ 201, 101 Rn. 23 sowie im Anschluss daran BVerwGE 157, 149 Rn. 29. 127 EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier, EU:C:2004:275 Rn. 13 a. E. 128 In diesem Sinne im Anschluss an das Pfeiffer-Urteil etwa BAGE 130, 119 Rn. 58 f. und BAGE 132, 247 Rn. 25; vgl. auch BGHZ 201, 101 Rn. 23. 129 Das Urteil Wagner Miret lässt sich aber auch dahingehend lesen, dass die in Frage stehende Auslegungsregel auch für nationale Gesetzgebung, die zeitlich vor der Richtlinie erlassen worden ist, Geltung beanspruchen soll; EuGH v. 16.12.1993 – Rs. C-334/92 Wagner Miret, EU:C:1993:945 Rn. 20.
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worden ist.130 Vielmehr betont der EuGH seit dem Urteil Adeneler, dass „[d]ie Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, […] nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen [dürfe].“131 Wie auch immer der Begriff des contra-legem-Judizierens zu verstehen ist (dazu Rn. 36 ff.), wird man jedenfalls davon ausgehen müssen, dass die im Wortlaut der nationalen (Umsetzungs-)Norm sich widerspiegelnde Regelungsabsicht des nationalen Gesetzgebers vom Unionsrecht auch dann nicht für irrelevant gehalten werden kann, wenn sie den Richtlinienzielen zuwiderläuft. Im Übrigen wäre dem EuGH nahe zu legen, sich von der angedeuteten Aus- 25 legungsregel (i. S. v. Rn. 23) explizit zu verabschieden.132 Denn es erscheint völlig ungewiss, auf welche unionsrechtliche Grundlage eine solche Auslegungsregel hinsichtlich des nationalen Rechts gestützt werden könnte. Gewiss ist der EuGH im Rahmen seiner Auslegungskompetenz befugt, die Reichweite und Wirkungsweise sekundärrechtlicher Maßnahmen im Rahmen des Art. 288 Abs. 3 AEUV zu bestimmen. Die Auslegungsregel der vorbezeichneten Art trifft aber dazu keine Aussage, sondern ist vielmehr eine Stellungnahme zum nationalen Umsetzungsakt, genauer: dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Umsetzungszweck.133 Dieser Problemkreis hat auch mit der in Rn. 22 angesprochenen Frage eines interpretatorischen Vorrangs der richtlinienkonformen Auslegung nichts zu tun. Hiervon zu unterscheiden ist jedoch die ganz andere Frage, ob eine solche Auslegungsregel in der jeweiligen mitgliedstaatlichen Methodik und mithin kraft nationalen Rechts existiert (dazu Rn. 63 f.).134
130 Zuletzt hat sie GA Szpunar aber noch einmal in seinenSchlussanträgen vom 25.2.2016 in den verb.Rs. C-458/14 und C-67/15 Promoimpresa, EU:C:2016:122 Tz. 103 unter Bezugnahme auf das Pfeiffer-Urteil des EuGH in Erinnerung gerufen. Ebenso jüngst GA Kokott, Schlussanträge v. 10.9.2020 – Rs. C-735/19 Euromin Holdings (Cyprus), EU:C:2020:697 Rn. 56 mit Blick auf Vorschriften, die nicht speziell zum Zweck der Umsetzung einer Richtlinie geschaffen wurden oder bereits vor Inkrafttreten derselben existierten. 131 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 110; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, EU:C:2008:223 Rn. 100; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, EU: C:2009:466 Rn. 61; st. Rspr.; aus jüngerer Zeit etwa EuGH v. 21.9.2017 – Rs. C-605/15 Aviva, EU: C:2017:718 Rn. 37; EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 71; EuGH v. 7.8. 2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 40; EuGH v. 11.9.2018 – Rs. C-68/17 IR, EU:C:2018:696 Rn. 63; EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Pawlak, EU:C:2019:260 Rn. 82, 84, 85; EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C-331/18 Pohotovost’, EU:C:2019:665 Rn. 54, 56. Vgl. auch EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, EU:C:2005:386 Rn. 47; EuGH v. 29.6.2017 – Rs. C-579/15 Popławski, EU:C:2017:503 Rn. 33; EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 67 jeweils zu den Grenzen rahmenbeschlusskonformer Auslegung nationalen Rechts. 132 Anders offenbar Brenncke, EuR 2015, 440, 447–449; ders., Judicial-Law Making, S. 272 f.; Preis/ Sagan-Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. (2019), Rz. 1.150. 133 Vgl. auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916 und Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 99 f., die vor diesem Hintergrund eine solche unionsrechtliche Auslegungsregel aus „kompetenzrechtlichen Gründen“ ablehnen. Dagegen Brenncke, EuR 2015, 440, 458 f. 134 In diesem Sinne für die deutsche Methodik BVerfGK 19, 89 Rn. 51; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 44.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
c) Äquivalenzgrundsatz 26 In st. Rspr. betont der Gerichtshof, dass es dem nationalen Richter obliegt, für Zwecke
der richtlinienkonformen Auslegung alle im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden (präziser: Rechtsfindungsmethoden) anzuwenden.135 Diese Aussage findet eine Konkretisierung in dem in der Rspr. entwickelten Äquivalenzgrundsatz,136 der den Auslegungs- bzw. Rechtsfindungsvorgang der nationalen Gerichte steuern soll: Der nationale Richter hat, um richtlinienkonforme Ergebnisse zu erreichen, sich zumindest desselben methodischen Instrumentariums zu bedienen, das ihm bei der Entscheidung von Fällen im Rahmen des autonomen nationalen Rechts zur Verfügung steht.137 Das bedeutet: Wenn und soweit dem Richter die teleologische Extension bzw. Reduktion und die Analogie im Umgang mit autonomem nationalem Recht zur Hand sind, muss er diese Instrumente auch zum Zwecke richtlinienkonformer Auslegung bzw. Fortbildung des nationalen Rechts einsetzen, um dem Vorwurf einer Diskriminierung des Unionsrechts zu entgehen. 27 Im Urteil Pfeiffer verweist der Gerichtshof ausdrücklich auch auf die im nationalen Recht ggf. entwickelten Grundsätze über Normkollisionen,138 um für Zwecke einer richtlinienkonformen Auslegung auf die Möglichkeit einer den Wortlaut einschränkenden oder aber einer bloß teilweisen Anwendung einer nationalen Norm hinzuweisen. Es geht hierbei nicht um einen Vorrang des Richtlinienrechts, sondern allein um seine bloße Gleichbehandlung im Rahmen der im nationalen Recht praktizierten Aus135 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 116; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, EU:C:2006:443 Rn. 111; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 27; st. Rspr.; zuletzt etwa EuGH v. 11.9.2018 – Rs. C-68/17 IR, EU:C:2018:696 Rn. 63; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 42; EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 66 (bei rahmenbeschlusskonformer Auslegung). 136 Aus der Rspr. z. B. EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draempaehl, EU:C:1997:208 Rn. 28–30; EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 VALE, EU:C:2012:440 Rn. 48, 54–57; EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-397/11 Jőrös, EU:C:2013:340 Rn. 29–31; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-429/12 Pohl, EU:C:2014:12 Rn. 23, 26–28; vgl. auch EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 25. 137 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 116; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, EU:C:2008:223 Rn. 102; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, EU:C:2009:466 Rn. 63; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 27; zuletzt etwa EuGH v. 22.1.2019 – Rs. C-193/17 – Cresco Investigation, EU:C:2019:43 Rn. 74; EuGH v. 11.9. 2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701 Rn. 39; EuGH v. 10.12.2020 – Rs. C-735/19 Euromin Holdings (Cyprus), EU:C:2020:1014 Rn. 75–76 („teleologische Reduktion“). 138 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 116. Bestätigt durch EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, EU:C:2009:466 Rn. 63: „Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das in der fraglichen Richtlinie festgelegte Ergebnis zu erreichen (vgl. Urteil Pfeiffer u. a., Randnr. 116).“ Vgl. auch EuGH v. 11.2.2021 – Rs. C-760/18 M.V. u. a., EU: C:2021:113 Rn. 69 f., 75.
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legungsmethoden,139 um das Richtlinienziel zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang mag auch eine gespaltene Anwendung des nationalen Rechts140 innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs einer Richtlinie ihre Rechtfertigung finden.
d) Effektivitätsgrundsatz Der Effektivitätsgrundsatz („effet utile“) leitet nicht nur die Auslegung des Unions- 28 rechts (in diesem Band § 10 Rn. 45 m. w. N. aus der Rspr.)141, sondern ist auch und gerade eine wichtige Vorgabe für die Umsetzung einer Richtlinienbestimmung durch den nationalen Gesetzgeber sowie die Auslegung des nationalen Rechts durch die mitgliedstaatlichen Gerichte.141a Dabei kommt dem Effektivitätsgrundsatz eine zweifache Bedeutung zu. Zum einen verlangt der Effektivitätsgrundsatz in seiner eher negativ wirkenden 29 Dimension (in der Rspr. zumeist zusammen mit dem Äquivalenzgrundsatz142 (dazu auch oben Rn. 26) zitiert und geprüft)142a, dass die Wahrnehmung durch das Unionsrecht verliehener Rechte und Ansprüche nicht durch das nationale Recht (vor allem Verfahrensrecht) „unmöglich gemacht“ oder „übermäßig erschwert“ werden darf.143 Beispiel hierfür ist etwa die Judikatur zu den KFZ-Haftpflichtversicherungs-Richt
139 In diesem Sinne Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, S. 97 f.; anders noch die Vorauflage Rn. 32 f. Vgl. auch Mörsdorf, EuR 2009, 219, 224 f., wonach es für die Anwendung des Gleichbehandlungsgebots in der vorliegenden Konstellation an der Vergleichbarkeit der Sachverhalte fehle. 140 Dazu etwa BGHZ 195, 135 Rn. 22; BGHZ 201, 101 Rn. 28–32; BGH, NJW 2015, 1023 Rn. 27 sowie zuletzt BGH, ZIP 2021, 566 Rn. 13 mwN. Zu möglichen verfassungsrechtlichen Grenzen s. BVerfG, NJW 2005, 2363, 2371. 141 Z. B. EuGH v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 Meister, EU:C:2012:217 Rn. 39 ff.; EuGH v. 16.4.2015 – Rs. C-388/13 Nemzeti, EU:C:2015:225 Rn. 51; EuGH v. 21.11.2018 – Rs. C-452/17 Zako, EU:C:2018:935 Rn. 47; vgl. aus der Literatur nur Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 463 ff. mwN. 141a Vgl. etwa GA Kokott, Schlussanträge v. 21.1.2021 – Rs. C-844/19 technoRent International u. a., EU:C:2021:58 Tz. 49–52. 142 Danach sollen die Mitgliedstaaten keine Verfahrensmodalitäten vorsehen, die ungünstiger sind als die Modalitäten, die für in Anbetracht ihres Verfahrensgegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Gesichtspunkte entsprechende Klagen gelten, die auf einen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gestützt werden; EuGH v. 14.10.2020 – Rs. C-677/19 Valoris, EU:C:2020:825 Rn. 29. Zu den dabei im Einzelnen maßgebenden Kriterien s. EuGH v. 24.3.2009 – Rs. C-445/06 Dansk Slagterier, EU: C:2009:178 Rn. 41; EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-78/98 Preston u. a., EU:C:2000:247 Rn. 61–63. 142a Z. B. EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 32 ff.; EuGH v. 14.10.2020 – Rs. C-677/19 Valoris, EU:C:2020:825 Rn. 21 ff. 143 Sog. „Rewe“-effectiveness; EuGH v. 16.12.1976 – Rs. 33/76 Rewe-Zentralfinanz, EU:C:1976:188 Rn. 5; EuGH v. 21.11.2002 – Rs. C-473/00 Cofidis, EU:C:2002:705 Rn. 35; EuGH v. 26.11.2015 – Rs. C-166/14 MedEval, EU:C:2015:779 Rn. 41; zuletzt etwa EuGH v. 26.6.2019 – Rs. C-407/18 Addiko Bank, EU:C:2019:537 Rn. 48; EuGH v. 14.10.2020 – Rs. C-677/19 Valoris, EU:C:2020:825 Rn. 24. Dazu näher Tomasic, Effet utile, S. 14 f.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
linien,144 die für die Ausgestaltung der Versicherungsdeckung einen zu weit gehenden Deckungsausschluss im nationalen Recht im Hinblick auf den verfolgten Opferschutz nicht akzeptiert.145 Darüber hinaus soll gelten: Auch wenn das nationale Haftpflichtrecht von den Richtlinien grundsätzlich unberührt bleiben soll, kann der Ausschluss jeglicher Haftpflichtansprüche zu Lasten eines Unfallopfers oder deren Begrenzung unterhalb der Mindestdeckungssummen als richtlinienwidrig angesehen werden.146 30 Zum anderen gewinnt der Effektivitätsgrundsatz eine positive Dimension (im Sinne „praktischer“ bzw. „voller“ Wirksamkeit147), die darauf abzielt, die Richtlinienvorgaben durch das nationale Recht in effektiver Weise durchzusetzen. Dies gilt etwa für die Maßgabe, Verstöße gegen Richtlinienvorgaben in abschreckender, verhältnismäßiger und effektiver Weise zu sanktionieren,148 und dies auch dort, wo das Sekundärrecht den Mitgliedstaaten die Wahl der Sanktionen überlässt.149 Die durch das Unionsrecht vorgesehene Begrenzung von Höchstarbeitszeiten und die Regelung von Ruhezeiten verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, die Beachtung dieser Regelungen durch die Arbeitgeber zu gewährleisten und ein verlässliches und an die Gegebenheiten im Einzelnen angepasstes Überwachungssystem zu installieren,150 dessen Eignung und Effektivität am Ende die Gerichte zu beurteilen haben. Die praktische Wirksamkeit der Zielvorgabe einer Richtlinie erfordert es etwa auch, ein in der Rechtstradition tief verankertes privatrechtliches Institut wie das Kumulierungsverbot zum Zwecke der Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums unangewendet zu lassen.151 Insbesondere im Verbraucherrecht muss das nationale Umsetzungsrecht der Anforderung „praktischer Wirksamkeit“ genügen. Bei Statuierung von Belehrungs-
144 Richtlinien 72/166/EWG (ABl. 1972 L 103/1), 84/5/EWG (ABl. 1984 L 8/17) und 90/232/EWG (ABl. 1990 L 129/33) des Rates sowie der Richtlinien 2005/14/EG (ABl. 2005 L 149/14) und 2009/103/EG (ABl. 2009 L 263/11) des Europäischen Parlaments und des Rates über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. 145 EuGH v. 30.6.2005 – Rs. C-537/03 Candolin u. a., EU:C:2005:417 Rn. 28 f.; EuGH v. 9.6.2011 – Rs. C409/09 Lavrador, EU:C:2011:371 Rn. 29. 146 EuGH v. 24.10.2013 – Rs. C-22/12 Haasová, EU:C:2013:692 Rn. 42 f.; EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-371/ 12 Petillo, EU:C:2014:26 Rn. 32–33 (nationales Deliktsrecht darf nicht in einer Weise ausgestaltet sein, dass den Zielen der unionsrechtlichen Pflichtversicherung ihre praktische Wirksamkeit genommen wird). 147 Vgl. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 114; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:650 Rn. 29; zuletzt etwa EuGH v. 19.12. 2019 – verb. Rs. C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 Rust-Hackner u. a., EU:C:2019:1123 Rn. 62, 65, 100, 104, 107; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 39, 42, 44. Dazu Tomasic, Effet utile, S. 16 ff. 148 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 23; EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draempaehl, EU:C:1997:208 Rn. 25–26. 149 Zuletzt EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 25. 150 EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402 Rn. 40 f., 42, 50, 60, 65. 151 EuGH v. 18.12.2019 – Rs. C-666/18 IT Development, EU:C:2019:1099 Rn. 44 f.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
pflichten gegenüber Verbrauchern (Versicherungsnehmern) sind die nationalen Umsetzungsvorschriften in einer Weise zu gestalten und entsprechend auszulegen, dass der Verbraucher umfassend, klar und verständlich über seine Rechte informiert wird,152 um die praktische Wirksamkeit der von der Richtlinie angestrebten Zielsetzung zu erreichen.153 Auch wenn die Zuständigkeit für die Ausgestaltung eines Rücktrittsrechts des Verbrauchers in den Händen der Mitgliedstaaten liegt, so ist eine rechtzeitige, eindeutige und zutreffende Information über die Modalitäten des Rücktritts erforderlich, damit dieses Recht nicht leer läuft.154 Ähnliches gilt für die Bedingungen, Fristen und Modalitäten für die Ausübung des Widerrufsrechts.155 Schließlich dient die für das nationale Verfahrensrecht geltende Anforderung, das materielle europäische Verbraucherrecht von Amts wegen anzuwenden,156 und ggf. eigenständige „Untersuchungsmaßnahmen“ (etwa in Form von Hinweisen auf Klarstellungen und Ergänzungen des Vortrags der Parteien, der Vorlage von Dokumenten etc.) durchzuführen,157 der wirksamen Durchsetzung der Richtlinienvorgaben.
e) Besonderheiten bei „quasi wörtlicher“ Übernahme von Richtlinienbestimmungen Bei nationalen Rechtsvorschriften, die in den Worten des EuGH eine „quasi wörtliche 31 Umsetzung“ („reproduced word for word“) einer Richtlinienbestimmung darstellen, reicht das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung weiter. Im Urteil Spedition Welter heißt es, „dass das vorlegende Gericht unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen die nationalen Rechtsvorschriften die Bestimmungen von Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 quasi wörtlich übernommen haben, verpflichtet ist, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden das nationale Recht so auszulegen, dass es mit der Auslegung dieser Richtlinie durch den Gerichtshof vereinbar ist.“158
152 EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, EU:C:2013:864 Rn. 23, 26. Dies kann ggf. auch eine inhaltliche Wiedergabe von gesetzlichen Regelungen im Vertrag erfordern (statt einer bloßen Verweisung auf sie); EuGH v. 26.3.2020 – Rs. C-66/19 Kreissparkasse Saarlouis, EU:C:2020:242 Rn. 46–47. Vgl. dazu im Nachgang auch BGH, WM 2020, 838 und ZIP 2020, 2391. 153 EuGH v. 19.12.2019 – verb. Rs. C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 Rust-Hackner u. a., EU: C:2019:1123 Rn. 55, 62, 65. 154 EuGH v. 19.12.2019 – verb. Rs. C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 Rust-Hackner u. a., EU: C:2019:1123 Rn. 62, 65, 70–71. 155 EuGH v. 23.1.2019 – Rs. C-430/17 Walbusch Walter Busch, EU:C:2019:47 Rn. 46; EuGH v. 26.3. 2020 – Rs. C-66/19 Kreissparkasse Saarlouis, EU:C:2020:242 Rn. 37. 156 St. Rspr.; zuletzt etwa EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 18, 23, 24, 40; EuGH v. 11.3.2020 – Rs. C-511/17 Lintner, EU:C:2020:188 Rn. 26 mwN aus der Rspr. 157 EuGH v. 11.3.2020 – Rs. C-511/17 Lintner, EU:C:2020:188 Rn. 36 mwN aus der Rspr. 158 EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:650 Rn. 32. Vgl. zu den (möglichen) Auswirkungen dieses Urteils etwa auch Franklin, E.L. Rev. 40 (2015), 910, 916 ff. und Haket, The EU Law Duty of Consistent Interpretation in German, Irish and Dutch Courts, S. 48–50.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
Auch wenn sich hier ein Verweis auf die im Recht des vorlegenden Gerichts „anerkannten Auslegungsmethoden“ findet, scheint der EuGH für solche nationalen Rechtsvorschriften, die eine Richtlinienbestimmung 1:1 umsetzen, davon auszugehen, dass sie kraft des unionsrechtlichen Gebots richtlinienkonformer Auslegung in Übereinstimmung mit der jeweiligen Richtlinienbestimmung (in der Auslegung durch den EuGH) ausgelegt werden müssen.159 In die gleiche Richtung zielten bereits die Schlussanträge von GA Cruz Villalón, in denen er im Anschluss an die Ausführungen der Europäischen Kommission160 formulierte: „Wenn der Gerichtshof die Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift bestätigt, sind die nationalen Bestimmungen zu ihrer unmittelbaren Umsetzung, sowie diejenigen, die die europäische Vorschrift genau wiedergeben, genauso auszulegen wie diese. Hat, wie hier, die nationale Umsetzungsbestimmung praktisch denselben Wortlaut wie die europäische Bestimmung, liegt es auf der Hand, dass nur eine einheitliche Auslegung der europäischen Bestimmung und der nationalen Bestimmung zulässig ist.“161
Diese Aussage wird dann im Urteil des EuGH bestätigt.162 Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH diesen Ansatz fortführen wird. Vor dem Hintergrund, dass der europäische Gesetzgeber im Bereich des Privatrechts in jüngerer Zeit verstärkt vollharmonisierende Richtlinien erlässt163 bzw. bislang mindestharmonisierende Richtlinien durch vollharmonisierende Richtlinien ersetzt164 und die nationalen Gesetzgeber zur Vermeidung von Fehlern bei der Umsetzung der jeweiligen Richtlinie häufig eine wortgetreue Umsetzung in das nationale Recht vornehmen (werden), ist die Tragweite dieser Rechtsprechung nicht zu unterschätzen.
f) Verpflichtung zur Änderung der Rechtsprechung 32 Die Verpflichtung der nationalen Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung steht
unter der Anforderung, alle nationalen Auslegungsmethoden zu aktivieren, um die volle Wirksamkeit des von der Richtlinie verfolgten Ziels zu erreichen. Diese Pflicht findet (nach st. Rspr.) ihre Grenze bei der contra legem Auslegung (dazu Rn. 36 ff.).
159 Ablehnend Brenncke, Statute Law Review 39 (2018), 134, 145 ff. Eine derartige unionsrechtliche Vorgabe (ohne Bezug auf das Urteil in der Rs. Spedition Welter) verneinend jüngst GA Kokott, Schlussanträge v. 3.10.2019 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2019:834, Tz. 77. 160 GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 30.5.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:359 Tz. 37. 161 GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 30.5.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:359 Tz. 38. 162 EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:650 Rn. 31–32. 163 Zu den sich daraus ergebenden Implikationen etwa Mittwoch, Vollharmonisierung und Europäisches Privatrecht (2013) sowie Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht (2009). 164 Zuletzt etwa Richtlinie (EU) 2019/771 vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs (ABl. 2019 L 136/28), mit der zum 1. Januar 2022 die bisherige mindestharmonisierende (vgl. ihren Art. 8 Abs. 2) Richtlinie 1999/44/EG vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (ABl. 1999 L 171/12) ersetzt wird.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
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Eine vergleichbare Schranke existiert dagegen nicht im Hinblick auf eine bereits gefestigte Rechtsprechung eines nationalen (Höchst-)Gerichts:165 In st. Rspr. verlangt der EuGH eine Änderung der Rechtsprechung eines mitgliedstaatlichen (Höchst-) Gerichts, wenn dessen bisherige Rechtsprechung auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die sich mit den Zielen der Richtlinie als unvereinbar erweist.166 Damit wird deutlich, dass der Auslegung nationalen Rechts – auch soweit es sich um Rechtsfortbildung handelt – nicht dieselben Wirkungen zugeschrieben werden wie dem Gesetzesrecht: Während die Judikative auf die contra legem Schranke stoßen kann und dadurch an einer richtlinienkonformen Auslegung gehindert sein mag, soll eine gefestigte Rechtsprechung insoweit keine Bindungswirkung (im Sinne des stare decisisPrinzips) entfalten können.167 Dies wohl zurecht, da die bei einer contra legem Auslegung anerkannte Schranke auf die im nationalen Recht vorfindliche Rollen- und Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative Rücksicht nehmen muss, die für die jeweiligen Höchstgerichte im Hinblick auf die eigene Rechtsprechung (auch wenn man ihr gesetzesähnliche Wirkungen zuschreiben wollte) nicht in vergleichbarer Weise existiert. Dies hat dann auch zur Konsequenz, dass Untergerichte aus eigener Entscheidungsbefugnis von einer von Obergerichten vorgenommenen Auslegung ggf. „abrücken“ müssen, wenn und soweit sich herausstellt, dass diese nicht mit den Regelungszielen einer Richtlinie(nbestimmung) vereinbar ist.168 Diese vom EuGH angenommene (und unmittelbar im Unionsrecht verankerte) 33 Verpflichtung der nationalen (Höchst-)Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, hat auch unmittelbare Implikationen für die zeitliche Dimension der Rechtsprechungsänderung. Ist es einem nationalen Gericht verwehrt davon auszugehen, dass eine nationale Vorschrift allein deshalb nicht im Einklang mit dem
165 S. die Nachweise in Fn. 166. In EuGH v. 23.5.2019 – Rs. C-52/18 Fülla, EU:C:2019:447 Rn. 47 wird die Pflicht zur Änderung einer gefestigten Rspr. über die nationalen Höchstgerichte hinausgehend auf alle Gerichte erstreckt; ebenso EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 43 f. Ebenso wenig besteht eine solche Schranke im Hinblick auf eine ständige Praxis der nationalen Behörden oder aber mit Bezug auf Lehrmeinungen („h.L.“); s. EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 68 f. 166 EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 33–34; EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 72–73; EuGH v. 11.9.2018 – Rs. C-68/17 IR, EU:C:2018:696 Rn. 64–65; EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402 Rn. 70; EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C331/18 Pohotovost', EU:C:2019:665 Rn. 56; EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701 Rn. 38; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 43. Dazu auch Baldus/Raff, GPR 2016, 71. In diesem Sinne (vor Etablierung der EuGH-Rspr.) bereits BGHZ 195, 135 Rn. 16 und BGHZ 207, 209 Rn. 33. Vgl. auch BGHZ 212, 224 Rn. 10, 14, 20 und 28. 167 Diese Rechtsprechung dürfte insbesondere Implikationen für diejenigen Mitgliedstaaten haben, in denen traditionell von einer strikteren Präjudizienbindung ausgegangen wird; vgl. hierzu etwa Kainer, GPR 2016, 262, 267. Nach dem Brexit dürfte dies insbesondere Irland und offenbar auch Dänemark (vgl. hierzu die Ausführungen des vorlegenden Gerichts in EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278) betreffen. 168 EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 44.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
Unionsrecht ausgelegt werden kann, weil sie bislang in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit der Richtlinie vereinbaren Sinne ausgelegt wurde, dürfte es dem Gericht regelmäßig verwehrt sein, aus Gründen des nationalen (z. B. in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten) Vertrauensschutzes eine Rechtsprechungsänderung lediglich mit Wirkung ex nunc vorzunehmen. Denn die Gewährung von Vertrauensschutz und die damit verbundene Unterlassung der richtlinienkonformen Auslegung einer nationalen Norm für die Vergangenheit ist zumindest auch eine Frage des Unionsrechts (s. Rn. 73).169 Neben der contra legem-Grenze (dazu Rn. 36 ff.) formuliert der EuGH zwar regelmäßig, dass die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auch durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt wird,170 inwieweit er im Rahmen dieser Grenze Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes heranziehen würde, ist bislang jedoch weitgehend ungeklärt.171 Die (wenigen) Äußerungen deuten jedoch darauf hin, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes – jedenfalls im Kontext von richtlinienbedingten Rechtsprechungsänderungen – dem Gebot der richtlinienkonformen Auslegung regelmäßig keine Schranke setzen dürfte (siehe aber auch Rn. 75).172
g) Entscheidung anhand der Umstände des Einzelfalls 34 Das Richtlinienrecht kann Vorgaben dazu machen, in welcher Weise seine Ziele – mittels abstrakt-genereller Regeln oder aber mit Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls – umzusetzen und durch die Gerichte anzuwenden sind. Unabhängig davon tendiert der Gerichtshof dazu, den Mitgliedstaaten eine Umsetzung vorzugeben, die anstelle abstrakt-genereller Regelungen eine Einzelfallbetrachtung erfordert. Einige wenige Beispiele müssen an dieser Stelle173 genügen. Verwendet der Unionsgesetz-
169 BVerfG, ZIP 2015, 335 Rn. 40. Zwischenzeitich geht das BAG – unter Verweis auf die vorgenannte Entscheidung des BVerfG – offenbar davon aus, dass die Gewährung von Vertrauensschutz „allein dem Gerichtshof“ obliegt; BAG, NZA 2020, 1006 Rn. 113. 170 Vgl. aus jüngerer Zeit etwa EuGH v. 17.10.2018 – Rs. C-167/17 Klohn, EU:C:2018:833 Rn. 48. 171 Vgl. näher Rosenkranz, ZfPW 2016, 351, 371–376. 172 Vgl. etwa zur Berücksichtigung einer Richtlinienbestimmung und einer damit einhergehenden Änderung der bisherigen Behördenpraxis in einem bei Ablauf der Umsetzungsfrist bereits anhängigen Verfahren EuGH v. 17.10.2018 – Rs. C-167/17 Klohn, EU:C:2018:833 Rn. 50–53. Hingegen wird man aus der Ablehnung von Vertrauensschutz in EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU: C:2016:278 Rn. 38 ff. für die hier diskutierte Problematik keine Rückschlüsse ziehen können, ging es doch um einen Fall, in dem eine nationale Regelung aufgrund eines Verstoßes gegen Primärrecht unangewendet zu lassen war; insoweit zutreffend Franzen/Gallner/Oetker-Höpfner, EuArbRK, Art. 288 AEUV Rn. 55. 173 Zum Folgenden W.-H. Roth, GPR 2016, 77, sowie (kürzer) ders., FS Müller-Graff (2015), S. 1087. Für den in der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (s. Fn. 164) nicht näher bestimmten Erfüllungsort der Verpflichtung des Verkäufers zur Nacherfüllung bei im Fernabsatz geschlossenen Verträgen soll es (an Art. 3 Abs. 3 orientiert) auf die Umstände des Einzelfalls ankommen; EuGH v. 23.5.2019 – Rs. C-52/18 Fülla, EU:C:2019:447 Rn. 45; im Hinblick auf Art. 8 Abs. 2 können die Mitgliedstaaten jedoch – derzeit
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
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geber (wie in Art. 6 Abs. 2 RL 93/13/EWG174) den „absichtlich unscharfe[n] Begriff“175 des „engen Zusammenhangs“ (für die Anknüpfung und Anwendung des nationalen Rechts), so soll dies „nach den Umständen des Einzelfalls die Berücksichtigung verschiedener Anknüpfungspunkte […] ermöglichen“176 und den Weg zu einer vom Einzelfall unabhängigen abstrakten Regelbildung sperren. Der „angemessene Ausgleich“ zwischen Rechteinhabern und Nutzern gem. Art. 5 Abs. 3 lit. k RL 2001/29/EG177 macht es notwendig, im nationalen Recht sämtliche Umstände des Einzelfalls178 zu berücksichtigen. Die „unangemessene“ Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nach den Erwägungsgründen Nr. 10 und 16 der RL 2004/38/EG179 ist durch das nationale Recht nicht nach abstrakt-generellen Regeln, sondern durch eine umfassende Beurteilung aller relevanten Aspekte zu leisten.180 Der Anspruch des Geschädigten nach der unionsrechtlich geregelten KFZ-Haftpflichtversicherung181 kann durch das nationale Recht nur „unter außergewöhnlichen Umständen“ und hierbei nicht durch allgemeine und abstrakte Kriterien, sondern nur aufgrund einer Einzelfallbetrachtung beschränkt werden.182 Schließlich dürfen die generalklauselartig formulierten Verhaltensregeln, die – wie in der RL 2005/29/EG183 – per se-Verbotsregeln ergänzen, in einer vollharmonisierenden Richtlinie nicht ihrerseits mittels per se-Verboten (und damit mit schärferen Regelungen als in der Richtlinie), sondern nur mittels Regelungen umgesetzt und angewendet werden, die eine Entscheidung aufgrund aller Umstände des Einzelfalls erlauben.184 noch (vgl. Fn. 164) – strengere regelgeleitete Bestimmungen zum Schutz der Verbraucher vorsehen (Rn. 46). 174 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 175 EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-70/03 Kommission ./. Spanien, EU:C:2004:505 Rn. 33. 176 EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-70/03 Kommission ./. Spanien, EU:C:2004:505 Rn. 32. 177 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.5.2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, ABl. 2001 L 167/10. 178 EuGH v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 Deckmyn, EU:C:2014:2132 Rn. 28. 179 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl. 2004 L 158/77. 180 EuGH v. 19.9.2013 – Rs. C-140/12 Brey, EU:C:2013:565 Rn. 64, 77. 181 S. Fn. 144. 182 EuGH v. 30.6.2005 – Rs. C-537/03 Candolin u. a., EU:C:2005:417 Rn. 30; EuGH v. 9.6.2011– Rs. C409/09 Lavrador, EU:C:2011:371 Rn. 29. 183 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern, ABl. 2005 L 149/22. 184 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 VTB-VAB, EU:C:2009:244 Rn. 65; EuGH v. 14.1.2010 – Rs. C-304/08 Plus Warenhandelsgesellschaft, EU:C:2010:12 Rn. 47 ff., 53; EuGH v. 17.1. 2013 – Rs. C-206/11 Köck, EU:C:2013:14 Rn. 35; EuGH v. 19.10.2017 – Rs. C-295/16 Eurapamur Alimentación, EU:C:2017:782 Rn. 40, 43; in diesem Sinne auch BGHZ 187, 231 Rn. 25–26.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
8. Schranken der richtlinienkonformen Auslegung a) Unionsrechtliche Schranken 35
aa) Allgemeine Rechtsgrundsätze. Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung bzw. Rechtsfindung (s. Rn. 17, 20) setzt für den nationalen Richter voraus, dass er sich des Inhalts und der Tragweite der Richtlinienvorgaben vergewissert, also die Richtlinie nach den für das Unionsrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen interpretiert (dazu in diesem Band § 10) und bei Zweifeln den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV einschaltet. Zur Ermittlung der Vorgaben und der Tragweite der Richtlinie sind die im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze, vor allem das Rückwirkungsverbot, der Grundsatz der Rechtssicherheit sowie die Unionsgrundrechte,185 wie sie auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt sind, mit heranzuziehen, in deren Rahmen sich sekundäres Unionsrecht bewegen und in deren Licht es interpretiert werden muss (dazu in diesem Band § 8). Zugleich spielen die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine wichtige Rolle für die Umsetzung der Richtlinien in das nationale Recht; sie beeinflussen mittelbar auch dessen Auslegung und Anwendung186 und sie setzen nach st. Rspr. des EuGH der richtlinienkonformen Auslegung und der Verpflichtung hierzu ihrerseits Schranken.187
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bb) Insbesondere: contra legem Auslegung. In st. Rspr. formuliert der Gerichtshof, dass die richtlinienkonforme Auslegung ihre Schranken „in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit, […] [findet], und zwar in dem Sinne, dass sie nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf […].“188 Die Tragweite dieser Aussage ist noch ungeklärt. Zum einen mag man sich fragen, ob der EuGH mit dem Verweis auf die contra legem Auslegung auf ein Institut des Unionsrechts verweist – mit der Konsequenz, dass das
185 St. Rspr.; zuletzt etwa EuGH v. 29.7.2019 – Rs. C-516/17 Spiegel Online, EU:C:2019:625 Rn. 52 und jüngst EuGH v. 2.2.2021 – Rs. C-481/19 Consob, EU:C:2021:84 Rn. 49–50. Dabei kann die fachgerichtliche Anwendung der Anforderungen der GRCh im Bereich „unionsrechtlich vollständig vereinheitlicher“ Regelungen nach der jüngeren Rspr. des BVerfG auch zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht werden; BVerfGE 152, 216 Rn. 42 ff., 50 ff., 57 ff., 60, 67 – Recht auf Vergessen II (1. Senat) und BVerfG, BeckRS 2020, 36592, Rn. 34–39, 41 (2. Senat). 186 EuGH v. 21.9.2017 – Rs. C-605/15 Aviva, EU:C:2017:718 Rn. 38; vgl. auch EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 53, 68 und EuGH v. 9.7.2020 – Rs. C-264/19 Constantin Film Verleih, EU:C:2020:542 Rn. 39 (jeweils zu den Grundrechten und zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). 187 EuGH v. 28.6.2005 – verb. Rs. C-189/02 P u. a. Dansk Rorindustri u. a., EU:C:2005:408 Rn. 220; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, EU:C:2009:466 Rn. 61; EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 32; EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Pawlak, EU:C:2019:260 Rn. 85; EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C-331/18 Pohotovost', EU:C:2019:665 Rn. 56. 188 EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Pawlak, EU:C:2019:260 Rn. 85; EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C-331/18 Pohotovost’, EU:C:2019:665 Rn. 56, u. ö.; s. die Nachweise in Fn. 131.
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Unionsrecht selbst über die Voraussetzungen des Vorliegens einer contra legem Auslegung entscheidet – oder ob dafür auf das jeweils zur Anwendung berufene nationale Recht und seine Auslegungsmethoden verwiesen werden soll (dazu Rn. 39).189 Zum anderen ist unklar, ob (wie die obige Formulierung es nahe legt) die contra legem Auslegung als Unterfall eines Verstoßes gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit und damit als generell unzulässig anzusehen ist („darf nicht […] dienen“190), oder aber ob allein die aus Art. 288 Abs. 3 AEUV folgende unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung eingeschränkt werden soll, mit der Konsequenz, dass der nationale Richter durch das Unionsrecht nicht an einer – kraft nationalen Rechts zulässigen (dazu Rn. 51 ff.) – contra legem Auslegung gehindert werden soll (dazu Rn. 37–38). Hinsichtlich der zweiten Frage fällt auf, dass die Urteile in ihren Formulierungen 37 (vor allem in der deutschen Sprachfassung) divergieren. So heißt es im Impact-Urteil, dass die Verpflichtung („Gebot“; „exigence“; „requirement“) zur richtlinienkonformen Auslegung den nationalen Richter nicht zu einem contra legem Judizieren zwingt („ne pourrait“; „require“)191 – und damit, so lässt sich folgern, eine nach nationalem Recht mögliche contra legem Auslegung auch nicht untersagt. Sodann finden sich Formulierungen dahingehend, dass die Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung nicht als Grundlage („basis“) für eine Auslegung contra legem dienen darf (bzw. kann),192 wobei nicht eindeutig ist, ob damit nur von der Pflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV entbunden wird oder auch – kraft Unionsrechts – die Möglichkeit zu einer solchen Auslegung kraft nationalen Rechts ausgeschlossen werden soll.193 Deut
189 Zu dieser Fragestellung auch Kainer, GPR 2016, 262, 264 f. 190 Z. B. EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 25; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 40; EuGH v. 4.10.2018 – Rs. C-384/17 Link Logistik N&N, EU:C:2018: 810 Rn. 59. 191 EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, EU:C:2008:223 Rn. 103. 192 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 110; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, EU:C:2009:466 Rn. 61; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU: C:2012:33 Rn. 25; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2014:2 Rn. 39; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, EU:C:2014:110 Rn. 45; EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 32; EuGH v. 13.7.2016 – Rs. C-187/15 Pöpperl, EU:C:2016:550 Rn. 44; EuGH v. 21.9.2017 – Rs. C-605/15 Aviva, EU:C:2017:718 Rn. 37; EuGH v. 4.10.2018 – Rs. C-384/17 Link Logistik N&N, EU:C:2018:810 Rn. 59; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 40; EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701 Rn. 38; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 45; vgl. auch EuGH v. 8.11.2016 – Rs. C-554/14 Ognyanov, EU:C:2016:835 Rn. 66 (zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung). 193 Für die letztere Version spricht, dass der Gerichtshof in engem Zusammenhang mit dem Verbot der contra legem Auslegung immer wieder deutlich macht, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, ihre Rechtsprechung zur Auslegung der entsprechenden Normen, soweit eine Auslegungsalternative offen steht, zu ändern; z. B. EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 71–72; EuGH v. 11.9.2018 – Rs. C-68/17 IR, EU:C:2018:696 Rn. 63–64; EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C-331/18 Pohotovost’, EU:C:2019:665 Rn. 56; EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701 Rn. 38; vgl.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
sche Gerichte haben die Rspr. des EuGH durchweg in letzterem Sinne verstanden.194 In einigen (neueren) Urteilen des EuGH gibt es denn auch Formulierungen, die auf ein solches (strikteres) Verständnis schließen lassen, so etwa, wenn es heißt, das geltende nationale Recht sei „bestmöglich und ohne Rückgriff auf eine Auslegung contra legem […]“ auszulegen,195 oder aber eine contra legem Auslegung als „nicht möglich“ bezeichnet wird.196 Weniger eindeutig formulieren, aber wohl in dieselbe Richtung zielen jene Urteile, in denen nicht von einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung die Rede ist, sondern von einem „Grundsatz“, der nicht als Grundlage einer richtlinienkonformen Auslegung contra legem dienen „darf“.197 38 Insgesamt ergibt sich als erster Eindruck, dass der Gerichtshof die contra legemSchranke für die richtlinienkonforme Auslegung – ebenso wie das Rückwirkungsverbot und den Grundsatz der Rechtssicherheit – zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zählen will, an die die nationalen Gerichte bei der Auslegung ihres nationalen Rechts (im Anwendungsbereich des Richtlinienrechts) ohne Rücksicht auf die nationale Methodenlehre gebunden sein sollen.198 Insbesondere fehlt jeder Hinweis darauf, dass auch EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 67–68 (zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung); dazu oben Rn. 32 f. 194 BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff.; BGH, NJW-RR 2015, 171 Rn. 46; BGHSt 60, 121 Rn. 19; BGHZ 215, 126, Rn. 24; BGH, NJW-RR 2018, 1204 Rn. 13; BGHZ 221, 325 Rn. 21 f.; BGH, WM 2020, 838 Rn. 12; vgl. auch BGH, NJW 2020, 148 Rn. 19 ff.; BAGE 132, 247 Rn. 26, sowie mit aller Klarheit BAGE 165, 116 Rn. 34 („Verbot, das nationale Recht contra legem auszulegen“); so bereits auch BVerfGK 19, 89 Rn. 47; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 41; zum Problem Hayden, ZfRV 2016, 244, 248. 195 EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C-331/18 Pohotovost’, EU:C:2019:665 Rn. 54 („provided that a contra legem interpretation is not required“); EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 71 („ohne dasssie contralegemausgelegtwird“;„withouthavingrecoursetoan interpretationcontra legem“); ebenso EuGH v. 11.9.2018 – Rs. C-68/17 IR, EU:C:2018:696 Rn. 63; EuGH v. 22.1.2019 – Rs. C-193/17 Cresco Investigation, EU:C:2019:43 Rn. 74; EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Pawlak, EU:C:2019:260 Rn. 84–85. 196 EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 67 („impossibilité“) (zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung). Gleichsinnig GA Bobek, Schlussanträge v. 9.7.2020 – Rs. C-526/19 Entoma, EU:C:2020:552 Rn. 73. 197 EuGH v. 29.6.2017 – Rs. C-579/15 Popławski, EU:C:2017:503 Rn. 33 (zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung). Bisweilen werden der „Grundsatz“ („principe“; „principle“) der richtlinienkonformen (bzw. unionsrechtskonformen) Auslegung (dazu oben Rn. 9 f.) und die „Verpflichtung“ („obligation“; „obligation“) hierzu nebeneinandergestellt; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 25; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2014:2 Rn. 39; EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 40; EuGH v. 4.10.2018 – Rs. C-384/17 – Link Logistik N&N, EU:C:2018:810 Rn. 59. 198 In diese Richtung gehend auch EuGH v. 21.9.2017 – Rs. C-605/15 Aviva, EU:C:2017:718 Rn. 37–38, wenn dort das Verbot einer contra legem Auslegung als allgemeiner Rechtsgrundsatz verstanden wird, der den nationalen Richter bei der Auslegung des nationalen Rechts bindet. Vgl. auch EuGH v. 8.10.2020 – Rs. C-568/19 Subdelegación del Gobierno en Toledo, EU:C:2020:807 Rn. 33, wonach eine richtlinienkonforme Auslegung nur „innerhalb der durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze gesetzten Grenzen“ vorzunehmen ist und EuGH v. 1.10.2020 – Rs. C-526/19 Entoma, EU:C:2020:769 Rn. 43, wo das Verbot der contra legem Auslegung des Unionsrechts mit der Rspr. zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts parallelisiert wird.
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der Gerichtshof die Zulässigkeit des contra legem Judizierens (ganz) den nationalen Rechtsordnungen überlassen will. Diese Judikatur überzeugt zunächst insoweit, als es um die richtlinienkonforme Auslegung von strafrechtlichen Normen geht. Seit langem ist in der Rspr. des EuGH anerkannt, dass eine Richtlinie bei fehlender oder mangelhafter Umsetzung nicht zu einer Begründung oder Verschärfung der Strafbarkeit im nationalen Recht führen darf.199 In gleicher Weise ist davon auszugehen, dass das Unionsrecht der contra legem Auslegung strafrechtlicher Normen nicht die Hand reichen soll und insoweit nicht nur der Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung Grenzen setzt, sondern eine solche Auslegung als unzulässig („nicht möglich“) qualifiziert.200 Dies soll sogar auch gelten, wenn eine richtlinienkonforme Auslegung nicht zu einer Verschärfung, sondern (zugunsten des Täters) zu einer Herabsetzung von gesetzlich genau und zwingend festgelegten Geldbußen führen würde.201 Im Hinblick auf die Ausgestaltung von Verfahrensfristen im nationalen Recht wird – auch unter Hinweis auf den Gesichtspunkt der Rechtssicherheit – darauf verwiesen, dass dem Erfordernis einer richtlinien- (bzw. unionsrechts-) konformen Auslegung insoweit Grenzen gesetzt sind.202 In einem jüngst ergangenen Urteil zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung wird freilich deutlich gemacht, dass die Grenzen der konformen Auslegung nicht etwa nur in den Fällen strafrechtlicher Verantwortlichkeit relevant sein sollen, sondern dass ganz allgemein eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem „nicht möglich“ ist.203 Dies soll offensichtlich auch im Bereich des Privatrechts gelten.204
199 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431 Rn. 13–14; EuGH v. 26.9. 1996 – Rs. C-168/95 Arcaro, EU:C:1996:363 Rn. 37, 42; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, EU:C:2004:10 Rn. 61; EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 Berlusconi u. a., EU:C:2005:270 Rn. 74; EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 67. 200 EuGH v. 4.3.2010 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 67; vgl. auch EuGH v. 29.6.2017 – C-579/15 Popławski, EU:C:2017:503 Rn. 33. 201 EuGH v. 4.10.2018 – Rs. C-384/17 Link Logistik N&N, EU:C:2018:810 Rn. 60. Freilich kommt im Vertikalverhältnis in diesem Fall eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie nach den oben in Rn. 14 entwickelten Grundsätzen in Betracht, die vom EuGH in der folgenden Rn. 61 ebenfalls angesprochen wird. 202 EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Pawlak, EU:C:2019:260 Rn. 84, 88. 203 EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 67 („l’impossibilité de procéder à une interpretation contra legem du droit national“). Vgl. auch EuGH v. 8.10.2020 – Rs. C568/19 Subdelegación del Gobierno en Toledo, EU:C:2020:807 Rn. 33. 204 EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 71 („[…] ohne dass sie contra legem ausgelegt wird […]“; „[…] without having recourse to an interpretation contra legem […]“); ebenso EuGH v. 11.9.2018 – Rs. C-68/17 IR, EU:C:2018:696 Rn. 63; EuGH v. 5.9.2019 – Rs. C-331/18 Pohotovost’, EU:C:2019:665 Rn. 54 zur Richtlinie 2008/48/EU („[…] ohne Rückgriff auf eine Auslegung contra legem […]“; „[…] sans qu’ une interprétation contra legem soit exigée […]“; „[…] provided that a contra legem interpretation is not required […]“). S. auch EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, EU:C:2014:282 Rn. 66 mit Andeutungen dahingehend, dass der Gerichtshof sich auch bei privatrechtlichen Regelungen am Wortlaut der Norm orientieren will.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
Das Institut des Verbots der contra legem Auslegung ist – so das Ergebnis der Analyse – als Institut des Unionsrechts zu verstehen, ohne dass bisher die näheren Voraussetzungen des Vorliegens einer contra legem Auslegung spezifiziert, noch auch ihr Anwendungsbereich endgültig geklärt worden wären. Vorbehaltlich einer näheren Präzisierung und Ausdifferenzierung durch den Gerichtshof sollte man aber davon ausgehen, dass die in den Mitgliedstaaten geltenden Grundsätze das Verständnis vom Vorliegen einer contra legem Auslegung zumindest (mit-)prägen können. Bei Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sollten dabei im Hinblick auf rechtsstaatliche Erfordernisse – unabhängig vom nationalen Recht – besonders strikte, am Wortlaut der Norm orientierte Standards angewendet werden, während die Auslegung der Strafnorm in der jeweiligen Fachsprache im Übrigen allein Sache des nationalen Gerichts bleiben muss.205 Dasselbe sollte grundsätzlich auch für eingriffsrechtliche Normen gelten206 (zumindest soweit die in Rede stehende Auslegung zu Lasten des Einzelnen gehen würde). Für den Bereich des Privatrechts ließe sich die in st. Rspr. ausgesprochene Verpflichtung der nationalen Gerichte, nach Maßgabe der im nationalen Recht „anerkannten Auslegungsmethoden“207 „alles zu tun“,208 um ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erreichen, dahingehend verstehen, dass insoweit (im Wege einer vertikalen Verweisung) auf die nationalen (und darin durchaus divergierenden) Rechtsfindungsgrundsätze Bezug genommen werden soll.209 Geht das nationale Recht von einem Fall unzulässiger contra legem Auslegung aus (s. unten Rn. 61), sollte es dabei sein Bewenden haben.210 Wenn und soweit dagegen die contra legem Rechtsfindung (im Sinne einer Auslegung gegen den Wortlaut) in bestimmten Konstellationen als Rechtsfortbildungsmethode im jeweiligen mitgliedstaatlichen Privatrecht akzeptiert wird (s. unten Rn. 64 ff.), spricht aus der Sicht des Unionsrechts nichts gegen ein (im Vergleich zum Straf- und Eingriffsrecht) großzügigeres Verständnis,211 zumal die Rechtsfortbildung zu den Auslegungs- bzw. Rechtsfindungsmethoden des
205 EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 71–72 (zum Begriff des „Täters“ im polnischen Recht). 206 Vgl. EuGH v. 21.9.2017 – Rs. C-605/15 Aviva, EU:C:2017:718 Rn. 37–38 (Steuerrecht). 207 EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 31; EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 71; EuGH v. 11.9.2018 – Rs. C-68/17 IR, EU:C:2018:696 Rn. 63; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 OPR-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 42. 208 Z. B. EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701 Rn. 37. 209 Zu einem vergleichbaren Ansatz bei der Konkretisierung eines Rechtsbegriffs s. oben Text in Rn. 3 bei Fn. 8. 210 Langenbucher-dies., § 1 Rn. 105 mwN aus dem Schrifttum. 211 Vgl. auch Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, S. 65; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 104; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 107; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 93 und 96; i.E. ebenso Hayden, ZfRV 2016, 244, 248; a. A. Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2301 f.
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nationalen Rechts gehören kann, für deren Formulierung und Anwendung nach st. Rspr. des EuGH das nationale Gericht allein zuständig ist.212 Der BGH hat insoweit von einem funktionellen Verständnis des Begriffs des contra legem Judizierens gesprochen.213 Hinzukommt, dass auch der Äquivalenzgrundsatz (oben Rn. 26–27) es nahelegt, eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Privatrechts contra legem zuzulassen, wenn in vergleichbaren rein nationalen Sachverhalten eine solche Auslegungsmethode anerkannt ist und rechtsstaatliche Bedenken nicht entgegenstehen. cc) Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen? Während dem 40 Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen im Verhältnis des Einzelnen zum Staat (dazu Rn. 14) eine Grenze dann gezogen ist, wenn die Anwendung zu Lasten des Einzelnen geht,214 besteht eine solche Schranke für die richtlinienkonforme Auslegung nur insoweit, als im Bereich strafrechtlicher215 (und ggf. eingriffsrechtlicher) Regelungen der mögliche Wortsinn einer Norm die Grenze für eine richtlinienkonforme Auslegung zu Lasten des Einzelnen bildet (s. Rn. 49).216 Insoweit geht der Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts über die Konstellationen, in denen Richtlinienbestimmungen unmittelbare An-
212 EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 74–75; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 66–69; BVerfGK 19, 89 Rn. 46–47. Vgl. auch GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2013:491 Tz. 89; s. auch die Nachweise unten in Fn. 228. 213 BGHZ 179, 27 Rn. 21. Ebenso BAGE 132, 247 Rn. 29. 214 S. Köndgen/Mörsdorf, in diesem Band, § 6 Rn. 68–70 sowie grundlegend EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, EU:C:1986:84 Rn. 48; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 20. Zur unmittelbaren Anwendung gegenüber dem Staat in Dreiecksverhältnissen Graf von Kielmansegg, EuR 2014, 30; s. a. zu bloßen negativen Auswirkungen auf die Rechte Dritter: EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, EU:C:2004:12 Rn. 57; EuGH v. 17.7.2008 – verb. Rs. C-152/07 bis C-154/07 Arcor u. a., EU:C:2008:426 Rn. 35. 215 Allerdings betont der EuGH in st. Rspr. (z. B. EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431 Rn. 13–14; EuGH v. 26.9.1996 – Rs. C-168/95 Arcaro, EU:C:1996:363 Rn. 37, 42; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, EU:C:2004:10 Rn. 61; EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 Berlusconi u.a., EU:C:2005:270 Rn. 74; EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, EU: C:2005:386 Rn. 45; EuGH v. 4.3.2020 – Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 67 (zu einem Rahmenbeschluss)), dass eine Richtlinie bzw. ein Rahmenbeschluss für sich allein und unabhängig von zu ihrer bzw. seiner Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats keine Festlegung oder Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit begründen kann. Daher dürfte im Bereich des (materiellen) Strafrechts jegliche richtlinienkonforme Auslegung zu Lasten des Einzelnen begrenzt sein. Vgl. auch BGHSt 60, 121 Rn. 20; BGH, NJW 2019, 3167 Rn. 32. 216 In diesen Grenzen kann ein Mitgliedstaat eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts einem Einzelnen grundsätzlich auch zu seinen Lasten entgegenhalten: EuGH v. 5.7.2007 – Rs. C-321/05 Kofoed, EU:C:2007:408 Rn. 45; EuGH v. 15.9.2011 – Rs. C-53/10 Franz Mücksch, EU:C:2011:585 Rn. 34. Vgl. für das Steuerrecht BFH/NV 2015, 629 Rn. 13 sowie den der Entscheidung EuGH v. 23.4. 2020 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2020:295 im Ausgangsverfahren zugrundeliegenden Sachverhalt.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
wendbarkeit zukommt (nämlich nur zugunsten des Einzelnen), hinaus; dies gilt insbesondere auch in privatrechtlichen Beziehungen, an denen der Staat oder öffentliche Unternehmen beteiligt sind. Für den Bereich des Privatrechts gilt diese Schranke nicht, solange sich die Auslegung des nationalen Rechts im Rahmen vertretbarer Auslegung bzw. Rechtsfindung bewegt:217 Die richtlinienkonforme Auslegung einer zivilrechtlichen Bestimmung geht zwangsläufig immer auch zu Lasten einer am konkreten Verfahren beteiligten Partei. Darauf basiert – wie selbstverständlich – die Judikatur des Gerichtshofs.218 Der u. U. gebotene Vertrauensschutz von Parteien im Privatrecht (Rn. 73 ff.) ist der im nationalen Recht zu verankernden Rechtsprechung zum Verbot der Auslegung contra legem zu überlassen,219 durch eine Rechtsfortbildung ex nunc abzumildern und einzelfallbezogen durch den Grundsatz von Treu und Glauben zu justieren.220
b) Schranken des nationalen (Verfassungs-)Rechts 41 Mit der Pflicht der nationalen Gerichte, eine richtlinienkonforme Auslegung nach Maßgabe der im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden zu realisieren (Rn. 39), geht Hand in Hand der in st. Rspr. gegebene Hinweis des EuGH auf die aus dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten erwachsenden Begrenzungen bzw. Schranken für eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfindung, wenn er formuliert, Art. 288 Abs. 3 AEUV geböte den mitgliedstaatlichen Gerichten, die Auslegung (nur) „so weit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.221 Mit dieser auch als Einschränkung zu verstehenden Formulierung korrespondiert zugleich die Aussage, die nationalen Gerichte hätten „im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen“.222 Damit wird durch das Unionsrecht
217 Langenbucher-dies., § 1 Rn. 96. 218 Z. B. EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, EU:C:2014:282 Rn. 64. 219 In diesem Sinne zu deuten: BGH, WM 2020, 838 Rn. 12 ff. Zum Problem auch Herdegen, WM 2009, 2202; Herresthal, JuS 2014, 289, 293 f. 220 BGHZ 202, 102 Rn. 32 ff. (widersprüchliches Verhalten als Verstoß gegen Treu und Glauben); BGH NJW 2020, 982 Rn. 28; BGH, WM 2020, 838 Rn. 16; BGH, ZIP 2020, 2321 Rn. 27 f.; OLG Celle, NJW 2019, 3593 Rn. 31. 221 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU:C:1990:395 Rn. 8; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., EU:C:2004:584 Rn. 113; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 108; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 24; st. Rspr. 222 Z. B. EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:650 Rn. 29 (kursiv von den Verf.). Vgl. auch EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 u. a. Specht u. a., EU:C:2014:2005 Rn. 88; EuGH v. 13.7.2016 – Rs. C-187/15 Pöpperl, EU:C:2016:550 Rn. 43; EuGH v. 4.10.2018 – Rs. C-384/17 Link Logistik N&N, EU:C:2018:810 Rn. 58; EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-143/18 Romano, EU:C:2019:701 Rn. 37; BVerfG, NJW-RR 2018, 305 Rn. 37.
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II. Unionsrechtliche Vorgaben
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(vertikal) auf eine aus dem innerstaatlichen Recht resultierende Schranke verwiesen, die aus der – evtl. vom nationalen Verfassungsrecht geprägten – Rollenverteilung zwischen Gesetzgeber und Judikative erwachsen oder in der tradierten nationalen Methodenlehre, die die Grenzen der Auslegung und/oder Rechtsfortbildung markiert,223 verankert sein kann. Auf diese aus dem nationalen Recht erwachsende Schranke für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wird seit dem Urteil Adeneler224 ausdrücklich Bezug genommen, wenn der EuGH betont, dass diese Pflicht nicht als Basis (Grundlage) für eine – ggf. nach nationalem Recht unzulässige – Auslegung (bzw. Fortbildung) des nationalen Rechts contra legem dienen könne (dazu oben Rn. 36 ff.). In Kauf genommen wird damit, dass die aus Art. 288 Abs. 3 AEUV resultierende Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung im Hinblick auf divergierende Auslegungsmethoden225 wie auch auf unterschiedlich weitgehende Befugnisse der jeweiligen nationalen Judikative bei der Rechtsfindung durchaus eine variierende Reichweite entfalten kann.226 Da der EuGH an einer Auslegung des nationalen Rechts gehindert ist, kann er we- 42 der die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden227 noch die Schranken überprüfen, die im jeweiligen nationalen Recht einer richtlinienkonformen Auslegung bzw. Rechtsfindung entgegenstehen. Dies ist allein Sache des nationalen Gerichts. Die so umschriebene Zuständigkeitsverteilung entspricht der st. Praxis des
223 BVerfGK 19, 89 Rn. 47; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 41: „[…] Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten.“ Im Anschluss daran auch BGHZ 201, 101 Rn. 20; BGHSt 60, 121 Rn. 19; BGHZ 215, 126 Rn. 24; BGHZ 221, 325 Rn. 21; BGH, NJW 2020, 148 Rn. 24; BGH, WM 2020, 838 Rn. 13; BGH, BB 2021, 590 Rn. 28. 224 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., EU:C:2006:443 Rn. 110; st. Rspr. 225 Vgl. Brenncke, EuR 2015, 440, 446 ff. mit Plädoyer für einheitliche europäische Methodenregeln. In diese Richtung auch Kramer, GPR 2015, 262 und GPR 2016, 210. 226 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 451. Vgl. auch die dies anschaulich belegenden Länderberichte in Franklin (ed.), The Effectiveness and Application of EU and EEA Law in National Courts (2018). 227 Vgl. nunmehr jedoch EuGH v. 23.4.2020 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2020:295 Rn. 52 ff., in dem der Gerichtshof die Anwendung des im tschechischen Verfassungsrecht entwickelten Grundsatzes „in dubio mitius“, wonach bei mehreren möglichen Auslegungsvarianten die für den Steuerpflichtigen günstigste Auslegung anzuwenden ist, für unionsrechtswidrig erklärt, wenn dies zu einer Auslegung des nationalen Rechts führt, die mit den Richtlinienvorgaben (in der Auslegung des EuGH) unvereinbar ist. Diese in die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden eingreifende Aussage wird (in durchaus angreifbarer Weise) damit begründet, dass die zeitlichen Wirkungen der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Richtlinie nicht begrenzt werden dürften. Ob damit wirklich (verdeckt) eine (neue) Schranke für die Autonomie der nationalen (und verfassungsmäßig abgesicherten) Auslegungsmethoden gezogen werden soll, ist offen. Möglicherweise ergab sich die Unanwendbarkeit des nationalen Grundsatzes auch bereits aus der unmittelbar aus Art. 288 Abs. 3 AEUV abgeleiteten und oben in Rn. 22 behandelten unionsrechtlichen Vorrangregelung. Dazu grundsätzlich abweichend GA Kokott v. 3.10.2019 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2019:834 Rn. 70 (der Rechtsgrundsatz des tschechischen Rechts wirke gegenüber dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung ebenso begrenzend wie die Wortlautgrenze einer Vorschrift).
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
EuGH.228 Und das BVerfG formuliert zutreffend: „Ob und inwieweit das innerstaatliche Recht eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung zulässt, können nur innerstaatliche Gerichte beurteilen.“229
228 Implizit EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, EU:C:2008:223 Rn. 102; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u. a., EU:C:2009:250 Rn. 203; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 31–32; EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia, EU:C:2012:306 Rn. 31–32; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2014:2 Rn. 40; EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 43; explizit etwa EuGH v. 17.4.2018 – Rs. C-414/16 Egenberger, EU:C:2018:257 Rn. 74–75; EuGH v. 6.11.2018 – verb. Rs. C-569/16 und C-570/16 Bauer und Willmeroth, EU:C:2018:871 Rn. 66–69; EuGH v. 8.5.2019 – Rs. C-486/18 Praxair MRC, EU: C:2019:379 Rn. 39. In aller Deutlichkeit auch GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 18.7.2013 – Rs. C176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2013:491 Tz. 89: „Ob die Möglichkeit einer konformen Auslegung besteht, unterliegt aber ausschließlich der Beurteilung des vorlegenden Gerichts, da diese Beurteilung eine umfassende Auslegung des innerstaatlichen Rechts erfordert, für die der Gerichtshof offensichtlich nicht zuständig ist.“; BGHZ 215, 126 Rn. 24; BGH, NJW 2020, 148 Rn. 24. Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, S. 43, geht davon aus, dass der EuGH auf längere Sicht hin nationale Entscheidungen, die eine richtlinienkonforme Auslegung für nicht möglich halten, einer Vertretbarkeitskontrolle unterwerfen wird. Ein solcher Trend ist bis heute jedoch nicht nachweisbar; vielmehr hat der EuGH einen entsprechenden Vorstoß von GA Bot in seinen Schlussanträgen in der Rs. Dansk Industri (EU:C:2015:776 Tz. 53 f., 67 ff.) in seinem Urteil gerade nicht aufgegriffen. 229 BVerfGK 19, 89 Rn. 47. Und weiter heißt es (in Rn. 48): „Dem entspricht die in Art. 267 AEUV […] festgelegte Zuständigkeitsverteilung zwischen europäischer und innerstaatlicher Gerichtsbarkeit. Da der [EuGH] danach nationales Recht weder anwenden noch auslegen kann, darf er auch nicht feststellen, ob innerstaatlich ein entsprechender Auslegungsspielraum besteht. […] Sowohl die Identifizierung als auch die Wahrnehmung methodischer Spielräume des nationalen Rechts obliegt – auch bei durch Richtlinien determiniertem nationalem Recht – den nationalen Stellen in den Grenzen des Verfassungsrechts“; ebenso BVerfG WM 2016, 1431 Rn. 41; BVerfG, NJW-RR 2018, 305 Rn. 36, 37. Als Konsequenz daraus geht das BVerfG davon aus, dass in Konstellationen, in denen eine nationale Vorschrift nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, ohne die Grenzen der verfassungsrechtlichen Bindung des Richters an das Gesetz zu sprengen, die Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV mangels Entscheidungserheblichkeit entfällt und somit die Nichtvorlage eines letztinstanzlichen Gerichts keinen nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unzulässigen Entzug des gesetzlichen Richters darstellt; BVerfG, ZIP 2013, 924 Rn. 32; BVerfG, WM 2014, 647 Rn. 48. Ebenso z. B. BAGE 132, 247 Rn. 16 und BGHZ 193, 238 Rn. 51; für Österreich: öOGH, ecolex 2014, 634, 635. Davon zu unterscheiden sind jedoch Fälle, in denen das nationale Gericht erst auf Basis eines im Rahmens eines Vorabentscheidungsersuchens erzielten Auslegungsergebnisses der konkreten Richtlinienvorgaben durch den EuGH ermitteln kann, ob innerstaatlich ein entsprechender Auslegungsspielraum besteht, dieses Auslegungsergebnis umzusetzen; vgl. hierzu etwa BAGE 156, 23 Rn. 35 f. und BAG, NZA 2020, 1541 Rn. 42 f. Folgerichtig begründet nach der Rechtsprechung des EuGH die „Ungewissheit“, ob es dem nationalen Gericht möglich ist, das nationale Recht vor dem Hintergrund des vom EuGH gefundenen Auslegungsergebnisses der Richtlinie richtlinienkonform auszulegen, nicht die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C404/06 Quelle, EU:C:2008:231 Rn. 22. Ebenso EuGH v. 8.5.2019 – Rs. C-486/18 Praxair MRC, EU:C:2019: 379 Rn. 27, 39.
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III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht
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III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht 1. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts a) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG Die Verpflichtung zu einer Umsetzung der Richtlinienvorgaben und einer richtlini- 43 enkonformen Auslegung des nationalen Rechts ergibt sich nicht nur aus dem Unionsrecht, sondern auch aus dem deutschen Verfassungsrecht.230 Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG begründet eine solche Pflicht, soweit sie mit dem deutschen Verfassungsrecht im Übrigen vereinbar ist. Gem. Art. 20 Abs. 3 GG ist der Richter an „Gesetz und Recht“ gebunden. Der Bezug auf „Gesetz und Recht“ bindet ihn nicht nur an die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung231 und Fortbildung des deutschen (Gesetzes-)Rechts,232 sondern nimmt das Unionsrecht mit in die Bindung auf.233 Dabei sind die deutschen Gerichte über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG nicht nur an das unmittelbar anwendbare (primäre und sekundäre) Unionsrecht gebunden, sondern ebenfalls an das Richtlinienrecht, soweit dessen Anwendungsbereich reicht: Der Umstand, dass im Zivilverfahren die Parteien ihre Ansprüche mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nicht (allein) auf eine Richtlinienbestimmung stützen können, steht der Bindung der Gerichte an diese nicht entgegen.234 Aufgrund des unionsrechtlichen Gebotes der richtlinienkonformen Auslegung zählen Richtlinien235 zu den von
230 v. Mangoldt u. a.-Classen, Grundgesetz, 7. Aufl. (2018), Art. 23 Rn. 47; Jarass/Pieroth-Jarass, 16. Aufl. (2020), Art. 23 GG Rn. 13. Vgl. auch BVerfGE 152, 216 Rn. 56. 231 BVerfGE 111, 307, 329 („im Rahmen geltender methodischer Standards“); BVerfGE 128, 193, 210; BVerfGE 132, 99 Rn. 76. Speziell im Zusammenhang mit den Grenzen richtlinienkonformer Auslegung: BVerfGK 19, 89 Rn. 57. 232 Zur Rechtsfortbildung etwa BVerfGE 128, 193, 209 f.; BVerfGE 149, 126 Rn. 73; BVerfGK 19, 89 Rn. 45; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 37–38. 233 Canaris, FS Bydlinski, S. 84 f. und Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 176 f., jeweils zur Begründung der Annahme einer Gesetzeslücke bei unvollkommener Richtlinienumsetzung. Vertiefend Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 191 ff. mit Fn. 120 sowie Repasi, Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR, S. 58 f. 234 Dies gilt etwa auch und vor allem bei Vorgaben für das nationale Verfahrensrecht; s. oben Rn. 15 mit Fn. 83–86 und Rn. 30 mit Fn. 156–157. 235 Das BVerfG hat eine Bindung der deutschen Gerichte an die EMRK unter Hinweis auf Art. 20 Abs. 3 GG begründet; BVerfGE 111, 307, 323. Die EMRK ist durch ein Transformationsgesetz (i. S. v. Art. 59 Abs. 2 GG) in deutsches Recht überführt; insoweit beziehen sich die Aussagen auf eine mittelbare Bindungswirkung an die Urteile des EGMR; ebenso BVerfGE 128, 326, 368 f. Richtlinien bedürfen, um eine Geltung (nicht: unmittelbare Anwendbarkeit) und damit Bindung für die deutschen Gerichte zu entfalten, keiner Umsetzung in deutsches Gesetzesrecht; vgl. hierzu BVerfGE 152, 216 Rn. 37, 54; für einen Rahmenbeschluss (implizit) ebenso BVerfGE 140, 317 Rn. 76 f.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
den deutschen Gerichten zu beachtenden „Gesetzen“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG.236
b) Wille des deutschen Gesetzgebers 44 Eine weitere Grundlage für eine Pflicht der Gerichte zur richtlinienkonformen Aus-
legung ist dem Regelungswillen des deutschen Gesetzgebers zu entnehmen, wenn er zur Erfüllung seiner Umsetzungspflicht tätig geworden ist.237 Diese aus dem gesetzgeberischen Willen abgeleitete Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts unterscheidet sich in ihrer Tragweite von der aus dem Unionsrecht resultierenden Pflicht vor allem in zwei Richtungen: (1) Sie geht einerseits über das unionsrechtliche Gebot der richtlinienkonformen Auslegung hinaus, weil sie nicht erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie, sondern schon mit dem Inkrafttreten des deutschen Umsetzungsgesetzes vor Ablauf der Umsetzungsfrist eingreifen kann.238 (2) Sie bleibt andererseits hinter der kraft Unionsrechts bestehenden sowie der auf Art. 20 Abs. 3, 23 Abs. 1 GG gestützten Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung insoweit zurück, als sie nicht die vor Erlass der entsprechenden Richtlinie in Kraft gesetzten nationalen Rechtsnormen erfassen kann.239 Im Übrigen lässt sich auf der Grundlage deutschen Rechts eine unvollständige (und erst recht eine gar nicht erfolgte) Umsetzungsgesetzgebung nur schwerlich unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers korrigieren.240 Ist der deutsche Gesetzgeber hingegen zur Umsetzung einer Richtlinie tätig geworden, kann nach Auffassung des BVerfG (kraft nationalen Rechts241) davon ausgegangen werden, dass er „im Zweifel nicht gegen seine Pflicht aus
236 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 156 f., 191 ff.; Preis/SaganSagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. (2019), Rz. 1.144. Vgl. auch Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, S. 32 f., der von einer Bindung des Richters an das Unionsrecht über Art. 97 Abs. 1 GG ausgeht. A. A. Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht, S. 43, dort insbes. Fn. 185; Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, S. 37; Höpfner, JbJZ 2009, S. 73, 98; Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 121 f.; Jarass/Pieroth-Jarass, Grundgesetz, 16. Aufl. (2020), Art. 20 GG Rn. 53 (nur Bindung an unmittelbar anwendbares EU-Recht). 237 Hierzu auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 303 ff. 238 Canaris, FS Bydlinski, S. 51; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 149; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 30; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 85. 239 Canaris, FS Bydlinski, S. 50 f.; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 87; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 220. 240 Im Ergebnis ebenso Langenbucher-dies., § 1 Rn. 86. 241 Zu der vom EuGH in der Rechtssache Pfeiffer postulierten unionsrechtlichen „Vermutungsregel“, wonach der Gesetzgeber „die Absicht hatte, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“ (EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., EU:C:2004:584 Rn. 112), s. oben Rn. 23–25.
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III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht
Art. 288 Abs. 3 AEUV, das Ziel der Richtlinie fristgemäß umzusetzen, verstoßen wollte.“242
2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden Das Institut der richtlinienkonformen Auslegung ist – zumindest auch243 – bereits in 45 die klassischen Auslegungscanones des deutschen Rechts244 integriert.245 So sind etwa im Rahmen der historischen Auslegung – jedenfalls bei zeitlich noch nicht weit zurückliegenden Regelungen – die Regelungsabsichten des Gesetzgebers246 von Belang. Dies gilt dann natürlich auch, wenn der Gesetzgeber die Umsetzung einer Richtlinie intendiert.247 Für die teleologische Auslegung muss der Zweck des Gesetzes, eine Richtlinienvorgabe umzusetzen, erst recht eine entscheidende Rolle spielen, geht es hier doch nicht um eine autonom getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, sondern um die Erfüllung einer aus dem Unionsrecht und der Verfassung (Art. 20 Abs. 3, 23 Abs. 1 GG) stammenden Pflicht. Für die grammatikalische Auslegung gilt, dass zwischen mehreren Wortbedeutungen diejenige zu wählen ist, die dem Ziel der Richtlinie am nächsten kommt; ggf. ist dem im Anwendungsbereich der Richtlinie liegenden Begriff auch eine vom tradierten Verständnis oder gegenüber anderen Regelungsberei-
242 BVerfGK 19, 89 Rn. 51; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 44. Vgl. auch BGHZ 179, 27 Rn. 25; BGHZ 192, 148 Rn. 34; BGHZ 201, 101 Rn. 23; BGHZ 212, 224 Rn. 45, 51 sowie zuletzt BGH, ZIP 2021, 566 Rn. 14. Kritisch gegenüber einer solchen Vermutung etwa Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, S. 214 ff.; Höpfner, JbJZ 2009, S. 73, 102 f. 243 Das bei Wietfeld, JZ 2020, 485, 485 f. behandelte „entweder-oder“ von einem auf nationaler Ebene bereits existierendem oder eigenständigem Auslegungsmittel existiert so wohl nicht; es ist ein „sowohl-als-auch“. 244 Zu diesen: Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 312 ff.; ders./ Canaris, Methodenlehre, S. 133 ff.; Möllers, Methodenlehre, § 4 und § 5. 245 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 590; zuletzt ebenso Wietfeld, JZ 2020, 485, 488 (am Beispiel der Auslegung von Generalklauseln, bei denen die Richtlinie das Auslegungsziel vorgibt) und W.-H. Roth, ZIP 2020, 2488, 2491 ff. Anders Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 259 f. (zweistufige Auslegung einerseits; Ausnahmen dazu andererseits) und ähnlich Canaris, FS Bydlinski, S. 80 f., der zunächst die Auslegungslage allein mit Hilfe der „klassischen“ Auslegungskriterien ohne Rücksicht auf das Gebot richtlinienkonformer Auslegung ermitteln und erst bei richtlinienwidrigem Ergebnis im Wege eines „Hin- und Herwandern des Blickes“ die „klassischen“ Auslegungskriterien im Lichte der Richtlinie berücksichtigen möchte (dreistufige Auslegung). Zur Diskussion ausführlich Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 437 ff. mwN; Brenncke, Judicial Law-Making, S. 288 f. Hinzuweisen ist auf die Parallele, dass verfassungsrechtliche Vorgaben in die Gesetzesauslegung einfließen können und von daher bereits im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden zu berücksichtigen sind; BGHZ 224, 89 Rn. 132 ff. 246 BVerfGE 54, 277, 297 („erhebliches Gewicht“). 247 Als Beispiel BGH, NJW 2005, 53, 54 f.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
chen abweichende Bedeutung beizumessen.248 Ziel des Gesetzgebers kann es sein, Begriffe des Unionsrechts eins zu eins,249 also deckungsgleich in das nationale Recht einzuführen und damit eine Auslegung zu ermöglichen oder gar zu erfordern, die auf die autonome Begrifflichkeit des Unionsrechts zurückgreift.250 Aber auch für überkommenes und vom Gesetzgeber nach Erlass der Richtlinie unverändert gelassenes Recht gilt, dass seine Auslegung von den Vorgaben der Richtlinie beeinflusst werden kann, ist doch allgemein anerkannt, dass sich die Auslegung von Normen durch die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, aber auch des rechtlichen Umfeldes251 wandeln kann.252
3. Richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel 46 Führen die klassischen Auslegungscanones trotz der gerade angedeuteten Einbezie-
hung des Umsetzungszwecks253 in die Auslegung254 zu unterschiedlichen Ergebnissen, ist nicht nur aufgrund des unionsrechtlichen Gebots zur richtlinienkonformen Auslegung gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV, sondern auch aufgrund der besonderen Zwecksetzung der Umsetzungsgesetzgebung vom Vorrang255 derjenigen Auslegungs-
248 Als Beispiel BGHZ 221, 325 Rn. 24 ff. (zum Begriff des Arbeitnehmers im AGG) sowie BGH, WM 2021, 117 Rn. 40 ff. (zum Begriff des Mitbewerbers im UWG); s. auch Möllers, Methodenlehre, § 12 Rn. 52. 249 Der EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, EU:C:2013:650 Rn. 31 f. spricht von „quasi wörtlicher Umsetzung“. Zu den sich aus einer solchem Umsetzung (möglicherweise) ergebenen unionsrechtlichen Konsequenzen für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung s. oben Rn. 31. 250 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. 2, S. 847, 875. Aus der Rechtsprechung etwa BGH, NJW 2012, 2276 Rn. 20 ff. sowie BGHZ 221, 325 Rn. 25. Zum Grundsatz der unionsrechtsautonomen Auslegung (s. oben Rn. 9–10), gestützt auf die einheitliche Auslegung des Unionsrechts und den Gleichheitssatz, etwa EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, EU:C:2005:59 Rn. 29, EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-59/12 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, EU:C:2013:634 Rn. 25; EuGH v. 4.9.2014 – Rs. C-162/13 Vnuk, EU:C:2014:2146 Rn. 42; zuletzt EuGH v. 17.12.2020 – Rs. C-656/19 BAKATI PLUS, EU:C:2020:1045 Rn. 38. 251 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 170 ff., sprechen insoweit von einem Wandel der Normsituation. 252 Als Beispiel etwa BVerwGE 145, 290 Rn. 28 ff. zu § 34 Abs. 1 BauGB. 253 Abweichend von der bei Wietfeld, JZ 2020, 485, 486 (unter II.2.a.) diskutierten Position. 254 In der Rechtsprechung wird die Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung vielfach als zusätzliches Argument herangezogen, um ein bereits erreichtes Auslegungsergebnis zu bekräftigen (z. B. BGH, NJW 2005, 418, 420; BGHZ 200, 38 Rn. 20; BGHZ 201, 290 Rn. 39 ff.; zuletzt etwa BGHZ 227, 15 Rn. 26, 29–31) oder wenigstens nicht in Frage zu stellen (BGH, NJW 2005, 1045, 1046 f.; BGHZ 189, 196 Rn. 35 ff.; BGHZ 201, 168 Rn. 61 f.). 255 Dies dürfte auch für Fälle gelten, in denen der mitgliedstaatliche Gesetzgeber eine Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist in sein nationales Recht umgesetzt hat. A. A. Franzen/Gallner/OetkerHöpfner, EuArbRK, Art. 288 AEUV Rn. 64; ders., JbJZ 2009, S. 73, 90 f., nach dem die Umsetzungsabsicht in einem derartigen Fall lediglich als Bestandteil der historischen Auslegung zu berücksichtigen ist und der insoweit von einer richtlinienorientierten Auslegung spricht.
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III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht
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methode auszugehen, die zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führt.256 Dabei zeigt sich, dass die richtlinienkonforme Auslegung als Methode sich von den klassischen Auslegungsmethoden durch ihre Ausrichtung auf ein (von der Richtlinie vorgezeichnetes) Ergebnis unterscheidet.257 Eine solche interpretatorische Vorrangregel kraft nationalen Rechts258 findet ihre 47 Parallele in der Rechtsprechung des BVerfG zur völkervertragskonformen Auslegung. Zur Umsetzung der EMRK in das deutsche Recht heißt es etwa: „Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben“.259 Als Grenze für eine solche völkervertragskonforme Auslegung wird der Fall angedeutet, dass die Auslegung zu einem Verstoß gegen „eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder deutsche Verfassungsbestimmungen“ führen würde.260 Die hier für die völkervertragskonforme Auslegung gefundene Lösung ist schon 48 kraft nationalen Rechts ohne weiteres auf die richtlinienkonforme Auslegung zu übertragen. Dass das Unionsrecht im Übrigen zu einer solchen Vorrangregel zwingt, ist oben (Rn. 22) bereits gezeigt worden: Da die Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG in der hier vertretenen Auslegung (Rn. 43) die deutschen Gerichte auch an das Richtlinienrecht und an die Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV binden, liegt insoweit ein Gleichlauf zwischen der aus dem Unionsrecht erwachsenden Pflicht der nationalen Gerichte und der interpretatorischen Vorrangregel kraft deutschen Rechts vor. Dem entspricht im Ergebnis die in Rn. 44 zitierte Vermutungsregel des BVerfG.261
4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen; „Auslegung im engeren Sinne“ Die richtlinienkonforme Auslegung kann auf eine erste Grenze stoßen, wenn die Aus- 49 legung des nationalen Rechts ihrerseits auf Schranken stößt. Als eine solche mögliche
256 Möllers, Methodenlehre, § 12 Rn. 49 mit Verweis auf BVerfGE 111, 307, 329; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 93; Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, S. 117 ff.; Wietfeld, JZ 2020, 485, 490 f. 257 Leenen, Jura 2012, 753, 755; auch Wietfeld, JZ 2020, 485, 490 f. („Zielvorgabe“). 258 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616; Möllers, Methodenlehre, § 12 Rn. 49; in der Sache auch M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 591. 259 BVerfGE 111, 307, 329; zuletzt BVerfGE 148, 296 Rn. 133. 260 BVerfGE 111, 307, 329. Ebenso im Zusammenhang der völkervertragskonformen Auslegung des Grundgesetzes im Lichte der EMRK (und der Rechtsprechung des EGMR) BVerfGE 128, 326, 371 („Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint.“); BVerfGE 131, 268, 295 f. und BVerfGE 148, 296 Rn. 133. 261 S. oben Fn. 242.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
Schranke wird allgemein der mögliche Wortsinn angesehen.262 Dies gilt vor allem für das Gebiet des Strafrechts, in dem dem Tatbestand einer Norm, angesichts des strafrechtlichen Analogieverbots (Art. 103 Abs. 2 GG), eine ganz entscheidende Funktion zuzumessen ist, die einer den Wortlaut übersteigenden Auslegung entgegensteht.263 Nach der Rspr. des BVerfG gilt grundsätzlich: Ist der Wortlaut klar und eindeutig, ist der Rückgriff auf andere (klassische) Auslegungsmethoden gesperrt.264 Die Wortlautgrenze bildet insoweit eine Schranke für die (herkömmliche) Gesetzesauslegung („im engeren Sinne“).265 Davon zu unterscheiden ist die Rechtsfortbildung („Auslegung im weiten Sinne“), die als Fortsetzung der Auslegung („im engeren Sinne“) angesehen werden kann,266 jedoch nur für Teilbereiche der Rechtsordnung wie etwa das Privatrecht anerkannt ist,267 und auch dort auf verfassungsrechtliche Grenzen stoßen kann (dazu Rn. 51 ff., 61 ff.). Dabei ist zugleich einzuräumen, dass die Auslegung im engeren und im weiteren Sinne nicht trennscharf zu unterscheiden ist.268 50 Soweit eine Auslegung im so beschriebenen engeren Sinne möglich ist, ergeben sich für die richtlinienkonforme Auslegung keine Probleme: Kann sie sich innerhalb der Grenzen des Wortsinns bewegen, so hat sie auch dann zu erfolgen, wenn der Gesetzgeber richtlinienwidrig umsetzen wollte.269 Die historische Auslegung hat inso
262 BGHZ 179, 27 Rn. 20; BGH, NVwZ 2014, 1111 Rn. 10; BGHZ 201, 101 Rn. 21; BAGE 130, 119 Rn. 60; BAGE 132, 247 Rn. 28; Larenz, Methodenlehre, S. 343; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 467 f. 263 Möllers, Methodenlehre, § 4 Rn. 65 ff. Zu der aus dem Unionsrecht folgenden Schranke s. oben Rn. 39. 264 BVerfGE 63, 131, 148; BVerfGE 69, 92, 104 f.; BVerfGE 69, 209, 219; BVerfGE 71, 81, 105 (jeweils zu den Schranken verfassungskonformer Interpretation). 265 So die Terminologie in BGHZ 179, 27 Rn. 20 f.; BGHZ 192, 148 Rn. 28, 30; BGHZ 201, 101 Rn. 20, 21; BVerwGE 150, 74 Rn. 54; BVerwGE 157, 249 Rn. 27. 266 BGHZ 179, 27 Rn. 21 ff.; BGHZ 192, 148 Rn. 30 ff. Von rechtsfortbildender Auslegung spricht BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 40. 267 So ausdrücklich Larenz, Methodenlehre, S. 366 („seit langem anerkannt“). Zu den Einzelheiten: ders., Methodenlehre, S. 366 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff.; Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 453 ff.; Zippelius, Methodenlehre, § 11. Langenbucher-dies., § 1 Rn. 98 rechnet die anerkannten Institute der Rechtsfortbildung zur „Auslegung intra legem“. 268 Vgl. exemplarisch BGHZ 192, 148 Rn. 25 ff., wonach § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB a. F. – im Anschluss an EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Gebr. Weber und Putz, EU:C:2011:396 – richtlinienkonform dahingehend ausgelegt werden konnte, dass die dort genannte Nacherfüllungsvariante „Lieferung einer mangelfreien Sache“ auch den Ausbau und den Abtransport der mangelhaften Kaufsache sowie den Einbau der als Ersatz gelieferten Kaufsache umfasst; s.a. BGHZ 195, 135 Rn. 16. Hier wäre die Annahme einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung wohl methodenehrlicher gewesen. In diesem Sinne etwa Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 192 f. („richtlinienkonforme Extension“); Herresthal, JuS 2014, 289, 295; Kaiser, JZ 2011, 978, 980; Stürner, jurisPR-BGHZivilR 6/2012 Anm. 1. Für vom Wortlaut des § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB a. F. gedeckt halten die Auslegung des BGH etwa Höpfner, JZ 2012, 473, 473 f.; Leenen, Jura 2012, 753, 759; Looschelders, JA 2012, 386, 388 und (bereits vor Erlass des BGH-Urteils) Lorenz, NJW 2011, 2241, 2243 f. („wohl noch möglich“). 269 So Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 124; Faust, in: Begegnungen im Recht (2011), S. 299, 308; Leenen, Jura 2012, 753, 756 und 759; Lorenz, NJW 2013, 207, 207 f. A. A. Drexler, Die richtlinienkon
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III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht
fern der Wortlautauslegung im Lichte der Richtlinienkonformität als interpretatorische Vorrangregel zu weichen. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass schon bei der Auslegung des Wortlauts der Regelungszweck der Richtlinie bzw. Richtlinienbestimmung mit zu berücksichtigen ist (Rn. 45) und dies zu einer Modifizierung der Bedeutung eines Rechtsbegriffs führen kann.270 Auf einer anderen Ebene liegt die Frage, ob auch bei einer mit den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung möglichen richtlinienkonformen Auslegung der Gesetzgeber für eine klare Regelung sorgen muss.271
5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung Das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet (kraft Unionsrechts) den 51 nationalen Richter dazu, unter Anwendung der im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum „so weit wie möglich“ auszuschöpfen (oben Rn. 22). Damit wird umfassend auf die nationale Methodik der Rechtsfindung – einschließlich der Rechtsfortbildung (und der ihr durch das nationale (Verfassungs-)Recht gesetzten Schranken) – verwiesen (s. Rn. 41 f.). Für die deutschen Gerichte bedeutet dies, dass sie sich jenseits der „Auslegung im engeren Sinne“ (s. Rn. 49 f.) grundsätzlich auch der Rechtsfortbildung als „anerkannter
forme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 164 f., 172, 208; Franzen/Gallner/Oetker-Höpfner, EuArbRK, Art. 288 AEUV Rn. 50; Herresthal/Weiß, Fälle zur Methodenlehre, Rn. 227; Perner, EURichtlinien und Privatrecht, S. 94 f., 97. Anders vielleicht auch BGHZ 212, 224 Rn. 41 f. 270 BGHZ 150, 248, 253 ff.; ebenso BGHZ 150, 264, 267; BGHZ 152, 331, 334 f.; bestätigt durch BGHZ 159, 280, 284 f.; BGH, NJW 2004, 2744, 2744 f. Das BVerfG hat zwei Verfassungsbeschwerden gegen instanzgerichtliche Urteile, die der Rechtsprechung des BGH im Heininger-Verfahren gefolgt sind, nicht zur Entscheidung angenommen und mithin diese Rechtsprechung verfassungsrechtlich gebilligt. In dem Nichtannahmebeschluss heißt es allerdings – methodenehrlicher –, dass die Entscheidungen die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung nicht überschreiten; BVerfGK 19, 89 Rn. 49. 271 Die Umsetzung der Richtlinienvorgaben durch die Rechtsprechung wird in vielen Fällen nicht genügen. So betont der Gerichtshof in st. Rspr., dass etwa der Verbraucher seine Rechte durch klare Regelungen im nationalen Recht erkennen können soll; z. B. EuGH v. 23.3.1995 – Rs. C-365/93 Kommission ./. Griechenland, EU:C:1995:76 Rn. 9; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, EU:C:2001:257 Rn. 17; EuGH v. 24.10.2013 – Rs. C-151/12 Kommission ./. Spanien, EU:C:2013:690 Rn. 28. Dies erfordert nicht immer, aber zumeist eine Regelung durch Gesetz oder Verordnung. Zum Problem auch Burger, DVBl. 2013, 1431, 1437. Vor dem Hintergrund dieses unionsrechtlichen Transparenzgebots ist es zumindest erstaunlich, dass auf dem 69. Deutschen Juristentag ein Beschluss gefasst wurde, wonach der deutsche Gesetzgeber die Häufigkeit von Änderungen des zivilen Verbrauchervertragsrechts reduzieren solle, wenn der BGH (als Reaktion auf EuGH-Entscheidungen) eine tragfähige Lösung entwickelt habe; Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages – München 2012, Band II/1, Teil I 88 unter I. Nr. 8.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
Auslegungsmethode“ bedienen müssen,272 soweit ihr nicht verfassungsrechtliche Schranken entgegenstehen (Rn. 52–54). Ob und inwieweit eine richtlinienkonforme Rechtsfindung für das deutsche Recht zulässig ist, entscheiden dabei allein deutsche Gerichte (s. Rn. 42).273
a) Zulässigkeit und Grenzen der Rechtsfortbildung im Allgemeinen 52 Unabhängig von den Fällen richtlinienkonformer Rechtsfindung ist die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung274 in der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich anerkannt.275 Sie wird sogar als Aufgabe276 der Gerichte dahingehend verstanden, angesichts nur begrenzter Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers das geltende Recht an die durch den gesellschaftlichen Wandel geänderten Verhältnisse („Alterungsprozess“) anzupassen.277 Anlass zur Rechtsfortbildung besteht – neben den Fällen einer verfassungskonformen Rechtsfindung278 – insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen279 oder Wertungswidersprüche aufgelöst werden müs272 Dies ist zwischenzeitlich allgemein anerkannt. Grundlegend BGHZ 179, 27 Rn. 21; vgl. etwa auch BGHZ 192, 148 Rn. 30; BGHZ 201, 101 Rn. 20; BGHZ 207, 209 Rn. 37; BAG, NZA 2020, 1541 Rn. 42 mwN; BVerwGE 150, 74 Rn. 54; BVerwGE 157, 249 Rn. 27. 273 BVerfGK 19, 89 Rn. 47; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 41. Ebenso BVerfG, NJW-RR 2018, 305 Rn. 37, 41 mit der Konsequenz, dass ein Urteil eines nationalen Gerichts, das unter Berücksichtigung sämtlicher anerkannter Auslegungsmethoden zu dem Ergebnis gelangt, dass eine nationale Regelung nicht richtlinienkonform fortgebildet werden kann, und daher mangels Entscheidungserheblichkeit für den von dem Gericht zu entscheidenden Fall von einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gem. Art. 267 AEUV zur Auslegung der in Rede stehenden Richtlinienbestimmung absieht, nicht erfolgreich mit einer Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Anspruchs auf den gerichtlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) angegriffen werden kann. Auch angesichts ihrer Rolle als Unionsgerichte (s. oben Rn. 7) kann dies allerdings nur in Fällen gelten, in denen sich das jeweilige Gericht der ihm zur Verfügung stehenden Instrumente der Rechtsfortbildung tatsächlich vergewissert und die Entscheidung, das die nationale Regelung nicht richtlinienkonform fortgebildet werden kann, als „vertretbare[s] Ergebnis“ (BVerfG, NJW-RR 2018, 305 Rn. 40) erscheint. Unzulässig – und mit einer Verfassungsbeschwerde angreifbar – sind hingegen Versuche von (letztinstanzlichen) Gerichten sich mittels vermeintlich bestehender Schranken für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung des nationalen Rechts ihrer Vorlagepflicht zu entziehen. 274 Vgl. zu den rechtsfortbildenden Aufgaben der höchsten Gerichte und deren Grundlage und Absicherung im Verfahrensrecht eingehend Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung (1995); Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997). 275 Zuletzt etwa BVerfGE 149, 126 Rn. 73. Speziell im Kontext der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung BVerfGK 19, 89 Rn. 45; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 37–38. 276 BVerfGE 132, 99 Rn. 74 („zu den Aufgaben der Rechtsprechung gehört die Rechtsfortbildung“); BVerfGE 128, 193 Rn. 53; BVerfG, WM 2014, 1431 Rn. 37 und 38 (mit Verweis auf § 132 Abs. 4 GVG, § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO); BVerfGE 149, 126 Rn. 73 (mit Verweis auf § 45 Abs. 4 ArbGG); BVerfG, NJW 2019, 351 Rn. 28 (mit Verweis auf § 41 Abs. 4 SGG). 277 BVerfGE 82, 6, 12; BVerfGE 128, 193 Rn. 53; BVerfGK 3, 348, 351; BGH, WRP 2021, 201 Rn. 26. 278 Z. B. BVerfGE 118, 212, 234 ff. 279 BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59 f.; BVerfGE 132, 99 Rn. 74 ff. Speziell im Zusammenhang mit den Grenzen richtlinienkonformer Auslegung: BVerfG, ZIP 2013, 924 Rn. 33.
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sen280 bzw. den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen ist,281 wobei „im Wechselspiel“ der Gesetzgeber korrigierend eingreifen kann.282 Der rechtsfortbildenden Aufgabe und Befugnis der Gerichte sind durch Art. 20 53 Abs. 2 und Abs. 3 GG Grenzen dahingehend gesetzt, dass die Gerichte sich – und dies auch im Rahmen gebotener verfassungskonformer Auslegung – nicht Befugnisse anmaßen dürfen, die kraft Verfassung dem Gesetzgeber zugeordnet sind:283 Richterliche Rechtsfortbildung darf eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellungen nicht an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen; die gesetzgeberische Grundentscheidung ist zu respektieren,284 und dies in der Weise, dass im Wege der Auslegung einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt285, das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden darf.286 Zur Ermittlung eines klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers als Schranke der Rechtsfortbildung (dazu Rn. 61 ff.)287 soll neben dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes auch den Gesetzesmaterialien eine „nicht unerhebliche Indizwirkung“ zukommen.288
280 Und sich die gesetzlichen Vorgaben dabei als unzureichend erweisen: BVerfGE 84, 212, 226 f.; BVerfGE 88, 103, 116. 281 BVerfGK 19, 89 Rn. 45; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 37. 282 S. BVerfGE 132, 99 Rn. 74; BVerfGE 149, 126 Rn. 73; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 38. 283 Z. B. BAGE 146, 384 Rn. 34 (bei verschiedenen Möglichkeiten der Rechtsfortbildung mit unterschiedlicher Zielrichtung) und BGH, BB 2021, 590 Rn. 44 (bei bereits in der Richtlinie selbst angelegten, verschiedenen Möglichkeiten der Umsetzung); vgl. aber auch BGHZ 192, 148 Rn. 36–43. 284 BVerfGE 149, 126 Rn. 73 mwN. Speziell im Zusammenhang mit den Grenzen richtlinienkonformer Auslegung: BVerfGK 19, 89 Rn. 51; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 35, 40, 42 ff. 285 Vgl. BVerfGE 149, 126 Leitsatz 3: „Richterliche Rechtsfortbildung darf den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht übergehen und durch ein eigenes Regelungsmodell ersetzen.“ 286 So wörtlich: BVerfGE 54, 277, 299 f. mwN aus der Rspr.; BVerfGE 71, 81, 105. Ähnlich BVerfGE 90, 263, 275; BVerfGE 118, 212, 234. BVerfGK 19, 89 Rn. 56: „Eine verfassungsrechtlich unzulässige richterliche Rechtsfortbildung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ausgehend von einer teleologischen Interpretation, den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird […]. Richterliche Rechtsfortbildung überschreitet die verfassungsrechtlichen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare […] gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft.“ Ebenso wörtlich BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 49; s. a. BVerfGE 149, 126 Rn. 73, 75; BGH, NJW 2020, 148 Rn. 24. 287 BVerfGE 71, 81, 105; BVerfGE 118, 212, 234; BVerfGE 128, 193, 210; BVerfG WM 2016, 1431 Rn. 39. 288 BVerfGE 149, 126 Rn. 74; BGH, WRP 2021, 201 Rn. 23. S. auch schon BVerfGK 19, 89 Rn. 51 und nunmehr BVerfG NJW 2019, 2837 Rn. 41 („wichtige Indizfunktion“). Zur Problematik der historischen Auslegungsmethode vgl. etwa Baldus/Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung (2013); Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017); Sehl, Was will der Gesetzgeber? (2019) sowie die Beiträge in Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ – Bedeutung und Gestaltung der Gesetzesbegründung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (2013).
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
Angesichts der den Gerichten zugeschriebenen rechtsfortbildenden Aufgabe ist es nur konsequent, wenn das BVerfG die aus Art. 20 Abs. 3 GG resultierende Gesetzesbindung nicht auf eine bestimmte Auslegungsmethode und damit auch nicht auf eine reine Wortlautinterpretation reduziert, sondern jenseits des Wortlauts289 entscheidend auf den Regelungswillen des Gesetzgebers (der sich auch und vor allem im Wortlaut widerspiegeln mag) abstellen will (Rn. 53). Dies eröffnet die Möglichkeit zu einer den Wortlaut ergänzenden wie auch korrigierenden Rechtsfindung im Privat- wie auch in weiten Bereichen des öffentlichen290 Rechts. Rechtsfortbildung ist jedoch – wiederum von Verfassungs wegen – durch das Rechtsstaatsprinzip und Art. 103 Abs. 2 GG eine Grenze gezogen, wenn für den Bereich des (materiellen) Strafrechts291 und des Eingriffsrechts (etwa des Steuerrechts)292 eine Rechtsfortbildung zu Lasten des Bürgers ausgeschlossen und eine Verkürzung von Rechtspositionen gegen den Wortlaut der Norm als unzulässig anzusehen sind.293
b) Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG 55 Die unter Rn. 52–54 dargestellten Grundlagen und Grenzen der Rechtsfortbildung im Allgemeinen gelten im Grundsatz in gleicher Weise für die Kompetenz der Gerichte zur Rechtsfindung im Rahmen ihrer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung.294 Die Grundlage dieser Verpflichtung zur Rechtsfortbildung ergibt sich (neben Art. 288 Abs. 3 AEUV; s. Rn. 3–4) aus Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG, wonach (nach hier vertretener Ansicht; Rn. 43) Richtlinien des Unionsrechts als „Gesetz“ bzw. „Recht“ von den Gerichten zu beachten sind.295 Die vom Unionsrecht anerkannte (s. Rn. 36 ff., 41) und vom deutschen Recht markierte Grenze der Rechtsfortbildung ist aus der Perspektive des Art. 20 Abs. 3 GG zu bestimmen. Hierbei geht es im Wesentlichen um zweierlei: Mit der Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“ i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG wird – wie dargestellt (Rn. 53) – einerseits die Bindung der Judikative an die gesetzgeberische „Grundentscheidung“ festgeschrieben; andererseits lockert Art. 20 Abs. 3 GG die richterliche Bindung an ein (die Richtlinie nur unvollkommen umsetzendes) Gesetz, wenn und soweit mit dem Verweis auf das „Recht“ die allgemeinen rechtlichen Prinzipien (und somit auch Art. 23 Abs. 1 GG) in Bezug genommen werden. Die in Art. 20
289 BVerfGE 118, 212, 243; BVerfGK 19, 89 Rn. 57 („Der Wortlaut des Gesetzes zieht im Regelfall keine starre Auslegungsgrenze“); BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 50. 290 Z. B. BVerwGE 150, 74 Rn. 54; BVerwGE 157, 249 Rn. 27 ff.; BVerwGE 162, 382 Rn. 27 f.; BVerwG, NVwZ 2019, 1840 Rn. 24. 291 Dazu näher Möllers, Methodenlehre, § 4 Rn. 67 f. 292 Vgl. etwa BFH, BStBl II 2012, 630 Rn. 20; BFH/NV 2014, 123 Rn. 30; BFH, BStBl II 2013, 712 Rn. 19; BFH, BStBl II 2014, 428 Rn. 81; BFH/NV 2014, 278 Rn. 25 ff.; BFH, BStBl II 2019, 344 Rn. 14. 293 BVerfGE 69, 315, 372. 294 BVerfGK 19, 89 Rn. 47 ff.; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 41. 295 Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 176 f.; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 191 f.
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III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht
Abs. 3 GG angeordnete Bindung an „Gesetz und Recht“ verweist den Richter damit auf die Maßstäbe der Gesamtrechtsordnung einschließlich des Unionsrechts296 in der Auslegung des EuGH.297 Dabei wird die „Grundentscheidung“ des Gesetzgebers von seinem Willen, die Richtlinienvorgaben umzusetzen, mitgeprägt.298 Orientiert der Richter die richtlinienkonforme Auslegung am Regelungszweck und Ziel der Richtlinie, besteht auch nicht die Gefahr, dass er seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt oder aber ein autonomes Regelungsmodell verwirklicht. Vielmehr vollzieht er den ihm von Art. 20 Abs. 3 GG gegebenen verfassungsmäßigen Auftrag, eine Rechtsfortbildung in den Grenzen des nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten zu verwirklichen.299 Bestehen bleibt dabei jedoch die jeglicher richterlichen Rechtsfortbildung gesetzte Schranke, die (von dem Umsetzungswillen mitgeprägte) gesetzgeberische Grundentscheidung als Gesetzesbindung zu respektieren. In diesem Sinne ist auch bei Befolgung der Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung – mit den Worten des BVerfG – richterliche Rechtsfortbildung unzulässig, wenn sie „den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird.“300 Im Übrigen können die im deutschen Recht existierenden Grundsätze des Vertrauensschutzes zu beachten sein (dazu Rn. 73 ff.).
c) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? Die Befugnis zur Rechtsfortbildung wird nach hergebrachter,301 aber keineswegs un- 56 bestrittener302 Ansicht im Schrifttum an die Existenz einer Regelungs-, Gesetzes- oder
296 So bereits Canaris, FS Bydlinski, S. 84 f.; Herresthal, JuS 2014, 289, 292; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 260 f., 267 sowie Möllers, FS Siekmann, S. 56 f.; demgegenüber ablehnend etwa Schön, FS Canaris, S. 176 f. 297 Die zeitlich nachlaufende Konkretisierung des Richtlinienrechts durch die Rspr. des EuGH führt zu gewandelten Bedingungen, die die Aufgabe der Rechtsfortbildung durch die Gerichte ebenfalls legitimieren; in diesem Sinne ausdrücklich BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 42. 298 Vgl. BGHZ 201, 101 Rn. 23; BAGE 166, 1 Rn. 28 sowie jüngst BGH, ZIP 2021, 566 Rn. 14. 299 Vgl. BVerfGK 19, 89 Rn. 47; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 50. 300 BVerfGK 19, 89 Rn. 56; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 49. 301 Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff.; ders./Canaris, Methodenlehre, S. 191 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff. Das BVerfG hat Rechtsfortbildung in Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG für den Fall einer Regelungslücke akzeptiert, z. B. BVerfGE 82, 6, 12 f.; BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59 f.; BVerfG, NJW 2011, 1723, 1723 f.; BVerfGE 132, 99 Rn. 74 f., aber nicht auf diesen Fall beschränkt. 302 Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 461 ff.; ders., Einführung in die Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. (2000), Rn. 208 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 254; weitere Nachweise z. B. bei Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung (1995), S. 152 ff.; zuletzt Möllers, Methodenlehre, § 6 Rn. 82 f.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
Rechtslücke geknüpft. Diese Position wird verbreitet auch in der Praxis vertreten.303 Diese Voraussetzung macht Sinn, wenn der Gesetzgeber für einen bestimmten Bereich eine (einigermaßen) vollständige Regelung angestrebt und verwirklicht hat.304 Eine „Lücke“ setzt insoweit eine planwidrige Unvollständigkeit voraus.305 Wo hingegen der Gesetzgeber ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder gar nicht tätig geworden ist, überlässt er – wie etwa in manchen Bereichen des Arbeitsrechts – die Rechtsfindung der Judikative.306 Von einer „Lücke“ zu sprechen erscheint hier ebenso wenig sinnvoll wie in den Fällen, in denen Gesetzgebung im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel einem Alterungsprozess unterworfen ist.307 Hier sind die Gerichte zur Rechtsfortbildung nicht nur (gem. Art. 20 Abs. 3 GG) berechtigt, sondern ggf. sogar verpflichtet (Rn. 52).308 Die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung ist bei näherem Zusehen denn auch nicht (nur) als Interpretationsproblem, sondern vor allem als ein (verfassungsrechtliches) Problem der Rollenverteilung von Legislative und Judikative309 bei der Weiterentwicklung und Modernisierung des Rechts unter der Herrschaft des Art. 20 Abs. 3 GG zu begreifen.310 In dieser Perspektive ergibt sich die Legitimation der Gerichte zu rechtsfortbildender Richtlinienumsetzung, wenn der Gesetzgeber (unionsrechtswidrig) nicht (umsetzend) tätig geworden ist, ohne Weiteres aus dem
303 BGHZ 179, 27 Rn. 22; BGHZ 192, 148 Rn. 31; BGHZ 201, 101 Rn. 23; BGHZ 207, 209 Rn. 37; BGHZ 215, 126 Rn. 25; BGHZ 218, 80 Rn. 32 f.; BGHZ 218, 290 Rn. 14; BGH, NJW-RR 2018, 1204 Rn. 14; BGH, NJW 2020, 148 Rn. 25; BVerwGE 157, 249 Rn. 29. Keine Erwähnung findet das Lückenproblem in BAGE 166, 1 Rn. 26 ff. (freilich unter Betonung, dass Wortlaut und Systematik der Regelung kein eindeutiges Ergebnis ergäben) sowie in BGHZ 219, 161 Rn. 33 ff. und BGH, BB 2021, 590 Rn. 27 ff. 304 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 192. 305 BGHZ 179, 27 Rn. 22, 25 f.; BGHZ 192, 148 Rn. 31. Eine solche planwidrige Unvollständigkeit ist auf der Grundlage des Gesetzeszwecks zu ermitteln: Es geht um das Fehlen einer nach dem Gesetzeszweck zu erwartenden Regel; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 196. Ähnlich auch BVerfGE 82, 6, 13: Es wird „aus den Wertungen des Gesetzes entnommen, ob eine Lücke besteht […]“. 306 Exemplarisch BGHZ 219, 161 Rn. 33 ff. zum Anspruch auf grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe nach § 1078 Abs. 1 ZPO im Anschluss an EuGH v. 26.7.2017 – Rs. C-670/15 Šalplachta, EU:C:2017:594. 307 BVerfGE 96, 375, 394. Für diesen Fall verwenden BVerfGE 82, 6, 12; BVerfGE 98, 49, 59 f.; BVerfGK 17, 533, 549 und BVerfG, NJW 2011, 1723, 1723 f. auch die Lückenterminologie; s. dagegen Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 217 ff., der im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit der Gesetzgeber und das damit einhergehende Fehlen eines gesetzgeberischen Gesamtplans von einem „heteronomen Regelungsdefizit“ ausgehen will. Zum Alterungsproblem i.Ü. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 148 ff. 308 BVerfGE 82, 6, 12; BVerfGK 3, 348, 351; BVerfG, NJW 2011, 1723, 1723. Zur Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG s. BVerfGE 113, 88, 103 f.; BVerfGE 128, 193, 209 f. und BVerfGK 19, 89 Rn. 45 und 57. 309 So treffend das Minderheitsvotum in BVerfGE 122, 248, 283 und 285 f. unter Bezugnahme auf BVerfGE 82, 6, 12 f.: „Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, so darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre.“ Vgl. auch BVerfGE 128, 193, 209 f. 310 Zutr. Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung (1995), S. 57 ff.
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III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht
Umstand, dass sich mit dem Richtlinienerlass das rechtliche Umfeld für das nationale Recht geändert hat311 und dieses ggf. der Anpassung bedarf.312 Hat der Gesetzgeber vor Erlass der Richtlinie eine Regelung geschaffen und stößt 57 eine bloße Auslegung im Lichte der Richtlinienzwecke (Rn. 45, 49) auf Grenzen, stellt der Erlass der Richtlinie ab dem Zeitpunkt des Ablaufs ihrer Umsetzungsfrist die Legitimationsbasis für eine Rechtsfortbildung dar. Wer eine Lücke als Voraussetzung jeglicher Rechtsfortbildung verlangt (anders wohl als das BVerfG313), wird hier eine Lücke im weiteren Sinn annehmen können: Sie ergibt sich aus den Erfordernissen der Gesamtrechtsordnung,314 die (auch im Lichte des Art. 23 Abs. 1 GG) auf eine Anpassung des nationalen Rechts an die Vorgaben der Richtlinie drängen.315 Als Schranke gegenüber einer solchen Rechtsfortbildung kommt hier aber eine vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption von einigem Gewicht in Frage, die als „gesetzgeberische Grundentscheidung“ (dazu Rn. 44, 53, 70 a. E.) verstanden werden kann.316 Anders ist die Lage, wenn der Gesetzgeber nach Erlass der Richtlinie zu ihrer Um- 58 setzung (mehr oder weniger flächendeckend) tätig geworden ist. Hier ist die Rollenverteilung zwischen Legislative und Judikative eine andere: Dem Lückenbegriff kann hier die Aufgabe zugeschrieben werden, die Entscheidungen des Gesetzgebers vor einer unzulässigen Korrektur durch die Judikative abzuschirmen.317 Aber auch hier kann ein Bedürfnis für gerichtliche Rechtsfortbildung entstehen, wenn der Gesetzgeber – unbewusst – die Regelungszwecke der Richtlinie verfehlt oder hinter ihnen zurückbleibt (Rn. 66). In solchen Konstellationen wird man die für eine Rechtsfortbildung vorauszusetzende „Lücke“ vor dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 3 GG darin sehen können, dass der Gesetzgeber die Richtlinie zwar umsetzen will, deren Vorgaben
311 Zur Änderung des rechtlichen Umfelds s. BVerfGE 82, 6, 12 und BVerfGE 88, 145, 167. 312 Ebenso im Anschluss an die hier vertretene Position Ebers, Rechte, Rechtsbehelfe und Sanktionen im Unionsprivatrecht, S. 413; Preis/Sagan-Sagan, EuArbR, 2. Aufl. (2019), Rz. 1.154. S. in Anlehnung an Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 221 ff., auch Repasi, Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR, S. 50, 55 ff., 60 f. 313 S. oben in Rn. 52. 314 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246. 315 So im Ergebnis BAGE 130, 119 Rn. 64 ff. (mit eingehender Begründung der Rechtsfortbildung; die beiläufige Erwähnung des Willens des Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung erscheint in diesem Zusammenhang freilich wenig überzeugend; gemeint ist wohl eher, dass der Rechtsfortbildung der Gesetzgeberwille nicht entgegensteht); Canaris, FS Bydlinski, S. 87 ff.; Herresthal/Weiß, Fälle zur Methodenlehre, Rn. 230, 237 a. E.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 288 f. A. A. Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 108 f.; Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 137 f. 316 In diesem Sinne auch BAGE 130, 119 Rn. 67. 317 S. BVerfGE 82, 6, 12 f. Zu verweisen ist auch auf die grundsätzlichen (aber nicht auf eine Richtlinienumsetzung bezogenen) Aussagen des Minderheitsvotums in BVerfGE 122, 248, 282 f. und 285 f. und auf BVerfGE 128, 193, 209 f. Speziell zu den (verfassungsrechtlichen) Grenzen einer richtlinienkonformen Auslegung BVerfGK 19, 89, 100 f.: Bindung an „die gesetzgeberische Grundentscheidung“.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
aber missversteht und daher eine Divergenz zur Richtlinie entsteht.318 Der BGH spricht in seiner Quelle-Entscheidung insoweit von einer „verdeckten“ Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit.319 Die für die Rechtsfortbildung notwendige Legitimation des Richters liegt aber – unabhängig vom Lückenbegriff – in der Bindung des Gerichts an „Gesetz und Recht“ i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG und damit an die Vorgaben der Richtlinie320 (dazu Rn. 65–67 und 69–71). 59 Ist die Richtlinienvorgabe bei Fristablauf (noch) nicht umgesetzt, wird man zwar kaum von einer verdeckten Regelungslücke ausgehen können, den Gerichten aber gleichwohl eine Rechtsfortbildungskompetenz zusprechen müssen. Dies gilt zunächst in den Fällen, in denen eine Umsetzung unterblieben ist, weil der Gesetzgeber von der Richtlinienkonformität des bestehenden Rechts ausgegangen ist. Hier fehlt es an einer gesetzgeberischen Grundentscheidung, die eine Rechtsfortbildung sperren könnte. Ist der Gesetzgebungsprozess – aus welchen Gründen auch immer – nicht eingeleitet oder nicht rechtzeitig abgeschlossen worden, ist – ebenfalls mangels einer gesetzgeberischen Grundentscheidung – eine rechtsfortbildende Judikatur im Rahmen des den Gerichten Möglichen (dazu Rn. 60) zulässig und ggf. geboten,321 zumal der Gesetzgeber dadurch nicht an einer eigenständigen Regelung (die idR unionsrechtlich geboten sein wird) gehindert ist. Nur wenn der Gesetzgeber eine Richtlinienumsetzung bewusst ablehnt, ist die Judikative an diese Entscheidung des Gesetzgebers gebunden (dazu auch Rn. 68).
d) Die Instrumente der Rechtsfortbildung 60 Das deutsche Recht kennt verschiedene Instrumente, deren sich die Gerichte bedie-
nen können und müssen, um eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu erreichen.322 Bleibt etwa der Gesetzgeber in der Ausgestaltung des nationalen Umset318 Aus der Rspr. z. B. BGHZ 207, 209 Rn. 37 unter Verweis auf BGHZ 192, 148 Rn. 32 ff.; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 416, 419; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 40; Möllers, FS Siekmann, S. 59; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 181; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 286 ff. A. A. etwa Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 135 f. 319 BGHZ 179, 27 Rn. 22, 25 f.; ebenso BGHZ 192, 148 Rn. 31, 34 f.; BGHZ 201, 101 Rn. 22; BGHZ 207, 209 Rn. 37; BGH NJW 2020, 148 Rn. 25. Zu vergleichbaren Fällen eines Irrtums des nationalen Gesetzgebers über die Tragweite des Unionsrechts in anderen Zusammenhängen BGH, NJW 2020, 3592 Rn. 25 ff. (zur zwischenzeitlichen Abänderung von Art. 17 Abs. 1 EGBGB a. F.) und OLG Saarbrücken, ZIP 2020, 1315, 1319 f. (zu Art. 33 Abs. 2 EGBGB a. F.). 320 Zuletzt ähnlich Herresthal, ZIP 2020, 745, 749 („systemwidriges Regelungsdefizit“); Canaris, FS Bydlinski, S. 84 f.; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 176 f. Vgl. auch BGHZ 201, 101 Rn. 23: „Eine planwidrige Regelungslücke ist nicht nur dann gegeben, wenn Wertungswidersprüche zwischen zwei innerstaatlichen Normen bestehen.“ A. A. etwa OLG München, VersR 2013, 1025, 1029 mwN aus der Literatur. 321 A. A. Langenbucher-dies., § 1 Rn. 106. 322 Dazu auch Möllers, Methodenlehre, § 6 Rn. 87 ff.
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III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht
zungsrechts hinter den Anforderungen der Richtlinienvorgaben zurück, kann mittels einer teleologischen Extension323 oder teleologischen Reduktion324 der in Betracht kommenden Norm(en) der Zweck der Richtlinie verfolgt werden. Fehlt es an jeglicher Umsetzung, kann u. U. die Analogie325 helfen. Sind deren Voraussetzungen – Ähnlichkeit der Tatbestände – nicht gegeben,326 ist den Vorgaben der Richtlinie durch die Ausbildung einer Fallnorm327 zu entsprechen, so wie dies die deutsche Rechtsprechung seit jeher etwa im Bereich des Allgemeinen und des Besonderen Schuldrechts (z. B. im Delikts- und Bereicherungsrecht und mit der Ausbildung von Rechtsinstituten wie der c.i.c. und der Störung der Geschäftsgrundlage) praktiziert hat. Die Rechtsfortbildung hat sich dabei an den Richtlinienvorgaben im Lichte des primären Unionsrechts – den Grundfreiheiten, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und den in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen – zu orientieren.
e) Wortlaut und Regelungszweck Als unübersteigbare Schranke einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung gilt der 61 Wortlaut der Norm nur für das (materielle) Strafrecht (s. Art. 103 Abs. 2 GG) wie
323 BVerwG, NVwZ 2019, 1840 Rn. 24; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 48, 51; Canaris, FS Bydlinski, S. 90. 324 BVerfGK 19, 89 Rn. 57 („Zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gehört auch die teleologische Reduktion“); BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 50; BGHZ 179, 27 Rn. 21; BGHZ 192, 148 Rn. 31, 34 f.; BGHZ 201, 101 Rn. 21 f.; BGH, NJW 2015, 3098 Rn. 27; BGH, NJW-RR 2018, 424 Rn. 19; BAGE 130, 119 Rn. 64 und 66; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 49, 51; Canaris, FS Bydlinski, S. 90; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 193 ff.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 290 f. Ob eine teleologische Reduktion einer Norm „auf Null“ zulässig ist, ist noch ungeklärt: Ablehnend BGH, BB 2021, 590 Rn. 39; vgl. im Einzelnen die Nachweise in Fn. 370. 325 BGH, NJW 2020, 148 Rn. 25 (zur Existenz einer verdeckten Regelungslücke als Voraussetzung einer Analogie bzw. teleologischen Extension oder Restriktion); BVerwGE 150, 74 Rn. 54 f.; BVerwGE 158, 301 Rn. 33; Möllers, Methodenlehre, § 6 Rn. 87 ff., 130 ff.; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 183 ff.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 291 f. 326 Das BVerfG hat die Grenzen der Rechtsfortbildung durch Analogie dahingehend umschrieben, dass die Analogie sich nicht als Äußerung unzulässiger richterlicher Eigenmacht, durch die der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen ersetzt werde, darstellen dürfe; BVerfGE 82, 6, 12 f. und BVerfGE 132, 99 Rn. 74. Zur Zulässigkeit der Rechtsfortbildung praeter legem BVerfGE 88, 145, 167. 327 Fikentscher, Methoden des Rechts IV, S. 202 ff., 279 ff. Zum Preisanpassungsrecht kraft „ergänzender Vertragsauslegung“ als Rechtsfortbildung s. Riesenhuber, LMK 2016, 375867 (Anmerkung zu BGHZ 207, 209).
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
auch für den Bereich des Eingriffsrechts328 (Rn. 54).329 In den anderen Teilgebieten der Rechtsordnung spielt neben dem Wortlaut der gesetzgeberische Regelungszweck eine entscheidende Rolle. Dieser erlaubt es denn auch, eine vom Wortlaut abweichende Rechtsfindung zu verwirklichen. Diese verbreitet auch im Schrifttum vertretene, aber nicht unumstrittene Position330 wird von den deutschen Höchstgerichten331 (und dem österreichischen OGH332) und insbesondere vom BVerfG (s. Rn. 54, 55 a. E.) geteilt, soweit die aufgezeigten Grenzen (Rn. 52–54)333 an sich zulässiger Rechtsfortbildung gewahrt werden. Rechtsfortbildung unter Abweichung vom Wortlaut der zu interpretierenden Vorschrift ist – entgegen einigen (früheren) Judikaten
328 In Konstellationen, in denen eine etwaige richtlinienkonforme Auslegung zu Lasten des Steuerpflichtigen gehen würde, wird insoweit auf den Wortlaut als Grenze für eine richtlinienkonforme Auslegung abgestellt, vgl. etwa BFH, BStBl II 2012, 630 Rn. 20, BFH/NV 2014, 123 Rn. 30 und BFH, BStBl II 2019, 344 Rn. 14. Der XI. Senat des BFH sieht die richtlinienkonforme Auslegung grds. durch Wortlaut und Wortsinn des Gesetzestextes begrenzt, BFH, BStBl II 2013, 712 Rn. 19; BStBl II 2014, 428 Rn. 81; BFH, BStBl 2017, 590 Rn. 30 und BFH/NV 2020, 598 Rn. 65; vgl. auch BFH/NV 2014, 278 Rn. 25 ff. (V. Senat). 329 Im Einzelfall mag die Schranke für eine zulässige richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im Strafrecht mit guten Gründen noch einmal enger gezogen sein, als im übrigen Eingriffsrecht. Zum Steuerrecht etwa der BFH im Anschluss an EuGH v. 3.7.2014 – Rs. C-165/13 Gross, EU:C:2014:2042: Begründung einer Steuerschuld (zu Lasten Steuerpflichtiger) gem. § 19 Satz 2 TabStG a. F. für den Empfänger von nach Deutschland geschmuggelten Zigaretten, der die Zigaretten erst nach der Beendigung des Vorgangs des Verbringens von einer anderen daran beteiligten Person bezogen und in Besitz genommen hat (BFH/NV 2015, 629); der BGH hat eine entsprechende Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung – trotz der zwischenzeitlichen Neuregelung der Voraussetzungen für die Steuerschuldnerschaft in § 23 Abs. 1 Satz 2 TabStG – verneint (BGH NJW 2019, 3167 Rn. 19 ff. und 31 ff.). 330 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 226; Canaris, FS Bydlinski, S. 92 ff.; Gebauer/ Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 43; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EGRechts (1994), S. 95 f.; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 107; a. A. etwa Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen auch Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 156 ff. 331 BGHZ 179, 27 Rn. 25; BGHZ 192, 148 Rn. 30 ff.; BGH, NVwZ-RR 2011, 55 Rn. 24 ff.; BGH, NVwZ 2014, 1111 Rn. 8 ff.; BGHZ 201, 101 Rn. 20 ff. (teleologische Reduktion des § 5 Abs. 2 Satz 4 VVG a. F.); BGH, NJW 2015, 1023 Rn. 20; BGH, NJW 2015, 3098 Rn. 27; BGH, NJW-RR 2018, 424 Rn. 19; BGH, NJW 2018, 3242 Rn. 20 („Wortlaut […] bildet dabei keine Grenze“). Auch BAGE 130, 119 Rn. 64 ff. (teleologische Reduktion der §§ 7 Abs. 3 und Abs. 4 BUrlG); diese Entscheidung wurde mehrfach bestätigt, vgl. etwa BAGE 134, 196 Rn. 19. In BAGE 142, 371 Rn. 33 lässt es das BAG dahinstehen, ob es die dort vorgenommene unionsrechtskonforme Auslegung der § 7 Abs. 3 und Abs. 4 BUrlG im Wege der Auslegung oder Rechtsfortbildung vornimmt. BVerwGE 150, 74 Rn. 54; BVerwGE 157, 249 Rn. 29. 332 OGH, ÖJZ 2011, 603, 604 (unter 2.2.b.); OGH, GRUR Int. 2017, 455, 457 (unter 3.); OGH, GRUR Int. 2019, 299, 303 (unter 7.3). 333 Speziell zu den Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung etwa BVerfGK 19, 89 Rn. 45; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 39; BGH, NJW 2013, 2674 Rn. 42; BGHZ 207, 209 Rn. 38 ff.; BAGE 132, 247 Rn. 29; BAGE 135, 34 Rn. 35. Ähnlich auch BGHZ 179, 27 Rn. 30 f.
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des BGH334 – also zulässig, wenn und soweit dabei dem Regelungszweck des Gesetzgebers (Rn. 62) gefolgt wird.335 Für die Bestimmung des Regelungszwecks einer Norm wird man neben der objek- 62 tiv-teleologischen Auslegung auch auf den Regelungsanlass und den Willen des Gesetzgebers abzustellen haben. Das BVerfG will für die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens den Gesetzesmaterialien eine „nicht unerhebliche Indizwirkung“ beimessen.336 Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Materialien oftmals durchaus widersprüchlich sein mögen und von daher nur dann ein gewisses Gewicht gewinnen können, wenn sie eindeutig und klar den Regelungszweck der Regelung zu erkennen geben.337 Ergibt sich, dass der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen hat,338 so darf der Richter diese nicht aufgrund eigener abweichender rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder verfälschen339 und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre.340 Diese vom Minderheitsvotum im Rügeverkümmerungs-Beschluss getroffene Aussage341 bringt die Dinge auf den Punkt und bedarf strikter Beachtung, um dem (legitimen) Instrument der Rechtsfortbildung Grenzen zu ziehen. Bei der Umsetzung von Richtlinienvorgaben durch den Gesetzgeber entsteht ein be- 63 sonderes Problem dann, wenn (vor allem ausweislich der Gesetzesmaterialien) der Wille des Gesetzgebers zwar auf eine richtlinienkonforme Umsetzung gerichtet ist, eine solche Umsetzung aber deshalb nicht gelingt, weil die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe über den Inhalt einer Richtlinienregelung im Irrtum gewesen sind, insbesondere dieser Inhalt erst durch nachfolgende Rechtsprechung des EuGH geklärt worden ist. In diesen Fällen stehen die Gerichte vor der Alternative, entweder der vom Gesetzgeber gewählten (aber die Richtlinienvorgabe verfehlenden) konkreten Lösung des Sachproblems im Einzelfall zu folgen oder aber die Regelung zu korrigieren und das vom Gesetzgeber verfolgte generelle Ziel einer richtlinienkonformen Umsetzung 334 BGHZ 150, 248, 254 und 256; vgl. auch BGHZ 159, 280, 284 f. Allein auf den „klaren“ bzw. „eindeutigen Gesetzeswortlaut“ als Schranke stellen ab BGH, NJW 2004, 154, 155 f. (zu § 1 Abs. 2 Nr. 3 und § 2 Abs. 1 Satz 4 HWiG a. F.); BGH, NJW-RR 2005, 354, 355 (zu § 4 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 lit. b) Satz 2 VerbrKrG a. F.); BGH NJW 2006, 3200 Rn. 12 f. 335 Z. B. BGH NJW 2018, 3242 Rn. 20. 336 BVerfGE 149, 126 Rn. 74; nachfolgend etwa BGH, WRP 2021, 201 Rn. 23. In BVerfG NJW 2019, 2837 Rn. 41 ist nunmehr von einer „wichtige[n] Indizfunktion“ die Rede. 337 Vgl. zur Problematik der historischen Auslegungsmethode die Nachweise in Fn. 288. Speziell im Kontext richtlinienkonformer Rechtsfortbildung auch Frieling, JbJZ 2015, 37, 47 ff., der freilich auf Basis eines von der hier vertretenen Ansicht (s. oben Rn. 43, 55) abweichenden Ansatzes vielfach zu anderen Schlussfolgerungen für die Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung gelangt. 338 BVerfGK 19, 89 Rn. 50 spricht insoweit von der „maßgebliche[n] gesetzgeberische[n] Grundentscheidung, an die die Gerichte verfassungsrechtlich gebunden“ seien. In der Sache ebenso BGHZ 179, 27 Rn. 31. 339 BVerfGE 149, 126 Rn. 75. 340 BVerfGE 82, 6, 12. 341 BVerfGE 122, 248, 283.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
zu verwirklichen (dazu unten Rn. 65 ff.). Verallgemeinernd gesprochen steht sich hier der konkret auf die getroffene Regelung bezogene Wille des Gesetzgebers seinem Willen gegenüber, eine (ordnungsgemäße) Umsetzung der Richtlinie vorzunehmen.342 Bezüglich beider Alternativen mag man von einer „Grundentscheidung“ des Gesetzgebers (Rn. 53) ausgehen wollen. Das BVerfG – in Gestalt jeweils einer Kammer beider Senate343 – will hier den Gerichten die Annahme ermöglichen, dass der Gesetzgeber „im Zweifel“ nicht gegen seine aus Art. 288 Abs. 3 AEUV resultierende Pflicht, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen, verstoßen wollte.344 In diesem Rahmen setzt das Gericht dann auch nicht (unzulässiger Weise) eigene Gerechtigkeitsvorstellungen durch,345 sondern orientiert sich an den Vorgaben des Unionsgesetzgebers. 64 Ob und unter welchen Voraussetzungen eine den Richtlinienvorgaben widersprechende Regelung im Wege rechtsfortbildender Auslegung korrigiert werden kann, ist in der (sich wohl wandelnden) Praxis noch nicht abschließend geklärt.346 Im Quelle-Urteil hat der VIII. Senat des BGH seine Rechtsfortbildung auf die von der Richtlinienkonformität getragene Umsetzungsabsicht bei der konkreten Regelung gestützt,347 sich später aber mit dem Grundanliegen des Gesetzgebers, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen, begnügt.348 Der IV. Senat hält eine die konkrete Regelung korrigierende Rechtsfortbildung für zulässig, wenn der Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Umsetzung anstrebt und ausgeschlossen werden kann, dass der Gesetzgeber die Regelung auch erlassen hätte, wenn ihm die Richtlinienwidrigkeit der Regelung bekannt gewesen wäre:349 Da dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden könne, sehenden Auges einen Richtlinienverstoß in Kauf zu nehmen, sei für die Bestimmung des Normzwecks von einem (generellen) Willen des Gesetzgebers zu korrekter Richtlinienumsetzung auszugehen. Eine Grenze dafür werde allein durch eine ausdrückliche Umsetzungsverweigerung markiert.350 Eine ähnliche Position vertritt der öOGH, wenn er – bei einem Irrtum über den Inhalt der Richtlinie – die bezüglich einer Regelung gegebene konkrete Regelungs
342 Exemplarisch BGHZ 207, 209 Rn. 43, 58; BAGE 166, 1 Rn. 28. 343 BVerfGK 19, 89 Rn. 51 (2. Kammer des 2. Senats); BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 44 (2. Kammer des 1. Senats). 344 Diese Annahme deckt sich (nur) im Ergebnis mit der in dem Urteil Pfeiffer (EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 112) angedeuteten – und oben Rn. 23, 25 abgelehnten – unionsrechtlichen „Vermutungsregel“. 345 So die Bedenken bei BGHZ 215, 126 Rn. 24 f.; BGH, NJW 2020, 148 Rn. 24. 346 Aus dem Schrifttum zuletzt Piekenbrock, GPR 2020, 122, 126 ff.; Möllers, ERCL 16 (2020) 465, 470 ff., 484 (freilich noch ohne Berücksichtigung des sich in der jüngsten Praxis andeutenden Wandels der Rspr.). 347 BGHZ 179, 27 Rn. 25; anders nunmehr offenbar BGH, BB 2021, 590 Rn. 37. 348 BGHZ 192, 148 Rn. 33. 349 BGHZ 201, 101 Rn. 23; im Grundsatz ebenso BGHZ 215, 126 Rn. 26; ähnlich auch BVerwGE 157, 249 Rn. 29. 350 BGHZ 201, 101 Rn. 23; BGH, NJW 2015, 1023 Rn. 20 f. sowie jüngst BGH, ZIP 2021, 566 Rn. 14. Dazu Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 330 ff. und jüngst Repasi, Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR, S. 67 f.
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absicht des Gesetzgebers gegenüber dem (zu unterstellenden) generellen Willen zu einer korrekten Richtlinienumsetzung zurücktreten lässt.351 Trifft hingegen der Gesetzgeber trotz ihm bewusster, zweifelhafter Richtlinienkonformität eine bestimmte Regelung, sieht der IV. Senat des BGH den Richter an eine solche, sich später als richtlinienwidrig herausstellende Regelung gebunden.352 Einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung sind dem VIII. Senat zufolge Grenzen gesetzt, wenn (anhand der Gesetzesmaterialien nachweisbar) der Gesetzgeber eine konkrete, von den Richtlinienvorgaben abweichende Konzeption verfolgt.353 Eine engere, vor allem vom I.,354 VII.355 und XI.356 sowie vom zwischenzeitlich – im Vergleich zum Quelle-Urteil – nahezu vollständig neubesetzten VIII. Senat357 des BGH und vom 8. Senat des BAG358 vertretene Position nimmt an, dass bei Vorliegen eines klaren Wortlauts und einer sich damit deckenden, unzweideutigen (auch durch die Gesetzgebungsgeschichte nachweisbaren) Regelungsabsicht359 bzw. Zweck- und Zielsetzung360 eine rechtsfortbildende Korrektur ausgeschlossen ist und die Vermutung eines generellen Umsetzungswillens des Gesetzgebers hintanzustehen hat.361 Diese engere Position, wonach eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nur in
351 ÖOGH, öJZ 2011, 603 (604, unter 2.2.c); öOGH, GRUR Int. 2017, 455 (457 unter 3.), unter Verweis u. a. auf Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 94 ff., 104 f.; Kritik vor allem bei P. Bydlinski, JBl. 2015, 1; zuletzt P. Bydlinski, ZfRV 2019, 172. 352 BGHZ 215, 126 Rn. 26 („Wird unter Zweifeln an der Richtlinienkonformität […] eine neue Regelung konzipiert, […] ist diese Regelung nicht im oben genannten Sinne planwidrig lückenhaft“); ebenso BGH NJW 2020, 3035 Rn. 25 mit Blick auf einen „eindeutigen Regelungswillen“; zustimmend BGH, NJW-RR 2018, 1204 Rn. 14 (XI. Senat). 353 BGHZ 207, 209 Rn. 39 ff. sowie eingehend zu den Gesetzesmaterialien Rn. 45 ff. Vgl. auch BGH, BB 2021, 590, insb. Rn. 37 sowie zu den Gesetzesmaterialien Rn. 32 ff. 354 BGH, NJW 2018, 3242 Rn. 20 (eine richtlinienkonforme Auslegung komme nur in Betracht, wenn eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten zulässt). Zuvor bereits BGH, NJWRR 2018, 424 Rn. 19. 355 BGHZ 225, 297 Rn. 23. 356 BGH, NJW 2020, 148 Rn. 21 (zuvor bereits BGH, NJW-RR 2018, 1204 Rn. 12 ff.); BGH, WM 2020, 838 Rn. 11, 14 (im Hinblick auf die in Art. 247 § 6 Abs. 2 Satz 3 EGBGB statuierte Gesetzlichkeitsfiktion bei Verwendung des durch den Gesetzgeber geschaffenen Musters für eine Widerrufsinformation); dazu bereits Braunschmidt, NJW 2014, 1558; Schürnbrand, JZ 2015, 974. 357 BGHZ 218, 320 Rn. 68; vgl. auch BGHZ 212, 224 Rn. 38 sowie jüngst BGHZ 227, 15 Rn. 47 und BGH, BB 2021, 590 Rn. 29, 30 ff. 358 BAGE 164, 117 Rn. 39 ff.; zustimmend Riesenhuber, GPR 2019, 149 (unter III.); s. auch Sagan, EuZW 2018, 386; Thüsing/Mathy, RIW 2018, 559, 563. 359 BGH, NJW 2020, 148 Rn. 20, 21. Entgegen BGHZ 225, 297 Rn. 24 lassen die auf eine Rechtfertigung einer gesetzlichen Regelung zielenden Ausführungen der Bundesregierung in einem Vertragsverletzungsverfahren nicht zwingend auf einen entsprechenden gesetzgeberischen Willen schließen. 360 BGHZ 215, 126 Rn. 24; BGH, NJW 2020, 148 Rn. 24. 361 BGH, BB 2021, 590 Rn. 37; BGHZ 218, 320 Rn. 68; vgl. auch BGH, NJW 2020, 148 Rn. 26. Enger auch BAGE 164, 117 Rn. 39 ff., wonach bei Missverstehen der Richtlinienanforderungen und trotz generellem Umsetzungswillen des Gesetzgebers der eindeutige Wortlaut und der klare Regelungswille eine rechtsfortbildende Auslegung sperren. Weitergehend dagegen BAGE 166, 1 Rn. 28 (bei Missverstehen der
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Betracht kommen soll, wenn (ohne Blick auf die Richtlinie)362 eine Norm „tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten“ im Hinblick auf Wortlaut und Zweck zulässt,363 tendiert allerdings dazu, die Bindung der Gerichte an die Richtlinienvorgaben nach Art. 288 Abs. 3 AEUV, Art. 23 Abs. 1 GG auszublenden und dem (evtl. auch nur zu vermutenden) Umsetzungswillen des Gesetzgebers (als gesetzgeberische Grundentscheidung364) ein zu geringes Gewicht beizumessen.365 Diese Position mag aber von dem Bestreben geleitet sein, legitime Verkehrserwartungen hinsichtlich der Bedeutung und Tragweite der nationalen Norm nicht zu enttäuschen (s. aber Rn. 73 ff.). Auch die Überlegung, dass bei fehlender Möglichkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV entfällt, mag gelegentlich eine Rolle spielen.366
f) Einzelfälle 65 Zunächst ist noch einmal festzuhalten, dass die Reichweite und die Grenzen einer geset-
zeskorrigierenden richtlinienkonformen Rechtsfortbildung von der Vorgabe der Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG auszugehen haben, wonach Richtlinien zu „Recht und Gesetz“ gehören, an die die Gerichte gebunden sind (Rn. 43). Dabei ist auf die Erfordernisse einer sinnvollen Rollenverteilung zwischen Gesetzgebung und Judikative bei der Erreichung unionsrechtskonformer Ergebnisse abzustellen. Dies gilt auch bei der fortlaufen-
Vorgabe und der Grundentscheidung zur Umsetzung setze sich eine richtlinienkonforme Auslegung nicht über einen eindeutig erkennbaren entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers hinweg). 362 In diesem Sinne in der Literatur insbesondere Franzen/Gallner/Oetker-Höpfner, EuArbRK, Art. 288 AEUV Rn. 86 f. Ähnlich Reimer, JZ 2015, 910, 914–916, 919 f. 363 Diese Formulierung findet sich erstmalig – unter Verweis auf Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 41, 43 und Höpfner, Die systemkonforme Auslegung (2008), S. 272 f. – in BGHZ 215, 126 Rn. 24 und mag auch als eine Reaktion des IV. Senats auf die zum Teil sehr deutliche Kritik (vgl. insbesondere Michael/Payandeh, NJW 2015, 2392 und Michael, Der Staat 54 (2015), 349) an seinen Entscheidungen BGHZ 201, 101 und BGH NJW 2015, 1023 zu sehen sein. Die Formulierung wurde zwischenzeitlich vom I., VII. und IX. Senat aufgegriffen (vgl. die in Fn. 354–356 zitierten Urteile), findet sich in der jüngsten Entscheidung des IV. Senats vom 24.6.2020 (NJW 2020, 3035) allerdings nicht mehr; i. E. ähnlich BAGE 164, 117 Rn. 41; dazu Riesenhuber, GPR 2019, 149. Vgl. auch bereits BGH, NJW-RR 2005, 354, 355. 364 Vgl. etwa BAGE 166, 1 Rn. 28. 365 In diesem Sinne auch Möllers, FS Siekmann, S. 57 f. Im Übrigen mag man sich im Zusammenhang mit der Richtlinie 2000/78/EG fragen, ob (so etwa BAGE 164, 117 Rn. 41 f.) die Ablehnung einer richtlinienkonformen Rechtsfindung mit der sich daran knüpfenden Konsequenz einer Unanwendbarkeit der diskriminierenden Regelung (gem. Art. 21 GRCh) im Vergleich zu einer richtlinienkonformen Rechtsfindung unter Negierung des Wortlauts der Regelung wirklich vorzugswürdig ist oder aber eine richtlinienkonforme Rechtsfindung nicht doch eine „schonendere“ Lösung wäre. A. A. Baldus/Raff, GPR 2017, 158, 162, die für eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien auch im Horizontalverhältnis mit dem Argument plädieren, dass dadurch „die nationalen Methodenlehren […] entlastet [würden]“. Im Ergebnis ebenso Kainer, GPR 2016, 262, 268–270. 366 Vgl. z. B. BGHZ 193, 238 Rn. 51; BGHZ 215, 126 Rn. 22 ff.; BGHZ 218, 320 Rn. 67–69. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Fn. 273.
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den Überprüfung der Unionsrechtskonformität des deutschen Rechts.367 Angesichts des sich immer weiter ausdehnenden sekundären Unionsrechts einerseits und der Klärung von Auslegungsfragen durch den EuGH oft erst Jahre nach Erlass der jeweiligen Richtlinie andererseits, wäre der Gesetzgeber völlig überfordert, wenn man ihm allein die Korrektur richtlinienwidrigen Rechts überlassen wollte. Da die Probleme zudem oftmals erst in einem konkreten Streitfall deutlich werden, liegt es nahe, den Gerichten in geeigneten Fällen – und in den in Rn. 66, 68–72 angedeuteten Grenzen – den (Erst-)Zugriff für die Herstellung richtlinienkonformer Ergebnisse im Wege rechtsfortbildender Judikate zu eröffnen.368 Der Gesetzgeber kann, falls erforderlich, nachsteuern. Im Einzelnen sollte nach verschiedenen Konstellationen unterschieden werden. (1) Wenn und soweit davon ausgegangen werden kann, dass der Gesetzgeber eine 66 richtlinienkonforme Umsetzung angestrebt hat, und allein über den Gehalt der Richtlinienvorgabe im Irrtum gewesen ist, wird man außerhalb des Straf- und des Eingriffsrechts demvomGesetzgeberverfolgtenZweckkorrekterUmsetzungderRichtliniegrundsätzlich den Vorrang vor der mit der konkreten Norm verknüpften Zielsetzung einräumen müssen369 undeineKorrekturdernationalen Regelung–bishinzurDerogation derNorm370 –
367 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt etwa BGH, NJW 2020, 2540 Rn. 54 und BGH, NJW 2020, 3649 Rn. 23, 26 ff. Die Gerichte sind damit auch gehalten, ständig zu überprüfen, ob nicht eine richtlinienkonforme Auslegung des deutschen Rechts an neue Entwicklungen im Unionsrecht angepasst werden muss. 368 Dass der Gesetzgeber unionsrechtlich verpflichtet ist, richtlinienwidrige gesetzliche Bestimmungen zu korrigieren und für transparente Umsetzungsnormen zu sorgen, steht insoweit nicht entgegen. 369 Dazu BAGE 166, 1 Rn. 28; BGHZ 179, 27 Rn. 31; BGHZ 201, 101 Rn. 26; BGH v. 25.7.2014 – V ZB 137/ 14, Rn. 8 (bei juris) spricht für eine solche Konstellation von einem „Versehen“ des Gesetzgebers, das auf einem fehlerhaften Verständnis der Richtlinie beim Versuch, diese ordnungsgemäß umzusetzen, beruhe. BGH, NVwZ 2014, 1111 Rn. 10 sieht die Grenze zulässiger Auslegung/Rechtsfortbildung „[…] erst dann überschritten, wenn der Norm entgegen einer eindeutigen und widerspruchsfreien Entscheidung des Gesetzgebers ein bestimmter Sinngehalt beigelegt wird“ (kursiv von den Verf.). Anders BGH, BB 2021, 590 Rn. 37 sowie im Schrifttum etwa Schürnbrand, JZ 2007, 910, 913 ff.; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294; Gsell, AcP 214 (2014), 99, 136 ff. 370 So im Ergebnis BGH, NJW 2015, 1023 Rn. 23. Das Urteil und die darin gegebene Begründung („Teil eines einheitlichen […] Regelungskomplexes“) hat das BVerfG, WM 2016, 1780, zwischenzeitlich ausdrücklich verfassungsrechtlich gebilligt. Ebenso OLG Frankfurt DAR 2020, 89 (zu § 476 Abs. 2 BGB). Offenlassend zuvor BGHZ 179, 27 Rn. 29; BGHZ 192, 148 Rn. 45; implizit offenlassend BGHZ 225, 297 Rn. 24; a. A. OLG München, VersR 2013, 1025, 1028; wohl auch BGHZ 201, 101 Rn. 33 a. E. und jüngst ausdrücklich BGH, BB 2021, 590 Rn. 38 f. Zum Problem Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 210; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 321 ff. Canaris, FS Bydlinski, S. 94, 100 f.; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318 f.; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 231; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 53; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 298 ff. Der österreichische OGH hat eine teleologische Reduktion einer nationalen Norm vorgenommen, obwohl sie dadurch ihre „eigenständige Bedeutung“ verlor und „gegenstandslos“ wurde; öOGH, ÖJZ 2011, 603; kritisch dazu etwa Klamert, JBl. 2011, 738, 741; P. Bydlinski, JBl. 2015, 1, 11 f.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
vornehmen können.371 Dies gilt etwa in Fällen, in denen (nachweisbar) im Gesetzgebungsprozess unklare oder gar falsche Vorstellungen über die Tragweite einer Richtlinienbestimmung bestanden haben372 oder aber die Bedeutung einer Richtlinienregelung erst durch spätere Judikatur des Gerichtshofs geklärt worden ist. In der Sache dient hier die Rechtsfortbildung, soweit sie unter Rückbindung vorfindlicher allgemeiner gesetzlicher Aussagen und Wertungen erfolgt, der Verwirklichung des gesetzgeberischen Programms, wenn ausgeschlossen werden kann, dass der Gesetzgeber die Regelung in gleicher Weise erlassen hätte, wenn ihm die Richtlinienwidrigkeit bekannt gewesen wäre.373 In einer solchen Konstellation basiert eine rechtsfortbildende Gesetzeskorrektur auf der Vorgabe des Art. 23 Abs. 1 GG (oben Rn. 43) und verstößt nicht gegen die von Art. 20 Abs. 3 GG vorausgesetzte und geschützte Rollenverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, zumal der Gesetzgeber jederzeit nachsteuern und eine andereLösung verwirklichen kann.374 Keine Voraussetzung für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung sollte es entgegen der Rspr. mehrerer Senate des BGH sein,375 dass die fragliche Norm nach deutschen Auslegungsmethoden mehrere Auslegungsmöglichkeiten eröffnet. Das Ziel des Gesetzgebers, richtlinienkonform umzusetzen, sollte (als „Grundentscheidung“) ausreichen.376 Dieser Ansatz stößt jedoch auf Grenzen, wenn die Rechtsfortbildung durch die Richtlinienvorgaben nicht eindeutig determiniert ist, sondern für die Beseitigung der Richtlinienwidrigkeit bereits auf Ebene der Richtlinie selbst mehrere Lösungen in Frage kommen, deren Auswahl ihrerseits aber mit rechtspolitischen oder rechtssystematischen Grundentscheidungen verbunden ist.377 Sol-
371 Vgl. BGHZ 201, 101 Rn. 23; BAGE 156, 23 Rn. 35; im Ergebnis bereits in diesem Sinne BGHZ 150, 248, 253 ff., insb. 256 f. (kritisch gegenüber dieser Rspr. etwa Franzen, JZ 2003, 321, 324, 327 f.) und BGHZ 159, 280, 284 f. 372 BAGE 166, 1 Rn. 28. Vgl. auch die die Bedeutung der historischen Auslegung relativierenden Ausführungen in EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier, EU:C:2004:275 Rn. 13. 373 Vgl. BGHZ 201, 101 Rn. 23; BGHZ 215, 126 Rn. 26; BAGE 166, 1 Rn. 28. Zu Irrtümern des nationalen Gesetzgebers über die Tragweite des Unionsrechts in anderen Zusammenhängen s. oben Fn. 319. 374 Vgl. BVerfGE 132, 99 Rn. 74 und BVerfGE 149, 126 Rn. 73: „Dies belässt dem Gesetzgeber die Möglichkeit, in unerwünschte Rechtsentwicklungen korrigierend einzugreifen und so im Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung demokratische Verantwortung wahrzunehmen.“ 375 BGH, NJW 2018, 3242 Rn. 20 (I. Senat); BGH, NJW 2020, 148 Rn. 24 (XI. Senat); BGHZ 225, 297 Rn. 23 (VII. Senat). Der Rechtsprechung des IV. Senats lässt sich insoweit keine klare Linie entnehmen (vgl. die Ausführungen oben in Fn. 363). 376 In diesem Sinne BAGE 166, 1 Rn. 28. 377 S. die Diskussion um die Konsequenzen des Urteils des EuGH v. 13.7.2017 – Rs. C-133/16 Ferenschild, EU:C:2017:541, für eine richtlinienkonforme Korrektur des § 475 Abs. 2 Halbs. 2 BGB a. F. (nunmehr § 476 Abs. 2 Halbs. 2 BGB): (ablehnend) BGH, BB 2021, 590 (dazu Pfeiffer, LMK 2021, 435952); a. A. zuvor OLG Frankfurt, DAR 2020, 89 (mit zustimmender Anmerkung Leenen). Aus dem Schrifttum Köhler, GPR 2018, 37, 41; Arnold/Hornung, JuS 2019, 1041, 1047; Lorenz, in MünchKommBGB, 8. Aufl. (2019), § 476 Rn. 26 (ablehnend); Leenen, JZ 2018, 284, 289; Ball, in jurisPK-BGB, 9. Aufl. (2020), § 476 Rn. 28; Staudinger, DAR 2020, 558, 559 ff. (befürwortend).
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che Entscheidungen sollten dem Gesetzgeber überlassen bleiben378 (s. auch Rn. 70 a. E.). (2) Gleiches sollte gelten, wenn den Gesetzesmaterialen zwar nicht explizit zu ent- 67 nehmen ist, dass sich der Gesetzgeber ausdrücklich mit der Richtlinienkonformität der konkreten Norm auseinandergesetzt hat, das Gesetz aber zweifellos die korrekte Umsetzung einer Richtlinie bezweckt.379 Hier sollte mit dem BVerfG von der Vermutung ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber, der zur Umsetzung einer Richtlinie tätig wird, im Zweifel nicht gegen seine Pflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV verstoßen und mithin insgesamt richtlinienkonforme Regelungen erlassen will.380 Gleiches sollte gelten, wenn der Gesetzgeber (ohne konkrete Vorstellungen über die Tragweite der Richtlinie) ausweislich der Gesetzesmaterialien keine klare eigene Regelungsentscheidung erkennen lässt.381 (3) Weicht der Gesetzgeber dagegen bewusst382 (was sich dem Wortlaut der 68 Norm und dem aus den Gesetzesmaterialien383 verfolgten Regelungszweck klar und eindeutig entnehmen lassen kann384) von den Richtlinienvorgaben ab, ohne über Inhalt und Tragweite der Richtlinie im Irrtum zu sein, ist das Gericht an die gesetzlichen Vorgaben gebunden.385 In diesem, in der Praxis vielleicht eher seltenen
378 So als Hilfserwägung BGH, BB 2021, 590 Rn. 44. Vgl. im Übrigen die Rspr.-Nachw. in Fn. 283 sowie Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 341 f. (keine Korrektur von Strukturentscheidungen in quantitativer und qualitativer Hinsicht) und Rüßmann, FS Koch (2014), S. 79, 89. Für Österreich ebenso öOGH, GRUR Int. 2019, 299, 303 (unter 7.3). 379 BGHZ 192, 148 Rn. 34; BVerwGE 157, 249 Rn. 29; wohl auch BGHZ 219, 161 Rn. 62 f.; Canaris, FS Bydlinski, S. 85; Faust, JuS 2012, 456, 459; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922 f.; Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 104 f. Herresthal, JuS 2014, 289, 293 und 295, lehnt zwar einen „hypothetischen“ Gesetzgeberwillen ab, gelangt aber über die Annahme, dass die gesetzgeberische Wertentscheidung nicht mehr aktuell sei, wenn sich (etwa durch eine EuGH-Entscheidung) herausstellt, dass sie auf einem unzutreffenden Verständnis der vom Gesetzgeber umzusetzenden (Richtlinien-)Vorgabe basiert, zu ganz ähnlichen Ergebnissen. In diesem Sinne jüngst auch Repasi, Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR, S. 67 f. 380 BVerfGK 19, 89 Rn. 51; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 44. S. auch BGHZ 179, 27 Rn. 25; BGHZ 192, 148 Rn. 34; BGHZ 201, 101 Rn. 23; BVerwGE 157, 249 Rn. 29 sowie jüngst, ZIP 2021, 566 Rn. 14. Anders insoweit wohl BGHZ 218, 320 Rn. 68. 381 Vgl. BGHZ 212, 224 Rn. 41 ff., 51 sowie jüngst LG Bonn, BeckRS 2021, 832 Rn. 47 ff., insb. Rn. 64– 66, im Anschluss an EuGH v. 4.6.2020 – Rs. C-301/18 Leonhard, EU:C:2020:427. 382 Vgl. auch BVerfG, ZIP 2013, 924 Rn. 33, wonach ohne eine solche „bewusste Entscheidung des Gesetzgebers“ grundsätzlich von der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung auszugehen sei. 383 Auch entgegen EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier, EU:C:2004:275 Rn. 13. 384 Vgl. auch BVerfGE 18, 97, 111; BVerfGE 71, 81, 105; BVerfGE 118, 212, 234, wo als Schranke für eine verfassungskonforme Interpretation auf den Wortlaut und den „klar erkennbaren“ Regelungswillen abgestellt wird. Zu den Grenzen richtlinienkonformer Auslegung BGHZ 207, 209 Rn. 43; BGHZ 212, 224 Rn. 38 (jeweils: „erkennbarer Wille“); vgl. auch BGHZ 195, 135 Rn. 22 (zur sog. „überschießenden Umsetzung“). 385 BGHZ 201, 101 Rn. 23; BAGE 117, 281 Rn. 25; BVerwGE 157, 149 Rn. 29. Dies ist, soweit ersichtlich, unstr.; z. B. Langenbucher-dies., § 1 Rn. 105; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 452.
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Fall386 ergibt sich eine unübersteigbare Hürde für eine richterliche Gesetzeskorrektur. Denn sonst drohte die Gefahr, dass der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Entscheidung ersetzt wird.387 Die Bindung des (nationalen) Richters an die Vorgaben des nationalen Gesetzgebers muss sich hier insoweit durchsetzen.388 69 (4) Ist sich der Gesetzgeber der Zweifelhaftigkeit der Richtlinienvorgaben zwar bewusst, lassen aber die Gesetzesmaterialien erkennen, dass – unter dem Schirm der insoweit gegebenen Ungewissheit – keine gegenüber der Richtlinie eigenständigen Regelungsziele verfolgt werden sollen, spricht nichts gegen eine rechtsfortbildende, richtlinienkonforme Auslegung, solange von einem Willen des Gesetzgebers zu richtlinienkonformer Umsetzung (bzw. einer Vermutung hierzu) als „Grundentscheidung“ ausgegangen werden kann. Aber auch dann, wenn der Gesetzgeber ein bestimmtes eigenständiges Regelungsziel verfolgt, dies aber in der (sich in den Gesetzesmaterialien widerspiegelnden) Erwartung, dass die Regelung sich am Ende als richtlinienkonform erweisen wird, sollte der Wille des Gesetzgebers, eine richtlinienkonforme Umsetzung zu erreichen, gegenüber dem konkret verfolgten Regelungsziel den Ausschlag geben,389 wenn davon ausgegangen werden kann, dass bei Kenntnis der Richtlinienwidrigkeit die Regelung in der konkreten Form nicht getroffen worden wäre.390 Anderes gilt, wenn sich für die rechtsfortbildende Korrektur mehrere Wege anbieten, die mit rechtspolitischen oder rechtssystematischen Grundentscheidungen verbunden sind (s. Rn. 66 a. E.). Anderes gilt zudem, wenn etwa im Gesetzgebungsverfahren (nicht notwendig in der Gesetzesbegründung) die unionsrechtlichen Bedenken, die etwa im Schrifttum oder Expertenanhörungen geltend gemacht worden sind, hintangestellt oder in Kauf genommen werden, um eine eigenständige Regelungskonzeption zu verwirklichen.391 Von einem generellen Umsetzungswillen des Gesetzgebers wird man
386 Zu den Anforderungen an eine bewusste Umsetzungsverweigerung s. etwa Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 399 (für eine deutliche Markierung im Normtext); Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 213; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 332 f. (beide verlangen, dass das Fehlen eines Umsetzungswillens in den Gesetzgebungsmaterialien klar geäußert und offengelegt wird und sich im Gesetzeswortlaut widerspiegelt); Canaris, FS Bydlinski, S. 86 (der Gesetzgeber müsse „nachweisbar wissentlich“ von den Vorgaben abgewichen sein). 387 BVerfGE 82, 12 f.; BVerfGE 87, 273, 280; BVerfGE 132, 99 Rn. 74. 388 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 269; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 420; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 212 f. 389 In diesem Sinne BGHZ 179, 27 Rn. 25; BGHZ 192, 148 Rn. 33. Anders nunmehr BGH, BB 2021, 590 Rn. 37. 390 BGHZ 201, 101 Rn. 23; BVerwG 157, 249 Rn. 29. 391 So (wohl) der Fall in BGHZ 215, 126 Rn. 26; BGH, NJW 2020, 3035 Rn. 24 f.; BGH, WM 2020, 838 Rn. 14 (s. zu letzterem Urteil auch Herresthal, ZIP 2020, 745, 750 ff.) sowie jüngst – obiter – hinsichtlich des Fristsetzungserfordernisses des § 323 Abs. 1 BGB als „zweite[m] wesentliche[m] Strukturmerkmal des neuen Leistungsstörungsrechts“ (BT-Drs. 14/6040, S. 92 f.) BGHZ 227, 15 Rn. 47. Ungeachtet dessen,
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hier nicht ausgehen können.392 Dies ebenso, wenn die Tragweite einer Richtlinienregelung vom EuGH in nicht vorhersehbarer Weise konkretisiert oder aber eine Richtlinie im Wege analoger Anwendung durch den EuGH fortentwickelt worden ist.393 (5) Bleibt eine vor Inkrafttreten einer Richtlinie erlassene Regelung unverändert, 70 sollte eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung grundsätzlich möglich sein(s. Rn. 57, 64).394 Geht der Gesetzgeber von einer (zu erwartenden) Richtlinienkonformität aus und lässt die Regelung deshalb unangetastet, ist der zu vermutende Wille des Gesetzgebers, sich richtlinienkonform verhalten zu wollen, maßgebend. Ist die Regelung gar nicht in das Visier des Gesetzgebers getreten, so ist dieses gesetzgeberische Unterlassen weder als eine eigenständige Grundentscheidung zu werten noch als ein Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber gegen seine Pflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV verstoßen will. Dabei kann es aber u. U. geboten sein, die aufgrund der hergebrachten Gesetzeslage geprägten Verkehrserwartungen durch eine ex nunc-Wirkung der Rechtsfortbildung zu schützen (s. Rn. 74 f.). Versucht der Gesetzgeber, der Richtlinienanwendung durch eine entsprechende Beschränkung des Anwendungsbereichs der nationalen Regelung zu entgehen,
dass mit Blick auf die vom Gesetzgeber vorgesehenen Ausnahmen vom Fristsetzungserfordernis (§ 323 Abs. 2 BGB und § 440 BGB) sowie die geringen Anforderungen, die die Rechtsprechung (vgl. zuletzt etwa BGH, NJW 2016, 3654 Rn. 25) im Anschluss an die gesetzgeberischen Vorgaben (BT-Drs. 14/6040, S. 185) an eine wirksame Fristsetzung stellt, in der Praxis ohnehin nur vereinzelt Fälle denkbar erscheinen, in denen der Rücktritt eines Käufers vom Kaufvertrag an dem in Art. 3 Abs. 5 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nicht vorgesehenen Fristsetzungserfordernis scheitert (insoweit auch BGHZ 227, 15 Rn. 46), lässt sich nach der hier vertretenen Auffassung ein mit den Richtlinienvorgaben vereinbares Ergebnis jedoch ohne Weiteres über eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung des § 440 BGB erzielen. Den Gesetzesmaterialien lässt sich unzweifelhaft entnehmen, dass der Umsetzungsgesetzgeber mit der Statuierung des Fristsetzungserfordernisses nicht gegen die Richtlinienvorgaben verstoßen und etwaige Friktionen über die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen vom Fristsetzungserfordernis auflösen wollte (BT-Drs. 14/6040, S. 222). Der insoweit in Bezug genommene § 440 BGB erfasst dabei nach der Intention des Gesetzgebers gerade auch Fälle der „ungebührliche[n] Verzögerung“ (BT-Drs. 14/6040, S. 233) der Nacherfüllung und lässt sich damit – jedenfalls im Anwendungsbereich der Richtlinie – dahingehend auslegen, dass der Käufer – auch ohne Setzung einer angemessenen Frist – immer dann zum Rücktritt berechtigt ist, wenn der aufgetretene Mangel nicht in einem für den Käufer angemessenen Zeitraum behoben wird (vgl. in der Sache ebenso BGHZ 227, 15 Rn. 52–55, unklar jedoch Rn. 57 a. E.). Der Gesetzgeber ist dazu aufgerufen, im Rahmen der anstehenden Umsetzung der die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ersetzenden Richtlinie (EU) 2019/771 vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs (ABl. 2019 L 136/28) auch insoweit für eine klare Gesetzesregelung zu sorgen (vgl. § 475d Abs. 1 Nr. 1 BGB-E im Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Verkaufs von Sachen mit digitalen Elementen und anderer Aspekte des Kaufvertrags, BR-Drs. 146/21, S. 5, 35 f.). Zweifelhaft erscheint die Annahme einer eigenständigen, eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ausschließenden Regelungskonzeption des nationalen Gesetzgebers zudem etwa im Falle von BGH, NJW 2020, 148 Rn. 20, 25, 26 (zu § 312d Abs. 3 Nr. 1 und Abs. 5 BGB aF). 392 S. dazu eingehend BGHZ 207, 209 Rn. 44 ff. und Rn. 58 ff. (gebilligt von BVerfG, NJW-RR 2018, 305 Rn. 38). 393 Für den letzteren Fall Schön, FS Canaris, S. 175. 394 Exemplarisch BGH, NJW 2020, 2540 Rn. 54.
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sollte bei einer Fehleinschätzung der Tragweite der Richtlinie der Wille des Gesetzgebers, sich unionsrechtskonform zu verhalten, eine Rechtsfortbildung legitimieren.395 Anders aber, wenn der Gesetzgeber trotz (etwa in der Literatur) geäußerter Bedenken bewusst von einer Gesetzesänderung absieht und damit eine Richtlinienwidrigkeit in Kauf nimmt; an diese Wertung sollten die Gerichte gebunden sein.396 Gesetzeskorrigierende Rechtsfortbildung trifft auch dann auf Grenzen, wenn es nicht nur um die Korrektur einer einzelnen Regelung geht, sondern um die gesetzgeberische Regelungskonzeption insgesamt (im Sinne einer „Grundentscheidung“), die die unverändert gebliebenen Regelungen prägt. Eine Korrektur der Regelungskonzeption des Gesetzgebers durch Rechtsfortbildung sollte nicht möglich sein (s. oben Rn. 66 a. E.). 71 (6) Bei einer nach Erlass der Richtlinie vorgenommenen Gesetzesänderung ist zu differenzieren. Handelt es sich um eine Einzelregelung, gelten grundsätzlich die in Rn. 66–69 dargelegten Überlegungen. Handelt es sich um eine Neuregelung, die sich in eine aus dem bisherigen Recht vorgegebene Gesamtkonzeption einfügen soll,397 gegen die ggf. auch unionsrechtliche Bedenken bestanden haben mögen,398 kann (im Hinblick auf die Fortführung der Gesamtkonzeption) die generelle Vermutung eines richtlinienkonformen Umsetzungswillens nicht helfen:399 Die Regelung sollte, wenn sie unabtrennbarer Teil einer Gesamtregelung ist (und sich als richtlinienwidrig erweist), als von der Gesamtkonzeption des Gesetzgebers gesteuert angesehen werden; ihre Korrektur liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers und nicht der Judikative. 72 (7) Eine Grenze für eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung sollte auch dort gezogen werden, wo es dem Gesetzgeber darum geht, eindeutige und klare Regelungen zu schaffen, um Planungssicherheit zu gewährleisten und Rechtssicherheit zu verwirklichen.400 Je größeres Gewicht diese Zielsetzung hat (etwa auch in Sachverhal
395 Entgegen BGHZ 225, 297 Rn. 24 – Vorlagebeschluss; wie hier – im Anschluss an diesen Vorlagebeschluss – jüngst OLG Celle v. 9.12.2020 – 14 U 92/20, Rn. 52 ff. (bei juris). 396 Vgl. BAGE 168, 360 Rn. 39 (deutscher Gesetzgeber teilt der Europäischen Kommission auf Anfrage mit, dass er keinen Umsetzungsbedarf sehe); ähnlich wohl auch BGH, NJW 2020, 148 Rn. 25; BGH, NJW 2018, 1204 Rn. 14, jeweils unter Hinweis auf eine fehlende planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes (dazu oben Rn. 56 f.); ob sich im konkreten Fall der Gesetzgeber tatsächlich mit der Problematik beschäftigt und insoweit eine eindeutige Entscheidung getroffen hat, steht auf einem anderen Blatt (kritisch auch Wendehorst, NJW 2019, 3423, 3424). 397 So etwa die Konstellation, die BGHZ 215, 126 zugrunde gelegen ist; ebenso BGHZ 218, 320 Rn. 68. 398 BGH, NJW-RR 2018, 1204 Rn. 14. 399 So BGH, NJW-RR 2018, 1204 Rn. 14 mit der Begründung, es fehle an einer planwidrigen Unvollständigkeit. 400 So etwa im Hinblick auf die Gesetzlichkeitsfiktion bei der Musterwiderrufsinformation gem. Art. 247 § 6 Abs. 2 Satz 3 EGBGB aF: BGH, WM 2020, 838 Rn. 14 (zur sog. Kaskadenverweisung). Zur Richtlinienwidrigkeit der deutschen Regelung s. EuGH v. 26.3.2020 – Rs. C-66/19 Kreissparkasse Saarlouis, EU: C:2020:242; dazu etwa Piekenbrock, GPR 2020, 122; Herresthal, ZIP 2020, 745. Da der Gesetzgeber die Planungssicherheit für Unternehmen durch Statuierung der Gesetzlichkeitsfiktion als gesetzgeberische Grundentscheidung von der Verwendung und richtigen Ausfüllung der Musterwiderrufsinformation abhängig machen wollte (BT-Drs. 17/1394, S. 22), ist es nur folgerichtig, dass der XI. Senat die Möglichkeit
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ten des Massenverkehrs), desto mehr sollten sich die Gerichte bei einer Korrektur der Regelungen zurückhalten und diese dem Gesetzgeber überlassen. Dies sollte vor allem dann gelten, wenn sich die Richtlinienwidrigkeit der Regelungen erst durch spätere Rechtsprechung des EuGH ergibt.
g) Vertrauensschutz Eine andere und von der Befugnis zur gesetzeskorrigierenden Rechtsfortbildung zu 73 unterscheidende Frage ist, ob die Rechtsfortbildung mit Wirkung ex tunc oder ex nunc vorgenommen werden soll. Dabei ist die Ebene des nationalen Rechts strikt von derjenigen des Unionsrechts401 zu trennen. Der Gerichtshof geht in st. Rspr. davon aus, dass seine Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist.402 Diese Auslegung soll rein deklaratorischer Natur und damit auch auf Rechtsbeziehungen anzuwenden sein, die vor dem Erlass des Urteils des EuGH entstanden sind. Dies gilt uneingeschränkt für unmittelbar anwendbare Verordnungen. Nur ausnahmsweise sind davon mit Rücksicht auf den Grundsatz der Rechtssicherheit Einschränkungen zu machen, wenn die Gefahr schwerwiegender Störungen droht und guter Glaube der Betroffenen gegeben ist,403 oder es um die Aufrechterhaltung der Wirksamkeit bestands- oder rechtskräftiger Entscheidungen geht.404 Mit Blick auf die Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung stellt sich hingegen die Frage, ob der nationale Gesetzgeber durch die Ausgestaltung der Umsetzung einer Richtlinienvorgabe in sein nationales Recht bzw. ein nationales (Höchst-) Gericht durch seine, sich später als richtlinienwidrig herausgestellte Auslegung einer nationalen Norm in der Weise ein berechtigtes Vertrauen in die nationale Rechtslage
einer richtlinienkonformen Auslegung nur für diejenigen Fälle verneint, in denen sich der Unternehmer auf die Gesetzlichkeitsfiktion berufen kann. Im Übrigen sah sich der XI. Senat in der Lage, die aus der Entscheidung des EuGH i. S. Kreissparkasse Saarlouis resultierenden Vorgaben durch richtlinienkonforme Auslegung von § 492 Abs. 2 BGB und Art. 247 § 6 EGBGB – unter ausdrücklicher Aufgabe seiner bislang entgegenstehenden Rechtsprechung (vgl. noch BGH, ZIP 2019, 1006 Rn. 15 ff.) umzusetzen; BGH ZIP 2020, 2391 Rn. 13 ff., insb. 16 und BGH ZIP 2021, 26 Rn. 17. In diese Fallgruppe gehören darüber hinaus (wohl) auch BGHZ 215, 126 Rn. 26 ff. und BGH, NJW 2020, 3035 (insb. Rn. 26). 401 Dazu näher Rosenkranz, in diesem Band, § 16, sowie ders., ZfPW 2016, 351. 402 EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06 Kempter, EU:C:2008:78 Rn. 35; s. die Nachweise in Rn. 17 Fn. 94. 403 EuGHv. 17.9.2014–Rs. C-562/12LiivimaaLihaveis, EU:C:2014:2229 Rn. 81;EuGHv. 23.4.2020–Rs. C401/18 Herst, EU:C:2020:295 Rn. 56. Diese Einschränkung kann nur durch den EuGH vorgenommen werden. Unionsrechtlicher Vertrauensschutz soll dabei aber nicht zu Lasten derjenigen Partei geltend gemacht werden können, die das nationale Verfahren eingeleitet hat, das zu der Vorlageentscheidung des EuGH führte; EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 41. Zu einer weiteren Fallgruppe – der vorübergehenden Aussetzung der Verdrängungswirkung –, die ebenfalls nur vom EuGH festgestellt werden kann, s. z. B. EuGH v. 29.7.2019 – Rs. C-411/17 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:2019:622 Rn. 173 f., 177 f. Vgl. im Einzelnen zum Ganzen Rosenkranz, in diesem Band, § 16 Rn. 21 ff. 404 EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06 Kempter, EU:C:2008:78 Rn. 37.
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
bei den Rechtsunterworfenen erzeugen kann, dass dieses einem den Richtlinienvorgaben entsprechenden Auslegungsergebnis entgegensteht. 74 Vertrauensschutz folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG,405 das ein Mindestmaß an Rechtssicherheit gewährleisten muss, insbesondere hinsichtlich erworbener Rechte und Rechtspositionen, aber auch in der Vergangenheit liegender Verhaltensanforderungen und -pflichten. Ein Weg, durch den Vertrauensschutz verwirklicht wird, besteht darin, der Rechtsfortbildung – und damit der Änderung des rechtlichen Umfelds für die Betroffenen – trotz der Pflicht zu richtlinienkonformer Rechtsfindung in den oben angedeuteten Konstellationen Grenzen zu ziehen (s. Rn. 61 f., 65 ff.). Diese Grenzen stehen dabei nicht nur einer ex tunc, sondern auch einer ex nunc wirkenden Rechtsfindung entgegen; in derartigen Fällen kann die richtlinienwidrige Ausgestaltung des nationalen Rechts allein durch den Gesetzgeber korrigiert werden. Ob und inwieweit Vertrauensschutz darüber hinausgehend dadurch gewährleistet werden kann, dass eine unionsrechtlich gebotene richtlinienkonforme Rechtsfindung im nationalen Recht auf eine ex nunc-Wirkung beschränkt wird, ist noch nicht abschließend geklärt.406 75 Einem solchen, vom BAG (zunächst) präferierten Regelungsansatz407 ist das BVerfG vor allem unter Hinweis auf die in Rn. 73 dargestellte Rspr. des EuGH mit der Begründung entgegengetreten, dass ansonsten die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts (in der ex tunc wirkenden Auslegung des EuGH) in Frage gestellt werde.408
405 BVerfGE 126, 286 Rn. 81; BVerfGK 19, 89 Rn. 63; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 57. Diese Verfassungsdimension wird in EuGH v. 23.4.2020 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2020:295 Rn. 55 (in problematischer Weise) verkürzt. 406 Zum Vertrauensschutz aufgrund berechtigter Verkehrserwartungen s. Neuner, FS Canaris, S. 208 ff. (zurückhaltend gegenüber einer auf den generellen Umsetzungswillen gestützten, den Wortlaut einer Norm korrigierenden Rechtsfortbildung [S. 212 f.], allerdings ohne die oben im Text angedeutete Rechtsfortbildung mit ex nunc-Wirkung zu erwägen). 407 BAGE 117, 281 Rn. 32 ff., 40 (Entfall des Vertrauensschutzes erst ab dem Zeitpunkt des klärenden Urteils des EuGH). S. auch die (in Teilen uneinheitliche) Rechtsprechung des 9. Senats des BAG mit Bezug zu der von ihm vorgenommenen teleologischen Reduktion der § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG und der damit verbundenen Abkehr von einer st. Rspr. (BAGE 130, 119 Rn. 73 ff. sowie BAGE 142, 64 Rn. 26 ff.: kein Vertrauensschutz für die Zeit nach Bekanntwerden des Vorabentscheidungsersuchens; BAGE 134, 1 Rn. 96 ff.: kein Vertrauensschutz für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist; krit. dazu Höpfner, RdA 2013, 16, 27). Mit Blick auf die neuere Rechtsprechung des EuGH, wonach das unionsrechtliche Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung nationale Gerichte verpflichtet, eine gefestigte Rechtsprechung, die gegen Richtlinienvorgaben verstößt, gegebenenfalls abzuändern, wird jedenfalls die Gewährung nationalen Vertrauensschutzes auf Basis des Art. 20 Abs. 3 GG wegen einer bisherigen (ständigen) höchstrichterlichen Rechtsprechung nur noch sehr eingeschränkt in Betracht kommen; vgl. näher Rn. 33 sowie Rosenkranz, ZfPW, 2016, 351, 381–383. Vgl. nunmehr in diesem Sinne auch BAGE 165, 376 Rn. 33 ff. und BAG, NZA 2020, 1006 Rn. 113. 408 BVerfG, ZIP 2015, 335 Rn. 35; dazu Sagan, NZA 2015, 341; vgl. auch BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 56 ff.; ebenso etwa BGHZ 201, 101 Rn. 41 ff. Das BVerfG deutet die Möglichkeit eines gegen den Staat gerichteten Entschädigungsanspruchs an, wenn ein Betroffener auf den Inhalt der gesetzlichen Regelungen vertraut und im Hinblick darauf Dispositionen getroffen hat; BVerfGE 126, 286 Rn. 85. Dies be
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III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht
In der Sache wird dadurch der durch das nationale (Verfassungs-)Recht zu gewährende Vertrauensschutz zumindest unionsrechtlich vorgeprägt und begrenzt.409 Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ist insoweit von Verfassungs wegen nicht anders zu behandeln als die Änderung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung, die unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich als unbedenklich gewertet wird, wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält.410 Daraus folgt: Wenn und soweit sich eine richtlinienkonforme Auslegung im Rahmen der anerkannten Rechtsfindungsmethoden hält, kann der Vertrauensschutz nicht geltend gemacht werden. Dies gilt insbesondere, wenn die Richtlinienkonformität einer gesetzlichen Regelung zuvor (mit guten Gründen) in Zweifel gezogen worden ist oder eine entsprechende Judikatur des EuGH vorhersehbar gewesen ist.411 Verlässlichkeit auf den Inhalt einer nationalen Regelung wird sich im Anwendungsbereich des Richtlinienrechts – im Hinblick auf eine für die Zukunft zu erwartende Klärung von Richtlinienregelungen durch den EuGH – nur unter besonderen Voraussetzungen bilden können,412 etwa dann, wenn sich die konkrete Auslegung der Richtlinie durch den EuGH als unvorhersehbar darstellt oder der deutsche Gesetzgeber den Wortlaut der Norm damit begründet, dass für ihn nur eine ganz bestimmte (und sich später als irrtümlich herausstellende) Auslegung der Richtlinie als möglich erscheint (was aber bereits einer richtlinienkonformen Rechtsfindung Grenzen setzen mag; s. Rn. 69 f.).413 Gewährung von Vertrauensschutz durch eine bloß ex nunc wir
zieht sich freilich auf den Fall enttäuschten Vertrauens im Einzelfall, nicht aber auf die generelle Frage der Auslegung einer Norm im Lichte des Vertrauensschutzes. 409 BVerfG, ZIP 2015, 335 Rn. 28, 35, 40 („zumindest auch eine Frage des Unionsrechts“); ebenso BAGE 165, 376 Rn. 33 ff.; BAG, NZA 2020, 1006 Rn. 113 geht nunmehr sogar davon aus, dass die Gewährung von Vertrauensschutz „allein dem Gerichtshof“ obliegt. Letzteres ist bislang jedoch in der Rechtsprechung des EuGH weiterhin nicht abschließend geklärt (vgl. zuletzt etwa EuGH v. 23.4.2020 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2020:295 Rn. 52 ff., wo die contra legem-Grenze nicht thematisiert wird; a. A. Rosenkranz, GPR 2020, 275, 277 ff.). Auch GA Kokott geht etwa davon aus, dass auch nationale (Verfassungs-)Grundsätze – zu denen der Grundsatz des Vertrauensschutzes ohne Zweifel gehört – eine Grenze der richtlinienkonformen Auslegung darstellen können (GA Kokott, Schlussanträge v. 3.10.2019 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2019:834 Tz. 70–72). Vgl. zur Zweifelhaftigkeit dieser Annahme im konkreten Fall oben Fn. 227. 410 BVerfGK 19, 89 Rn. 64. 411 BVerfGE 126, 286 Rn. 82; vgl. auch BVerfG, NJW 2000, 2015, 2016; BGHZ 192, 148 Rn. 47. Zur teleologischen Reduktion: BVerfGK 19, 89 Rn. 63; BVerfG, WM 2016, 1431 Rn. 50, 57 f. 412 BGHZ 179, 27 Rn. 33 unter Hinweis auf BGH, NJW 2006, 3200 Rn. 20 und den dort wiedergegebenen Meinungsstand in der Literatur. Ebenso BGHZ 192, 148 Rn. 47 und BGHZ 201, 101 Rn. 32. 413 Für den Fall einer rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge eines Urteils des EuGH hat das BVerfG in seinem Honeywell-Beschluss darauf hingewiesen, dass zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes innerstaatlich ggf. vom Staat eine Entschädigung dafür zu gewähren sei, dass ein Betroffener auf die gesetzliche Regelung vertraut und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen habe, es aber offen gelassen, ob ein entsprechender Anspruch bereits im bestehenden Staatshaftungssystem angelegt sei; BVerfGE 126, 286 Rn. 85. Dazu etwa Karpenstein/ Johann, NJW 2010, 3405; Giegerich, EuR 2012, 373. Zur Übertragung dieses Ansatzes auf die richtlini
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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung
kende Rechtsfortbildung414 – vom BVerfG bisher weder erwogen noch anerkannt – mag aber auch dann in Frage kommen, wenn es dem Gesetzgeber ganz offensichtlich um die Herstellung klarer Verhältnisse im Rechtsverkehr – wie etwa im Falle einer gesetzlich ausgestalteten Widerrufsbelehrung – geht, sich entsprechende Verkehrserwartungen gebildet haben415 und dieses Regelungsziel durch eine richtlinienkonforme Rechtsfindung in Frage gestellt würde;416 aber auch hier mag bereits die Schwelle zur Unzulässigkeit jeglicher richtlinienkonformer Rechtsfindung überschritten sein (dazu Rn. 72). 76 Das BVerfG hat Vertrauensschutz für in der Vergangenheit begründete Rechtsverhältnisse bisher nur einzelfallbezogen für den Fall erwogen, dass die bei Unionsrechtswidrigkeit auf eine wirksame Norm vertrauende Person eine Disposition vorgenommen, also ihr Vertrauen auch betätigt hat.417 Auf den jeweiligen Einzelfall bezogen mögen bei Anwendung der Grundsätze richtlinienkonformer Rechtsfindung mit ex tunc Wirkung auch die im nationalen Zivilrecht verankerten Institute von Treu und Glauben,418 der Verwirkung419 oder andere Korrekturmechanismen420 zur Anwendung kommen.
enkonforme Rechtsfortbildung Schinkels, JZ 2011, 394. Ein derartiger sekundärer Vertrauensschutz hat jedenfalls den Vorteil, dass den unionsrechtlichen Vorgaben aus der Richtlinie effektiv zur Durchsetzung verholfen wird (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch Möllers, FS Siekmann, S. 51), und erscheint bereits daher gegenüber Ansätzen vorzugswürdig, die die Voraussetzungen für einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch (grundlegend EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u. a., EU:C:1991:428) absenken wollen; vgl. Baldauf, S. 249 ff. sowie Franzen/Gallner/Oetker-Höpfner, EuArbRK, Art. 288 AEUV Rn. 90, der für eine Garantiehaftung des Mitgliedstaates, der seine Umsetzungspflicht objektiv verletzt, plädiert. Der EuGH hat zwischenzeitlich jedenfalls klargestellt, dass die Existenz eines unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht von ihrer Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung befreit und ebenso wenig geeignet ist, die Grenzen dieser Pflicht zu beschränken, vgl. EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU: C:2016:278 Rn. 42. 414 S. dazu die in Fn. 407 angeführten Ansätze. 415 S. Piekenbrock, GPR 2020, 122, 126 ff. 416 Vgl. BGH, WM 2020, 838, aber auch die weiteren in Fn. 400 angeführten Entscheidungen. 417 BVerfGE 126, 286 Rn. 82. 418 S. BGH, NJW 2020, 982 Rn. 28; BGH, WM 2020, 838 Rn. 16; zuletzt BGHZ 225, 297 Rn. 15 und BGH ZIP 2020, 2321 Rn. 27 f. 419 Vgl. BGHZ 201, 101 Rn. 39; BGH, NJW 2015, 3098 Rn. 29 f. Die Entscheidung BGH, NJW 2020, 148 Rn. 30 f. betrifft hingegen einen Fall, in dem die Anwendung des Instituts der Verwirkung im Anschluss an die Feststellung einer grundsätzlichen Schranke für eine richtlinienkonforme Rechtsfindung des nationalen (Umsetzungs-)Rechts im Einzelfall zu einem Ergebnis führen würde, das den Richtlinienvorgaben (in der Auslegung des EuGH) entspricht. S. hierzu auch Piekenbrock, GPR 2020, 31, 39 f. 420 BGHZ 201, 101 Rn. 45 zum Bereicherungsanspruch (in dessen Rahmen ein vernünftiger Ausgleich der Interessen und eine gerechte Risikoverteilung hergestellt werden soll).
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien Literatur: Christian Bärenz, Die Auslegung der überschießenden Umsetzung von Richtlinien am Beispiel des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, DB 2003, 375–376; Gert Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien (2003); Josef Drexl, Die gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur einheitlichen richtlinienkonformen Auslegung hybrider Rechtsnormen und deren Grenzen, in: Stephan Lorenz u. a. (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich (2005), S. 67–86; Beate Gsell, Vorlageverfahren und überschießende Umsetzung von Europarecht, in: dies./Wolfgang Hau (Hrsg.), Zivilgerichtsbarkeit und Europäisches Justizsystem (2012), S. 123–154; Mathias Habersack/Christian Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913–921; dies., Der Widerruf von Haustürgeschäften nach der „Heininger“-Entscheidung des EuGH, WM 2002, 253–259; Burkhardt Heß, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, RabelsZ 66 (2002), 470–502; Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Jochen Hoffmann, Der Verbraucherbegriff des BGB nach der Umsetzung der Finanz-Fernabsatzrichtlinie, WM 2006, 560–567; Peter Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: Claus-Wilhelm Canaris u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. 2 (2000), S. 889–925; Torsten Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht (2006); Tomas Kuhn, Überschießende Umsetzung bei mindest- und vollharmonisierenden Richtlinien: Einheitliche oder gespaltene Anwendung?, EuR 2015, 216–238; Marcus Lutter, Zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien der EU, in: Allfred Söllner u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze (2005), S. 571–584; Christian Mayer/Jan Schürnbrand, Einheitlich oder gespalten? – Zur Auslegung des nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, JZ 2004, 545–552; Melanie Payrhuber/Ulrich Stelkens, 1:1-Umsetzung von EU-Richtlinien: Rechtspflicht, rationales Politikkonzept oder (wirtschafts)politischer Populismus? – zugleich zu Unterschieden zwischen Rechtsangleichungs- und Deregulierungsrichtlinien –, EuR 2019, 190–222; Stefan Perner, Erweiternde Umsetzung von Richtlinien des Europäischen Verbraucherrechts, ZfRV 2011, 225–230; Thomas Riehm, Die überschießende Umsetzung vollharmonisierender EG-Richtlinien im Privatrecht, JZ 2006, 1035–1045; Wulf-Henning Roth, Europäisches Recht und nationales Recht, in: Claus-Wilhelm Canaris u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. 2 (2000), S. 847–888; York Schnorbus, Autonome Harmonisierung in den Mitgliedstaaten durch Inkorporation von Gemeinschaftsrecht, RabelsZ 65 (2001), 654–705; Eberhard Schollmeyer, Überschießende Richtlinienumsetzung schafft überschießende EuGH-Rechtsprechung: Beispiel Umwandlungsrecht, NZG 2020, 589–592; Alexander Weiss, Der mutmaßliche Gesetzgeberwille als Argumentationsfigur, ZRP 2013, 66–69.
Systematische Übersicht I.
II.
Einleitung 1–4 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung 1–2 2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem 3–4 Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung 5–19 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung 5–9
a)
2.
Persönlicher Anwendungsbereich 6 b) Sachlicher Anwendungsbereich 7–8 c) Räumlicher Anwendungsbereich 9 Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen 10–14
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
a)
Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien 11–12 b) Fakultative Umsetzung, opt-out 13 c) Textgleiche Normen 14 3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien 15–19 III. Die Auslegung des nationalen Rechts 20–52 1. Problemstellung 20–24 2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Unionsrecht? 25–34 a) Unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschussbereich? 26 b) Mittelbare unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 27–34 3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht 35–36 4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschussbereich 37–52 a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung 37 b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens: Die Unterschei-
dung von Sach- und Strukturentscheidungen 38–40 c) Vermutung für einheitliche Auslegung 41 d) Gründe für eine gespaltene Auslegung 42–52 aa) Verfassungskonforme Auslegung 43 bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung 44 cc) Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind 45–52 IV. Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht 53 V. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs 54–58 1. Rechtsprechung des EuGH 55 2. Präzisierung der Fragestellung 56 3. Vorlagemöglichkeit? 57–58 VI. Ausblick 59
I. Einleitung 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung 1 Bei der Umsetzung europäischer Richtlinien unterwirft der Gesetzgeber des zur Um-
setzung verpflichteten Mitgliedstaates bisweilen – bewusst oder unbewusst – auch Sachverhalte dem von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsregime, die von der Richtlinie selbst nicht erfasst werden. Das mitgliedstaatliche Umsetzungsrecht geht dann über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinaus. Hierfür hat sich der Begriff der überschießenden Umsetzung von Richtlinien eingebürgert.1 Prominente Beispie-
1 So erstmals Habersack/Mayer, JZ 1999, 913. Dieser Begrifflichkeit folgen nunmehr die Rechtsprechung (s. BVerfG, NJW-RR 2007, 1684 Rn. 20; BVerwG, DVBl 2008, 1255 Rn. 11 f.; BGHZ 159, 280, 284 f.;
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I. Einleitung
le überschießender Umsetzung bilden die Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf2 und die Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie3: Während die Verbraucherkreditrichtlinie nach Art. 2 Abs. 2 lit. a) und b) für Kreditverträge, die durch eine Hypothek oder eine vergleichbare Sicherheit besichert sind, und für Kreditverträge, die für den Erwerb oder die Erhaltung von Eigentumsrechten an einem Grundstück oder einem bestehenden oder geplanten Gebäude bestimmt sind, nicht gilt, sind die Vorschriften des deutschen Rechts über die bei Vertragsschluss erforderlichen Informationen und das Recht zum Widerruf des Vertrages, nämlich §§ 492 und 495 BGB, sowohl auf die von der Richtlinie erfassten „Allgemein-Verbraucherdarlehensverträge“ (§ 491 Abs. 2 BGB) als auch auf Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge (§ 491 Abs. 3 BGB) anzuwenden. Und während die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nach Art. 1 Abs. 1, 4 für Kauf- und Werklieferungsverträge über bewegliche Sachen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher gilt, wobei Verbraucher nach Art. 1 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie jede natürliche Person ist, die zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, gelten die §§ 474 ff. BGB für alle Verbraucher im Sinne des § 13 BGB und damit auch für Personen, die zu einem unselbständigen beruflichen Zweck handeln;4 das gleichfalls der Umsetzung dienende allgemeine Kaufrecht gilt für alle Kaufverträge, das allgemeine Leistungsstörungsrecht gar für sämtliche Schuldverhältnisse. Einen in der Vergangenheit viel diskutierten Fall überschießender Umsetzung stellt die Umsetzung der inzwischen in der Verbraucherrechte-Richtlinie aufgegange
BGH, ZIP 2009, 2004 Rn. 32) und die weit überwiegende Literatur (s. etwa Palandt-Grüneberg, Einl. Rn. 44; MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 4; Bamberger/Roth-Faust, § 433 BGB Rn. 9 ff.; Bärenz, DB 2003, 375; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 28 ff.; Kuhn EuR 2015, 216; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 22 f., 104 ff.; Lutter-Bayer, Umwandlungsgesetz (6. Aufl. 2019), Einl. Rn. 40 ff.; Lutter., GS Heinze, S. 571. Daneben werden für die hier interessierende Konstellation auch der Begriff der autonomen Harmonisierung (so Schnorbus, RabelsZ 65 [2001], 654), derjenige der Übererfüllung von Richtlinien (so Büdenbender, ZEuP 2004, 36) und der Begriff des Gold-Plating (so Burmeister/Staebe, EuR 2009, 444, 445 f.) gebraucht. Eine letztlich allein terminologische Frage ist es, ob man den Begriff der überschießenden Umsetzung auch zur Kennzeichnung derjenigen Konstellationen verwendet, in denen nicht der Anwendungsbereich des – auch – der Richtlinienumsetzung dienenden nationalen Rechts über den der Richtlinie hinausgeht, sondern in denen das nationale Recht innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie über deren inhaltliche Vorgaben hinausgeht. In dem letztgenannten Sinn gebrauchen den Begriff der überschießenden Umsetzung etwa Brandner, Überschießende Umsetzung, S. 11 ff.; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 55 ff.; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 22; Riehm, JZ 2006, 1035 ff.; s. hierzu noch unten Rn. 11 f. 2 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 3 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge, ABl 2008 L 133, 66. 4 S. dazu Begr. RegE BT-Drs. 14/6040, S. 243; Jauernig-Berger, § 474 Rn. 2.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
nen – Haustürgeschäfterichtlinie5 dar: Während die Haustürgeschäfterichtlinie nach ihrem Art. 1 Abs. 1, 3 und 4 voraussetzte, dass es in der Haustürsituation selbst zum Vertragsschluss oder jedenfalls zur Abgabe eines nach Annahme durch den Unternehmer verbindlichen Angebots durch den Verbraucher kommt,6 war das deutsche Haustürwiderrufsrecht bis zu dem am 13.6.2014 erfolgten Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie7 auf alle Geschäfte anzuwenden, bei denen der Verbraucher zu seiner auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung durch eine Haustürsituation bestimmt worden ist, mag auch der Vertragsschluss selbst später außerhalb der Haustürsituation erfolgen.8 2 Ausgangspunkt überschießender Umsetzung ist der häufig punktuelle Charakter9 der umzusetzenden Richtlinie: Zum derzeitigen Stand des Unionsrechts10 und mit
5 Richtlinie 1985/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31; s. nunmehr Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 (Verbraucherrechte-Richtlinie), ABl. 2011 L 304/64. 6 EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, EU:C:1999:197 Rn. 35; GA Léger, Schlussanträge v. 12.7.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, EU:C:2001:414 Tz. 23. 7 Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung vom 20.9.2013, BGBl. 2013 I, 3642. Nach § 312b Abs. 1 Nr. 3 BGB n.F. gelten Verträge, die in den Geschäftsräumen des Unternehmers oder per Fernkommunikationsmittel geschlossen wurden, nur noch dann als „Haustürgeschäft“, wenn der Verbraucher unmittelbar zuvor in einer Haustürsituation angesprochen wurde. Dies entspricht der (Maximal-)Vorgabe des Art. 2 Nr. 8 lit. c) der Verbraucherrechte-Richtlinie (Fn. 3). Eine dem Vertragsschluss nicht unmittelbar vorangehende, den Entschluss des Verbrauchers zur Abgabe der Willenserklärung aber gleichwohl mitbestimmende Haustürsituation reicht danach nicht mehr aus, um den Schutz des Verbrauchers durch die Vorschriften über außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge zu begründen. 8 Zu den Anwendungsvoraussetzungen des § 312 BGB a. F. s. MünchKommBGB-Wendehorst, § 312 BGB Rn. 7 ff. mwN; zur überschießenden Umsetzung im Rahmen des § 312 BGB a. F. Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 254; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 546 f.; ausführlich und mit Vergleich zu dem die Vorgaben der Richtlinie über Haustürgeschäfte exakt abbildenden italienischen Recht Gabrielli, in: Canaris/Zaccaria (Hrsg.), Die Umsetzung von zivilrechtlichen Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft in Italien und Deutschland (2002), S. 42 ff. 9 Rittner, JZ 1995, 849, 851 und Palandt-Grüneberg, Einl. Rn. 31 sprechen von europarechtlichen Inseln im nationalen Recht. Der punktuelle Charakter schließt freilich nicht aus, dass sich aus der Zusammenschau mehrerer Richtlinien gemeinsame Leitgedanken und Prinzipien finden lassen. Dazu für das Europäische Vertragsrecht Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäisches Vertragsrechts, S. 553 ff. 10 Nicht zu verkennen ist, dass der bislang überwiegend punktuelle Charakter des Unionsprivatrechts auch auf der Ebene des Unionsrechts in der Diskussion ist. So ist für die Zukunft eine weitergehende und dann auch systembildende Rechtsangleichung des Privatrechts nicht ausgeschlossen. Für sie bestehen wissenschaftliche Vorüberlegungen namentlich im Bereich des Europäischen Vertragsrechts mit dem Draft Common Frame of Reference (dazu Eidenmüller et al., JZ 2008, 529 ff.; Jansen/Zimmermann, NJW 2009, 3401 ff.), den European Principles of Contract Law (Lando/Beale, dazu Zimmermann, ZEuP 2000, 391 ff.) und dem Vorentwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuches der Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler (Gandolfi-Entwurf, abgedr. in ZEuP 2002, 135 ff. und 365 ff.). Siehe daneben die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärentes
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I. Einleitung
Blick auf das in Art. 5 AEUV verankerte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung11 und das Subsidiaritätsprinzip12 erfolgt europäische Rechtsangleichung namentlich im Privatrecht nicht mit dem Ziel einer systematischen Ausgestaltung der Rechtsordnung, sondern regelmäßig nur zur Beseitigung konkreter Missstände und zur Vermeidung von Beeinträchtigungen des Binnenmarktes.13 Demgegenüber muss der nationale Gesetzgeber seine Regelung in die Systematik des bestehenden Rechts einpassen und Abgrenzungsschwierigkeiten, Wertungswidersprüche und Überschneidungen vermeiden.14 Auf der Ebene des nationalen Rechts entstehen hierdurch Rechtsnormen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches der Umsetzung einer europäischen Richtlinie dienen, aber zugleich aufgrund der autonomen Entscheidung des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers auch Fälle außerhalb der unionsrechtlichen Regelung erfassen.15 Als Folge des Spannungsverhältnisses zwischen dem häufig punktuellen Charakter und dem damit begrenzten Umsetzungsbefehl der Richtlinie einerseits und der gewachsenen mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnung andererseits betrifft das Phänomen überschießender Umsetzung potentiell alle Mitgliedstaaten.16
Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, KOM(2003) 68 endg, ABl. 2003 C 63/1 (dazu sodann Mitteilung der Kommission vom 11.10.2004, KOM(2004) 651 endg; Bericht der Kommission vom 23.9.2005, KOM(2005) 456 endg; Bericht der Kommission vom 25.7.2007, KOM(2007) 447 endg) sowie den Vorschlag der Kommission für eine Horizontalrichtlinie zum Vebraucherrecht, KOM(2008) 614 und dazu die Beiträge von Artz und Gsell, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht (2010), S. 209 f. und 219 f. sowie von Stadler, Grundmann, Zöchling-Jud, Looschelders und Lorenz in AcP 212 (2012), 473 ff. 11 Zur Kompetenz der Union zur Angleichung des Vertragsrechts Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, § 3 Rn. 3 ff. oder, etwas ausführlicher, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 132 ff.; zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung allgemein Grabitz/Hilf/Nettesheim-Bast, Art. 5 EUV Rn. 13; Schwarze-Biervert, Art. 288 AEUV Rn. 13. Die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung folgenden Integrationsschranken beschreibt BVerfG NJW 2020, 1647, 1649 f. (Tz. 101 ff.). 12 S. zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips auch im Rahmen der Rechtsangleichung nach Art. 114 AEUV EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 British American Tobacco, EU:C:2002:741 Rn. 177 ff. 13 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 2 ff. 14 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; näher dazu Tröger, ZEuP 2003, 525 f.; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 880 f.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 669. 15 S. dazu Drexl, FS Heldrich, S. 68: Hybride Normen. 16 Eingehend zu der europaweiten politischen Diskussion um Vor- und Nachteile überschießender Richtlinienumsetzung als Rechtssetzungstechnik Payrhuber/Stelkens, EuR 2019, 190, 194 f. und 206 ff.; Schwarze, Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Bd. 2 (2013), S. 121 ff. In Österreich wurden Teile der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie überschießend im allgemeinen Recht der Schlechterfüllung (Art. 922 ABGB) umgesetzt; s. dazu Perner, ZfRV 2011, 224, 226.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem 3 Setzt der nationale Gesetzgeber europäische Richtlinien überschießend um, so entste-
hen neben den mit der Umsetzung von Richtlinien allgemein verbundenen Fragen zwei spezifische Probleme: Zum einen ist fraglich, ob auch in Fällen, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfasst werden, eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV möglich und für letztinstanzliche Gerichte gar verpflichtend ist (dazu unten Rn. 54 ff.). 4 Zum anderen ist zu überlegen, wie sich der hybride Charakter der nationalen Norm auf deren Auslegung auswirkt. Dabei versteht es sich von selbst, dass innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie die nationale Norm richtlinienkonform auszulegen ist.17 Schwieriger zu entscheiden ist demgegenüber die Frage nach der richtigen Auslegungsmethode in den Fällen, die nicht von der Richtlinie erfasst werden: Folgt hier bereits aus europäischem Recht eine Pflicht zu einheitlicher und damit stets richtlinienkonformer Auslegung?18 Zwingt das nationale Recht zu einheitlicher Auslegung der auf der Ebene des nationalen Rechts einheitlichen Norm19 oder ist die Auslegung der nationalen Norm in dem nicht richtliniendeterminierten Bereich von der richtlinienkonformen Auslegung innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie zu unterscheiden und kommt im Einzelfall auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm in Betracht?20
17 Allgemein zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 3 ff.; zur Pflicht, eine hybride Norm (zumindest) im richtliniendeterminierten Bereich richtlinienkonform auszulegen, Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545 f. 18 Ausführlich Drexl, FS Heldrich, S. 81 ff.; ebenso MünchKommBGB-Ernst, Band 2, Einleitung, Rn. 63; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883 f.; ders., in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.), Europäisches Kaufgewährleistungsrecht (2000), S. 119. 19 So für das Umwandlungsgesetz Lutter, GS Heinze, S. 575 ff., ebenso Lutter-Bayer, Umwandlungsgesetz (6. Auflage 2019), Einleitung Rn. 41; a. A. noch Lutter-Lutter, Umwandlungsgesetz (2. Auflage 2000), Einleitung Rn. 30: Pflicht zu einheitlicher Auslegung ergebe sich aus europäischem Recht. 20 So schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 921; am Beispiel der Richtlinie über Haustürgeschäfte Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 257 f.; vertiefend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548 ff.
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II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung
II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung Im deutschen Recht finden sich zahlreiche Beispiele überschießender Umsetzung von 5 Richtlinien.21 Diese lassen sich im Anschluss an Drexl22 in verschiedene Fallgruppen einordnen: Der Gesetzgeber kann mit den der Umsetzung dienenden Vorschriften über den sachlichen, den persönlichen oder den räumlichen Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgehen. Um einen Fall der überschießenden Umsetzung – jedenfalls im weiteren Sinne – handelt es sich daneben auch dann, wenn der Gesetzgeber in zeitlicher Hinsicht den Richtlinienvorgaben zuvorkommt und etwa eine in der Richtlinie vorhandene Übergangsfrist nicht nutzt, sondern das der Umsetzung dienende nationale Recht unmittelbar in Kraft setzt.23 Konstellationen einer zeitlich überschießenden Umsetzung ist an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachzugehen. Zum einen sind insoweit bei der Auslegung des nationalen Rechts zusätzliche und in erster Linie spezifische Fragen der zeitlichen Vorwirkung von Richtlinien zu beachten.24 Zum anderen stellen sich die Fragen einer zeitlichen Vorwirkung in der Praxis eher im Öffentlichen Recht als im Privatrecht.25
a) Persönlicher Anwendungsbereich Wohl am häufigsten ist die Konstellation anzutreffen, dass der persönliche Anwen- 6 dungsbereich des zur Umsetzung dienenden nationalen Rechts weiter ist als der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie. So erfassen die Vorschriften des deutschen Verbraucherschutzrechtes über die Legaldefinition des Verbrauchers in § 13 BGB regelmäßig auch Personen, die im Rahmen einer unselbständigen, aber beruflichen Tätigkeit handeln, während nach der Verbraucherrechterichtlinie und der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie diese Personen keine Verbraucher im Sinne der vorgenannten Richtlinien sind.26 Ähnlich gilt das deutsche Verbraucherkreditrecht gem. § 512 BGB auch für Existenzgründer, obgleich diese von der Verbraucherkreditricht-
21 Umfassender Überblick bei Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 15 ff.; s. daneben Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f. 22 Drexl, FS Heldrich, S. 70 ff. 23 Ein solcher Sachverhalt lag den Vorlagebeschlüssen des BVerwG zum Asylverfahrensrecht zugrunde, DVBl 2008, 1255. 24 S. dazu Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 26–58. 25 S. Gödicke, WM 2008, 1621, 1624 mwN. 26 S. zum Fernabsatzrecht Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch § 13 BGB Rn. 4 und § 312b BGB Rn. 13; zum Verbraucherbegriff der Verbraucherrechterichtlinie Wendehorst, NJW 2014, 577.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
linie27 nicht erfasst werden,28 und Teile des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, darunter namentlich das Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB, gelten für sämtliche Verträge, während die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln29 nur auf Verbraucherverträge Anwendung findet. Weitere Beispiele einer hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereiches über die Richtlinie hinausgehenden Umsetzung finden sich etwa im Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht, so bei der Umsetzung der Publizitätsrichtlinie30 – nunmehr Art. 16 der Gesellschaftsrechtrichtlinie31 – durch § 15 Abs. 3 HGB (s. sogleich Rn. 7), bei der Umsetzung der nunmehr ebenfalls in der Gesellschaftsrechtrichtlinie konsolidierten Verschmelzungs-32 und der Spaltungsrichtlinie33 durch das Umwandlungsgesetz34 und im Lauterkeitsrecht.35
b) Sachlicher Anwendungsbereich 7 Beispiele für überschießende Umsetzung infolge eines gegenüber der Richtlinie er-
weiterten sachlichen Anwendungsbereiches der zur Umsetzung dienenden nationalen Norm finden sich im Verbraucherschutz-, im Handels- und – mit Einschränkungen – im Steuerrecht. Hierzu zählt namentlich die Umsetzung von Teilen der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf durch das allgemeine Kaufrecht und das allgemeine Leistungsstörungsrecht (s. oben Rn. 1). Der Anwendungsbereich des in §§ 651a ff. BGB geregelten deutschen Reisevertragsrechts geht über denjenigen der Pauschalreiserichtlinie zumindest insofern hinaus, als das deutsche Reisevertragsrecht, anders als die Richtlinie, nach § 651 Abs. 1 BGB grundsätzlich auch Gastschul
27 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 28 MünchKommBGB-Schürnbrand/Weber, § 512 BGB Rn. 2; Drexl, FS Heldrich, S. 71; eingehend zur gleichfalls richtlinienüberschießenden Anwendung des Verbraucherkreditrechts auf nichtkommerzielle BGB-Gesellschaften Mülbert WM 2004, 905, 906 ff.; ferner MünchKommBGB-Schürnbrand/Weber, § 491 BGB Rn. 17. 29 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 30 Richtlinie 2009/101/EG vom 16.9.2009, ABl. 2009 L 258/11 (kodifizierte Fassung; zuvor Richtlinie 68/151/EWG vom 9.3.1968, ABl. 1968 L 65/8; dazu Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 5 Rn. 1 ff.; s. noch Rn. 7. 31 Richtlinie 2017/1132/EU über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts vom 14.6.2017, ABl 2017, L169, 46. 32 Richtlinie 2011/35/EU vom 5.4.2011, ABl. 2011 L 110/1 (kodifizierte Fassung; zuvor Richtlinie 78/ 855/EWG v. 9.10.1978, ABl. 1978 L 295/36) 33 Sechste Richtlinie 82/891/EWG des Rates v. 17.12.1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften, ABl. 1982 L 378/47. 34 Dazu Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f. und Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 8 Rn. 3 ff. 35 Dazu Drexl, FS Heldrich, S. 72; 2. Auflage Rn. 9.
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II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung
aufenthalte erfasst.36 Zu nennen ist des Weiteren auch hier § 15 Abs. 3 HGB, der nicht nur, wie schon angedeutet (soeben Rn. 6), durch die Einbeziehung auch derjenigen Kaufleute, die keine Kapitalgesellschaft sind, über den persönlichen Anwendungsbereich des Art. 16 der Gesellschaftsrechtsrichtlinie hinausgeht, sondern auch in seinem sachlichen Anwendungsbereich von der Richtlinie abweicht, indem er nicht nur den seltenen, aber in der Richtlinie bislang37 allein geregelten Fall einer Divergenz von richtiger Eintragung und unrichtiger Bekanntmachung, sondern auch den praktisch wesentlich bedeutsameren Fall erfasst, dass Eintragung und Bekanntmachung unrichtig sind.38 Vorschriften, die der Umsetzung europäischer Richtlinien dienen, können auch 8 dadurch über den Anwendungsbereich der Richtlinien hinausgehen, dass sie zur Regelung eines von der Richtlinie nicht erfassten Sachverhalts ihrerseits auf eine oder mehrere der Richtlinientransformation dienende Normen verweisen. So nimmt § 143 Abs. 2 AktG zur Bestimmung des Kreises möglicher Sonderprüfer auf §§ 319 Abs. 2–4, 319a Abs. 1 und 319 b HGB Bezug. §§ 319 bis 319 b HGB dienen ihrerseits der Umsetzung der Abschlussprüferrichtlinie, die Abschlussprüferrichtlinie erfasst die Sonderprüfung aber nicht.39 Ein weiterer, in der Vergangenheit viel diskutierter40 Fall überschießender Umsetzung durch erweiterten sachlichen Anwendungsbereich ergibt sich, wenn man die Vorschriften des Handelsgesetzbuchs, welche die Bilanzrichtlinie umsetzen, über den Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 EStG auch zur Ermittlung der Steuerbilanz heranzieht. Allerdings wird die Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes und damit die Intensität der Verknüpfung von Handels- und Steuerbilanz in letzter Zeit zunehmend in Frage gestellt und auch durch gesetzliche Maßnahmen relativiert,41 so dass die Probleme der mittelbaren Richtlinienwirkung bei überschießender Umsetzung insoweit durch die Frage nach der Bedeutung des der Richtlinienumsetzung dienenden nationalen Rechts für die Steuerbilanz als Sachverhalt außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der Bilanzrichtlinie und damit
36 S. dazu im vorliegenden Zusammenhang Pohar/Sendmeyer, RRa 2004, 247, 250; LangenbucherHerresthal, § 2 Rn. 187. 37 Zu Änderungen durch die Richtlinie 2019/1151/EU zur Änderung der Richtlinie 2017/1132/EU im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht vom 20.6.2019, ABl. 2019, L 186, 80 s. Lieder, Die Bedeutung des Vertrauensschutzes für die Digitalisierung des Gesellschaftsrechts, NZG 2020, 81, 86 ff. 38 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 5 Rn. 21 ff. 39 Hierzu Verse in Hirte/Mülbert/Roth, Aktiengesetz Großkommentar, 5. Aufl. 2020, § 143 Rn. 8 f. 40 Herlinghaus, IStR 1997, 529, 535 ff., Hennrichs, ZGR 1997, 66, 68 ff., jeweils mwN. 41 Dazu statt vieler Tipke/Lang-Hennrichs, Steuerrecht (23. Aufl. 2018), § 9 Rn. 40 ff.; Marcel Krumm in Blümich, EStG, 151. EL Stand März 2020, § 5 EStG Rn. 99 ff.; zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts vom 28.5.2009, BGBl. 2009 I, 1102, auf das Bilanzsteuerrecht s. Dörfler/ Adrian, DB 2009, Sonderbeilage Nr. 5, S. 58 ff.
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durch die Frage, ob und inwieweit eine überschießende Umsetzung aus der Perspektive des nationalen Rechts überhaupt vorliegt, zusätzlich erschwert werden.
c) Räumlicher Anwendungsbereich 9 Die Probleme der überschießenden Umsetzung stellen sich schließlich auch dann,
wenn der nationale Gesetzgeber hinsichtlich des örtlichen Anwendungsbereichs über die Vorgaben der Richtlinie hinausgeht. So gelten Richtlinien bisweilen lediglich für grenzüberschreitende Sachverhalte, während der nationale Gesetzgeber zur Vermeidung einer Inländerdiskriminierung42 eine Anwendung der die Richtlinie umsetzenden Vorschriften auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte vorsehen kann. Aus dem Bereich des deutschen Privatrechts sind hier die – am 31. Oktober 2009 allerdings außer Kraft getretenen43 – Vorschriften des Überweisungsrechts (§§ 676a ff. BGB a. F.) zu nennen; durch sie war die nur für grenzüberschreitende Überweisungen geltende Überweisungsrichtlinie44 umgesetzt worden, allerdings mit der Maßgabe, dass die nationalen Vorschriften auch auf inländische Überweisungen Anwendung fanden.45
2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen 10 Die hier aufgegriffene Problematik von Auslegung und Rechtsweg bei überschießen-
der Umsetzung von Richtlinien ist gegenüber drei mit ihr eng verwandten, aber nicht identischen Konstellationen abzugrenzen.
a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien 11 Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung von Richtlinien zunächst von der inhaltlichen Übererfüllung. Eine inhaltliche Übererfüllung ist gegeben, wenn der nationale Gesetzgeber über den von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsauftrag hinausgeht, ohne dabei den Anwendungsbereich des nationalen Rechts gegenüber der
42 S. zu den hiervon erfassten Sachverhalten Schwarze-Holoubek, Art. 18 AEUV Rn. 28. 43 Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie sowie der Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht v. 29.7.2009, BGBl. 2009 I, 2355. 44 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. 1997 L 43/25; s. sodann Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, ABl. 2007 L 319/1. 45 MünchKommBGB-Casper (8. Aufl.), vor § 675c BGB Rn. 5; Drexl, FS Heldrich, S. 73. Habersack/Mayer
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Richtlinie zu erweitern.46 Von der überschießenden Umsetzung unterscheidet sich die inhaltliche Übererfüllung der Richtlinie insofern, als das die Richtlinie übererfüllende nationale Recht innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegt. Zumindest soweit ein Rechtsstreit, wie regelmäßig, nicht allein auf die übererfüllende Rechtsfolge gründet, ist bei Fragen zur Auslegung der Richtlinie eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof möglich und für letztinstanzliche Gerichte verpflichtend. Soweit es sich hingegen um Auslegungsfragen handelt, die allein den über die Richtlinie hinausgehenden Teil der nationalen Regelung betreffen, stellt sich die Frage des Einflusses des europäischen Rechts und der Möglichkeit der Vorlage an den EuGH schon deshalb nicht, weil die Richtlinie zu diesen Fragen naturgemäß nichts beitragen kann. Nicht zuletzt deshalb sollte der Begriff der überschießenden Umsetzung den Konstellationen vorbehalten bleiben, in denen das der Richtlinienumsetzung dienende nationale Recht infolge eines über die Richtlinie hinausgehenden Anwendungsbereiches des nationalen Rechts Fälle erfasst, die von der Richtlinie nicht erfasst werden. Der überschießenden Umsetzung gemeinsam ist den Fällen der inhaltlichen 12 Übererfüllung hingegen die unten aufzugreifende Frage, ob ein von der Richtlinie in ihrer Auslegung durch den EuGH vorgegebenes Regelungsziel, welches im nationalen Recht innerhalb des durch die Richtlinie erfassten Bereiches durch richtlinienkonforme Auslegung erreicht werden kann und muss, auch in dem von der Richtlinie nicht erfassten Bereich ausschlaggebend zu berücksichtigen ist und ob in diesen Fällen die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens und für letztinstanzliche Gerichte eine Vorlagepflicht besteht.
b) Fakultative Umsetzung, opt-out Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung wie auch die allein auf nationa- 13 lem Recht beruhende inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien von denjenigen Fäl-
46 S. bereits Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 und Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; im Grundsatz ebenso Drexl, FS Heldrich, S. 73; Abgrenzung beider Fallgruppen auch bei Perner, ZfRV 2011, 225, Payrhuber/Stelkens, EuR 2019, 190, 195 und Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 11 ff. (dessen Einschätzung, der Begriff der überschießenden Umsetzung umfasse auch die inhaltliche Übererfüllung, ist freilich unzutreffend, siehe zur Begrenzung der überschießenden Umsetzung auf Fälle, in denen der Anwendungsbereich der nationalen Norm über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgeht, schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914. Dementsprechend geht auch die an die eigene unzutreffende Inhaltsbestimmung anknüpfende Kritik Brandners, aaO, am Begriff der überschießenden Umsetzung ins Leere.) Demgegenüber unterscheiden Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 55 ff., Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 22 und Riehm, JZ 2006, 1035, 1036 f. zwischen Gegenstandsbereich und Harmonisierungsintensität, ordnen aber ein Abweichen des nationalen Gesetzgebers in beiden Fällen der überschießenden Umsetzung zu. Ähnlich sprechen Burmeister/Staebe, EuR 2009, 444, 445 und Payrhuber/Stelkens, EuR 2019, 190, 195 bei inhaltlicher Übererfüllung von „echtem“, bei – im hier verwendeten Sinne – überschießender Umsetzung hingegen von „unechtem“ Gold-Plating.
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len, in denen der nationale Gesetzgeber eine Richtlinienvorgabe umsetzt, obgleich er infolge eines in der Richtlinie selbst vorgesehenen fakultativen Rechts zum opt-out hierzu nicht verpflichtet ist.47 Macht der Mitgliedstaat von der Möglichkeit des opt-out in der dafür ggf. vorgesehenen Weise48 Gebrauch, so gilt insoweit die Vorgabe der Richtlinie einschließlich der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung für diesen Mitgliedstaat nicht, während die Richtlinie andernfalls insgesamt, also einschließlich der „fakultativen“ Regelungen, schon kraft europäischen Rechts zu beachten ist.49 Demgegenüber stellt es einen Fall überschießender Umsetzung dar, wenn die Richtlinie ihren Anwendungsbereich dadurch begrenzt, dass Ausnahmen von dem Anwendungsbereich umschrieben werden, während der nationale Gesetzgeber beschließt, die der Umsetzung dienenden Vorschriften auch auf die in der Richtlinie von dem Anwendungsbereich ausgenommenen Fälle anzuwenden. Da es letztlich eine Zufälligkeit der gesetzestechnischen Formulierung des Anwendungsbereiches ist, ob dieser allein positiv umschrieben oder durch Ausnahmen begrenzt wird, sollten für die hier interessierenden Methodenfragen entgegen einem jüngeren Urteil des EuGH50 beide Konstellationen einheitlich behandelt werden.
c) Textgleiche Normen 14 Zu unterscheiden ist der hier im Vordergrund stehende Fall einer nationalen Norm, die zugleich der Umsetzung einer Richtlinie und der Regelung von in der Richtlinie nicht erfassten Konstellationen dient, schließlich von dem Fall, dass der nationale Gesetzgeber zwei textgleiche Normen schafft, von denen die eine der Umsetzung einer Richtlinie dient, während die andere rein nationale oder in einer anderen Richtlinie geregelte Sachverhalte regelt. Als Beispiel hierfür mag die Zurechnung von Stimmrechten nach dem die Transparenzrichtlinie umsetzenden § 22 WpHG einerseits und nach der textgleichen und in Teilen die Übernahmerichtlinie umsetzenden Zurechnungsnorm des § 30 WpÜG andererseits dienen.51 Zwar könnte man auch hier ange-
47 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 547 f., dort auch zur Frage eines teilweisen opt-out. 48 S. dazu, dass ein Recht zum opt-out häufig, aber nicht immer, von einer Pflicht zur Notifizierung gegenüber der Kommission begleitet wird, Prechal, Directives in European Community Law (1995), S. 51 f. 49 So im Ergebnis auch EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-52/00 Kommission ./. Frankreich, EU:C:2002:252 Rn. 47: Art. 15 der Richtlinie 85/374/EWG erlaubt zwar, die in Art. 7 lit. e) der Richtlinie vorgesehene Haftungsfreistellung insgesamt auszuschließen, ein Mitgliedstaat handelt aber richtlinienwidrig, wenn er die Haftungsfreistellung von weiteren Voraussetzungen abhängig macht. 50 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-583/10 Nolan, EU:C:2012:638; dazu unten Rn. 57. 51 S. einerseits Art. 7 und 8 der Transparenzrichtlinie I v. 12.12.1988, ABl. 1988 L 348/62, und sodann Art. 9 ff. der Transparenzrichtlinie II v. 15.12.2004, ABl. 2004 L 390/38; andererseits Art. 5 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 lit. d) und Abs. 2 der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12; zur Problematik des vom nationalen Gesetzgeber gewollten Gleichlaufs zwischen beiden Vorschriften s. Habersack, FS H.P. Westermann
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sichts des übereinstimmenden Wortlauts von – im weiteren Sinne – überschießender Umsetzung sprechen,52 doch stellt sich insoweit die Frage nach der Zulässigkeit der Normspaltung und einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht in gleicher Schärfe.53
3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien Bevor anschließend die Auslegung des nationalen Rechts und damit das Kernproblem 15 überschießender Umsetzung in den Blick genommen werden soll, ist zu klären, ob die überschießende Umsetzung als solche mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Hierbei gilt es zweifach zu differenzieren: Zum einen sind für die Frage nach der generellen Zulässigkeit überschießender Umsetzung die Fälle einer unrichtigen Umsetzung und die daran anschließende Frage, wie eine fehlerhafte Umsetzung durch richtlinienkonforme Auslegung beseitigt werden kann, außer Betracht zu lassen. Stattdessen ist zunächst die vorgelagerte Frage zu beantworten, ob schon eine inhaltlich fehlerfreie, aber überschießende Umsetzung europarechtlichen Bedenken begegnet. Zum zweiten ist die bereits oben (Rn. 11 f.) aufgezeigte Differenzierung zwischen überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung zu beachten. Auszugehen ist hierbei von dem in Art. 288 AEUV niedergelegten Grundsatz, dass 16 sich Richtlinien an die Mitgliedstaaten wenden und dass sie nur hinsichtlich ihres Ziels verbindlich sind, die Wahl von Form und Mittel zum Erreichen dieses Ziels aber den innerstaatlichen Stellen überlassen. Richtlinien sind zwar Mittel zur Erzwingung und Absicherung mitgliedstaatlicher Rechtsetzung, sie dienen dabei aber zugleich der Integration unter Schonung mitgliedstaatlicher Entscheidungsspielräume und nationaler Regelungsstrukturen, indem es grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, wie die von der Richtlinie vorgegebenen Ziele durch nationales Recht erreicht werden.54 Der Richtlinie selbst lässt sich daher keine Vorgabe hinsichtlich der Form ihrer (verbindlichen) Umsetzung entnehmen; auch enthält das Unionsrecht keine Pflicht, jede Richtlinie für sich durch ein eigenes nationales Gesetz umzusetzen. Ist somit die Form der überschießenden Umsetzung als solche keinen Bedenken ausgesetzt, so ist weiter zu prüfen, ob eine überschießende Umsetzung aus inhaltlichen Gründen gegen Unionsrecht verstoßen kann. Diesbezüglich ist zwischen inhaltlicher Übererfüllung und überschießender Umsetzung zu unterscheiden.
(2008), S. 928 ff. Zur entsprechenden Problematik im Rahmen des §§ 1, 2 Abs. 1 GWB s. Ackermann, in diesem Band, § 19 Rn. 34 ff. 52 So denn auch Franck, BKR 2002, 709, 712 f. 53 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548. 54 S. dazu statt aller Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 104, 109 ff.; Schwarze, Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Bd. 2 (2013), S. 117 f.
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Inhaltliche Übererfüllung stellt eine strengere nationale Rechtsfolge innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie dar. Wird aber der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht verlassen, so folgt daraus ohne weiteres, dass auch die Frage, ob die strengere nationale Regelung zulässig ist, mit Blick auf das Unionsrecht beantwortet werden muss. Eine inhaltliche Übererfüllung ist daher nur dann zulässig, wenn die Richtlinie und das sonstige Unionsrecht die von der Richtlinie erfassten Sachverhalte nicht abschließend regeln. In diesem Bereich ist daher die bisweilen schwierige Frage zu beantworten, ob das europäische Recht eine Vollharmonisierung anstrebt und damit weitergehendes nationales Recht ausschließt, oder ob es lediglich eine Mindestharmonisierung begründet und strengeres nationales Recht zulässt. 18 Demgegenüber erfolgt durch die überschießende Umsetzung eine Erstreckung des Regelungsplans der Richtlinie auf Sachverhalte, die nicht im Anwendungsbereich der Richtlinie liegen. Steht aber fest, dass die von der nationalen Regelung betroffenen Konstellationen von der Richtlinie gar nicht erfasst werden, so ist die nationale Regelung auch aus der Perspektive des Europarechts grundsätzlich zulässig, ohne dass es darauf ankäme, ob die Richtlinie innerhalb ihres Anwendungsbereiches eine Mindest- oder eine Vollharmonisierung vorgibt. Auch die in jüngerer Zeit zunehmenden Fälle vollharmonisierender Richtlinien im Bereich des Wirtschaftsrechts55 können daher in dem hier verstandenen Sinne überschießend umgesetzt werden.56 Sollte eine Richtlinie demgegenüber bestimmte sachliche Regelungen ausdrücklich spezifischen Konstellationen vorbehalten und die gleiche Regelung damit für einzelne oder auch alle anderen Konstellationen verbieten, so würde bereits der Anwendungsbereich dieser Richtlinie notwendig auch die von ihr negativ geregelten Fälle umfassen.57 Die na-
55 So etwa die Verbraucherrechte-Richtlinie (Fn. 3); zum vollharmonisierenden Charakter der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen Mülbert, WM 2004, 905, 909, zum vollharmonisierenden Charakter der UGP-Richtlinie deren BE 6 und dazu Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig/ Keller, UWG (4. Aufl. 2016), Einl. A Rn. 19; Köhler/Bornkamm-Köhler, UWG (37. Aufl. 2019), Einl. UWG Rn. 3.56; zur Vollharmonisierung im Gesellschaftsrecht Schürnbrand, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht (2010), S. 273 ff. 56 Wie hier zum Lauterkeitsrecht Drexl, FS Heldrich, S. 76; zur Verbraucherkreditrichtlinie EuGH v. 12.7.2012 – C-602/10 S. Volksbank Romania SA, EU:C:2012:443; Rosenkranz in Gsell/Krüger/Lorenz/ Reymann, Beck-OGK, Stand 1.4.2020, § 358 Rn. 16; zur Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen Bamberger/Roth-Bamberger, § 13 BGB Rn. 14; s. auch Lutter, GS Heinze, S. 572 f.: Eine solche Erweiterung „stört das europäische Recht in aller Regel nicht“; ferner Riehm, JZ 2006, 1035, 1037 f.; dezidiert a. A. zur Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen Hoffmann, WM 2006, 560, 562; skeptisch auch v. Danwitz, JZ 2006, 1, 7 f. 57 Soweit erkennbar enthält indes keine Richtlinie im Bereich des Privatrechts einen so umfassenden Anwendungsbereich; in einem solchen Fall wären zudem die Kompetenz der Union zum Erlass einer so weitgehenden Regelung und deren Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgrundsatz sorgfältig zu prüfen. Vgl. dazu aber auch Hoffmann, WM 2006, 560, 562, der einen entsprechend weiten Anwendungsbereich der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen annimmt und deshalb für eine gespalten-einschränkende Auslegung von § 13 BGB plädiert; dagegen Bamberger/Roth-Bamberger, § 13 BGB Rn. 15.
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III. Die Auslegung des nationalen Rechts
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tionale Erstreckung einer Regelung, die von dieser Richtlinie spezifischen Konstellationen vorbehalten ist, auf andere Sachverhalte stellt dann keinen Fall einer überschießenden, sondern einen Fall der inhaltlich fehlerhaften Richtlinienumsetzung dar. Diesem ist mit dem hierfür vorgesehenen Instrumentarium – richtlinienkonforme Auslegung und richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, ggf. unmittelbare Anwendung der Richtlinie, Vertragsverletzungsverfahren und Haftung des Staates für fehlerhafte Umsetzung – zu begegnen. All dies schließt freilich nicht aus, dass die überschießende Umsetzung im Einzel- 19 fall aus anderen Gründen des Unionsrechts, beispielsweise wegen einer damit verbundenen Beschränkung einer Grundfreiheit oder eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot, europarechtswidrig ist; insofern unterscheidet sich die überschießende Umsetzung jedoch nicht von jeder anderen nationalen Rechtsetzung.
III. Die Auslegung des nationalen Rechts 1. Problemstellung Im Folgenden ist die Frage zu untersuchen, ob und inwieweit in Fällen überschießen- 20 der Umsetzung die Richtlinie Maßstab für die Auslegung des nationalen Rechts ist. Praktische Bedeutung erlangt diese Frage in den Fällen, in denen das aus rein nationaler Sicht zutreffende Auslegungsergebnis mit den Anforderungen des europäischen Rechts nicht übereinstimmt, die Diskrepanz von europarechtlicher Vorgabe und nationaler Umsetzung aber durch europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts beseitigt werden kann.58 Zur Verdeutlichung des Problems sei hier auf die richtungsweisenden Entscheidungen des EuGH und des BGH zum Umfang der Käuferrechte bei Lieferung mangelhafter Kaufsachen im Verbrauchsgüterkauf, auf die Fragen zur Auslegung des deutschen Haustürwiderrufsrechts in Zusammenhang mit der Heininger-Entscheidung des EuGH und auf die aktuell diskutierten Entscheidungen zur Angabe der Modalitäten der Berechnung der Widerrufsfrist in den Widerrufsinformationen eines Verbraucherdarlehens hingewiesen: Wichtige Anwendungsfälle für das Zusammenspiel von überschießender Umsetzung und Zwang 21 zur richtlinienkonformen Auslegung bilden die – zum Kaufrecht ergangenen – Entscheidungen des VIII. Zivilsenats des BGH in Sachen Quelle59, in Sachen Weber/Putz60 und in dem GranulatFall61. Gegenstand der Quelle-Entscheidung war die Frage, ob der Käufer in Fällen, in denen es
58 Für eine ausdrückliche Divergenzprüfung daher Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 169 („dreistufige Rechtsanwendung“); in aller Regel wird es sich freilich eher um einen allgemeinen Abwägungsprozess handeln. 59 BGHZ 179, 27 = NJW 2009, 427. 60 BGHZ 192, 148 = NJW 2012, 1073. 61 BGHZ 195, 135 = NJW 2013, 220. Habersack/Mayer
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
zur Nacherfüllung eines Kaufvertrages durch Nachlieferung einer neuen Kaufsache kommt und der Käufer zuvor die zunächst gelieferte – mangelhafte – Kaufsache nutzen konnte und auch tatsächlich genutzt hat, Nutzungsersatz schuldet. Das BGB bestimmt diesbezüglich in § 439 Abs. 4 BGB, dass der Verkäufer bei Nacherfüllung durch Lieferung einer mangelfreien Sache von dem Käufer die Rückgewähr der mangelhaften Sache nach den §§ 346 bis 348 verlangen kann. Die damit in Bezug genommenen Vorschriften der §§ 346 Abs. 1, 347 Abs. 1 BGB verpflichten ausdrücklich zur Herausgabe gezogener Nutzungen bzw. zur Zahlung von Nutzungsersatz. Demgegenüber verlangt die Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf in ihrem Art. 3 ausdrücklich, dass dem Käufer bei vertragswidriger Kaufsache eine Nacherfüllung unentgeltlich zusteht. Demgemäß hat der EuGH auf Vorlage des BGH entschieden, dass Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie einer nationalen Vorschrift, die den Käufer verpflichtet, im Falle der Nacherfüllung durch Nachlieferung für die Zeit zwischen Kaufabschluss und Nachlieferung Nutzungsersatz zu zahlen, entgegensteht.62 Für den Bundesgerichtshof hat sich daraufhin zunächst die Frage gestellt, ob das deutsche Recht insoweit einer richtlinienkonformen Auslegung überhaupt zugänglich ist;63 bejahendenfalls war über die Folgefrage zu entscheiden, ob sich die richtlinienkonforme Auslegung auf die von der Richtlinie erfassten Fälle des Verbrauchsgüterkaufs beschränkt oder darüber hinaus für die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs nach deutschem Recht oder gar für sämtlich Kaufverträge Geltung beansprucht.
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Ähnlich hierzu war Gegenstand der Entscheidungen in Sachen Weber/Putz wie auch der nachfolgenden Granulat-Entscheidung die Frage, ob der Käufer nach Lieferung einer mangelhaften Kaufsache verlangen kann, dass die mangelhafte Kaufsache durch den Verkäufer oder auf Kosten des Verkäufers ausgebaut und die mangelfreie Ersatzsache sodann durch den Verkäufer oder auf Kosten des Verkäufers wieder eingebaut wird. Bis zur Entscheidung in Sachen Weber/Putz entsprach es der zum damaligen deutschen Recht ganz überwiegenden Meinung, dass der verschuldensunabhängige Gewährleistungsanspruch nach § 439 Abs. 1 BGB keine Pflicht des Verkäufers begründete, die im Wege der Nacherfüllung durch Nachlieferung gelieferten Ersatzsache bei dem Käufer einzubauen.64 Hinsichtlich der Kosten des Ausbaus einer mangelhaften Sache war demgegenüber zum einen offen, ob diese Kosten von dem Verkäufer zu tragen sind. Zum anderen war offen, ob die Vorschrift des § 439 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 BGB, die dem Verkäufer einer mangelhaften Sache zugestand, die Nacherfüllung insgesamt zu verweigern, wenn sowohl eine Nacherfüllung durch Nachlieferung als auch eine Nacherfüllung durch Nachbesserung einen unverhältnismäßig hohen Aufwand erfordert, mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu vereinbaren ist. Auf Vorlage des Amtsgericht Schorndorf zur Frage, ob nach der Richtlinie der Verkäufer die Wiedereinbaukosten zu tragen hat, und auf Vorlage des Bundesgerichtshofs zur Frage, ob der Verkäufer nach der Richtlinie die Ausbaukosten zu tragen hat und ob der generelle Ausschluss des Nacherfüllungsrechtes bei unverhältnismäßig hohem Aufwand beider Nacherfüllungsvarianten mit der Richtlinie in Einklang steht, hat der EuGH nach Verbindung beider Vorlageverfahren und in Abweichung von den Schlussanträgen des Generalanwalts geantwortet,65 dass der Verkäufer sowohl die Ausbau- als auch die Wiedereinbaukosten zu tragen hat und dass ein völliger Ausschluss des Rechts auf Nacherfüllung in Fällen, in denen beide Varianten der Nacherfüllung un-
62 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, EU:C:2008:231 Rn. 33 f., 36, 43. 63 Zu Recht krit. Schürnbrand, JZ 2007, 910, 915, 917; für Möglichkeit richtlinienkonformer Auslegung sodann aber BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff. 64 So ausdrücklich der VIII. Zivilsenat des BGH in dem Parkettstäbe-Fall, NJW 2008, 2837. 65 GA Mazák, Schlussanträge v. 18.5.2010 – Rs. C-87/09 Putz, EU:C:2010:275.
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III. Die Auslegung des nationalen Rechts
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verhältnismäßig hohe Kosten verursachen, gegen die Richtlinie verstößt.66 Soweit man auch hier von der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung oder einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung des deutschen Rechts ausging, stellte sich die Folgefrage, ob eine Pflicht, Ausund Wiedereinbaukosten zu tragen, und ein Ausschluss des Rechts aus § 439 Abs. 3 S. 2 Hs. 2, die Nacherfüllung insgesamt zu verweigern, für die von der Richtlinie erfassten Fälle des Verbrauchsgüterkaufs, für alle Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne von §§ 474, 13 BGB oder für alle Kaufverträge gelten sollte. Darauf ist in Rn. 52 zurückzukommen. Bereits zuvor hatte sich der XI. Zivilsenat des BGH in der Rechtssache Heininger zur richtlini- 23 enkonformen Auslegung der – ihrerseits überschießenden Charakter aufweisenden – Vorschriften über Haustürgeschäfte zu äußern. Zu entscheiden war über die Frage, ob dem Verbraucher nach der – inzwischen in der Verbraucherrechte-Richtlinie aufgegangenen – Haustürgeschäfterichtlinie (Rn. 1) das Recht zum Widerruf eines Realkredit-vertrags zusteht, obgleich ein solcher Kreditvertrag zwar Teilen der alten Verbraucherkreditrichtlinie (Rn. 14) unterlag, diese indes kein Widerrufsrecht vorsah.67 Nachdem der EuGH die Anwendbarkeit der Haustürgeschäfterichtlinie – und damit die mitgliedstaatliche Pflicht zur Gewährung eines Widerrufsrechts – bejaht hatte,68 sah sich der Bundesgerichtshof veranlasst, entgegen der bis dahin herrschenden und auch zunächst von ihm geteilten Meinung69 § 5 Abs. 2 HWiG a. F. richtlinienkonform einschränkend auszulegen und hierdurch den Anwendungsbereich des Haustür-Widerrufsrechts zu eröffnen.70 Dabei hat sich der Bundesgerichtshof auf den Willen des Gesetzgebers zur einheitlichen Anwendung des Haustürwiderrufsgesetzes auf die von der Richtlinie erfassten Fälle des Vertragsschlusses an der Haustür und die – vom Haustürwiderrufsgesetz darüber hinaus erfassten – Fälle der bloßen Mitveranlassung des Vertrages durch eine Haustürsituation berufen.71
Ein weiteres, aktuell viel diskutiertes Beispiel des Zusammentreffens von überschießender Um- 24 setzung durch den Mitgliedstaat und europarechtlicher Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung verdeutlichen die Entscheidungen zur Zulässigkeit eines Kaskadenverweises zur Berechnung der Widerrufsfrist bei Verbraucherdarlehensverträgen und deren Bedeutung als – vermeintlicher – „Widerrufsjoker“ für Immobilienfinanzierungen. Nach Art. 10 der Verbraucher-
66 EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Weber und Putz, EU:C:2011:396. Die Entscheidung wurde – was hier nicht näher zu vertiefen ist – aufgrund ihrer stark auf den Verbraucherschutz ausgerichteten und insgesamt gegenüber den Anträgen des Generalanwalts wenig differenzierten Begründung überwiegend und zu Recht kritisiert, s. hierzu statt vieler Lorenz, NJW 2011, 2241. 67 Die neue Verbraucherkreditrichtlinie (Fn. 26) sieht nun zwar ein Widerrufsrecht vor, nimmt aber in ihrem Art. 2 Abs. 2 lit. a) grundpfandrechtlich gesicherte Kredite von ihrem Anwendungsbereich aus. 68 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, EU:C:2001:684 Rn. 33. 69 BGH, NJW 2000, 521, 523 mit zahlreichen Nachweisen auch zur Gegenmeinung. 70 BGHZ 150, 248, 253 ff.; BGH, NJW 2003, 199 f.; zust. Frisch, BKR 2002, 84, 85; Hoffmann, ZIP 2002, 145; Pfeiffer, EWiR 2002, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655. Die besseren Argumente sprachen indes dafür, dass § 5 Abs. 2 HWiG einer solchen richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich war, so vor Erlass der Entscheidung Edelmann, BKR 2002, 80, 82; Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 256 f.; v. Heymann/Annertzok, BKR 2002, 234, 235; Hochleitner/Wolf/Großerichter, WM 2002, 529; für gespaltene Auslegung bereits Habersack, WM 2000, 981, 991. Aus der Rechtsprechung etwa LG München I, WM 2002, 285, 287; OLG Bamberg, WM 2002, 537, 544 f. Instruktiv zum Ganzen Franzen, JZ 2003, 321, 324 f., 327. 71 BGHZ 150, 248, 261 f.; BGH, ZIP 2004, 1402, 1403; BGH, ZIP 2005, 565, 567. Demgegenüber lässt BGH, NJW 2006, 2099, 2101 die Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung offen; dazu Habersack, BKR 2006, 305 ff.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
kreditrichtlinie hat der Kreditvertrag das Bestehen oder Nichtbestehen eines Widerrufsrechtes sowie die Frist und die anderen Modalitäten für die Ausübung des Widerrufsrechtes in klarer, prägnanter Form anzugeben. Das durch den deutschen Gesetzgeber eingeführte und mit Gesetzlichkeitsfiktion versehene Muster für die Widerrufsinformation gibt an, die Frist des Widerrufs beginne nach Abschluss des Vertrages, aber erst, nachdem der Darlehensnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB erhalten hat. § 492 Abs. 2 BGB seinerseits verweist hinsichtlich der erforderlichen Angaben auf Art. 247 §§ 6 bis 13 EGBGB. Nach Ansicht des BGH ist ein an Satz 2 der Musterbelehrung orientierter Hinweis klar, prägnant und auch im Übrigen richtlinienkonform.72 Auf Vorlage des LG Saarbrücken hat der EuGH demgegenüber mit Urteil vom 26.03.2020 in der Rechtssache Kreissparkasse Saarlouis73 festgestellt, dass Art. 10 Abs. 2 Buchst. P) der Richtlinie 2008/48 es nicht erlaube, dass ein Kreditvertrag hinsichtlich der geschuldeten Angaben auf eine nationale Vorschrift verweist, die selbst auf weitere Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats verweist.74 Gegenstand des Rechtsstreits vor dem Landgericht Saarbrücken war indes ein Immobiliendarlehen mit einer Kreditsumme von mehr als 75.000 €, sodass die Richtlinie über Verbraucherdarlehen auf diesen Vertrag keine unmittelbare Anwendung fand. Dies nahm der Bundesgerichtshof zum Ausgangspunkt, um in einem wenige Tage nach dem Urteil des EuGH erlassenen Beschluss festzustellen, dass die Widerrufsinformation im Rahmen von grundpfandrechtlich besicherten Immobiliendarlehensverträgen nicht in den Anwendungsbereich der Verbraucherdarlehensrichtlinie fällt und ausschließlich nach § 492 Abs. 2 BGB in Kombination mit Art. 247 § 6 EGBGB zu beurteilen ist.75
2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Unionsrecht? 25 Bisweilen wird vertreten, eine Pflicht zur einheitlichen Auslegung des nationalen
Rechts folge schon aus dem Unionsrecht selbst, so dass hybride Normen innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie gleich und damit stets richtlinienkonform ausgelegt werden müssten.76 Zur Begründung dieser These wird zumeist auf die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Leur-Bloem77 und Giloy78 verwiesen und angeführt, der EuGH habe in diesen Entscheidungen ein klares Interesse der Union an einheitlicher Auslegung konstatiert und damit eine europarechtlich fundierte Pflicht zu einheitlicher Auslegung begründet.79
72 BGH, NJW 2017, 1306. 73 EuGH v. 26.3.2020 – Rs. C-66/19 Kreissparkasse Saarlouis, EU:C:2020:242. 74 EuGH v. 26.3.2020 – Rs. C-66/19 Kreissparkasse Saarlouis, EU:C:2020:242 Rn. 49. 75 BGH BKR 2020, 255. 76 S. die Nachw. in Fn. 17; dagegen nun ausdrücklich und wie hier BGH, WM 2014, 1030 Rn. 27 ff. (gespaltene Auslegung des § 5a Abs. 2 VVG a. F.). 77 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, EU:C:1997:369. 78 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, EU:C:1997:372. 79 Zu dem Versuch von Drexl (FS Heldrich, S. 82 f.), die Rechtsprechung des EuGH in Sachen TRIPS (u. a. EuGH v. 22.2.1996 – Rs. C-53/96 Hermès International, EU:C:1998:292; EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior u. a., EU:C:2000:688 Rn. 36 f.) fruchtbar zu machen, s. 2. Aufl. Rn. 33 f.
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III. Die Auslegung des nationalen Rechts
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a) Unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschussbereich? Eine unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 26 (auch) im Überschussbereich setzte voraus, dass die der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung zugrunde liegenden Mechanismen auf die nationale Norm auch insoweit Anwendung finden, als die nationale Norm über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausreicht. Dagegen spricht vor allem das jedem Handeln der Union zugrunde liegende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, aufgrund dessen das Unionsrecht außerhalb seines Anwendungsbereichs eine unionsrechtliche Wirkung nicht entfalten kann.80 In den Worten von Generalanwalt Darmon: „Es gibt kein Gemeinschaftsrecht außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“81. Da aber die überschießende Umsetzung den Anwendungsbereich des umzusetzenden Rechts schon deshalb unberührt lässt, weil den Mitgliedstaaten die Befugnis fehlt, den Anwendungsbereich des Unionsrechts einseitig zu bestimmen,82 bleibt es dabei, dass der überschießende Teil der nationalen Norm außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie liegt. Es kommt hinzu, dass die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung ihrerseits in der Pflicht des Mitgliedstaates zur Umsetzung der Richtlinie wurzelt. Sie kann deshalb nicht über den mit der Richtlinie den Mitgliedstaaten aufgegebenen Regelungsauftrag hinausgehen. Dieser Regelungsauftrag ist durch die inhaltlichen Vorgaben und den Anwendungsbereich der Richtlinie umschrieben und begrenzt.83
b) Mittelbare unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung Besteht somit richtigerweise keine unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zu richtlini- 27 enkonformer Auslegung des nicht richtliniendeterminierten Teils nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, so könnte doch eine Pflicht zu einheitlicher und damit einheitlich richtlinienkonformer Auslegung mittelbar daraus entstehen, dass andernfalls die nationale Norm auch im Anwendungsbereich der Richtlinie falsch ausgelegt werden könnte und der Mitgliedstaat damit seine Umsetzungspflicht verletzt.84 In diesem Zusammenhang sind die Entscheidungen in Sachen Leur-Bloem und Giloy zu bedenken. Die Rechtssache Leur-Bloem betrifft mehrere vom Gerichtshof Amsterdam vorgelegte Fragen zur Auslegung der Fusionssteuer-Richt-
80 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919; Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915 ff. 81 GA Darmon, Schlussanträge v. 3.7.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, EU:C:1990:360 Tz. 11. 82 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919. 83 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung (1994), S. 273 ff.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 685; s. ferner Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 29. 84 In diesem Sinne Drexl, FS Heldrich, S. 83 f.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
linie85, während die vom Hessischen Finanzgericht vorgelegte Rechtssache Giloy Fragen zur Auslegung des unionsrechtlichen Zollkodex86 zum Gegenstand hat. Beide Verfahren betrafen allerdings nationales Recht außerhalb des Anwendungsbereichs der jeweiligen europäischen Rechtsnormen. Das Verfahren Leur-Bloem betraf die steuerlichen Auswirkungen der Einbringung von Anteilen zweier niederländischer Gesellschaften in eine dritte, ebenfalls niederländische Gesellschaft, während die Fusionssteuerrichtlinie Steuerhindernisse bei grenzüberschreitenden Fusionen innerhalb der Union beseitigen soll und dementsprechend nur für grenzüberschreitende Vorgänge gilt.87 Die streitgegenständliche Norm des niederländischen Einkommensteuerrechts sah allerdings eine gleichlautende Definition des Begriffs der „Fusion durch Austausch von Anteilen“ vor und stellte damit einen Fall überschießender Umsetzung durch einen gegenüber der Richtlinie erweiterten örtlichen Anwendungsbereich dar. Das Verfahren Giloy betraf einen Fall der Einfuhrumsatzsteuer. Auf diese ist zwar der Zollkodex nicht anwendbar, doch enthält das nationale Steuerrecht für die Einfuhrumsatzsteuer einen Verweis auf den Zollkodex. 28 In seiner Entscheidung in Sachen Leur-Bloem führt der Gerichtshof aus: „[32] Richten sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Gemeinschaftsrecht getroffenen Regelungen, um insbesondere zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder – wie im vorliegenden Fall – zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, so besteht ein klares Interesse der Gemeinschaft daran, dass die aus dem Gemeinschaftsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern.“88
29 Damit scheint zwar der Gerichtshof in Leur-Bloem, wie auch in einer Reihe nachfol-
gender Entscheidungen,89 eine europarechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung zu bejahen (Interesse der Gemeinschaft), doch ist dieses Diktum des EuGH bei näherer Betrachtung keineswegs eindeutig. Beachtlich ist zunächst der Hintergrund, vor dem der Gerichtshof das Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung Jeweils betont: In Leur-Bloem und in den nachfolgenden Rechtsstreitigkeiten war, wie in einer
85 Richtlinie 90/434/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. 1990 L 225/1. 86 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates v. 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. 1992 L 321/23. 87 Dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 918. 88 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, EU:C:1997:369 Rn. 32; ähnlich EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, EU:C:1997:372 Rn. 23, 28. 89 S. aus jüngerer Zeit EuGH v. 16.3.2006 – Rs. C-3/04 Poseidon Chartering, EU:C:2006:176 Rn. 20 ff.; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-280/06 Autorita Garante della Concorrenza, EU:C:2007:775 Rn. 21 f., EuGH v. 10.12.2009 – Rs. C-323/08 Rodriguez Mayor, EU:C:2009:770 Rn. 21 ff., 27 und EuGH v. 19.10.2017, Rs. C-303/16 Solar Electric Martinique, EU:C:2017:773 Rn. 26.
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III. Die Auslegung des nationalen Rechts
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Reihe vorangehender Entscheidungen auch,90 schon die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Beantwortung von Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts in Fällen, in denen das Unionsrecht nicht von sich aus anwendbar ist, sondern nur durch überschießende Umsetzung bzw. Verweis nationaler Normen auf unionsrechtliche Bestimmungen Bedeutung für den Rechtsstreit erlangt, streitig. Daher zielt in Leur-Bloem das niederländische Gericht mit seiner ersten Vorlagefrage ausdrücklich auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs; in dem Verfahren sprachen sich Generalanwalt Jacobs91, aber auch die Kommission, die niederländische und die deutsche Regierung92 gegen eine Zuständigkeit des EuGH aus. Die Betonung des Interesses der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung kann daher auch als Rechtfertigung der Zuständigkeit des Gerichtshofs und nicht als Begründung einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung verstanden werden. Denn schon in der Entscheidung Leur-Bloem selbst lautet die unmittelbar folgende Randnummer: „[33] In einem solchen Fall ist es jedoch im Rahmen der in Artikel 177 vorgesehenen Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof allein Sache des nationalen Gerichts, die genaue Tragweite dieser Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht zu beurteilen; die Zuständigkeit des Gerichtshofs beschränkt sich auf die Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (Urteile Dzodzi und Federconsorzi aaO, Rn. 41 und 42 bzw. 10). Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf rein innerstaatliche Sachverhalte setzen wollte, gilt nämlich das nationale Recht, so dass dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind.“93
In der Zusammenschau beider Aussagen lässt sich das Urteil des Gerichtshofs daher 30 nur so verstehen, dass zwar, soweit eine einheitliche Auslegung gewollt ist, ein Interesse der Union daran besteht, dass die Norm auch tatsächlich einheitlich, also richtlinienkonform ausgelegt wird (Rn. 32 des Urteils), und dass deshalb, soweit eine einheitliche Auslegung zu erfolgen hat, der Gerichtshof auch in Fällen außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts eine Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen im Vorabentscheidungsverfahren vornehmen kann,94 die Frage, ob eine einheitliche Auslegung erfolgen soll, aber eine Frage allein des nationalen Rechts ist (Rn. 33 des Urteils). Ihre Bestätigung findet diese Interpretation der Rechtsprechung des Gerichtshofs 31 in der nachfolgenden Entscheidung des EuGH in Sachen ICI95. Hier hatte sich der Ge-
90 Sog. Dzodzi-Rechtsprechung, dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915 ff. 91 GA Jacobs, Schlussanträge v. 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, EU: C:1996:332 Tz. 47 ff. 92 S. GA Jacobs, Schlussanträge v. 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, EU: C:1996:332 Tz. 44. 93 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, EU:C:1997:369 Rn. 33. 94 Was indes durchaus Bedenken begegnet, dazu unten Rn. 54 ff. 95 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, EU:C:1998:370.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
richtshof in einem Vorabentscheidungsersuchen des House of Lords ebenfalls mit der Frage nach der Auslegung nationaler Normen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches unionsrechtskonform auszulegen waren, zu befassen. Zwar ging es im konkreten Fall nicht um eine Frage der richtlinienkonformen Auslegung, sondern um die Auslegung englischen Konzernsteuerrechts im Lichte der Niederlassungsfreiheit, doch war das Grundproblem insoweit identisch, als die Tochtergesellschaften des steuerbetroffenen englischen Konzerns ihren Sitz mehrheitlich nicht nur außerhalb des Vereinigten Königreichs, sondern auch außerhalb der Union hatten, so dass in casu schon deshalb ein möglicher, durch unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts ggf. abzuwendender Verstoß gegen (den heutigen) Art. 49 AEUV nicht gegeben war. Das House of Lords legte deshalb die allgemeine Frage vor, ob eine uneinheitliche Auslegung der nationalen Norm möglich ist,96 und der Gerichtshof hat diese Frage mit den nachfolgend wiedergegebenen Worten auch allgemein beantwortet. Die Tatsache, dass es vorliegend um einen Fall unionsrechtskonformer und nicht um einen Fall richtlinienkonformer Auslegung ging, steht einer Bewertung von ICI als Klarstellung zu Leur-Bloem nicht entgegen.97 Denn auch der EuGH stellt bei seiner Betonung des Interesses der Union an einheitlicher Auslegung nicht auf die Besonderheiten gerade der richtlinienkonformen Auslegung und die mitgliedstaatliche Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien ab, wie sich mittelbar bereits daraus ergibt, dass der Gerichtshof die oben (Rn. 28) wiedergegebene Formulierung aus Leur-Bloem nahezu wortgleich in der Entscheidung in Sachen Giloy verwendet,98 bei der die Ausstrahlungswirkung des Zollkodex und damit einer europäischen Verordnung im Mittelpunkt stand, die innerhalb ihres Anwendungsbereichs unmittelbar und zwingend gilt (Art. 288 AEUV) und keiner Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber bedarf. In ICI stellt der EuGH fest: „Betrifft der Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht also einen Sachverhalt, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, so ist dieses Gericht nach dem Gemeinschaftsrecht weder verpflichtet, seine Rechtsvorschriften gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, noch, sie unangewendet zu lassen. Falls ein und dieselbe Vorschrift in einer in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallenden Situation unangewendet bleiben müsste, in einer nicht in diesen Anwendungsbereich fallenden Situation jedoch weiterhin angewandt werden könnte, wäre das zuständige Organ des betreffenden Staates verpflichtet, diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen, soweit sie die sich aus Gemeinschaftsvorschriften ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte.“99
96 S. das Zwischenurteil des House of Lords v. 14.3.1996 zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens All E.R. [1996] 2, 23 ff. 97 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919; wie hier Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 889, 892; Bärenz, DB 2003, 375; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 691 f.; dezidiert a. A. W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 884, dort Fn. 216; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 101. 98 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, EU:C:1997:372 Rn. 28. 99 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, EU:C:1998:370 Rn. 34.
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III. Die Auslegung des nationalen Rechts
Die besseren Gründe sprechen denn auch gegen eine mittelbare unionsrechtliche 32 Pflicht zur einheitlichen Auslegung wegen der abstrakten Gefahr einer Beeinträchtigung der Richtlinienwirkung im Anwendungsbereich der Richtlinie. Beachtlich ist, dass schon der Gerichtshof selbst in ICI ein Regel-Ausnahmeverhältnis konstatiert, wonach eine Verpflichtung zu einheitlich unionsrechtskonformer Auslegung grundsätzlich nicht besteht, und ein Tätigwerden des zuständigen Organs nur verlangt ist, soweit eine Rechtsunsicherheit die sich aus Unionsrecht ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte. Es kommt hinzu, dass die bei uneinheitlicher Auslegung des nationalen Rechts angeführten Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen dem richtliniendeterminierten und dem nicht richtliniendeterminierten Teil der Norm ihren Ursprung nicht in der uneinheitlichen Auslegung, sondern im Anwendungsbereich der Richtlinie selbst haben: Würde der Gesetzgeber die Richtlinie wortgetreu umsetzen, so wären zur Ermittlung des Anwendungsbereichs der nationalen Norm just die in der Richtlinie enthaltenen Merkmale heranzuziehen, ohne dass dem Mitgliedstaat der Vorwurf unrichtiger Umsetzung gemacht werden könnte. Im Kern ist daher aus unionsrechtlicher Sicht das Problem uneinheitlicher Aus- 33 legung nicht die Abgrenzung als solche, sondern die Tatsache, dass sich die Abgrenzungskriterien bei überschießender Umsetzung nicht aus der nationalen Norm selbst, sondern nur aus der Richtlinie gewinnen lassen. Soweit man hierin einen Verstoß gegen die Pflicht des Mitgliedstaates, die Richtlinie transparent umzusetzen, sieht,100 ist der Gesetzgeber des Mitgliedstaates aufgerufen, dieses Transparenzdefizit zu beseitigen – eine Pflicht, die den nationalen Gesetzeber in diesen Fällen aber auch abgesehen vom überschießenden Charakter der Umsetzung schon deshalb trifft, weil eine nur mittels richtlinienkonformer Auslegung zu erreichende Richtlinienkonformität des nationalen Rechts dem Transparenzgebot ohnehin nicht genügt.101 Insgesamt lässt sich somit in Einklang mit der überwiegenden Literaturmei- 34 nung102 eine europarechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht begründen; die Frage nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung ist vielmehr eine solche des nationalen Rechts.
100 S. zur Transparenzrechtsprechung allgemein EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-217/97 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1999:395 Rn. 1 ff.; EuGH v. 23.5.1985 – Rs. 29/84 Kommission ./. Deutschland, EU: C:1985:229 Rn. 23; Calliess/Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 51. 101 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, EU:C:2001:257 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, EU:C:1996:341 Rn. 13 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 120f. 102 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 78; Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 921; Hoffmann, WM 2006, 560, 564; Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 892; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 120 ff.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 112ff.; MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 4; Lutter, GS Heinze, S. 574 f.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 131; Langenbucher-Riehm, § 4 Rn. 32; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 685 f.; Schmidt-Räntsch, in diesem Band, § 21 Rn. 73; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 131.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht103 35 Lässt sich ein unionsrechtlich fundiertes Gebot einheitlicher Auslegung nicht begrün-
den, so könnte doch eine einheitliche und damit richtlinienkonforme Auslegung aus Gründen des nationalen Rechts geboten sein. Hiervon gehen nicht wenige Autoren im Schrifttum aus, wenn auch regelmäßig unter dem Vorbehalt, dass aus „sehr wichtigen sachlichen Gründen“ oder aufgrund „ganz besonderer Umstände“ im Einzelfall anders zu entscheiden sein könne.104 Nicht nur überfordere eine divergierende Auslegung identischer Normen Gerichte und Rechtsunterworfene; sie gerate überdies mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebot der Klarheit und Bestimmtheit von Normen in Konflikt. Wenn auch der Hinweis auf die Relativität von Rechtsbegriffen105 die gespaltene Auslegung identischer Normen nicht unmittelbar zu rechtfertigen vermag,106 so bleibt doch festzuhalten, dass die Normspaltung seit Jahrzehnten ein geläufiges Problem vor allem des Wirtschaftsrechts und des Internationalen Privatrechts darstellt.107 Und auch der Einwand, eine gespaltene Auslegung könne Gerichte wie Rechtsunterworfene verwirren, ist letztlich nicht überzeugend, ist doch die Erwartung, das richtige Verständnis einer Norm durch schlichte Lektüre des Gesetzestextes ermitteln zu können, ein ganz allgemein von einer komplexen und dynamischen Rechtsordnung nicht zu erfüllender Wunsch. Aus dem Rechtsstaatsprinzip lässt sich daher ein generelles Verbot gespaltener Auslegung nicht herleiten.108 Es kommt hinzu, dass nach der bereits oben (Rn. 25 ff.) angesprochenen Transparenz-Rechtsprechung des EuGH die Zeitdauer, während derer eine gespaltene Auslegung inhaltlich zum Tragen kommt, ohnehin begrenzt ist: Die gespaltene Auslegung kommt nur dort in Betracht, wo das nach nationalem Recht ermittelte Auslegungsergebnis mit den Anforderungen der Richtlinie nicht übereinstimmt und deshalb innerhalb des Anwen
103 Die folgenden Ausführungen folgen weitgehend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549 f.; wie hier nunmehr auch BGH, WM 2014, 1030 Rn. 28 ff. (gespaltene Auslegung des § 5a Abs. 2 VVG a. F.), BGH BKR 2020, 255. 104 Bärenz, DB 2003, 375 f.; Staudinger-Beckmann, vor § 433 BGB Rn. 88; Erman-Grunewald, vor § 433 Rn. 37; Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 486; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883; Schulte-Nölke, ZGS 2006, 201; R. Schulze, in: ders. (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 18. Zurückhaltend gegenüber einer gespaltenen Auslegung auch Schmidt-Räntsch, in diesem Band, § 21 Rn. 73, 74. 105 Hennrichs, ZGR 1997, 66, 78. 106 Bärenz, DB 2003, 375, 376; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 106. 107 Ausführlich und mit weiteren Nachweisen dazu Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549; eingehend zu der bereits im nationalen Recht begründeten, von Problemen überschießender Richtlinienumsetzung unabhängigen Möglichkeit zur gespaltenen Auslegung kapitalmarktrechtlicher Normen, die für ein kapitalmarktrechtliches Verhaltensgebot sowohl zivil- als auch strafrechtliche Sanktionen vorsehen Schürnbrand, NZG 2011, 1213. 108 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 131. Speziell zur Frage, ob eine einheitliche Auslegung aus Gründen der Gleichbehandlung nach Art. 3 GG erforderlich ist, Herdegen, WM 2005, 1921, 1930.
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III. Die Auslegung des nationalen Rechts
dungsbereichs der Richtlinie durch richtlinienkonforme Auslegung zu korrigieren ist. Da aber das der Umsetzung europäischer Richtlinien dienende nationale Recht nach der Rechtsprechung des EuGH bestimmt, klar und transparent zu sein hat und eine nur durch richtlinienkonforme Auslegung zu erreichende Rechtslage hierfür regelmäßig nicht ausreicht, bleibt der nationale Gesetzgeber trotz richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts durch die Gerichte verpflichtet, die Vorgaben der Richtlinie korrekt umzusetzen.109 Der Gesetzgeber kann im Zuge der Umsetzung selbstverständlich frei entschei- 36 den, wie er zukünftig die bislang im Überschussbereich angesiedelten Fälle behandelt wissen möchte. So hat der deutsche Gesetzgeber im Anschluss an die Heininger-Entscheidung des EuGH (s. oben Rn. 24) zwar §§ 312a, 355, 491 Abs. 3 BGB neu gefasst und hierdurch seine Umsetzungspflicht erfüllt,110 hierbei indes an dem weiten Anwendungsbereich des deutschen Rechts der Haustürgeschäfte (§ 312 BGB) festgehalten. Im Zuge der Quelle-Entscheidung hat der deutsche Gesetzgeber den nach der Auslegung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie durch den EuGH erforderlichen nationalen Rechtsstand trotz der die Vorgaben des EuGH berücksichtigenden Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH (s. oben Rn. 22) in § 475 Abs. 3 BGB festgeschrieben, hierbei indes den Ausschluss von Nutzungsherausgabe und Nutzungsersatz (im Einklang mit der Abschlussentscheidung des BGH) auf Verbrauchsgüterkaufverträge im Sinne des deutschen Rechts beschränkt, während die im Anschluss an die Entscheidungen in Sachen Weber/Putz und Granulat111 erforderliche Anpassung des deutschen Kaufrechts in § 439 Abs. 3 BGB und damit für alle Kaufverträge einheitlich erfolgte.
4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschussbereich a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung Nachdem festgestellt werden konnte, dass sich bei überschießender Umsetzung von 37 Richtlinien weder aus europäischem noch aus nationalem Recht eine Pflicht zur richt-
109 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, EU:C:2001:257 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, EU:C:1996:341 Rn. 13 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 121. 110 Ob weitere Umsetzungsdefizite, insbesondere durch die Pflicht des Darlehensnehmers zur Rückgewähr des Darlehens auch in den Fällen, in denen die Valuta – freilich: vereinbarungsgemäß – an Dritte bezahlt wurde, bestehen, war Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen des LG Bochum, NJW 2003, 2612 und des OLG Bremen, NJW 2004, 2238. S. hierzu die Urteile des EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:637 und EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, EU:C:2005:640 = JZ 2006, 86 m. Anm. Habersack = BKR 2005, 441 m. Anm. Derleder, in deren Folge sich erneut die Frage nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung des deutschen Haustürwiderrufsrechts stellt. S. zum Ganzen auch unten Rn. 45 ff.; zur Neuregelung des § 312b BGB durch das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie s. Fn. 5. 111 Dazu oben Rn. 22.
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linienkonformen Auslegung des nationalen Rechts im Überschussbereich ergibt, sind nachfolgend die – allein maßgebenden nationalen – Kriterien für die Auslegung im Überschussbereich zu bestimmen. Dabei gilt es zunächst, die Unterschiede zwischen der richtlinienkonformen Auslegung im Anwendungsbereich der Richtlinie und der nationalen Auslegung außerhalb dieses Anwendungsbereichs zu verdeutlichen.112 Die richtlinienkonforme Auslegung ist ihrer rechtstheoretischen Struktur nach interpretatorische Vorrangregel:113 Innerhalb der Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung muss der nationale Rechtsanwender den europarechtlichen Vorgaben ohne weitere Abwägung Geltung verschaffen.114 Im nicht europarechtlich determinierten Überschussbereich vollzieht sich Auslegung hingegen als interpretatorische Gesamtabwägung aller zu berücksichtigender Auslegungskriterien, wobei – vorbehaltlich der verfassungskonformen Auslegung – keinem Auslegungskriterium per se Vorrang einzuräumen ist.115 Es empfiehlt sich, worauf erstmals Hommelhoff hingewiesen hat,116 diesen Methodenunterschied auch begrifflich zu markieren, also den Rechtsbegriff der richtlinienkonformen Auslegung den Fällen im Anwendungsbereich der Richtlinie vorzubehalten und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie von „Ausstrahlungswirkung der Richtlinie auf das richtlinienfreie Recht“117, „quasi-richtlinienkonformer“118 oder „richtlinienorientierter“119 Auslegung zu sprechen.
b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens: Die Unterscheidung von Sach- und Strukturentscheidungen 38 Verbreitet wird für die möglichst einheitliche Auslegung des nationalen Rechts im Überschussbereich und im richtliniendeterminierten Bereich auf den Willen des historischen Gesetzgebers abgestellt, der seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Schaffung der einheitlichen Norm gefunden habe und der eine gespaltene Auslegung nur in besonderen Ausnahmefällen zulasse.120 Diese Sichtweise greift jedoch, wie erst unlängst
112 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 113 Überzeugend Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 68 ff.; eingehend W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 22, 46 ff. 114 Zutr. P. Ulmer, ZIP 2002, 1080, 1081 zur überflüssigen Absicherung des richtlinienkonformen Ergebnisses durch nationale Abwägung in BGHZ 150, 248. 115 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74; dem folgend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551; Gsell, in: Gsell/Hau (Hrsg.), Europäischess Justizsystem (2012), S. 123, 134 f.; a. A. noch Lutter-Lutter, Umwandlungsgesetz (3. Aufl. 2004), Einl. Rn. 32. 116 Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915. 117 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74. 118 So Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915. 119 MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 4. 120 Etwa BGHZ 150, 248, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655; Bärenz, DB 2003, 375; Hoffmann, ZIP 2002, 145, 150; Lutter, GS Heinze, S. 575 f.; für die Auslegung von Kaufrecht und Leistungsstörungs
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herausgearbeitet wurde, gerade in den kritischen Fällen zu kurz;121 diese sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass der Gesetzgeber im nationalen Recht zwei Entscheidungen getroffen hat, von denen sich jedoch unter dem Einfluss der Richtlinie die eine nicht aufrechterhalten lässt: So hat der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes die Strukturentscheidung122 getroffen, die Voraussetzungen des Rücktritts bei vertragswidriger Kaufsache grundsätzlich nicht für den Verbrauchsgüterkauf getrennt zu regeln, sondern diese in das allgemeine Leistungsstörungsrecht einzupassen und hierfür mit § 323 BGB eine einheitliche Norm zu schaffen. Gleichzeitig hat er aber die Sachentscheidung getroffen, den Rücktritt von Setzen und Ablauf einer angemessenen Frist abhängig zu machen. Soweit sich nun die Sachentscheidung für den Verbrauchsgüterkauf als richtlinienwidrig erweist, wird man kaum allein unter Berufung auf die Strukturentscheidung das Fristsetzungserfordernis in allen von § 323 BGB erfassten Fällen einschränkend auslegen können. Ähnlich hatte der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes für die kaufrechtliche 39 Nacherfüllung durch Lieferung einer mangelfreien Sache in § 439 Abs. 4 BGB ausdrücklich auf die allgemein für Rückgewährschuldverhältnisse geltenden §§ 346 bis 348 verwiesen. Der Gesetzgeber hatte damit ursprünglich explizit einen allgemeinen Anspruch des Verkäufers auf Nutzungsersatz vorgesehen, mithin die Strukturentscheidung getroffen, insoweit nicht zwischen Verbrauchsgüterkäufen und sonstigen Käufen zu unterscheiden, vielmehr generell die §§ 346 ff. BGB zur Anwendung zu bringen. Desweiteren hatte der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes für den Verkäufer als Schuldner eines Nacherfüllungsanspruches in § 439 Abs. 3 S. 2 HS. 2 BGB ausdrücklich die Möglichkeit vorgesehen, beide Arten der Nacherfüllung und damit die Nacherfüllung als Mangelgewährleistungsrecht insgesamt zu verweigern, wenn jede der Nacherfüllungsarten unverhältnismäßig hohe Kosten verursachen würde. Gleichzeitig hatte der Gesetzgeber aber durch die einheitliche Begründung des Nacherfüllungsanspruches in § 439 BGB die Strukturentscheidung getroffen, insoweit nicht zwischen Verbrauchsgüterkaufverträgen und sonstigen Käufen zu differenzieren. Schließlich hatte der Gesetzgeber des HWiG die Strukturentscheidung getroffen, die der Richtlinie unterfallenden, an der Haustür abgeschlossenen Verträge so zu behandeln wie diejenigen Verträge, die durch die Haustürsituation lediglich mitveranlasst wurden. Diese Strukturentscheidung kam seinerzeit im Anwendungsbereich des HWiG zum Ausdruck. Zugleich hat der Gesetzgeber des HWiG jedoch die in § 5 Abs. 2 HWiG seinerzeit ebenso zum Ausdruck kommende Sachentscheidung getroffen, bei Realkreditverträgen, nicht zuletzt mit Blick auf den Grundsatz der taggenauen Refinanzierung, ein Widerrufsrecht auszuschließen.123 Dieses Zusammentreffen von Sach- und Strukturentscheidung führt dazu, dass selbst die Feststellung, der Gesetzgeber habe die Strukturentscheidung bewusst getroffen und eine einheitliche Auslegung auch mit Blick auf die Richtliniengebundenheit des europarechtlich geforderten Teils der Norm gewollt, für sich genommen noch nicht automatisch zu einer einheitlichen Auslegung
recht nach Maßgabe der Richtlinie über den Verbauchsgüterkauf Erman-Grunewald, vor § 433 BGB Rn. 37; Staudinger-Beckmann, vor § 433 BGB Rn. 88. 121 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 122 Die Bezeichnung als Sach- und Strukturentscheidung verdanken wir Schürnbrand, s. Mayer/ Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551; zust. BGH, WM 2014, 1030 Rn. 29 (gespaltene Auslegung des § 5a Abs. 2 VVG a. F.). 123 Dazu und zum Folgenden Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551.
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führt.124 Stets ist nämlich zu beachten, dass der Gesetzgeber die Richtlinienwidrigkeit der zugleich mit der Strukturentscheidung getroffenen Sachentscheidung nicht kannte. Ein Festhalten an der Strukturentscheidung trotz abweichender Sachentscheidung ist damit letztlich hypothetischer Natur.125
40 Nicht zuletzt die Reaktionen des Gesetzgebers auf die bereits angesprochen Verfahren
in Sachen Heininger und Quelle (oben Rn. 21 ff.) bestätigen im Übrigen die hier dargelegten Bedenken gegenüber der Maßgeblichkeit der Strukturentscheidung bei richtlinienkonform nicht aufrecht zu erhaltender Sachentscheidung. In Reaktion auf das Heininger-Verfahren hat nämlich der Gesetzgeber durch Neufassung der §§ 312a, 355, 491 Abs. 3 BGB für sämtliche Realkreditverträge ein Haustürwiderrufsrecht eingeführt (oben Rn. 36) und damit die vom Europäischen Recht geforderte Sachentscheidung auf den gesamten Anwendungsbereich der überschießenden Umsetzung erstreckt (und mithin an der ursprünglichen Strukturentscheidung, den Abschluss des Vertrags an der Haustür und die bloße Veranlassung des Vertrags durch die Haustürsituation gleichzubehandeln, festgehalten). Demgegenüber hat er im Anschluss an die QuelleEntscheidung mit § 474 Abs. 5 S. 1 BGB eine Norm geschaffen, welche für die Nacherfüllung durch Nachlieferung den Nutzungsersatz nur bei Verbrauchsgüterkäufen ausschließt. Für alle anderen Kaufverträge gilt hingegen weiterhin, dass der Käufer im Falle der Nacherfüllung durch Lieferung einer mangelfreien Sache für die Zeit der Nutzung der mangelhaften Kaufsache Nutzungsersatz schuldet. An der ursprünglich getroffenen Strukturentscheidung einer Gleichbehandlung aller Kaufverträge und der Einpassung des Nutzungsersatzes in das allgemeine Recht der Rückgewähr hat der Gesetzgeber insoweit also angesichts der Vorgaben des Europarechts nicht festgehalten; vielmehr bestimmt § 474 Abs. 5 S. 1 BGB nunmehr ausdrücklich, dass § 439 Abs. 4 BGB gespalten zur Anwendung zu bringen ist.
c) Vermutung für einheitliche Auslegung 41 Wenn sich die einheitliche Auslegung somit auch nicht allein auf die Strukturent-
scheidung des historischen Gesetzgebers stützen lässt, so lässt sich doch insgesamt eine Vermutung für eine einheitliche Auslegung formulieren. Diese kann, soweit der Gesetzgeber ausdrücklich auch auf die Richtlinie oder sonstige Normen des Unionsrechts in ihrer jeweiligen Auslegung durch den EuGH verweisen wollte, auch den Wil-
124 Ebenso Prütting/Wegen/Weinreich-D. Schmidt, BGB (14. Aufl. 2019), vor § 433 BGB Rn. 13; Bamberger/Roth-Faust, § 433 BGB Rn. 9; a. A. Lutter, GS Heinze, S. 575 ff. 125 Zutr. für die Heininger-Argumentation Rohe, BKR 2002, 575, 576; M. Wolf, BKR 2002, 614, 616. Zum Ganzen Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551 f.; dem folgend Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 146 f. Noch weitergehend sieht Herdegen, WM 2005, 1921, 1930 in der gespaltenen Auslegung eine den objektiven Gesetzeswillen schonende und deshalb vorzugswürdige Auslegung. Herdegen stellt damit die Sachentscheidung über die Strukturentscheidung des Gesetzgebers.
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len des Gesetzgebers für sich in Anspruch nehmen.126 Aber auch jenseits dieser speziellen Fälle spricht die Einheitlichkeit der nationalen Norm und damit ein systematisches Argument für eine einheitliche Auslegung.127 Dieses systematische Argument verliert hingegen an Überzeugungskraft, wenn der Gesetzgeber, wie beispielsweise hinsichtlich der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf mit den §§ 474 ff. BGB geschehen, an anderer Stelle Sondernormen für den der Richtlinie unterfallenden Bereich schafft.128 Gleichfalls für einheitliche Auslegung streitet das für sich allein nicht durchschlagende Argument, eine gespaltene Auslegung erschwere die Rechtsanwendung und führe zu neuen Abgrenzungsschwierigkeiten.129
d) Gründe für eine gespaltene Auslegung Ist somit die nationale Norm nur im Zweifel einheitlich auszulegen und kommt wegen 42 des Charakters der Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung grundsätzlich eine gespaltene Auslegung durchaus in Betracht, so ist nachfolgend zu untersuchen, welche Gründe im Einzelfall für eine gespaltene Auslegung streiten können. aa) Verfassungskonforme Auslegung. Am einfachsten ist dabei der – bislang wohl 43 theoretische – Fall zu entscheiden, dass die von der Richtlinie gebotene Auslegung des nationalen Rechts mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren wäre: Zumindest innerhalb des durch die Solange/Maastricht-Rechtsprechung gezogenen Rahmens gilt nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, dass, soweit ein Umsetzungsermessen nicht besteht, nicht nur die europäischen Rechtsakte, sondern auch das der Umsetzung dienende nationale Recht nicht am Maßstab des Grundgesetzes zu messen sind.130 Jedenfalls aber wäre das Grundgesetz seinerseits richtlinienkonform
126 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 117; s. auch für das deutsche Kartellrecht Ackermann, in diesem Band, § 19 Rn. 36. – Dafür streitet im Überschussbereich aber nicht die vom EuGH in seinem Urteil v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 112 formulierte Vermutung, der nationale Gesetzgeber habe bei Umsetzung einer Richtlinie die Richtlinienkonformität des Umsetzungsgesetzes gewollt, denn auch diese Vermutung gilt nur für den Anwendungsbereich der Richtlinie und lässt sich auf die Frage, ob der Gesetzgeber stets eine einheitliche Auslegung des nationalen Rechts gewollt habe, nicht übertragen. Generell gegen eine Vermutung für einheitliche Auslegung hingegen Herdegen, WM 2005, 1921, 1930. 127 Gleichsinnig Verse in Hirte/Mülbert/Roth, AktG, 5. Aufl. 2020, § 143 Rn. 8. 128 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551; dezidiert a. A. Lutter, GS Heinze, S. 576 und Lutter-Bayer, Umwandlungsgesetz (6. Aufl. 2019), Einl. Rn. 41: Gerade das Vorliegen einzelner Sondernormen für den von der Richtlinie erfassten Bereich spreche dafür, dass der Gesetzgeber außerhalb dieser Sondernormen eine einheitliche Behandlung gewollt habe; zur Problematik des Abstellens auf die Strukturentscheidung des historischen Gesetzgebers s. aber bereits Rn. 38 f. 129 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 130 So ausdrücklich BVerfG, NJW 2001, 1267, 1268 unter II. 1b). Zwar wird dort nur die Überprüfung eines deutschen Umsetzungsgesetzes am Maßstab der Verfassung verweigert, doch kann für die verfassungskonforme Auslegung schwerlich etwas anderes gelten; ebenso Habersack/Mayer, JZ 1999, 913,
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auszulegen.131 Beides gilt indes nur im Anwendungsbereich der Richtlinie, da auch nur insoweit die Gemeinschaft selbst im Sinne von Art. 23 GG rechtsetzend tätig war.132 Für den überschießenden Bereich des nationalen Rechts bewendet es daher in jedem Fall bei der uneingeschränkten verfassungsrechtlichen Überprüfbarkeit am Maßstab des nicht richtlinienkonform auszulegenden Grundgesetzes und damit beim Vorrang der verfassungskonformen Auslegung.133 Weicht diese von der durch die Richtlinie gebotenen Auslegung des nationalen Rechts ab, so ist eine gespaltene Auslegung zwingend.134 44
bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung. Eine gespaltene Auslegung kommt
daneben dann in Betracht, wenn die Sachentscheidung des Gesetzgebers besondere Bedeutung beansprucht und die durch die Richtlinie gebotene Auslegung sich von dieser Sachentscheidung weit entfernt. Hierzu ist erforderlich, den Stellenwert, den der Gesetzgeber der Sachentscheidung auf der einen Seite und der Strukturentscheidung auf der anderen Seite jeweils zugemessen hat, zu ermitteln und die Ergebnisse wertend miteinander zu vergleichen. So spricht angesichts der Bedeutung des Vertrauens in die Rechtsbeständigkeit geschlossener Verträge und angesichts der Bedeutung von Mustern mit Gesetzlichkeitsfiktion alles dafür, § 492 Abs. 2 BGB in Verbindung mit Art. 247 § 6 EGBGB allenfalls135 in den von der Verbraucherkreditrichtlinie erfassten Fällen richtlinienkonform auszulegen. 45
cc) Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind. Die letzte und vermutlich in der Praxis bedeutsamste Gruppe
von Fällen, in denen eine gespaltene Auslegung der einheitlichen Norm ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist, stellen diejenigen Konstellationen dar, in denen durch den erweiterten und über die Richtlinie hinausgehenden Anwendungsbereich des nationalen Rechts abweichende Auslegungsgesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Es
920; a. A. – freilich ohne Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung – Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 675, dort Fn. 77; diesem folgend Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 103. 131 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 79 f. 132 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 920. Zur Umgrenzung des in der Richtlinie enthaltenen Regelungsauftrags durch Inhalt und Anwendungsbereich der Richtlinie oben Rn. 26. 133 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 168 f. 134 Dies gilt auch dann, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich die Orientierung am europäischen Recht vorgibt oder unmittelbar auf europäisches Gemeinschaftsrecht verweist; Auslegungsmaxime wie Verweisung erfolgen aus nationalem Recht und unterliegen daher der Bindung durch die Verfassung. 135 Insoweit weiter einschränkend BGH, BKR 2020, 253, 255, Rn. 14, wonach jedenfalls in den von der Gesetzlichkeitsfiktion erfassten Fällen eine richtlinienkonforme Auslegung von Art. 247 § 6 Abs. 2 S. 3 EGBGB mit Blick auf Wortlaut, Sinn und Zweck und Gesetzesgeschichte der Norm nicht möglich ist.
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entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass zur Auslegung der Richtlinie deren Anwendungsbereich heranzuziehen ist.136 Da der Gerichtshof aber im Rahmen der Aufgabenteilung des Art. 267 AEUV stets nur das Unionsrecht auslegt, kommen bei der Auslegung der Richtlinie notwendig allein diejenigen Gesichtspunkte zum Tragen, die den Anwendungsbereich der Richtlinie berühren. Insbesondere soweit aus dem weiteren Anwendungsbereich des nationalen Rechts neue Auslegungsgesichtspunkte erwachsen, kommt eine gespaltene Auslegung des nationalen Rechts in Betracht.137 Dies gilt namentlich dann, wenn der Gesetzgeber allein dem Verbraucherschutz 46 dienende Richtlinien durch Normen umsetzt, die in Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs auch für den unternehmerischen Rechtsverkehr Geltung verlangen, wie dies bei der Umsetzung der Klauselrichtlinie durch die §§ 305 ff. BGB, bei der Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf durch das allgemeine Kaufrecht und bei der Umsetzung der Richtlinie zum Schutz der Verbraucher gegen unlautere Geschäftspraktiken durch das deutsche Lauterkeitsrecht der Fall ist. In all diesen Fällen legt der Gerichtshof die Richtlinie allein unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes und dabei nach der gefestigten Maxime aus, dass die Union insgesamt ein hohes Verbraucherschutzniveau anstrebe und verbraucherschützende Rechte daher im Zweifel weit, Ausnahmen von verbraucherschützenden Bestimmungen hingegen im Zweifel eng auszulegen seien.138 Da diese Maximen im Verkehr zwischen Unternehmern nicht notwendig zu sachgerechten Ergebnissen führen und umgekehrt Gesichtspunkte, die für den Rechtsverkehr zwischen Unternehmern bedeutsam sind, bei der Auslegung der Richtlinie notwendig unberücksichtigt bleiben, kommt in diesen Fällen auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung in Betracht.139 Dies gilt umso mehr in Konstellationen, in denen die richtlinienkonform auszulegende Norm aufgrund eines offenen Wortlauts besonders große Auslegungsmöglichkeiten eröffnet und die Konformität mit einer verbraucherschützenden Richtlinie durch Fallgruppenbildung hergestellt werden kann. Geht man daher mit dem BGH davon aus, dass sich der Erfüllungsort der Nacherfüllung grundsätzlich nach § 269 BGB richtet und möglichen Anforderungen der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie im Rahmen von § 269 BGB als im Sinne dieser Norm „für das Schuldverhältnis bedeutsame Umstände“ Rechnung getragen werden kann,140 so spricht alles dafür, dies entgegen dem BGH141 auf den Bereich des Verbrauchsgüter
136 Dazu W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13. 137 Palandt-Grüneberg, Einl. Rn. 44. 138 Dazu zu Recht kritisch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 57 ff. 139 A. A. für das AGB-Recht MünchKommBGB-Basedow, vor § 305 BGB Rn. 36; wie hier hingegen Palandt-Grüneberg, § 310 BGB Rn. 23. 140 So BGH, NJW 2011, 2278 Rn. 39 ff., 47. 141 BGH, NJW 2011, 2278 Rn. 47 a. E.
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kaufes zu beschränken. Denn zum einen bestehen nur insoweit aus der Richtlinie folgende „Umstände des Schuldverhältnisses“. Zum anderen bestehen gerade mit Blick auf die Bestimmung des Leistungsortes zwischen Rechtsgeschäften, an denen ein Verbraucher beteiligt ist, und anderen Rechtsgeschäften sachliche Unterschiede; insbesondere ist es den Parteien im unternehmerischen Rechtsverkehr zuzumuten, Erschwernissen, die aus der Festlegung des Leistungsortes erwachsen, durch entsprechende Parteivereinbarung zu begegnen. 47
Aus den gleichen Gründen liegt eine gespaltene Auslegung auch im Bereich der Bilanzrichtlinien nahe. Denn während der Gerichtshof insoweit stets die Auslegung von Normen vornimmt, die für die Aufstellung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses verbindlich sind, und dabei allein die mit dieser Bilanz verfolgten Zwecke berücksichtigt, kommen im Bereich der Steuerbilanz hiervon abweichende Gesichtspunkte wie der Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung und derjenige der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zum Tragen.
48 Schließlich liegt eine gespaltene Auslegung auch dann nahe, wenn es um in der
Richtlinie nicht enthaltene und damit im richtliniendeterminierten Bereich – soweit eine einschränkende Auslegung möglich ist – nicht anwendbare Tatbestandsmerkmale geht, die bei Lichte betrachtet nicht der Richtlinienumsetzung, sondern der Begrenzung der Reichweite des überschießenden Charakters der nationalen Norm dienen. 49
Zu nennen ist hier die Frage der Zurechnung einer Haustürsituation und damit ein weiteres Versatzstück aus der für die Wissenschaft von der überschießenden Umsetzung noch immer ergiebigen „Heininger-Saga“. Nach der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Heininger, der Berücksichtigung dieser Rechtsprechung durch den BGH in seiner Auslegung des § 5 Abs. 2 HWiG a. F. und der Neufassung der §§ 312a, 355 und 491 Abs. 3 BGB durch das OLG-Vertretungsänderungsgesetz steht mittlerweile fest, dass auch Realkreditverträge, die in den Anwendungsbereich des Haustürwiderrufsrechts fallen, von dem Darlehensnehmer widerrufen werden können.142 Damit hat sich die aktuelle Auseinandersetzung zum einen auf die Rechtsfolgen des Widerrufs und zum anderen auf die Voraussetzung der Anwendung des Haustürwiderrufsrechts verlagert. Was die letztgenannte Problematik angeht, so hatte der Bundesgerichtshof bislang in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass für das Bestehen eines verbraucherschützenden Widerrufsrechts nach § 312 BGB a. F. (s. Rn. 1) nicht nur auf das objektive Bestehen einer Haustürsituation abzustellen ist, sondern auch auf deren Zurechenbarkeit gegenüber dem Unternehmer,143 mithin in den Heininger-Fällen gegenüber der darlehensgewährenden Bank. Dieses Zurechenbarkeitskriterium findet zwar im Wortlaut des § 312 BGB a. F. keine unmittelbare Stütze, es gründet aber auf der allgemeinen Systematik der Verantwortlichkeit für das Handeln Dritter und entspricht dem Willen des historischen Gesetzgebers.144 Die Zurechenbarkeit sollte sich deshalb nach den zu § 123 Abs. 2 BGB entwickelten Grundsätzen beurteilen.145 Allerdings findet sich im Wortlaut der
142 S. bereits Rn. 24; zur Neuregelung durch das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie s. Fn. 5. 143 BGH, NJW 2003, 424, 425; BGH, ZIP 2005, 1314, 1315. 144 Amtliche Begründung zum HWiG, BT-Drs. 10/2876, S. 11. 145 BGH, NJW 2003, 424, 425; s. sodann aber auch BGH, ZIP 2006, 221, 222 f.
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alten Haustürgeschäfterichtlinie – ebenso wie in der Verbraucherrechte-Richtlinie (Rn. 1) – nicht eigens ein Zurechenbarkeitskriterium. Daher hatte das OLG Bremen dem EuGH mit Beschluss vom 27. Mai 2004 unter anderem folgende Frage vorgelegt: „1. Ist es mit Art. 1 I der Richtlinie 85/577/EWG vereinbar, die Rechte des Verbrauchers, insbesondere sein Widerrufsrecht, nicht nur vom Vorliegen einer Haustürsituation nach Art. 1 I der Richtlinie abhängig zu machen, sondern auch von zusätzlichen Zurechnungskriterien wie der vom Gewerbetreibenden bewusst herbeigeführten Einschaltung eines Dritten in den Vertragsabschluss oder von einer Fahrlässigkeit des Gewerbetreibenden hinsichtlich des Handelns des Dritten beim Vertrieb mittels Haustürgeschäft?“146 In ihrer Stellungnahme kommt die Kommission zu dem Schluss, dass ein solches Zurechnungs- 50 kriterium mit der Haustürgeschäfterichtlinie nicht vereinbar sei, denn nach Art. 5 dieser Richtlinie sei Voraussetzung des Widerrufsrechts nur, „a) dass ein Rechtsgeschäft zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden objektiv abgeschlossen wurde, und b) dass dieser Vertragsschluß in einer Haustürsituation zustande kam.“147 Dem haben sich Generalanwalt Legèr in seinem Schlussantrag148 und der EuGH149 in seinem Ur- 51 teil vom 25. Oktober 2005 angeschlossen. Aus Sicht des nationalen Rechts war daher zu entscheiden, ob weiterhin § 312 BGB a. F. einheitlich dahingehend auszulegen ist, dass ein Widerrufsrecht allein das objektive Bestehen einer Haustürsituation voraussetzt, oder ob im Überschussbereich der Norm das Zurechnungskriterium weiterhin Anwendung findet, § 312 BGB a. F. also gespalten auszulegen ist. Der II. und der XI. Zivilsenat des BGH haben sich in nachfolgenden Urteilen dafür ausgesprochen, auf das Kriterium der Zurechnung in Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH insgesamt zu verzichten.150 Demgegenüber ist in diesem Zusammenhang beachtlich, dass das Zurechnungskriterium den Unternehmer vor den Folgen einer durch ihn nicht steuerbaren und nicht veranlassten Haustürsituation schützen soll. Hierzu kann es aber bei Lichte betrachtet allein im Überschussbereich der Norm kommen, denn der wesentlich engere Anwendungsbereich der alten Richtlinie über Haustürgeschäfte setzt einen wirksamen Vertragsschluss zwischen Unternehmer und Verbraucher oder zumindest die Abgabe eines Angebots durch den Verbraucher in der Haustürsituation voraus. Innerhalb des Anwendungsbereichs der alten Haustürgeschäfterichtlinie kann deshalb schon nach nationalem Recht das Zurechnungskriterium des BGH keine begrenzende Wirkung entfalten, denn soweit der Vermittler als rechtsgeschäftlicher Vertreter des Unternehmers (Vertragsschluss in der Haustürsituation!) oder sonst in dessen Namen und für dessen Rechnung handelt (Art. 2 Sps. 2 der Richtlinie), ist auch das Zurechnungskriterium ohne weiteres erfüllt. Im Ergebnis erfüllt damit – lässt man Transparenzerwägungen außer Betracht – das nationale Recht auch nach der Auslegung der bisher herrschenden Meinung den Regelungsauftrag der Haustürgeschäfterichtlinie, was freilich der Vorlagebeschluss des OLG Bremen listig verschwieg. Zumindest aber dürfte der Wegfall des Zurechnungskriteriums innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie keine gravierende Wirkung haben, innerhalb des überschießenden
146 OLG Bremen, NJW 2004, 2238. 147 Kommission, Stellungnahme v. 14.9.2004 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Umdruck S. 13. 148 GA Legèr, Schlussanträge v. 2.6.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, EU:C:2005:351 Tz. 31 ff. 149 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, EU:C:2005:640 Rn. 41 ff. 150 BGH, BB 2006, 346, 347; BGH, BB 2006, 853, 854.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
Bereichs des nationalen Rechts aber eine unabsehbare Ausweitung des Haustürwiderrufsrechts für Unternehmer bewirken. Da umgekehrt der EuGH wie auch der Richtliniengeber wegen des engeren Anwendungsbereichs der Richtlinie gar keine Veranlassung haben, über ein zusätzliches Zurechnungskriterium nachzudenken, spricht in einem solchen Fall alles dafür, die Wirkung der Richtlinie auf deren Anwendungsbereich zu begrenzen und § 312 BGB a. F. gespalten auszulegen.151 Unter Geltung des neuen § 312b BGB stellt sich die Rechtslage freilich anders dar, erfassen dieser und der ihm zugrunde liegende Art. 2 Nr. 8 lit. c) der Verbraucherrechte-Richtlinie (Rn. 1) doch nunmehr ein dem Vertragsschluss in den Geschäftsräumen unmittelbar vorangehendes Ansprechen des Verbrauchers; ein überschießender Bereich des nationalen Rechts existiert insoweit nicht mehr.
52
Nach den hier entwickelten Kriterien können die Entscheidungen des VIII. Zivilsenats in Sachen Weber/Putz und in dem Granulat-Fall (zu beiden Rn. 22) im Ergebnis, nicht aber in der Begründung überzeugen. Was zunächst die Folge der teleologischen Reduktion des § 439 Abs. 3 S. 2 HS. 2 BGB in Weber/Putz betrifft, so ist es zunächst, soweit man die Möglichkeit einer teleologischen Reduktion für eröffnet erachtet, konsequent, diese auf den Richtlinienbereich zu begrenzen. Da indes, wie oben (Rn. 39) dargelegt wurde, in diesem Fall der Gesetzgeber sowohl die Strukturentscheidung getroffen hatte, den Umfang der Pflichten des Verkäufers bei Nacherfüllung mangelhafter Kaufsachen für Verbrauchsgüterkäufe und für sonstige Käufe in § 439 BGB einheitlich zu regeln, als auch die Sachentscheidung, dem Verkäufer das Recht zuzugestehen, bei unverhältnismäßig hohem Aufwand die Nacherfüllung insgesamt zu verweigern, kann ein gesetzgeberischer Wille für die weitere Entscheidung, in welchen Konstellationen die teleologische Reduktion durchzuführen ist, jedenfalls dann nicht fruchtbar gemacht werden, wenn, wie im vorliegenden Fall, ein hypothetischer Wille des Gesetzgebers für den Fall der Richtlinienwidrigkeit der Sachentscheidung schlicht nicht zu ermitteln ist. Weder die grundsätzliche Begrenzung der teleologischen Reduktion auf den Verbrauchsgüterkauf, noch die – gegenüber dem Anwendungsbereich der Richtlinie – Erweiterung auf Verbrauchsgüterkaufverträge im Sinne von §§ 474, 13 BGB konnten daher mit Verweis auf einen Willen des Gesetzgebers begründet werden.152 In der Sache erwiesen sich die vorgenannte Entscheidung gleichwohl als richtig, dies aber deshalb, weil zum einen die nach der ohnehin fraglichen Auffassung des EuGH eine Richtlinienwidrigkeit begründenden Argumente des Verbraucherschutzes nur im B2C-Geschäft Geltung beanspruchen können, während andererseits dem Ausschluss des Nacherfüllungsanspruchs bei unverhältnismäßig hohen Kosten außerhalb des Verbraucherbereiches eine zusätzliche Bedeutung deshalb zukommt, weil Kosteneffizienz im unternehmerischen Rechtsverkehr ein materielles Auslegungskriterium darstellt. Die Reduktion war daher aus teleologischen Gründen zunächst auf den Verbraucherbereich zu begrenzen. Im Ergebnis ebenso zutreffend bestimmte der Bundesgerichtshof den Anwendungsbereich der Reduktion nicht nach dem Verbraucherbegriff der Richtlinie, sondern nach demjenigen der §§ 474, 13 BGB; da es der Systematik des deutschen Kaufrechts entspricht, zwischen Verbrauchsgüterkaufverträgen im Sinne von §§ 474, 13 BGB einerseits und sonstigen Kaufverträgen andererseits zu unterscheiden, konnte die gebotene Normspaltung an im Regelungssystem objektiv angelegten Grenzen verlaufen. Der Gesetzgeber hat freilich mit der
151 Mit gleicher Tendenz bereits Habersack, JZ 2006, 91, 94; Hoffmann, ZIP 2005, 1985, 1988; Thume/ Edelmann, BKR 2005, 477, 479 f.; a. A. BGH, BB 2006, 346, 347; BGH, BB 2006, 853, 854; Hofmann, BKR 2005, 487, 490; Staudinger, NJW 2005, 3521, 3522. 152 Wie hier Weiss, ZRP 2013, 66, 67 ff., Herresthal, JuS 2014, 289, 295; Gsell, Anmerkung zu BGH – VIII ZR 226/11 (Granulatfall), LMK 2013, 343739.
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IV. Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht
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am 1.1.2018 in Kraft getretenen Vorschrift des § 439 Abs. 3 BGB n.F. die Vorgaben des EuGH für alle Kaufverträge übernommen.
IV. Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht Der hybride Charakter der nationalen Normen in Fällen überschießender Umsetzung 53 zeigt sich nicht nur bei der Auslegung des nationalen Rechts, sondern auch bei der im Kollisionsrecht angesiedelten Frage, ob und, wenn ja, inwieweit die nationale Vorschrift trotz Maßgeblichkeit ausländischen Rechts Geltung beansprucht. Hintergrund der besonderen Problematik der überschießenden Richtlinienumsetzung ist insoweit nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung und deren Umsetzung innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie, sondern die europarechtliche Pflicht zur internationalprivatrechtlichen Rechtsdurchsetzung zwingender Richtlinienvorgaben in Fällen, in denen an sich das Recht eines Drittstaates zur Anwendung berufen wäre, nach der Entscheidung des EuGH in Sachen Ingmar GB Ltd.153 Da die europarechtlich geschuldete Rechtsdurchsetzung national über Art. 46b EGBGB oder ggf. unter Rückgriff auf Art. 9 Rom I-VO erreicht werden kann, stellt sich auch hier die Frage, ob im Falle einer überschießenden Umsetzung die nationale Umsetzungsnorm kollisionsrechtlich mit ihrem nationalen Anwendungsbereich Geltung oder nur insoweit Geltung beansprucht, als diese Norm der Richtlinienumsetzung dient. Bedenkt man, dass die Rechtsdurchsetzungspflicht nur im Anwendungsbereich der Richtlinie bestehen kann, dass einer gespaltenen Anwendung der nationalen Norm keine zwingenden Gründe des nationalen Rechts entgegenstehen und dass es die internationalprivatrechtliche Vertragstreue nahelegt, das anzuwendende Recht außerhalb eines zwingenden Geltungsanspruchs nach den IPR-Regeln zu bestimmen,154 so spricht alles dafür, die Umsetzungsnorm nur in den Fällen als Sachrecht zur Anwendung zu berufen, die von der entsprechenden Richtlinie selbst erfasst werden. Daher sind mit der ganz überwiegenden und zutreffenden Auffassung durch die Sonderanknüpfung von Art. 46b EGBGB zwar die der Richtlinienumsetzung dienenden nationalen Vorschriften einschließlich einer möglichen inhaltlichen Übererfüllung der Richtlinie zur Anwendung berufen,155 dies jedoch nur in Fällen, die im jeweiligen Anwendungsbereich der Richtlinie selbst liegen.156 Nach der zu Art. 34 EGBGB a. F. ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist darüber hinaus auch eine Rechtsdurchsetzung
153 EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-381/98 Ingmar GB Ltd, EU:C:2000:605 Rn. 25 f.; dazu Freitag/Leible, RIW 2001, 287 ff.; Kindler, BB 2001, 11 ff. 154 Dazu BGH, NJW 2006, 762 Rn. 28 mwN. 155 Staudinger-Magnus, Art. 46b EGBGB Rn. 53; MünchKommBGB-Martiny, Art. 46b EGBGB Rn. 75. 156 Staudinger-Magnus, Art. 46b EGBGB Rn. 53; MünchKommBGB-Martiny, Art. 46b EGBGB Rn. 16 ff. Unklar Palandt-Thorn, Art. 46b EGBGB Rn. 3: Der sachliche Anwendungsbereich ergebe sich „allein aus der Richtlinie bzw. dem nationalen Umsetzungsakt“.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
unter Rückgriff auf die Befugnis zur Durchsetzung von Eingriffsnormen (jetzt Art. 9 Rom-I-VO) allenfalls im jeweiligen Anwendungsbereich der Richtlinie selbst möglich.157
V. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs 54 Abschließend ist auf die Frage einzugehen, ob das nationale Gericht berechtigt sowie
ggf. sogar verpflichtet ist, ein Vorabentscheidungsverfahren auch in Fällen einzuleiten, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den auch der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfasst werden. Dabei sei zunächst auf die andernorts ausführlich beschriebenen, auf nationalem wie auf europäischem Recht gründenden Bedenken gegen eine Vorlagebefugnis – und erst Recht gegen eine Vorlagepflicht – in Fällen überschießender Umsetzung verwiesen.158 An dieser Stelle gilt es allein, die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des EuGH vor dem Hintergrund der mittlerweile deutlich vorangekommenen mitgliedstaatlichen Dogmatik der Auslegung nationalen Rechts im Überschussbereich zu würdigen.
1. Rechtsprechung des EuGH 159 beantwortet der EuGH Fragen nach der 55 In nunmehr gefestigter Rechtsprechung
Auslegung europäischer Richtlinien auch dann, wenn der streitgegenständliche Fall außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie angesiedelt, aber eine Auslegung der Richtlinie infolge einer nationalen Erstreckung zur Entscheidung des Verfahrens vor dem mitgliedstaatlichem Gericht erforderlich ist. Der Gerichtshof überlässt die Frage, ob eine solche Auslegung erforderlich ist, grundsätzlich der Einschätzung durch das vorlegende Gericht und beschränkt sich auf eine Missbrauchskontrolle.160
157 So BGH, ZIP 2009, 2004 Rn. 32; zuvor bereits BGH, NJW 2006, 762 Rn. 29; für Anwendung des Art. 34 EGBGB a. F. auch im Überschussbereich hingegen Pfeiffer, IPRax 2006, 238, 241. Allgemein zum Verhältnis von Art. 9 Rom-I-VO und Art. 46b EGBGB Staudinger-Magnus, Art. 46b EGBGB Rn. 27. 158 Eingehend Habersack/Mayer, JZ 1999, 913 ff.; zur entsprechenden Problematik im Rahmen der §§ 1, 2 Abs. 1 GWB s. Ackermann, in diesem Band, § 19 Rn. 37 f. 159 S. namentlich EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, EU:C:2003:3 Rn. 88 ff. mit zahlreichen Nachweisen zur älteren Rechtsprechung; aus jüngerer Zeit EuGH v. 26.03.2020 Rs. C-66/19 Sparkasse Saarlouis EU:C:2020:242 Rn. 23 ff. So auch die überwiegende Meinung in der Literatur, z. B. Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 484 ff.; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 198 ff.; Lutter, FS Heldrich, S. 577 ff.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 693 ff.; Schön, JbFfSt 2001/2002, 29, 31 ff.; krit. demgegenüber neben Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919 ff. insbes. Hakenberg, RabelsZ 66 (2002), 367, 378 f., Grigoleit/Herresthal, JZ 2003, 118, 119 und Schollmeyer NZG 2020, 589, 590. 160 Zu dieser Missbrauchskontrolle s. namentlich EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 Paul der Weduwe, EU:C:2002:735.
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V. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs
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2. Präzisierung der Fragestellung Nach den bislang getroffenen Feststellungen gründet die Richtlinienorientierung der 56 Auslegung des nationalen Rechts im Überschussbereich allein auf nationalem Recht. In diesem Bereich wirkt die Richtlinie nicht durch richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel; sie stellt vielmehr einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung dar (oben Rn. 37). Ob im Ergebnis eine einheitliche oder eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm vorzunehmen ist, hängt seinerseits bisweilen von dem Ergebnis der Auslegung der Richtlinie durch den EuGH ab, da im Rahmen dieser Gesamtabwägung auch zu berücksichtigen ist, inwieweit sich die richtlinienkonforme Auslegung von der ursprünglichen Sachentscheidung des Gesetzgebers entfernt. Die für die Vorlageberechtigung und ggf. Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte entscheidende Frage lautet daher, ob eine Vorlage auch dann möglich ist, wenn die Richtlinie weder nach europäischem noch nach nationalem Recht unmittelbar anwendbar ist, die Richtlinie aber nach nationalem Recht einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung bildet und der Richtlinie innerhalb dieser Gesamtabwägung zwar Gewicht, aber kein Vorrang zukommt.
3. Vorlagemöglichkeit? Versucht man die soeben formulierte Frage mit den vom EuGH entwickelten Kriterien 57 zu beantworten, so zeigt sich, dass die Rechtsprechung hierzu keineswegs eindeutig ist, insbesondere die Urteile des Gerichtshofs in Sachen Nolan161 und in Sachen Romeo162 vielmehr neuerlich Zweifel an einer Vorlageberechtigung deutscher Gerichte in Fällen überschießender Umsetzung begründen. Einerseits betont der EuGH in seiner Dzodzi-Rechtsprechung (oben Rn. 29) den 58 Kooperationscharakter des Verfahrens nach Art. 267 AEUV und gewährt damit den mitgliedstaatlichen Gerichten ein weites Vorlageermessen. Nach diesem Begründungsstrang sind Vorlagen deutscher Gerichte zulässig.163 Andererseits hat der Gerichtshof bislang davon Abstand genommen, die in Kleinwort Benson entwickelten Kriterien eines unmittelbaren und zwingenden Verweises des nationalen Rechts auf Unionsrecht164 aufzugeben. Bereits den von den Generalanwälten vorgebrachten Be-
161 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-583/10 Nolan, EU:C:2012:638. 162 EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-313/12 Romeo, EU:C:2013:718. 163 Auch in Sparkasse Saarlouis, Urt. v. 26.3.2020, Rs. C-66/19 EU:C:2020:242 begründet der EuGH die Zulässigkeit der Vorlage in Rn. 30 der Entscheidung damit, es spreche eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts. 164 EuGH v. 28.3.1995 – Rs. C-346/93 Kleinwort Benson, EU:C:1995:85 Rn. 16; krit. dazu Ackermann, in diesem Band, § 19 Rn. 37 f.
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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
denken gegen ein Vorabentscheidungsverfahren, welches den Charakter eines Rechtsgutachtens hätte,165 begegnete der Gerichtshof durch Hinweis auf die Bindung der mitgliedstaatlichen Gerichte an das Ergebnis des Vorabentscheidungsverfahrens.166 Und in den Entscheidungen in Sachen Nolan und in Sachen Romeo weist der Gerichtshof die Vorlage als unzulässig zurück, weil der streitgegenständliche Sachverhalt jeweils außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie gelegen habe und das zur Anwendung berufene nationale Recht keinen unbedingten und zwingenden Verweis auf die entsprechende Richtlinie enthalte.167 Betrachtet man diesen Begründungsstrang, so sind auch nach der Rechtsprechung des EuGH Vorlagen deutscher Gerichte bei überschießender Umsetzung von Richtlinien unzulässig. Die gegenteiligen Sachentscheidungen des EuGH beruhen dann einerseits auf einer Fehleinschätzung der nationalen Gerichte hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV und andererseits auf einer Fehleinschätzung des EuGH hinsichtlich der Wirkung und Verbindlichkeit seiner Urteile bei richtlinienorientierter Auslegung im Rahmen der überschießenden Umsetzung von Richtlinien.
VI. Ausblick 59 Die mit der überschießenden Umsetzung von Richtlinien verbundenen Probleme ge-
hören zu den dogmatisch reizvollen und dabei gleichzeitig praxisrelevanten Methodenfragen unserer Tage. Der gegenwärtige Trend zu einer Ausdehnung der Grenzen
165 Zusammenfassend GA Jacobs, Schlussanträge v. 15.11.2001 – Rs. C-306/99 BIAO, EU:C:2001:608 Tz. 61. 166 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, EU:C:2003:3 Rn. 92. Zu kurz greift daher der Ansatz von Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 201 ff. und S. 217 ff., wonach eine Bindungswirkung schon deshalb bestehe, weil das vorlegende Gericht an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH gebunden sei, und der EuGH die u. a. in Kleinwort-Benson und BIAO aufgestellten zusätzlichen Voraussetzungen aufgeben solle. Die Schwierigkeiten, die mit der vorherigen Bestimmung einer künftigen Bindung an ein zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erlassenes und notwendig unbekanntes Urteil einher gehen, zeigt denn auch eindrucksvoll die weitere Entwicklung der Rechtsprechung zu Widerrufsmöglichkeiten von Immobiliendarlehensverträgen, die zur Berechnung der Widerrufsfrist auf § 492 Abs. 2 BGB verweisen. Wie dargelegt, hatte der EuGH in Sachen Sparkasse Saarlouis die eigene Zuständigkeit bejaht, obschon der streitgegenständliche Darlehensvertrag ersichtlich nicht in den Anwendungsbereich der Verbraucherkreditrichtlinie fiel und die Bundesregierung in dem Verfahren vor dem EuGH erklärt hatte, der deutsche Gesetzgeber habe keine Entscheidung getroffen, die Vorschriften der Richtlinie außerhalb von deren Anwendungsbereich anzuwenden. Letzteres nahm der Bundesgerichtshof zum Anlass, nur wenige Tage nach Erlass des Urteils des EuGH zu beschließen, dass die Verbraucherkreditrichtlinie außerhalb ihres Anwendungsbereiches keine Wirkung entfaltet. 167 So EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-583/10 Nolan, EU:C:2012:638 Rn. 47, 51 und EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-313/12 Romeo, EU:C:2013:718 Rn. 23. Zur Reaktion des – überrascht wirkenden – vorlegenden Court of Appeal zur Entscheidung in Sachen Nolan s. Court of Appeal v. 4.2.2014 [2014] EWCA Civ 7.
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VI. Ausblick
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richtlinienkonformer Auslegung168 und zu einer unmittelbaren Geltung der Grundfreiheiten auch zwischen Privaten169 nimmt dem Problem der überschießenden Umsetzung nichts von seiner Bedeutung. Im Gegenteil: Je weiter die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung sind und je unmittelbarer Unionsrecht innerhalb seines Anwendungsbereichs wirkt, desto schärfer stellt sich die Frage nach der mittelbaren Wirkung des Unionsrechts bei überschießender Umsetzung.
168 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 116; BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff.; s.a. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 33 ff. 169 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, EU:C:2000:296 Rn. 30 ff.
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§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien Literatur: Thomas v. Danwitz, Rechtswirkungen von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH, JZ 2007, 697–706; Ulrich Ehricke, Vorwirkungen von EU-Richtlinien auf nationale Gesetzgebungsvorhaben, ZIP 2001, 1311–1317; ders., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts vor Ende der Umsetzungsfrist, EuZW 1999, 553–559; Martin Franzen, Anmerkung zu EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, JZ 2007, 191–194; Vera I. Gronen, Die „Vorwirkung“ von Richtinien (2006); Christoph Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung (2003); Christian Hofmann, Die zeitliche Dimension der richtlinienkonformen Auslegung, ZIP 2006, 2113–2118; Abbo Junker/Oliver Aldea, Augenmaß im Europäischen Arbeitsrecht – Die Urteile Adeneler und Navas, EuZW 2007, 13–17; Jürgen Kühling, Vorwirkungen von EG-Richtlinien bei der Anwendung nationalen Rechts – Interpretationsfreiheit für Judikative und Exekutive?, DVBl. 2006, 857–866; Jörg Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Johannes Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung – Beiträge für Claus-Wilhelm Canaris zum 65. Geburtstag (2002), S. 83–112; Anna v. Oettingen/David Rabenschlag, Europäische Richtlinien und allgemeiner Gleichheitssatz im innerstaatlichen Recht – Anmerkungen anlässlich des Mangold-Urteils des EuGH, ZEuS 2006, 363–380; Anne Röthel, Vorwirkung von Richtlinien: viel Lärm um Selbstverständliches, ZEuP 2009, 34–55; Utz Schliesky, Die Vorwirkung von gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien, DVBl. 2003, 631–641; Wolfgang Weiß, Zur Wirkung von Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, DVBl. 1998, 568–575; Hinnerk Wollenweber, Das „Mangold“-Urteil und die unmittelbare Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Diskriminierungsverbote im deutschen Arbeitsrecht (2008).
Rechtsprechung: EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, EU:C:1979:110; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628; EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/ 02 ATRAL, EU:C:2003:265; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, EU:C:2004:76; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443; EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-138/05 Stichting Zuid Hollandse Milieufederatie, EU:C:2006:577; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21; EuGH v. 24.3.2011, Rs. C-194/10 Abt et al. gegen Hypo Real Estate Holding, EU:C:2011:182; EuGH v. 27.6.2013 – Rs. C-457/11 bis C-460/11 Verwertungsgesellschaft Wort gegen Kyocera et al., EU:C:2013:426; BGHZ 138, 55–66; BGH, NJW 2012, 2422; BVerwGE 100, 370–388; BVerwGE 110, 302–320; KG, WM 2011, 493 = BeckRS 2010, 31105.
Systematische Übersicht Einleitung 1–2 Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien 3–6 1. Umsetzungspflicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist 3 2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung 4–5 3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge 6 III. Das sog. Frustrationsverbot 7–25 1. Die Rechtsprechung des EuGH 8–15
a)
I. II.
2. 3. 4.
Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie 8–9 b) Die Vorgaben in den Rechtssachen ATRAL, Mangold, Stichting und Abt 10–15 Keine generelle Sperrwirkung 16–17 Rechtsfolgen des Frustrationsverbots 18–19 Keine Auswirkungen auf die Horizontalwirkung von Richtlinien 20–25 Hofmann
https://doi.org/10.1515/9783110614305-015
494
§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien
IV. Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts 26–58 1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist 27–28 2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden 29–38 a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler 30–35 b) Rechtsprechung deutscher Gerichte 36–38
3.
V.
Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung 39–58 a) Meinungsstand 39–43 b) Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 44–48 c) Nationale Vorgaben 49–50 d) Europäische Vorgaben 51–58 Die Vorwirkung von Richtlinien und die nationale Verwaltungspraxis 59–64
I. Einleitung 1 Der Begriff der „Vorwirkung von Richtlinien“ steht für die Rechtswirkungen, die eine
Richtlinie im Stadium zwischen Inkrafttreten und Ablauf der Umsetzungsfrist auf das nationale Recht entfaltet.1 Es geht dabei um die Reichweite der Verpflichtung nationaler Stellen, die Bestimmungen der Richtlinie während des Laufs der Umsetzungsfrist zu beachten. Die wesentlichen Vorgaben finden sich in den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, Mangold und Adeneler, ergänzend treten ATRAL und Stichting Zuid-Hollandse Milienfederatie hinzu. 2 Ausgehend von den allgemeinen Grundsätzen zur Wirkung von Richtlinien im nationalen Recht (dazu II.) soll das aus der EuGH-Rechtsprechung entnommene sog. Frustrationsverbot erläutert werden (unter III.). Darin erschöpft sich die Vorwirkungsproblematik nicht, denn einer in Kraft getretenen Richtlinie können vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist weitere Vorgaben für alle nationalen Stellen entspringen, vor allem für die Rechtsprechung, gerade, aber nicht nur in den von Richterrecht geprägten Bereichen. Hierzu existieren neben der Rechtsprechung des EuGH auch Urteile deutscher Gerichte (unter IV.). Die nationale Rechtsprechung bildet auch die Grundlage für die letzte Frage, die nach der Verpflichtung der Verwaltung, bei der Anwendung nationalen Rechts die Gefahr einer möglichen Vereitelung der Richtlinienziele berücksichtigen zu müssen (unter V.).
1 Ähnlich Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633. Hofmann
II. Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien
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II. Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien 1. Umsetzungspflicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist Im Unterschied zu EU-Verordnungen sind EU-Richtlinien im Sinne von Art. 288 Abs. 3 3 AEUV/249 Abs. 3 EG nur hinsichtlich ihrer Zielvorgaben verbindlich, während die Modalitäten der Umsetzung den Mitgliedstaaten überlassen bleiben.2 Für die Einpassung in das nationale Recht steht den Mitgliedstaaten die in der Richtlinie angeordnete Umsetzungsfrist zur Verfügung.3 Ist diese Frist abgelaufen, müssen nicht nur die Vorgaben der Richtlinie im nationalen Recht umgesetzt sein. Darüber hinaus dürfen die Umsetzungsvorschriften sowie das gesamte nationale Recht nur noch in einer richtlinienkonformen Weise verändert werden.4 Für die Rechtsprechung bedeutet der Ablauf der Umsetzungsfrist, dass sie das nationale Recht, das in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fällt, im Lichte von Wortlaut und Zweck der Richtlinie auslegen muss,5 und zwar auch dann, wenn es unverändert schon vor Erlass der Richtlinie bestand.6 Gleiches gilt für die Rechtsanwendung durch die nationale Verwaltung.7
2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung Die Frage nach der Vorwirkung von Richtlinien ist zugleich die Frage nach dem zeitli- 4 chen Beginn der normativen Bindungswirkung einer Richtlinie. Durch die Umsetzungsfrist unterscheidet sich die Richtlinie nicht nur von der Verordnung, sondern auch von nationalen Gesetzen, die zugleich mit Inkrafttreten ihre vollen Rechtswirkungen entfalten.8
2 Statt aller Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 120. 3 EuGH v. 22.9.1976 – Rs. 10/76 Kommission ./. Italien, EU:C:1976:125 Rn. 11 f.; EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, EU:C:1982:7 Rn. 18. 4 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 130. 5 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, EU:C:1984:155 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431 Rn. 12; EuGH v. 7.11.1989 – Rs. 125/88 Nijman, EU:C:1989:401 Rn. 6; aus der deutschen Rspr. vgl. BGH, NJW 1993, 3139. Einzelheiten bei W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 16. 6 EuGH 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU:C:1990:395 Rn. 8. S.a. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 16. 7 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Constanzo Spa, EU:C:1989:256 Rn. 28–33; EuGH v. 29.4.1999 – Rs. C-224/97 Ciola ./. Land Voralberg, EU:C:1999:212 Rn. 30; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 648; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Schill/Krenn, Art. 4 EUV Rn. 70. 8 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 635; Neuner, in: Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 86; vgl. auch Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 645; Sack, WRP 1998, 241, 243.
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5
§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien
Richtlinien hingegen treten gemäß Art. 297 AEUV/254 EG nach den dort vorgeschriebenen Verfahren in Kraft, schieben jedoch ihre wesentlichen Rechtswirkungen bis zum Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist hinaus.9 Zu nennen ist insbesondere die nach Ablauf der Umsetzungsfrist mögliche unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie.10 Der Einzelne kann sich gegenüber dem Staat auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen, wenn diese inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen und die Richtlinie nicht oder nur unzulänglich umgesetzt wurde.11 Demgegenüber ist es den staatlichen Stellen untersagt, die Bestimmungen einer nicht umgesetzten Richtlinie zulasten des Einzelnen anzuwenden, unabhängig davon, ob zum maßgeblichen Zeitpunkt die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist.12 Zugleich ist auch die Phase vor Ablauf der Umsetzungsfrist nicht frei von Rechtswirkungen.13 Das mit der Richtlinie verfolgte Harmonisierungsziel ist bereits endgültig konkretisiert und der Umsetzungsbefehl an die Mitgliedstaaten ergangen.14 Die Richtlinie ist daher schon in dieser Phase hinsichtlich ihrer Ziele verbindlich und wird insoweit Bestandteil der nationalen Rechtsordnung.15 Für Richtlinien gilt damit eine graduelle Wirkungsintensität: die erste Stufe beginnt mit Inkrafttreten, die zweite mit Ablauf der Umsetzungsfrist.16
9 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 118; Weiß, DVBl. 1998, 568, 570; zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien nach Ablauf der Umsetzungsfrist vgl. auch BVerfGE 75, 223, 234 ff.; vgl. auch EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, EU:C:1979:110 Rn. 43– 45, wonach die Mitgliedstaaten innerhalb der Umsetzungsfrist ihre Handlungsfreiheit behalten; zu Zwangsgeldern wegen Nichtumsetzung EuGH v. 4.7.2000 – Rs. C-387/97 Kommission ./. Griechenland, EU:C:2000:356 Rn. 79–99; GA Jacobs, Schlussanträge v. 25.6.1992 – Rs. C-156/91 Hansa Fleisch Ernst Mundt, EU:C:1992:279 Tz. 13. 10 Dazu allgemein EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, EU:C:1979:110 Rn. 43– 45; EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, EU:C:1986:84 Rn. 46; EuGH v. 10.11.1992 – Rs. C-156/91 Hansa Fleisch Ernst Mundt, EU:C:1992:423 Rn. 19 f.; ausführlich Calliess/Ruffert-Calliess/Kahl/Puttler, Art. 4 EUV Rn. 96–100; Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, Rn. 149–151; Gronen, Die „Vorwirkung“ von Richtlinien, S. 130 f. 11 EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, EU:C:1982:7 Rn. 25; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431 Rn. 7; EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, EU: C:1979:110 Rn. 43–45. 12 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431 Rn. 15 f.; Schwarze-Biervert, Art. 288 AEUV Rn. 30. 13 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 41. 14 Ehricke, ZIP 2001, 1311, 1313. 15 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 638. 16 Vgl. dazu Schliesky, DVBl. 2003, 631, 636; GA Jacobs, Schlussanträge v. 24.4.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:216, Tz. 30, 39.
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III. Das sog. Frustrationsverbot
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3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge Obgleich sich Inhalt und Ziele einer Richtlinie mitunter schon Jahre vor ihrem Erlass 6 in den Richtlinienvorschlägen der Kommission abzeichnen, geht von solchen Vorschlägen keine Bindungswirkung für die Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten aus. Vor Erlass der Richtlinie fehlt es an einem rechtswirksamen Legislativakt im Sinne von Art. 288 AEUV/249 EG. Den Kommissionsvorschlägen fehlt es an gesetzgeberischer Legitimation,17 und es ist in diesem Stadium noch unklar, ob und mit welchem Inhalt ein Rechtsakt der Union zustande kommen wird.18
III. Das sog. Frustrationsverbot Ist die Richtlinie hingegen in Kraft getreten, existiert ein Rechtsakt der Union, aus 7 dem sich der Umsetzungsbefehl an den nationalen Gesetzgeber ergibt. Da die Richtlinienziele erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist im nationalen Recht gelten müssen, darf der Gesetzgeber zunächst untätig bleiben, also richtlinienwidriges altes Recht unverändert lassen, andererseits jedoch auch darauf verzichten, die Umsetzungsfrist (voll) auszuschöpfen, und schon vor Ablauf die nationalen Vorschriften an die Richtlinienziele anpassen. Problematisch ist ein dritter Fall, wonach der Gesetzgeber während des Laufs der Umsetzungsfrist tätig wird und Vorschriften erlässt, die mit den Richtlinienzielen nicht zu vereinbaren sind. Diese Konstellation betrifft die Frage nach der gesetzgeberischen Freiheit in der Umsetzungsphase.
1. Die Rechtsprechung des EuGH a) Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie Ausgangspunkt zur Beurteilung der gesetzgeberischen Spielräume während der Um- 8 setzungsphase ist die EuGH-Entscheidung Inter-Environnement Wallonie.19 In dieser ging es um ein belgisches Gesetz, das in der Umsetzungsphase erlassen worden war
17 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633; Gronen, Die „Vorwirkung“ von Richtlinien, S. 21; vgl. auch Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 64, im Zusammenhang mit der Frage nach einer Heranziehung von Regelungsentwürfen für eine systematische Auslegung. 18 Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 28; Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633; Neuner, in: Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 110 f.; ders., in diesem Band, § 12 Rn. 20; Meßerschmidt, ZG 1993, 11 f.; i.Erg. auch Hilf, EuR 1993, 1, 7; Callies/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 24; nach dem Maß der Konkretisierung des Vorschlags einschränkend Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen (1994), S. 141 f. 19 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628.
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und mit den Umweltzielen der umzusetzenden Richtlinie nicht im Einklang stand. Der EuGH kam zu dem Schluss, dass die Mitgliedstaaten aus (den heutigen) Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV, Art. 288 Abs. 3 AEUV und aus der Richtlinie verpflichtet seien, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel bei Ablauf der Umsetzungsfrist zu erreichen. Daraus ergebe sich, dass während des Laufs der Unsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen werden dürften, die geeignet seien, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen.20 Dem nationalen Gericht obliege die Prüfung, ob die Ziele der Richtlinie durch die gesetzgeberischen Maßnahmen ernstlich in Frage gestellt würden. Es habe insbesondere zu prüfen, ob die nationalen Vorschriften eine vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellten, ihre Geltungsdauer zu beachten und die konkreten Folgen einer Anwendung dieser Vorschriften für die Ziele der Richtlinie zu untersuchen. Stelle die gesetzliche Regelung eine vollständige und endgültige Umsetzung dar und stimme sie mit den Vorgaben der Richtlinie nicht überein, sei zu vermuten, dass das vorgegebene Ziel nicht fristgerecht erreicht werde, wenn eine rechtzeitige Änderung der Vorschriften nicht mehr möglich sei. Demgegenüber stelle der Erlass vorläufiger Vorschriften oder die schrittweise Umsetzung die Ziele der Richtlinie nicht zwangsläufig in Frage.21 9 Der EuGH versteht die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten daher nicht nur im Sinne einer Verpflichtung zu fristgemäßer Umsetzung des Richtlinienziels. Das ist selbstverständlich und nur eine Mindestanforderung. Hinzu tritt vielmehr das Verbot, durch zwischenzeitliche Maßnahmen die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu gefährden. In Anlehnung an das aus Art. 18 WVK22 resultierende Prinzip wird dieser Grundsatz verbreitet als „Frustrationsverbot“ bezeichnet.23
20 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 40, 44 f.; bestätigt durch EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, EU:C:2004:76, Rn. 66; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/ 04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 117–121; so auch schon GA Jacobs, Schlussanträge v. 24.4.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:216 Tz. 30, 39; vgl. dazu die Berichterstattung und Folgerungen von Van Calster, E.L.Rev. 23 (1998), 385, 389; zustimmend Schwarze-Biervert (Vorauflage 2012), Art. 288 AEUV Rn. 14; Lenz/Borchardt-Hetmeier, Art. 288 AEUV Rn. 11. 21 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 46–49. 22 Vgl. dazu Weiß, DVBl. 1998, 568, 571. 23 Streinz-Streinz, Art. 4 EUV Rn. 69; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 645 f.; v. Danwitz, JZ 2007, 697, 700; Streinz, Europarecht, Rn. 514; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 372; Wollenweber, Das „Mangold“-Urteil und die unmittelbare Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Diskriminierungsverbote, S. 93 f.; sinngemäß Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 133 (aber ohne Verwendung des Terminus Frustrationsverbot). Gegen jede Art der Vorwirkung spricht sich Zuleeg, ZGR 1980, 466, 481 f., aus.
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b) Die Vorgaben in den Rechtssachen ATRAL, Mangold, Stichting und Abt Diese Grundsätze wurden in weiteren Entscheidungen bestätigt, zunächst in der 10 Rechtssache ATRAL.24 Der Kläger hatte Alarmsysteme in Belgien in den Verkehr gebracht und hierbei die Vorgaben der einschlägigen Richtlinie 1999/5/EG25 erfüllt. Die Umsetzungsfrist war jedoch noch nicht abgelaufen, und der belgische Staat hatte eine Verordnung erlassen, die das Inverkehrbringen der Alarmsysteme einem Genehmigungsverfahren unterwarf, was mit den Vorgaben der Richtlinie nicht vereinbar war. Der EuGH entschied, der belgische Staat hätte während des Laufs der Umsetzungsfrist der Richtlinie einen Rechtsakt, der den Vorgaben der Richtlinie zuwider ein Genehmigungsverfahren einführte, nicht erlassen dürfen, da hierdurch die Erreichung der Richtlinienziele ernstlich gefährdet sei.26 Die Entscheidung in der Rechtssache Mangold27 betraf eine Altersregelung im 11 deutschen Teilzeit- und Befristungsgesetz. Der EuGH bestätigte wiederum seine Kernaussage in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie, wonach die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen dürfen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage zu stellen. Dabei wurde erstmals klargestellt, dass dies unabhängig davon gilt, ob die betroffene, nach Inkrafttreten der Richtlinie erlassene nationale Regelung die Umsetzung der Richtlinie bezweckt. Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn die gesetzliche Regelung nur wenige Wochen nach Ablauf der Umsetzungsfrist außer Kraft tritt.28 Entscheidend ist die Wirkung der Vorschrift auf die Zeit nach Ablauf der Umsetzugsfrist, nicht ihre Weitergeltung. Das Frustrationsverbot begründete der EuGH in Mangold einerseits mit einer Be- 12 sonderheit des Einzelfalls, die darin bestand, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Verlängerung der Umsetzungsfrist zugestanden bekommen hatte, dabei aber zur jährlichen Berichterstattung über die zur Erreichung der Richtlinienziele unternommenen Maßnahmen verpflichtet wurde. Ein solches Zugeständnis impliziere, dass der Mitgliedstaat Maßnahmen ergreife, um die nationalen Vorschriften dem in der Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnis anzunähern. Wäre es dem Mitgliedstaat gestattet, in dieser Zeit Maßnahmen zu erlassen, die mit den Zielen der Richtlinie unvereinbar
24 EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, EU:C:2003:265. 25 Richtlinie 1999/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9.3.1999 über Funkanlagen und Telekommunikationseinrichtungen und die gegenseitige Anerkennung ihrer Konformität, ABl. 1999 L 91/10. 26 EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, EU:C:2003:265 Rn. 57–60. 27 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709. Das Urteil hat in der Literatur vor allem wegen seiner arbeitsrechtlichen Konsequenzen Beachtung gefunden, siehe etwa Thüsing, ZIP 2005, 2149–2151; E. Müller, ArbRB 2006, 4; Strybny, BB 2005, 2753 f.; Annuß, BB 2006, 325–327; Nicolai, DB 2005, 2641; Koenigs, DB 2006, 49 f.; Gas, EuZW 2005, 737; Reich, EuZW 2006, 20–22; Brock/Windeln, EWiR 2005, 869; Streinz, JuS 2006, 357–361; Bauer/Arnold, NJW 2006, 6–12. 28 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 67, 70.
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sind, wäre der Verpflichtung jede Wirksamkeit genommen.29 Darüber hinaus stützte der EuGH das Verbot auf den Umstand, dass einige der von dem Übergangsgesetz Betroffenen auch nach Auslaufen des Gesetzes nicht mehr von den dann geltenden arbeitnehmerfreundlicheren Regelungen hätten profitieren können.30 Mit diesem zweiten Ansatz schlug der EuGH die Brücke zu seiner Entscheidung in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie. Der EuGH lässt auch Übergangsregelungen nicht gelten, wenn sie vollendete Tatsachen schaffen und sich hierdurch auf die von der Richtlinie Geschützten nachteilig auswirken. Dies entspricht dem Verbot in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie, die Ziele der Richtlinie ernstlich in Frage zu stellen, und stellt einen typischen Anwendungsfall dieser Grundsätze dar.31 13
Hinzu kam, dass die nationale Maßnahme nach Auffassung des EuGH gegen einen – vom Gericht in Mangold erstmals postulierten, danach bestätigten und nach wie vor höchst umstrittenen32 – allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, das Verbot der Altersdiskriminierung, verstieß. Zu diesem Verstoß stellte der EuGH fest, die Wahrung des Grundsatzes könne nicht vom Ablauf der Umsetzungsfrist abhängen. Das ausdrückliche Gebot an die nationalen Gerichte, keine entgegenstehende nationale Bestimmung anzuwenden, selbst wenn die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist, bezog der Gerichtshof auch nur auf diesen Verstoß; gleichwohl hätte auch die vom Gerichtshof festgestellte Gefährdung der Richtlinienziele eine derartige Verpflichtung der nationalen Gerichte zu begründen vermocht, s. sogleich (Rn. 18 f.).
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Schließlich wurden diese Grundsätze in der Entscheidung Stichting Zuid-Hollandse Milieufederatie33 auf eine Sonderkonstellation angewandt. Die betroffene Richtlinie gestattete, die nationalen Vorschriften für Pflanzenschutzmittel über einen längeren Zeitraum schrittweise an die Richtlinienvorgaben heranzuführen. Der EuGH strich die Parallele zur Vorwirkung von Richtlinien heraus und entschied, dass auch während dieses Übergangszeitraums die Ziele der Richtlinie zu beachten seien. Der nationale Gesetzgeber sei daran gehindert, während des Übergangszeitraums Vorschriften zu erlassen, mit denen die Richtlinienziele ernsthaft in Frage gestellt werden könnten.34
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In der Entscheidung Abt et al. gegen Hypo Real Estate Holding äußerte sich der EuGH nicht zu mit der Vorwirkungsproblematik verbundenen Sachfragen, sondern zur Zulässigkeit von Vorlagefragen. Er wies die Vorlagefrage zur Vorwirkungsthematik als unzulässig ab, da die vorgelegte Frage „für die in diesem Rechtsstreit zu treffende Entscheidung offensichtlich nicht erheblich“ war.35 Das Verfahren betraf die Aktionärsrechte-Richtlinie 2007/36/EG, in der Mindestfristen für die Einberufung der Hauptversammlung angeordnet werden. Das LG München hatte die Frage vorgelegt,36 ob der deutsche Gesetzgeber gehindert gewesen war, während der Umsetzungsfrist die-
29 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 70–72. 30 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 73. 31 Röthel, ZEuP 2009, 34, 39. 32 Bestätigt durch EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 21. Zur Kritik siehe etwa Preis, NZA 2006, 401–410; Rebhahn/Franzen, in diesem Band, § 17 Rn. 66. 33 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-138/05 Stichting Zuid Hollandse Milieufederatie, EU:C:2006:577. 34 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-138/05 Stichting Zuid Hollandse Milieufederatie, EU:C:2006:577 Rn. 42– 48. 35 EuGH v. 24.3.2011 – Rs. C-194/10 Abt et al. gegen Hypo Real Estate Holding, EU:C:2011:182 Rn. 32. 36 LG München I, NZG 2010, 749. Hofmann
III. Das sog. Frustrationsverbot
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ser Richtlinie ein Gesetz zu erlassen, das Fristen zur Einberufung der Hauptversammlung vorsah, die hinter den Vorgaben der Richtlinie 2007/36/EG zurückblieben.37 Diese Vorlagefrage war jedoch rein theoretischer Natur, denn im entscheidungserheblichen Fall war eine Einberufungsfrist gewählt worden, die den Vorgaben der Richtlinie entsprach.
2. Keine generelle Sperrwirkung Diese mit Inter-Environnement Wallonie begründete und durch weitere Urteile bestä- 16 tigte und verfeinerte Rechtsprechung des EuGH hat zu Recht breite Zustimmung gefunden.38 Die Vorwirkungsproblematik führt zum Konflikt zweier Grundsätze des Richtlinienrechts: Einerseits behält der nationale Gesetzgeber während des Laufs der Umsetzungsfrist seine Souveränität im Grundsatz bei, andererseits sind die Mitgliedstaaten gehalten, dem Richtlinienziel mit Ablauf der Umsetzungsfrist auf nationaler Ebene Geltung zu verschaffen. Dieser letzte Grundsatz ist zur Realisierung der Ziele der Union unentbehrlich und setzt sich daher durch. Zugleich gelingt es dem EuGH, die Interessen des nationalen Gesetzgebers nur schonend und im erforderlichen Maße einzuschränken. Ist eine Gefährdung der Richtlinienziele nach Fristablauf nicht zu befürchten, ist der nationale Gesetzgeber auch während des Laufs der Umsetzungsfrist nicht gehindert, „richtlinienwidrige“ Vorschriften zu erlassen. Damit beschränkt die Ansicht, die aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten 17 nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV eine generelle Sperrwirkung für richtlinienwidriges nationales Recht in der Umsetzungsphase ableitet,39 die Mitgliedstaaten über das ge-
37 Der Gesetzgeber hatte im Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz – FMStG), BGBl I 2008, 1982, solche kurzen Fristen zur Einberufung der Hauptversammlung vorgesehen. Das FMStG trat einen Tag vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie außer Kraft. Hintergrund waren die von der Finanzkrise in den Jahren 2008– 2009 ausgelösten Bankenrettungen in Deutschland. Zur Rettung kollabierender Finanzinstitute war über Nacht das Krisengesetz FMStG gezimmert worden, auf dessen Grundlage die Hypo Real Estate (HRE) verstaatlicht wurde, indem ihre Aktionäre durch eine Kapitalerhöhung erst zu Minderheitsaktionären mit einer Kapitalbeteiligung von zusammen unter 5 % degradiert und anschließend durch ein Squeeze out aus der Gesellschaft zwangsentfernt wurden. Neben etlichen grundlegenden verfassungsrechtlichen Fragen drängte sich die Problematik auf, wie ein solches Vorgehen mit der Kapitalrichtlinie vereinbar sein sollte. Zu dieser Frage und an der Vereinbarkeit zumindest zweifelnd Böckenförde, NJW 2009, 2484; Hopt/Fleckner/Kumpan/Steffek, WM 2009, 821, 826; Wieneke/Fett, NZG 2009, 8, 11; Spindler, DStR 2008, 2268, 2273 f.; Ziemons, DB 2008, 2635, 2637 f.; Noack, AG 2009, 227, 230; Binder, WM 2008, 2340, 2346; Gurlit, NZG 2009, 601 f. Diese Frage blieb jedoch von den deutschen Instanzgerichten unerwähnt und daher unbeantwortet, siehe OLG München, WM 2011, 2048 = NZG 2011, 1227; LG München I, WM 2012, 1543 = BeckRS 2012, 17121. 38 Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 23 f; Streinz-Streinz, Art. 4 EUV Rn. 69 f.; Grabitz/Hilf/ NettesheimNettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 133; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 645 f. 39 Pieper, DVBl. 1990, 684, 685; vgl. insoweit auch GA Mancini, Schlussanträge v. 7.10.1986 – Rs. 30/ 85 Teuling, EU:C:1986:367 Tz. 7.
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§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien
botene Maß hinaus. Da eine richtlinienkonforme Rechtslage erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist hergestellt sein muss, trägt eine umfassende Sperrwirkung der Zweistufigkeit der Richtlinien-Rechtssetzung nicht ausreichend Rechnung.40
3. Rechtsfolgen des Frustrationsverbots 18 Zur Durchsetzung der Richtlinienziele sind alle nationalen Stellen berufen, nicht nur
das mit der Umsetzung unmittelbar befasste Organ. Erlässt der Gesetzgeber Vorschriften, die das Richtlinienziel ernsthaft in Frage stellen, sind die nationalen Behörden und Gerichte gehalten, einen möglichst richtlinienkonformen Zustand herzustellen. Für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist ist dies allgemein anerkannt.41 Unter den vom EuGH vorgegebenen Voraussetzungen kann jedoch auch für die Zeit davor nichts anderes gelten. Dagegen lässt sich nicht einwenden, die richtlinienkonforme Auslegung in diesem Stadium verstoße gegen die Gewaltenteilung. Der Gesetzgeber hat sein Ermessen bereits ausgeübt (wenn auch, wie sich jetzt erweist, fehlerhaft);42 in dieser Situation muss sich das Prinzip der Unionstreue gegenüber dem Gewaltenteilungsgrundsatz durchsetzen. Somit gilt in konsequenter Umsetzung der Vorgaben des EuGH eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Gerichte und Behörden erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist zu richtlinienkonformer Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts verpflichtet sind. Vorauszugehen hat stets eine sorgfältige Prüfung, ob die Richtlinienziele tatsächlich ernstlich in Frage gestellt werden. Dabei ist zu beachten, dass sich der EuGH gerade nicht gegen jede richtlinienwidrige nationale Vorschrift in der Übergangsperiode ausspricht. Unbedenklich sind daher schrittweise Umsetzungen, etwa erste unzureichende Maßnahmen, sofern weitere Teilumsetzungen noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist erfolgen und stufenweise auf das angestrebte Endziel hingearbeitet wird.43 19 Ob eine Regelung, die mit Ablauf der Umsetzungsfrist automatisch außer Kraft tritt, nach diesen Grundsätzen zulässig ist, kann nicht pauschal beantwortet werden.44 Einerseits entfaltet sie für neue Fälle keine Rechtswirkungen mehr; anderer-
40 In diesem Sinne Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 115; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 133; Callies/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 23 f.; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 371 f.; Gronen, Die „Vorwirkung“ von EG-Richtlinien, S. 97–99; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 481 f.; Kühling, DVBl. 2006, 857, 859. 41 Dezidiert EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 47 f.; EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, EU:C:1989:256 Rn. 28–33; EuGH v. 29.4.1999 – Rs. C-224/97 Ciola ./. Land Voralberg, EU:C:1999:212 Rn. 30; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 648; Grabitz/Hilf/NettesheimSchill/Krenn, Art. 4 EUV Rn. 70. 42 Vgl. Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 69. 43 Ehricke, ZIP 2001, 1311, 1314. 44 Die somit erforderliche Einzelfallentscheidung kann sich an den Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie ausrichten. Während eine vorläufige und stufenweise Durchset
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III. Das sog. Frustrationsverbot
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seits mögen Altfälle Bestandsschutz genießen oder irreversible Zustände schaffen und somit die richtlinienwidrigen Wirkungen auch in die Phase nach Ablauf der Umsetzungsfrist hineintragen, insbesondere wenn sie quantitativ oder qualitativ ins Gewicht fallen. Neben dem Beispiel in der Rechtssache Mangold ist etwa an Genehmigungen zu denken, die auch nach Außerkrafttreten der zugrunde liegenden nationalen Normen Bestand haben und deren richtlinienwidrige Folgen daher nachwirken. Eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele ist zugleich nur bei einer größeren Breitenwirkung solcher Genehmigungen zu befürchten. Davon ist etwa bei einem Planfeststellungsverfahren auszugehen, wenn wesentliche Naturbelange irreversibel beeinträchtigt werden, so dass die naturschützenden Ziele einer Richtlinie auch dann unterlaufen werden, wenn die nationalen Vorgaben mit Ablauf der Umsetzungsfrist an die Richtlinienziele angeglichen werden.45
4. Keine Auswirkungen auf die Horizontalwirkung von Richtlinien Umstritten ist, wie sich die Vorwirkung auf das Horizontalverhältnis auswirkt. Einige 20 Stimmen in der Literatur interpretieren das Mangold-Urteil dahin, dass der EuGH eine unmittelbare Horizontalwirkung anerkannt habe und somit von seiner bisherigen Dogmatik für die Phase der Umsetzungsfrist abgekehrt sei.46 Außerhalb der Vorwirkungsfälle beschränkt der EuGH die unmittelbare Anwendung von Richtlinien in ständiger Rechtsprechung auf das Verhältnis von Staat und Bürger, so dass eine horizontale Drittwirkung ausscheidet.47 Im jüngst ergangenen Urteil Abt et al. gegen Hypo Real Estate Holding gab sich der EuGH bedeckt und ließ offen, ob die Vorwirkungsgrundsätze Horizontalwirkung entfalten können.48
zung der Richtlinienziele die mangelnde Übereinstimmung nationaler Übergangsvorschriften mit der Richtlinie nicht zwangsläufig begründe, sollen Vorschriften, die sich als eine endgültige und vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellen, vermuten lassen, dass die Richtlinienziele nicht fristgerecht erreicht werden, wenn eine rechtzeitige Änderung der Vorschriften nicht möglich ist, vgl. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 48 f. 45 Dazu die noch unten Rn. 61 ff., anzusprechenden Urteile BVerwGE 100, 370; BVerwGE 107, 1; BVerwGE 110, 302, wobei es dort nicht um die Anwendung während der Sperrfrist erlassenen, sondern älteren nationalen Rechts ging. 46 So etwa Hailbronner, NZA 2006, 811, 814; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 168; Preis, NZA 2006, 401, 404; Giesen, SAE 2006, 45, 50; Thüsing, ZIP 2005, 2149, 2150. S.a. GA Tizzano, Schlussanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:420 Tz. 106–111. 47 Jüngst bestätigt in EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 46. Zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendung von Richtlinien vgl. die Nachweise in Fn. 10. 48 EuGH v. 24.3.2011 – Rs. C-194/10 Abt et al gegen Hypo Real Estate Holding, EU:C:2011:182 Rn. 35: „Selbst wenn das Urteil Inter-Environnement Wallonie auf einen Rechtsstreit zwischen Privaten übertragbar sein sollte, ist nicht ersichtlich, dass das Ausgangsverfahren davon betroffen sein könnte (…)“. Siehe auch LG Berlin, NJW-RR 2011, 352, 353, mit der Behauptung, eine Anwendung der Grundsätze der
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§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien
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Im Mangold-Urteil hatte der EuGH im Ergebnis einem Arbeitgeber untersagt, sich auf die Vorschriften einer nationalen Norm zu stützen, wenn hierdurch für einen Arbeitnehmer ein Zustand entstehen würde, der die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernstlich in Frage stellt. Jedenfalls rein faktisch war daher das Verhältnis privater Rechtssubjekte von der Anwendung der Vorwirkungsgrundsätze betroffen. Der EuGH hatte dieses Ergebnis jedoch, wie gezeigt (oben Rn. 13) auf einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gestützt. Daher wird dem Urteil die Aussagekraft zur Horizontalwirkung von Richtlinien ganz überwiegend abgesprochen.49 Unabhängig davon bietet die Diskussion Anlass zu einer Stellungnahme zu der Frage, welche Wirkungen sich aus dem Frustrationsverbot für das horizontale Verhältnis Privater ergeben können. Anders formuliert: Können die Grundsätze zur Vorwirkung von Richtlinien dazu führen, dass es einem Privatrechtssubjekt wie in der Rechtssache Mangold untersagt ist, sich zulasten eines anderen Privatrechtssubjekts auf nationale Vorschriften zu berufen? 22 Die Parallelen dieser Fragestellung zur allgemein anerkannten Horizontalwirkung richtlinienkonformer Auslegung sind bestechend.50 Aus dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung ergibt sich zwar nur die generelle Vorgabe an die Träger hoheitlicher Gewalt, das nationale Recht in Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben zu bringen, hingegen aber nicht ausdrücklich die Verpflichtung, eine nationale Norm unangewendet zu lassen.51 Dieses Ergebnis kann sich jedoch aus einer Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden nationalen Grundsätze ergeben, wenn diese dem Richter die Möglichkeit an die Hand geben, die Richtlinienkonformität des nationalen Rechts dadurch zu erreichen, dass eine den Zielen entgegenstehende nationale Bestimmung unangewendet bleibt.52 23 Diese Grundsätze gelten auch in der Umsetzungsphase. Der EuGH hat in der Rechtssache Adeneler entschieden, dass ein unionsrechtliches Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung nationalen Rechts auch in der Umsetzungsphase existiert (näher sogleich Rn. 30 ff.).53 Gefährdet eine nationale Norm die Ziele der Richtlinie
Zahlungsdienste-Richtlinie in der Umsetzungsphase führe zu einer Horizontalwirkung im Verhältnis Privater zueinander, deren Zulässigkeit zweifelhaft sei. Dagegen s. u. Rn. 23–25. 49 Callies/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 57, Fn. 198; Röthel, ZEuP 2009, 34, 42; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 168; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, Die Europäische Union (12. Aufl. 2016), § 6 Rn. 31; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 377 f.; Reich, EuZW 2006, 20, 21; Giesen, SAE 2006, 45, 51; vgl. auch Kühling, DVBl. 2006, 857, 860. 50 Dazu W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 13. 51 Ein derartiges Verbot ergibt sich nur bei Verstößen gegen Primärrecht, siehe EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 53; grundl. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 9. 52 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 116. Zu den Möglichkeiten der deutschen Gerichte BGHZ 179, 27, 34 f. – Quelle: „richtlinienkonforme Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion“. Einzelheiten bei W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 9; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 19 EUV Rn. 28–30. 53 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443.
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IV. Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts
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nach Ablauf der Umsetzungsfrist, kann dies in konsequenter Fortführung der Grundsätze zur Vorwirkung von Richtlinien dazu führen, dass eine nationale Vorschrift unangewendet bleiben muss. Ob von einer solchen Nichtanwendung das Verhältnis von Staat und Bürger oder ein Privatrechtsverhältnis betroffen ist, kann keine Relevanz besitzen, wenn die Prämisse (richtigerweise) lautet, dass die Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht gefährdet werden dürfen. Diese Wirkung kann nicht als unmittelbare Anwendung der Richtlinie verstanden 24 werden. Der Private leitet keine Ansprüche unmittelbar aus der Richtlinie ab. Vielmehr wirkt die Richtlinie auf die objektive Rechtslage ein, und die nationalen Grundsätze verpflichten die staatlichen Organe dazu, die nationalen Bestimmungen, die den Richtlinienzielen entgegen stehen, unangewendet zu lassen.54 Dass sich hieraus positive Wirkungen zugunsten eines Privatrechtssubjekts ergeben, denen die Nachteile eines anderen entsprechen, ist unschädlich. Insoweit lassen sich Folgerungen allgemeiner Art aus den Grundsätzen zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien ableiten: Lediglich reflexartige Belastungen privater Dritter stehen einer unmittelbaren Anwendung von Richtlinien nicht entgegen.55 In diesen Wirkungen sind gewisse Parallelen der Mangold-Entscheidung zur Rechtssache Unilever zu erkennen.56 Daran zeigt sich überdies, dass auch für den Umsetzungszeitraum gilt, dass die 25 Grenzen von richtlinienkonformer Auslegung und unmittelbarer Anwendung von Richtlinien fließend sein können.57 Entgegen einer Vielzahl kritischer Stimmen lässt sich folgern, dass Mangold die Vorwirkungsdogmatik konsequent anwendet und die bisherige Dogmatik des EuGH zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien im Horizontalverhältnis nicht antastet.
IV. Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts Die Grundsätze zur Auslegung von Richtlinien durch nationale Gerichte vor Ablauf 26 der Umsetzungsfrist haben durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Adeneler an Konturen gewonnen. Dennoch sind weiterhin zahlreiche Detailfragen streitig. Zu deren Beantwortung ist es erforderlich, nach den nationalen und den europäischen Vorgaben zu differenzieren und davon ausgehend zu beurteilen, ob eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts zulässig und sogar geboten ist.
54 So die Bewertung zur Rechtssache Unilever durch Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 162–163; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 367. 55 EuGH v. 22.6.1989 – Rs.103/88 Fratelli Costanzo, EU:C:1989:256 Rn. 28 ff.; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 167; Herrmann, EuZW 2006, 69, 70. 56 EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-433/98 Unilever, EU:C:2000:545 Rn. 49–52. 57 Röthel, ZEuP 2009, 34, 44; feststellend und zugleich kritisch Hailbronner, NZA 2006, 811, 814.
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§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien
1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist 27 Hat der Gesetzgeber die nationalen Vorschriften vor Ablauf der Umsetzungsfrist an
die Vorgaben der Richtlinie angepasst, hat er das ihm eingeräumte Ermessen frühzeitig ausgeübt und über Form und Mittel der Umsetzung in nationales Recht entschieden. In diesen Fällen ergibt sich für die Gerichte jedenfalls aus nationalen Grundsätzen die Pflicht zur Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens zur Richtlinienumsetzung.58 28 Ein unionsrechtliches Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist existiert hingegen nur dann, wenn im Sinne der dargestellten EuGH-Rechtsprechung jede andere Auslegung zu einer ernsthaften Gefährdung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist führen würde.59 In diesen Fällen setzt sich die richtlinienkonforme Auslegung gegenüber nationalen Auslegungsprinzipien durch.60
2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden 29 Problematischer ist die Beurteilung der Rechtslage hingegen in den Fällen, in denen
ein nationales Gericht während des Laufs der Umsetzungsfrist mit der Auslegung nationalen Rechts befasst ist, das schon vor Erlass der Richtlinie bestand und bislang von Umsetzungsbestrebungen des nationalen Gesetzgebers unbeeinflusst geblieben ist. Dabei ist zunächst zu untersuchen, ob ein Gericht richtlinienkonform auslegen darf, und sodann, unter welchen Umständen es hierzu verpflichtet ist.
58 Ehricke, EuZW 1999, 553, 554; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, S. 120; Sack, WRP 1998, 241, 242; Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; W.-H. Roth, ZIP 1992, 1054, 1056 f.; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 52; Neuner, in: Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 108, Fn. 105; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 75; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 373. 59 So i.Erg. auch Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 195; W.-H. Roth, ZIP 1992, 1054, 1057; Steindorff, AG 1988, 57, 58. 60 Dies ist die Folge des gemeinschaftsrechtlichen Gebotes, das nationale Umsetzungsrecht richtlinienkonform zu interpretieren, vgl. zu diesem EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, EU:C:1984:155 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431 Rn. 12; EuGH v. 7.11.1989 – Rs. 125/88 Nijman, EU:C:1989:401 Rn. 6, und zum Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung i.Erg. wie hier Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 133; Lutter, JZ 1992, 593, 604; ders., FS Bydlinksi (2002), S. 75; Bach, JZ 1990, 1108, 1111; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 471; einschränkend Jarass, EuR 1991, 211, 218; a. A. Di Fabio, NJW 1990, 954, 953 (allerdings vor Neufassung des Art. 23 GG).
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IV. Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts
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a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler61 Da der EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, ATRAL und Mangold primär zur Rolle des Gesetzgebers Stellung bezog, beschränkten sich seine Ausführungen zur Rechtsprechung auf den Hinweis, wie diese mit den gegen das Frustrationsverbot verstoßenden Vorschriften umzugehen hat. In der Rechtssache Adeneler befasste sich der EuGH hingegen auf Vorlage eines griechischen Gerichts mit der Rolle der nationalen Gerichte bei der Auslegung älteren nationalen Rechts während der Umsetzungsphase. Die Vorlagefrage lautete, von welchem Zeitpunkt an ein Gericht das nationale Recht in Ansehung einer Richtlinie, die erst verspätet umgesetzt wurde, auslegen muss. Hierfür benannte das vorlegende Gericht drei denkbare Zeitpunkte, das Inkrafttreten der Richtlinie, den Ablauf der Umsetzungsfrist und den Zeitpunkt des nationalen Umsetzungsaktes.62 Der nationale Gesetzgeber hatte in der Umsetzungsphase keine den Richtlinienzielen widersprechenden Vorschriften erlassen, so dass es um die Frage ging, ob der nationale Richter schon während der Umsetzungsphase gehalten war, das alte, schon vor Erlass der Richtlinie bestehende Recht richtlinienkonform auszulegen. Ausgehend von dem Grundsatz, dass alle staatlichen Stellen im Mitgliedstaat der Verpflichtung unterliegen, den Vorgaben des Unionsrechts zu voller Wirkung zu verhelfen, betonte der EuGH die Verpflichtung der nationalen Gerichte, sich behindernder Maßnahmen im Sinne der Inter-Environnement Wallonie-Rechtsprechung zu enthalten. Daraus folge, dass die nationalen Gerichte vom Zeitpunkt der Wirksamkeit der Richtlinie an gehalten seien, so weit wie möglich jede Auslegung nationalen Rechts, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist die Richtlinienziele ernsthaft gefährden könne, zu vermeiden.63 In Adeneler ging der EuGH damit über seine bisherigen Aussagen hinaus. In den früheren Entscheidungen hatte der EuGH nur vorgegeben, dass die nationalen Gerichte aus unionsrechtlichen Gründen die Regelungen einer Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist in zwei Konstellationen bei der Auslegung nationalen Rechts heranziehen müssen: erstens, wenn der Gesetzgeber nationales Recht in Kraft gesetzt hat, das die Erreichung der Richtlinienziele ernsthaft in Frage stellt; zweitens, wenn der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist umgesetzt hat und eine nicht an den Richtlinienzielen orientierte Auslegung die Gefahr birgt, die Erreichung der Richtlinienziele zu gefährden.
61 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443. 62 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 32. 63 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 122 f.; so auch schon GA Tizzano, Schlussanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:420 Tz. 120. Junker/Aldea, EuZW 2007, 13, 15, ist beizupflichten, dass es sich dabei zwar um eine neue, jedoch lediglich konsequente und aus der bisherigen Vorwirkungsdogmatik abzuleitende Aussage handelt.
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§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien
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Da die Vorgabe des EuGH in Adeneler demgegenüber lautete, dass die nationalen Gerichte jede Auslegung nationalen Rechts unterlassen müssen, die ernsthaft geeignet ist, die Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu verhindern, wurden nunmehr auch die Fälle einbezogen, in denen es an einem nationalen Gesetzgebungsakt in Reaktion auf den Richtlinienerlass fehlte.64 35 Hiervon ist der EuGH auch in Verwertungsgesellschaft Wort gegen Kyocera et al. nicht abgekehrt. Dort betonte er zwar, dass eine Pflicht der Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist bestehe. Er bezog sich dabei jedoch nur auf die Aussage in Adeneler zu dem Fall, dass der nationale Gesetzgeber die Richtlinie verspätet umsetzt,65 und das deshalb, weil die betreffende Richtlinie jede Wirkung vor dem Ablauf ihrer Umsetzungsfrist gerade ausdrücklich ausschloss.66 Eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Vorwirkungsproblematik und der Bedeutung der Rechtsprechung vor Ablauf der Umsetzungsfrist war daher überflüssig. Entsprechend liegt die Bewertung nahe, die Bedeutung des Urteils nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus auszudehnen und nicht als Abkehr von der deutlich differenzierteren Rechtsprechung in früheren Urteilen zu verstehen.67
b) Rechtsprechung deutscher Gerichte 36 In der deutschen Rechtsprechung wurden die Fragen nach Berechtigung und Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist mehrfach erörtert. Den Ausgangspunkt bildet ein BGH-Urteil, in dem es nach Erlass der Richtlinie 97/55/EG68 auf die Frage ankam, ob vergleichende Werbung bisheriger Rechtsprechungstradition entsprechend auch weiterhin einen Verstoß gegen § 1 UWG a. F. darstellte oder aufgrund der Vorgaben der Richtlinie nunmehr als zulässig zu beurteilen war. Zum Zeitpunkt der BGH-Entscheidung war § 1 UWG a. F. nur generalklauselartig ausgestaltet und bedurfte der Ausformung durch die Rechtsprechung.69 Die
64 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 25. 65 EuGH v. 27.6.2013 – Rs. C-457/11 bis C-460/11 Verwertungsgesellschaft Wort gegen Kyocera et al., EU:C:2013:426 Rn. 26 unter Bezug auf EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 115. 66 Siehe Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29/EG vom 22.5.2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft. 67 Siehe hierzu die Besonderheiten der Richtlinienvorgaben in Bezug auf den Umsetzungszeitraum in EuGH v. 27.6.2013 – Rs. C-457/11 bis C-460/11 Verwertungsgesellschaft Wort gegen Kyocera et al., EU: C:2013:426 Rn. 27. 68 Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997 zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung, ABl. 1997 L 290/18. 69 Erst einige Zeit nach Entscheidung des BGH nahm der deutsche Gesetzgeber die einschlägige Richtlinie zum Anlass, das UWG grundlegend zu überarbeiten und konzeptionell teilweise neu zu gestalten, vgl. dazu das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) v. 3.7.2004, BGBl. 2004 I, 1414.
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Fallgruppen sittenwidriger Beeinflussung des Wettbewerbs waren als „Richterrecht“ gebildet und beständig weiterentwickelt worden.70 Der BGH entschied, seine Rechtsprechung auch schon vor Ablauf der Umset- 37 zungsfrist an die Vorgaben einer Richtlinie anpassen zu dürfen. Dies beruhe darauf, dass der Richter nach deutschem Rechtsverständnis befugt sei, sein bisheriges Auslegungsergebnis zu korrigieren und den geänderten rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen, was auch für den Zeitraum vor Ablauf der Umsetzungsfrist von Richtlinien gelte. Voraussetzung hierfür sei, dass die nationale Rechtslage mit den Regelungen der Richtlinie nicht im Einklang stehe.71 Bemerkenswert ist, dass sich der BGH nicht nur für befugt, sondern auch dazu verpflichtet hielt, vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen, indem er von sachlicher Gebotenheit sprach.72 Diese Gebotenheit schien der BGH aus der Inter-Environnement Wallonie-Rechtsprechung abzuleiten.73 Er bewertete eine solche Situation jedoch als seltenen Ausnahmefall. Im Regelfall sei der Gesetzgeber dazu berufen, das den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Umsetzung der Richtlinie eingeräumte Ermessen auszuüben. Daher müsse sich die Rechtsprechung grundsätzlich erst dann zu richtlinienkonformer Auslegung verpflichtet sehen, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen und der Inhalt der Richtlinie eindeutig sei.74 Gleichwohl greife die Rechtsprechung auch bei früherer Berücksichtigung der Richtlinienziele nicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein, und zwar nicht nur dann, wenn ohnehin kein Spielraum bei der Umsetzung verbleibe, sondern auch in den übrigen Fällen, da sie der Entscheidung des Gesetzgebers nicht vorgreife.75 In jüngeren Urteilen wurden diese Ansätze verengt. Der BGH urteilte zur Vorwir- 38 kungsproblematik in einem Verfahren, in dem es um den fahrlässigen Umgang mit Sicherheitsmerkmalen im Online-Banking ging. Das zu beurteilende Verhalten des
70 Vgl. etwa (unter bewusster und notwendiger Bezugnahme auf ältere Auflagen) Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht (20. Aufl. 1998), Einl. UWG Rn. 72; Beater, Unlauterer Wettbewerb (2002), § 12 Rn. 1–7; ders., AcP 194 (1994), 82, 83–85; Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht (6. Aufl. 1999), § 2 Rn. 21. 71 BGHZ 138, 55, 59–64; seine auf die Richtlinie gestützte Rechtsprechungsänderung hat der BGH mehrfach bestätigt, vgl. BGH, NJW 1998, 3561; BGHZ 139, 378; BGH, NJW-RR 2000, 631. 72 BGHZ 138, 55, 64. 73 BGHZ 138, 55, 62–64. Zu einer anderen Interpretation des Urteils gelangt Kühling, DVBl. 2006, 857, 862: Der BGH habe entscheidend auf den Gedanke einer gewandelten Rechtsordnung, nicht auf die Vorgabe der Richtlinie abgestellt. Tatsächlich wird der Gedanke der gewandelten Rechtsordnung jedoch nur bekräftigend nachgeschoben. Siehe auch die ältere Entscheidung des BGH, NJW 1993, 3139, in der er davon ausgegangen war, aus den Vorgaben des europäischen Rechts erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu richtlinienkonformer Auslegung verpflichtet und schon ab deren Inkrafttreten hierzu berechtigt zu sein. 74 BGHZ 138, 55, 61; zustimmend Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 198. 75 BGHZ 138, 55, 62 f.
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Zahlungsdienstenutzers fand nach Erlass, aber vor Ablauf der Umsetzungsfrist für die Zahlungsdienste-Richtlinie statt. Der BGH wählte als Ausgangspunkt die vom EuGH in der Rechtssache Adeneler aufgestellten Grundsätze (zu diesen oben Rn. 30–34). Dem Gesetzgeber sei untersagt, Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich zu gefährden. Die nationalen Gerichte sollten es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie möglichst unterlassen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde.76 Diesen zutreffenden Ausgangspunkt verengte der BGH darauf, dass eine Pflicht der nationalen Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist bestehe. Sein früheres Urteil zu § 1 GWB a. F. gehe nur für den Fall einer Generalklausel davon aus, dass der Richtlinieninhalt schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist berücksichtigt werden dürfe.77 Im Ergebnis entspricht dem die Ansicht des KG Berlin, dass vor Ablauf der Umsetzungsfrist keine Pflicht nationaler Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung78 und eine Berechtigung hierzu nur dann bestehen soll, wenn eine Generalklausel eine frühzeitige Anpassung im Wege der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ermögliche.79
3. Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung a) Meinungsstand 39
Im Schrifttum werden vereinzelt Bedenken gegen eine Befugnis der Rechtsprechung erhoben, vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen. Diese Bedenken werden teils auf Aspekte des nationalen Rechts, teils auf solche des Unionsrechts gestützt. In nationaler Hinsicht wird vorgebracht, dass eine richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu einer Kompetenzanmaßung in den Fällen führen würde, in denen nach innerstaatlicher Kompetenzverteilung die Legislative die Umsetzung der Richtlinie übernehme. Hier werde der Entscheidung des Gesetzgebers über Form und Mittel der Umsetzung vorgegriffen und der gesetzgeberische Entschluss missachtet, die bisherige nationale Rechtslage (zunächst) beizubehalten.80 Die Folge sei ein nationaler Zuständigkeitskonflikt, wenn die Rechtsprechung anstelle des Gesetzgebers den von der Richtlinie eingeräumten Umsetzungsspielraum ausübe.81 Aus euro-
76 BGH, NJW 2012, 2422, 2423. 77 BGH, NJW 2012, 2422, 2424. 78 KG, WM 2011, 493 = BeckRS 2010, 31105 (unter II.). 79 KG, WM 2011, 493 = BeckRS 2010, 31105 (unter II.). 80 Ehricke, EuZW 1999, 553, 556; Götz, NJW 1992, 1849, 1854. 81 Vgl. Scherzberg, Jura 1993, 225, 232; Staudinger, JR 1999, 198, 199 f. (Anm. zu BGHZ 138, 55): Der Judikative sei nur untersagt, von einer richtlinienkonformen Rechtsprechung während der Umsetzungsfrist abzuweichen, nicht aber eine richtlinienwidrige aufrecht zu erhalten.
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parechtlicher Sicht sind es hingegen Gründe der Umsetzungssicherheit, die gegen die frühzeitige Zulässigkeit richtlinienkonformer Auslegung sprechen sollen.82 Überwiegend wird die Zulässigkeit richtlinienkonformer Auslegung hingegen bejaht. Der Rich- 40 ter dürfe schon im Zeitraum zwischen Erlass der Richtlinie und Ablauf der Umsetzungsfrist die Vorgaben der Richtlinie berücksichtigen, wenn er vor der Richtlinie in Kraft getretenes nationales Recht auslege, und seine Rechtsprechung daran anpassen.83 Dafür werden Praktikabilitätserwägungen und der Einwand bloßer Förmelei der Gegenansicht angeführt: Stehe eine Umsetzung der Richtlinie bevor, sei es widersinnig, zunächst noch eine die Richtlinie ignorierende Lösung anzuwenden, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist keinen Bestand mehr haben könne.84 Auch sei eine richtlinienkonforme Rechtsprechung geeignet, die Tätigkeit des Gesetzgebers zu fördern, da für diesen erkennbar werde, inwieweit eine Umsetzung der Richtlinienziele allein durch Rechtsprechungsänderung möglich sei oder noch Handlungsbedarf verbleibe.85 Zugleich wird von Vertretern dieser Ansicht betont, dass aus Sicht des Unionsrechts keine Pflicht 41 zu richtlinienkonformer Auslegung bestehe: Der den Mitgliedstaaten vom Unionsrecht zugestandene Handlungsspielraum würde durch eine vor Fristablauf bestehende Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung entwertet, wenn ein solches Gebot bestünde. Daraus folge, dass die nationalen Gerichte ihre bisherige, mit der Richtlinie nicht im Einklang stehende Rechtsprechung wahlweise auch beibehalten dürften.86 Nur wenn das Festhalten an der bisherigen Auslegung die Erreichung der Richtlinienziele gefährde, bestehe nach dem Frustrationsverbot schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine Pflicht zu richtlinienkonformer Korrektur.87 Wieder andere Stimmen bejahen die Kompetenz der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer 42 Auslegung nur in eingeschränktem Maße: Zwar sei eine richtlinienkonforme Auslegung im Regelfall zulässig, was aber dann nicht gelten könne, wenn der Gesetzgeber vor Ablauf der Frist noch nicht vollständig umsetzen wollte.88 Noch restriktiver ist die Ansicht, wonach die Rechtsprechung sich nur dann vor Ablauf der Umsetzungsfrist an den Vorgaben der Richtlinie orientieren darf, wenn eine gesetzliche Anpassung nicht zu erwarten ist oder wenn der Rechtsprechung die Aufgabe der Rechtsfortbildung zufällt.89 Schließlich wird vertreten, dass der Rechtsprechung die Kompetenz zu richtlinienkonformer Auslegung in ihrem ureigensten Kompetenzbereich, der Aus-
82 Ehricke, EuZW 1999, 553, 556. 83 Lutter, JZ 1992, 593, 605; ders., FS Bydlinksi (2002), S. 76; Neuner, in: Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 108; zweifelnd, ob nicht doch sogar eine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung besteht, Ress, DÖV 1990, 489, 492 f. 84 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 57. Nach Everling, ZGR 1992, 376, ist es wenig sinnvoll, während einer längeren Umsetzungsfrist die bisherige Rechtsprechung im Wissen um die Tatsache, diese ab einem bestimmten Zeitpunkt ändern zu müssen, beizubehalten; so auch Sack, WRP 1998, 241, 244. 85 Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 203. 86 Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Forsthoff, DStR 2006, 613, 618; i.Erg. auch Calliess/RuffertRuffert, Art. 288 AEUV Rn. 80. 87 Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 115; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 374; Franzen, JZ 2007, 191, 192. 88 Lutter, JZ 1992, 593, 605; Jarass, EuR 1991, 211, 221. 89 Zu allen Kriterien W.-H. Roth, ZIP 1992, 1054, 1056.
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formung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln, zustehe, ihr Rechtsfortbildung vor Ablauf der Umsetzungsfrist jedoch untersagt sei.90
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Um die aufgeworfenen Fragen beantworten zu können, ist nach den nationalen und den europäischen Vorgaben zu unterscheiden. Die nationalen Vorgaben sind davon abhängig, welcher Träger öffentlicher Gewalt mit der Umsetzung befasst ist. Daher stellt sich die Vorfrage der innerstaatlichen Zuweisung der Umsetzungsaufgabe.
b) Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 44 Art. 288 Abs. 3 AEUV überlässt den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel
der Umsetzung, schreibt also keinen bestimmten nationalen Umsetzungsakt vor. Nach der Rechtsprechung des EuGH erfordert die Umsetzung einer Richtlinie zwar nicht notwendig ein Tätigwerden des Gesetzgebers, doch muss die vollständige Anwendung der Richtlinie durch die nationalen Stellen gewährleistet sein. Die Rechtslage muss hinreichend bestimmt und klar sein und die Begünstigten in die Lage versetzen, von ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gerichtlich geltend zu machen.91 Daher hat der EuGH einer Umsetzung durch eine ständige Verwaltungspraxis und durch Verwaltungsvorschriften mehrfach eine Absage erteilt.92 45 Folglich muss eine Richtlinie regelmäßig durch einen nationalen Legislativakt umgesetzt werden, während eine Umsetzung durch die Judikative unter den Gesichtspunkten der Rechtsklarheit und Bindungswirkung Bedenken hervorrufen kann.93 Unter der Voraussetzung, dass Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bestehen und damit
90 So die Unterscheidung von Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 204 f.; ebenso Forsthoff, DStR 2006, 613, 618; gerade das Beispiel des § 1 UWG a. F. zeigt jedoch, dass die Auslegung generalklauselartiger Bestimmungen eine Praxis der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung begründen kann und darf, so dass eine derartige Differenzierung ungeeignet ist. 91 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, EU:C:2001:257 Rn. 17; EuGH v. 7.5.2002 Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, EU:C:2002:281 Rn. 18; EuGH v. 23.3.1995 – Rs. C-365/93 Kommission ./. Griechenland, EU:C:1995:76 Rn. 9; EuGH v. 17.10.1991 – Rs. C-58/89 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1991:391 Rn. 13; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-131/88 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1991:87 Rn. 6; EuGH v. 1.3.1983 – Rs. 300/81 Kommission ./. Italien, EU:C:1983:50 Rn. 10. 92 Vgl. EuGH v. 25.5.1982 – Rs. 97/81 Kommission ./. Niederlande, EU:C:1982:193 Rn. 12; EuGH v. 6.5.1980 – Rs. 102/79 Kommission ./. Belgien, EU:C:1980:120 Rn. 10; EuGH v. 1.3.1983 – Rs. 300/81 Kommission ./. Italien, EU:C:1983:50 Rn. 10; EuGH v. 15.12.1982 – Rs. 160/82 Kommission ./. Niederlande, EU:C:1982:443 Rn. 4; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-131/88 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1991:87 Rn. 8; EuGH v. 30.5.1991 – Rs. C-361/88 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1991:224 Rn. 20; EuGH v. 17.10.1991 – Rs. C-58/89 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1991:391 Rn. 18; dazu etwa Grabitz/Hilf/ Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 121; Everling, NVwZ 1993, 209, 213 f.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 146–151; Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 26–40. 93 Vgl. dezidiert Ehricke, EuZW 1999, 553, 558; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 121; Everling, NVwZ 1993, 209, 212 f.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 147; i.Erg. auch ablehnend Neuner, in: Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 105.
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die genannten Vorgaben des EuGH erfüllt sind, scheidet ein solcher Weg jedoch nicht grundsätzlich aus. So hat der EuGH die Berufung des Mitgliedstaats auf eine klare und eindeutige 46 Rechtsprechung in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich gebilligt. Es sei unerlässlich, dass die Rechtslage, die sich aus den nationalen Umsetzungsmaßnahmen ergebe, ausreichend bestimmt und klar sei, um es den Einzelnen zu ermöglichen, Kenntnis vom Umfang ihrer Rechte und Pflichten zu erlangen. Dies ändere jedoch nichts daran, dass die Mitgliedstaaten schon nach dem Wortlaut von Art. 288 Abs. 3 AEUV die Form und die Mittel für die Umsetzung der Richtlinien wählen könnten, die das mit den Richtlinien angestrebte Ergebnis am besten gewährleiste. Aus dieser Vorschrift ergebe sich damit, dass die Umsetzung einer Richtlinie in das innerstaatliche Recht nicht unbedingt in jedem Mitgliedstaat eine Handlung des Gesetzgebers verlange.94 Da im konkreten Fall die Richtlinie dem Einzelnen kein konkretes Recht verlieh oder eine klare und bestimmte Verpflichtung auferlegte, ließ es der EuGH ausreichen, dass die Umsetzung im Wege klarer und bestimmter Begriffe durch die Rechtsprechung erfolgte.95 Daraus lässt sich ableiten, dass die europarechtlichen Vorgaben an eine ord- 47 nungsgemäße Umsetzung auch ohne Gesetzeserlass eingehalten werden können, wenn die Richtlinie eher allgemeine Vorgaben enthält und von einer gefestigten Rechtsprechung im Mitgliedstaat auszugehen ist.96 Sind die Vorgaben der Richtlinie jedoch konkret und detailliert, muss auch im Wege präziser Normen umgesetzt werden.97 Sind diese europarechtlichen Vorgaben erfüllt, kommt eine Richtlinienumset- 48 zung durch die Rechtsprechung in Betracht, wenn die von der Richtlinie erfasste Materie im nationalen Recht von „Richterrecht“ geregelt oder jedenfalls durchdrungen ist. Liegt eine lange höchstrichterliche Rechtsprechungstradition vor, der auch die Untergerichte folgen, stehen auch die Einwände, dass weder die Untergerichte einer höchstrichterlichen Rechtsprechung unterliegen, noch diese an ihre eigenen
94 EuGH v. 26.6.2003 – Rs. C-233/00 Kommission ./. Frankreich, EU:C:2003:371 Rn. 76. 95 EuGH v. 26.6.2003 – Rs. C-233/00 Kommission ./. Frankreich, EU:C:2003:371 Rn. 78, 83. 96 Dazu einerseits EuGH v. 26.6.2003 – Rs. C-233/00 Kommission ./. Frankreich, EU:C:2003:371 Rn. 55– 87: die Umsetzung eines generalklauselartig formulierten Ausnahmetatbestandes durch eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung sollte ausreichen; EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, EU:C:2002:281: Gesetzgebungsmaterialien ausreichend; andererseits EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, EU:C:2001:257 Rn. 19–22, wonach die detaillierten Vorgaben der Klauselrichtlinie durch richterliche Präjudizien nicht ausreichend umgesetzt werden können; vgl. auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 433; Staudinger, WM 1999, 1546, 1547. Herdegen, Europarecht (21. Aufl. 2019), § 8 Rn. 48, stellt darauf ab, dass eine generelle Verbindlichkeit auch für Gerichte und Einzelne eindeutig gewärleistet sein muss. 97 Staudinger, WM 1999, 1546, 1547; Himmelmann, DÖV 1996, 146. Hofmann
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Präjudizien gebunden ist,98 nicht entgegen.99 Erweist sich die bisherige Rechtsprechung im Wesentlichen als richtlinienkonform – sonst wäre schon aus europarechtlichen Gründen ein legislatives Tätigwerden zu fordern –, im Detail jedoch nachbesserungsbedürftig, kann dieser Mangel nicht nur durch legislative Korrekturen, sondern auch durch richtlinienkonforme Rechtsfortbildung beseitigt werden.100
c) Nationale Vorgaben 49 Legt die Rechtsprechung vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform aus, so
ist in nationaler Hinsicht zu beachten, dass sie sich innerhalb der ihr zugewiesenen Kompetenzen halten muss. Daher ist es im Grundsatz zutreffend, hier gewisse Einschränkungen zu fordern. Sofern die Auslegung auf eine Rechtsfortbildung hinausläuft, kann der Rechtsprechung eine Kompetenz hierzu nur in den Bereichen zuerkannt werden, in denen ihr eine derartige Zuständigkeit zukommt. Diese Voraussetzungen lagen etwa in dem vom BGH entschiedenen Fall zu vergleichender Werbung vor (s. oben Rn. 36 f.); dieser hielt sich daher zu Recht zu richtlinienkonformer Auslegung befugt. 50 Zugleich ist die Unterscheidung nach der innerstaatlichen Umsetzungsverantwortung auch für die Frage nach einem nationalen Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung relevant. Steht zu erwarten, dass der Gesetzgeber keinen Umsetzungsakt erlassen wird, da der betroffene Bereich traditionellerweise der Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung zugewiesen ist, sind die Gerichte nach nationalen Grundsätzen gehalten, richtlinienkonform auszulegen. Dabei lässt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt eine solche nationale Verpflichtung besteht, nur unter Berücksichtigung der Vorgaben des Unionsrechts beantworten. Unter der Prämisse, dass der Mitgliedstaat den Vorgaben des Unionsrechts nachkommen möchte, werden die europarechtlichen Vorgaben insoweit zugleich zu nationalen Geboten. Ist der Rechtsprechung innerstaatlich die Umsetzungsaufgabe zugewiesen, folgt aus einem europarechtlichen Umsetzungsgebot zugleich ein nationales, um einen vom Mitgliedstaat nicht gewollten Verstoß gegen Unionsrecht zu vermeiden.
d) Europäische Vorgaben 51 Europarechtliche Gründe, der nationalen Rechtsprechung die richtlinienkonforme
Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu untersagen, bestehen nicht, da die
98 Deutlich geringere Bedenken bestehen in Staaten mit Common Law-Tradition, vgl. Ehricke, EuZW 1999, 553, 559; Anklänge auch bei Staudinger, WM 1999, 1546, 1548. 99 So der Einwand von Neu, ZEuP 1999, 123, 138 f. 100 Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 190; i.Erg. auch Staudinger, WM 1999, 1546, 1547 f.
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Richtlinie vom Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit an Rechtswirkungen entfaltet und nur im Interesse der Mitgliedstaaten eine zeitlich hinausgeschobene Umsetzungspflicht anordnet. Problematisch ist, ob ein europarechtliches Gebot besteht, schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen. Die jüngste Rechtsprechung des BGH sowie des KG Berlin (s. oben Rn. 38) sowie 52 die dargestellten Literaturansichten (s. oben Rn. 39–42) setzen mehrheitlich die europarechtlich begründeten Verpflichtungen der Legislative, die sich unstreitig bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist Zeit lassen darf, mit denen der Judikative gleich, und folgern daraus, dass diese an ihrer bisherigen Rechtsprechung bis zum Ende der Frist soll festhalten dürfen. Eine solche Gleichsetzung berücksichtigt jedoch die Konsequenzen nicht ausreichend, die sich für die Rechtsprechung aus dem Prinzip der funktionellen Beschränkung ergeben. Für die Gerichte ist es unmöglich, die Wirkung ihrer Rechtsprechung exakt zu terminieren. Ihre Kompetenz erschöpft sich darin, über konkrete Streitfälle zu befinden, während abstrakte Ausführungen zu irrelevanten Rechtsfragen ausscheiden. Betrifft der Regelungsgehalt der Richtlinie – wie etwa bei der Auslegung der Sit- 53 tenwidrigkeit im Sinne von § 1 UWG a. F. – einen traditionell durch die Rechtsprechung geprägten Bereich und steht nicht zu erwarten, dass der Gesetzgeber die Richtlinie überhaupt oder auch nur fristgerecht umsetzen wird, haben die Gerichte die Signalwirkung zu beachten, die von ihrer Rechtsprechung auch für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist ausgehen kann. Es ist eine vorausschauende Planung erforderlich, die dazu führen kann, dass richtlinienrelevante Fragen schon frühzeitig im Sinne der Richtlinie entschieden werden müssen. Die Möglichkeit zu rechtzeitiger Korrektur wird nur im Ausnahmefall bestehen, etwa wenn feststeht, dass die Fragestellung zu einem späteren, vor Ablauf der Umsetzungsfrist liegenden Zeitpunkt erneut zur Entscheidung anstehen wird. Eine solche Verpflichtung wird, wenn überhaupt, nur aus den Grundsätzen des 54 nationalen Rechts gefolgert,101 während entsprechende europarechtliche Vorgaben überwiegend dezidiert ausgeschlossen werden.102 Kombiniert man jedoch die Vorgaben des EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, Mangold und Adeneler mit den Folgen der funktionellen Beschränkung der Gerichte in den Fällen, in denen die vom Richtlinienzweck betroffene nationale Rechtsmaterie wesentlich durch Richterrecht geprägt ist, spricht dies für eine andere Bewertung. Nach den Vorgaben des EuGH muss die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus der Richtlinie, deren Ziele zu erreichen und alle zur Erfüllung dieser Pflicht geeigneten Maßnahmen zu treffen, mit Ablauf der Umsetzungsfrist erreicht sein. Zugleich trifft diese Verpflichtung alle Träger öffentlicher Gewalt und im Rahmen ihrer Zuständigkeit da
101 Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508 Fn. 17. 102 Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 81–83; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 133–135. In der Tendenz wie hier Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 28. Hofmann
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her auch die Gerichte.103 Außerdem darf die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht durch Maßnahmen während ihres Laufs ernsthaft gefährdet werden.104 Dem entspricht es, wenn der EuGH in Adeneler die Verpflichtung der nationalen Gerichte betont, sich behindernder Maßnahmen im Sinne der Inter-Environnement Wallonie-Rechtsprechung zu enthalten, und folgert, dass die nationalen Gerichte vom Zeitpunkt der Wirksamkeit der Richtlinie an gehalten sind, so weit wie möglich jede Auslegung nationalen Rechts, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist die Richtlinienziele ernsthaft gefährden kann, zu vermeiden.105 55 Eine Gefährdung der Richtlinienziele ist nicht nur denkbar, wenn die Gerichte während der Umsetzungsfrist ihre Rechtsprechung richtlinienwidrig fortbilden,106 sondern auch dann, wenn sie ihre bisherige Linie unverändert beibehalten und hierdurch eine negative Signalwirkung für den Rechtsverkehr aussenden, die über den Ablauf der Umsetzungsfrist hinaus wirkt. Davon ist aber gerade in den Fällen auszugehen, in denen die Rechtsprechung, nicht die Gesetzgebung, eine Materie beherrscht. Ein Verstoß des Mitgliedstaates gegen die Gemeinschaftsziele nach Art. 10 Abs. 3 EUV/10 EG und die Richtlinienziele nach Art. 288 Abs. 3 AEUV liegt in diesen Fällen primär in der richtlinienwidrigen Rechtsprechung der Gerichte begründet, allenfalls zweitrangig in der legislativen Untätigkeit des Gesetzgebers, der dieser Entwicklung in der Rechtsprechung hätte entgegensteuern können.107 56
Zweifel an dieser Bewertung könnten sich aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Ratti108 ableiten, lassen sich im Ergebnis jedoch ausräumen. Auch dort ging es um das grundsätzliche Verhältnis von nationalem Recht und den Vorgaben der Richtlinie in der Umsetzungsphase. Ein nationales Gericht hatte über die Strafbarkeit eines Betroffenen zu befinden, der die nationalen Kennzeichnungspflichten bei der Herstellung von Lösungsmitteln und Lacken nicht beachtet hatte. Der Betroffene wandte ein, die Vorgaben der Richtlinie erfüllt zu haben, und vertrat die Ansicht, nicht nach strengeren nationalen Vorschriften beurteilt werden zu dürfen. Dem folgte der EuGH nicht, sondern stellte fest, dass bei Richtlinienerlass bereits bestehendes nationales Recht auch in der Umsetzungsphase grundsätzlich weiterhin angewandt werden dürfe. Eine Richtlinie könne erst am Ende der Umsetzungsfrist und nur für den Fall, dass der Mitgliedstaat dem Umset-
103 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431 Rn. 12; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 26; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU: C:1990:395 Rn. 8; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 40; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 53. 104 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, EU: C:1997:628 Rn. 44 f. 105 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 122 f. 106 So Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Neuner, in: Hager u. a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 106. 107 I.E. so wohl auch Bayreuther, EuZW 1998, 478, 479; vgl. auch Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 109, wonach entscheidend sein soll, ob durch die Rechtsprechung derart vollendete Tatsachen geschaffen werden, dass die Umsetzung der Richtlinie ernstlich in Frage steht. 108 EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, EU:C:1979:110.
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zungsbefehl nicht nachgekommen sei, Wirkungen für den Einzelnen entfalten. Bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist behielten die Mitgliedstaaten ihre Handlungsfreiheit.109 Daher blieb es dem Einzelnen verwehrt, sich gegenüber den nationalen Vorschriften auf die Vorgaben der Richtlinien zu berufen.110 Vor dem Hintergrund der neueren ATRAL-Entscheidung111 erscheint zweifelhaft, ob der EuGH 57 an dieser Rechtsprechung festhalten würde. Dass der nationale Gesetzgeber in ATRAL während der Umsetzungsphase neue Vorschriften erlassen hatte, in der Rechtssache Ratti hingegen älteres Recht weiterhin angewandt wurde, erscheint kaum als Differenzierungskriterium geeignet, da in Adeneler klargestellt wurde, dass altes wie neues Recht gleichermaßen behindernd wirken kann. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass es für das Frustrationsverbot stets auf die konkreten Auswirkungen nach Ablauf der Umsetzungsfrist ankommt. Der EuGH könnte durchaus weiterhin zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Gefährdung der Richtlinienziele darstelle, bei Zuwiderhandlung gegen altes, zukünftig jedoch richtlinienwidriges Recht Sanktionen zu verhängen (Ratti-Konstellation), während davon bei einem Gebot, in der Umsetzungsphase erlassene und richtlinienwidrige Vorschriften zu befolgen (ATRAL-Konstellation), auszugehen sei. Entscheidend sind stets die Wirkungen, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist verbleiben. Soweit 58 der Rechtsprechung (wie in der Ratti-Konstellation) nicht die innerstaatliche Umsetzungsaufgabe zukommt, sondern eine rechtzeitige Gesetzesänderung zu erwarten ist, steht kaum zu befürchten, dass durch Sanktionen in der Umsetzungsphase ein richtlinienkonformes Verhalten nach Ablauf der Umsetzungsfrist verhindert wird. Daher sind Ratti und die hier vertretenen Grundsätze durchaus zu vereinbaren. Daraus folgt jedoch auch, dass den Entscheidungen deutscher Gerichte (s. oben Rn. 38) nur für den entschiedenen Einzelfall zugestimmt werden kann. Da sie nur einen Einzelfall im Umsetzungszeitraum zu entscheiden hatten und eine rechtzeitige Umsetzung der Richtlinie durch den Gesetzgeber zu erwarten war, bestand keine Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung. Widerspruch verdienen hingegen die generellen Aussagen, wonach eine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung nie bestehen soll und eine Berechtigung nur dann, wenn eine Generalklausel betroffen ist. Diese Folgerungen lassen unberücksichtigt, dass es in jedem Einzelfall entscheidend darauf ankommt, wie sich die Rechtsprechung auf die Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist auswirkt.112
109 EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, EU:C:1979:110 Rn. 43–45; bestätigt durch EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, EU:C:2004:76 Rn. 66–69. 110 Zu diesem Grundsatz EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, EU:C:2004:76 Rn. 67–69; EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, EU:C:1979:110 Rn. 43–45. 111 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, EU:C:2003:265 Rn. 57–60. 112 Interessanterweise könnte gerade im Bereich des Zahlungsverkehrs, zu dem diese Entscheidungen ergingen, die Frage richtlinienkonformer Rechtsprechung in der Umsetzungsphase zukünftig relevant werden. Die Frage, wann im Zahlungsverkehr vom Nachweis eines Sorgfaltspflichtverstoßes des Zahlungsdinestenutzers ausgegangen werden kann, ist in Art. 72 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2366/EU bewusst undeutlich formuliert. Der deutsche Gesetzgeber folgt dem in § 675w S. 3 BGB mit der ausdrücklichen Begründung, dass diese Aufgabe traditionell von der Rechtsprechung wahrgenommen wurde und dieser auch weiterhin zustehen solle, siehe Hofmann, in: Schwintowski (Hrsg.), Bankrecht (5. Aufl. 2018), § 10 Rn. 105–114. Würde die Richtlinie in diesem Punkt geändert werden, müssten sich die Gerichte in der Umsetzungsphase der Wirkung ihrer Rechtsprechung nach Ablauf der Umsetzungsfrist bewusst sein. Hofmann
518
§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien
V. Die Vorwirkung von Richtlinien und die nationale Verwaltungspraxis 59 Schließlich stellt sich die Frage nach einer Vorwirkung von Richtlinien auch für die
Rechtsanwendung der nationalen Verwaltung. Nach den bisherigen Feststellungen (oben Rn. 44) kann ausgeschlossen werden, dass die Verwaltung mit der Umsetzung der Richtlinienvorgaben betraut ist. Auch lauten die nationalen Vorgaben an die Verwaltung, Gesetze nur anzuwenden und dabei die Auslegung durch die Rechtsprechung zu beachten, nicht jedoch, selbst Rechtsfortbildung zu betreiben. 60 Erneut ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts von allen staatlichen Stellen zu beachten ist,113 somit auch von der Verwaltung. Dies gilt jedenfalls nach Ablauf der Umsetzungsfrist114 und, wie oben in Rn. 17–19 ausgeführt, zudem davor, soweit das Frustrationsverbot gegenüber den in der Umsetzungsphase erlassenen Gesetzen eingreift. Im Ergebnis kann nichts anderes gelten, wenn ältere, schon vor Richtlinienerlass bestehende Vorschriften zur Anwendung kommen. Auch diese dürfen nur unter Berücksichtigung der Richtlinienziele angewandt werden, wenn anderenfalls eine ernsthafte Gefährdung dieser Ziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu befürchten ist. 61
In der deutschen Rechtsprechung findet sich eine Auseinandersetzung mit dieser Frage in Urteilen des BVerwG. Das Gericht unterschied zunächst nach dem Zeitpunkt, zu dem ein Antrag auf Verwaltungshandeln gestellt wurde, und interpretierte die Rechtsprechung des EuGH derart, dass einschlägige Richtlinien nur dann von der nationalen Verwaltung bei ihrer Rechtsanwendung zu beachten seien, wenn der Antrag nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie gestellt wurde. Hingegen sollte ein vor Ablauf der Umsetzungsfrist gestellter Antrag allein nach den geltenden nationalen Vorschriften zu beurteilen sein. Das sollte selbst dann gelten, wenn das beantragte Vorhaben erst nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist zugelassen wurde115 und damit zu diesem Zeitpunkt den Vorgaben der Richtlinie widersprach.
62
Eine derartige Unterscheidung findet sich in der Rechtsprechung des EuGH, auf die das BVerwG Bezug nahm, jedoch gerade nicht,116 und ist vor dem Hintergrund der Inter-Environnement Wallonie-, Mangold- und Adeneler-Rechtsprechung auch unzutreffend, da nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern die Vereitelung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist als entscheidendes Differenzierungskriterium dienen muss.
113 Zur Gemeinschaftstreue aller staatlichen Stellen Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 4 EUV Rn. 46; Grabitz/ Hilf/Nettesheim-Schill/Krenn, Art. 4 EUV Rn. 70. 114 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, EU:C:1989:256 Rn. 28–33. 115 BVerwGE 100, 370, 374. 116 Vgl. EuGH v. 11.8.1995 – Rs. C-431/92 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1995:260 Rn. 29: Der EuGH bezieht nur zu nach Ablauf der Umsetzungsfrist ergangenen Anträgen Stellung, lässt die problematischen Fälle der davor gestellten Anträge, zu denen auch der vom BVerwG zu entscheidende Sachverhalt zählt, hingegen unbeantwortet. Hofmann
519
V. Die Vorwirkung von Richtlinien und die nationale Verwaltungspraxis
Das wird mittlerweile auch vom BVerwG anerkannt. In späteren Urteilen verwies es auf die Vor- 63 gaben des EuGH in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie und folgerte aus dem Gebot der Vertragstreue, dass es den Verwaltungsstellen des Mitgliedstaates auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist untersagt sei, vollendete Tatsachen zu schaffen, die eine Erfüllung der Vertragspflichten nach Ablauf der Umsetzungsfrist vereiteln würden.117
Auch für die Rechtsanwendung gilt daher, dass nicht alleine der Ablauf der Umset- 64 zungsfrist für die Pflicht zur Beachtung der Richtlinienvorgaben entscheidend ist, sondern es darüber hinaus auf die Wirkungen der Verwaltungsmaßnahme ankommt. Daher ist während des Laufs der Umsetzungsfrist zu prüfen, ob die Vorgaben des EuGH erfüllt sind, also eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele droht. Regelmäßig wird dies bei Verwaltungshandeln nicht zu befürchten sein. Eine Ausnahme kann etwa bei einem Planfeststellungsverfahren bestehen, da es seinem Zweck entsprechend besondere Breitenwirkung entfalten kann. Ähnliches wird gelten, wenn die Verwaltung gesetzgebungsähnliche Funktionen wahrnimmt, etwa bei Aufstellung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen.
117 BVerwGE 107, 1, 22; BVerwGE 110, 302, 308. Kritisch dazu Kühling, DVBl. 2006, 857, 860. Hofmann
§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung Literatur: Franz Bydlinski, Gegen die „Zeitzündertheorien“ bei der Rechtsprechungsänderung nach staatlichem und europäischem Recht, JBl. 2001, 2–8; Dominik Düsterhaus, Zwischen Rechts- und Vertrauensschutz: Die zeitlichen Wirkungen von Auslegungsurteilen des EuGH nach Artikel 267 AEUV, EuR 2017, 30–55; Ulrich Everling, Der Ausschluß der Rückwirkung bei der Feststellung der Ungültigkeit von Verordnungen durch den Gerichtshof der EG, in: Jürgen Baur/Peter-Christian Müller-Graff/Manfred Zuleeg (Hrsg.), Europarecht – Energierecht – Wirtschaftsrecht, Festschrift für Bodo Börner (1992), S. 57–75; Tobias Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte – Am Beispiel der deutschen und europäischen Gleichbehandlungsrechtsprechung zur betrieblichen Altersversorgung (2001); Juliane Kokott/Thomas Henze, Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von EuGH-Urteilen in Steuersachen, NJW 2006, 177–183; Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (1996); Philipp Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2012); Christoph Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen (2009); Frank Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (2015); Adam Sagan, Europäischer und nationaler Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen im Arbeits- und allgemeinen Privatrecht, JbJZ 2010, S. 67–102; Frank Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht (2010); Holger Schmitz/Shqipe Krasniqi, Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von Urteilen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – ein allgemeiner Rechtsgrundsatz mit Beachtungspflicht des EuGH in Vorlageverfahren –, EuR 2010, 189–207; Roman Seer/Jörg-Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, IWB 2008, 255–268; Jörg Philipp Terhechte, Temporäre Durchbrechung des Vorrangs des europäischen Gemeinschaftsrechts beim Vorliegen „inakzeptabler Regelungslücken“?, EuR 2006, 828–847; Christian Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen (2006); Wolfgang Weiß, Die Einschränkung der zeitlichen Wirkungen von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EGV, EuR 1995, 377–397; Ariane Wiedmann, Zeitlos wie ungeklärt: Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG, EuZW 2007, 692–696; Uwe Wusterhausen, Die Wirkungen der Urteile des EuGH in der Zeit – Ein Betrag zur Problematik der zeitlichen Beschränkung von Urteilswirkungen durch den Gerichtshof der Europäischen Union (2016). Rechtsprechung: EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, EU:C:1973:60; EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, EU:C:1990:209; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u. a., EU:C:2007:132; EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi u. a., EU:C:2008:461; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, EU:C:2008:76; EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, EU:C:2010:503; EuGH v. 17.12.2015 – verb. Rs. C-25/14 und C-26/14 UNIS, EU:C:2015:821.
Systematische Übersicht I. II.
Überblick 1–3 Theoretische Grundlagen 4–15 1. Grundsatz der Rückwirkung 5–13 a) Auslegungsrückwirkung aufgrund des Normanwendungs-
b) c)
befehls des Gesetzgebers 6–8 Rückwirkung von Rechtsfortbildung 9 Differenzierung bei Rechtsprechungsänderung 10–11 Rosenkranz
https://doi.org/10.1515/9783110614305-016
522
§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
d)
Rückwirkung der Unwirksamkeitsentscheidungen 12–13 2. Verhältnis zur Bindungswirkung von EuGH-Urteilen 14–15 III. Kompetenz zur Beschränkung der zeitlichen Wirkung 16–19 1. Unwirksamkeit 17 2. Auslegung 18–19 IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung 20–57 1. Auslegung 21–48 a) Keine Präklusion 22–24 aa) Maßstab des EuGH 23 bb) Kritik: Ablehnung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals 24 b) Guter Glaube 25–39 aa) Bezugspunkt und Inhalt 26–28 bb) Vertrauensbegründendes Verhalten 29–34 cc) Ausschluss des guten Glaubens 35–36 dd) Die Vertrauenden 37 ee) Zeitpunkt des guten Glaubens 38–39 c) Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen 40–44 aa) Wirtschaftliche Auswirkungen 41–42 bb) Schwerwiegende Auswirkungen 43 cc) Gefahr 44 d) Neuartiger Ansatz in der Rechtssache UNIS 45–48
Unwirksamkeit 49–57 a) Wohlerworbene Rechte und Vertrauensschutz 50–51 b) Öffentliche Interessen 52–57 aa) Vermeidung einer Regelungslücke 53–55 bb) Weitere Anwendungsfälle 56–57 V. Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung 58–72 1. Dogmatische Einordnung 59–60 2. Sachliche Reichweite 61–62 3. Zeitliche Reichweite 63–69 a) Auslegung 64–66 b) Unwirksamkeit 67–69 4. Personelle Reichweite und Ausnahmen 70–71 5. Räumliche Reichweite 72 VI. Prozessuales 73–76 1. Entscheidung von Amts wegen und Antrag 74 2. Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen 75–76 VII. Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht 77–84 1. Grundsatz der Verfahrensautonomie 78 2. Temporäre Suspendierung des Vorrangs des Unionsrechts 79 3. Schranken der Konformauslegung 80–83 4. Staatshaftung 84 2.
I. Überblick 1 Die Bestimmung der zeitlichen Wirkungen der Entscheidungen des Europäischen
Gerichtshofs ist selbst nach einer fünfzigjährigen Rechtsprechungsgeschichte ein „Dauerbrenner“ in der europäischen Rechtswissenschaft.1 Wesentliche Grundlinien zeichnen sich zwar ab, in den Einzelheiten besteht jedoch weiterhin Streit. Ungebro-
1 Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533, 537. Rosenkranz
I. Überblick
523
chen ist auch die praktische Relevanz.2 Beschränkungen der zeitlichen Wirkungen sind insbesondere bei Nichtigkeitsklagen regelmäßig anzutreffen und werden auch bei Auslegungsvorabentscheidungen regelmäßig von den Verfahrensbeteiligten beantragt, wenngleich mit deutlich geringerer Erfolgsaussicht3. Die Stellungnahmen des Gerichtshofs zu Fragen der zeitlichen Wirkung seiner Entscheidungen verteilen sich dabei ungefähr gleich auf das Auslegungsverfahren einerseits und das Ungültigkeitssowie Nichtigkeitsverfahren andererseits. In den letztgenannten ist die Erfolgsquote eines Antrags hingegen mehr als fünfmal so hoch. Nur selten wird eine Rückwirkungsbeschränkung im Vertragsverletzungsverfahren diskutiert.4 Juristische Sprengkraft erfährt die Rückwirkungsfrage durch die Nähe zu grund- 2 legenden Rechtsprinzipien des Unionsrechts. Sie berührt zuerst die (horizontale) Gewaltenteilung innerhalb der Union, denn die Beschränkung der Rückwirkung stellt die Geltung der ausgelegten Norm in Frage und könnte daher als ein Übergriff in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers angesehen werden. Außerdem muss der Gerichtshof auf den Charakter des Unionsrechts als Mehrebenensystem Rücksicht nehmen. Insoweit ist fraglich, ob und inwieweit das Unionsrecht in seiner Geltung oder Durchsetzung aufgrund von mitgliedstaatlichen Besonderheiten oder Vertrauensschutz gehemmt werden kann. Schließlich wird dieses dreidimensionale Verhältnis um die Komponente des Individualrechtsschutzes erweitert: Bei einer Rückwirkungsbeschränkung wird das im Urteil gefundene Ergebnis erst in der Zukunft verbindlich und damit werden alle (eingelegten und potentiellen) Rechtsbehelfe frustriert, die auf die Durchsetzung des Unionsrechts in der Vergangenheit abzielen. Besonders exponiert ist dabei derjenige, der die EuGH-Entscheidung herbeigeführt hat. Als Grundlage der Rückwirkungsbeschränkung dient das auch im Unionsrecht 3 anerkannte Prinzip der Rechtssicherheit. Als primärrechtlicher Rechtsgrundsatz bindet es sämtliche Unionsorgane einschließlich der Rechtsprechung. Auch die Judikative darf daher schutzwürdiges Vertrauen nicht missachten. Dem stehen die unionsrechtliche Kompetenzordnung und der Grundsatz der unionseinheitlichen Geltung des Unionsrechts gegenüber, die ebenso von primärrechtlichem Rang sind. Die betroffenen öffentlichen und privaten Interessen sind demnach auf dem Wege der praktischen Konkordanz auszugleichen.5
2 Zahlenmaterial bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 7 f., S. 519 ff. und Düsterhaus, EuR 2017, 30, 31 ff. 3 Zuletzt aber erfolgreich in EuGH v. 17.12.2015 – verb. Rs. C-25/14 und 26/14 UNIS, EU:C:2015:821 (s. unten Rn. 45 ff.). 4 Zuletzt EuGH v. 8.4.2014 – Rs. C-288/12 Kommission ./. Ungarn, EU:C:2014:237 Rn. 63 ff. 5 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56 Rn. 74/75; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, EU:C:2008:76 Rn. 121.
Rosenkranz
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
II. Theoretische Grundlagen 4 Der Rechtsprechung ist die Entscheidung von Fällen übertragen, deren tatsächlicher
Sachverhalt in der Vergangenheit begonnen hat und zumeist auch schon abgeschlossen ist. Dieser tatsächliche Vergangenheitsbezug kann nicht umgangen werden und erfordert eine Auseinandersetzung mit den zeitlichen Wirkungen der Gerichtsentscheidung. Dennoch folgt aus ihm nicht, welche Normen auf die Vergangenheit angewendet werden müssen und welcher Inhalt diesen zu geben ist. Es ist demnach zu unterscheiden zwischen der unvermeidlichen Rückwirkung des Richterspruchs auf den vergangenen Sachverhalt und der (rückwirkenden) Anwendung der vom Richter dabei herangezogenen Normen.
1. Grundsatz der Rückwirkung 5 Diese Unterscheidung ist sowohl bei der Begründung der Rückwirkung der Auslegung
einer Norm zu beachten, als auch bei Begründung der Rückwirkung einer Gerichtsentscheidung über die Aufhebung von Unionsrechtsakten (hier: „Unwirksamkeitsentscheidungen“).6
a) Auslegungsrückwirkung aufgrund des Normanwendungsbefehls des Gesetzgebers 6 Die Rückwirkung des Auslegungsvorgangs wird zumeist auf sein Wesen oder seine Natur zurückgeführt.7 Dies dürfte unausgesprochen auf die deklaratorische Auslegungstheorie verweisen, der auch der Europäische Gerichtshof zu folgen scheint.8 In der Tat kann die axiomatische Behauptung, dass der Richter das Recht nur finde und in keiner Weise (autonom) setze, zur Begründung der Rückwirkung der Auslegung dienen. Die deklaratorische Theorie beruht insoweit – ebenso wie dezisionistische Antagonisten – auf dem Demokratieprinzip in Verbindung mit dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts: 7 Jede Unionsnorm wird von einem Anwendungsbefehl flankiert, mit dem der Gesetzgeber die Geltung und Anwendung der Norm gebietet. Der Anwendungsbefehl ist Ausdruck des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips, denn er beruht auf dem Grund-
6 Das sind vor allem die Gültigkeitsvorlage nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV und die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV. 7 Z. B. Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 14; v. Arnauld, Rechtssicherheit (2006), S. 523; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte (2003), S. 6; v.d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 94. 8 Zuletzt ausdrücklich EuG v. 24.3.2017 – Rs. T-117/15 Estland ./. Kommission, EU:T:2017:217 Rn. 68; EuGH v. 28.1.2015 – Rs. C-417/13 Starjakob, EU:C:2015:38 Rn. 63.
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II. Theoretische Grundlagen
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satz der Gesetzesbindung der Judikative. Verzichtet der Gesetzgeber auf eine definitorische Konkretisierung des Inhalts einer Norm, so ist der Richter berechtigt und verpflichtet, diese Vorschrift zu interpretieren.9 Das ist wiederum Ausprägung des Gewaltenteilungsprinzips, welches in der institutionellen Diversifikation der EU verwirklicht wurde. Der Konkretisierungsauftrag setzt mit dem Inkrafttreten der Norm ein, weshalb sich die zeitlichen Wirkungen der Auslegung nicht von der zeitlichen Geltung der Norm ablösen lassen.10 Die tatsächliche Rückbeziehung des Urteils ist dabei der Grund für die Anordnung des Normgebers, die spätere Interpretation durch den Gerichtshof schon ab Inkrafttreten der Norm zugrunde zu legen. Die Rückwirkung der Auslegung ist allen Verfahrensarten gemein, denn der Vor- 8 gang der Auslegung ist derselbe, unabhängig vom Verfahren, in dem er vorgenommen wird. Deshalb sind auch die zeitlichen Wirkungen der Auslegung von der Verfahrensart unabhängig und an die ausgelegte Norm angeknüpft.11 Gleichwohl kann sich aus den verfahrensrechtlichen Vorschriften eine Begrenzung der aus dem Urteil zu ziehenden Folgen ergeben. Beispielsweise beruht die Feststellung der Vertragsverletzung nach Art. 258 ff. AEUV auf einer Auslegung des Unionsrechts, die ihrerseits für die Vergangenheit zu beachten ist und deshalb einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch begründen kann.12 Gleichwohl ist der verurteilte Mitgliedstaat gemäß Art. 260 AEUV nur verpflichtet, den Vertragsverstoß für die Zukunft abzustellen, nicht aber auch die Folgen früheren vertragswidrigen Verhaltens zu beseitigen.13
b) Rückwirkung von Rechtsfortbildung Die zeitliche Wirkung einer vom Gerichtshof vorgenommenen Rechtsfortbildung beur- 9 teilt sich nach denselben Regeln; insoweit unterscheidet der Gerichtshof zu Recht nicht zwischen Rechtsfortbildung und Auslegung. Das hat seinen Grund zum einen darin, dass Auslegung und Rechtsfortbildung vergleichbare Vorgänge der Rechtsfindung sind.14 Zum anderen besteht das gesetzgeberische Interesse an verbindlichen Verhaltensvorgaben auch im Bereich der Lückenschließung. Der Rechtsanwendungsbefehl ist hier nicht an eine einzelne Norm, wohl aber an die Rechtsordnung als Ganzes angeknüpft. Darüber hinaus gebieten die Rechtssicherheitsinteressen der Betroffenen keine schärfere Begrenzung der Wirkungen einer Rechtsfortbildung als die der
9 Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 48 ff. 10 Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 180; Schlachter, ZfA 2007, 249, 265; Weiß, EuR 1995, 377, 378; i.Erg. ebenso Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 41. 11 Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 178; Schmitz/Stammler, AöR 136 (2011), 479, 489. 12 Vgl. EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci, EU:C:1991:428 Rn. 28 ff. 13 Streinz-Ehricke, Art. 260 AEUV Rn. 8 mwN; Wusterhausen, Die Wirkungen der Urteile des EuGH in der Zeit, S. 70 ff.; a. A. Petersen, EG-Richtlinienumsetzung und Übergangsgerechtigkeit (2008), S. 341 ff. 14 Everling, JZ 2000, 217, 218; Schroeder, FS G.H. Roth (2011), S. 739.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
Auslegung.15 Sieht man die unionsrechtliche Rechtsfortbildung als methodengebunden an,16 ist sie im selben Maße vorhersehbar wie eine Auslegung.17 Zeitlicher Bezugspunkt einer Rechtsfortbildung ist daher der Zeitpunkt, in dem ihre Voraussetzungen erstmals erfüllt waren.
c) Differenzierung bei Rechtsprechungsänderung 10 Der Gerichtshof ist nicht an seine eigene Rechtsprechung gebunden und kann diese jederzeit ändern.18 Besondere prozessuale oder materielle Hürden bestehen dabei nicht,19 insbesondere findet hierbei keine Abwägung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit statt.20 Erwägungen zum Vertrauensschutz der Betroffenen sind vielmehr ausschließlich bei der Bestimmung der zeitlichen Reichweite einer Rechtsprechungsänderung anzustellen, um zu verhindern, dass die „falsche“ Rechtsansicht für die Zukunft perpetuiert wird.21 11 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs wirkt die geänderte Auslegung, ebenso wie die erstmalige Auslegung einer Norm, auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschrift zurück.22 Allerdings ist umstritten, ob der EuGH in diesem Fall andere tatbestandliche Voraussetzungen für eine Rückwirkungsbeschränkung anlegt.23 Richtigerweise sollte schon im Grundsatz danach unterschieden werden, worauf die Änderung der Rechtsansicht beruht.24 Kommt der Gerichtshof aufgrund einer besseren Rechtserkenntnis zu neuen Ergebnissen, ohne dass sich das normative oder tatsäch-
15 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 77 ff. 16 Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 2 f.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 207. 17 Dies gilt erst recht, wenn man die Analogie als vom Gleichheitssatz geboten ansieht, vgl. EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-402/07 Sturgeon u. a., EU:C:2009:716 Rn. 48 ff.; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht (2012), S. 161 f. mwN; für die herrschende deutsche Methodenlehre nur Larenz, Methodenlehre, S. 381. 18 Langenbucher, JbJZ 1999, S. 65, 75 mwN; Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law (1998), S. 115, 125 f. 19 Materielle Schranken schon verneinend Lord Mackenzie Stuart/Warner, FS Kutscher (1981), S. 276. 20 Wie hier Düsterhaus, EuR 2017, 30, 35; a. A. wohl Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 66; krit. auch Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 24; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 840; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH (1995), S. 181 ff. 21 Piekenbrock, ZZP 119 (2006), 3, 15; Höpfner, RdA 2006, 156, 160; Kanzler, FS Spindler (2011), S. 274 f.; Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 231; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht (2011), S. 256 f. 22 Vgl. EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, EU:C:1996:169 Rn. 46 ff.; EuGH v. 15.3. 2005 – Rs. C-209/03 Bidar, EU:C:1005:169 Rn. 64 ff. 23 Umstritten ist insbesondere die Bedeutung des Merkmals der schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen, siehe auch unten Rn. 40 ff. 24 Zu den möglichen Fallgruppen eingehend Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung (2. Aufl. 2011), S. 80 ff. (zum deutschen Recht); Juratowitch, Retroactivity and the Common Law (2008), S. 154 ff. (zum englischen Recht).
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II. Theoretische Grundlagen
liche Umfeld geändert hat, gebietet der Rechtsanwendungsbefehl die Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift, denn die Norm sollte ab initio im nunmehr maßgeblichen Sinne verstanden und angewendet werden. Der Gleichheitssatz steht nicht entgegen, denn die Ungleichbehandlung der schon nach dem alten Recht entschiedenen Fälle mit den noch nicht entschiedenen Fällen, die vor dem ändernden Urteil liegen, beruht auf der Rechtskraft ersterer.25 Geht die Rechtsprechungsänderung hingegen auf einen rechtserheblichen Wandel der normativen oder tatsächlichen Bezugspunkte zurück, darf sie nur bis zu dessen Eintreten zurückwirken, denn die frühere Rechtslage war „richtig“ und sollte in dieser Form zur Anwendung kommen.26
d) Rückwirkung der Unwirksamkeitsentscheidungen Mit dem Grundsatz der Rückwirkung einer Auslegung ist nicht bestimmt, dass auch 12 die Aufhebung einer Unionsrechtsnorm rückwirkend zu erfolgen hat. Für einen Gleichlauf ließe sich zwar ins Feld führen, dass jede Unwirksamkeitsentscheidung auf mindestens zwei Auslegungsvorgängen beruht: der Auslegung des zu prüfenden abgeleiteten Rechts und der Auslegung des höherrangigen Rechts. Die Wirkungen eines Ausspruches über die Unwirksamkeit sind jedoch nicht rechtslogisch vorgegeben. Vielmehr ist aus der unionalen (Prozess-)Rechtsordnung abzuleiten, welche Folgen die festgestellte Rechtswidrigkeit der Unionsnorm hat.27 Die Unwirksamkeit von Unionsrechtsakten kann vor allem in drei Verfahren vom 13 EuGH geprüft werden: in der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV, der Gültigkeitsvorlage nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV und der Inzidentprüfung nach Art. 277 AEUV. Eine Gesamtschau dieser Verfahren ergibt, dass die Aufhebung ein konstitutiver, rückwirkender Akt ist.28 Die jedem Unionsrechtsakt zukommende Gültigkeitsvermutung muss durch den Gerichtshof widerlegt und bestehende Rechtswirkungen des Rechtsakts müssen aufgehoben werden.29 Die Unwirksamkeitsentscheidung wirkt auf den Zeitpunkt des Eintritts des Normkonflikts zurück, da auf diese Weise der Geltung der höherrangigen Norm und ihrem Anwendungsbefehl auf bestmögliche Weise Rechnung getragen werden.
25 Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung (2005), S. 191 f. 26 Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung (2. Aufl. 2011), S. 82 ff. 27 Nettesheim, EuR 2006, 737, 748; Bettermann, FS Eichenberger (1982), S. 597 f. 28 I.Erg. ebenso Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen (1997), S. 64 ff., 115 f.; Nettesheim, EuR 2006, 737, 749 f.; dezidiert gegen eine einheitliche Rechtsfolge Willms, Die materiell-rechtliche Urteilswirkung im Unionsrecht (2020), S. 301 ff. Das Unionsrecht kennt daher auch kein sog. „Nichtigkeitsdogma“, a. A. Hein, Inzidentkontrolle (2001), S. 185 ff. Die in den unterschiedlichen Verfahrensarten getroffenen Entscheidungen haben freilich eine verschieden weitreichende Bindungswirkung. 29 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 79 ff.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
2. Verhältnis zur Bindungswirkung von EuGH-Urteilen 14 Die Rückwirkung der Auslegung oder Unwirksamkeit kann schon im Anlassfall zu
Konflikten mit individuellen Rechtspositionen führen und wirft dort ein „Rückwirkungsproblem“ auf. Eine etwaige Bindungswirkung der Entscheidung für andere Fälle als den Ausgangssachverhalt verstärkt die rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen des Urteils noch einmal erheblich.30 Bindung erzeugt außerdem Rechtssicherheit und kann Anlass für (abstrakten) Vertrauensschutz sein. Die Maßstäbe des guten Glaubens und der wirtschaftlichen Auswirkungen müssen sich daran ebenso orientieren wie die räumliche und personelle Reichweite der von der Beschränkung erfassten Sachverhalte. 15 Bindungswirkung kommt dabei zuerst den Aufhebungsentscheidungen des Gerichtshofs im Nichtigkeits- und Gültigkeitsverfahren zu. Die Rechtsfolgen beider Entscheidungsarten sind trotz verschiedener Normsituationen weitgehend vereinheitlicht. Ebenso sind Rechtsanwender an die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof gebunden.31 Diese Bindung ist unabhängig vom Verfahren, in dem die Auslegung vorgenommen wurde.32 Dogmatisch handelt es sich also wie bei der Rückwirkung nicht um die Bindungswirkung eines Urteils, sondern um Wirkungen, die der Unionsnorm zukommen.33 Dies lässt sich aus der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung ableiten, wonach die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV entfällt, wenn die Rechtsfrage – gleich in welcher Verfahrensart – vom Gerichtshof bereits geklärt wurde.34
III. Kompetenz zur Beschränkung der zeitlichen Wirkung 16 Diese theoretische Grundlegung ermöglicht, die Kompetenzgrundlagen für die Be-
stimmung der zeitlichen Wirkung der EuGH-Rechtsprechung herauszuarbeiten. Zum einen erweist sich die grundsätzliche Rückwirkung der Rechtsprechung als strukturell bedingt und muss daher vom Gerichtshof nicht besonders begründet werden. Einer gesonderten Ermächtigung bedarf es nicht. Zum anderen legt die theoretische Unter-
30 Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 14; Rainer, IStR 1996, 328. 31 Über den Inhalt der Bindung besteht weiterhin Streit. Die Vertreter eines bindenden Abweichungsverbotes und einer präsumtiv-faktischen Bindungswirkung dürften ungefähr gleich an Zahl sein, siehe die Nachweise bei Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH (3. Aufl. 2015), S. 113 ff.; Klappstein, JbJZ 2009, S. 233, 258 ff. 32 Toth, YEL 4 (1984), 1, 61 Fn. 251; Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law (1998), S. 115, 134 f.; siehe auch oben Rn. 8. 33 I.Erg. ebenso Lenaerts, CMLR 44 (2007), 1625, 1642 unter Berufung auf den deklaratorischen Charakter der Auslegung. 34 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 14; Köber, Kooperations- und Beschleunigungsmechanismen im Vorabentscheidungsverfahren (2013), S. 69.
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III. Kompetenz zur Beschränkung der zeitlichen Wirkung
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scheidung zwischen Auslegung und Aufhebung nahe, dass auch die diesbezüglichen Kompetenzen verschieden zu begründen sind.
1. Unwirksamkeit Bei der zeitlichen Beschränkung der Unwirksamkeit einer Unionsnorm kann sich der 17 Gerichtshof auf die ausdrückliche Bestimmung des Art. 264 Abs. 2 AEUV berufen. Danach liegt es in seinem gebundenen Ermessen, diejenigen Wirkungen der aufgehobenen Norm zu bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind. Die Vorschrift ist Ausprägung des Grundsatzes der Rechtssicherheit.35 Während die Vorgängervorschriften noch auf Verordnungen beschränkt waren, bezieht sich Art. 264 Abs. 2 AEUV auf sämtliche Handlungen der Union im Sinne von Art. 288 AEUV.36 Im Verfahren der Nichtigkeitsklage ist Art. 264 Abs. 2 AEUV direkt anwendbar. Auf die Gültigkeitsvorlage und die Inzidentrüge findet die Regelung entsprechende Anwendung, da nur so die Kohärenz der Aufhebungsverfahren sichergestellt werden kann.37
2. Auslegung Für die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung fehlt es an einer ausdrücklichen Kom- 18 petenzzuweisung. Dennoch muss die auf primärrechtliche Grundsätze zurückzuführende Rückwirkung nicht schrankenlos sichergestellt werden, sondern ist dem Ausgleich mit anderen primärrechtlichen Rechtsgrundsätzen zugänglich. Zu Recht geht der Gerichtshof daher davon aus, dass Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV in Verbindung mit dem Prinzip der Rechtssicherheit eine Beschränkung der Rückwirkung der Auslegung ermöglicht.38 Zur „Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung der Verträge“ gehört auch die Berücksichtigung von Auswirkungen der EuGH-Urteile auf andere schützenswerte Interessen und Rechtspositionen. Dagegen lässt sich nicht anführen, dass das EuGH-Urteil in einem solchen Fall gänzlich wertlos sei, weil es im
35 Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 263 AEUV Rn. 3. 36 Der Gesetzgeber hat damit nur die frühere Rechtslage kodifiziert, denn der EuGH wandte die Vorgängervorschriften analog auf andere Rechtsakte als Verordnungen an, vgl. die ausführliche Darstellung bei Chr. Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, S. 28 ff.; eingehend zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift Wusterhausen, Die Wirkungen der Urteile des EuGH in der Zeit, S. 79 ff. 37 Zum Gültigkeitsverfahren: EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, EU:C:1985:86 Rn. 17; Weiß, EuR 1995, 377, 384; Bebr, FS Stein (1987), S. 107. Zur Inzidentrüge: Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 117. 38 EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, EU:C:1981:63 Rn. 32; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u. a., EU:C:2010:181 Rn. 91; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte (2003), S. 663 f.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
Anlassfall nicht entscheidungserheblich sei und daher nicht als Präjudiz für andere Sachverhalte dienen könne.39 Der Gerichtshof ist frei, auch solche Bestandteile einer Urteilsbegründung, die die Entscheidung im Einzelfall nicht tragen, als präjudizfähig anzusehen.40 Dementsprechend sind die materiellrechtlichen Aussagen einer rückwirkungsbeschränkten Entscheidung in gleichem Maße für andere Sachverhalte oder die Zukunft verbindlich wie bei Entscheidungen ohne eine Rückwirkungsbeschränkung. 19 Die Kompetenz zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung gilt auch für das Vertragsverletzungsverfahren.41 Der Gerichtshof konnte die Anwendung der für die Auslegung etablierten Grundsätze zwar bisher stets offen lassen, weil jedenfalls die Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt gewesen waren.42 Da sich die Wirkungen der Auslegung nicht unterscheiden, wenn diese im Vertragsverletzungsverfahren oder etwa im Auslegungsvorabentscheidungsverfahren erfolgt ist, müssen auch die zeitlichen Wirkungen verfahrensübergreifend bestimmt werden.43 Diese sollten außerdem nicht von dem Zufall abhängen, in welchem Verfahren eine bestimmte Rechtsfrage ihrer Klärung zugeführt wird.
IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung 20 Die Rückwirkung einer Auslegungs- oder Unwirksamkeitsentscheidung darf nur be-
schränkt werden, wenn „zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit, die mit allen
39 Z. B. Lord Hobhouse of Woodborough, in: House of Lords v. 27.7.2000 Regina v. Governor of Her Majesty’s Prison Brockhill Ex Parte Evans, [2000] 4 All E.R. 15: „Such a decision would by definition not be part of the ratio decidendi of the case and therefore would not constitute an authoritative decision.“ Ähnlich unter Hinweis auf die ausschließliche Zuständigkeit des Gesetzgebers für die Regelung der Zukunft Jansen, ERPL 2 (2000), 336, 340 f. 40 Vgl. Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law (1998), S. 115, 126 f. (dort aber zum Inhalt der Bindungswirkung). Zum englischen Recht McLeod, Legal Method (9. Aufl. 2013), S. 135; Martens, JZ 2011, 348, 352. 41 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 125 ff. 42 Z. B. EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, EU:C:2005:588 Rn. 29 f.; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-239/06 Kommission ./. Italien, EU:C:2009:784 Rn. 56 ff.; EuGH v. 25.10.2012 – Rs. C-387/11 Kommission ./. Belgien, EU:C:2012:670 Rn. 89 ff.; EuGH v. 8.4.2012 – Rs. C-288/12 Kommission ./. Ungarn, EU:C:2014:237 Rn. 64. Die Generalanwälte sind gespalten, sie bejahen (z. B. GA Slynn, Schlussanträge v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, EU:C:1987:367 [Slg. 1988, 305, 342 f.]; GA Kokott, Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, EU:C:2007:97 Tz. 84) oder verneinen (z. B. GA Alber, Schlussanträge v. 27.1.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien, EU:C:2000:42 Tz. 100; GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 7.6.2001 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, EU:C:2001:315 Tz. 62) eine Anwendbarkeit der Auslegungsgrundsätze. 43 In diesem Sinne GA Slynn, Schlussanträge v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, EU: C:1987:367 (Slg. 1988, 305, 342 f.).
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IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung
betroffenen öffentlichen wie privaten Interessen zusammenhängen“,44 dies gebieten. Der Ausgleich von Rechtssicherheit und „Objektivität des Rechts“45 verlangt eine Abwägung von individuellen und öffentlichen Rechtssicherheitsinteressen auf der einen Seite und dem Prinzip der Gesetzesbindung auf der anderen Seite. Letzteres umfasst die einheitliche Geltung des Unionsrechts unabhängig von den Auswirkungen auf den Einzelfall oder von mitgliedstaatlichen Besonderheiten. Ausgehend von diesen Gemeinsamkeiten unterscheidet der Gerichtshof die konkreten Tatbestandsvoraussetzungen deutlich danach, ob die Auslegung oder die Unwirksamkeit einer Unionsnorm betroffen sind.
1. Auslegung Für die Beschränkung der Auslegungsrückwirkung müssen drei Merkmale kumulativ 21 erfüllt sein. Zuerst – als negatives Tatbestandsmerkmal – darf eine Beschränkung nicht präkludiert sein, weil eine ähnliche („konnexe“) Rechtsfrage schon einmal vom Gerichtshof beantwortet wurde und dort ebendiese Beschränkung gleich aus welchem Grund unterblieben ist (a).46 Zudem müssen die Rechtsunterworfenen gutgläubig von einer anderen Rechtslage ausgegangen sein (b).47 Und schließlich müssen wegen des Urteils schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen drohen (c).48
a) Keine Präklusion Das Tatbestandsmerkmal der Präklusion bezweckt, die Einheitlichkeit der Anwen- 22 dung des Unionsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten und den Einzelnen sicherzustellen.49 Der Gerichtshof beurteilt das Vorliegen der Präklusion daher „objektiv“ aus seiner Perspektive, nicht etwa aus der Sicht der Rechtsunterworfenen.
44 EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, EU:C:1986:1 Rn. 28; EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, EU:C:2001:599 Rn. 36; ähnlich EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, EU:C:2008:605 Rn. 87. 45 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u. a., EU:C:2000:110 Rn. 57; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, EU:C:2000:470 Rn. 66. 46 Verneint z. B. in EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u. a., EU:C:2007:132 Rn. 38 ff.; EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-426/07 Krawczyński, EU:C:2008:434 Rn. 45 ff. 47 Verneint z. B. in EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, EU:C:1995:342 Rn. 34; EuGH v. 3.10.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, EU:C:2002:560 Rn. 46. 48 Verneint z. B. in EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, EU:C:2001:684 Rn. 53; EuGH v. 5.10.2006 – verb. Rs. C-290/05 und C-333/05 Nádasdi und Németh, EU:C:2006:652 Rn. 64 ff. 49 Z. B. EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u. a., EU:C:2012:657 Rn. 91.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
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aa) Maßstab des EuGH. Ungeachtet der rigorosen Rechtsfolge ist der Maßstab der Konnexität nicht abschließend geklärt. Die Feststellung, wann eine Rechtsfrage schon einmal Gegenstand einer gerichtlichen Erörterung war, hängt wesentlich vom Abstraktionsniveau der Rechtsfrage ab und eröffnet dem EuGH daher einen bedeutsamen Einschätzungsspielraum.50 Die Bestimmung der Konnexität verlangt einen Vergleich der Tatsachen unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Normsituation mit Blick auf die gestellte Rechtsfrage. So hat der Gerichtshof den Zugang zu einem Fachhochschulstudium vom Zugang zu einem Universitätsstudium unterschieden, als das Merkmal der „beruflichen Bildung“ im Sinne des heutigen Art. 166 Abs. 1 AEUV entscheidend war.51 Ebenso waren im Hinblick auf Art. 157 Abs. 1 AEUV der (diskriminierungsfreie) Zugang zu einem Betriebsrentensystem und dessen (diskriminierungsfreie) Ausgestaltung zu trennen,52 nicht hingegen die diskriminierungsfreie Gewährung einer Betriebsrente und einer betrieblichen Witwenrente im Hinblick auf ihren Entgeltcharakter im Sinne von Art. 157 Abs. 1 AEUV.53 Das Konnexitätsmerkmal weist deutliche Parallelen zur Lehre vom Präjudiz auf,54 wenngleich die Einzelheiten derselben im Unionsrecht noch nicht voll entwickelt sind.
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bb) Kritik: Ablehnung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals. Das Konnexitätsmerkmal vermengt eine Vielzahl von Einzelproblemen, insbesondere Vorhersehbarkeitserwägungen im Rahmen des guten Glaubens, die territoriale Reichweite und damit die Antragsbefugnis sowie das Verbot der Nachholung einer Rückwirkungsbeschränkung. Gleichzeitig führt es den EuGH zu Widersprüchen mit dem (subjektiven) Maßstab des „guten Glaubens“ und zu einer größeren Verbindlichkeit seiner eigenen Rechtsprechung im Vergleich zu Rechtsnormen.55 Daher ist es als eigenständiges Merkmal abzulehnen. Vielmehr ist sein Zweck, die einheitliche Geltung des Unionsrechts zu sichern, bei den einzelnen Sachproblemen angemessen zu berücksichtigen. Dies ermöglicht flexiblere Lösungen.56
50 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 82; Lang, IStR 2007, 235, 239; Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1842; krit. auch Schmitz/Stammler, AöR 136 (2011), 479, 498. 51 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 309/85 Barra, EU:C:1988:42 Rn. 14 im Gegensatz zu EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, EU:C:1988:43 Rn. 29 im Hinblick auf EuGH v. 13.2.1985 – Rs. 293/83 Gravier, EU: C:1985:69. 52 EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, EU:C:1990:209 im Hinblick auf EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka, EU:C:1986:204. 53 EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 Ten Oever, EU:C:1993:833 Rn. 15 ff. 54 Vgl. Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 136 ff., auch mit Kritik an den in der Literatur vorgenommenen Anleihen beim Streitgegenstandsbegriff. 55 Eingehend Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 143 ff. 56 Osterloh, FS Hassemer (2010), S. 177; Alexander, YEL 8 (1988), 11, 25.
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IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung
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b) Guter Glaube Das Merkmal des guten Glaubens ist erfüllt, wenn „die Einzelnen und die nationalen 25 Behörden zu einem mit der Unionsregelung unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil eine objektive und bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte“.57 aa) Bezugspunkt und Inhalt. Bezugspunkt des guten Glaubens muss also die Uni- 26 onsrechtslage („Unionsbestimmung“) sein.58 Wie die Rechtsunterworfenen das mitgliedstaatliche Recht oder etwa das Völkerrecht verstanden haben oder verstehen mussten, ist irrelevant. Entgegen seiner Formulierung fordert der Gerichtshof nicht nur eine Unsicherheit 27 über die Vorgaben des Unionsrechts, sondern die Überzeugung der Rechtsunterworfenen vom Bestehen einer bestimmten Rechtslage und der Unionsrechtmäßigkeit ihres Verhaltens.59 Unionsnormen sind als abstrakt-generelle Regelungen – jedenfalls in Randbereichen – strukturell unbestimmt,60 weshalb Zweifel oder Unklarheiten über das Verständnis einer Unionsnorm stets zu Lasten der Rechtsunterworfenen gehen und daher für einen guten Glauben nicht genügen können. Damit werden die Mitgliedstaaten auch nicht unangemessen belastet und ihnen die Anpassung ihrer Rechtsordnungen auf einen „bloß vagen Verdacht“ hin auferlegt.61 Als Adressaten des Unionsrechts müssen sich die Mitgliedstaaten ebenso wie die Unionsbürger auf Zweifelslagen einstellen und Vorsorge treffen. Das Merkmal des guten Glaubens ist dennoch nicht subjektiv zu bestimmen. An- 28 erkennung findet die Rechtsüberzeugung nur, wenn sie aus Perspektive der Rechtsunterworfenen objektiv berechtigt war.62 Allein dies ermöglicht einen unionseinheitlichen Maßstab.63
57 Z. B. EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders u. a., EU:C:1995:261 Rn. 43; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, EU:C:2010:625 Rn. 37. 58 St. Rspr., EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, EU:C:2001:458 Rn. 53; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, EU:C:2005:169 Rn. 69; Franzen, RIW 2010, 577, 578. 59 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 46 f.; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 130; Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, in: Lüdicke (Hrsg.), Europarecht – Ende der nationalen Steuersouveränität? (2006), S. 9, 24 f.; s.a. GA Sharpston, Schlussanträge v. 22.6.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, EU: C:2006:425 Tz. 87 f.; mit abweichenden Maßstäben hingegen z. B. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EUGH (1995), S. 305; Schwarze, NJW 2005, 3459, 3465; Lang, Intertax 35 (2007), 230, 233. 60 Statt aller Hartley, Constitutional Problems of the European Union (1999), S. 66 ff. 61 So aber Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 180. 62 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u. a., EU:C:2000:110 Rn. 58; EuGH v. 12.10.2000 – Rs. C-372/98 Cooke, EU:C:2000:558 Rn. 46; Broberg/Fenger, Preliminary References to the European Court of Justice (2010), S. 450. 63 GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u. a., EU:C:2005:676 Tz. 41.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
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bb) Vertrauensbegründendes Verhalten. Der faktische Irrtum der Rechtsunterworfenen über die Unionsrechtslage ist jedoch nur dann rechtlich relevant, wenn er durch ein der Union zurechenbares Verhalten veranlasst wurde. Anderenfalls wäre die Selbstbindung der Union auf Grundlage des Verbots widersprüchlichen Verhaltens nicht gerechtfertigt.64 30 Der Gerichtshof ist dabei vorrangiger Vertrauensveranlasser. Guter Glaube kommt demnach in Betracht, wenn eine gefestigte Rechtsprechung zu einer bestimmten Rechtsfrage besteht.65 Die Änderung dieser Rechtsprechung enttäuscht zumeist Vertrauen in den Fortbestand derselben. Ob tatsächlich eine Rechtsprechungsänderung vorliegt, beurteilt sich – entsprechend dem allgemeinen Gutglaubensmaßstab – aus verobjektiviert-subjektiver Sicht unter Berücksichtigung der Reichweite der bisherigen Rechtsprechung im Hinblick auf Streitgegenstand und/oder Vorlagefragen. Daher kann auch ein missverständliches Urteil des EuGH genügen,66 nicht jedoch die bloße judikative Untätigkeit.67 31 Verhalten der Kommission kann ebenso guten Glauben begründen. Zwar ist die Kommission im Gegensatz zum Gerichtshof nicht zur verbindlichen Auslegung des Unionsrechts berechtigt, ihr kommt aber eine zentrale Stellung in der Europäischen Union zu. Vertrauensauslösend ist vor allem ihr aktives Tun, beispielsweise in Form von öffentlichen Stellungnahmen zu Rechtsfragen oder der Beendigung von Vertragsverletzungsverfahren.68 Schweigen oder Unterlassen genügen nur, wenn eine Pflicht zum Tätigwerden bestand.69 Weder zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren noch beispielsweise zur Stellungnahme auf eine Notation nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 79/7/EWG ist die Kommission aber verpflichtet, so dass daraus kein guter Glaube abgeleitet werden kann, falls dies unterbleibt oder sich deutlich verzögert.70
64 Im Unterschied zur Selbstbindung einzelner Unionsorgane, bei der diese nur sich selbst binden, bindet hier ein Unionsorgan (z. B. die Kommission) ein anderes (den Gerichtshof). 65 Vgl. z. B. EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, EU:C:1996:169; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, EU:C:2005:169. 66 EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, EU:C:1999:228 Rn. 110 im Hinblick auf EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-277/94 Taflan-Met u. a., EU:C:1996:315; krit. dazu Peers, E.L.Rev. 24 (1999), 627, 633. 67 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 50; a. A. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 111. 68 EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u. a., EU:C:1992:326 Rn. 32; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/ 97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u. a., EU:C:2000:110 Rn. 56. 69 GA Sharpston, Schlussanträge v. 22.6.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, EU:C:2006:425 Tz. 93; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 133 f.; Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693; Thömmes, IWB 2006, 375, 379. 70 EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien und Nordirland, EU:C:2000:426 Rn. 93; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-239/06 Kommission ./. Italien, EU:C:2009:784 Rn. 59; EuGH v. 15.12. 2009 – Rs. C-387/05 Kommission ./. Italien, EU:C:2009:781 Rn. 59; EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94
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Auch die Rechtsansichten anderer Unionsorgane oder -einrichtungen können gu- 32 ten Glauben begründen, soweit ihre Stellungnahmen den Äußerungen des zur Auslegung allein berufenen Gerichtshofs im Einzelfall nahekommen.71 Dies erfordert eine besondere Sachkompetenz sowie ein Mindestmaß an Objektivität. Dementsprechend können Sekundärrechtsakte des Unionsgesetzgebers (Rat und Parlament) einen Irrtum über die Primärrechtslage hervorrufen.72 Stellungnahmen des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer nach Art. 398 RL 2006/112/EG dürften wegen dessen besonderer Sachkunde und großer Autorität ebenfalls dazu geeignet sein.73 Äußerungen der einzelnen Mitgliedstaaten oder ihrer Einrichtungen kommt ent- 33 gegen der Formulierung des Gerichtshofs und der Meinung der überwiegenden Literatur keine irrtumsbegründende Relevanz zu.74 Allenfalls ein gemeinsames Verständnis aller Mitgliedstaaten, das sich auf EU-Ebene institutionalisiert und artikuliert, genügt den Anforderungen an eine unionale Selbstbindung. Da die Rückwirkungsbeschränkung räumlich die gesamte EU erfasst, würde sonst das Unionsrecht in seinem Inhalt vom Verständnis einzelner Mitgliedstaaten abhängen. Außerdem kann nicht darauf abgestellt werden, ob ausschließlich Private von der Auslegung betroffen sind,75 weil angesichts der allgemeinen Bindungswirkung der Auslegung (oben Rn. 15) stets auch privatrechtsförmliches Handeln der Mitgliedstaaten berührt sein kann. Aus ebendiesem Grund können Rechtsansichten von Privatpersonen, Verbänden 34 oder der Wissenschaft keinen guten Glauben begründen; sie können der Union nicht zugerechnet werden. Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Bosman-Urteil,76 denn dort stellte der Gerichtshof nicht auf die Rechtsansichten der Sportverbände ab, son-
Richardson, EU:C:1995:342 Rn. 35; s.a. EuGH v. 19.10.2017 – Rs. C-101/16 SC Paper Consult, EU: C:2017:775 Rn. 68 zum EU-Pilot-Verfahren. 71 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 151 ff., S. 174 ff. und S. 195 ff. 72 Vgl. EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, EU:C:1990:209 Rn. 42; aber auch EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C‑163/90 Legros u. a., EU:C:1992:326 Rn. 32. 73 Der Gerichtshof hat bisher nur eine vertrauenszerstörende Wirkung der Stellungnahmen angenommen, EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, EU:C:2006:578 Rn. 73. 74 Der Obersatz des EuGH findet sich auch in EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, EU: C:2010:625 Rn. 37; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, EU:C:2013:864 Rn. 36. Aus der zustimmenden Literatur Wiedmann, EuZW 2007, 692, 695; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006), S. 293 f.; Sagan, JbJZ 2010, S. 67, 71 ff. Wie hier hingegen i.Erg. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 59; Chr. Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, S. 141 f. 75 So aber Düsterhaus, EuR 2017, 30, 42 f. 76 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, EU:C:1995:463 Rn. 143.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
dern auf die Schwierigkeiten bei der Auslegung des Unionsrechts hinsichtlich der komplizierten Verbandsregelungen.77 35
cc) Ausschluss des guten Glaubens. Der gute Glaube darf nicht ausgeschlossen sein. Ein Irrtum der Rechtsunterworfenen ist nicht (objektiviert) nachvollziehbar, wenn die Rechtsfrage schon vorher Gegenstand einschlägiger Rechtsprechung war.78 Hier zeigt sich deren Ambivalenz als Auslöser sowie Grenze von Vertrauen. Ob eine vorbestehende Rechtsprechung einschlägig war, beurteilt sich im Einklang mit dem allgemeinen Gutglaubensmaßstab aus verobjektiviert-subjektiver Sicht. Auch der Gerichtshof verneint gelegentlich den guten Glauben aufgrund einer geklärten Rechtslage, obwohl hiermit dasselbe Sachproblem angesprochen ist wie mit dem (hier abgelehnten) Konnexitätsmerkmal. Er hat dementsprechend Probleme, die Sachverhalte entweder der Präklusion oder dem Ausschluss des guten Glaubens zuzuordnen.79 Konsequenterweise müsste der EuGH hier zudem einen objektiven Maßstab anlegen und so Widersprüche mit dem sonst geltenden Gutglaubensmaßstab hervorrufen. 36 Darüber hinaus ist guter Glaube immer dann ausgeschlossen, wenn durch öffentliche Rechtsansichten der Unionsorgane zumindest Zweifel über den Inhalt des Unionsrechts begründet werden. Der Gerichtshof hat beispielsweise auf Schlussanträge aus anderen Verfahren abgestellt80 oder Stellungnahmen der Kommission oder des Rates und die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens als schädlich angesehen.81 37
dd) Die Vertrauenden. Da sich die Notwendigkeit einer Rückwirkungsbeschrän-
kung durch die Reichweite der Bindungswirkung des Urteils verstärkt, sind die
77 Hilf/Pache, NJW 1996, 1169, 1173; a. A. Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786, 788. Die vom EuGH besorgte „Unsicherheit“ hätte freilich nicht für eine Rückwirkungsbeschränkung genügen dürfen, s. o. Rn. 27. 78 Z. B. EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, EU:C:1980:100 Rn. 21; EuGH v. 23.5.2000 – Rs. C-104/98 Buchner u. a., EU:C:2000:276 Rn. 40; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, EU:C:2012:801 Rn. 46; EuGH v. 22.9.2016 – Rs. C-110/15 Microsoft Mobile Sales International u. a., EU:C:2016:717 Rn. 62. 79 Siehe insbesondere EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, EU: C:1992:152 Rn. 21 sowie in gleicher Sache GA Tesauro, Schlussanträge v. 30.1.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, EU:C:1992:45 Tz. 12; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u. a., EU:C:2007:132 Rn. 38 ff. 80 EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u. a., EU:C:1994:315 Rn. 44. 81 EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, EU:C:1992:152 Rn. 22; EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders u. a., EU:C:1995:261 Rn. 4; EuGH v. 10.11.2016 – Rs. C-452/16 PPU Poltorak, EU:C:2016:858 Rn. 57; vgl. auch GA Mengozzi, Schlussanträge v. 12.9.2012 – Rs. C-395/11 BLV Wohn- und Gewerbebau, EU:C:2012:799 Tz. 107.
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IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung
Personen, die sich über die Unionsrechtslage geirrt haben können, treffend mit „die betroffenen Verkehrskreise“ umschrieben.82 Betroffen ist, auf wessen rechtliche Beziehungen die ausgelegte Unionsnorm Auswirkungen hat. Im Mehrebenensystem der EU fallen auch die Mitgliedstaaten darunter, soweit sie als Adressaten des Unionsrechts in eigenen Rechtspositionen berührt werden.83 Die Unionsorgane hingegen werden der Union zugerechnet und können nicht auf einen bestimmten Norminhalt vertrauen.84 ee) Zeitpunkt des guten Glaubens. Der Gerichtshof beurteilt den guten Glauben da- 38 nach, wie er sich zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung darstellt, wobei er im selben Verfahren abgegebene Stellungnahmen der Generalanwälte unbeachtet lässt. Frühere Änderungen im gutglaubensrelevanten Verhalten der Unionsstellen führen – ohne erkennbare Systematik – einmal zum Ausschluss und ein anderes Mal zur Bejahung von gutem Glauben.85 Der gute Glaube wird dann ausgehend vom Urteilstag für den gesamten Geltungszeitraum der ausgelegten Unionsnorm rückwirkend fingiert. Demgegenüber zeigt insbesondere das vieldiskutierte Problem der Trittbrettfah- 39 rer, dass eine flexiblere Anknüpfung von Beginn und Ende des guten Glaubens notwendig ist. Dort soll die Änderung der Gutglaubenssituation sich ausschließlich auf die personelle Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung auswirken, indem einzelne Rechtsunterworfene von der Rückwirkungsbeschränkung ausgenommen werden,86 obwohl wegen des objektivierten Maßstabs für alle Betroffenen Gleiches gelten müsste. Der gute Glaube ist deshalb für jeden Zeitpunkt in der Vergangenheit getrennt zu bestimmen, was darauf hinausläuft, dass der Gerichtshof deutlicher als bisher Re-
82 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, EU:C:1994:353 Rn. 25 f.; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C‑435/ 93 Dietz, EU:C:1996:395 Rn. 24 f. 83 v. Arnauld, Rechtssicherheit (2006), S. 140; Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1988), S. 77 ff.; a. A. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 37; Balthasar, JbJZ 2010, S. 39, 65. 84 Vgl. zur Kommission GA Jääskinen, Schlussanträge v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u. a., EU:C:2010:726 8573 Tz. 117. 85 Vgl. EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, EU:C:1981:121; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u. a., EU:C:1988:43; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u. a., EU: C:1992:326; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u. a., EU:C:2000: 110. 86 Z. B. Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 394; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 102 ff.; GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, EU:C:2005:183 Tz. 165 ff.; GA Tizzano, Schlussanträge v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u. a., EU:C:2005:676 Tz. 56 ff.
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chenschaft darüber ablegen muss, welche Umstände einen Irrtum begründet oder ausgeschlossen haben.87
c) Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen 40 Als dritte Tatbestandsvoraussetzung muss eine „Gefahr schwerwiegender wirtschaft-
licher Auswirkungen [bestehen], die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren“.88 So soll sichergestellt werden, dass der Geltungsbefehl des Unionsrechts nicht durchbrochen wird, wenn der gute Glaube gar nicht betätigt worden ist.89 Auch bei (ausdrücklichen) Rechtsprechungsänderungen verzichtet der Gerichtshof nicht auf die Prüfung dieser Voraussetzung. Das in eine andere Richtung deutende Vorgehen in der Rechtssache Cabanis-Issarte blieb ein Einzelfall.90 41
aa) Wirtschaftliche Auswirkungen. Zu berücksichtigen sind die Auswirkungen des
Urteils auf alle Mitgliedstaaten und alle Rechtsunterworfenen, die Prüfung ist nicht etwa nur auf den Staat des Vorlageverfahrens oder gar die Parteien des Ausgangsrechtsstreits zu begrenzen.91 Das ergibt sich aus der unionsweit einheitlichen Geltung des Unionsrechts.92 Prozessual wird dies vor allem durch das Beteiligungsrecht nach Art. 23 EuGH-Satzung in Verbindung mit Art. 96 Abs. 1 lit. b) EuGH-VerfO abgesichert. 42 Der Begriff der „wirtschaftlichen Auswirkungen“ ist weit zu verstehen und erfasst alle in Geld messbaren direkten und indirekten Folgen, die sich aus dem Urteil des Ge-
87 Ausführlich Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 220 ff. 88 EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, EU:C:2001:648 Rn. 76; EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C‑2/09 Kalinchev, EU:C:2010:312 Rn. 51. 89 Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte (2001), S. 238 f. 90 Siehe insbesondere EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, EU:C:2005:169 Rn. 70. Dies übersieht Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 73. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 235 geht davon aus, die Voraussetzungen des guten Glaubens und der wirtschaftlichen Auswirkungen könnten sich in einem beweglichen System teilweise ausgleichen; in diese Richtung auch Wusterhausen, Die Wirkungen der Urteile des EuGH in der Zeit, S. 334 im Anschluss an GA Wahl, Schlussanträge v. 24.10.2013 – Rs. C82/12 Transportes Jordi Besora, EU:C:2013:694 Tz. 58. 91 Wie hier z. B. BSG v. 18.2.2004 – B 10 EG 10/03 R, Rn. 23; GA Jacobs, Schlussanträge v. 15.12.2005 – Rs. C‑423/04 Richards, EU:C:2006:256 Tz. 63; GA Kokott, Schlussanträge v. 15.2.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, EU:C:2007:97 Tz. 86. Anders GA Sharpston, Schlussanträge v. 13.7.2006 – Rs. C-290/05 Nádasdi, EU:C:2006:477 Tz. 81; Lang, Intertax 35 (2007), 230, 237; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht (2006), S. 143 f. 92 Das gilt erst recht, wenn man mit dem EuGH davon ausgeht, dass Anträge auf Rückwirkungsbeschränkung in späteren Verfahren mit konnexer Rechtsfrage präkludiert sind.
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IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung
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richtshofs für die Rechtsunterworfenen ergeben würden.93 Unberücksichtigt bleiben dabei Rechtsverhältnisse, die aufgrund von (auch mitgliedstaatlichen) Bestands- oder Rechtskraftregelungen nicht mehr verändert werden können, ebenso wie Kosten, die von den Betroffenen auf andere Marktteilnehmer überwälzt werden können.94 bb) Schwerwiegende Auswirkungen. Schwerwiegend sind die Auswirkungen, 43 wenn sie die Mitgliedstaaten bzw. deren hoheitliche Untergliederungen, öffentliche Selbstverwaltungsträger oder eine Vielzahl von Unternehmen bzw. Privatpersonen im betroffenen Marktsegment ernsthaft in ihrem wirtschaftlichen Bestand gefährden.95 Deren finanzielle Lasten sind mit aussagekräftigen Marktdaten ins Verhältnis zu setzen, z. B. dem Bruttoinlandsprodukt, dem jeweiligen Steueraufkommen oder dem Umfang privater Rentenversorgungssysteme. Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit keine klare Linie erkennen lassen, jedoch nur ganz ausnahmsweise die Voraussetzungen bejaht.96 Dabei hat er regelmäßig Auswirkungen auf eine Vielzahl betroffener Rechtsverhältnisse und Rechtsunterworfener verlangt.97
cc) Gefahr. Die wirtschaftlichen Auswirkungen müssen jedoch nicht schon mit an 44 Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten oder eingetreten sein; es genügt, dass sie drohen.98 Den Betroffenen ist bei der Prognose eine gewisse Fehlertoleranz zuzugestehen. Gleichzeitig ist sicherzustellen, dass nicht schon jede Mutmaßung genügt.
d) Neuartiger Ansatz in der Rechtssache UNIS Einen ungewöhnlichen Ansatz hat der EuGH bei der jüngsten Bejahung einer Rück- 45 wirkungsbeschränkung in der Rechtssache UNIS99 gewählt.100 Dort verweist er zwar auf die etablierte Rechtsprechung, dies aber nur für den Ausnahmecharakter der Rückwirkungsbeschränkung und nicht unter Heranziehung der üblichen Tat-
93 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 117 f. 94 Heß, ZZP 108 (1995), 59, 69 f.; Schwarze, EuR 1977, 43, 50. 95 In diesem Sinne mit unterschiedlichen Formulierungen Hey, GmbHR 2006, 113, 117; Seer/Müller, IWB 2008, 255, 261. 96 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 229 ff. 97 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht (2010), S. 64; krit. Vording/Lubbers, BTR 2006, 91, 107. 98 Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786, 788. 99 EuGH v. 17.12.2015 – verb. Rs. C-25/14 und C-26/14 UNIS, EU:C:2015:821. 100 Ebenso stuft die Entscheidung ein Henssler/Willemsen/Kalb-Tillmanns, Arbeitsrecht Kommentar (9. Aufl. 2020), Art. 267 AEUV Rn. 20.
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bestandsvoraussetzungen. Vielmehr stellt er „die Besonderheiten des Rechts der Vergabe öffentlicher Aufträge und die sehr speziellen Umstände“ der Sachverhalte den Vordergrund.101 Auch in der Sache prüft der Gerichtshof weder die schweren wirtschaftlichen Auswirkungen, noch genügt die von ihm erwähnte „nicht-präzisierte“ Rechtslage den üblichen Anforderungen an einen erforderlichen Rechtsirrtum.102 In allen nachfolgenden Entscheidungen hat der Gerichtshof wieder die herkömmlichen Voraussetzungen (guter Glaube und schwerwiegende Auswirkungen) geprüft. 46
Dieses Vorgehen wurde als Öffnung in Richtung einer umfassenden Abwägung aller Einzelfallumstände und Orientierung an der Fallgruppe der Regelungslücke im Rahmen der Unwirksamkeitsrückwirkungsbeschränkung (unten Rn. 53 ff., s.a. Rn. 79) begrüßt,103 ist in dieser Form aber abzulehnen. Im konkreten Fall mag eine Anlehnung an die im materiellen Vergaberecht bestehende Möglichkeit der Beschränkung der Rückwirkung von Nachprüfungsentscheidungen104 nahegelegen haben, weil sich der Unionsgesetzgeber seinerseits (zumindest sprachlich) an die Maßstäbe und Begrifflichkeiten der Rückwirkungsbeschränkungsrechtsprechung angelehnt hatte. Die Zitierung der einschlägigen Richtlinienvorschriften vertieft jedoch nicht etwa die Begründung der Entscheidung,105 sondern eröffnet neue Konfliktbereiche:
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Zuerst werden die methodischen Grenzen und Voraussetzungen der Anwendung des materiellen Rechts verschoben. Erlaubt der Gerichtshof nämlich eine Rückwirkungsbeschränkung in Sachverhalten, die von den herangezogenen Richtlinienbestimmungen nicht erfasst würden, so werden die Voraussetzungen einer analogen Anwendung derselben missachtet. Solche Schranken spezifisch materiell-rechtlicher Rückwirkungstatbestände sollten auch im materiellen Recht verortet werden. Dort könnte er auch die grundsätzliche Rückwirkung der Auslegung und deren Beschränkungsmöglichkeit berücksichtigen.106 Der EuGH hingegen bildet gleichsam freihändig einen vergaberechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Beständigkeit rechtswidrig geschlossener Verträge.
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Hinzukommt, dass der Gerichtshof durch den Rückgriff auf sein Ermessen im Rahmen der Rückwirkungsbeschränkung formelle, materielle und kompetenzielle Vorgaben des Sachrechts übergeht. So ist in der maßgeblichen Richtlinie die Entscheidung über die Einführung eines solchen Rückwirkungsausschlusses den Mitgliedstaaten übertragen. Gerade die Einführung der vom EuGH im Rahmen der Auslegung von Art. 56 AEUV fruchtbar gemachten Ausnahme war zudem politisch sehr umstritten und zieht eigentlich eine Notationspflicht nach sich.107
101 EuGH v. 17.12.2015 – verb. Rs. C-25/14 und C-26/14 UNIS, EU:C:2015:821 Rn. 50; das betont auch Kaufmann, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Werkstand: 49. EL November 2019, P II Rn. 221 Fn. 401 102 So auch GA Jääskinen v. 29.3.2015 – verb. Rs. C-25/14 und C-26/14 UNIS, EU:C:2015:191 Tz. 84. 103 Ausdrücklich Düsterhaus, EuR 2017, 30, 52. 104 Der Gerichtshof bezieht sich auf Art. 2d und 2f der Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG. 105 So aber Hartmann, EuZA 2017, 153, 155. 106 Vgl. EuGH v. 21.12.2016 – verb. Rs. C-154/15 u. a. Gutiérrez Naranjo, EU:C:2016:980 Rn. 62 ff. 107 Vgl. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG; zum Gesetzgebungsprozess Costa-Zahn/Lutz, NZBau 2008, 22, 26.
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2. Unwirksamkeit Für Unwirksamkeitsentscheidungen sind die Gründe einer Beschränkung der zeitli- 49 chen Wirkungen bislang nur wenig untersucht. Einigkeit besteht allerdings im Ausgangspunkt: In Betracht kommen Erwägungen der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes, überragender öffentlicher Interessen und des Schutzes wohlerworbener Rechte Dritter.108 Der Gerichtshof stützt sich dabei zumeist nicht nur auf einen dieser Gründe, sondern nimmt eine umfassende Interessenabwägung vor und kommt so zu einer flexiblen Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV.109
a) Wohlerworbene Rechte und Vertrauensschutz Vergleichbar der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung schützt der Gerichtshof zu- 50 erst Personen, die Rechte in Anspruch genommen haben, die von der aufgehobenen Regelung oder von Durchführungsmaßnahmen eingeräumt wurden.110 Basis des Vertrauens der Betroffenen ist die Gültigkeitsvermutung, die dem rangniederen Unionsrecht zukam.111 Die Gültigkeitsvermutung wurde zwar als vertikale Kompetenzschranke entwickelt, sie entbindet aber darüber hinaus die Rechtsunterworfenen von der Pflicht, den Rechtsakt gleichzeitig als gültig ansehen und dessen Rechtmäßigkeit ständig überprüfen zu müssen.112 Damit ist die abstrakte Vertrauenssituation grundsätzlich bei allen Unionsrechtsakten identisch und folgerichtig prüft der EuGH nicht die Begründung von Vertrauen, sondern dessen Erschütterung. Dies ist – wie bei der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung – vor allem der Fall, wenn die Auswirkungen des höherrangigen Unionsrechts auf die in Frage stehende Unionsnorm aufgrund bestehender Rechtsprechung erkennbar waren.113 Wegen der geringen Unterscheidungskraft der Vertrauenssituation kommt der 51 Prüfung der geschützten Rechtsposition, die durch oder aufgrund des Rechtsakts erworben wurde, große Bedeutung zu. Als solche hat der Gerichtshof beispielsweise
108 Streinz-Ehricke, Art. 264 AEUV Rn. 10; Schwarze-Schwarze, Art. 264 AEUV Rn. 9; Chr. Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, S. 17. Auf öffentliche Interessen beschränkend Weiß, EuR 1995, 377, 392. 109 Vgl. EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, EU:C:1986:1 Rn. 28; EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, EU:C:2001:599 Rn. 36; lobend Düsterhaus, EuR 2017, 30, 33. 110 Ausdrücklich EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, EU:C:1995:14 Rn. 33. 111 Zur Gültigkeitsvermutung EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-199/06 CELF, EU:C:2008:79 Rn. 60; Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht (1998), S. 79 ff. 112 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 255 f.; Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law (11. Aufl. 2012), S. 238. 113 Vgl. EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u. a., EU:C:1994:315 Rn. 42 ff.; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, EU:C:2000:470 Rn. 68 f.
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anerkannt eingegangene Verträge und erhaltene oder geleistete Zahlungen,114 durchgeführte Im- oder Exporte115 sowie eine abgeschlossene Aussaat von Baumwollpflanzen.116 Die Rechtsposition kann privaten Marktteilnehmern ebenso zustehen wie den Mitgliedstaaten,117 nicht aber Einrichtungen der Union selbst.118 Im Gegensatz zur Auslegungsrückwirkung genügen zumeist schon wenige Betroffene.119
b) Öffentliche Interessen 52 Wesentlich häufiger dient die Rückwirkungsbeschränkung nach Art. 264 Abs. 2
AEUV öffentlichen Interessen der Europäischen Union. Die rechtswidrigen Vorschriften werden aufrechterhalten, weil ihre Aufhebung mehr Schaden als Nutzen bringt. Während bei den Auslegungsentscheidungen der Zweck der rangniederen mitgliedstaatlichen Norm im Rahmen der Abwägung nicht berücksichtigt wird, stellt hier die Schutzrichtung des abgeleiteten Unionsrechts das wesentliche Abwägungskriterium dar. 53
aa) Vermeidung einer Regelungslücke. Einem Großteil der EuGH-Entscheidungen lässt sich die Zielrichtung entnehmen, eine Regelungslücke120 zu vermeiden, die vom Tag des Urteils bis zum Wirksamwerden eines neuen Rechtsakts auftreten würde. Voraussetzung ist, dass der hypothetische spätere Rechtsakt nicht seinerseits rechtswidrig wäre und er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erlassen werden wird. Außerdem ist ein besonderes Interesse an der zu schützenden Regelung zu verlangen. 54 Ein späterer Rechtsakt wäre rechtswidrig, wenn sein Ziel überhaupt nicht oder jedenfalls nicht mit dem angegriffenen Mittel erreicht werden könnte. Formelle Fehler (im weiteren Sinne) des aufgehobenen Rechtsakts können hingegen regelmäßig be-
114 EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, EU:C:2003:42 Rn. 74. 115 EuGH v. 26.3.1987 – Rs. 45/86 Kommission ./. Rat, EU:C:1987:163 Rn. 23; EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, EU:C:1998:550 Rn. 52 f.; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-178/03 Kommission ./. Parlament und Rat, EU:C:2006:4 Rn. 64 f. 116 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-310/04 Spanien ./. Rat, EU:C:2006:521 Rn. 139 f. 117 EuG v. 13.4.2011 – Rs. T-576/08 Deutschland ./. Kommission, EU:T:2011:166 Rn. 142; EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, EU:C:1986:1 Rn. 27; EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u. a., EU:C:1994:315 Rn. 44 f. Anders, bei Überspannung des Begriffs „Vertrauensschutz“, EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, EU:C:2000:470 Rn. 67. 118 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-239/01 Deutschland ./. Kommission, EU:C:2003:514 Rn. 78. 119 Vgl. EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, EU:C:1996:133 Rn. 36 (128 angelaufene oder durchgeführte Aktionen); EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, EU:C:1998:218 Rn. 40 iVm Rn. 14 (86 Vorhaben zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung). 120 Das Vorliegen einer solchen Regelungslücke verneint z. B. EuGH v. 16.7.2020 – Rs. C-311/18 Facebook Ireland und Schrems, EU:C:2020:559 Rn. 202.
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IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung
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seitigt werden.121 Die nötige Wahrscheinlichkeit für den erneuten Erlass eines weitgehend inhaltsgleichen Rechtsakts besteht zum einen, wenn der Unionsgesetzgeber – beispielsweise aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen – zum Tätigwerden gezwungen ist. In allen anderen Fällen ist eine Einzelfallbetrachtung anzustellen, wobei unter anderem zu berücksichtigen ist, ob sämtliche Prozessbeteiligten einer Rückwirkungsbeschränkung zugestimmt oder von vorn herein nur formelle Fehler gerügt haben.122 Bei Nichtigkeitsentscheidungen des EuG wird dem Rechtssicherheitsinteresse schon dadurch Rechnung getragen, dass die Aufhebung des Rechtsakts erst mit Ablauf der zweimonatigen Rechtsmittelfrist des Art. 56 Abs. 1 EuGH-Satzung (rückwirkend123) wirksam wird, Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung.124 Die zu schützenden Regelungsziele spiegeln das besondere Interesse der Union 55 an der Aufrechterhaltung des Rechtsakts wider. Anschaulich führte GA Léger im Bereich des Verkehrsrechts125 aus: „Würden die Wirkungen der Richtlinie nicht aufrechterhalten, so würde im Ergebnis der Status quo ante wiederhergestellt und das aufgehoben, was immerhin eine Annäherung und einen – wenn auch begrenzten – Beginn einer Harmonisierung der Abgabensätze auf dem Gebiet des Verkehrs in der Gemeinschaft darstellt und zur Verwirklichung der autonomen Verkehrspolitik beiträgt.“126 Neben solchen binnenmarktorientierten Zielen wurde Art. 264 Abs. 2 AEUV unter anderem angewendet bei neu gegründeten Unionsbehörden oder der Einrichtung von technischen Verwaltungsvereinfachungen,127 bereits eingeleiteten Umweltschutzaktionen,128 der Bewältigung der BSE-Krise129, der Bekämpfung von Piraterie130 oder bei Investitionsvorhaben für die Energieinfrastruktur,131 zur Aufrechterhaltung
121 Vgl. EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, EU:C:1992:294 Rn. 24; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, EU:C:2003:452 Rn. 56; EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-490/10 Parlament ./. Rat, EU:C:2012:525 Rn. 91. 122 Vgl. z. B. EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, EU:C:1995:220 Rn. 30; EuGH v. 25.2. 1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, EU:C:1999:99 Rn. 21; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, EU:C:2008:605 Rn. 86. 123 EuG v. 24.5.2016 – verb. Rs. T‑423/13 und T‑64/14 Good Luck Shipping ./. Rat, EU:T:2016:308 Rn. 79. 124 Langner, Der Europäische Gerichtshof als Rechtsmittelgericht (2003), S. 31. 125 Dazu auch EuGH v. 6.5.2014 – Rs. C-43/12 Kommission ./. Parlament und Rat, EU:C:2014:298 Rn. 54. 126 GA Léger, Schlussanträge v. 28.3.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, EU:C:1995:88 Tz. 64. 127 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, EU:C:1996:133 Rn. 36; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, EU:C:1998:258 Rn. 39. 128 EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, EU:C:1999:99; EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, EU:C:2003:42. 129 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, EU:C:2001:689. 130 EuGH v. 24.6.2014 – Rs. C-658/11 Parlament ./. Rat, EU:C:2014:2025 Rn. 90. 131 EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-490/10 Parlament ./. Rat; EU:C:2012:525; ebenso GA Bot, Schlussanträge v. 28.1.2014 – Rs. C-573/12 Ålands Vindkraft, EU:C:2014:37 Tz. 120 im Hinblick auf den Ausbau der er
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
von Eingriffen in die persönlichen Freiheiten zum Zwecke der Terrorabwehr oder Verhinderung nuklearer Proliferation („smart sanctions“)132 sowie – historisch zuerst – zum Schutz der Kontinuität bei der Besoldung der Unionsangestellten133. 56
bb) Weitere Anwendungsfälle. Daneben kann sich das Bedürfnis nach einer Rückwirkungsbeschränkung aus anderen öffentlichen Unionsinteressen ergeben. Dazu zählt zuerst die Arbeitsfähigkeit der Union oder ihrer Einrichtungen. Diese ist gefährdet, wenn sich Zustimmungshandlungen zum Haushaltsplan als rechtswidrig herausstellen.134 Weiterhin kann eine zu vermeidende Unsicherheit über die geltende Rechtslage bestehen, wenn Zustimmungshandlungen zu völkerrechtlichen Verträgen rückwirkend wegfallen würden.135 Hiervon würden die völkerrechtlichen Pflichten nämlich gemäß Art. 27, 46 Abs. 1 WVK nur in Einzelfällen berührt.136 Marktordnungsziele wiederum sind einschlägig, wenn die Rückabwicklung gezahlter oder erhaltener Währungsausgleichbeträge in den Mitgliedstaaten aufgrund unterschiedlicher Erstattungsregeln zu neuen Wettbewerbsverzerrungen auf dem Gemeinsamen Agrarmarkt führen würde.137 57 Der Grundsatz der horizontalen Gewaltenteilung gebietet die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV, wenn eine rechtswidrige Vorschrift aufrechterhalten wird, um den Beurteilungsspielraum eines anderen Unionsorgans zu schützen.138 Ebenso handelt es sich um eine zeitliche Beschränkung, wenn Unionsrechtsnormen aufrecht-
neuerbaren Energien; auch EuGH v. 17.3.2016 – Rs. C-286/14 Parlament ./. Kommission, EU:C:2016:183 Rn. 68 ff. zur Fazilität „Connecting Europe“. 132 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi u. a., EU:C:2008:461 Rn. 373; EuG v. 11.6.2009 – Rs. T-318/01 Othman, EU:T:2009:187 Rn. 99; EuG v. 5.2.2013 – Rs. T-494/10 Bank Saderat Iran, EU:T:2013:59 Rn. 125; EuG v. 3.7.2014 – Rs. T-155/13 Zanjani, EU:T:2014:605 Rn. 84. 133 EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, EU:C:1973:60 Rn. 15; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 59/ 81 Kommission ./. Rat, EU:C:1982:335 Rn. 39; EuGH v. 24.11.2010 – Rs. C-40/10 Kommission ./. Parlament, EU:C:2010:713 Rn. 95. 134 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, EU:C:1986:291 Rn. 48; EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C‑284/90 Rat ./. Parlament, EU:C:1992:154 Rn. 37; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, EU:C:1995:431 Rn. 44. Siehe auch zur Europäischen Investitionsbank EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, EU:C:2008:605 Rn. 88. 135 EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, EU:C:2003:452 Rn. 57; EuGH v. 22.10.2013 – Rs. C-137/12 Kommission ./. Rat, EU:C:2013:675 Rn. 80 f.; GA Kokott, Schlussanträge v. 23.4.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, EU:C:2009:249 Tz. 88. 136 M. Müller, Das Entscheidungsmonopol des EuGH im Kontext völkerrechtlicher Verträge (2012), S. 139 f. 137 EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maieseries de Beauce, EU:C:1980:223 Rn. 45; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, EU:C:1994:168 Rn. 22; einschränkend aber EuGH v. 9.2.2017 – Rs. C-585/15 Raffinerie Tirlemontoise, EU:C:2017:105 Rn. 40; ablehnend Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei indirekten Kollisionen (1985), S. 23. 138 EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la champagne, EU:C:1980:232 Rn. 45 (Währungsausgleichsbeträge); EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, EU:C:2008:76 Rn. 125 f. (Beihilfeentscheidungen).
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V. Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung
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erhalten werden, um den Kläger in einer Verpflichtungssituation davor zu schützen, dass er statt des erstrebten Mehr an einer Leistung durch den Wegfall der Anspruchsgrundlage noch weniger als vorher erhält.139 Keine zeitliche Beschränkung liegt allerdings vor, wenn die auf einer Ungleichbehandlung beruhende Rechtswidrigkeit durch Einbeziehung der diskriminierten Gruppe in die Vergünstigung beseitigt wird (sog. Anpassung nach oben);140 hier wirkt nicht der rechtswidrige, sondern ein vom Gerichtshof gestalteter, rechtmäßiger Übergangszustand fort.141
V. Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung Bei der Bestimmung der Reichweite einer Rückwirkungsbeschränkung muss sich der 58 Gerichtshof am Ausmaß der Verwirklichung der Tatbestandsvoraussetzungen orientieren, denn nur insoweit ist eine Einschränkung des Geltungsanspruchs des ausgelegten oder höherrangigen Rechts gerechtfertigt.142 Die Rechtsfolgenanordnung des Gerichtshofs kann dabei in zeitliche, sachliche, personelle und räumliche Komponenten untergliedert werden. Diese Bestandteile weisen jedoch Wechselwirkungen auf.
1. Dogmatische Einordnung Die dogmatische Einordnung der Beschränkung der Rückwirkung unterscheidet sich 59 bei Auslegung und Unwirksamkeit schon wegen des verschiedenen Bezugspunkts. Da die Rückwirkung der Auslegung ebenso wie deren Bindungswirkung Facetten der Wirkungen der Unionsnorm sind, können weder „die Auslegung“ noch „das Urteil“ in ihrer Rückwirkung beschränkt werden. Der Gerichtshof versteht die Rückwirkungsbeschränkung zwar als Beschränkung der Wirkungen des Urteils,143 begrenzt jedoch
139 EuGH v. 20.3.1985 – Rs. 264/82 Timex, EU:C:1985:119 Rn. 32; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-445/00 Österreich ./. Rat, EU:C:2003:445 Rn. 104, 106; EuG v. 3.5.2018 – Rs. T-432/12 Distillerie Bonollo u. a., EU:T:2015:248 Rn. 147. 140 Z. B. EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 300/86 van Landschoot, EU:C:1988:342 Rn. 23 f. 141 Finke, IStR 2006, 212, 216; a. A. Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 68 f., 251 f., 259 f.; Wusterhausen, Die Wirkungen der Urteile des EuGH in der Zeit, S. 142 f., 297 f. 142 Zu Recht Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 186; eine „Rechtsfolgenlotterie“ befürchtet Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, in: Lüdicke (Hrsg.), Europarecht – Ende der nationalen Steuersouveränität? (2006), S. 9, 23. 143 Zustimmend statt aller Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, passim; Anderson/Demetriou, References to the European Court (2. Aufl. 2002), Rn. 14–066 ff.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
das Recht der Parteien und anderen Rechtsunterworfenen, sich auf die fragliche Norm in der ihr gegebenen Auslegung zu berufen.144 Er nimmt der Vorschrift – sui generis – ihre Durchsetzbarkeit, berührt aber ihren materiellen Gehalt nicht.145 Aus der Rückwirkungsbeschränkung lässt sich daher nicht ableiten, ob den Mitgliedstaaten eine nationale Regelung erlaubt ist, die das vom EuGH erzielte, aber rückwirkungsbeschränkte Ergebnis (gleichsam übererfüllend) doch erreicht;146 die Antwort darauf kann sich nur aus dem übrigen Unionsrecht ergeben.147 60 Bei den Unwirksamkeitsklagen werden alle oder einzelne ausgewählte materielle Wirkungen der rechtswidrigen Rechtsakte aufrechterhalten, nicht hingegen das ranghöhere Recht oder die Nichtigerklärung nach Art. 264 Abs. 1 AEUV begrenzt. Der Tenor der Beschränkung orientiert sich an Art. 264 Abs. 2 AEUV und dem konstitutiven Charakter der Aufhebungsentscheidung.
2. Sachliche Reichweite 61 Welche Sachverhalte inhaltlich von der Rückwirkungsbeschränkung erfasst werden,
beurteilt sich bei den Auslegungsentscheidungen vor allem in Abhängigkeit vom Gutglaubenstatbestand. Nur soweit ein anerkennenswerter Irrtum über die Unionsrechtslage gegeben war, sind die zugrundeliegenden Sachverhalte auszunehmen. Deshalb ist zuerst die streitige Rechtsfrage konkret zu benennen. Beispielsweise erfasste die Rückwirkungsbeschränkung in Bosman „Ansprüche im Zusammenhang mit einer Transfer-, Ausbildungs- oder Förderungsentschädigung“, nicht jedoch die ebenfalls streitigen „Ausländerklauseln“,148 während bei Defrenne II nur die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 157 AEUV im Privatrechtsverhältnis im Streit stand.149 Darüber hinaus werden nur Rechtsverhältnisse einbezogen, „deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben“.150 Im Bereich des Steuerrechts fallen darunter auch
144 Vgl. z. B. EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, EU:C:1995:281; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, EU:C:2004:506. Der Wortlaut der EuGH-Entscheidungen ist jedoch zumeist uneinheitlich und daher wenig ergiebig. 145 Ähnlich Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1990), S. 90; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis (2013), S. 206 f. 146 Vgl. dazu EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, EU:C:2000:76; Huep, RdA 2001, 325, 331 f.; Besselink, CMLR 38 (2001), 437, 451; Ellis, E.L.Rev. 25 (2000), 564, 568; Schlachter, ZfA 2007, 249, 269. 147 Näher Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 304 ff. 148 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, EU:C:1995:463 Rn. 145 f. 149 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56 Rn. 74/75 und Tenor Nr. 5. 150 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u. a., EU:C:1988:43 Rn. 34; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, EU:C:1990:209 Rn. 44.
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V. Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung
solche Fälle, bei denen der Steueranspruch bereits fällig war.151 Im Arbeitsrecht sind zurückliegende Lohn- oder Gehaltsperioden unantastbar und müssen Rentensysteme nicht für vor dem Urteil liegende Beschäftigungszeiten geändert werden.152 Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen beschränkt zuerst der Anwendungs- 62 bereich der aufgehobenen Norm deren Fortwirkungsanordnung. Dies kann weiter begrenzt werden, indem nur Teile eines Rechtsakts aufrechterhalten werden.153 Darüber hinaus kann die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV auf die Maßnahmen beschränkt werden, die aufgrund des unwirksamen Rechtsakts erlassen worden sind.154 Als Durchführungsmaßnahmen kommen alle Formen des europäischen Verwaltungshandelns in Betracht, insbesondere abgeleitete Rechtsakte, privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse sowie Realakte.155
3. Zeitliche Reichweite Die zeitliche Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung betrifft die Frage, bis zu wel- 63 chem Zeitpunkt die EuGH-Entscheidung noch nicht „wirken“ soll.
a) Auslegung Grundsätzlich können sich die Adressaten in den Fällen nicht auf die Norm berufen, 64 die bis zum Tag des Urteils des Gerichtshofs abgeschlossen waren, wobei der Verkündungstag selbst nicht mehr dazu zählt.156 Eine erste Ausnahme besteht, wenn die Rückwirkungsbeschränkung eines früheren Urteils auf ein späteres übertragen wird.157 Dies geschieht, wenn die Sachverhalte vergleichbar sind, jedoch im früheren
151 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u. a., EU:C:2000:110 Rn. 60. 152 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56 Tenor Nr. 5; EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C‑109/ 91 Ten Oever, EU:C:1993:883 Rn. 19. 153 EuGH v. 18.10.2007 – Rs. C-299/05 Kommission ./. Parlament und Rat, EU:C:2007:608 Rn. 74 f.; vgl. auch die entsprechende Ablehnung in EuGH v. 27.11.1984 – Rs. 232/81 Agricola Commerciale Olio, EU:C:1984:358 Rn. 20 f. 154 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, EU:C:1996:133 Rn. 40; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, EU:C:1998:258 Rn. 42. 155 Beispielsweise wurden in EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, EU:C:1996:133 drei auf der aufgehobenen Ratsentscheidung basierende Kommissionsentscheidungen aufrechterhalten. 156 Näher Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 329 f. 157 EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, EU:C:1995:281 Rn. 34; EuGH v. 7.11.1996 – Rs. C-126/94 Cadi Surgelés, EU:C:1996:423 Rn. 33 f.; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, EU:C:2004:506 Rn. 41 f. Als Rückwirkungsbeschränkung auf einen früheren Zeitpunkt versteht es hingegen Kokott, The jurisprudence of the Court of Justice of the European Communities in the area of tax law (2006), S. 7.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
Urteil die Rückwirkungsbeschränkung nicht verneint, sondern vorgenommen wurde. Für den EuGH folgt dies zwingend aus seinem (objektiven) Konnexitätsmerkmal (Rn. 22 f.), während nach hier vertretener Ansicht die Erkennbarkeit der geklärten Rechtslage maßgeblich wäre (Rn. 24, 35).
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Als weitere Ausnahme sollte erwogen werden, dass die in einem vergleichbaren früheren Fall nicht gewährte Rückwirkungsbeschränkung nachgeholt wird; für den Gerichtshof erfordert dies freilich zuerst die Aufgabe seines Präklusionsmerkmals (Rn. 24, 35). Die Nachholung einer versäumten Beschränkung stellt – da das Urteil insoweit nicht „berichtigt“ wird im Sinne von Art. 103 EuGH-VerfO/Art. 84 EuG-VerfO – eine Änderung der auf die zeitlichen Wirkungen der konkreten Norm bezogenen Rechtsprechung dar. Daraus ergeben sich jedoch keine Einwände, da Rechtsprechungsänderungen grundsätzlich zulässig sind und nicht ersichtlich ist, warum zwar eine materielle Rechtsfrage geändert werden könnte, nicht aber deren zeitliche Reichweite.158 Weil die geänderte Rückwirkungsentscheidung für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gilt, ist eine Zersplitterung der Geltung des Unionsrechts nicht zu befürchten. Außerdem kann das zwischenzeitlich Ersparte im Rahmen des Erfordernisses schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen berücksichtigt werden.
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Zuletzt käme auch die Bestimmung einer Übergangsfrist in Betracht, wie sie der Gerichtshof bei den Unwirksamkeitsentscheidungen regelmäßig vornimmt, aber für die Auslegung noch nicht ausdrücklich entschieden hat. Die Literatur steht dem überwiegend kritisch gegenüber.159
b) Unwirksamkeit 67 Auch die Unwirksamkeit zeitigt Folgen grundsätzlich ab dem Urteilstag. Zielt die Be-
schränkung auf den Schutz des guten Glaubens, kommen ähnliche Abweichungen wie bei den Auslegungsentscheidungen in Betracht. Beim Schutz öffentlicher Interessen ist in vielen Konstellationen auch eine Aufrechterhaltung für einen bestimmten Zeitraum in der Zukunft möglich. Insbesondere wenn eine Regelungslücke vermieden werden soll, muss dem Gesetzgeber eine angemessene Frist bis zum Inkrafttreten eines neuen Rechtsakts eingeräumt werden.160 Um die Übergangsphase nicht unbegrenzt andauern zu lassen, sollte das Fristende nach dem Kalender bestimmbar
158 Vgl. Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 217; Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGHEntscheidungen, S. 311 ff.; a. A. Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 182; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 195. 159 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 100; Wiedmann, EuZW 2007, 692, 694; Nanetti/Mazzotti, EC Tax Review 2006, 166, 170; Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 180; ähnlich GA Jacobs, Schlussanträge v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, EU:C:205:183 Tz. 87. Bejahend hingegen Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 341 ff. 160 Z. B. EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, EU:C:1973:60 Rn. 15; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 59/81 Kommission ./. Rat, EU:C:1982:335 Rn. 39; EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, EU: C:1994:213 Rn. 22; EuGH v. 24.11.2010 – Rs. C-40/10 Kommission ./. Parlament, EU:C:2010:713 Rn. 95.
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V. Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung
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sein.161 Die Dauer der festzusetzenden Frist richtet sich dann nach der vermutlichen Dauer eines zügigen Gesetzgebungsverfahrens unter Berücksichtigung der Nachteile der Fortgeltung des Rechtsakts.162 Bei schweren Grundrechtseingriffen ist daher Eile geboten.163 Die als fortgeltend bezeichneten Wirkungen treten grundsätzlich nach Ablauf ei- 68 ner eventuellen Frist nicht rückwirkend außer Kraft. Soweit die Erwägungen der Rechtssicherheit jedoch nur eine vorübergehende Aufrechterhaltung des Rechtsakts gebieten, kann die Rückwirkung auch nur aufgeschoben und nicht aufgehoben werden. Das ist auf dem Wege des Erst-Recht-Schlusses als zulässig anzusehen.164 Der Gerichtshof tenorierte diesen Fall treffend als „Aussetzen der Wirkungen der Ungültigerklärung“.165 Im zugrundeliegenden Sachverhalt bestimmte eine französische Regelung, dass Hörfunkunter- 69 nehmen mit geringen Werbeeinnahmen zu fördern sind. Die erforderlichen Finanzmittel wurden durch eine Abgabe aufgebracht, die alle Unternehmen zu zahlen hatten, die Werbung im Hörfunk vermarkteten. Der Gerichtshof hielt die genehmigende Beihilfeentscheidung der Kommission wegen eines Ermessensfehlers für mit dem Unionsrecht unvereinbar. Mit der vorübergehenden Aufrechterhaltung wollte er jedoch das Entscheidungsmonopol der Kommission schützen und sicherstellen, dass bei einer ablehnenden Neu-Bescheidung der Kommission die in der Vergangenheit erhaltenen Beihilfen zu erstatten sind, während bei einer erneuten Genehmigung die fraglichen Beträge aufgrund des Urteils nicht erst zurückgezahlt werden müssen, bevor sie ein zweites Mal ausgezahlt werden.166
4. Personelle Reichweite und Ausnahmen Der Kreis der Personen, die von der Rückwirkungsbeschränkung betroffen sind, orien- 70 tiert sich an den inhaltlich erfassten Sachverhalten. Umstritten ist, ob und in welchen
161 Vgl. EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, EU: C:2006:346 Rn. 73; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, EU:C:2008:605 Rn. 89; EuGH v. 22.10.2013 – Rs. C-137/12 Kommission ./. Rat, EU:C:2013:675 Rn. 81. 162 Vgl. EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, EU:C:2008:76 Rn. 128; EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, EU:T:2011:716 Rn. 43; GA Kokott, Schlussanträge v. 22.9.2005 – Rs. C‑217/04 Großbritannien und Nordirland ./. Parlament und Rat, EU:C:2005:574 Tz. 50. 163 Siehe die Dreimonatsfrist von EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi u. a., EU:C:2008:461 Rn. 375. Das EuG gewährt in solchen Fällen regelmäßig nur die Zweimonatsfrist von Art. 60 Abs. 2 EuGH-Satzung (zuzüglich der Entfernungsfrist nach Art. 45 Abs. 1 EuGH-Satzung), EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, EU:T:2011:716 Rn. 43. 164 Krit. hingegen Gundel, EWS 2009, 350, 357 Fn. 89. 165 EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, EU:C:2008:76 Tenor Nr. 2; anders aber EuGH v. 28.4.2016 – verb. Rs. C-191/14 u. a. Borealis Polyolefine u. a., EU:C:2016:311 Tenor 3, der die differenzierten Folgen ausführlich aufzählt. 166 Erläuternd GA Kokott, Schlussanträge v. 26.6.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, EU:C:2008:371 Tz. 134 ff.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
Situationen die Parteien des Ausgangsverfahrens oder ähnliche Personen davon auszunehmen sind. Zu solchen „Rechtsbehelfsführern“ zählt jeder, der „Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt hat“.167 Die Begriffe „Klage“ und „entsprechender Rechtsbehelf“ sind autonom auszulegen.168 Sie erfassen jegliche gerichtliche oder außergerichtliche Geltendmachung eines (auch nationalen) Rechts, das auf dem fraglichen Unionsrecht beruht.169 71 Der Gerichtshof unterscheidet in der Frage der personellen Rückausnahme sehr deutlich zwischen den Verfahrensarten: Während im Auslegungsverfahren immer eine Ausnahme für die Rechtsbehelfsführer gemacht wurde, erfolgt dies bei den Nichtigkeitsklagen nie. Im Gültigkeitsverfahren prüft der Gerichtshof die personelle Rückausnahme als Frage des Einzelfalls.170 Richtigerweise sollten unabhängig von der Verfahrensart dieselben Maßstäbe angelegt werden, denn in allen Verfahren mit Bindungswirkung hat die EuGH-Entscheidung Auswirkungen auch auf andere Personen als die (möglicherweise privilegierten) Parteien. Demnach ist die Begünstigung des Klägers oder anderer Rechtsbehelfsführer der Grundsatz, von dem begründet abgewichen werden kann. Zweck ist es einerseits, die Rechtsbehelfsführer in ihren (finanziellen) Anstrengungen um die Durchsetzung des Unionsrechts nicht zu frustrieren sowie Unwägbarkeiten im Prozessverlauf auszugleichen.171 Andererseits sind Konstellationen denkbar, in denen die Rückausnahme einzelner oder aller Rechtsbehelfsführer die Rückwirkungsbeschränkung konterkariert.172
167 Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56 Rn. 74/75; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u. a., EU:C:2000:110 Rn. 60. 168 Ehrke, ÖStZ 2000, 254, 255. 169 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 372 ff. Die Rechtsbehelfsführer müssen sich dabei nicht ausdrücklich auf das Unionsrecht berufen, Arnold, ecolex 2000, 225, 227; a. A. Ehrke, ÖStZ 2000, 254, 256. 170 EuGH v. 27.2.1985 – Rs. C-112/83 Produits de Maïs, EU:C:1982:335 Rn. 18; EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u. a., EU:C:1992:116 Rn. 25; EuGH v. 8.2.1996 – Rs. C‑212/94 FMC, EU: C:1996:40 Rn. 57; EuGH v. 28.4.2016 – verb. Rs. C-191/14 u. a. Borealis Polyolefine u. a., EU:C:2016:311 Rn. 109 f.; Lenaerts/Maselis/Gutman, EU Procedural Law (2014), Rn. 10–023; anders noch z. B. Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 229; Dauses, FS Everling (1995), S. 240; Everling, FS Börner (1992), S. 69. 171 Aus der zahlreichen Rechtsprechung und Literatur z. B. EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, EU: C:1999:228 Rn. 112; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, EU: C:1994:168 Rn. 27; Osterloh, FS Hassemer (2010), S. 178; Schlachter, ZfA 2007, 249, 266; Balthasar, JbJZ 2010, S. 39, 62; Kokott, The jurisprudence of the Court of Justice of the European Communities in the area of tax law (2006), S. 9; GA Lenz, Schlussanträge v. 28.2.1985 – Rs. 33/84 FRAGD, EU:C:1985:90 (Slg. 1985, 1606, 1611). 172 Dazu lässt sich auch die sog. Trittbrettfahrerproblematik zählen, die freilich schon durch eine genauere Anwendung des Gutglaubensmaßstabs entschärft würde (oben Rn. 39); eingehend Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 214 ff.; GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, EU: C:2005:183 Tz. 165 ff.; GA Tizzano, Schlussanträge v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u. a., EU: C:2005:676 Tz. 60 ff.
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VI. Prozessuales
5. Räumliche Reichweite Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung erfasst alle Mitgliedstaaten in rechtlich glei- 72 cher Weise. Für die Unwirksamkeitsverfahren ergibt sich dies aus der unionsweiten Geltung der Aufhebungsentscheidung sowie daraus, dass die Tatbestandsmerkmale einer Beschränkung von der Sach- oder Rechtslage in den einzelnen Mitgliedstaaten unabhängig sind. Aber auch in den Auslegungskonstellationen vertrüge sich eine territoriale Begrenzung weder mit dem Konnexitätsmerkmal noch mit der unionsweiten Geltung der ausgelegten Norm (und der Bindungswirkung des entsprechenden EuGH-Urteils).173 Unterschiede im Ausmaß der wirtschaftlichen Auswirkungen können eine rechtliche Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten nicht rechtfertigen.174
VI. Prozessuales Die Notwendigkeit einer Rückwirkungsbeschränkung erörtert der Gerichtshof am En- 73 de des Urteils, zumeist gekennzeichnet durch eine eigene Überschrift.175 Das ist Ausdruck der Trennung der Frage der zeitlichen Wirkungen von der sachrechtlichen Thematik. Wird die Rückwirkung beschränkt, so findet dies stets Ausdruck in einer separaten Nummer im Tenor. Die Verneinung wird hingegen regelmäßig nicht tenoriert.
1. Entscheidung von Amts wegen und Antrag Der Gerichtshof entscheidet über die zeitlichen Wirkungen in allen Verfahrensarten 74 von Amts wegen.176 Ein Antrag muss von den Verfahrensbeteiligten nicht gestellt werden. Er ist nur als Anregung zu verstehen und kann hilfreich sein, um die Relevanz der Rückwirkung in den Fokus zu rücken. Den Antrag können sämtliche Verfahrensbeteiligte ungeachtet ihrer Betroffenheit einreichen, im Vorabentscheidungsverfahren
173 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 106 ff.; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 199 ff.; a. A. GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, EU:C:2005:183 Tz. 180 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Karpenstein, Art. 267 AEUV Rn. 115; Weiß, EuR 1995, 377, 388; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 438. 174 Vgl. Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 377 ff. 175 Z. B. EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, EU:C:2001:458; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact; EU:C:2012:801; anders z. B. EuGH v. 3.7.1997 – Rs. C-330/95 Goldsmiths, EU:C:1997:339. 176 EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 EP und Dänemark ./. Kommission, EU: C:2008:176 Rn. 85; Sachs, Die Ex-officio-Prüfung durch die Gemeinschaftsgerichte (2008), S. 100.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
kann neben den in Art. 23 Abs. 2 EuGH-Satzung Genannten das vorlegende Gericht ausdrücklich nach den zeitlichen Wirkungen fragen.177 Der Antrag kann auch hilfsweise für den Fall einer bestimmten Antwort auf die Sachfragen gestellt werden und unterliegt keinen formellen Anforderungen.
2. Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen 75 Aufgrund der amtswegigen Prüfung existiert keine subjektive Beweis-, sondern nur ei-
ne objektive Feststellungslast. Zur Darlegung der die Tatbestandsvoraussetzungen ergebenden Tatsachen sind alle (potentiellen) Verfahrensbeteiligten aufgerufen, die ein Interesse an einer Beschränkung der zeitlichen Wirkung haben. Aufgrund der unionseinheitlichen Wirkung der Rückwirkungsbeschränkung muss der Gerichtshof sämtliches Vorbringen berücksichtigen, unabhängig davon welcher Beteiligte es in welcher Rolle mit welchem Ziel in das Verfahren eingebracht hat.178 76 Eine Rückwirkungsbeschränkung nimmt der EuGH nur vor, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen ausreichend substantiiert wurden.179 Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen ist dafür konkret zu bezeichnen, zu welchen Schwierigkeiten die Unwirksamerklärung führen würde.180 Besonders schwer fällt den Betroffenen regelmäßig, die schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen darzulegen, da sich diese oftmals nur schätzen lassen.181 Dort prüft der Gerichtshof das Vorbringen auf Plausibilität und verlangt eine konkrete Aufschlüsselung der Zahlen.182 Hierfür genügt „eine Kalkulation der durchschnittlich zu erwartenden Rückforderungszahlung bezüglich eines Abgabenpflichtigen für einen gemittelten Zahlungszeitraum hochgerechnet auf die mögliche Anzahl der Rückforderungsberechtigten.“183
177 Z. B. EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, EU:C:2003:452 Rn. 54 (Kläger und Beklagter); EuGH v. 3.10.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, EU:C:2002:560 Rn. 43 (Mitgliedstaat); EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u. a., EU:C:2012:657 Rn. 26 (Vorlagegericht). 178 Vgl. GA Kokott, Schlussanträge v. 11.11.2010 – Rs. C-379/09 Casteels, EU:C:2010:675 Tz. 90; zu eng daher GA Sharpston, Schlussanträge v. 13.7.2006 – Rs. C-290/05 Nádasdi, EU:C:2006:477 Tz. 81 und GA Jääskinen, Schlussanträge v. 15.7.2010 – Rs. C-147/08 Römer, EU:C:2010:425 Tz. 159 ff. 179 EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, EU:C:2001:505 Rn. 38; EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, EU:C:2005:588 Rn. 30. 180 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, EU:C:1996:133 Rn. 39; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, EU:C:1998:258 Rn. 41; EuGH v. 18.6.2002 – Rs. C-314/99 Niederlande ./. Kommission, EU:C:2002:378 Rn. 31. 181 Vgl. Lang, IStR 2007, 235, 236; Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLR 46 (2009), 1951, 1961. 182 EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, EU:C:2001:648 Rn. 77; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov und Bilka, EU:C:2006:6 Rn. 52 f.; EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-263/11 Rēdlihs, EU:C:2012:497 Rn. 62. 183 Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693; vgl. EuGH v. 3.10.2019 – Rs. C-274/18 Schuch-Ghannadan, EU: C:2019:828 Rn. 66.
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VII. Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht
VII. Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht Die Rückwirkung von EuGH-Rechtsprechung und deren Beschränkung haben als An- 77 nex zum Sachrecht selbst keine unmittelbaren Auswirkungen auf das mitgliedstaatliche Recht. Die zeitliche Wirkung von EuGH-Rechtsprechung ist folglich doppelt unionsbezogen. Sie beruht zum einen ausschließlich auf unionsinternen Gründen und wirkt sich zum anderen nur innerhalb des Unionsrechts aus, weshalb auch ein Entscheidungsmonopol des Gerichtshofs184 gerechtfertigt ist. Dieser strenge Unionsrechtsbezug kann durchaus unbefriedigend sein. Er ignoriert den Anwendungsdualismus von unionalem und nationalem Recht, löst eventuelle Normkonflikte einseitig unionsrechtlich auf und übergeht so nationale Besonderheiten. Deshalb ist daneben Raum für mitgliedstaatlichen Vertrauensschutz.185 Soweit es durch dessen Gewährung jedoch zu einem Konflikt zwischen den Vorgaben des Unionsrechts und den Ergebnissen im mitgliedstaatlichen Recht kommt, stellt sich die Frage, ob der jeweils einschlägige Durchsetzungsmechanismus des Unionsrechts dies gestattet oder zu modifizieren ist.186 Die damit angesprochenen Problemkreise können hier nur angerissen werden.187
1. Grundsatz der Verfahrensautonomie Zuerst ist klarzustellen, dass die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie unberührt 78 bleibt. Eine rückwirkende Entscheidung des Gerichtshofs hat deshalb grundsätzlich keine Auswirkungen auf Rechtsverhältnisse, die nach innerstaatlichen Grundsätzen rechts- oder bestandskräftig geworden sind.188 Ebenso obliegt es den Mitgliedstaaten, das Verfahren für die Erstattung von unionsrechtlich geschuldeten Rückzahlungsansprüchen auszugestalten, wobei Erwägungen der Rechtsklarheit und des guten Glaubens berücksichtigt werden können.189 Begrenzt wird die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität.190
184 Dazu ausdrücklich EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, EU:C:1980:100 Rn. 18; EuGH v. 10.7.1980 – Rs. 881/79 Ariete, EU:C:1980:195 Rn. 8. 185 Düsterhaus, EuR 2017, 30, 47; Lunk, FS Reuter (2010), S. 696; Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen (2006), S. 296, 310; Schlachter, ZfA 2007, 249, 267; Steiner, EuZA 2009, 140, 153; Höpfner, ZfA 2010, 449, 483; Kamanabrou, SAE 2009, 233, 236; Tavakoli/Westhäuser, DB 2008, 702, 705; Bydlinski, JBl. 2001, 2, 21. 186 Statt aller Wißmann, FS Bauer (2010), S. 1167. 187 Ausführlich Rosenkranz, ZfPW 2016, 351 ff. 188 Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law (2003), S. 198; Anderson/Demetriou, References to the European Court (2. Aufl. 2002), Rn. 14–068. 189 EuGH v. 20.12.2017 – Rs. C-516/16 Erzeugerorganisation Tiefkühlgemüse, EU:C:2017:1011 Rn. 94 ff. 190 St. Rspr., EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-343/96 Dilexport, EU:C:1999:59 Rn. 25 mwN.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
2. Temporäre Suspendierung des Vorrangs des Unionsrechts 79 Im Falle von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht ermöglicht der Gerichtshof eine
„vorübergehende Aussetzung der Verdrängungswirkung des Unionsrechts“ durch die nationalen Gerichte. Das kommt sowohl bei Primärrecht191 als auch bei entsprechenden Richtlinienbestimmungen192 in Betracht. Die mitgliedstaatlichen Gerichte sind stets zur Vorlage verpflichtet.193 Anerkannt ist eine Suspendierung vergleichbar der Vermeidung von Regelungslücken in Unwirksamkeitsfällen194 (→ Rn. 53 ff.) aufgrund zwingender Erfordernisse der Rechtssicherheit195, wobei hier offenbar auch mitgliedstaatliche Interessen relevant sein können196. Für eine Aussetzung aus Gründen des guten Glaubens in Parallele zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung ist kein Raum.197 Die weiteren Einzelheiten sind immer noch umstritten.198
3. Schranken der Konformauslegung 80 Widerspricht das nationale Recht den Vorgaben von mittelbar anwendbarem Unions-
recht, also insbesondere Richtlinien, wird die Frage nach den Grenzen der Konformauslegung aufgeworfen.199 Ein Anknüpfungspunkt für nationalen Vertrauensschutz könnte sich dabei entweder aus dem Verweis des EuGH auf den Grundsatz der Rechts191 EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, EU:C:2010:503. 192 EuGH v. 27.6.2019 – Rs. C-597/17 Belgisch Syndicaat van Chiropraxie, EU:C:2019:544 Rn. 53 ff. 193 S. nur EuGH v. 25.6.2020 – Rs. C-24/19 A u. a., EU:C:2020:503 Rn. 84. 194 Auch andersherum bezieht sich der Gerichtshof bei Rückwirkungsbeschränkungen auf die Suspendierungsrechtsprechung, vgl. EuGH v. 28.4.2016 – verb. Rs. C-191/14 u. a. Borealis Polyolefine u. a., EU:C:2016:311 Rn. 106. 195 Bislang v. a. im EU-Umweltrecht: EuGH v. 28.2.2012 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie ASBL, EU:C:2012:103 Rn. 56 ff.; EuGH v. 28.7.2016 – Rs. C-379/15 Association France Nature Environnement, EU:C:2016:603 Rn. 34 ff. 196 Bislang v. a. die mitgliedstaatliche Stromversorgungssicherheit: EuGH v. 29.7.2019 – Rs. C-411/17 Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen, EU:C:2019:622 Rn. 177 ff.; EuGH v. 25.6.2020 – Rs. C-24/19 A u. a., EU:C:2020:503 Rn. 84 ff.; für eine Anwendung bei Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit oder der nationalen Sicherheit GA Campos Sánchez-Bordona, Schlussanträge v. 15.1.2001 – Rs. C-520/18 Ordre des barreaux francophones et germanophone, EU:C:2020:7 Tz. 148 ff.; anders noch zur Rs. C-41/11 Verstraelen, GLJ 14 (2013), 1688, 1726. 197 EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 38 ff.; auch schon Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 467 ff. 198 Vgl. GA Jääskinen, Schlussanträge v. 7.11.2013 – Rs. C-512/12 Octapharma France, EU:C:2013:727 Tz. 34 ff.; OVG Münster v. 28.6.2006 – 4 B 961/06; Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem (2011), S. 78 ff.; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis (2013), S. 236 ff., 341 ff.; Beukers, CMLR 48 (2011), 1985 ff.; Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585 ff.; Terhechte, EuR 2006, 828 ff.; Talos/Arzt, E.L.Rep. 2010, 172 ff.; Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450 ff.; Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 527 ff.; Lock, CMLR 50 (2013), 217 ff.; Pechstein, EU-Prozessrecht (4. Aufl. 2011), Rn. 875 ff. 199 Siehe W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 35 ff.
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VII. Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht
sicherheit oder aus der „Contra-legem-Grenze“ ergeben.200 In seiner jüngeren Rechtsprechung scheint der Gerichtshof nationalen Vertrauensschutz jedoch pauschal abzulehnen. Dieser stelle sich als verdeckte Rückwirkungsbeschränkung dar und verstoße damit gegen das Entscheidungsmonopol des EuGH.201 Aus der vielzitierten Entscheidung Dansk Industri ./. Rasmussen musste sich das noch nicht er- 81 geben, denn dort ging es um die Wirkungen des unmittelbar anwendbaren, allgemeinen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78.202 Auch die Aussagen in Hein ließen sich – den Vorlagefragen und der Tenorierung folgend – auf die Wirkung des unmittelbar anwendbaren Art. 31 Abs. 2 GRCh beschränken.203 Die Rechtssache Herst hingegen bezieht sich allein auf umsetzungsbedürftiges Richtlinienrecht. 82 Der EuGH stellt sich dort gegen die Anwendung eines verfassungsrechtlich verankerten Grundsatzes der Zweifelsauslegung zugunsten eines Steuerschuldners. Gleichwohl führt er unmittelbar im Anschluss aus, dass das nationale Gericht (nur) die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden bemühen muss, um ein richtlinienkonformes Ergebnis herzustellen. Folglich unterfällt die Gewährung von Vertrauensschutz aufgrund guten Glaubens in eine richtlinienwidrige (ggf. durch nationale Rechtsprechung begründete) Rechtslage nicht der Norminterpretation im Rahmen der richtlinienkonformen Rechtsfindung, sondern stellt eine zusätzliche Schranke der Richtliniendurchsetzung dar.
Das Zusammenspiel von Richtlinie und nationalem Recht dürfte demgegenüber bes- 83 ser berücksichtigt sein, wenn lediglich die Voraussetzungen des nationalen Vertrauensschutzes im Hinblick auf den Charakter der Richtlinie als Recht im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG angepasst werden.204 Dann wäre die Richtlinie als Vertrauenstatbestand in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen.205 Unabhängig davon kann sich aber aus dem jeweiligen Sachrecht ein Gebot der rückwirkenden Anwendung des Unionsrechts ergeben.206
200 Vgl. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 110 f. 201 EuGH v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 Dansk Industri, EU:C:2016:278 Rn. 39; EuGH v. 13.12.2018 – Rs. C-385/17 Hein, EU:C:2018:1018 Rn. 61; EuGH v. 23.4.2020 – Rs. C-401/18 Herst, EU:C:2020:295 Rn. 55; eingehend dazu Rosenkranz, GPR 2020, 275 ff. Die Möglichkeit nationalen Vertrauensschutzes verneint auch BAG, NZA 2020, 1006 Rn. 113. 202 Wusterhausen, Die Wirkungen der Urteile des EuGH in der Zeit, S. 369 Fn. 1208; Düsterhaus, YEL 36 (2016), 237, 262. 203 Zweifelnd Zeh, ZESAR 2019, 301, 305. 204 Vgl. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 203; Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen (2006), S. 310 f.; ablehnend Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis (2013), S. 207 ff. 205 Lunk, FS Reuter (2010), S. 699; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung (2010), S. 181. 206 Vgl. EuGH v. 21.12.2016 – verb. Rs. C-154/15 u. a. Gutiérrez Naranjo, EU:C:2016:980 Rn. 62 ff.
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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung
4. Staatshaftung 84 Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass Vertrauens-
schutz auch durch einen Schadensersatzanspruch (gleichsam sekundär) gewährt werden kann.207 So könnte das Dilemma der Bürger aufgelöst werden, die sich zwei widersprechenden Rechtsbefehlen ausgesetzt sehen und nur einen befolgen können.208 Gewährt der Mitgliedstaat nationalen Vertrauensschutz und ruft so einen Widerspruch zu den Vorgaben des Unionsrechts hervor, kommt ein Anspruch nach den Grundsätzen des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs in Betracht. Hier erweist sich jedoch die Voraussetzung des hinreichend qualifizierten Verstoßes als Hindernis für eine Verlagerung des Schadens auf die Mitgliedstaaten, denn diese dürften weder den nationalen Vertrauensschutz grob unionsrechtswidrig angewendet, noch die Kollisionslage ebenso herbeigeführt haben.209 Bei der Verneinung nationalen Vertrauensschutzes wird dem Unionsrecht zur vollen Geltung verholfen, so dass ein unionsrechtlicher Anspruch mangels Verletzung einer subjektiven Norm ausscheidet.210 Ob sich ein Anspruch aus dem deutschen Recht ergibt, hat das Bundesverfassungsgericht offen gelassen.211
207 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 84 f. (Honeywell); dazu monographisch Frantzen, Staatshaftung für das Vertrauen auf unionsrechtswidrige Gesetze (2018). 208 Zöchling-Jud, FS Heinz Mayer (2011), S. 880; in diesem Sinne auch Piekenbrock, GPR 2019, 93, 97 f. 209 Vgl. BGH v. 18.10.2012 – III ZR 196/11, insbesondere Rn. 28 ff. 210 Giegerich, EuR 2012, 373, 381 f.; a. A. Schinkels, JZ 2011, 394, 400. 211 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 85; verneinend hingegen Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3405 f.; Giegerich, EuR 2012, 373, 383 ff.
Rosenkranz
3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 17 Europäisches Arbeitsrecht Literatur: Anthony Arnull, The European Union and its Court of Justice (2. Aufl. 2006); Catherine Barnard, EC Employment law (3. Aufl. 2012); Gunnar Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU (2012); Brian Bercusson, European Labour Law (2. Aufl. 2009); Martin Franzen, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Arbeitsrecht zwischen Marktfreiheit und Arbeitnehmerschutz, in Noelle Niederst/Axel Schack (Hrsg.), Europäische Sozialpolitik – Die richtige Antwort auf die Globalisierung?, 2009; Martin Franzen/Inken Gallner/Hartmut Oetker (Hrsg.), Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2020; Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung (2008); Jacob Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive (2000); Koen Lenaerts/José A. Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is: Methods of Interpretation and the European Court of Justice, EUI Working Papers AEL 2013/9; Neil MacCormick, Rhetoric and the Rule of Law (2005); Franz Marhold/Maximilian Fuchs, Europäisches Arbeitsrecht (3. Aufl. 2010); Siofra O’Leary, Employment Law at the European Court of Justice (2002); Jasmin Pacic, Methoden der Rechtsfindung im Arbeitsrecht (2012); Michael Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994); ders., Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465–487; Ulrich Preis/Adam Sagan (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2019; Robert Rebhahn, Zu den Rahmenbedingungen von Rechtsdogmatik, in: Peter Apathy (Hrsg.), Festschrift für Helmut Koziol zum 70. Geburtstag (2010), S. 1461–1480; ders., § 16 Grundrechte des Arbeitslebens, in: Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz, Bd. 2, Enzyklopädie Europarecht (2014); ders., Auslegung und Anwendung des Unionsrechts, in: Attila Fenyves/Ferdinand Kerschner/Andreas Vonkilch (Hrsg.), Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Bd. 1, Nach §§ 6 und 7 ABGB; Günter H. Roth/Peter Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten (2008); Adam Sagan, Der Begriff des Arbeitnehmers im Unionsrecht, ZESAR 2020, 3–9; Sibylle Seyr, Der Effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008); Phil Syrpis, EU Intervention in domestic Labour Law (2007); Lubos Tichy/Michael Potacs/Tomás Dombrovsky (Hrsg.), Effet utile (2014). Systematische Übersicht I. II.
Grundlagen 1–10 Übergreifende systematische Erwägungen 11–22 1. Mindestvorschriften und Grad der Harmonisierung 12–17
2. 3.
Inneres System und favor laboris als Argumente? 18–21 Tarifautonomie und Unionsrecht 22
Anmerkung: Robert Rebhahn hat den Beitrag in den ersten drei Auflagen des Bandes als Alleinautor verfasst und weitergeführt. Nach dem Tod von Robert Rebhahn (30.1.2018) hat Martin Franzen den Beitrag für die vierte Auflage fortgeführt und aktualisiert. Rebhahn/Franzen https://doi.org/10.1515/9783110614305-017
558
§ 17 Europäisches Arbeitsrecht
III. Auslegung des Sekundärrechts 23–49 1. Wortlaut 24–27 2. Systematik 28–33 3. Entstehungsgeschichte 34–35 4. Regelungszweck 36–42 5. Pragmatische Schlüsse 43 6. Praktische Wirksamkeit 44–46 7. Rechtsvergleichung 47–48 8. Rechtsfortbildung 49 IV. Auslegung des Primärrechts 50–69
Allgemeines 50–52 Grundfreiheiten und Arbeitsrecht 53–55 3. Grundrechte 56–61 4. Diskriminierungsverbote 62–66 5. Primärrechtskonforme Interpretation 67 6. Allgemeine Rechtsgrundsätze 68–69 Schlussbemerkung 70–71
1. 2.
V.
I. Grundlagen1 1 Die Frage, wie Gerichte Recht erkennen (sollen), betrifft Willensbildung und Verfas-
sung des Staates/Herrschaftsverbandes, insbesondere das Verhältnis der Gerichte zum geschriebenen Recht.2 Die Antwort ist auch von Tradition und Rechtskultur beeinflusst. Auch wenn in den Mitgliedstaaten dieselben Auslegungsargumente verwendet werden, unterscheiden sich die Methodenlehren darin, wie sie die verschiedenen Argumente verwenden und gewichten. Man kann daher nicht erwarten, dass die Gerichte der EU sich an der Methodenlehre nur einiger Mitgliedstaaten orientieren. Es ist wenig sinnvoll, ihre Urteile streng an diesen Vorstellungen zu messen. 2 Für die Methodenlehre des Unionsrechts ist als Ausgangspunkt die Praxis des EuGH relevant. Dazu sind folgende Punkte bedeutsam. Der EuGH unterscheidet, der Tradition vieler Mitgliedstaaten folgend,3 verbal nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Daher ist häufig nicht erkennbar, ob er das geschriebene Recht nur auslegen oder fortentwickeln will. Faktisch entfernt er sich zuweilen, v. a. zum Primärrecht, deutlich davon. Der Primat des geschriebenen Rechts gilt daher im Unionsrecht jedenfalls faktisch nur eingeschränkt. Zweitens sind Urteile des EuGH, insbesondere im Vorabentscheidungsverfahren, für Organe der Mitgliedstaaten verbindlich. Ein Abweichen vom verbindlichen Inhalt ist diesen ohne neuerliche Vorlage nicht erlaubt. In Verbindung mit dem eingeschränkten Primat des geschriebenen Rechts bedeutet dies, dass das Unionsrecht wesentlich auch Fallrechtsordnung ist. Urteile des EuGH bemühen sich weniger um eine systematische Sicht, sondern sind häufig sehr fallbezogen.
1 Der Beitrag befasst sich nicht mit dem Umgang der nationalen Gerichte mit dem Arbeitsrecht der EU. Vgl. dazu Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts (2001); Schlachter, Der Europäische Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit (1995) sowie die Standardwerke Franzen/Gallner/Oetker (Hrsg.), Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht; Preis/Sagan (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht. 2 Vgl. zum Folgenden Rebhahn, Auslegung und Anwendung des Unionsrechts, Rn. 1 ff. 3 Vgl. dazu MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes (1991), S. 461 f.
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I. Grundlagen
Ausführungen zur Methodenlehre berücksichtigen dies nicht immer ausreichend. Drittens sind frühere Urteile häufig das wichtigste Mittel der Argumentation des EuGH, auch zum Arbeitsrecht. Am wichtigsten ist daher häufig die zeitlich erste Entscheidung. Arbeit am Unionsrecht ist zunehmend eher Arbeit mit früheren Urteilen als Arbeit am Normtext. Viertens geht der EuGH vom Dogma aus, er erkenne stets nur das Recht, wie es bereits ohne sein Zutun war.4 Aufgrund der Lage bei den Rechtsquellen hat die Methodenlehre drei Themen 3 und Aufgaben: Regeln zur Auslegung/Anwendung geschriebenen Unionsrechts; Regeln zur Ableitung der verbindlichen Aussagen eines Urteils; Regeln, wann vom geschriebenen Recht abgewichen werden darf bzw. soll. Das Unionsrecht enthält dazu keine geschriebenen Bestimmungen. Das in Rn. 2 Gesagte gibt nur die Praxis wieder, nicht – aus wissenschaftlicher Sicht – auch den Maßstab. Die Konfrontation der Urteile des EuGH mit einem Maßstab setzt bei der Lehre – über die Wiedergabe der Urteile (Rechtskunde) hinaus – allerdings die Bereitschaft voraus, Urteile gegebenenfalls als methodisch „unrichtig“ anzusehen. Diese Bereitschaft war bei nicht wenigen Rechtswissenschaftlern lange Zeit weit geringer als im Verhältnis zu Gerichten des eigenen Landes (etwa nach dem Motto: The ECJ can do no wrong). Die Judikatur wurde oft ohne methodische und damit rechtliche Kritik rezipiert. Seit einiger Zeit mehren sich aber Beiträge, welche diese Kritik üben.5 Aus der „Verfassung“ der Union lassen sich Anforderungen an die treffende 4 Rechtserkenntnis ableiten. Die Funktion der Gesetzgebung wird von Rat und Parlament ausgeübt (Art. 14 und 16 EUV; Art. 288 ff. AEUV), nicht vom EuGH. Auch weil Urteile des EuGH über den Anlassfall hinaus Verbindlichkeit beanspruchen, müssen sie die Befugnis der zur Rechtssetzung primär berufenen Organe achten und nicht beeinträchtigen. Die Achtung für das geschriebene Recht durch Gerichte ist ein integraler Bestandteil dessen, was als „Rule of Law“6 und als „Rechtstaat“ bezeichnet wird und nach Art. 2 EUV für die EU maßgebend ist. Jede andere Auffassung würde die Setzung geschriebenen Rechts ihrer „praktischen Wirksamkeit“ berauben.7 Aus der Verpflichtung auch der Gerichte der EU auf Rechtsstaat und rule of law lassen sich weitere Anforderungen an Rechtserkenntnis ableiten. Dazu zählen m. E. (auch) im
4 Z. B. EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06 Kempter, EU:C:2008:78 Rn. 35: „Eine Vorabentscheidung ist nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur und wirkt daher grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift zurück.“ 5 Zur Kritik an der Auslegungspraxis des EuGH aus Sicht verschiedener Rechtsgebiete vgl. z. B. die Beiträge in: Roth/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten. Es wäre ein lohnendes Projekt, für etwa 25 wichtige Urteile des EuGH, deren Begründung methodisch zweifelhaft erscheint, in Zusammenarbeit aus verschiedenen Mitgliedstaaten alternative Begründungen zu erarbeiten, und so die Möglichkeit einer „besseren“ Methode zu erproben. 6 Vgl. Lord Bingham, The Rule of Law (2011), S. 48 ff. 7 Der EuGH sagt jüngst wiederholt, dass die „praktische Wirksamkeit“ des Wortlauts der Normen gewahrt werden müsse; z. B. EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-147/11 Czop, EU:C:2012:538 Rn. 32. Dies muss erst recht für das geschriebene Recht insgesamt gelten.
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§ 17 Europäisches Arbeitsrecht
Unionsrecht insbesondere: Transparenz der Entscheidungsfindung durch ausreichende Begründung; Gleichbehandlung; Rechtsfragen sollen idR durch Anwendung des Rechts und nicht durch „discretion“ entschieden werden; sowie Vorhersehbarkeit und Klarheit des Rechts (Rechtssicherheit) und damit auch der Urteile. 5 Vor diesem Hintergrund hat/hätte eine Methodenlehre des Unionsrechts primär Regeln anzugeben, welche Aussagen zur Norm leiten und legitimieren können. Sie soll jene Bedingungen nennen, bei deren Einhaltung auch Personen, die vom Gehalt des Urteils rechtspolitisch nicht überzeugt waren, dieses Ergebnis als legitime Aussage zum geltenden Recht ansehen können. Dafür ist entscheidend, ob das Gericht – der EuGH – seine Auffassung nachvollziehbar herleitet und begründet, mit dem erforderlichen Aufwand an Argumenten. Insbesondere fordert die „Wahrung des Rechts“ (Art. 19 AEUV), dass alle relevanten rechtlichen Aspekte und damit alle zur Verfügung stehenden Auslegungsargumente herangezogen werden – und nicht nur jene, welche das erwünschte Ergebnis stützen.8 Bleibt der Begründungsaufwand hinter den Anforderungen zurück, dann erscheint die Entscheidung als Dezision, die man hinnehmen, oder als Offenbarung, die man glauben kann – oder auch nicht. Die Anforderungen an die Begründung steigen m. E. – jedenfalls bei Bestimmungen, die wie das Arbeitsrecht „nur“ das Zusammenleben regeln und nicht Grundfragen betreffen oder Minderheiten schützen – mit der Schwierigkeit des Gesetzgebers, korrigierend einzugreifen. Normen des Sekundärrechts sind meist schwieriger zu ändern als nationales Verfassungsrecht. 6 Die – auch in diesem Werk aufgegriffene – Unterscheidung zur Methodenlehre zwischen Primär- und Sekundärrecht spiegelt die Praxis des EuGH wieder, der sich de facto zum Sekundärrecht, auch zum Arbeitsrecht, weit mehr an Wortlaut und aus dem Rechtsakt ableitbaren Normzweck orientiert als beim Primärrecht. Nach den aus dem Primärrecht ableitbaren Vorgaben zur Rechtserkenntnis sollten diese Unterschiede aber wohl geringer sein als sie sind. 7 Frühere Entscheidungen sind ein sehr wichtiges Begründungselement des EuGH. Auch wenn man dessen Urteile als Rechtsquelle sieht, ist der Verweis auf frühere Urteile kein den Auslegungsargumenten gleichwertiges Begründungselement. Vielmehr handelt es sich um eine Möglichkeit ökonomischer Fallbearbeitung, indem auf bereits geleistete Begründungsarbeit verwiesen wird. Der Verweis leistet nur dann einen überzeugenden Beitrag zur Begründung, wenn das frühere Urteil tatsächlich jene Rechtsfrage „entschieden“ hat, die nun relevant ist, und nicht nur eine im Umfeld gelegene Frage. Der EuGH prüft dies aber nur selten (erkennbar). Insbesondere orientiert er sich nicht an einer ratio decidendi der Vorjudikatur, und belastet sich daher meist nicht mit deren genauer Analyse nach Art des distinguishing. Er verwendet frühere
8 Prima facie anders Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, S. 4: Da die Verträge keine Bestimmungen zu den Interpretationsmethoden enthalten, „the ECJ is, in principle, free to choose which of the methods of interpretation at its disposal best serves the EU legal order.“ Rebhahn/Franzen
I. Grundlagen
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Aussagen häufig auch als Argument in Konstellationen, in denen zweifelhaft ist, ob das frühere Urteil die nun relevante Rechtsfrage bereits beurteilt hat, oder nur eine (entfernt) ähnliche. Es fehlt also eine verlässliche Lehre der Urteilsdeutung. Für eine und in einer Fallrechtsordnung ist aber eine theory of precedent9 erforderlich, die zu ermitteln erlaubt, was eine Entscheidung verbindlich entschieden hat. Das Fehlen einer solchen theory begünstigt die Bereitschaft mancher Autoren, in die Urteile noch mehr hineinzulesen als der EuGH herauslesen würde. Aufgrund der Fallorientierung der Urteile des EuGH sollte man diese jedenfalls „anders lesen“ als Urteile eines deutschen Höchstgerichts.10 Das Dogma, dass der EuGH stets nur das Recht erkennt wie es ab Inkrafttreten der 8 Norm „schon immer war“ (Rn. 2), verschleiert die rechtsfortbildenden Elemente in der Judikatur. In Verbindung mit der Orientierung an früheren Entscheidungen führt es dazu, dass ein Abgehen von einer Vorentscheidung bislang kaum je offengelegt wird. Zur Betriebsübergangs-RL korrigiert etwa das Urteil Süzen das Urteil Schmidt im entscheidenden Punkt, nämlich dass allein der Übergang des Dienstleistungsauftrags zum Betriebsübergang führt, es legt aber weder die Änderung offen noch setzt es sich mit dem Urteil Schmidt auseinander.11 Der Schlussantrag kann die im Urteil zu einer Frage fehlende Begründung m. E. 9 nur ersetzen, wenn das Urteil diesem zu der Frage ausdrücklich zustimmt. Nur ein Teil der Urteile zum Arbeitsrecht ist in den letzten Jahren dem Schlussantrag ausdrücklich gefolgt, zum Teil aber nicht zur wesentlichen Frage, sondern zu einem Randproblem. Häufig folgt das Gericht dem Schlussantrag auch nicht, und zwar fast immer ohne dies offen zu legen oder sich mit dessen Argumenten auseinanderzusetzen. Ein Beispiel dafür ist das Urteil Hlozek aus 2004 zu Sozialplanzahlungen (vgl. Rn. 63). Der EuGH kennt keine feste Geschäftsverteilung.12 Von Interesse ist dann, ob der 10 Präsident arbeitsrechtliche Fälle überwiegend bestimmten Generalanwälten und Kammern zuweist. Eine Spezialisierung wäre zu Fragen des Sekundärrechts sinnvoll. In den ersten beiden Auflagen wurde dargelegt, dass es bei Vorabentscheidungsverfahren bis 2004 Hinweise auf eine Geschäftsverteilung in Arbeitsrechtssachen gab; danach ist das Bild weniger eindeutig. Auch bei den Berichterstattern kann man nur
9 Vgl. zur Bedeutung von precedents MacCormick, Rhetoric and the Rule of Law, S. 143 ff.; dort auch zur Unterscheidung zwischen doctrine und theory of precedent. 10 Besonders deutlich ist dies etwa beim Urteil Scattolon (vgl. Rn. 45). 11 EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Schmidt, EU:C:1994:134 Rn. 17; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 Süzen, EU:C:1997:141 Rn. 16 ff. Im Urteil Schmidt hat der neue Auftragnehmer der Arbeitnehmerin die Übernahme nur angeboten, diese hat sie abgelehnt, so dass die „Hauptbelegschaft“ nicht übernommen wurde. Hätte Frau Schmidt das Angebot mit schlechteren Arbeitsbedingungen akzeptiert, so hätte auch nach den Kriterien des Urteils Süzen ein Betriebsübergang vorgelegen. 12 Man stelle sich den Aufschrei vor, wenn die feste Geschäftsverteilung in manchen Mitgliedstaaten abgeschafft würde.
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§ 17 Europäisches Arbeitsrecht
teilweise eine Tendenz zur „Spezialisierung“ erkennen. In der Erstauflage wurde die Frage gestellt, ob ein Einfluss des Berichterstatters auf den Begründungsstil erkennbar ist. Die Auswertung ergab erkennbare Unterschiede in Bezug auf „Verwertung“ von Vorjudikatur, Tiefe der Argumentation zu Wortlaut und Systematik, sowie Auseinandersetzung mit Stellungnahmen und Schlussanträgen. Dies kann hier nicht fortgeführt werden. Wer auf den/die Berichterstatter/in achtet, kann Korrelationen mit der Qualität der Begründung ausmachen.
II. Übergreifende systematische Erwägungen 11 Das Arbeitsrecht ist wohl jener Teil des wirtschaftsrelevanten Privatrechts, in dem die
Unterschiede am größten sind. Die Vorgaben der EU betreffen nur Teile. Im Individualarbeitsrecht sind v. a. Arbeitsschutz und Arbeitszeit, Mindesturlaub, Diskriminierungsverbote, Information über Arbeitsbedingungen, „atypische“ Arbeitsverhältnisse wie Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse und Leiharbeit, Verfahren bei Massenentlassung, Betriebsübergang sowie Mutterschutz und Elternteilzeit geregelt, im Kollektivarbeitsrecht nur Europäischer Betriebsrat, Information und Konsultation sowie Vertretung der Arbeitnehmer in Unternehmensorganen. Geht man von den in Mitgliedstaaten meist geregelten Themen aus, so spart das Unionsrecht wichtige Fragen aus, insbesondere Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung, Haftung, Risikoverteilung und Nebenpflichten, sowie das Koalitionsrecht, Tarifverträge und kollektive Konflikte. Das ist zum Teil kompetenziellen Beschränkungen geschuldet (vgl. Art. 153 Abs. 1 lit. d, Abs. 2 UAbs. 3, Abs. 5 AEUV).
1. Mindestvorschriften und Grad der Harmonisierung 12 Nach Art. 153 AEUV hindern darauf gestützte Richtlinien die Mitgliedstaaten „nicht
daran, strengere Schutzvorschriften zu treffen, soweit diese mit den Verträgen vereinbar sind.“13 Die meisten Richtlinien zum Arbeitsrecht haben Art. 153 AEUV entweder als Grundlage oder wären heute auf dieser Grundlage zu erlassen. Dies gilt insbesondere für ältere Richtlinien, die noch auf die Binnenmarktkompetenz gestützt waren, aber ausdrücklich strengere Schutzmaßnahmen erlauben. Richtlinien nach Art. 153 AEUV sind daher Mindestvorschriften. Die Tatsache einer Teilharmonisierung war wiederholt als Argument relevant. In manchen Urteilen hat sie zur Entscheidung beigetragen, etwa wenn es um das Anknüpfen an die nationalen Begriffe des Arbeitneh-
13 Die Einschränkung hat bisher keine Bedeutung erlangt (dazu Rn. 53): Die Entsende-RL (Rn. 55) wurde nicht auf die sozialpolitische Kompetenz gestützt. Rebhahn/Franzen
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II. Übergreifende systematische Erwägungen
mers14 oder um die Rechtsfolgen wiederholter Befristung15 geht. In anderen hat sie nicht zu einer Verringerung der Pflichten der Mitgliedstaaten geführt.16 Die Frage, ob ein Begriff des (sekundären) Unionsrechts autonom auszulegen ist, 13 ist auch zum Arbeitsrecht im Zweifel jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Rechtsakt die mit diesem Begriff umschriebenen Sachverhalte gezielt regelt.17 Beispiele sind die Begriffe „Betrieb“ in der Betriebsübergangsrichtlinie oder „Entlassung“ in der Massenentlassungsrichtlinie.18 Gestützt werden kann die einheitliche Auslegung durch den Zweck der Regelung oder durch das Fehlen des Begriffes in einer Liste, welche die von der Regelung unberührt bleibenden Begriffe nennt. Beide Argumente wurden im Urteil Mau zum Begriff Arbeitsverhältnis in der Insolvenz-Richtlinie verwendet.19 Im Vordergrund stand dabei der „soziale Zweck“ der Richtlinie. Nicht wenige arbeitsrechtlichen Richtlinien verweisen allerdings für den Begriff 14 des Arbeitnehmers, der den Anwendungsbereich bestimmt, auf die nationale Begriffsbildung.20 Mit dieser Teilharmonisierung soll auf die Kohärenz der nationalen Rechtsordnungen Rücksicht genommen werden. Die Entscheidung, ob eine Richtlinie auf die nationalen Begriffe verweist, erfolgt primär anhand des Wortlauts und subsidiär nach dem Regelungszweck.21 Bei Verweis sind die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung an den üblichen nationalen Begriffsinhalt gebunden.22 Dies ergibt sich aus dem Zweck und dem Gebot praktischer Wirksamkeit. Das Arbeitsrecht der Union kann theoretisch drei Zwecke verfolgen: Verbesserung 15 der Arbeitsbedingungen als sozialpolitisches Ziel; ökonomische Ziele wie Effizienz, Wettbewerb und hohe Beschäftigung; sowie das Ziel der Integration, insbesondere um Störungen des Wettbewerbes zu vermeiden.23 Auch bei Auslegung von arbeitsrechtlichen Mindestvorschriften stellt sich die Frage, inwieweit die EU aktiv beitragen soll, Unterschiede in den Arbeitsrechtsordnungen einzuebnen. Die einen meinen, geringere Arbeitsstandards seien ein Wettbewerbsfaktor, über den die Mitgliedstaaten selbst sollen entscheiden können. Andere meinen, dass staatliche Sozialstandards möglichst einheitlich sein sollen, um im Binnenmarkt einheitliche Rahmenbedingun-
14 Z. B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols Inventar, EU:C:1985:331 Rn. 26 ff.; umfassende Analyse der Rechtsprechung des EuGH bei Sagan, ZESAR 2020, 3 ff. 15 EuGH v. 8.12.2012 – Rs. C-251/11 Martial Huet, EU:C:2012:133 Rn. 41. 16 Vgl. EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, EU:C:1994:234 Rn. 24 ff.; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-125/97 Regeling, EU:C:1998:358 Rn. 19 zur Insolvenzrichtlinie. 17 Vgl. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 4 f. 18 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, EU:C:2005:59 Rn. 34. 19 EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Karen Mau, EU:C:2003:280 Rn. 39–44. 20 Vgl. dazu z. B. Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 200 ff.; Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht (2011), S. 207 ff. 21 Z. B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols, EU:C:1985:331 Rn. 27; EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 53/81 Levin, EU:C:1982:105; Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 23 ff. 22 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, EU:C:2003:437 Rn. 59. 23 Vgl. Syrpis, EU Intervention in Labour Law, S. 10 ff.; Rödl, Arbeitsverfassung, S. 869 ff.
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§ 17 Europäisches Arbeitsrecht
gen für Wettbewerb zu bieten und einen Wettbewerb mit Arbeitskosten insoweit zu verhindern, auch weil man befürchtet, dass es ein Wettbewerb nach unten wird.24 Die erste Überlegung führt auch bei Mindestvorschriften im Zweifel zu einer restriktiven Interpretation, die zweite zu einer extensiven. Mindestvorschriften dienen immer zumindest auch, wenn nicht primär dem Schutz der Arbeitnehmer. Die oben genannten alternativen Ziele gemeinschaftlicher Rechtssetzung können insoweit nur beschränkt verfolgt werden. Mindestvorschriften dienen insbesondere nicht vorrangig dem Binnenmarkt. Dessen Förderung kann daher auch nicht Leitlinie ihrer Interpretation sein. 16 Die Entsende-RL 96/71/EG wurde von vielen lange als Mindestvorschrift verstanden. Die Urteile Laval und Rüffert sagen, dass die Richtlinie abschließend regelt, welche seiner arbeitsrechtlichen Normen der Staat, in den entsendet wird, für entsendete Arbeitnehmer vorschreiben darf,25 dass sie also keine Mindestvorschrift enthält. Dies wird aus der Richtlinie selbst abgeleitet, v. a. aus Art. 3 Abs. 10, und durch die Dienstleistungsfreiheit erhärtet. Für eine abschließende Regelung spricht auch die in Anspruch genommene Binnenmarktkompetenz.26 17 Häufig verweisen Richtlinien auf „Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ der Mitgliedstaaten; so z. B. die Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG (Art. 2 Nr. 1, 7, 8, 10 und 18), die Befristungs-RL 1999/70/EG (§§ 2, 3, 4, 7 und 8) und die Richtlinie 2002/14/EG zu Unterrichtung und Anhörung (Art. 2 und 4). Besondere Bedeutung hat dieser Verweis in der Judikatur des EuGH bislang allerdings nicht erlangt, was methodisch zumindest fragwürdig ist. Denn hierdurch bringt der europäische Gesetzgeber doch eigentlich klar zum Ausdruck, dass die entsprechende Frage auf der mitgliedstaatlichen Ebene geregelt werden soll.
2. Inneres System und favor laboris als Argumente? 18 EuGH und Lehre unterscheiden zu den Auslegungsmethoden nicht zwischen ver-
schiedenen Bereichen des Sekundärrechts. Nur bestimmte Argumente – Förderung des Binnenmarkts, effektiver Wettbewerb – sind für einzelne Bereiche charakteristisch. Durchgehende Argumentationsmuster können insbesondere in Betracht kommen, wenn das betreffende Rechtsgebiet systematisch geregelt ist. Zum Arbeitsrecht regelt das Sekundärrecht nur Teilbereiche (Rn. 11). Manche sehen gleichwohl zumindest in einem Teil der Regelungen ein inneres System.27 Zutreffender erscheint, dass
24 Vgl. z. B. Barnard, EU Employment Law, S. 36 ff.; Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 151 AEUV Rn. 16 ff. 25 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, EU:C:2007:809 Rn. 80; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 Rüffert, EU:C:2008:189 Rn. 33. 26 Rebhahn, Das Recht der Arbeit (1999), S. 177. 27 Grundmann, Zum Harmonisierungskonzept des Europäischen Arbeitsrechts, in: Krause (Hrsg.), Gedächtnisschrift für W. Blomeyer (2004), S. 71 ff. Auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 24, meint,
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II. Übergreifende systematische Erwägungen
das Unionsrecht nur „Fragmente“ des Arbeitsrechts regelt.28 Die Gerichte können daher bei Auslegung einzelner Rechtsakte kaum von einem geschlossenen Konzept des Arbeitsrechts ausgehen. Das erschwert eine systematische Interpretation über die einzelne Richtlinie hinaus. Daran ändert es nichts, wenn der EuGH manche Regelungen für sich als „Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft“ ansieht, insbesondere wenn es dazu eine Bestimmung in der GRCh gibt.29 Die sozialpolitische Zielsetzung der Mindestvorschriften wirft die Frage auf, in- 19 wieweit bei der Auslegung neben den Interessen der Arbeitnehmer auch auf Interessen der Arbeitgeber Bedacht zu nehmen ist. Der EuGH hat zum genuinen Arbeitsrecht mehrfach ausgesprochen, dass die Arbeitnehmer die „schwächere Partei des Arbeitsvertrags“ sind.30 Soweit zu sehen, gibt es beim EuGH wohl kein einheitliches Vorverständnis zur Frage, ob arbeitsrechtliche Vorschriften eher extensiv oder restriktiv auszulegen sind. Zu manchen nicht eindeutigen Fragen urteilt er eher restriktiv, wie zur Bedeutung der Nachweisrichtlinie 91/533/EWG (Rn. 41), zu anderen eher extensiv, wie zum Begriff der Arbeitszeit (Rn. 38) oder dem Vorliegen eines Betriebsüberganges (Rn. 40). Manche leiten aus Art. 151 AEUV ab, dass die Auslegung primär an der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen orientiert sein müsse.31 Diese Maxime hat in der Judikatur bislang, soweit zu sehen, noch keine maßgebende Rolle gespielt.32 Der EuGH hat auch noch nie explizit gesagt, dass arbeitsrechtliche Schutzvorschriften im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen seien. Soweit zu sehen praktiziert er eine solche Auslegungsregel bei den Mindestvorschriften auch nicht. Ein Auslegungsgrundsatz „im Zweifel zugunsten des Arbeitnehmers“ (favor laboris) hat sich also nicht herausgebildet. Zwar gehen viele Urteile des EuGH in diese Richtung, allerdings wohl schon deshalb, weil die Union Regelungen „zum Schutz der Arbeitnehmer“ erlassen hat. Aus der Tatsache, dass früher mehrere Urteile jene Auslegung gewählt haben, die den Arbeitnehmerschutz stärkt, haben manche auf eine „arbeitnehmerfreundliche Grundhaltung“ des EuGH geschlossen. Die Urteile Viking und Laval (dazu Rn. 54 f.) haben gezeigt, dass die frühere Judikatur weniger der erwähnten Grundhaltung als der Tatsache geschuldet gewesen sein dürfte, dass es dem EuGH da
man müsse stets einen „Systembildungswillen“ vermuten. Dies stimmt wohl nur für eine Rechtsordnung, die auf ein kohärentes und umfassendes Regelungssystem zumindest angelegt ist. 28 So die überwiegende Einschätzung; vgl. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 50 ff., der selbst etwas mehr an System erkennt. 29 So zum bezahlten Urlaub EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 Federatie Nederlandse Vakbeweging, EU: C:2006:244 Rn. 28; EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-619/16 Kreuziger, EU:C:2018:872 Rn. 29; EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-684/16 Max-Planck-Gesellschaft, EU:C:2018:874 Rn. 20. 30 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 82; EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-619/16 Kreuziger, EU:C:2018:872 Rn. 48; EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-684/16 MaxPlanck-Gesellschaft, EU:C:2018:874 Rn. 41. 31 Joussen, Auslegung, S. 246. 32 Sie wird aber zuweilen erwähnt, z. B. in EuGH v. 10.6.2010 – verb. Rs. C-395/08 und C-395/06 INPS ./. Bruno und Pettini, EU:C:2010:329 Rn. 30 f.
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rum geht, der jeweiligen Regelung „praktische Wirksamkeit“ zu verschaffen. Bei der Interpretation arbeitsrechtlicher Normen blickt der EuGH also wohl nur auf den Zweck der konkreten Norm. Das führt bei der Auslegung arbeitsrechtlicher Richtlinien tendenziell zu „arbeitnehmerfreundlichen“ Ergebnissen, im Rahmen von Binnenmarktregelungen allerdings tendenziell zu „unternehmensfreundlicheren“ Judikaten33. 20 Die arbeitsrechtlichen Richtlinien nennen idR nur den Schutz der Arbeitnehmer als Regelungsziel. Dies mag erklären, warum der EuGH lange Zeit – soweit zu sehen – die Interessen der Arbeitgeber kaum je explizit angesprochen hat. Die Fokussierung einer Regelung auf den Schutz eines Beteiligten würde nationale Gerichte nicht davon abhalten, bei der Interpretation auch Interessen der anderen Seite und Dritter zu bedenken und sich erkennbar um eine abgewogene Auslegung zu bemühen. Die oft knappe Argumentation des EuGH tut dies jedenfalls nur selten ausdrücklich. Dies begünstigt die in der Literatur wiederholt konstatierte Eindimensionalität der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften,34 die aber durch die Normen nicht zwingend vorgegeben ist.35 Nur wenige Urteile berücksichtigen Interessen der Arbeitgeber ausdrücklich. Zwei davon betreffen den Betriebsübergang. Im Urteil Werhof aus 2006 war fraglich, ob der Erwerber nach Betriebsübergang Änderungen des Veräußererkollektivvertrages aufgrund einer Verweisung im Arbeitsvertrag gegen sich gelten lassen muss. Dabei „können … die Interessen des Erwerbers nicht unberücksichtigt bleiben, der in der Lage sein muss, die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen“.36 2013 hat das Urteil Alemo-Herron (dazu Rn. 59) unter Berufung auf Art. 16 GRCh die Interessen des Erwerbers wiederum explizit einbezogen, nun nach Ansicht mancher zu stark. Auch das Urteil Kücük zur Zulässigkeit wiederholter Befristungen berücksichtigt die Interessen der anderen Seite. Auch wenn Größe des Unternehmens und Zusammensetzung des Personals darauf schließen lassen, dass der Arbeitgeber mit einem wiederholten oder ständigen Bedarf an Vertretungskräften konfrontiert ist, ginge es über die Ziele der Befristungs-RL hinaus, automatisch den Abschluss unbefristeter Verträge zu verlangen.37 21 In der politischen Diskussion ist oft von einem Europäischen Sozialmodell die Rede.38 Diese Vorstellung hat in der Rechtsprechung noch keine erkennbare Rolle gespielt. In Anbetracht der thematischen Lücken in den Regelungen (dazu Rn. 11) und
33 Siehe dazu schon Franzen, Die Rechtsprechung des EuGH im Arbeitsrecht zwischen Marktfreiheit und Arbeitnehmerschutz, S. 148ff. 34 Vgl. dazu schon Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 461ff.; s. a. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 43 mwN. 35 So schon Schlachter, Der Europäischer Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit (1995), S. 36. 36 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, EU:C:2006:168 Rn. 32. 37 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 Kücük, EU:C:2012:39 Rn. 53 f. Das Urteil geht dabei vom Wortlaut aus, wonach die Mitgliedstaaten „gegebenenfalls“ festlegen können, unter welchen Bedingungen befristete als „unbefristete Verträge … zu gelten haben“. 38 Vgl. dazu z. B. Rebhahn, ZESAR 2009, 159 ff. mwN.
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II. Übergreifende systematische Erwägungen
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der großen Unterschiede im Arbeits- und Sozialrecht der Mitgliedstaaten war diese Vorstellung, wenn man unter dem Europäischen Modell mehr als einen „gewissen Unterschied“ zu vielen Staaten außerhalb der EU versteht, eher Parole denn Beschreibung der Realität oder Postulat. Eine Änderung kann die Grundrechtecharta (GRCh) mit sich bringen. Neben den für das Arbeitsrecht spezifischen Art. 27 bis 34 GRCh sind hier insbesondere Art. 21 und 23, Art. 7 und 8 sowie Art. 16 GRCh relevant. Die Mehrzahl von für das Arbeitsrecht relevanten Gewährleistungen im geschriebenen Primärrecht kann bewirken, dass sich zum Unionsrecht eine kohärentere Vorstellung von einem System des Arbeitsrechts entwickelt. Eine Hürde dafür kann die nach Art. 51 GRCh eingeschränkte Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta darstellen39.
3. Tarifautonomie und Unionsrecht Das Unionsrecht sichert – nun in Art. 28 GRCh – das Recht auf kollektive Verhandlun- 22 gen und Aktionen ab (vgl. Rn. 60). Fraglich ist, inwieweit dies bei Anwendung von Unionsrecht zu einer Abschwächung der Vorgaben im Vergleich zu jenen für Mitgliedstaaten führt. Der EuGH hat die Bindungen, die für Normen des Mitgliedstaates gelten, seit jeher auch für kollektive Verträge bejaht. So hat das unmittelbar anwendbare Unionsrecht Vorrang vor einem Kollektivvertrag, der Normwirkung entfaltet. Dies gilt etwa für Diskriminierungsverbote (z. B. Art. 157 AEUV sowie Altersdiskriminierung)40 und die Arbeitnehmerfreizügigkeit.41 Der EuGH hat nicht erkennen lassen, dass aus der Gewährleistung der Tarifautonomie ein wesentlich größerer Gestaltungsspielraum von Tarifverträgen folge als sie der Mitgliedstaat besitzt, und zwar weder vor42 noch nach Inkrafttreten der GRCh. Relevant war dies insbesondere zur Frage, ob die Regelung in Tarifverträgen Diskriminierung (leichter) rechtfertigen kann.43 Die Regelung in einem Tarifvertrag kann daher nur ein Gesichtspunkt bei der Beurteilung sein, ob Unterschiede beim Entgelt auf objektive Faktoren zurückgehen.44 Daher werden auch
39 Vgl. EuGH v. 19.11.2019 – Rs. C-609, 610/17 TSN, EU:C:2019:981 Rn. 42ff., wonach die Mitgliedstaaten nicht an die GRCh gebunden sind, wenn sie innerstaatliche Regelungen im Geltungsbereich mindestharmonisierender Richtlinien vorsehen, welche über den von der Richtlinie geforderten Mindeststandard hinausgehen. 40 EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C‑127/92 Enderby, EU:C:1993:859 Rn. 21; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, EU:C:1999:512 Rn. 26; EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 Kenny, EU:C:2013:122 Rn. 47. 41 Z. B. EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, EU:C:1995:463. 42 Vgl. z. B. EuGH v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 Nimz, EU:C:1991:50 Rn. 11; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, EU:C:1999:512 Rn. 26; EuGH v. 28.10.1999 – Rs. C-187/98 Kommission ./. Griechenland, EU:C:1999:535 Rn. 46, alle zu Art. 141 EGV. 43 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 Prigge, EU:C:2011:573 Rn. 47; EuGH 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 und C-298/10 Hennigs, EU:C:2011:560 Rn. 67. 44 Z. B. EuGH v. 31.5.1995 – Rs. C‑400/93 Royal Copenhagen, EU:C:1995:155 Rn. 36; EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 Kenny, EU:C:2013:122 Rn. 49.
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§ 17 Europäisches Arbeitsrecht
normativ wirkende Kollektivverträge so weit wie möglich unionsrechtskonform zu interpretieren sein. Richtlinien wirken sich auf Kollektivverträge aber auch nicht stärker aus als auf Gesetze. Auch die Gewährleistung von kollektiven Aktionen hat bisher keinen erkennbaren Einfluss auf die Anwendung anderer Normen des Unionsrechts gehabt (dazu Rn. 60). Insgesamt muss man derzeit schließen, dass die Tarifautonomie bei der Auslegung arbeitsrechtlicher Normen – anders als in Deutschland – bislang keine prominente Rolle spielt.
III. Auslegung des Sekundärrechts 23 Es ist nicht verwunderlich, dass der EuGH die traditionellen Auslegungsargumente
verwendet. Daher geht es im Folgenden nicht darum darzulegen, dass der EuGH sie verwendet, sondern eher darum aufzuzeigen, (wann) welches Argument das Ergebnis bestimmt und ob das Urteil alle Argumente einbezieht. Nicht wenige Urteile des EuGH sind methodisch in dem Sinne überzeugend, dass (soweit ersichtlich) alle relevanten Aspekte berücksichtigt werden. Der Anteil dieser Urteile nimmt m. E. jedenfalls im Bereich des Sekundärrechts eher zu. Beispiele aus neuerer Zeit (die auch Primärrecht betreffen) sind Urteile zu Altersgrenzen in Gesetzen und Tarifverträgen (dazu Rn. 65) sowie das Urteil Jette Ring (Rn. 33). Allerdings gibt es auch Urteile, die sehr schlecht begründet und daher methodisch verfehlt sind. Dazu zählen etwa die Urteile AlemoHerron (vgl. Rn. 59), Paletta I (dazu Rn. 42) und Danosa (dazu Rn. 48). Methodisch fragwürdig sind auch Urteile, bei denen die Rechtslage nachher weniger klar ist als davor. Dies trifft etwa auf die Urteile Meister45 und Scattolon (Rn. 45) zu.
1. Wortlaut 24 In der Judikatur zum Arbeitsrecht spielt der Wortlaut eine herausragende Rolle. Er ist
stets der Ausgangspunkt, soweit keine Vorjudikatur existiert. Die Bedeutung des Wortlautes ist beim Sekundärrecht erkennbar bedeutend größer als beim Primärrecht, der EuGH argumentiert hier i. d. R. primär mit Hilfe des Wortlautes. Die Bedeutung des Wortlautes im Verhältnis zu anderen Argumenten hat im letzten Jahrzehnt wohl zugenommen. Man kann nicht (mehr) sagen, dass der Wortlaut nur der „Ausgangspunkt“ sei. 25 Jede Sprachfassung des Unionsrechts ist gleich verbindlich.46 Der EuGH verweist auch zum Arbeitsrecht eher selten, wenn auch zunehmend, auf verschiedene Fassungen, allerdings ohne systematischen Vergleich. Das Fehlen eines einzigen verbindli
45 EuGH v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 Meister, EU:C:2013:122. 46 Z. B. EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, EU:C:2005:59 Rn. 33. Rebhahn/Franzen
III. Auslegung des Sekundärrechts
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chen Textes verursacht aber (auch) im Arbeitsrecht, soweit zu sehen, nur selten Probleme. Mit den verschiedenen Fassungen wird nur selten vertieft argumentiert. So behauptet das Urteil Henke zum Begriff „Betrieb“ der Betriebsübergangs-RL eher, dass die verschiedenen Sprachfassungen das Ergebnis stützen, als dass es dies nachweist.47 Gibt es eine nach Sprachfassungen klar überwiegende Bedeutung, von der nur eine Fassung (oder sehr wenige Fassungen) abweicht, so dürfte faktisch erstere maßgeblich sein, jedenfalls wenn andere Argumente für diese Bedeutung sprechen.48 Im Urteil Junk zur Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG49 war fraglich, ob unter „Entlassung“ der Ausspruch der Kündigung oder erst das Ende des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der Kündigungsfrist zu verstehen ist. In Deutschland vertrat man das zweite. Der EuGH sagt, dass die anderen Sprachfassungen entweder die Kündigungserklärung meinen oder beide Varianten abdecken. Das Urteil sagt dies aber nur kurz, ohne es näher darzutun. Erkennt ein Urteil, dass jeweils mehrere Fassungen zu unterschiedlichen Ergebnissen der Wortinterpretation führen, so kommt es auf andere Auslegungsmittel an.50 Dies kann die Möglichkeiten vergrößern, vom Wortlaut abzuweichen. Der EuGH hat wiederholt am Gehalt einer Richtlinie, der sich aus dem Wortlaut er- 26 gibt, festgehalten, ohne sich durch Zwecküberlegungen anders bestimmen zu lassen. So wurde zur Befristungs-RL gesagt, diese verpflichte nicht dazu, als Rechtsfolge einer missbräuchlichen wiederholten Befristung die Umwandlung in einen unbefristeten Arbeitsvertrag vorzusehen.51 Schutzzweck und praktische Wirksamkeit kommen erst zum Tragen, wenn der Arbeitgeber doch einen unbefristeten Vertrag anbietet, aber mit deutlich verschlechterten Bedingungen; dies wäre unzulässig.52 Große Bedeutung misst das Urteil Della Rocca dem Wortlaut der Präambel der Befristungs-RL zu. Diese enthält in der Definition der erfassten Arbeitnehmer in § 3 die Wendung „Person mit einem direkt zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer geschlossenen Arbeitsvertrag oder -verhältnis.“ Das Urteil zieht dann die Aussage in der Präambel, die Richtlinie gelte „für Arbeitsverhältnisse mit Ausnahme derer, die von einer Leiharbeitsagentur zur Verfügung gestellt werden“, zur Auslegung des Wortes „direkt“ heran. Daraus folge, dass die Richtlinie nicht nur im Verhältnis zum Entleiher, sondern auch im Verhältnis zum Verleiher nicht anwendbar ist, Leiharbeitnehmer also
47 EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 Henke, EU:C:1996:382 Rn. 15. 48 Vgl. EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 Dansk Jurist, EU:C:2013:603 Rn. 35 ff. Nur die Fassung jenes Mitgliedstaates, aus dem die Vorlage stammte, wich ab, wohl aufgrund eines Übersetzungsfehlers. Gleichwohl stützt das Urteil das Ergebnis mit anderen Argumenten. 49 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, EU:C:2005:59 Rn. 34. 50 So z. B. EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, EU:C:1995:420 Rn. 28. 51 Vgl. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adelener, EU:C:2006:443 Rn. 91 ff.; EuGH v. 8.12.2012 – Rs. C251/11 Martial Huet, EU:C:2012:133 Rn. 38 ff. 52 EuGH v. 8.12.2012 – Rs. C-251/11 Martial Huet, EU:C:2012:133 Rn. 44.
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von der Richtlinie nicht erfasst werden.53 Der Begriff „Beschäftigungsbedingungen“, der sich insbesondere in Richtlinien zur Diskriminierung findet, umfasst alle Bestimmungen, für die „gerade das Kriterium der Beschäftigung entscheidend ist, d. h. das zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber begründete Arbeitsverhältnis.“ Er erfasst daher z. B. auch die Entschädigung, die die rechtswidrige Verwendung eines befristeten Arbeitsvertrages wiedergutmachen soll.54 Im Verbot der Diskriminierung aufgrund Behinderung hat der Gesetzgeber mit „Behinderung“ „bewusst ein Wort gewählt, das sich von dem der ‚Krankheit‘ unterscheidet. Daher lassen sich die beiden Begriffe nicht schlicht und einfach einander gleichsetzen.“55 Erlaubt eine Richtlinie eine Differenzierung bei Vorliegen von „sachlichen Gründen“, so fallen darunter nur „genau bezeichnete, konkrete Umstände“, die sich auf den Regelungsgegenstand beziehen.56 27 Die große Bedeutung des Wortlautes bedeutet nicht, dass die Möglichkeiten der Wortlautinterpretation stets voll ausgeschöpft werden. Die Überlegungen dazu bleiben auch in Fällen, in denen dies das entscheidende Argument ist, nichts selten hinter dem zurück, was in manchen Mitgliedstaaten bei der Wortlautinterpretation erreicht wird. Der Grund dafür mag sein, dass es keinen einzig verbindlichen Normtext gibt, den man auf Nuancen hin „abhören“ kann.
2. Systematik 57 28 Die These von der Einheit der Rechtssprache hat auch im Arbeitsrecht große Bedeu-
tung. Der EuGH verwendet sie etwa beim Begriff des Arbeitnehmers (dazu Rn. 48). Ferner wird häufig die These/Regel verwendet, dass Ausnahmen eng auszulegen sind,58 insbesondere bei Abweichungen von grundlegenden Vorschriften wie Diskriminierungsverboten,59 aber auch bei Auslegung von (anderem) Sekundärrecht.60 Ein Ausnahmetatbestand von einem Individualrecht könne nämlich „nicht so ausgelegt
53 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 Della Rocca, EU:C:2013:235 Rn. 39. 54 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 Carratù, EU:C:2013:830 Rn. 35 ff. 55 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 Chacon Navas, EU:C:2006:456 Rn. 44. 56 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, EU:C:2010: 215 Rn. 42 (zur Teilzeit-RL). Vgl. auch EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adelener, EU:C:2006:443 Rn. 58 ff. (zur Befristungs-RL). 57 Eher zweifelnd Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 21. 58 Vgl. dazu – kritisch – Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 62 ff. 59 Z. B. EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 Dansk Jurist, EU:C:2013:603 Rn. 41 (zu Altersdiskriminierung). 60 Vgl. z. B. EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 Johnston, EU:C:1986:206 Rn. 36, 44; EuGH v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93 Kalanke, EU:C:1995:322 Rn. 21. Zur Arbeitszeit-RL EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, EU:C:2000:528 Rn. 35; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, EU:C:2003:437 Rn. 89; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 52, 65.
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werden, dass seine Wirkung über das hinausgeht, was zum Schutz der von ihm gewährleisteten Interessen erforderlich ist.“61 Zuweilen wird dabei zu wenig berücksichtigt, ob die Regel, von der abgegangen wird, bei gesamthafter Betrachtung nicht selbst Ausnahme ist. So wird weder zum Diskriminierungsverbot für Private noch zu Vorgaben für Arbeitsverträge ausdrücklich bedacht, dass diese selbst Ausnahmen von Privatautonomie und Vertragsfreiheit sind. Ferner ist eine nicht enge Auslegung einer Ausnahme nicht dasselbe wie deren extensive Auslegung. Systematische Erwägungen, die das Zusammenspiel verschiedener Bestimmun- 29 gen desselben Rechtsaktes beleuchten, finden sich eher selten. Ein allgemein relevantes Beispiel bietet das Urteil Abels:62 Nimmt eine Zusatzbestimmung bestimmte Ansprüche des Arbeitnehmers bei Verwirklichung des Tatbestandes, hier Betriebsübergang, von der Rechtsfolge (Haftung des Erwerbers) aus, so spricht dies dafür, dass die Rechtsfolge für alle anderen Ansprüche eintritt. Ein weiteres Beispiel stellt das AKT-Urteil dar63: Aus Art. 4 Abs. 2–5 Leiharbeits-RL 2008/104/EG, welche lediglich prozedurale Vorgaben für die Behörden der Mitgliedstaaten aufstellen, folgert der EuGH, dass dies auch für Art. 4 Abs. 1 Leiharbeits-RL 2008/104/EG gelten müsse, was aber dem Wortlaut der Vorschrift klar widerspricht, wonach Einschränkungen und Verbote der Leiharbeit nur durch im Allgemeininteresse liegende Gründe gerechtfertigt werden können. Dieses Urteil kann man nur so erklären, dass die Große Kammer des EuGH in dem sozialpolitisch heiklen Feld der Leiharbeit keine materielle Entscheidung treffen, sondern diese lieber den Mitgliedstaaten überlassen wollte. Systematische Interpretation zu demselben Rechtsgebiet, die über den konkreten 30 Rechtsakt hinausgreift, stand stets vor zwei Schwierigkeiten. Erstens regelte und regelt das Unionsrecht (auch) zum Arbeitsrecht nur einen Teil der relevanten spezifischen und allgemeinen Fragen, sodass das für systematische Interpretation erforderliche Normenumfeld häufig fehlt. Zweitens wurde das Unionsrecht in Bezug auf Details und Strukturen als „dynamische“ Rechtsordnung verstanden, und damit letztlich als „unfertige“. Es gibt aber doch Urteile, die überzeugend rechtsaktübergreifend systematisch interpretieren. So arbeitet das Urteil Andersen mit Hilfe des Wortlautes und der Systematik, aber auch unter Rückgriff auf historische und teleologische Argumente den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt eines „befristeten Arbeitsvertrages“
61 EuGH v. 17.6.1998 – Rs. C-321/96 Mecklenburg, EU:C:1998:300 Rn. 25. Auch zu Diskriminierungsverboten wird nicht selten gesagt, dass bei Ausnahmen von einem Individualrecht „der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist, wonach Ausnahmen nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist …“; z. B. EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C476/99 Lommers, EU:C:2002:183 Rn. 39. 62 So etwa EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, EU:C:1985:55 Rn. 36 f. zur Betriebsübergangs-RL; dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 24. 63 EuGH v. 17.3.2015 – Rs. C-533/13 AKT, EU:C:2015:173.
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in verschiedenen Richtlinien heraus,64 dies mit dem Ziel, die „innere Kohärenz“ des Unionsrechts zu gewährleisten. 31 Systematische Auslegung in Verbindung mit anderen Rechtsgebieten des Unionsrechts findet sich auf Ebene des Sekundärrechts eher selten. Problematisch ist etwa das Verhältnis von Betriebsübergang und Vergaberecht. Das Urteil Abler verlangt bei Neuausschreibung einer verpachteten Krankenhausküche, deren Betrieb im Wesentlichen aus Kundenbeziehungen und Kücheneinrichtung besteht, die Übernahme des Personals durch den neuen Pächter.65 Damit wird eine Ausschreibung wohl zur Farce, jedenfalls wenn die bislang schlechte Qualität der Speisen durch das Personal (mit) verursacht war. Das Urteil Oy Liikenne bemüht sich, die Vereinbarkeit der Arbeitsvertragsübernahme mit dem Vergaberecht darzutun.66 Allerdings überzeugen diese Versuche bislang nicht. 32 Art. 151 AEUV und die Präambel zum EUV nennen sowohl die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte aus 1989 wie die Europäische Sozialcharta (ESC), zu dieser aber nur die Ursprungsfassung aus 1961 und nicht die Revidierte Fassung aus 1996. In der Vergangenheit nahmen Urteile wiederholt auf die Gemeinschaftscharta Bezug, insbesondere wenn Begründungserwägungen darauf Bezug nehmen, zuweilen auch sonst.67 Die Gemeinschaftscharta ist kein verbindlicher Rechtsakt, ihr Heranziehen mag im zweiten Fall aber durch die Nennung im Primärrecht legitimiert werden. Die Verweise auf die Gemeinschaftscharta hatten wohl keine tragende Bedeutung. Heute sind die dort genannten Positionen i. d. R. in der GRCh erwähnt. Die ESC wird von Urteilen ebenfalls, aber seltener erwähnt.68 Insbesondere die Revidierte Fassung enthält Positionen, die sich in der GRCh nicht wiederfinden. Systematische Interpretation ergibt, dass diese weitergehenden Inhalte bewusst nicht in das Primärrecht übernommen wurden. 33 Völkerrechtliche Verträge, welche die Union selbst unterzeichnet hat, gehen dem Sekundärrecht vor, das daher „nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit“ dem Vertrag auszulegen ist. Das Urteil Jette Ring argumentiert daher zum Begriff „Behinderung“ im Diskriminierungsrecht mit dem einschlägigen UN-Übereinkommen und dem Zweck, um Behinderung einerseits von Krankheit abzugrenzen, aber krankheitsbedingte Zustände nicht auszuschließen.69 Völkerrechtliche Verträge, welche nur Mit
64 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-306/07 Andersen, EU:C:2008:743 Rn. 40 ff. 65 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 Abler, EU:C:2003:629 Rn. 30 ff. 66 EuGH v. 25.1.2001 – Rs. C-172/99 Oy Liikenne, EU:C:2001:59 Rn. 22–25; abweichend nun EuGH v. 27.2.2020 – Rs. C-298/18 Grafe und Pohle, EU:C:2020:121. 67 Z. B. EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, EU:C:2005:728 Rn. 40. 68 Z. B. EuGH v. 11.12.2007 – C-438/05 Viking, EU:C:2007:772 Rn. 43, wo die Gemeinschaftscharta als Rechtsakt bezeichnet wird. 69 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 Jette Ring, EU:C:2013:222 Rn. 28 ff. Auch die Ausführungen zur Kündigung bei Fehlen „angemessener Vorkehrungen“ und zur verkürzten Kündigungsfrist sind methodisch überzeugend, sieht man davon ab, dass die Ausführungen zu deren Verhältnismäßigkeit eher vage bleiben.
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gliedstaaten ratifiziert haben, sind bei der Auslegung zu berücksichtigen, wenn die Begründungserwägungen auf den Vertrag Bezug nehmen.70 Ansonsten wäre es aber fragwürdig, wenn ein solcher Vertrag auch dann berücksichtigt wird, falls er bzw. eine Vertragsklausel nicht von der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten ratifiziert wurde; dies gilt für die ESC wie für ILO-Konventionen.71
3. Entstehungsgeschichte Die Bedeutung der historischen Auslegung ist groß, falls man dazu die – regelmäßig 34 erfolgende – Berufung auf Begründungserwägungen zählt. Der EuGH stellt auf die Begründungserwägungen oft entscheidend ab, insbesondere für den Normzweck. Die Möglichkeit, eine von den Sozialpartnern abgeschlossene Vereinbarung zum Rechtsakt der Union zu erheben (Art. 155 AEUV), führt zur Verdoppelung der Begründungserwägungen: Neben jene des Unionsgesetzgebers tritt die Präambel der Vereinbarung. Der EuGH misst dieser dieselbe Bedeutung wie Begründungserwägungen zu, und stellt zuweilen entscheidend auf sie ab.72 Im Übrigen spielt die Entstehungsgeschichte, verstanden als Rückgriff auf Mate- 35 rialien und Gesetzgebungsprozess, in den Entscheidungen zum Arbeitsrecht kaum eine Rolle. Urteile argumentieren damit nur gelegentlich.73 Die Schlussanträge nehmen häufiger auf die Entstehungsgeschichte Bezug,74 insbesondere wenn Beteiligte sich darauf berufen. Eine interessante Frage wirft die Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer 2002/14/EG auf. Ihr Art. 8 Abs. 2 verlangt „Sanktionen, die wirksam, angemessen und abschreckend“ sind. Die Kommission hatte Sanktionen vorgeschlagen, die bei Schließung eines Betriebes auch dessen Wiedereröffnung oder die finanzielle Abgeltung für das Nichtwiedereröffnen einschlossen.75 Darüber wurde lange gestritten. Aus der Genese wäre zu schließen, dass die Richtlinie diese Sanktionen nicht verlangt. Es ist aber fraglich, ob der EuGH solche Schlüsse zieht.76
70 Vgl. z. B. EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06 Schultz-Hoff, EU:C:2009:18 Rn. 37 f. 71 Diese werden von Schlussanträgen, kaum aber von Entscheidungen als Auslegungshilfe herangezogen. 72 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 Della Rocca, EU:C:2013:235 Rn. 39; dazu Rn. 26. 73 Z. B. EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, EU:C:1995:420 Rn. 33; EuGH v. 20.9.2007 – Rs. C-116/06 Kiiski, EU:C:2007:536 Rn. 46. 74 Z. B. GA Geelhoed, Schlussanträge v. 6.2.2003 – Rs. C-25/02 Rinke, EU:C:2003:77 Tz. 63 f.; GA Mengozzi, Schlussanträge v. 12.1.2012 – Rs. C-415/10 Meister, EU:C:2012:8 Tz. 21 verweist zum Auskunftsanspruch bei Diskriminierung darauf, dass der Vorschlag der Kommission diesen enthalten habe, die Richtlinie ihn aber (daher wohl bewusst) nicht vorsehe. Das Urteil erwähnt dieses Argument nicht. 75 Vgl. KOM(1998) 612 endg, ABl. 1999 C 2/3 und dort Art. 7 Abs. 3. 76 Vgl. dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 28.
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4. Regelungszweck 36 In erster Linie geht es um den Zweck der konkreten Regelung und des Rechtsaktes; da-
von zu unterscheiden ist die Frage, ob der Rechtsakt Teil eines inneren Systems ist, aus dem sich auf den Zweck schließen lässt (dazu Rn. 18 ff.). Manche Autoren sehen den Regelungszweck als das vorrangige Auslegungsmittel.77 Die Analyse neuerer Urteile kann diese These nicht voll bestätigen, selbst wenn man die Berufung auf die praktische Wirksamkeit stets als telelogisches Argument zur Sache sähe (dazu Rn. 44 f.). Zum arbeitsrechtlichen Sekundärrecht gibt es wohl nur wenige neuere Urteile, in denen ein ausreichend deutlicher Wortlaut unter Berufung auf den Zweck hintangestellt würde (vgl. aber Rn. 39). Für den Regelungszweck orientiert sich der EuGH vorwiegend an den Begründungserwägungen oder direkt am Wortlaut, nur selten an anderen Quellen, wie z. B. an der Gemeinschaftscharta (Rn. 32) oder an der Primärrechtsgrundlage. Der Text der konkreten Norm und deren Zweck müssen dabei m. E. bedeutsamer sein als die Begründungserwägungen. Auch wenn der EuGH mit dem Regelungszweck argumentiert, findet sich selten eine intensivere Auseinandersetzung im Lichte unterschiedlicher Auslegungsvarianten. Zuweilen wird zur Begründung bloß ein anderer, etwa in den Erklärungen vorgebrachter, Zweck durch eine Art Folgenanalyse ad absurdum geführt.78 Kaum je ausdrücklich berücksichtigt wird ein Zweck, der bei jeder Norm zu berücksichtigen wäre, nämlich dass die Regelung „in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht handhabbar bleiben“ müsse. Erst jüngst weist ein Urteil – wohl erstmals – darauf hin.79 37 Der Zweck von Art. 21 Verordnung 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit, den Arbeitnehmer als schwächere Vertragspartei zu schützen, gebietet es, dass eine Gerichtsstandklausel im Arbeitsvertrag nur zulässig ist, wenn sie die in dieser Verordnung für Klagen des Arbeitnehmers vorgesehenen Gerichtsstände erweitert, nicht aber wenn sie diese einschränkt.80 Verbietet eine arbeitsrechtliche Richtlinie wie Art. 22 Arbeitszeit-RL 2003/88/EG ein Abgehen von ihren Vorgaben zur Höchstarbeitszeit, „es sei denn der Arbeitnehmer hat sich hierzu bereit erklärt“, so greift diese Ausnahme aufgrund des Schutzzwecks nur bei ausdrücklicher und freier Zustimmung des Arbeitnehmers; ein Verweis im Arbeitsvertrag auf einen Kollektivvertrag, der eine Überschreitung erlaubt, genügt nicht.81 Der Verweis auf den nationalen Arbeitneh
77 So z. B. Joussen, Auslegung, S. 130 f., S. 170 f., der von einem „Krönungskriterium“ spricht. 78 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 76; EuGH v. 30.3.2000 – Rs. C-236/ 98 Jämställdhetsombudsmannen, EU:C:2000:173 Rn. 53; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen ./. BECTU, EU:C:2001:356 Rn. 48 f.; EuGH v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 Allen, EU:C:1999:594 Rn. 20; EuGH v 6.4.2000 – Rs. C-285/98 Kreil, EU:C:2000:2 Rn. 39; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, EU: C:1999:512 Rn. 42; EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, EU:C:2003:168 Rn. 60, 74. 79 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 Dansk Jurist, EU:C:2013:603 Rn. 70 zur Altersdiskriminierung. 80 EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-154/11 Mahamdia, EU:C:2012:491 Rn. 60 ff. 81 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, EU:C:2004:584 Rn. 82 ff.
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III. Auslegung des Sekundärrechts
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merbegriff (Rn. 14) erlaubt – wohl wegen des Regelungszwecks – keine Modifikationen dieses Begriffes bei der Festlegung eines Schwellenwertes. Es widerspricht daher der „Ergebnispflicht“ der Mitgliedstaaten, wenn sie Teilzeitarbeitnehmer nur anteilig berücksichtigen,82 auch wenn diese Modifikation zur Einstellung von Arbeitnehmern motivieren soll. Am ehesten als teleologisches Argument einzuordnen ist die Überlegung, ein Sachverhalt – die Leiharbeit – falle nicht unter eine Richtlinie, die Befristungs-RL, weil es sich um eine komplizierte rechtliche Konstruktion handle, die Richtlinie aber nicht auf deren Besonderheiten Bedacht nimmt.83 „Arbeitszeit“ ist der Zentralbegriff der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Proble- 38 matisch ist insbesondere, inwieweit Bereitschaftszeiten, während derer die Arbeitnehmer am Arbeitsort nur anwesend zu sein haben, unter Arbeitszeit fallen.84 Bei Erlass der Vorgängerrichtlinie 93/104/EG ist man wohl davon ausgegangen, dass diese Arbeitsbereitschaft nicht zur Arbeitszeit zählt.85 Die Definition von „Arbeitszeit“ in Art. 2 Nr. 1 war und ist zwar nicht eindeutig, spricht aber für eine restriktive Interpretation.86 Das Urteil Simap kommt hingegen in sechs Sätzen zum gegenteiligen Ergebnis. Es behauptet nur, dass Bereitschaftszeiten die charakteristischen Merkmale von Arbeitszeit aufweisen und das weite Verständnis dem Ziel der Richtlinie entspreche. Methodisch ist die Begründung des EuGH dünn. Das Urteil wurde in mehreren Mitgliedstaaten heftig kritisiert, auch in Deutschland. Die nächste Vorlage wurde wieder vom Plenum entschieden. Das Urteil Jaeger ist ausführlicher begründet.87 Allerdings vermeidet es, auf das Verhältnis von Arbeitszeit und Ruhezeit einzugehen. Dann hätte nämlich erwogen werden müssen, ob Bereitschaftsdienst weder Arbeitszeit noch Ruhezeit ist (was ebenfalls vor Überbeanspruchung schützt)88. Die Urteile schöpfen also die Möglichkeiten der Argumentation nicht aus, sondern begnügen sich mit jenen Erwägungen, die am besten das gewünschte Ergebnis stützen. Die Folge dieser verunglückten Urteile ist, dass nun mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten die Möglichkeit des Art. 22 der RL 2003/88/EG zum opting-out nutzt, in anderen die Gesundheitsversorgung vor großen Problemen steht, und sich mehrere Ratspräsidentschaften vergeblich abmühten, die Richtlinie zu ändern. Art. 7 Arbeitszeit-RL 2003/88/EG schreibt einen „bezahlten Mindestjahresurlaub 39 von vier Wochen“ vor. Allein aus diesem Wortlaut wird abgeleitet: „Die Richtlinie behandelt den Anspruch auf Jahresurlaub und denjenigen auf Zahlung des Urlaubsent-
82 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-385/05 CGT, EU:C:2007:37 Rn. 30 ff. 83 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 Della Rocca, EU:C:2013:235 Rn. 40. 84 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, EU:C:2000:528 Rn. 47–49; seither einige andere Entscheidungen. Allerdings haben sich nur drei Regierungen am Verfahren beteiligt. 85 Vgl. GA Saggio, Schlussanträge v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, EU:C:1999:621 Tz. 33. 86 Dies sagt auch GA Saggio, Schlussanträge v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, EU:C:1999:621 Tz. 34–36, der dennoch für das Einbeziehen plädiert. 87 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, EU:C:2003:437 Rn. 58–67. 88 Vgl. Franzen, ZEuP 2004, 1034.
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gelts als die zwei Teile eines einzigen Anspruchs.“89 Diese „Einheitstheorie“ hat ebenso weitreichende Folgen wie das Verständnis der Wendung, der Anspruch bestehe „nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehen sind“. Der EuGH interpretiert diesen Vorbehalt, m. E. entgegen dem Wortlaut, möglichst eng. Der Vorbehalt erlaube es nicht, „bereits die Entstehung eines ausdrücklich allen Arbeitnehmern zuerkannten Anspruchs auszuschließen.“90 Der Anspruch darf daher z. B. bei ordnungsgemäß krankgeschriebenen Arbeitnehmern nicht von der Voraussetzung abhängen, dass sie während des festgelegten Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet haben. Diese Ergebnisse lassen sich nur mit einem starken Regelungszweck stützen, der aber weder näher begründet wird noch sehr überzeugt. Auch der wiederholte Hinweis auf Art. 31 GRCh leistet dies noch nicht. Immerhin wurde gesagt, dass der Urlaubsanspruch bei Teilzeit und Kurzarbeit pro rata temporis berechnet werden darf.91 Die Urteile zur Berechnung des Urlaubsanspruches bei Wechsel der Beschäftigten von Voll- zu Teilzeitarbeit,92 die wohl – im Sinne der Einheitstheorie – auf ein Beibehalten der bezahlten Urlaubstage hinauslaufen, dürften im Ergebnis überzeugen. Die Begründung tut dies nicht, weil sie zu abstrakt bleibt (anschaulich wäre etwa der Hinweis auf den Fall, dass nun zwei Halbtagsbeschäftigungen ausgeübt werden) und nicht auch den Wechsel von Teil- zu Vollzeitarbeit einbezieht. Im Ergebnis und der Begründung wenig überzeugend ist auch die aus Art. 7 Abs. 1 Arbeitszeit-RL 2003/88/EG abgeleitete Pflicht des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer über den bestehenden Urlaubsanspruch zu informieren, bevor dieser verfallen könne93. 40 Die Erstfassung der Betriebsübergangs-RL 77/187/EWG knüpfte ihre Rechtsfolgen an den Übergang eines Betriebs oder Betriebsteiles. Die Bestimmung des Anwendungsbereiches bereitet(e) große Schwierigkeiten. Der EuGH hat sich schon früh im Urteil Spijkers, auf dem alle Folgeentscheidungen aufbauen, vom Wortlaut weit entfernt und gesagt, diese finde auf den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit Anwendung, und diesen Begriff als typologischen entfaltet, bei dem mehrere Elemente zu würdigen sind.94 Der EuGH orientierte sich dafür wohl am Normzweck. Das Urteil stellt dazu in einem Satz die „soziale Zielsetzung“ der Richtlinie in den Vordergrund.
89 EuGH v. 16.3.2006 – Rs. C-131/04 Robinson-Steele, EU:C:2006:177 Rn. 58; EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06 Schultz-Hoff, EU:C:2009:18 Rn. 60. 90 Vgl. EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 Federatie Nederlandse Vakbeweging, EU:C:2006:244 Rn. 55; EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06 Schultz-Hoff, EU:C:2009:18 Rn. 47; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 19; EuGH v. 21.6.2012 – Rs. C-78/11 ANGED, EU:C:2012:372 Rn. 18. 91 EuGH v. 8.11.2012 – Rs. C‑229/11 Heimann, EU:C:2012:693. 92 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C‑486/08 Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, EU: C:2010:215 Rn. 32; EuGH v. 13.6.2013 – Rs. C‑415/12 Brandes, EU:C:2013:398. Treffend z. B. EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-277/08 Pereda, EU:C:2009:542. 93 EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-619/16 Kreuziger, EU:C:2018:872 Rn. 42ff.; EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-684/ 16 Max-Planck-Gesellschaft, EU:C:2018:874 Rn. 37 ff. 94 EuGH v. 18.3.1986 – Rs. 24/85 Spijkers, EU:C:1986:127 Rn. 10 ff.
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III. Auslegung des Sekundärrechts
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Die Neufassung durch die Richtlinie 98/50/EG hat die Auslegung des EuGH ausdrücklich aufgenommen, allerdings soll der neue Tatbestand nur vorbehaltlich des alten gelten. Die nachfolgende Judikatur scheint dies aber nicht zu thematisieren.95 Auch in ihr stand der soziale Zweck im Vordergrund, weil der EuGH die Arbeitsverhältnisse auch bei Neuausschreibung eines Dienstleistungsauftrages übergehen lässt, wenn Aufgabe (Kunden) sowie sachliche Betriebsmittel übergehen, etwa bei Neuverpachtung einer Krankenhausküche.96 Aus Wortlaut und Zweck der Richtlinie wurde auch abgeleitet, dass diese nicht nur anwendbar ist, wenn die organisatorische Einheit erhalten bleibt.97 Der Anwendungsbereich der Richtlinie wird somit aus Zweckgründen extensiv verstanden. Dies kann allerdings mit dem sozialen Zweck in Konflikt geraten, falls der Arbeitgeber den Übergang einsetzt, um Arbeitnehmer „loszuwerden“ (etwa durch Übergang auf eine GmbH, die nach einiger Zeit den Betrieb einstellt, auch wenn die übergangene Aufgabe vor Übergang keine Einheit war)98. Überdies ist fraglich, ob die Betriebsübergangs-RL wirklich nur die Arbeitnehmer schützen soll, oder ob es ihr auch um das Interesse des Arbeitgebers geht, eine lebende Einheit übertragen zu können.99 Jedenfalls die Auffassung, dass die Richtlinie kein effektives Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer verlange (Rn. 56), lässt sich besser mit dem zweiten Zweck erklären. Die Urteile Werhof (Rn. 58) und Alemo-Herron (Rn. 59) berücksichtigen explizit die Interessen des Erwerbers.100 Die Gleichheit der Investitionsbedingungen kann nicht als tragender Zweck der Richtlinie gelten, auch wenn die Richtlinie ursprünglich damit legitimiert wurde. Die extensive Interpretation des Anwendungsbereiches vergrößert nämlich die rechtlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten eher, weil sich die Richtlinie umso stärker auswirkt, je stärker der Kündigungsschutz ist101. Die Nachweisrichtlinie 91/533/EWG verpflichtet den Arbeitgeber zu einer Mittei- 41 lung über Arbeitsbedingungen. Nach Art. 6 der Richtlinie berührt diese nicht die nationalen Beweislastregeln. Gleichwohl hat der EuGH zuerst gesagt, der Zweck der Richtlinie verlange, dass die Mitteilung eine gewisse Beweiskraft habe, die der Arbeit-
95 Urteile zur neuen Fassung sehen keine Probleme der Vereinbarkeit; z. B. EuGH v. 15.12.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 Güney-Görres u. a., EU:C:2005:778 Rn. 30; EuGH v. 6.9.2011 – Rs C-108/10 Scattolon, EU:C:2011:542 Rn. 42. Vgl. Wank, FS Birk (2008), S. 948, der nach einem Hinweis auf die Begründung des Urteils Güney-Görres bemerkt: „An dieser Stelle hätte eine Begründung beginnen können.“ 96 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 Abler, EU:C:2003:629 Rn. 30 ff. 97 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 Klarenberg, EU:C:2009:85 Rn. 45–47. 98 Vgl. dazu EuGH v. 13.6.2019 – Rs. C-664/17 Ellinika Nafpigeia, EU:C:2019:496. 99 Die Richtlinie 77/187/EWG wurde mit der Beeinträchtigung des Binnenmarktes durch Unterschiede in der Rechtslage begründet. 100 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 Alemo-Herron, EU:C:2013:521 Rn. 25: Die Richtlinie dient „nicht nur dem Schutz der Arbeitnehmerinteressen, sondern sie soll auch einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmer einerseits und denen des Erwerbers andererseits gewährleisten.“ 101 Siehe zu diesem Zusammenhang bereits Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 463 ff.
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§ 17 Europäisches Arbeitsrecht
geber – nur – durch den Beweis des Gegenteils entkräften könne.102 Im Urteil Lange hat er hingegen wieder mehr den Wortlaut des Art. 6 in den Vordergrund gerückt und gesagt, dass sich die Folgen einer fehlenden Mitteilung allein nach nationalem Recht richten.103 Das Urteil Junk leitet zur Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG die Auffassung, dass unter „Entlassung“ bereits der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist (Rn. 25), vor allem aus der Erwägung ab, dass die Konsultation der Arbeitnehmer-Vertretung nur dann ihren Zweck erfüllen könne, auf die Entscheidung des Arbeitgebers Einfluss zu nehmen.104 Dies ist methodisch überzeugend.105 Der Regelungszweck war auch in drei Urteilen zur Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat 94/45/EG das entscheidende Argument. Sie betrafen die Mitwirkung des Arbeitgebers bei der Organisation dieses Betriebsrats, und in allen hat der EuGH seine Entscheidung mit dem Argument begründet, das ordnungsgemäße Funktionieren des Europäischen Betriebsrats oder doch die Möglichkeit dafür erforderten eine bestimmte Auslegung, die im Ergebnis eine Regelungslücke schließt.106 Er hat also primär auf den Zweck der Regelung abgestellt, das Bestehen einer Lücke aber (leider) nicht erwähnt. Bedeutung hatte der Regelungszweck auch im Urteil zum Verständnis von „Eintritt der Zahlungsunfähigkeit“ in der Insolvenzrichtlinie 80/987/EWG. Der EuGH legte dar, dass dieser Begriff in Art. 3 und 4 der Richtlinie anders zu verstehen sei als nach der Definition des Art. 2.107 Eine spätere Entscheidung griff dann nur mehr auf dieses Verständnis zurück, ohne erneut telelogische Erwägungen im konkreten Zusammenhang anzustellen.108 Das führte zu einer Korrektur durch die RL 2002/74/EG. (Zur Entsenderichtlinie 96/71/EG, vgl. Rn. 16, 54.) 42 Zuweilen erlaubt eine verstärkte Bedachtnahme auf den Zweck die Revision einer früheren Auffassung. In den Urteilen Paletta I und II ging es um die Anerkennung von Bestätigungen der Erkrankung aus Sizilien, an deren Richtigkeit der deutsche Arbeitgeber nachvollziehbar zweifelte.109 Das erste Urteil war verfehlt. Die auch von der Kommission anerkannten praktischen Probleme des Arbeitgebers, die Plausibilität der Bestätigung ähnlich wie bei am Arbeitsort ausgestellten Bestätigungen zu verifizieren, wurden mit dem Hinweis auf den Zweck beiseite geschoben, Beweisschwierig-
102 EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann, EU:C:1997:585 Rn. 29 ff. 103 EuGH v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99 Lange, EU:C:2001:84 Rn. 32 f. 104 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, EU:C:2005:59 Rn. 38. 105 Ebenso Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff.; a. A. Wank, FS Birk (2008), S. 931, der eine teleologische Auslegung dahingehend erwartet hätte, ob das Anzeigeverfahren so wie das Beratungsverfahren „individualschützende oder arbeitsmarktpolitische Zwecke“ verfolgt. 106 EuGH v. 29.3.2001 – Rs. C-62/99 Bofrost, EU:C:2001:188; EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-440/00 Kühne & Nagel, EU:C:2004:16; EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-349/01 ADS Anker, EU:C:2004:440. 107 EuGH v. 10.7.1997 – verb. Rs. C-94/95 und C-95/95 Bonifaci, EU:C:1997:348 Rn. 36–42. 108 EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Karen Mau, EU:C:2003:280. 109 EuGH v. 3.6.1992 – Rs. C-45/90 Paletta ./. Brennet, EU:C:1992:236 Rn. 27, 24; EuGH v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 Brennet ./. Paletta, EU:C:1996:182 Rn. 24ff.
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III. Auslegung des Sekundärrechts
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keiten des Arbeitnehmers zu verhindern. Wie häufig wurde hier formal damit argumentiert, dass alles was in der EU den gleichen Namen hat, auch gleichwertig sei. Erst auf den Widerstand der deutschen Gerichte hin fand das zweite Urteil zur Missbrauchsklausel. Bei der Würdigung eines angeblich missbräuchlichen Verhaltens seien jedoch die Ziele der Norm zu beachten. Aus dem Zweck der Bestimmungen zur Anerkennung ausländischer Bestätigungen folgert der EuGH, dass bei deren Vorliegen dem Arbeitnehmer nicht die volle Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit zugeschoben werden darf, wenn der Arbeitgeber nur ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit dartun kann. Die Arbeitsunfähigkeit darf dann erst verneint werden, falls der Arbeitgeber selbst Beweise für den Missbrauch dartun kann.
5. Pragmatische Schlüsse Unter pragmatischen Schlüssen kann man Umkehr-, Analogie- und Größenschluss 43 zusammenfassen. Soweit zu sehen, hat der EuGH noch in keinem arbeitsrechtlichen Urteil ausdrücklich einen Analogieschluss bejaht oder abgelehnt.110 Auch Schlussanträge haben einen von Verfahrensbeteiligten befürworteten Analogieschluss eher nur abgelehnt.111 Die eher geringe Rolle des Analogieschlusses mag zum einen damit erklärt werden, dass er in anderen nationalen Methodenlehren weniger Bedeutung hat als in deutschsprachigen Staaten. Zum anderen setzt eine Analogie das Feststellen einer planwidrigen Lücke oder doch einer Gleichheitswidrigkeit der Regelung voraus. Dies ist im Unionsrecht bislang schwieriger als in einer nationalen Rechtsordnung. Der Umkehrschluss findet sich nur selten,112 auch in den Schlussanträgen.113 Das Urteil Della Rocca führt die Tatsache, dass zwei arbeitsrechtliche Richtlinien Leiharbeit ausdrücklich in ihren Anwendungsbereich einbeziehen, als Argument gegen das Einbeziehen in einer dritten Richtlinie.114 Auch wenn ein Umkehrschluss naheliegt, wird er zuweilen nicht verwendet.115 Selten wird ferner mit einem Größenschluss argumen-
110 Eine allgemeine Aussage zur Zulässigkeit von Analogie findet sich nur in zwei Urteilen, zuletzt in EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-152/09 Grootes, EU:C:2010:671 Rn. 41 (unter Berufung auf das Urteil Krohn aus 1985), und ist daher kaum allgemeingültig. 111 Vgl. GA van Gerven, Schlussanträge v. 30.1.1990 – Rs. C-262/88 Barber, EU:C:1990:34 Tz. 21; GA Cosmas, Schlussanträge v. 29.5.1997 – Rs. C-117/96 Mosbæk, EU:C:1997:266 Tz. 60; GA Jacobs, Schlussanträge v. 23.3.2000 – Rs. C-180/98 Pavel Pavlov, EU:C:2000:151 Tz. 94. 112 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, EU:C:2005:728 Rn. 43; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen ./. BECTU, EU:C:2001:356 Rn. 46; sowie oben Rn. 29. Den Umkehrschluss ablehnend: EuGH v. 14.6.2007 – Rs. C-127/05 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, EU:C:2007:338 Rn. 49. 113 Vgl. aber GA Kokott, Schlussanträge v. 18.5.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, EU:C:2004:308 Tz. 82. 114 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 Della Rocca, EU:C:2013:235 Rn. 41. 115 So etwa EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, EU:C:2000:528 Rn. 29–38, wo die Vorlage danach fragte. Rebhahn/Franzen
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tiert.116 Zur Zulässigkeit von Beiträgen zu einem Betriebspensionssystem, die nach dem Alter gestaffelt sind, trifft das Urteil Kristensen beiläufig die allgemein relevante Aussage, dass aus der Zulässigkeit einer schwerwiegenden Unterscheidung (Zulässigkeit von Altersgrenzen) nicht die Zulässigkeit von minder schweren Unterschieden folge,117 lehnt also diesen Größenschluss ab. Auch wenn pragmatische Schlüsse selten explizit verwendet werden, schließt dies nicht aus, dass der EuGH faktisch jene Erwägungen anstellt, die wir darunter verstehen.118 Dies erschwert die Diskussion der Begründungen.
6. Praktische Wirksamkeit 44 Das Argument zur praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts (effet utile) betrifft zum
einen die Auslegung der Norm. Dazu ist es sinnvoll, verschiedene Intensitätsstufen zu unterscheiden:119 (1) Die Norm soll relevant sein; (2) der Bezugspunkt des effet utile (Zweck oder Funktion der Norm) soll beachtet werden, aber (nur) neben den anderen Argumentationsmitteln; (3) der Bezugspunkt soll so weit als möglich verwirklicht werden, die Sorge um die praktische Wirksamkeit dominiert also und schiebt andere Auslegungsargumente beiseite. Nur bei der zweiten Stufe wird der effet utile wie ein „normales“ Argument verwendet. Jedenfalls die dritte Stufe, wohl auch die zweite, ist kein Argument zum Zweck der konkreten Regelung, sondern ein Argument nur zur Wirkungskraft des Unionsrechts. Dass ein Auslegungsergebnis des EuGH die praktische Wirksamkeit einer Regelung des Unionsrechts unterminiert, kommt selten vor, ein Beispiel ist das AKT-Urteil (Rn. 29). 45 Die zweite, schwache Stufe des effet utile wird auch zum Arbeitsrecht häufig verwendet;120 dies ist oft überzeugend. Zuweilen bestimmt die Sorge um die praktische Wirksamkeit die Auslegung, ohne dass das Urteil sich darauf beruft. Die Massenentlassungs- und die Betriebsübergangsrichtlinie verlangen die Anhörung einer betrieb-
116 EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-234/96 Deutsche Telekom, EU:C:2000:73 Rn. 55; EuGH v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 112; EuGH v. 11.1.2007 – Rs. C-208/05 ITC GmbH, EU:C:2007:16 Rn. 27. 117 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 Kristensen, EU:C:2013:590 Rn. 51 ff. 118 Vgl. z. B. EuGH v. 12.5.1985 – Rs. 284/83 Dansk Metalarbejderforbund, EU:C:1985:61 Rn. 10 zur Massenentlassungsrichtlinie. 119 Vgl. Potacs, EuR 2009, 465–487; Rebhahn, Effet utile – Towards a general principle of law?, in: Tichy/Potacs/Dombrovsky (Hrsg.), Effet utile, S. 147–166. 120 Z. B. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adelener, EU:C:2006:443 Rn. 72, 84; EuGH v. 10.6.2010 – verb. Rs. C-395/08 und C-396/08 INPS ./. Bruno und Pettini, EU:C:2010:329 Rn. 73; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, EU:C:2008:223 Rn. 91; EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 Del Cerro Alonso, EU: C:2007:509 Rn. 29; EuGH v. 11.10.2007 – Rs. C-460/06 Paquay, EU:C:2007:601 Rn. 35; EuGH v. 1.3. 2012 – Rs. C-393/10 O’Brien, EU:C:2012:110 Rn. 36; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., EU:C:2009:250 Rn. 98 ff.
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III. Auslegung des Sekundärrechts
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lichen Arbeitnehmervertretung. Obwohl die Richtlinien dazu nur eine Teilharmonisierung enthalten, verpflichten sie die Mitgliedstaaten, Regelungen über eine Arbeitnehmervertretung auch dann zu schaffen, wenn es sonst keine gibt. Die Teilharmonisierung befreie nicht von der Pflicht jene Maßnahmen zu treffen, welche für die Ausführung der Richtlinie „zweckmäßig“ sind (gemeint war wohl: „erforderlich sind“).121 Die dritte, starke Stufe des effet utile wurde zum arbeitsrechtlichen Sekundärrecht eher selten verwendet. Beispiele sind das Urteil Paletta I (vgl. Rn. 42) und u. U. manche Urteile zum bezahlten Urlaub (vgl. Rn. 39).122 Das Urteil Scattolon würde dazu zählen, wenn man es nicht auf die entschiedene Sachverhaltskonstellation beschränkt. Es wendet sich zum Betriebsübergang gegen eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch die Anwendung eines neuen Tarifvertrages.123 Für den beurteilten Tarifvertrag, der gezielt den Übergang regelt, überzeugt dies voll, die Formulierungen scheinen aber jeden Erwerbertarifvertrag zu treffen. Das Argument zur praktischen Wirksamkeit betrifft zweitens die Durchsetzung 46 der (bereits ausgelegten) Norm des Unionsrechts. Die Urteile Dekker und Draehmpaehl haben zum Diskriminierungsverbot primär aus dem Wortlaut der Richtlinie abgeleitet, dass es nicht auf Verschulden oder Rechtfertigungsgründe ankommen darf, weil die Richtlinie eine solche Einschränkung nicht vorsieht. Überdies wird gesagt, dass andernfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt wäre.124 Das überzeugte damals nur partiell, auch weil der Mitgliedstaat auch eine öffentlich-rechtliche Strafsanktion hätte wählen können, und diese schon wegen der EMRK Verschulden voraussetzt. Heute verlangen die Richtlinien nur bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes ausdrücklich einen verschuldensunabhängigen Ersatzanspruch, während die Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG nur abschreckende Sanktionen verlangt. Man steht dann vor der Frage, ob aus dem Vergleich ein Analogie- oder ein Gegenschluss gezogen werden kann (vgl. auch Rn. 43).125
7. Rechtsvergleichung Die Rechtsvergleichung wird in arbeitsrechtlichen Urteilen kaum je ausdrücklich als 47 Argument genannt, obwohl die Urteile häufig durch interne rechtsvergleichende Stu-
121 Massenentlassungen: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, EU: C:1994:234 Rn. 24 ff. Betriebsübergang: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, EU:C:1994:233 Rn. 27 ff. 122 Auch das Urteil EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 Rüffert, EU:C:2008:189 Rn. 33 zählt wohl schon hierher. 123 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 Scattolon, EU:C:2011:542 Rn. 72 ff. 124 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-177/88 Dekker, EU:C:1990:383 Rn. 22; EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl, EU:C:1997:208 Rn. 17 ff. 125 Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 159 ff.
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dien vorbereitet werden. Insbesondere lässt sich der EuGH durch rechtsvergleichende Erwägungen nicht in seiner Auslegung beschränken.126 Die Schlussanträge enthalten zuweilen rechtsvergleichende Ausführungen; unübertroffen sind jene von Generalanwalt Jacobs zur Tarifautonomie.127 48 Allerdings lassen sich manche Ergebnisse, die der EuGH gleichsam nur aus der Entfaltung eines Begriffes gewinnt, am besten als – nicht offengelegte – rechtsvergleichende Auslegung deuten. Im Arbeitsrecht trifft dies insbesondere für den Begriff „Arbeitnehmer“ zu. Der AEUV verwendet ihn vor allem in den Art. 45, 153 und 157. Die Judikatur hatte sich lange nur mit der Freizügigkeit (Art. 45 AEUV) zu befassen. Dabei war zu beachten, dass eine Tätigkeit nur entweder unter die Arbeitnehmer- oder die Niederlassungsfreiheit fallen kann. Der Begriff Arbeitnehmer wurde zur Freizügigkeit – soweit es um die Abgrenzung zu Selbstständigen geht – (nur) etwas präzisiert und dabei traditionell verstanden, nämlich als Person, die „während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.“128 Bei Art. 153 und 157 AEUV fehlt die erwähnte Beschränkung durch systematische Interpretation. In der ersten Entscheidung, in der es zentral um den Arbeitnehmerbegriff des Art. 141 EG/Art. 157 AEUV ging, dem Urteil Allonby aus 2004, geht der EuGH zwar davon aus, dass das Unionsrecht keinen einheitlichen Begriff des Arbeitnehmers kennt.129 Gleichwohl hat er die Rechtsprechung zum früheren Art. 39 EG (Art. 45 AEUV) im Wesentlichen auf Art. 141 EG übertragen und sich mit dem Vortrag der Kommission, dass man „Arbeitnehmer“ hier weiter verstehen könne, nicht wirklich auseinandergesetzt. Die zur Freizügigkeit entwickelte Bedeutung wurde auch zu arbeitsrechtlichen Richtlinien übernommen,130 obwohl der Regelungskontext auch hier je verschieden ist. Der EuGH versteht den Arbeitnehmerbegriff als typologischen, bei dem es im Wesentlichen auf die persönliche Unterordnung und nicht auf die wirtschaftliche Abhängigkeit ankommt. Dies entspricht dem Verständnis der meisten Mitgliedstaaten;131 bemerkenswert ist, dass der EuGH hier die übliche Orientierung am effet utile vermeidet. Die spätere Judikatur hat den Begriff nur wenig konkretisiert. Das Urteil Allonby sagt zwar, charakteristisch sei, dass die „Freiheit bei der Wahl von Zeit, Ort und Inhalt ihrer Arbeit“ eingeschränkt ist.132 Selbst
126 Zum Versuch mancher Autoren, dies zur Betriebsübergangsrichtlinie zu tun, vgl. Simitis, in: Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts (2001), S. 297 ff. Zu Zielen einer Interpretation auf rechtsvergleichender Grundlage vgl. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag (1999), S. 289 ff. mwN. 127 GA Jacobs, Schlussanträge v. 28.1.1999 – Rs. C-67/96 Albany, EU:C:1999:28. 128 Zuerst EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 Lawrie-Blum, EU:C:1986:284 Rn. 16 f. Vgl. Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 153 AEUV Rn. 3 ff.; Rebhahn, EuZA 2012, 3 ff. 129 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 Allonby, EU:C:2004:18 Rn. 62 ff. 130 Z. B. EuGH v. 20.9.2007 – Rs. C-116/06 Kiiski, EU:C:2007:536Rn. 25. 131 Vgl. z. B. Rebhahn, RdA 2009, S. 154 ff. 132 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 Allonby, EU:C:2004:18 Rn. 67.
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III. Auslegung des Sekundärrechts
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diese Präzisierung wird später kaum aufgegriffen. Überraschend kam das Urteil Danosa (zur Mutterschutz-RL) zur Geschäftsführerin einer Kapitalgesellschaft. Es „bereicherte“ den Arbeitnehmerbegriff mit Elementen, die mit den traditionellen wenig zu tun haben,133 und die – bei allgemeiner Anwendung – zu einer beträchtlichen Änderung und Ausweitung des Arbeitnehmerbegriffes führen würden134. Das Ergebnis, die Anwendung der Mutterschutz-RL, mag inhaltlich akzeptabel sein, wäre aber besser mit Analogie zu bewerkstelligen gewesen, oder der EuGH hätte die Frage mangels Regelung auf Unionsebene den Mitgliedstaaten zur Regulierung überlassen müssen. Im Übrigen darf man sich etwas mehr Anstrengung bei der Konkretisierung des Arbeitnehmerbegriffes erwarten.
8. Rechtsfortbildung Auch wenn man die Grenze von Auslegung und Rechtsfortbildung weit hinaus- 49 schiebt,135 ist es leicht, zum Primärrecht Beispiele für eine Rechtsfortbildung durch den EuGH zu finden (nächste Rn). Zum reinen Sekundärrecht sind hingegen jedenfalls im Bereich des Arbeitsrechts Fälle rar, in denen klar Rechtsfortbildung vorliegt. Gelegentlich sagt der EuGH, dass eine Fortentwicklung der Unionsgesetzgebung vorbehalten sei.136 Als klaren Fall von Rechtsfortbildung wird man das Urteil CCOO einstufen können137. Die Große Kammer des EuGH hat in diesem Urteil vom 14.5.2019 – knapp zwei Wochen vor den Wahlen zum Europäischen Parlament am 26.5.2019 – die Mitgliedstaaten verpflichtet, Arbeitgebern aufzugeben, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Als Begründung dient hauptsächlich der Gesichtspunkt der praktischen Wirksamkeit (Rn. 44ff.) der Arbeitszeit-RL 2003/ 88/EG138. Allerdings enthält die Arbeitszeit-RL 2003/88/EG nahezu durchweg materiell-rechtliche Regelungen über die Höchstarbeitszeiten; Regelungen darüber, wie deren Einhaltung kontrolliert werden sollte, finden sich dagegen nirgends. Diese Er-
133 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 Danosa, EU:C:2010:674 Rn. 46 ff.: Möglichkeit des Vertragspartners, den Vertrag zu beenden; nicht näher definierte Integration; Pflicht, dem Aufsichtsrat Rechenschaft zu geben und mit diesem zusammenzuarbeiten; hingegen kein Abstellen auf Fremdbestimmung bei Zeit und Ort der Arbeit. Offen ist, ob das Urteil als Vorentscheidung für andere Richtlinien angesehen wird. 134 Siehe dazu EuGH v. 17.11.2016 – Rs. C-216/15 Ruhrlandklinik, EU:C:2016:883; EuGH v. 9.7.2015 – Rs. C-229/14 Balkaya, EU:C:2015:455. 135 Vgl. zur Grenze z. B. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 277 ff., der die Grenze eher spät zieht; sowie auch Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, ABGB, Nach §§ 6 und 7 Rn. 22 ff. 136 Z. B. EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-456/06 Peek & Cloppenburg, EU:C:2008:232 Rn. 38 f. 137 EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402. 138 EuGH v. 14.5.2019 – Rs. C-55/18 CCOO, EU:C:2019:402 Rn. 40 ff.
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§ 17 Europäisches Arbeitsrecht
kenntnis hätte somit eher nahegelegt, dass die Kontrolle der Einhaltung der Richtlinienvorgaben in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleibt. Das Urteil wirft daher ebenso Fragen der innerunionalen Gewaltenteilung wie auch der Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Union auf.
IV. Auslegung des Primärrechts 1. Allgemeines 50 Die Ausführungen zum Primärrecht sind nicht anhand der Argumentationsmittel ge-
gliedert, sondern nach Themenbereichen, weil die Argumentation des EuGH in den hier relevanten Fragen sich nur selten an jenen Argumentationsmitteln orientiert. Der EuGH hat entscheidende Schritte zur Fortentwicklung des Rechts anhand arbeitsrechtlicher Fälle getan, die man nur mehr als Rechtsfortbildung einordnen kann. 1976 hat das Urteil Defrenne II zum Verbot der Entgeltdiskriminierung (Art. 119 EWG) die unmittelbare Anwendung zwischen Privaten bejaht.139 Begründet wurde dies vergleichsweise wenig und nur mit Argumenten, welche die Mitgliedstaaten betreffen; auf die Pflichten, die sich daraus für Private ergeben, geht das Urteil nicht ein. Das Urteil hat sich klar von der historischen Motivation der Norm (Wettbewerbspolitik) gelöst und diese zuerst als sozialpolitische, wenig später als menschenrechtliche Norm verstanden.140 Zur mittelbaren Diskriminierung verweist das Urteil Defrenne II noch auf nationale Vorschriften. 1981 wurde das Verbot der mittelbaren Diskriminierung aber als unmittelbar anwendbar angesehen, ohne Anhaltspunkt im Normtext oder vertiefte, ausreichende Begründung.141 1986 wurde für die Gleichbehandlungsrichtlinie erstmals die unmittelbare Anwendung von Richtlinien gegenüber dem Staat bejaht.142 Ebenfalls 1986 wurde gesagt, dass eine mittelbare Diskriminierung nur zulässig ist, wenn die vom Arbeitgeber „gewählten Mittel einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dienen und für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind.“143 Damit hat der EuGH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in das Arbeitsverhältnis eingeführt. Er hatte dafür zwar Vorbilder bei den Grundfreiheiten, die Geltung des Grundsatzes zulasten Privater ist aber eine andere Dimension. 1991 hat das Urteil Francovich anhand der Insolvenzschutzrichtlinie die Haftung der Mitgliedstaa-
139 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56 Rn. 8 ff. 140 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, EU:C:1976:56 Rn. 8 ff., dort Sozialpolitik; EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne III, EU:C:1978:130 Rn. 27, dort Menschenrecht. Vgl. auch EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, EU:C:2000:76 Rn. 53 ff. 141 EuGH v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 Jenkins, EU:C:1981:80 Rn. 17f.; vgl. auch EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 129/79 Macarthys, EU:C:1980:103; EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, EU:C:1981:63. 142 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, EU:C:1986:84 Rn. 48f. 143 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka, EU:C:1986:204 Rn. 36.
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IV. Auslegung des Primärrechts
ten für eine fehlerhafte Ausführung von Richtlinien begründet.144 Im Urteil Viking bejaht der EuGH eine Bindung auch der Gewerkschaften an die Grundfreiheiten, so wie er bereits für andere Fälle eine Bindung Privater bejaht hat. Allerdings wird auch die Bindung Privater nicht wirklich begründet. In all diesen Entscheidungen begnügt sich der EuGH offenbar zum wesentlichen Punkt letztlich mit der folgenden Aussage: Es soll so sein, weil wir es so wollen. Am Wortlaut des Primärrechts – zu Recht – festgehalten wurde mit der Auffas- 51 sung, dass Richtlinien nicht selbst Verpflichtungen für Private begründen, selbst wenn die Bestimmung dem Einzelnen klar und unbedingt Rechte gewähren will.145 Arbeitnehmer privater Arbeitgeber können sich daher nicht auf eine Richtlinie berufen. Sehr wohl in Betracht kommt die unmittelbare Anwendung im Verhältnis zum Staat als Arbeitgeber.146 Für die Zurechnung einer juristischen Person zum Staat hat der EuGH eine weite Formel entwickelt, die in vielen Fällen keine klaren Schlüsse erlaubt.147 Sie wurde wohl nach reinen Zwecküberlegungen gebildet; eine methodische Begründung ist nicht ersichtlich. Das Nebeneinander der beiden Regeln führt im Arbeitsrecht zu unerfreulichen Diskrepanzen. Arbeitnehmer der Privatwirtschaft sehen darin eine (zusätzliche) Bevorzugung der Staatsbediensteten, obwohl die dogmatische Begründung gerade den Staat belasten will. Die Partialsicht, das Unionsrecht möglichst durchzusetzen, verdeckt den Blick auf die dadurch ausgelöste Verletzung des Gleichheitssatzes. Die Kompetenz aufgrund Art. 153 AEUV gilt nach dessen Abs. 5 nicht für das Ar- 52 beitsentgelt. Fraglich ist, wie weit dieser Ausschluss reicht. Im Urteil Alonso war fraglich, ob die Befristungs-RL auch die Diskriminierung beim Entgelt verbieten darf. Anders als der Generalanwalt und manche Mitgliedstaaten hat der EuGH die Kompetenz bejaht. Andernfalls würden einige Kompetenzen des Art. 153 AEUV selbst „ihrer Substanz beraubt werden“,148 womit wohl Ähnliches gesagt werden soll wie mit dem effet utile. Die Regelungssperre betreffe also nur die Festlegung der Entgelthöhe, nicht auch die Auswirkungen anderer Regelungen auf das Entgelt oder die Inpflichtnahme von Entgeltfragen für andere Regelungsziele.
144 EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich, EU:C:1991:428. Rechtsfortbildend war, dass nationale Parlamente als Vollzugsorgane angesehen werden. 145 Vgl. z. B. EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, EU:C:2012:33 Rn. 42; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2014:2 Rn. 36; sowie Leible/Domröse, in diesem Band, § 8. 146 So z. B. zur Gleichbehandlungsrichtlinie EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall I, EU:C:1986:84 Rn. 46 ff.; EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster, EU:C:1990:313; EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 Marshall II, EU:C:1993:335 Rn. 21; EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, EU:C:2003:168 Rn. 71. 147 Z. B. EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann, EU:C:1997:585 Rn. 46; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser Internationale Transporte, EU:C:2004:76 Rn. 24. 148 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 Del Cerro Alonso, EU:C:2007:509 Rn. 31 ff. Vgl. auch EuGH v. 10.6.2010 – verb. Rs. C-395/08 und C-396/08 INPS ./. Bruno und Pettini, EU:C:2010:329 Rn. 35 ff.
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2. Grundfreiheiten und Arbeitsrecht 53 Arbeitsrechtliche Gesetze können die Dienst- oder die Niederlassungsfreiheit jeden-
falls faktisch beeinträchtigen. Die Beeinträchtigung ist nur zulässig, wenn sie durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt ist und für die Erreichung des Zieles geeignet und erforderlich ist“. Der Schutz der Arbeitnehmer wird zwar häufig als „zwingendes Allgemeininteresse“ (an-)erkannt,149 die genaue Bedeutung dieses Rechtfertigungsgrundes ist hingegen noch nicht geklärt – auch weil die Urteile sich meist nicht näher dazu erklären. Relevant ist das Spannungsfeld v. a. bei Entsendungen und bei kollektiven Maßnahmen. Die Rechtslage dazu ist auch wegen der methodischen Mängel der Urteile problematisch (Rn. 54 f.). Im Übrigen hat der EuGH die Frage, ob Unterschiede in den Arbeitsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten, etwa beim Kündigungsschutz, die Grundfreiheiten beeinträchtigen, noch nie aufgegriffen. Dies ist zwar im Ergebnis überzeugend, weil die Verträge offenkundig mit den Unterschieden rechnen. Die Beurteilung ist aber doch weit großzügiger als die üblichen Formeln („weniger attraktiv macht“) nahelegen, und wäre daher näher zu begründen. Zuweilen wurde vorgetragen, dass arbeitsrechtliche Vorschriften, welche die Betriebstreue belohnen, die Freizügigkeit behindern. Der EuGH hat hier den Eigenwert der arbeitsrechtlichen Vorschriften berücksichtigt.150 Allerdings greift die Rechtfertigung mit Betriebstreue aufgrund zweckbezogener Betrachtung nur, wenn es auf Arbeitszeiten bei demselben Arbeitgeber ankommt.151 54 Entsendungen von Arbeitnehmern fallen laut EuGH allein unter die Dienstleistungsfreiheit. Fraglich ist dann, welche Arbeitnehmer der Arbeitsstaat schützen darf – nur die Entsendeten oder auch die „eigenen“. Das Urteil Finalarte hat erstmals deutlich gesagt, das vorlegende Gericht müsse „prüfen, ob die Regelung bei objektiver Betrachtung den Schutz der entsandten Arbeitnehmer fördert.“ Es lehnt zwar den Schutz der inländischen Arbeitnehmer als Rechtfertigungsgrund nicht ausdrücklich ab, sagt aber, dass Beschränkungen nicht durch den Schutz der inländischen Unternehmen gerechtfertigt werden können.152 Die inländischen Arbeitnehmer werden so zu unselbständigen Bestandteilen ihrer Arbeitgeber. Erst 2005 hat der EuGH klar zum Ausdruck gebracht, dass es (nur) um den Schutz der Entsendeten geht.153 Allerdings lässt der
149 Vgl. z. B. EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 Arblade, EU:C:1999:575 Rn. 36; EuGH v. 15.3.2001 – Rs. C-165/98 Mazzoleni, EU:C:2001:162 Rn. 27 ff.; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/98 Finalarte, EU: C:2001:564 Rn. 39 f.; Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 151 AEUV Rn. 17. 150 Insbes. EuGH v. 27.1.2000 – Rs. C-190/98 Graf, EU:C:2000:49 Rn. 24 f. 151 EuGH v. 5.12.2013 – Rs. C-514/12 Zentralbetriebsrat der Salzburger Landeskliniken, Rn. 38 ff.; s. a. EuGH v. 13.3.2019 – Rs. C-437/17 EurothermenResort; EuGH 8.5.2019 – Rs. C-24/17 ÖGB. 152 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/98 Finalarte u. a., EU:C:2001:564 Rn. 39 f. 153 EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 Kommission ./. Deutschland, EU:C:2005:220 Rn. 24; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, EU:C:2007:809 Rn. 57. Die dort dafür in Bezug genommenen früheren Urteile sagen gerade nicht ausdrücklich, dass es nur um die Entsendeten geht.
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IV. Auslegung des Primärrechts
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EuGH es ausreichen, wenn das nationale Recht die entsendeten Arbeitnehmer faktisch schützt, etwa durch einen Mindestlohn, auch wenn dies die Entsendung weniger wahrscheinlich macht.154 Wenig später hat das Urteil Laval hingegen gesagt, dass auch im „Schutz der Arbeitnehmer des Aufnahmemitgliedstaats gegen ein etwaiges Sozialdumping“ ein zwingender Grund des Allgemeininteresses liegen kann, allerdings (nur) für kollektive Maßnahmen, die „Sozialdumping“ abwehren wollen. Das Urteil zitiert dazu einige frühere Urteile, in denen von Sozialdumping (oder von kollektiven Maßnahmen) aber keine Rede war, und die als Rechtfertigung eher nur den Schutz der Interessen der Entsendeten ansahen. Auch nach dem Urteil Laval ist der Schutz der nationalen Arbeitsrechtsordnung des Arbeitsortes aber kein legitimes Ziel. Fraglich ist überdies, inwieweit das Vorschreiben von Arbeitsbedingungen des Arbeitsstaates mit dem Schutz des fairen Wettbewerbes zwischen inländischen und entsendenden Unternehmen gerechtfertigt werden kann. 2004 hat der EuGH dies akzeptiert.155 Das Urteil Laval hingegen sagt ohne weitere Begründung, dies sei kein tauglicher Rechtfertigungsgrund.156 Der geschilderte Umgang mit Vorjudikatur ist in beiden Fällen – großzügige „Verwertung“ wie schlichtes Verschweigen – methodisch verfehlt. Die Urteile Viking und Laval sagen, dass die Niederlassungs- und die Dienstleis- 55 tungsfreiheit durch Streik und Boykott, welche Niederlassung oder Dienstleistung weniger attraktiv machen, beeinträchtigt werden, und nur nach allgemeinen Regeln gerechtfertigt werden können.157 Die Anerkennung eines unionsrechtlichen Grundrechts auf kollektive Maßnahmen, mit dem die Urteile anheben, hat bei der Rechtfertigung aber keine erkennbaren Folgen. Dies ist methodisch an sich und in Bezug auf das Verhältnis von Grundfreiheit und Grundrecht mehr als unbefriedigend. Ferner werden die möglichen alternativen Lösungen nicht wirklich diskutiert. Auch der für die Praxis entscheidende Faktor, nämlich das Verständnis von Verhältnismäßigkeit, bleibt weitgehend im Dunkeln.158 Die Regelung von Streik und Boykott wird traditionell jedenfalls „auch“ als Frage des Arbeitsrechts angesehen. Der EuGH betrachtet sie hingegen überwiegend im Kontext der Grundfreiheiten und kommt weitgehend ohne typische arbeitsrechtliche Überlegungen aus. In der Sache geht es um das Grundproblem, dass das Unionsrecht nur eine Teilrechtsordnung ist, die sich lange auf wirtschaftliche Fragen konzentrierte.159
154 EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99 Portugaia Construções, EU:C:2002:40. 155 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 Wolff & Müller, EU:C:2004:610 Rn. 41. Vgl. auch EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 Kommission ./. Deutschland, EU:C:2005:220. 156 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, EU:C:2007:809 Rn. 118 f. Gleichzeitig akzeptiert das Urteil in Rn. 74 f. diese Zielsetzung aber bei der Entsende-Richtlinie. 157 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, EU:C:2007:772; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, EU:C:2007:809. Vgl. z. B. von Danwitz, EuZA 2010, 6 ff.; Rebhahn, ZESAR 2008, 109 ff. 158 Vgl. dazu z. B. Bercusson, European Labour Law, S. 670 ff. 159 Vgl. dazu z. B. Rödl, Arbeitsverfassung, S. 855 ff.
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3. Grundrechte 56 Schon vor Inkrafttreten der GRCh hat der EuGH zum Arbeitsrecht zuweilen mit Grund-
rechten argumentiert, die er als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts erkannte. Insbesondere hat er Diskriminierungsverbote als solche Grundsätze gesehen (dazu Rn. 62 ff.). Andere Grundrechte der einzelnen Arbeitnehmer wurden vor Inkrafttreten der GRCh nur selten anerkannt bzw. relevant. Zu nennen ist das Urteil Katsikas zur Frage, ob das Arbeitsverhältnis bei Betriebsübergang auch dann übergehe, wenn der Arbeitnehmer dem Übergang ausdrücklich widerspricht. Frühere Entscheidungen waren dahin interpretiert worden, dass ein Widerspruch unbeachtlich sei. 1992 sagte der EuGH, dass er derartiges nie gesagt habe, und lässt den Widerspruch ausdrücklich zu, auch weil eine Verpflichtung der Arbeitnehmer, gegen ihren Willen beim Erwerber zu arbeiten, gegen Grundrechte des Arbeitnehmers verstieße.160 Allerdings überlässt das Urteil die Regelung des Widerspruchs dem nationalen Recht, das auch bloß die Beendigung durch den Arbeitnehmer vorsehen dürfe. 57 Die GRCh enthält insbesondere in den Art. 30 bis 33 „Rechte“ der einzelnen Arbeitnehmer. Dazu gibt es bislang nur wenig Urteile. Der EuGH weist zu Urlaubsfragen (Rn. 39) zwar wiederholt auf Art. 31 Abs. 2 GRCh hin, dies hat aber bislang keine erkennbaren Auswirkungen auf den Inhalt der Entscheidung. Neuere Urteile erwecken allerdings bisweilen den Eindruck, als hätten die zu Art. 7 Arbeitszeit-RL gewonnenen Auslegungsergebnisse hinsichtlich des bezahlten Jahresurlaubs gleichzeitig grundrechtlichen Gehalt. Außerdem wird hierdurch die Unterscheidung der Richtlinienwirkung gegenüber Privatpersonen und dem Staat verwischt, wenn über Art. 31 Abs. 2 GRCh auch Privatpersonen verpflichtet werden161. Der EuGH weist hierzu lapidar darauf hin, dass das Recht des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub aus Art. 31 Abs. 2 GRCh „schon seinem Wesen nach“ mit einer entsprechenden Pflicht des Arbeitgebers korrespondiere.162 Dies ist unzutreffend, weil die Vorschrift lediglich ein Recht gewährt, den Adressaten des Rechts aber gerade nicht bestimmt, und Art. 51 GRCh Privatpersonen als Verpflichtete der GRCh nicht nennt. Nicht ausdrücklich geklärt hat der EuGH die grundrechtliche Kollisionslage zur Frage, inwieweit der Beklagte bei Klagen wegen Diskriminierung bei der Einstellung die Daten anderer Bewerber offenzulegen hat; hier steht das Interesse der Dritten (Art 8 GRCh) dem Interesse der Diskriminierungskläger (Art 21 GRCh) gegenüber.163
160 EuGH v. 16.12.1992 – Rs. C-132/91 Katsikas, EU:C:1992:517. 161 Vgl. EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-619/16 Kreuziger, EU:C:2018:872; EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-684/16 Max-Planck-Gesellschaft, EU:C:2018:874. 162 EuGH v. 6.11.2018 – Rs. C-684/16 Max-Planck-Gesellschaft, EU:C:2018:874 Rn. 79. 163 EuGH v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 Meister, EU:C:2012:217 geht auf den grundrechtlichen Schutz der Dritten nicht ein, während EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-104/10 Kelly, EU:C:2011:506 Rn. 55 Art. 8 GRC zumindest erwähnt hat. Rebhahn/Franzen
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Die Vereinigungsfreiheit wurde erstmals im Urteil Bosman als Unionsgrundrecht 58 anerkannt.164 Allerdings ging die Arbeitnehmerfreizügigkeit vor. Auch die Tarifautonomie wurde in einigen Verfahren an sich anerkannt. Dies hatte aber ebenso wie nun Art. 28 GRCh bislang keine erkennbare Auswirkung auf die Anwendung des Unionsrechts (vgl. Rn. 22).165 Klar zu Tage trat die Frage nach Tarifautonomie zum ersten Mal im Urteil Albany. Es ging um die Anwendbarkeit des Kartellverbotes (Art. 101 AEUV) auf Tarifverträge.166 Generalanwalt Jacobs hat die Frage nach einem Grundrecht verneint. Der EuGH hat diese Frage offengelassen und aufgrund systematischer und teleologischer Überlegungen entschieden, dass Tarifverträge, die der Verbesserung von Arbeitsbedingungen dienen, nicht unter das Kartellverbot fallen. Das Urteil ist ein deutliches Beispiel für systematische Interpretation. Es konzentriert seine Überlegungen aber auf das Allernotwendigste. Das Urteil Werhof aus 2006 argumentiert zu Art. 3 Betriebsübergangs-RL mit dem Grundrecht des Arbeitgebers auf negative Koalitionsfreiheit.167 Es lehnt auch deshalb die Bindung des Erwerbers an den bisher anwendbaren Tarifvertrag in dessen jeweiliger Fassung (dynamische Übernahme) ab. Die Bezugnahme auf ein Grundrecht war wohl nicht notwendig, ist zu kursorisch begründet und unterscheidet nicht ausreichend zwischen der Anordnung einer dynamischen Verweisung durch Gesetz, durch Vertrag oder durch ergänzende Auslegung. Mit der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers (Art. 16 GRCh) hat zum Ar- 59 beitsrecht erstmals das Urteil Alemo-Herron aus 2013 zur Betriebsübergangs-RL argumentiert.168 Fraglich war, ob der Betriebserwerber an eine Vertragsklausel des Arbeitsvertrages gebunden ist, die auf den für den Betriebsveräußerer anwendbaren Kollektivvertrag in dessen jeweiliger Fassung verweist. Das Urteil sagt nicht nur, dass die Betriebsübergangs-RL die Bindung nicht verlangt (primärrechtskonforme Auslegung), sondern auch, dass der Mitgliedstaat diese Bindung aufgrund Art. 16 GRCh nicht anordnen darf. Das Urteil ist insbesondere zur Ableitung aus der GRCh unzulänglich begründet, u. a. weil es die beispielsweise nach nationalem Recht etwa bestehenden Kündigungsmöglichkeiten nicht bedenkt und die Bedeutung des Verweises in Art. 16 GRCh auf das Recht von Union und Mitgliedstaaten nicht anspricht. Die Ausführungen zu Art. 16 GRCh fallen im Vergleich zu jenen im Urteil Sky Österreich
164 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, EU:C:1995:463 Rn. 79. 165 Vgl. z. B. EuGH v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 Nimz, EU:C:1991:50 Rn. 11; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C333/97 Lewen, EU:C:1999:512 Rn. 26; EuGH v. 28.10.1999 – Rs. C-187/98 Kommission ./. Griechenland, EU:C:1999:535 Rn. 46, alle zu Art. 141 EGV. Ferner z. B. EuGH v. 30.1.1985 – Rs. 143/83 Kommission ./. Dänemark, EU:C:1985:34 Rn. 8. 166 EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 Albany, EU:C:1999:430. 167 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, EU:C:2006:168 Rn. 33 ff. 168 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 Alemo-Herron, EU:C:2013:521 Rn. 31 ff.
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beträchtlich ab.169 Das Urteil Alemo Herron dürfte aber durch das Urteil Asklepios Kliniken überholt sein170. 60 Die Urteile Viking und Laval haben erstmals gesagt, das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme sei ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts.171 Der EuGH hätte dieses Grundrecht – allerdings nur in Bezug auf Streiks um eigene Arbeitsbedingungen, nicht Boykott – überzeugend aus der gemeinsamen Verfassungstradition und allenfalls aus der (noch nicht verbindlichen) GRCh ableiten können. Er hat hingegen ein Amalgam aus Hinweisen benutzt, das methodisch fragwürdig ist.172 Das neu „entdeckte“ Grundrecht hatte aber keine Bedeutung für die Rechtfertigung der kollektiven Maßnahmen vor der Grundfreiheit (vgl. Rn. 55). Dies ist kein methodisch sinnvoller Umgang mit einem Grundrecht. 61 Zur Privatwirkung der Grundrechte hat der EuGH erst 2014 ausdrücklich Stellung genommen, und zwar zu Art. 27 GRCh (Anhörung der Arbeitnehmer, geregelt auch in RL 2002/14/EG). Es ging („nur“) um die Frage, ob der Private verlangen kann, dass die ihn benachteiligende (nicht richtlinienkonforme) nationale Norm unangewendet bleibt. Das Urteil hat nicht gleich eine allgemeine „Formel“ entwickelt. Die Privatwirkung des Art. 27 GRCh wurde abgelehnt. „Aus dessen Wortlaut gehe klar hervor, dass er, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss.“ Anders als beim Verbot der Altersdiskriminierung (Rn. 65) lasse sich die Privatwirkung hier auch nicht auf das Grundrecht in Verbindung mit der Richtlinie stützen, weil sich die (an sich hinreichend bestimmte) Bestimmung der Richtlinie „als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm weder aus dem Wortlaut des Art. 27 noch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel herleiten“ lässt.173 Diese Argumentation ist zwar (zu) knapp, aber dennoch gut nachvollziehbar. Entscheidend dürfte sein, dass ein derartiger Konkretisierungsvorbehalt bei Art. 27 GRCh besteht, und bei Art. 31 Abs. 2 GRCh gerade nicht. Dementsprechend hat der EuGH eine Privatrechtswirkung des Art. 31 Abs. 2 GRCh bejaht (Rn. 57).
4. Diskriminierungsverbote 62 Die Vorschriften gegen Diskriminierung nahmen ihren Ausgang vom Primärrecht
(Art. 119 EWG), wurden über Jahrzehnte durch zahlreiche Richtlinien vertieft und ab 2000 ausgeweitet, um insbesondere ab 2005 wieder im Primärrecht (GRCh und Uni-
169 EuGH v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 Sky Österreich, EU:C:2013:28 Rn. 30 ff. 170 EuGH v. 27.4.2017 – Rs. C-680, 681/15 Asklepios Kliniken, EU:C:2017:317. 171 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, EU:C:2007:772 Rn. 43 f.; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/ 05 Laval, EU:C:2007:809 Rn. 90 f. 172 Vgl. z. B. Rebhahn, ZESAR 2008, 109 ff. (111). 173 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, EU:C:2014:2 Rn. 44 ff.
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onsrechtsgrundsätze; Rn. 56 ff.) neue Impulse zu erhalten. Aufgrund der inzwischen erreichten Dichte der Regelungen kann man hier – anders als in vielen anderen Bereichen – bereits von einem unionsrechtlich geordneten Teilgebiet sprechen (das allerdings nun über das Arbeitsrecht hinausgreift). Das Zusammenwirken der beiden Regelungsebenen führte und führt zu interessanten methodischen Problemen. Insbesondere ging und geht es um die Voraussetzungen eines unmittelbar wirkenden Verbotes – früher wegen der Abgrenzung von Entgelt und sonstigen Arbeitsbedingungen, heute anhand der Reichweite der Primärrechtsnormen. Früher hat der EuGH zum Verbot der Geschlechtsdiskriminierung häufig jene Interpretation gewählt, die das Verbot am weitesten ausdehnte. Für die letzten Jahre lässt sich dies so wohl nicht mehr sagen. Beleg dafür ist die Judikatur zur vergleichbaren Lage, zur gemeinsamen Quelle der Regelung sowie zur Altersdiskriminierung (vgl. Rn. 62–64). Eine allgemeine Frage, die hier nur aufgeworfen werden kann und die sich insbesondere zu Diskriminierungsverboten stellt, ist, ob die Judikatur des EuGH insgesamt jenen Anforderungen an die Kohärenz einer Regelung entspricht, die der EuGH – zunehmend intensiv – an Regelungen der Mitgliedstaaten stellt. Diskriminierungsverbote gelten nur, wenn sich die Arbeitnehmer in vergleich- 63 barer Lage befinden. Bei direkter Benachteiligung aufgrund eines missbilligten Kriteriums lässt sich mit der These, es liege keine vergleichbare Lage vor, die Unzulässigkeit vermeiden. Der EuGH verwendet die These zunehmend. Paradigmatisch ist das Urteil Hlozek zu Sozialplanzahlungen.174 Generalanwältin Kokott hat begründet dargetan, dass die Lagen vergleichbar sind. Der EuGH hat mit drei Absätzen anders befunden, ohne sich mit dem Schlussantrag auseinanderzusetzen. Die These verlagert die Entscheidung von der Rechtfertigung zum Tatbestand, was die Diskussion zuweilen erschwert. Es wäre methodisch besser, bei unmittelbarer Diskriminierung auch dort eine Rechtfertigung potentiell zuzulassen, wo das Sekundärrecht dies nicht vorsieht, und diese dafür streng zu handhaben. Als – überzeugende – Konkretisierung der vergleichbaren Lage kann man den Satz sehen, dass ein Diskriminierungsverbot nur für Regelungen anwendbar ist, die von derselben Quelle stammen.175 Dies erlaubt auch unterschiedliche Marktergebnisse auf unterschiedlichen Teilmärkten; dies wiederum berücksichtigt systematische und teleologische Aspekte bei der Anwendung des Verbotes. Die Argumentation mit der nicht vergleichbaren Lage findet sich zunehmend auch zu Diskriminierungsverboten des Sekundärrechts. So sagt das Urteil Wippel zu § 4 Teilzeit-RL 97/81/EG, die Lage von Teilzeitbeschäftigten, die ohne vorangehende Pflicht auf Abruf arbeiten, sei nicht an diesem Verbot zu messen, weil es im Unternehmen keine Vollzeitbeschäftigten mit Arbeit auf Abruf ohne vorangehende Leistungspflicht gegeben hat.176 Zu § 4 Befristungs-RL 1999/70/EG wurde gesagt, dass
174 EuGH v. 9.12.2004 – Rs. C-19/02 Hlozek, EU:C:2004:779 Rn. 44 ff. 175 EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 Lawrence, EU:C:2002:498 Rn. 18. 176 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, EU:C:2004:607 Rn. 52 ff.
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Arbeitnehmer mit unzulässiger Befristung und jene, deren unbefristetes Arbeitsverhältnis rechtswidrig aufgelöst wurde, sich in Bezug auf die Entschädigung nicht in vergleichbarer Lage befinden, sodass eine geringere Entschädigung im ersten Fall das Diskriminierungsverbot nicht verletzt.177 64 Die extensive Interpretation des Verbotes der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zeigte sich etwa beim Verständnis des Begriffs Entgelt in Art. 119 EG, nun Art. 157 AEUV. Der EuGH schließt jede Zuwendung ein, die ihre Ursache im Arbeitsverhältnis hat, unabhängig von der Einordnung im nationalen Recht.178 Die weite Auslegung kann sich auf den Wortlaut stützen, der schon immer „aufgrund des Dienstverhältnisses“ sagte. Überdies führt der EuGH für die weite Auslegung wiederholt den Zweck an. Bis heute nicht gelungen ist es dem EuGH allerdings, den für die Entgeltgleichheit zentralen Begriff der gleichen oder gleichwertigen Arbeit so zu deuten, dass er operationalisierbar ist.179 Vielleicht liegt dies an den Schwierigkeiten der Sache und der Scheu, zu tief in den Marktprozess einzugreifen. In beiden Fällen passt die mitunter extensive Interpretation zu anderen Fragen der Diskriminierung methodisch schlecht zu dieser Zurückhaltung. 65 In den letzten Jahren steht das Verbot der Altersdiskriminierung im Vordergrund der Judikatur. Viele der Urteile dazu sind auch methodisch überzeugend. Die entscheidenden Fragen betreffen meist die Verhältnismäßigkeit der Benachteiligung. Praktisch besonders wichtig ist die Zulässigkeit von Regelungen, die dem Arbeitgeber erlauben, das Arbeitsverhältnis bei Erreichen einer Altersgrenze zu beenden, oder die diese Beendigung selbst vorsehen. Fraglich ist, ob sie nach Art. 6 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt werden können. Diese Bestimmung räumt dem EuGH ein beträchtliches Ermessen ein. Der EuGH hält die genannten Regelungen – auch in Anbetracht des Art. 15 Abs. 1 GRCh (Recht zu arbeiten) – für nicht diskriminierend, wenn die Altersgrenze nicht unter dem Zugangsalter zur allgemeinen Altersrente liegt, wobei die Grenze konkret beim 65. bzw. 67. Lebensjahr lag.180 66 Das Urteil Mangold hat 2005 gesagt, dass ein ungeschriebener allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts die Diskriminierung aufgrund des Alters verbietet, auch zwischen Privaten.181 Dies überraschte, wurde die Einführung dieses Verbots eben erst als große Neuerung gesehen. Das Urteil liest das Verbot ohne Begründung in völkerrechtliche Verträge und eine angebliche gemeinsame Verfassungstradition der Mit-
177 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 Carratù, EU:C:2013:830 Rn. 44 f. 178 Vgl. z. B. zur Fortbildung teilzeitbeschäftigter Betriebsratsmitglieder EuGH v. 4.6.1992 – Rs. C-360/90 Bötel, EU:C:1992:246 und EuGH v. 6.2.1996 – Rs. C-457/93 Lewark, EU:C:1996:33; EuGH v. 6.12.2012 – verb. Rs. C-124/11, C-125/11 und C-143/11 Dittrich u. a., EU:C:2012:771 Rn. 35 ff. zur „Beihilfe“ an deutsche Beamte (Krankenbehandlung). 179 EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 Kenny, EU:C:2013:122 Rn. 36 ff. 180 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C‑45/09 Rosenbladt, EU:C:2010:601; EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 Hörnfeldt, EU:C:2012:421. 181 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709.
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gliedstaaten hinein.182 Methodisch fraglich und fragwürdig ist v. a., wie aus dem Gleichheitssatz ein strengeres Diskriminierungsverbot folgen soll (zumal die GRCh schon damals beide nebeneinander nannte). Auch das Urteil Kücükdeveci klärt diese Frage nicht, sondern begnügt sich – methodisch ungenügend – mit nur einem Satz.183 Manche vertraten, mit dem Urteil Mangold habe der EuGH seine Kompetenzen überschritten; methodisch ist dazu zuweilen fraglich, ob diese Bewertung zum Unionsrecht oder zum nationalen Verfassungsrecht erfolgt.
5. Primärrechtskonforme Interpretation Die Regel, wonach abgeleitetes Unionsrecht primärrechtskonform auszulegen ist, 67 wird auch in arbeitsrechtlichen Urteilen zum Ausdruck gebracht.184 Allerdings prüft der EuGH bislang kaum von sich aus, ob (sein Verständnis von) Sekundärrecht mit Primärrecht vereinbar ist. Der Gedanke der rechtskonformen Interpretation erfordert es auch, Sekundärrecht im Zweifel so auszulegen, dass die Grenze der in Anspruch genommenen Kompetenz der Union nicht überschritten wird. Allerdings kommt diese Überlegung in der Judikatur soweit zu sehen kaum vor, wohl auch weil der EuGH die Kompetenzen der Union stets extensiv versteht. Eine Ausnahme stammt aus der Zeit vor Einführung der sozialpolitischen Kompetenz. Zur Arbeitszeitrichtlinie wurde die Bestimmung, welche die Wochenruhe verpflichtend auf das Wochenende festlegte, aufgehoben, weil diese Festlegung von der damaligen Kompetenz zum (gesundheitlichen) Schutz der Arbeitnehmer nicht mehr umfasst war.185 Der EuGH hat primär mit Wortlaut und Zweck der Kompetenznorm argumentiert. Zu leicht macht es sich der EuGH, wenn er das Argument, eine Richtlinie solle nach dem Vertrag auch die Interessen der Klein- und Mittelbetriebe berücksichtigen, mit dem Hinweis abfertigt, deren Berücksichtigung sei Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Kompetenz.186
6. Allgemeine Rechtsgrundsätze Zu den Unionsrechtsgrundsätzen, die auch für das Sekundärrecht verbindlich sind, 68 zählt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Allerdings mindert der EuGH dessen Rele-
182 Zuvor wurde noch gesagt, dass in internationalen Verträgen anerkannte Grundrechte auf Nichtdiskriminierung die Zuständigkeiten der Gemeinschaft nicht erweitern könnten; EuGH v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 Grant, EU:C:1998:63 Rn. 45 f. Das Urteil Mangold geht darauf nicht ein. 183 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 50. 184 Z. B. EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, EU:C:2006:168 Rn. 32. 185 EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, EU:C:1996:431. 186 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen ./. BECTU, EU:C:2001:356 Rn. 60. Das Ergebnis ist aber überzeugend.
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vanz entscheidend, indem er sagt, eine Bestimmung sei rechtswidrig nur, wenn die Mittel „offensichtlich ungeeignet“ und „offensichtlich außer Verhältnis“ zum Ziel sind.187 Weit strenger wird der Grundsatz zulasten von Privaten angewendet. Schon früh wurde zur mittelbaren Diskriminierung eine Rechtfertigung nur zugelassen, wenn die Unterscheidung zum Erreichen eines legitimen Zieles geeignet und erforderlich ist.188 Er hat damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – ohne direkte Grundlage im positiven Recht – in das Arbeitsverhältnis eingeführt. Inzwischen hat der Gesetzgeber nachgezogen.189 Das Anwenden des Grundsatzes zwischen Privaten ist nicht selbstverständlich und aus traditioneller Sicht eher systemfremd. Der EuGH überlässt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit in weitem Umfang den nationalen Gerichten. Das ist dort, wo es um die Anwendung einer Richtlinie geht, nachvollziehbar. Allerdings zerfällt auf diese Weise der entscheidende Teil der mittelbaren Diskriminierung in Teilrechtsordnungen. Methodisch fragwürdig ist die im Vergleich zum Sekundärrecht tendenziell strengere Kontrolldichte bei Privaten, weil der EuGH hier die Privatautonomie des Belasteten nicht ausdrücklich bedenkt. 69 Zu den Rechtsgrundsätzen zählt auch der Vertrauensschutz. Dieser hat allerdings bei der praktisch wichtigsten Frage nur eine sehr geringe Bedeutung, nämlich zur Frage, inwieweit eine – unerwartete – Rechtsauffassung des EuGH auf Sachverhalte der Vergangenheit anwendbar ist: Die Rechtsauffassung wirkt in aller Regel zurück, auch wenn die Rechtslage unklar war (vgl. Rn. 2). Die Rückwirkung entfällt nur, wenn der Unionsgesetzgeber selbst den Eindruck erweckt hat, dass eine Diskriminierung privaten Arbeitgebern erlaubt sei, im Arbeitsrecht insbesondere beim Anfallsalter der Betriebspensionen. Die Urteile kümmern sich wenig um die methodische Frage, ob es nicht weitere Gründe gegen diese Rückwirkung gibt.
V. Schlussbemerkung 70 Zum Arbeitsrecht der Union stellen sich keine anderen methodischen Probleme als in
anderen Bereichen. Die Begründungen des EuGH bleiben (auch) im Arbeitsrecht nicht selten hinter dem zurück, was – unter Berücksichtigung der Bedeutung des Gesagten – für eine überzeugende Argumentation aus dem und zum Recht erforderlich ist. Dies gilt v. a. zum Primärrecht, während die Urteile zum Sekundärrecht häufig – und m. E. zunehmend – eine abgerundete Argumentation geben.
187 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA, EU:C:2006:10 Rn. 78 ff. Vgl. auch EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u. a., EU:C:2012:657 Rn. 72 ff. 188 EuGH 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka, EU:C:1986:204 Rn. 36. Das Urteil begründet dies nicht und beruft sich auch dafür auf das Urteil EuGH 31.3.1981 – Rs. 96/80 Jenkins, EU:C:1981:80, das aber zu dieser Frage nichts enthält. 189 Z. B. Art. 2 Abs. 1 lit. b RL 2006/54/EG. .
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V. Schlussbemerkung
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Die Rahmenbedingungen zur Methodenlehre des Unionsrechts unterscheiden 71 sich sehr deutlich von jenen, welche die Ausbildung der in Deutschland und Österreich traditionellen Auslegungsregeln erlaubt haben. Diese Methodenlehre setzt wohl dreierlei voraus: erstens das Bemühen aller Beteiligten – Gesetzgeber, Gerichte, Beobachter – um eine kohärente Rechtsordnung, die möglichst frei von Widersprüchen und damit „systematisch“ ist; zweitens die Überzeugung, dass das maßgebliche Recht primär abgeleitet und damit „gefunden“ und nicht vom Gericht „erfunden“ werden soll; sowie drittens die Überzeugung, dass diese Ableitung nur nach bestimmten Regeln erfolgen soll, deren Beachtung von Beobachtern gewürdigt werden soll. Jede der drei Voraussetzungen ist heute auf der Ebene des Unionsrechts deutlich schwächer verwirklicht als in vielen Mitgliedstaaten. Dies betrifft immer weniger das Sekundärrecht, aber nach wie vor das Primärrecht. Dazu weiß man leider oft nicht recht, welcher Grundstruktur das auf Entscheiden angelegte juristische Denken folgt: ist es normativ, oder dezisionistisch, oder topisch, oder doch eher ein konkretes Ordnungsdenken, etwa des Binnenmarktes, oder gar der Stärkung der Union als solcher? Allerdings hat der EuGH lange Zeit auch wenig Unterstützung bei der Erarbeitung einer spezifischen unionsrechtlichen Methodenlehre erfahren. Es hängt von allen Beteiligten ab, welchen Stellenwert Methoden der Rechtserkenntnis künftig für das Unionsrecht haben werden. Ohne klare Methodenlehre auch des Unionsrechts gibt es wohl keine Rule of Law und keinen Rechtsstaat – denn Methodenfragen sind Verfassungsfragen.
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Kalss https://doi.org/10.1515/9783110614305-018
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„Single Rulebook“, ZGR 2014, 544–607; ders., Rechtsquellen des Wertpapierhandelsrechts – vom nationalen Flickenteppich zur europäischen Kodifikation, in: Lars Klöhn/Sebastian Mock (Hrsg.), Festschrift 25 Jahre WpHG (2019), S. 87–99; ders., § 5 Rechtsquellen und Auslegung, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht (2014); Fabian Walla, § 11 Kapitalmarktaufsicht in Europa, in: Rüdiger Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht (2014); ders., § 4 Rechtsetzungsverfahren und Regelungsstrategien, in: Rüdiger Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht (2014); Wank, Juristische Methodenlehre (1. Aufl. 2019); Eddy Wymeersch, The European Financial Supervisory Authorities or ESA’s, in: ders./Klaus J. Hopt/Guido Ferrarini (Hrsg.), Financial Regulation and Supervision (2012), S. 232–317. Systematische Übersicht I. II.
Einleitung 1 Junges dynamisches Rechtsgebiet 2–47 1. Laufende Entwicklung des Markts 2–5 2. Das kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren 6–16 3. Rechtschutzdefizit 17–21 4. Von der teilharmonisierenden Richtlinie zur vollharmonisierenden Verordnung 22–25 5. Besonderheiten für die Interpretation der Normen 26–40 6. Exkurs: Internationale Rechnungslegungsstandards 41–47
III. Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts 48 IV. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie 49–60 1. Öffentliches – Privates Recht 49–52 2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur 53–54 3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur 55 4. Vertragliche Regelungen 56–57 5. Schutzgesetzcharakter von Normen 58 6. Gespaltene Interpretation 59–60 V. Resümee 61–64
I. Einleitung 1 Das europäische wie nationale Kapitalmarktrecht werden durch mehrere Charakteris-
tika geprägt, die sich unmittelbar in der Auslegung und Methodik widerspiegeln. Zunächst ist das Kapitalmarktrecht ein sehr junges Gebiet, das sich durch eine dynamische Entwicklung auszeichnet und das ganz wesentlich durch eine neue mehrstufige Regelungstechnik geprägt ist. Weiter ist Kapitalmarktrecht ein Rechtsgebiet, das sich in besonderer Weise ökonomischen Regelungen öffnet, weil die kapitalmarktrechtlichen Normen regelmäßig mit ökonomischen Überlegungen unterlegt werden.1 Besondere Herausforderungen ergeben sich für das Kapitalmarktrecht aus der Informationsasymmetrie zwischen den Marktgegenseiten und den Interessenkonflikten der Finanzdienstleister (Banken). Diese Wertungsgesichtspunkte spielen daher bei der Interpretation der einzelnen Normen eine besondere Rolle. Kapitalmarktrecht bil-
1 Möllers, AcP 208 (2008), 1, 6; Fleischer/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 9, 12, 18. Kalss
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det schließlich eine Querschnittsmaterie,2 was bedeutet, dass sich kapitalmarktrechtliche Regelungen sowohl aus dem traditionell öffentlich-rechtlichen (regulativen) als auch aus dem traditionell privatrechtlichen Rechtsbereich zusammen finden, wobei principles-based und rules-based regulation einander ergänzen.3 Die großen Bereiche finden wiederum in unterschiedlichen Teildisziplinen Anknüpfungspunkte, wie etwa im Wertpapierrecht, Gesellschaftsrecht, Handelsrecht, Verwaltungsrecht, Wirtschaftsaufsichtsrecht, Strafrecht etc. Dieser Mix von Normen verschiedener Regelungsebenen des europäischen und nationalen Rechts und aus verschiedenen Rechtsbereichen erfordert gerade dort, wo Privat- und öffentliches Recht bzw. europäisches und nationales Recht unmittelbar aufeinandertreffen, besonderes Augenmerk auf Fragen der Auslegung zu richten, um allfällige Diskrepanzen von Auslegungstraditionen bzw. Arbeitstechniken in den unterschiedlichen Disziplinen zu überbrücken und ein stimmiges Verständnis der Gesamtregelungen zu entwickeln.4
II. Junges dynamisches Rechtsgebiet 1. Laufende Entwicklung des Markts Das europäische ebenso wie das nationale Kapitalmarktrecht bilden ein junges 2 Rechtsgebiet, das sich erst in den letzten rund 25 Jahren in breiter Form entwickelt hat. Zwar war den Architekten eines einheitlichen europäischen Markts von Anfang an klar, dass das Kapitalmarktrecht einer unverzüglichen einheitlichen Regelung bedürfe,5 dennoch dauerte es bis in die 1980er- und 1990er-Jahre des 20. Jahrhunderts, dass sich ein relativ einheitliches europäisches Kapitalmarktrecht herausbilden konnte,6 das eine angemessene sachliche Reichweite der Regelungen und Regelungstiefe erreichte.7
2 Siehe nur Hopt, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), Bd. I, S. 939; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; U.H. Schneider, AG 2001, 269, 269 f.; ferner Buck-Heeb, Kapitalmarktrecht (9. Aufl. 2017), Rn. 3; Fleischer/Korch, Fälle zum Kapitalmarktrecht (2020) 11 f.; Kalss/Oppitz, RdW 2011, 575; Thaler, Sanktionen bei Marktmissbrauch – Marktmanipulation, Insiderhandel und Ad-hoc-Publizität, S. 9 ff. 3 Vgl. näher Schneider, in: Hutter/Baums (Hrsg.), GS Gruson (2009), 369–378. 4 Zur Selbstregulierung im Bereich des Kapitalmarktrechts vgl. Kämmerer, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 145–163. 5 Beredtes Zeugnis davon ist etwa der sogenannte Segré-Bericht: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – EG-Kommission, Der Aufbau eines europäischen Kapitalmarkts – Bericht einer von der EWGKommission eingesetzten Sachverständigengruppe 1966. 6 Siehe dazu etwa Assmann/Buck-Heeb, in: Assmann/Schütze/Buck-Heeb (Hrsg.), Handbuch des Kapitalanlagerechts, § 1 Rn. 21ff.; Follak, in: Dauses (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsrecht (2019), F III; Moloney, EC Securities Regulation (2. Aufl. 2009), S. 4 ff. 7 Moloney, EC Securities Regulation (2. Aufl. 2009), S. 5; dies., EBOR 2002, 293, 309, 336.
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Trotz dieses Schubs an sekundärrechtlichen Regelungen zeigte sich bald die Unzulänglichkeit des europäischen Normgefüges, um den Marktanforderungen auf Anbieter- und Nachfragerseite tatsächlich gerecht zu werden.8 Seit rund 20 Jahren unterliegen die Finanzindustrie und der Kapitalmarkt fundamentalen Änderungen.9 Verkürzt lassen sich die Ursachen in die Schlagworte Globalisierung der Wirtschaft, Internationalisierung der Finanzmärkte sowie die Institutionalisierung der Vermögensanlagen kleiden. Diese Veränderungskräfte wurden durch die enormen Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie erst möglich und in Europa durch die EU-Harmonisierungsbestrebungen und die Einführung des Euro nachhaltig unterstützt.10 Die Globalisierung des Markts, die Zunahme der Mobilität der Marktteilnehmer, die in immer kürzeren Zyklen stattfindende Kreation neuer Finanzinstrumente (z. B. strukturierte Produkte) und Techniken (z. B. Hochfrequenzhandel) tragen ebenso zum neuen Umfeld bei wie eine offene Politik, die auf weltweit wirkende Entwicklungen und Krisensituationen reagiert. 4 Die dramatischen Änderungen veranlassten die Europäische Kommission 1999 einen Aktionsplan für Finanzdienstleistungen vorzulegen (Financial Services Action Plan – FSAP).11 Die Kommission setzte eine Expertengruppe ein, um sowohl inhaltlich Prioritäten als auch verfahrensmäßige Regelungen für die Fortentwicklung des europäischen Kapitalmarktrechts zu formulieren. Auf der Grundlage des Berichts dieser Experten (Bericht der Weisen – Lamfalussy-Bericht) vom November 200012 formulierte der Europäische Rat eine neue und flexiblere Regelung des Kapitalmarkts.13 5 Als Reaktion auf die Finanzkrise wurde im Anschluss an den Bericht der de-Larosière-Gruppe14 ein europäisches Finanzaufsichtssystem mit neuen europäischen Finanzaufsichtsbehörden geschaffen.15 Auf der Grundlage von Art. 114 AEUV etablierten die Europäischen Institutionen die neue europäische Aufsichtsarchitektur.16 Das
8 Ferrarini, in: ders./Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro (2002), S. 241. 9 Baum, in: Kono/Paulus/Rajak (Hrsg.), The legal issues of E-commerce (2000), S. 99; Kalss, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital markets in the Age of the Euro (2002), S. 193. 10 Rudolf, in: Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt (2. Aufl. 2009), § 1 Rn. 5. 11 Kommission – Umsetzung des Finanzmarktrahmens: Aktionsplan Mitteilung der Kommission v. 11.5.1999, Komm (1999) 232 endgültig, abgedruckt in ZBB 1999, 103 f. 12 Bericht des Ausschusses der Weisen über die Reglementierung der europäischen Wertpapiermärkte v. 9.11.2000, europa.eu.int/comm/internal_market/securities/lamfalussy/index_de.htm.europa.eu. int/comm/internal_market/en/finances/banks/report/de.pdf. 13 S. nur Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 1 Rn. 33; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 99 f. 14 Abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/finances/docs/de_larosiere_report_de.pdf. 15 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 1 ff.; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 146 ff. 16 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 36; Rötting/Lang, EuZW 2012, 8, 12; Lehmann/Manger-Nestler, ZBB 2011, 2, 4 ff.
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System der Aufsicht beruht auf zwei Säulen: Auf der Makroebene werden systemische Risiken bewältigt, auf der Mikroebene wird das gesamte Finanzmarktgeschehen einschließlich des Kapitalmarkts erfasst.17 Auf der Mikroebene wird die Überwachung der Finanzmärkte vom System der Europäischen Finanzmarktaufsicht besorgt (ESFS). Dieses System besteht aus drei eigenständigen Behörden, die mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet sind, nämlich der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA), der Europäischen Versicherungsaufsichtsbehörde (EIOPA) und der – hier besonders relevanten – Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA).18 Zentrale Aufgabe von ESMA ist es, darauf hinzuwirken, die Funktionsweise des Binnenmarkts zu verbessern, indem ein hohes, wirksames und konsistentes Maß an Regulierung und Beaufsichtigung gewährleistet wird.19 Diese Behörden sollen letztlich an einem „single rulebook“ für die Finanzmärkte mitwirken.20 Die gesamte Regelsetzung, -auslegung und -anwendung werden ganz maßgeblich durch diese neue Aufsichtsstruktur geprägt. Abgesehen davon hat sich das Kapitalmarktrecht – getrieben durch die Krise – insgesamt vom gestaltenden und ermächtigenden Recht zu einem reaktiven Recht entwickelt, wie etwa die Regelungen über die Ratingagenturen,21 die Verordnung über Leerverkäufe22 sowie schließlich die Produktinterventionsmechanismen nach MiFID II zeigen. Neben der Integrität und Stabilität des Marktes sind der Anlegerschutz und auch explizit (!) der Verbraucherschutz Aufgaben der Kapitalmarktregulierung durch die ESMA.23 Schließlich ist die Entwicklung des europäischen Kapitalmarktrechts maßgeblich dadurch geprägt, dass es einen immer stärkeren Fokus auf die Sanktionierung zur Sicherung der Einhaltung ihrer Regelungen legt.
2. Das kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren Der Technik des Normsetzungsverfahrens24 im Bereich des Kapitalmarktrechts – kor- 6 rekter im Bereich des gesamten Finanzmarktrechts – kann ein Bonmot vorangestellt
17 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 37. 18 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.11.2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/77/EG der Kommission, ABl. 2010 L 331/84. 19 BE 10 f. ESMA-VO. 20 Gurlit, ZHR 177 (2013), 862, 871; Wymeersch, ZGR 2011, 443, 458 ff.; Moloney, EBOR 2011, 41, 46 ff.; krit. U.H. Schneider, EuZW 2013, 452, 454. 21 Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.9.2009 über Ratingagenturen, ABl. 2009 L 302/1. 22 Verordnung (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.3.2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps, ABl. 2012 L 86/1. 23 BE 11 ESMA-VO. 24 S. allgemein zu den Rechtsquellen Köndgen, in diesem Band, § 6.
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werden: „Comitology is a particularly tricky system. After three hours of training you understand how it works, but a week later you have forgotten the most important parts of it.“25 Bis 2009 vollzog sich die EU-Gesetzgebung für den Finanzsektor im sogenannten Lamfalussy-Verfahren, bei dem es sich um eine besondere Ausprägung des Komitologie-Verfahrens handelte.26 7 Die Gesetzgebung im EU-Finanzsektor, somit im Banken- und Versicherungsbereich sowie insbesondere im Kapitalmarkt- und Wertpapierbereich vollzieht sich nach geltender Rechtslage in einem abgestuften Verfahren.27 Ganz massiv betroffen sind im Bereich des Kapitalmarktrechts die Regelungen über den Marktmissbrauch und von MiFID II. Die einzelnen Verfahrensvoraussetzungen sind nicht immer eindeutig aus einer Rechtsquelle zu beziehen, sondern müssen mehreren Quellen entnommen werden. 8 Die Rechtsetzung vollzieht sich auf vier Stufen, wobei eine Stufe in zwei Unterstufen gegliedert wird: Auf Stufe 1 verabschieden das Europäische Parlament und der Rat auf Vorschlag der EU-Kommission einen Gesetzgebungsakt, den sogenannten Basisrechtsakt. Im Regelfall ist dies eine Rahmenrichtlinie nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 294 AEUV. Der Basisrechtsakt sind etwa die CRD IVRichtlinie im Bankenbereich, MiFID II sowie die sogenannte Omnibus 2-Richtlinie.28 Der Basisrechtsakt enthält Ermächtigungen an die EU-Kommission, den Basisrechtsakt zu konkretisieren. Durchführungsmaßnahmen sind Richtlinien und Verordnungen sowie ergänzend bindende technische Standards.29 9 Auf Stufe 2 kann die EU-Kommission aufgrund einer Ermächtigung im Basisrechtsakt delegierte Rechtsakte im Sinne von Art. 290 AEUV oder Durchführungsrechtsakte im Sinne von Art. 291 AEUV erlassen.30 Delegierte Rechtsakte dienen dazu, bestimmte, nicht wesentliche Vorschriften des Basisrechtsaktes zu ergänzen und zu ändern, insbesondere Generalklauseln auszuführen. Nach der Intention sollten auf Stufe 2 nur technische Regelungen durch die EU-Kommission vollzogen werden, nicht aber politisch umstrittene Themen.31 Naturgemäß ist diese Abgrenzung schwierig und nicht immer möglich. Für die Verabschiedung eines Delegierten-Rechtsaktes kann
25 Gueguen, Comitology: Hijacking European Power (3. Aufl. 2011), S. 47. 26 S. dazu Sydow, JZ 2012, 157–165; Wymeersch, ZGR 2011, 443, 451; Kämmerer, in: ders./Veil (Hrsg.), Übernahme- und Kapitalmarktrecht in der Reformdiskussion (2013), S. 56. 27 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 4 Rn. 3 ff., Rn. 23. 28 Vorschlag EU-Kommission zur Änderung der Richtlinien 2003/71/EG und 2009/138 über die Befugnisse der europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen, die betriebliche Altersversorgung und die europäische Wertpapieraufsichtsbehörde KOM(2011) 8 endg; dazu Peschetz/Brandstetter, ZfR 2011, 67 ff. 29 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 64 ff.; Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721 ff. 30 Stelkens, EuR 2012, 511–546. 31 Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721, 722.
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sich die EU-Kommission von dem jeweils zuständigen Fachausschuss der zuständigen Behörde des jeweiligen Sektors beraten lassen. Enthält der Basisrechtsakt von Parlament und Rat die Ermächtigung für einen 10 Durchführungsrechtsakt, der eine einheitliche Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der EU sicherstellen soll, wird auf dieser Ebene die Beteiligung des Europäischen Parlaments und des Rats bereits faktisch ausgeschlossen, jedenfalls deutlich zurückgedrängt.32 Die Durchführungsrechtsakte werden im Prüf- oder Beratungsverfahren erlassen. Die EU-Kommission hat einen Fachausschuss zur Seite. Beim Prüfverfahren kann der Fachausschuss insofern großen Einfluss nehmen, als der Durchführungsrechtakt nur einvernehmlich mit dem Fachausschuss erlassen werden und sich die Kommission nicht darüber hinwegsetzen kann, während beim Beratungsverfahren die Kommission die Endentscheidung hat. Neben diesen beiden Rechtsakten auf Stufe 2, nämlich dem delegierten Rechtsakt 11 und dem Durchführungsrechtsakt, wird auf Stufe 2 noch eine wesentliche Konkretisierung der Normen vorgenommen. Neben den genannten Rechtsakten kann nämlich die EU-Kommission auch sogenannte bindende technische Standards (Binding Technical Standards, BTS) erlassen. Diese Standards werden von der jeweils zuständigen ESA (European Supervisory Authority), somit entweder der EBA, der ESMA oder der EIOPA, vorbereitet.33 Die Vorbereitung bezieht sich auch auf die Durchführung öffentlicher Konsultationen, die Einbeziehung der jeweiligen Interessengruppen und die Vornahme einer Kosten-Nutzen-Analyse. Die bindenden technischen Standards sind eigentlich nicht Maßnahmen der EU- 12 Kommission, sondern der jeweiligen Aufsichtsbehörden als eigenständige Rechtspersönlichkeiten (oben Rn. 5). Zwar verleiht die Europäische Kommission dem Standard die rechtlich bindende Wirkung. Sie erarbeitet diese Standards aber inhaltlich nicht, sondern übt im Verfahren nur Kontrollbefugnisse aus.34 Die wesentliche Normierungs- und Gestaltungsarbeit leisten daher die Aufsichtsbehörden. Selbst die EUKommission muss bei inhaltlicher Einflussnahme ihre Vorstellungen an die Aufsichtsbehörden adressieren. Die bindenden technischen Standards gewinnen in der Praxis zunehmend an Bedeutung. Somit verschieben sich die Gestaltungsbefugnis und der Einfluss weg von der Kommission hin zu den europäischen Aufsichtsbehörden. Die Erarbeitung der rechtsverbindlichen Standards durch die Aufsichtsbehörden markiert auch den wesentlichen Unterschied zu den früher bestehenden nur beratenden Ausschüssen (Wertpapierausschuss).35 Die bindenden technischen Standards werden
32 Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721, 722: positiver Gurlit, ZHR 177 (2013), 862, 872. 33 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 65; Wymeersch, in: ders./Hopt/ Ferrarini (Hrsg.), Financial Regulation and Supervision, S. 253. 34 Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721, 723; Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 65. 35 Gurlit, ZHR 177 (2013), 862, 873. Kalss
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zwar gem. Art. 290 bzw. Art. 291 AEUV verbindlich als Verordnung oder Beschluss erlassen. Sie stammen aber nicht aus der Feder der Kommission, sondern aus jener der Aufsichtsbehörde. Dieses endorsement (also eine billigende Übernahme) der Kommission gem. Art. 10 Abs. 1 sowie Art. 15 Abs. 1 ESMA-VO ist dem endorsement der IFSRRegelungen vergleichbar,36 wenn auch der Entstehungsprozess unterschiedlich ist; die Parallele liegt in der Technik der Inkraftsetzung. 13 Zu unterscheiden sind bindende technische Regulierungsstandards sowie technische Durchführungsstandards gem. Art. 10 ff. und Art. 15 ESA-Verordnung. Die bindenden technischen Standards müssen rein technischer Natur sein, sie dürfen keine strategischen oder politischen Entscheidungen enthalten. Einerseits ist die Abgrenzung schwierig, andererseits liegen gerade in den Detailregelungen maßgebliche Entscheidungsspielräume. Das Europäische Parlament und der Rat spielen beim Erlass von technischen Durchführungsstandards keine Rolle. Art. 15 ESA-Verordnung schließt sie aus. Die Fachausschüsse sind in den Erlass bindender technischer Durchführungsstandards nicht eingebunden, d. h. die Gestaltungsbefugnis konzentriert sich ausschließlich auf die europäischen Aufsichtsbehörden. Damit ist eine ganz wesentliche inhaltliche Gestaltungsbefugnis auf die europäischen Aufsichtsbehörden übergegangen. 14 Auf Stufe 3 des Gesetzgebungsverfahrens können die europäischen Aufsichtsbehörden selbstständig und wiederum ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments, Rats oder der EU-Kommission Leitlinien und Empfehlungen (Guidelines und Recommendations) erlassen. Für Leitlinien oder Empfehlungen bedarf es nicht einmal einer Ermächtigung im Basisrechtsakt. Leitlinien und Empfehlungen begründen keine Rechte und Pflichten für die Marktteilnehmer, sie enthalten de jure auch keine verbindlichen rechtlichen Pflichten für die nationalen Aufsichtsbehörden oder Finanzinstitute, sie haben aber eine hohe faktische Bindungswirkung.37 Sie dienen dem Zweck, innerhalb des europäischen Finanzaufsichtssystems die Anwendung des Unionsrechts und der Aufsichtspraktiken anzugleichen. Die nationalen Behörden, wie die Finanzmarktaufsicht (FMA), betonen auch in ihren Rundschreiben, dass sie gem. § 69 Abs. 5 Bankwesengesetz (BWG) bei der Vollziehung ihrer Aufgaben die von der Europäischen Aufsichtsbehörde beschlossenen Leitlinien (Guidelines), Empfehlungen (Recommendations), Standards und andere Maßnahmen anzuwenden haben. Daher legt die FMA das BWG im Sinne der Publikationen der EBA aus;38 eine große Rolle spielt etwa auch die ESMA-Leitlinie zur Gestaltung des Wertpapierprospekts,39 die von den nationalen Behörden, unter anderem der FMA, als quasiverbindliche Regelung ange
36 Moloney, FS Hopt, S. 2273; Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 64. 37 Gurlit, ZHR 177 (2013), 862, 876; Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 61; Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721, 724; Rötting/Lang, EuZW 2012, 8, 10; Michel, DÖV 2011, 728, 732. 38 S. etwa Fit & Proper-Rundschreiben, August 2018 der FMA, Fn. 7 f. 39 ESMA, ESMA update of the CESR recommandations – The consistent implementation of Commission Regulation (EC) Nr 809/2004 implementing the Prospectus Directive, ESMA/2013/319, March 2013.
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sehen wird.40 Zu erwarten ist, dass auch andere Leitlinien für die Auslegung von kapitalmarktrechtlichen Bestimmungen eine herausragende Stellung erlangen. Eine nationale Aufsichtsbehörde wird sich daher an die Leitlinien und Empfehlungen halten, zumal sie sonst – nach dem comply or explain-Prinzip – erklären muss, warum sie sich nicht an die europäische Vorgabe hält. Darin liegen ein maßgeblicher Disziplinierungseffekt und zugleich eine Prangerwirkung.41 Schließlich kann auf Stufe 4 die nationale Umsetzung der EU-Vorschriften kon- 15 trolliert werden. Die Umsetzung durch die nationalen Gesetzgebungs- und Aufsichtsbehörden wird dadurch sichergestellt. Die vielen verschiedenen Ebenen der Gesetzgebung stellen gleichzeitig einen gra- 16 vierenden Unterschied zur europäischen Gesetzgebung in anderen Rechtsbereichen dar. Das komplexe Normsetzungsverfahren soll in der folgenden Grafik noch einmal übersichtlich zusammengefasst werden: Das Normsetzungsverfahren auf europäischer Ebene Stufe 1
Stufe 2
Rahmenrechtsakte des Parlamentes und des Rates (Art 294 ff AEUV)
Delegierte Rechtsakte der Kommission (Art 290 AEUV)
Technische Regulierungsstandards (Art 290 AEUV; Art 10 ESMA-VO)
Durchführungsrechtsakte der Kommission (Art 291 AEUV)
Technische Durchführungsstandards (Art 291 AEUV; Art 15 ESMA-VO
Stufe 3
Empfehlungen und Leitlinien der ESMA (Art 16 ESMA-VO)
Stufe 4
Kontrolle der Mitgliedstaaten durch die ESMA (Art 17 ESMA-VO)
Quelle: angelehnt an Walla in Veil, Europäisches Kapitalmarktrecht § 4 Rn. 24
40 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 63. 41 Lehmann/Manger-Nestler, ZBB 2011, 2–13; Sasserat-Alberti/Hartig, Versicherungsrundschau 2012, 524, 530; Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721, 724; Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 38; Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 61. Kalss
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3. Rechtschutzdefizit 17 Während sich Rat, Parlament und Kommission auf Ebene des Basis- sowie des Durch-
führungsrechtsakts ausschließlich Richtlinien und Verordnungen bedienen, kann ESMA spätestens auf Stufe 3 und Stufe 4 auf ein breites Instrumentarium der Normsetzung zurückgreifen.42 Neben technischen Regulierungsstandards43 und technischen Durchführungsstandards44, stehen Empfehlungen45, Leitlinien46, Q&A-Schreiben und viele andere Instrumente zur Verfügung.47 Darüber hinaus ist ESMA auch berechtigt, neue „Hilfsmittel und Instrumente“ zu entwickeln, um gemeinsame Aufsichtskonzepte und –praktiken in den Mitgliedstaaten zu fördern.48 18 Technische Regulierungs- und Durchführungsstandards wurden bereits dargestellt.49 Leitlinien dienen dem Zweck, eine einheitliche und kohärente Auslegung des Europarechts in den Mitgliedstaaten sicherzustellen.50 ESMA legt in ihnen fest, wie die mitgliedstaatlichen Behörden die Anordnungen der Rechtsakte auf Stufe 1 und 2 verstehen „sollen“.51 Inwiefern sich Empfehlungen von Leitlinien unterscheiden, ist unklar.52 Beiden Normenkategorien wird in Art 16 ESMA-VO derselbe Regelungsgehalt beigelegt. Der normative Unterschied ist damit gering. Praktisch scheint ESMA Empfehlung immer weniger einzusetzen; häufig nur mehr um generelle Anordnungen zu treffen, die von konkreten Richtlinien und Verordnungen unabhängig sind.53 Q & A dagegen enthalten keine generellen Anordnungen von ESMA. Es sind vielmehr gesammelte Fragen von Marktteilnehmern, die ESMA beantwortet und gemeinsam mit den Antworten gesammelt veröffentlicht.54 Außerdem veröffentlicht ESMA auch Listen, die gesammelte Informationen von und für Marktteilnehmer enthalten.55 19 Wenngleich die meisten dieser Maßnahmen nur „unverbindliches“ soft law darstellen, üben sie doch in der Praxis zumindest eine starke, faktische56 Bindungswir-
42 S. Rn. 14 ff.; so bereits bei Veil, ZGR 2014, 544, 584 ff. 43 Art 10 ff. ESMA-VO. 44 Art 15 ESMA-VO. 45 Art 16 ESMA-VO; Art 288 AEUV. 46 Art 16 ESMA-VO. 47 Veil, ZGR 2014, 544, 586 f. 48 Art 29 Abs. 2 ESMA-VO. 49 S. Rn. 11 ff. 50 Art 16 ESMA-VO; s. etwa ESMA, Leitlinie für die standardisierten Verfahren und Protokolle für den Datenaustausch gemäß Artikel 6 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 909/2014 vom 6.4.2020. 51 Veil, ZGR 2014, 544, 589 ff. 52 Veil, ZGR 2014, 544, 594. 53 S. etwa ESMA, ESMA recommends action by financial market participants for COVID-19 impact, vom 11.3.2020. 54 https://www.esma.europa.eu/questions-and-answers/pdf.; Veil, ZBB 2018, 151, 156 ff. 55 Veil, ZBB 2018, 151, 155 ff. 56 Selbst die Wirkung vieler Akte des soft law ist aus praktischer Perspektive häufig unklar. So wurde vom Deutschen Aktieninstitut beobachtet, dass einige Marktteilnehmer der Ansicht waren den Q&A
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kung aus.57 Ob diese, auf Stufe 3 und 4 erlassenen Rechtsakte auch darüber hinausgehende, selbstständige rechtliche Bindungswirkung entfalten können, hängt vom jeweiligen Instrument ab und ist im Einzelfall strittig.58 Insbesondere für Leitlinien und Empfehlungen ist im Lichte der Grimaldi-Rechtsprechung des EuGH59 jedenfalls eine Berücksichtigungspflicht der nationalen Behörden anerkannt.60 Betrachtet man nun diese ausgeprägten rechtlichen und faktischen Wirkungen 20 der Instrumente der Stufe 3 und Stufe 4, stellt sich die Frage des Rechtschutzes.61 Gemäß § 263 AUEV überwacht der EuGH die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Einrichtungen oder sonstigen Stellen der EU mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten. Dabei sind allerdings Empfehlungen und Stellungnahmen von der Bestimmung ausdrücklich ausgenommen. Ob andere Rechtsakte der ESMA mittels Nichtigkeitsklage durch einzelne Betroffene bekämpft werden können, ist unklar.62 Als weitere Möglichkeit steht es dem Betroffenen offen, gegen den konkreten Akt der innerstaatlichen Verwaltungsbehörde vorzugehen, insofern der Verwaltungsakt, etwa angeleitet durch Q & A der ESMA, auf der falschen Auslegung einer europarechtliche Norm basiert.63 Damit wird freilich das Risiko verwaltungsrechtlicher Sanktionen auf den Marktteilnehmer verschoben, muss dieser letztlich die Sanktion zunächst in Kauf nehmen, bevor er sich gegen sie wehren kann. Die Problematik erinnert an die – innerstaatliche – Diskussion zur Geschlossenheit des Rechtsquellensystems.64 Die Frage der unklaren rechtlichen Qualität europäischer kapitalmarktrechtlicher 21 Rechtsakte ist nicht auf jene der ESMA beschränkt ist. Die Unsicherheiten zeigen sich auch im Zusammenhang mit Richtlinien und Empfehlungen der EBA.65 Das zeigt sich
der ESMA käme rechtliche Bindungswirkung zu (Vgl. DAI, European Supervisory Authorities neither need more competences nor a new funding structure S. 8, https://www.dai.de/de/das-bieten-wir/positionen/positionspapiere.html). 57 Anzinger, RdF 2018, 181, 181; Veil, ZGR 2014, 544, 593; Veil, ZBB 2018, 151, 159 ff; s. zu den Rechtsakten der EBA Schellner/Dellinger, ÖBA 2020, 18, 19 ff. 58 Vgl. etwa zu den Q & A Veil, ZBB 2018, 151; zu den Rechtswirkungen von Leitlinien und Empfehlungen s. zudem Brüggemeier, Harmonisierungskonzepte im europäischen Kapitalmarktrecht, S. 64 ff.; Veil; ZBB 2018, 151, 160 mwN; zu alldem und insbesondere zur „safe harbour – Wirkung“ Anzinger, RdF 2018, 181, 184 ff; zu den Wirkungen der Rechtsakte der EBA Schellner/Dellinger, ÖBA 2020, 18, 19 ff. 59 EuGH v. 13.12.1989 – Rs. C-322/88 Grimaldi ./. Fonds des maladies professionelles, EU:C:1989:646. 60 Veil, ZGR 2014, 544, 599; Brüggemeier, Harmonisierungskonzepte im europäischen Kapitalmarktrecht, S. 63 f. 61 S. dazu ausführlich Anzinger, RdF 2018, 181. 62 S. dazu Anzinger, RdF 2018, 181, 188 f; Schellner/Dellinger, ÖBA 2020, 18, 23 ff. 63 Vgl. Anzinger, RdF 2018, 181, 188 f; Schellner/Dellinger, ÖBA 2020, 18, 22 ff. 64 Vgl. Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht (12. Aufl. 2019) 81; VfSlg 17.967/2006; Eberhard, ÖJZ 2007, 670, uvm.; s. zur Problematik der Verwaltungsverordnung grundlegend Kucsko-Stadlmayer, Die „Verwaltungsverordnung“, in: Jabloner/Kolonovits/Kucsko-Stadlmayer/Laurer/Mayer/Thienel (Hrsg.), Gedenkschrift Robert Walter (2013) 369; zum Rechtschutzproblem Berka, Verfassungsrecht (7. Aufl. 2018) Rn. 1113. 65 Art 16 EBA-VO; Dellinger/Schellner, ÖBA 2020, 18.
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nicht zuletzt auch an der kürzlich veröffentlichten Empfehlung der EBA ua Dividendenauszahlungen aufgrund der COVID-19 Pandemie aufzuschieben.66 Welche unmittelbaren Rechtsfolgen die Nichtbeachtung der Empfehlung nach sich zieht, ist unklar.
4. Von der teilharmonisierenden Richtlinie zur vollharmonisierenden Verordnung 22 Im europäische Kapitalmarktrecht – insbesondere der letzten beiden Jahrzehnten –
zeigt sich eine deutliche Tendenz von (teil-)harmonisierenden Richtlinien hin zu gänzlich vereinheitlichenden Verordnungen.67 Diese Entwicklung, die sich wohl auch in Zukunft fortsetzen wird,68 wirft nicht nur Fragen auf Ebene des Europarechts auf, sondern stellt den Rechtsanwender auch gleichzeitig vor neue Herausforderungen bei der Auslegung der europäischen und innerstaatlichen Rechtsakte. 23 Auf der Ebene der Auslegung ergibt sich die Unterscheidung zwischen Richtlinien und Verordnungen bereits aus deren unterschiedlicher Rechtsnatur: Während Richtlinien den Mitgliedstaaten bloß Ziele vorgeben, die Umsetzung dieser Ziele dagegen den Mitgliedstaaten selbst überlassen,69 sind Verordnungen in den Mitgliedstaaten unmittelbar anzuwenden.70 Europäische Richtlinien führen daher – unabhängig vom Grad der Harmonisierung – immer zu zwei Ebenen der Rechtsetzung: Auf der einen Seite steht die Richtlinie, die als europarechtlicher Akt autonom auszulegen ist71 und auf der anderen Seite der innerstaatliche Gesetzgebungsakt, dessen Inhalt anhand des innerstaatlichen Rechts unter Berücksichtigung richtlinienkonformer Auslegung zu bestimmen ist.72 Verordnungen dagegen sind als europäische Rechtsakte autonom auszulegen; innerstaatliches Recht kann daher zur Auslegung nicht herangezogen werden.73 24 Die zunehmende Intensivierung der europarechtlichen Regelungen im Kapitalmarktrecht weg von teilharmonisierenden Richtlinien und hin zur vollharmonisierenden Verordnung wirft gleichzeitig europarechtliche Fragen auf. Sowohl das Sub-
66 https://eba.europa.eu/com. 67 Brüggemeier, Harmonisierungskonzepte im europäischen Kapitalmarktrecht, S. 11 f.; so schon Veil, ZGR 2014, 544, 549; De Larosière u. a., The High-Level Group on Financial Supervision in the EU, Report, 25.02.2009, S. 33, http://ec.europa.eu/internal_market/finances/docs/de_larosiere_report_de. pdf. 68 Veil, FS 25 Jahre WpHG, S. 87, 98; Gruber, in: Braumüller/Ennöckl/Gruber/Raschauer (Hrsg.), ZFR Spezial: Die neue europäische Finanzmarktaufsicht (2011), S. 1. 69 Art 288 AEUV; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 58, 425 ff. 70 Wank, Juristische Methodenlehre, § 18 Rn. 105; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 58, 425 ff. 71 S. dazu Vorauflage § 10 Rn. 4 ff.; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 61 ff. 72 Wank, Juristische Methodenlehre, § 18 Rn. 119 mwN. 73 S. dazu Vorauflage § 10 Rn. 4 ff.; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 428 f.
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sidiaritäts-74 als auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip75 halten den europäischen Gesetzgeber nämlich zu einer möglichst eingeschränkten Normsetzung an.76 Abseits des rechtlichen Dürfens ist jedoch auch auf das politische Sollen Bedacht 25 zu nehmen. Das Ausmaß der Rechtsakte im europäischen Kapitalmarktrecht hat in den letzten Jahren berechtigterweise Zweifel an der Effizienz der Arbeitsteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten aufgeworfen.77 Der Subsidiaritätsgrundsatz begrenzt nicht nur das rechtliche Dürfen der Europäischen Union; er markiert auch einen Programmsatz und eine Handlungsanleitung für die Arbeitsteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten.
5. Besonderheiten für die Interpretation der Normen Nach dem Vierstufen-Regelungsverfahren im Bereich des Kapitalmarktrechts wur- 26 den – unter anderem – die Marktmissbrauchsrichtlinie (Market Abuse Directive; MAD),78 und Marktmissbrauchs-Verordnung (Market Abuse Regulation; MAR), die Prospektrichtlinie,79 die Richtlinie für Märkte von Finanzinstrumenten (MiFID II);80 ferner die Transparenzrichtlinie81 sowie die Richtlinie über Organismen zur gemeinsamen Veranlagung in Wertpapieren (OGAW IV)82 und die Richtlinie über Alternative Investment Managementgesellschaften(AIFM) in Kraft gesetzt.
74 Art 5 Abs 3 EUV. 75 Art 5 Abs 4 EUV. 76 Brüggemeier, Harmonisierungskonzepte im europäischen Kapitalmarktrecht, S. 52 ff.; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 63. 77 Möllers, FS 25 Jahre WpHG, S. 19, 32 ff. 78 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. 2003 L 96/16. 79 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2003 L 345/64. Diese Richtlinie ist derzeitig Gegenstand einer Novellierung nach diesem Verfahren. Vgl. dazu Russ, ZFR 2009/120, 188. 80 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Finanzinstrumente zur Aufhebung der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Neufassung) (MiFID II), KOM(2011) 656 endg. 81 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2004 L 390/38. 82 Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.7.2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW), ABl. 2009 L 302/32.
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Die Komplexität des Regelungsgeflechts zeigt sich etwa dadurch, dass die Marktmissbrauchsrichtlinie als Rahmenrichtlinie von drei Durchführungsrichtlinien83 und einer Durchführungsverordnung84 ergänzt wird und diese Ausführung der Normen der Kommission von einer Vielzahl vorbereitender und Beratungstexte von ESMA begleitet wird. Allein dieser mehrschichtige Aufbau und die vielen begleitenden Unterlagen zeigen die mehrseitige Dimension des Kapitalmarktrechts. 28 Welche Besonderheiten ergeben sich nun – abgesehen von den eben genannten Schwierigkeiten – aus diesem besonderen Rechtssetzungsregime für die Auslegung kapitalmarktrechtlicher Bestimmungen? 29
a) ESMA hat die klar festgelegte Aufgabe, eine einheitliche Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU sicherzustellen.85 In diesem Bereich wurde somit zur Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung eine eigenständige Einrichtung etabliert, die Auslegungsaufgaben zu erfüllen hat, was sowohl auf der zweiten Ebene – mit verbindlichen Standards (vgl. Rn. 11 ff.) und explizit auf der dritten Ebene des Normsetzungsprozesses mit Leitlinien und Empfehlungen (vgl. Rn. 14) verwirklicht wird. Offenbar wird für den Kapitalmarkt und das Kapitalmarktrecht die Einheitlichkeit des Regelungsverständnisses aufgrund des hohen transnationalen Handelsvolumens und des Verflechtungsgrads zumindest von Teilbereichen (Wertpapiermärkte, Abwicklung etc.) für so wichtig erachtet, dass die Auslegung nicht allein den Rechtsunterworfenen und den nationalen Behörden, sondern zusätzlich einer europaweit wirkenden Behörde überantwortet wird. 30 Unklar ist auch das Verhältnis zwischen dem Auslegungsmonopol des EuGH86 und der Auslegung von ESMA, der im Bereich der Verwaltungspraxis für die Auslegung von Europarecht eine überragende praktische Bedeutung zukommt. Die Verlagerung der Auslegungshoheit von einem unabhängigen Gericht hin zu einer
83 Richtlinie 2004/72/EG der Kommission v. 29.4.2004 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Zulässige Marktpraktiken, Definition von Insider-Informationen in Bezug auf Warenderivate, Erstellung von Insider-Verzeichnissen, Meldung von Eigengeschäften und Meldung verdächtiger Transaktionen, ABl. 2004 L 162/70; Richtlinie 2003/124/EG der Kommission v. 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Begriffsbestimmung und die Veröffentlichung von Insider-Informationen und die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation, ABl. 2003 L 399/70; Richtlinie 2003/125/EG der Kommission v. 22.12.2203 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die sachgerechte Darbietung von Anlageempfehlungen und die Offenlegung von Interessenskonflikten, ABl. 2003 L 399/73. 84 Verordnung 2273/2003/EG der Kommission v. 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Ausnahmeregelungen für Rückkaufprogramme und Kursstabilisierungsmaßnahmen, ABl. 2003 L 336/33. 85 BE 8, Art. 8 f. ESMA-VO. 86 Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 267 lit b AEUV.
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Verwaltungsbehörde verstärkt die schon angesprochene Rechtsschutzproblematik.87 Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass ESMA bereits im Normsetzungsverfahren ein deutlicher Einfluss auf verschiedenen Ebenen zukommt.88 b) Die Regelungstechnik zwingt den Anwender sowohl zur Zusammenschau und 31 stimmigen Auslegung von mehreren Rechtstexten auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene. Damit allein ist schon eine Komplizierung des Auslegungsprozesses und der Anwendung der Regelungen verbunden. Die nationalen Texte sind nicht allein auf ihre Europarechtskonformität89 zu überprüfen, zudem ist Sekundärrecht nicht allein am Primärrecht zu messen.90 Vielmehr wird eine eigene Stufe der Auslegung eingezogen, nämlich die Überprüfung der Konformität der Durchführungsrichtlinie bzw. ‑verordnung mit der Rahmenrichtlinie, um den normativen Gehalt auszumessen. c) Die mehrfache Einbindung von ESMA in den Regelungsprozess, vor allem auf 32 der zweiten Regelungsebene sowie auf der dritten Ebene, führen in der Realität zu einer Explosion von Dokumenten, Unterlagen und Materialien, die aufgrund der technischen Möglichkeiten (Download im Internet) dem Rechtsunterworfenen zwar relativ einfach zugänglich sind (ausgedruckt als Halbmeterstöße), ihn aber vor die schwierige Aufgabe stellen, diese Informationsflut zu strukturieren und zu bewältigen, um sie sinnvoll für die Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Normen verwenden zu können (mangelnde Transparenz wegen Informationsfülle). Diese Flut von Materialien ist vielfach nur für Experten verfasst worden. Dem Außenstehenden fehlen häufig die notwendigen Fachkenntnisse, zum Teil replizierende oder absichtlich knapp gehaltene Erläuterungen und Erklärungen richtig deuten zu können. Zum Teil sind nicht nur die Rechtsunterworfenen mit dieser Fülle überfordert, sondern auch nationale Legislativabteilungen, welche das Volumen und die Frequenz von Überarbeitungen in der Vorbereitung und in der nachfolgenden Umsetzung der Rechtsakte kaum bewältigen können. d) ESMA ist – wie dargestellt – vielfach in den Regelungsprozess eingebunden; 33 ESMA erarbeitet etwa die Leitlinien und gemeinsam mit der Kommission die Technischen Standards und die Technischen Durchführungsstandstandards (vgl. Rn. 11 f.) sowie Consultation Papers und Feedback Statements. Diese Dokumente sind zwar chronologisch geordnet und legen offen, auf welchen Stand der (geplanten) Richt
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S. dazu unter Rn. 17 ff. S. dazu bereits unter Rn. 11 ff.; so auch Veil, ZGR 2014, 544, 553. Vgl. dazu W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 1 ff. Vgl. dazu Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 1 ff.
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linie, Verordnung oder Durchführungsmaßnahme sie sich beziehen, Änderungen oder Überarbeitungen sind aber nicht deutlich ersichtlich. 34 Consultation Papers sind vorbereitende Unterlagen von ESMA, in denen es das tatsächliche Phänomen, die maßgeblichen Fragestellungen und Regelungsprobleme darlegt und daran anknüpfend die maßgeblichen Sach- und Rechtsfragen formuliert; d. h. die Marktteilnehmer werden zum Zweck der Informationsgewinnung für die Rechtsetzung konsultiert. 35 Feedback Statements sind die zusammengefassten und ausgewerteten Antworten, die ESMA im Rahmen der dem Rechtssetzungsakt vorgeschalteten Konsultationsverfahren erarbeitet; im Regelfall werden von ESMA relativ präzise Fragen zu einzelnen Regelungsbereichen gestellt. Die Feedback Statements lassen die Autorenschaft der Antworten nicht mehr erkennen.91 Feedback Statements sind Zusammenfassungen von Antworten, die ESMA aus Konsultationsverfahren von den Marktteilnehmern gewinnt. ESMA führt vielfach, bevor ein Rechtsakt erlassen wird, ein Konsultationsverfahren durch. Zur Darstellung der Markteinschätzung werden diese Feedback Statements erstellt und veröffentlicht. Sie geben nur die Markteinschätzung insgesamt wieder; die einzelnen Antworten können nicht zugordnet werden. Da dieses Statement nur eine Markteinschätzung wiedergibt, ist es keine taugliche Quelle für die Interpretation einer Norm.92 Jedenfalls spiegelt sich aber die Diskussion wider und werden wesentliche Argumentationslinien erkennbar. Ein Feedback Statement bildet aber nicht den historischen Willen des Gesetzgebers ab, sondern gibt nur Einblick in die rechtspolitische Diskussion. 36 Der Vorschlag eines technischen Standards oder eines Durchführungsstandards enthält auch eine Erläuterung in dem Sinn, dass die Bestimmung vom Regelungsgeber selbst erläutert und erklärt wird. Schließlich ist ESMA – wie früher CESR93 – berechtigt, zu den vorgeschlagenen Rechtsakten Studien und Berichte zu verfassen, die als Überlegungen und Motive über die Regelungen Aufschluss geben können, wenngleich sie nicht die Qualität von Gesetzesmaterialien haben.94 Dies sind Technical Advices, die ESMA auf Anfrage der Kommission zu geplanten Durchführungsrechtsakten erstellt; somit sind dies Erläuterungen zu den von ESMA selbst vorbereiteten Durchführungsrechtsakten.
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e) Ein Beispiel für die Bedeutung der Arbeit und Dokumente von ESMA bildet etwa die Konkretisierung der Gestaltung des Wertpapierprospekts; dort legt ESMA fest, wie einzelne Zweifelsfragen zu sehen sind.
91 Dies unterscheidet das Verfahren auch von nationalen Begutachtungsverfahren, bei denen seit geraumer Zeit jedenfalls in Österreich nicht bloß der Ministerialentwurf im Netz von der Homepage des jeweiligen Ministeriums abrufbar ist, sondern auch alle Stellungnahmen dazu. 92 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 51. 93 S. dazu Vorauflage § 20 Rn. 7. 94 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 50. Kalss
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f) Die Vorbereitungs- und Beratungsunterlagen von ESMA sind Unterlagen einer 38 Einrichtung, die vor allem vollziehende Aufgaben hat, immer mehr aber in den regulatorisch- regulativen Bereich hineinwirkt. Die Unterlagen stellen in zweifacher Weise Auslegungshilfen dar; sie spiegeln einerseits die Meinung der Behörde wider, andererseits die Weisung des Normgebers. g) Die Durchführungsrichtlinien sind von unterschiedlichem Determinierungs- 39 grad; zum Teil wiederholen sie faktisch den Text der Rahmenrichtlinien, die ihrerseits schon sehr – zum Teil zu – detailliert sind,95 zum Teil sind sie derart gestaltet, dass sie beispielhaft aufzählen, was unter bestimmten Formulierungen der Rahmenrichtlinie zu verstehen ist. Als Beispiel sei etwa der Begriff der berechtigten Interessen gem. Art. 1 bzw. 2 der Marktmissbrauchsrichtlinie im Rahmen der Ad-hoc-Publizität genannt, die den Emittenten berechtigen, eine Insiderinformation nicht sofort zu veröffentlichen. Aus der zusätzlichen Ebene auf europäischer Ebene ergibt sich für den nationalen Gesetzgeber eine neue Form der Umsetzung. Wegen des weiter fortgeschrittenen Determinierungsgrades der Durchführungsbestimmungen verbleibt für den nationalen Gesetzgeber vielfach – abgesehen von ausdrücklichen Regelungsermächtigungen bzw. Aufträgen96 – beinahe kein Regelungsspielraum. Die nationalen – etwa der österreichische – Gesetzgeber begnügen sich vielfach mit der wortwörtlichen Übernahme der europäischen Normtexte, ohne auf den nationalen Kontext einzugehen, d. h. ohne die Systematik der nationalen Gesetze, die Terminologie des nationalen Rechts, den bisherigen Regelungsbestand und das sonstige Regelungsumfeld in angemessener Weise zu berücksichtigen.97 Dies führt dazu, dass die nationalen Regelungen, die zum Teil tatsächlich bloße Abschreibübungen der europäischen Durchführungsnormen sind, bisweilen für das nationale Recht „überschießend“ sind und daher jeweils den nationalen Gegebenheiten entsprechend einschränkend interpretiert werden müssen. Die Besonderheit liegt dabei nicht in der Art der Interpretationstechnik, vielmehr in der unangemessenen Umsetzung, die zum Teil auch durch die mehrstufige Regelungstechnik gefördert wird. Gerade diese Mehrstufigkeit des europäischen Normsetzungsprozesses führt dazu, dass von nationaler Seite ein anderer Maßstab für das Determinierungsgebot, die Übersetzung in nationales Recht und die Auslegung der Normen anerkannt wird, wie sich bei der Marktmissbrauchsrichtlinie oder bei MiFID98 zeigt. Die mehrstufige Regelung und der hohe De
95 Krit. Ferrarini, ECLR 2005, 19, 27 ff.; s. ferner Möllers, AcP 208 (2008), 480, 487 f.; Schädle, Exekutive Normsetzung in der Finanzmarktaufsicht (2006), S. 130. 96 Vgl. etwa Art. 6 der MarktmissbrauchsRL bezogen auf den Zeitpunkt der Mitteilung einer aufgeschobenen Ad-hoc-Publizität gegenüber der Aufsichtsbehörde. 97 Vgl. krit. Kalss/Oppitz/Zollner, Österreichisches Kapitalmarktrecht, § 14 Rn. 32. 98 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der
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terminierungsgrad sollen auch die Rechtssicherheit für die Marktteilnehmer erhöhen, was wiederum auf die Auslegung rückwirkt.99 40 Schließlich sind die allgemeinen Entwürfe der Kommission, insbesondere die Begründungserwägungen zu nennen, die zur Ermittlung des historischen Willens des Regelgebers herangezogen werden können.100 Commission Staff Working Paper geben wiederum Überlegungen der Kommission für die Erarbeitung und Verabschiedung von Rahmen- oder Durchführungsrechtsakten wieder.101
6. Exkurs: Internationale Rechnungslegungsstandards 41 Das Zusammenwachsen der Kapitalmärkte sowie die Internationalisierung der Wirt-
schaft verlangen nach einheitlichen internationalen Rechnungslegungsstandards.102 Da die Rechnungslegungsvorschriften vielfach die Basis für kapitalmarktrechtliche Regelungen bilden (z. B. Prospektrecht, Jahresfinanzberichterstattung), sei in wenigen Stichworten auf die besondere Regelungstechnik und damit einhergehend Auslegung von Rechnungslegungsbestimmungen eingegangen. Auf europäischer Ebene verpflichtet die IAS-VO103 seit 2005 Gesellschaften, die dem Recht eines Mitgliedstaates unterliegen und deren Wertpapiere in einem Mitgliedstaat zum Handel in einem geregelten Markt104 zugelassen sind, ihre konsolidierten Abschlüsse nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufzustellen (Art. 4). Art. 5 IAS-VO berechtigt Mitgliedstaaten zu gestatten oder vorzuschreiben, dass Gesellschaften im Sinne des Art. 4 auch ihre Jahresabschlüsse, Gesellschaften, die nicht solche im Sinne des Art. 4 sind, ihre konsolidierten Abschlüsse und/oder ihre Jahresabschlüsse nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufstellen.105
Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. 99 EuGH v. 28.6.2012 – Rs. C-19/11 Geltl ./. Daimler, EU:C:2012:397. 100 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 48. 101 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 49; s. etwa Kommission, Commisson Staff Working Paper, Impact Assessment, SEC(2011) 1279 endg zur TransparenzRL. 102 Vgl. ausführlich Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 23 ff. 103 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1. 104 Im Sinne des Art. 1 Abs. 13 der Richtlinie 93/22/EWG des Rates v. 10.5.1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. 1993 L 141/27. 105 Art. 9 der IAS-VO enthält Übergangsbestimmungen, wonach Mitgliedstaaten in Abweichung von Art. 4 vorsehen können, dass Art. 4 für Gesellschaften, von denen lediglich Schuldtitel zum Handel in einem geregelten Markt eines Mitgliedstaats zugelassen sind oder deren Wertpapiere zum öffentlichen Handel in einem Nichtmitgliedstaat zugelassen sind und die zu diesem Zweck seit einem Geschäftsjahr, das vor der Veröffentlichung der IAS-VO im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften begann,
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Die einzelnen Mitgliedstaaten haben von dem ihnen in Art. 5 IAS-VO eingeräum- 42 ten Wahlrecht unterschiedlich Gebrauch gemacht.106 Der deutsche und österreichische Gesetzgeber haben sich dazu entschlossen nicht von Art. 4 IAS-VO erfassten Unternehmen die Wahl zu überlassen, ob sie ihren Konzernabschluss nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufstellen oder nicht (§ 315a Abs. 3 HGB, § 245a Abs. 2 öUGB).107 Eine Verpflichtung zur Aufstellung des Konzernabschlusses nach internationalen Rechnungslegungsstandards besteht nach § 315a Abs. 2 HGB allerdings für Mutterunternehmen, wenn für sie bis zum jeweiligen Bilanzstichtag die Zulassung eines Wertpapiers im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 WpHG zum Handel an einem organisierten Markt im Sinne des § 2 Abs. 5 WpHG im Inland beantragt worden ist.108 Das nationale Rechnungslegungsrecht ist daher durch eine Zweiteilung geprägt, nämlich einerseits IAS/IFRS und andererseits HGB/UGB. Die IAS-Verordnung bezeichnet als internationale Rechnungslegungsstandards 43 die International Accounting Standards (IAS), die International Financial Reporting Standards (IFRS) und damit verbundene Auslegungen (SIC109/IFRIC110-Interpretationen),111 spätere Änderungen dieser Standards und damit verbundene Auslegungen sowie künftige Standards und damit verbundene Auslegungen, die vom International Accounting Standards Board (IASB)112 herausgegeben oder angenommen wurden (Art. 2 IAS-VO). IAS und IFRS enthalten die internationalen Rechnungslegungs-
international anerkannte Standards anwenden, erst für die Geschäftsjahre Anwendung findet, die am oder nach dem 1.1.2007 beginnen. 106 Vgl. die Übersichtstabelle bei Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/ IFRS (6. Aufl. 2009), S. 108. 107 Vgl. zu dieser Rechtstechnik Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 169 ff. mwN; Kalss/Schauer/Winner, Allgemeines Unternehmensrecht, Rn. 7/57 f. 108 Vgl. zum Einbezug durch Verweisung Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 175. 109 Standing Interpretations Committee. Das SIC setzte sich überwiegend aus Wirtschaftsprüfern der großen internationalen Prüfungsgesellschaften zusammen (vgl. Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS [6. Aufl. 2009], S. 71). 110 International Financial Reporting Interpretations Committee. Das IFRIC ist das Nachfolgeorgan des SIC und setzt sich überwiegend aus erfahrenen Fachleuten mit einer insgesamt breiten geographischen Ausrichtung aus den technischen Grundsatzabteilungen internationaler Prüfungsgesellschaften und dem Finanz- und Rechnungswesen der Wirtschaft sowie auch aus Erstellern und Nutzern von Jahresabschlüssen zusammen (vgl. Kleekämper/Kuhlewind/Alvarez, in: Baetge u. a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (22. EL 2013), Kapitel I Rn. 62 ff.; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 73). 111 Kleekämper/Kuhlewind/Alvarez, in: Baetge u. a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (22. EL 2013) Kapitel I Rn. 62 ff.; Lüdenbach/Hoffmann, IFRS-Kommentar (18. Aufl. 2020), S. 41 ff. 112 Zum IASB vgl. Kleekämper/Kuhlewind/Alvarez, in: Baetge u. a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (2. Aufl.), Kapitel I Rn. 20 ff.; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/ IFRS (6. Aufl. 2009), S. 69 ff.
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bestimmungen,113 die SIC/IFRIC-Interpretationen stellen weitere Regelungen zur Auslegung der einzelnen Standards dar. Die Zusammensetzung von SIC/IFRIC114 bringt es mit sich, dass Interessenvertreter das maßgebliche Verständnis derartiger Standards vorgeben. 44 Die EU-Kommission beschließt nach dem in Art. 6 Abs. 2 IAS-VO geregelten Verfahren über die Anwendbarkeit von internationalen Rechnungslegungsstandards in der Gemeinschaft (Art. 3 Abs. 1 IAS-VO). Der Anerkennungsprozess auf europäischer Ebene wird als endorsement bezeichnet.115 In einem ersten Schritt setzt sich die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG)116 mit dem Standard oder der Interpretation auseinander und gibt eine Empfehlung für oder gegen die Anerkennung ab.117 Daran anschließend erfolgt eine Prüfung durch die Standards Advice Review Group (SARG).118 Auf der Grundlage der Empfehlung der EFRAG erstellt die Europäische Kommission einen Vorschlag, über den wiederum der Regelungsausschuss für Rechnungslegung (Accounting Regulatory Committee, ARC) abstimmt. Zuletzt haben der Rat und das Europäische Parlament über den Kommissionsvorschlag zu entscheiden.119 Die internationalen Rechnungslegungsstandards können nur dann übernommen werden, wenn sie dem Prinzip von Art. 2 Abs. 3 Bilanzrichtlinie120 und von Art. 16 Abs. 3 Konzernabschlussrichtlinie121 nicht zuwiderlaufen sowie dem europäischen öffentlichen Interesse entsprechen und den Kriterien der Verständlichkeit, Erheblichkeit, Verlässlichkeit und Vergleichbarkeit genügen, die Finanzinformationen erfüllen müssen, um wirtschaftliche Entscheidungen und die Bewertung der Leistung einer Unternehmensleitung zu ermöglichen (Art. 3 Abs. 2 IAS-VO). Nach Art. 2 Abs. 3 Bilanzrichtlinie hat der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln. Art. 16 Abs. 3 Konzernabschlussrichtlinie normiert in ähnlicher Weise, dass der kon-
113 Zum Aufbau der Standards vgl. nur Adler/Düring/Schmalz, Rechnungslegung nach Internationalen Standards (7. EL 2011), Abschnitt 1 Rn. 8. 114 Siehe Fn. 70. 115 Kritisch diesem Verfahren gegenüber Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 177 f. 116 http://www.efrag.org. 117 Nicht zu unterschätzen sind dabei Rückkoppelungen zwischen den einzelnen SachverständigenGruppen, die die Regelungen noch verzerren können. 118 http://ec.europa.eu/internal_market/accounting/committees/sarg_de.htm. 119 Näher zum Anerkennungsprozess in der EU vgl. Wollmert/Oser/Molzahn, in: Baetge u. a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (22. EL 2013), Kapitel III Rn. 62 ff.; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 107 ff. 120 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/11. 121 Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluß, ABl. 1983 L 193/1.
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III. Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts
solidierte Abschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesamtheit der in die Konsolidierung einbezogenen Unternehmen zu vermitteln hat. Übernommene internationale Rechnungslegungsstandards werden als Kommissionsverordnung vollständig in allen Amtssprachen der Union im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht (Art. 3 Abs. 4 IASVO). Der Anerkennungsprozess ist kein schlichtes Durchwinken, was sich daran zeigt, dass beispielsweise der Standard IAS 39 (Finanzinstrumente: Ansatz und Bewertung) erst nach Änderungen anerkannt wurde.122 Bei der Durchsetzung internationaler Rechnungslegungsstandards kommt auf 45 Ebene der EU – wiederum ESMA – eine wichtige Funktion zu. ESMA beschäftigt sich mit Grundsätzen und der Koordination der Durchsetzung der Rechnungslegung.123 Internationale Rechnungslegungsstandards sind auch dann verbindlich, wenn 46 sie zwischen Vertragsparteien, z. B. zwischen Verkäufer und Käufer eines Unternehmens, zum Zweck der Wertermittlung vertraglich vereinbart werden.124 Das Nebeneinander von in einem aufwendigen Verfahren unter Einbeziehung 47 zahlreicher Organisationen gewonnener Standards sowie von Auslegungen bringt es mit sich, dass sich bei Anwendung der internationalen Rechnungslegungsstandards ähnliche Anwendungs- und Auslegungsfragen wie bei den im Rahmen des neuen kapitalmarktrechtlichen Normsetzungsverfahrens geschaffenen Regelungen stellen. Die Rechtssetzung ist im Rechnungslegungsrecht noch stärker von Praktikern und betroffenen Kreisen geprägt und initiiert als im Kapitalmarktrecht.
III. Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts Die Bedeutung von Effizienz als Interpretationsleitlinie des Kapitalmarktrechts wurde 48 bereits ausgeführt (oben Rn. 1).125 Das Kapitalmarktrecht ist in besonderer Weise offen für ökonomische Überlegungen. Der Grund liegt darin, dass effiziente Gestaltung als Regelungsziel an mehreren Stellen der Regelungen genannt wird. Die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktrechts gehört zu den traditionellen Zielbestimmungen jeder kapitalmarktrechtlichen Norm auf europäischer Ebene.126 Das Regelungsziel der Markt-
122 Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 111 f. 123 Wollmert/Oser/Molzahn, in: Baetge u. a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (22. EL 2013), Kapitel III Rn. 76; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 121; vgl. auch CESR Standard No. 2 on Financial Information – Coordination of Enforcement Activities, April 2004. 124 Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 168. 125 Vgl. dazu Franck, in diesem Band, § 5 Rn. 1 ff. 126 Möllers, AcP 208 (2008), 1, 7; Fleischer/Zimmer, in: dies. (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2007), S. 18 f.
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effizienz findet sich geradezu routinemäßig in den Begründungserwägungen der einschlägigen Richtlinien und Verordnungen.127 Folgende Beispiele seien genannt: Nach der Transparenzrichtlinie128 ist die Effizienz Regelungsziel, zumal transparente und integrierte Wertpapiermärkte zu einem echten Binnenmarkt in der Gemeinschaft beitragen und eine bessere Kapitalallokation und eine Senkung der Kurskosten ermöglichen. Die Markteffizienz greift auch die Prospektrichtlinie129 auf, wonach die Information die Markteffizienz sicherzustellen habe. Die Marktmissbrauchsrichtlinie130 will wiederum ebenfalls den effizienten Finanzmarkt sicherstellen. Das Kapitalmarktrecht beruht auf der Markteffizienzhypothese,131 wobei deren maßgeblicher Angelpunkt die Informationseffizienz ist. Kapitalmarktrechtliche Regelungen sind somit ganz auf die Sicherung dieser Informationseffizienz und Sicherung der Funktionsfähigkeit auszulegen. Zivile, öffentlich-rechtliche und strafrechtliche Rechtsfolgen sind unter ökonomischen Regelungen zu beurteilen und zu bewerten.132
IV. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie 1. Öffentliches – Privates Recht 49 Kapitalmarktrecht bildet – wie bereits erwähnt (oben Rn. 1) – eine Gemengelage und
eine Querschnittsmaterie aus einer Vielzahl unterschiedlicher Rechtsbereiche, die nach traditioneller Sichtweise einerseits eher dem öffentlichen (regulativen) Recht, andererseits eher dem Privatrecht zugeschlagen werden.133 Primärrecht134 und Sekundärrecht greifen ineinander. Elemente finden sich aus dem Verwaltungsrecht, dem
127 Hellgardt, in: Baum u. a. (Hrsg.), Perspektiven des Wirtschaftsrechts, Beiträge für Klaus J. Hopt aus Anlass seiner Emeritierung (2008), S. 397, 402 ff.; Klöhn, in: Langenbucher (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, § 6 Rn. 13. 128 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/ EG. 129 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG. 130 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch). 131 Fleischer/Zimmer, in: dies. (Hrsg.), Effizienz und Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 19. 132 Möllers, AcP 208 (2008), 1, 35. 133 Vgl. zu dieser Teilung Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 1 ff. 134 S. dazu vor allem Riesenhuber, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 23.
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Wirtschaftsverwaltungsrecht, dem Zivilrecht und dem Gesellschaftsrecht.135 Bei einem Vergleich einzelner Regelungsinstitute ist stets darauf zu achten, dass die Steuerungsinstrumente Privatrecht und Öffentliches Recht in unterschiedlichem Maß eingesetzt werden.136 Besonders deutlich wird dies nicht nur im Bereich der Festlegung von Rechten und Pflichten und deren tatbestandsmäßiger Abgrenzung, sondern auch bei Sanktionierung dieser Pflichten.137 Nicht zufällig spricht man in einzelnen Regelungsbereichen von der Zwitter- oder Mehrfachstellung einzelner Normen und Instrumente. Die Herausbildung eines feinmaschigen Systems aus öffentlich-rechtlichen und 50 privatrechtlichen Sanktionsmechanismen ist Ausdruck des effet utile Grundsatzes.138 Demnach haben Mitgliedstaaten Vorsorge zu treffen, die effektive Zielerreichung von europarechtlichen Normen des Kapitalmarktrechts zu sichern.139 Alleine die privatrechtliche Durchsetzung käme vor allem in jenen Sachverhalten zu kurz, in denen der Anreiz Privater diese Normen durchzusetzen gering ist, etwa weil die Beweislage schwierig ist oder der Schaden auf viele Geschädigte aufgeteilt und damit für jeden Einzelnen gering ist.140 In solchen Fällen ist es geradezu erforderlich, auch öffentlich-rechtliche Sanktionen vorzusehen, um das Europarecht effektiv durchzusetzen.141 Aber auch aus der europarechtskonformen Interpretation kann sich die Not- 51 wendigkeit zur gespaltenen Auslegung ergeben. So ist der Grøngaard und Bang Entscheidung des EuGH zu entnehmen, dass innerstaatliche Umsetzungsnormen so auszulegen sind, dass sie in ihrer Gesamtheit wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorsehen.142 Können diese Sanktionen weder durch Auslegung der strafrechtlichen Normen, noch, aufgrund des innerstaatlichen Analogieverbots, durch Rechtsfortbildung erreicht werden, so sind die privatrechtlichen Sanktionsmechanismen angesprochen, um dieses Effizienzdefizit auszugleichen.143
135 Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 391 ff.; Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 6 Rn. 12; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; Gruber, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und europäisches Wirtschaftsprivatrecht (1998), Teil IV, S. 10. 136 Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 391 ff. 137 Klöhn, in: Kalss/Fleischer/Vogt (Hrsg.), Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht in Deutschland, Österreich und Schweiz 2013, S. 229, 235; Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 12 Rn. 4 ff. 138 Poelzig, ZBB 2019, 1, 7. 139 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 57 f. 140 S. zum Erfordernis sowohl zivil- als auch strafrechtlicher Sanktionen Kalss/Oppitz, RdW 2011, 575, 575 f. 141 Cahn, FS 25 Jahre WpHG, S. 41, 42; Thaler, Sanktionen bei Marktmissbrauch – Marktmanipulation, Insiderhandel und Ad-hoc-Publizität, S. 19 ff. 142 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-384/02 Grøngaard und Bang, EU:C:2005:708; Cahn, FS 25 Jahre WpHG, S. 41, 47 ff. 143 Vgl. Veil, FS 25 Jahre WpHG, S. 41, 47 ff.
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Damit wird zugleich vermieden, dass durch starre Systematisierung in öffentliches und Privatrecht Widersprüche und Schutzlücken entstehen.144 52 Das Strafrecht steht weitergehenden zivilrechtlichen Ansprüchen nicht im Wege, sondern fördert diese sogar zum Teil, wie etwa durch Milderungs- und Strafaufhebungstatbestände.145 Aber auch die Möglichkeit eines Privatbeteiligtenanschlusses146 sowie die Schadenswiedergutmachung im Rahmen der Diversion147 zeigen, dass der (privatrechtliche) Ausgleich des Schadens dem Strafrecht nicht widerspricht und dieser vielmehr die strafrechtliche Sanktion ergänzt.
2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur 53 Wohlverhaltensregeln, somit die Informations- und Aufklärungspflichten von Wert-
papierfirmen gemäß Art. 19 MiFID; §§ 31 ff. WpHG; §§ 38 ff. Wertpapieraufsichtsgesetz (WAG) sind typische Beispiele von Regelungen mit doppelter Rechtsnatur, somit Bestimmungen, die aufsichtsrechtliche Pflichten regeln und zugleich funktionales Zivilrecht darstellen.148 Einerseits sind sie öffentlich-rechtliche, d. h. aufsichtsrechtliche Verhaltensnormen,149 zugleich sind sie aber auch Ausdruck des privatrechtlichen vertraglichen bzw. vorvertraglichen Schuldverhältnisses (Geschäftsbesorgungsvertrag als zentrales Verbindungsglied).150 Die MiFID trifft keine explizite Aussage zur Qualifikation der einzelnen Regelung als öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Norm.151 Nach österreichischem Verständnis war diese Doppelseitigkeit der Rechtsnatur der Wohlverhaltensregeln für das WAG 1996 eindeutig;152 es bestand nicht bloß
144 Kuntz, FS Schmidt, S. 765; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 11 ff. 145 So etwa der Milderungsgrund der Schadenswiedergutmachung in § 34 Abs. 1 Z 13 StGB, der Strafaufhebungsgrund der tätigen Reue in § 167 StGB, etc. 146 § 67 ff StPO. 147 § 204 StPO. 148 Baum, ÖBA 2013, 396; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 410 ff; Poelzig, ZBB 2019, 1, 3. 149 Baum, ÖBA 2013, 396, 399; Poelzig, ZBB 2019, 1, 3. 150 Zur Frage der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit über das WpHG/WAG hinausgehender zivilrechtlicher Pflichten Mülbert, WM 2007, 1149, 1157; ders., ZHR 172 (2008), 170, 183 ff.; Knobl/Janovsky, ZFR 2008, 68, 69 f. (verneinend); hingegen Assmann, ZBB 2008, 21, 30; Veil, ZBB 2008, 34, 41 ff. (bejahend); vgl. auch Graf, ZFR 2009/55, 82, 83 ff.; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 410 ff; Cahn, FS 25 Jahre WpHG, S. 41, 47 ff. 151 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 25 Rn. 11; Moloney, EC Securities Regulation (2. Aufl. 2009), S. 641. 152 Graf, ZFR 2009/55, 82, 84; Gruber, ecolex 2008, 7, 8 ff.; ders., in: Braumüller u. a. (Hrsg.), Von der MiFID zum WAG (2007), S. 83, 153; Oppitz, in: Apathy/Iro/Koziol (Hrsg.), Österreichisches Bankvertragsrecht (2. Aufl. 2007), VI Rn. 2/57 ff.; zur Rechtslage vor dem WAG 2007: Knobl, in: Frölichsthal u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Wertpapieraufsichtsgesetz (1998), § 11 Rn. 1 ff.; Knobl, ÖBA 1997, 3 ff.; Winternitz, Wertpapieraufsichtsgesetz (1998), § 11 Rn. 1; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194.
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eine Ausstrahlungswirkung; nach dem WAG 2007 wurde dies zum Teil weiterhin so gesehen.153, 154 Zum Teil wird nun für die einzelnen aufsichtsrechtlichen Pflichten differenziert: Die Qualifikation als Doppelnatur kann nur für Generalklauseln angenommen werden, nicht hingegen für konkrete Verhaltensanordnungen, die tief in das Detail gehen.155 Grundsätzlich kommt den konkreten öffentlich-rechtlichen Verhaltenspflichten daher kein vertraglicher Charakter zu, sondern entfalten sie nur eine Ausstrahlungswirkung auf privatrechtliche Rechtsverhältnisse. Ausstrahlung darf dabei nicht als neue Art der Auslegung verstanden werden, vielmehr wird damit nur die systematische Interpretation im Sinne einer arbeitsteiligen Rechtsordnung mit dem Ziel einer widerspruchsfreien Ordnung verstanden.156 Auch nach deutschem Recht wird vertreten, dass den Wohlverhaltensregelungen ausschließlich öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtlicher Charakter zukomme und die Durchsetzung ausschließlich Angelegenheit der Aufsichtsbehörde (BaFin) sei.157 Auch den §§ 31–37 WpHG n. F. wird primär aufsichtsrechtliche Qualität zugesprochen und sind sie nach einem Teil der Lehre ausschließlich öffentlich-rechtlicher Natur.158 Dafür wird insbesondere die Interpretationsbefugnis der BaFin gemäß § 35 WpHG sowie die allgemeine Zurechnung der Regelungen ins Treffen geführt. Jedenfalls sind die Wohlverhaltensregeln zwingender Natur und können nicht abbedungen werden.159 Zum Teil wird in der Literatur vertreten, dass die Regelungen eine Doppelnatur haben und sie sowohl Aufsichtsrecht und Zivilrecht darstellen.160 Ein Teil der Lehre vertritt hingegen die Auffassung, dass das Aufsichtsrecht auf das Zivilrecht bloß ausstrahlt, d. h., dass der Rechtsgedanke des Aufsichtsrechts ins Zivil- und Vertragsrecht transferiert wird und daher die Vertragsregelungen prägt, d. h. wiederum ist in systematischer Interpretati
153 Graf, in: Gruber/Raschauer (Hrsg.), WAG (2010), § 38 Rn. 48; Bauer/Zehetner, in: Gruber/Raschauer (Hrsg.), WAG (2010), § 29 Rn. 47. 154 Brandl/Klausberger, ZFR 2009/89, 131, 131 f.; dies., in: Brandl/Saria (Hrsg.), Praxiskommentar zum WAG (2. Aufl. 2015), § 38 Rn. 7 ff; Knobl/Janovsky, ZFR 2008, 68, 70; vgl. auch Winternitz/Aigner, Wertpapieraufsichtsgesetz 2007 (2007), S. 18. 155 Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 425 ff; Knobl/Grafenhofer, GesRZ 2010, 29. 156 Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 435; Baum, ÖBA 2013, 396, 406; Rothenhöfer, in: Baum u. a. (Hrsg.), Perspektiven des Wirtschaftsrechts, Beiträge für Klaus J. Hopt aus Anlass seiner Emeritierung (2008), S. 725 ff. 157 Bliesener, Aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten beim Wertpapierhandel (1998), S. 140 ff.; Baum, ÖBA 2013, 396, 399. 158 S. dazu Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz, vor §§ 31 ff Rn. 77; Baum, ÖBA 2013, 396, 396 ff. 159 Koller, in: Assmann/Schneider/Mülbert (Hrsg.), Wertpapierhandelsrecht, § 63 WpHG Rn. 2; Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz, vor §§ 31 ff Rn. 77. 160 Hirte/Möllers-Möllers, WpHG, § 31 Rn. 15; Benicke, Wertpapiervermögensverwaltung (2006), S. 467 ff.; Mülbert, WM 2007, 1149, 1157; Kumpan/Hellgardt, DB 2006, 1714, 1715; Möllers, AcP 207 (2007), 651, 655; Veil, WM 2007, 1821, 1825; Weichert/Wenninger, WM 2007, 627, 635; Einsele, JZ 2008, 477, 482 f.; a. A. Baum, ÖBA 2013, 396, 402 f.
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on ein möglichst widerspruchsfreier Rahmen der Pflichten zu ermitteln.161 Auf die zivilrechtlichen Ansprüche kann – trotz der Vorprägung durch das Aufsichtsrecht – auch verzichtet werden.162 54 Ein weiteres Beispiel für die Zwitter- bzw. Doppelstellung von kapitalmarktrechtlichen Regelungen bildet Art. 9 der Pensionsfonds-Richtlinie sowie § 19 Pensionskassengesetz (PKG) über die expliziten Informationspflichten des Arbeitgebers, die durch eine Verordnung der Finanzmarktaufsicht163 konkretisiert werden und unter diesem Aspekt klar als öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtliche Bestimmungen zu deuten sind. Bereits vor Inkraftsetzung dieser Regelungen und der Konkretisierungen durch die Aufsichtsbehörde wurde aber schon aus dem Vertrags- bzw. Schuldverhältnis der hohe Standard an Informations- und Aufklärungspflichten abgeleitet.164 Wiederum zeigt sich, dass hier allgemeine vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten in Gestalt besonderer Informations- und Aufklärungspflichten bestehen, die vertragsrechtlich zu sanktionieren sind, d. h. jedenfalls zu Haftungsansprüchen führen können, umgekehrt zugleich eine aufsichtsrechtliche Komponente den Pflichten innewohnt und deren Verletzung zu aufsichtsrechtlichen und auch verwaltungsstrafrechtlichen Maßnahmen berechtigt.
3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur 55 Die verschiedene Qualifikation der Wohlverhaltensregelungen hat – zum Teil – auch
unterschiedliche Auswirkungen auf das Verständnis der Wohlverhaltensregelungen, ihre unmittelbare Inanspruchnahmemöglichkeit durch den einzelnen Anleger und letztlich auch auf die Auslegung dieser Normen. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass das Aufsichtsrecht und das Privatrecht nicht auseinander laufen sollen;165 für die Sanktionierung sind die Wege aber verschieden. Inwieweit wirkt sich nun diese zweifache Rechtsnatur auf die Gestaltung der zivilrechtlichen Position einerseits bzw. auf die Auslegung der jeweiligen Bestimmungen der Wohlverhaltensregeln aus?
161 Vgl. Koller, in: Assmann/Schneider/Mülbert (Hrsg.), Wertpapierhandelsrecht, § 63 WpHG Rn. 2; Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz, vor §§ 31 ff Rn. 81 f f.; Baum, ÖBA 2013, 396, 405. 162 Koller, in: Assmann/Schneider/Mülbert (Hrsg.), Wertpapierhandelsrecht, § 63 WpHG Rn. 2. 163 Verordnung der Finanzmarktaufsichtsbehörde (FMA) über Inhalt und Gliederung der Information einer Pensionskasse an Anwartschaftsberechtigte, Leistungsberechtigte, Hinterbliebene oder Versicherte (Informationspflichtenverordnung Pensionskassen – InfoV-PK), öBGBl. II 424/2012, abrufbar unter www.fma.gv.at. 164 OGH, JBl. 2013, 393; OGH, ecolex 2003, 856 (ORF) sowie OGH v. 24.6.2004 – 8 ObA 52/03k (BACA). 165 Baum, ÖBA 2013, 396, 405. Kalss
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4. Vertragliche Regelungen Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen tatsächlich als Ausdruck der vertrag- 56 lichen und vorvertraglichen Pflichten, denen auch ein öffentlich-rechtlicher bzw. aufsichtsrechtlicher Charakter zukommt, sind sie jedenfalls als vertragsrechtliche Regelungen anzusehen und sind für den Zweck der Auslegung des Vertrags nach allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätzen auszulegen. Nach österreichischem Recht ist für die vertraglichen Regelungen vor allem § 914 ABGB anzuwenden, der seine Parallele in § 133 BGB hat, wonach der Wille der Vertragsparteien wesentliches Element der Auslegung darstellt.166 Wenn eine Regelung im Wortlaut der Vereinbarung keine Deckung mehr findet, ist auf die ergänzende Vertragsauslegung zurückzugreifen, d. h. es ist zu überlegen, was vernünftige Parteien – wären sie in Kenntnis der Situation – vereinbart hätten. Allein die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage kapitalmarktrechtliche Verhaltenspflichten in die privatrechtlichen Beziehungen Eingang finden können, ist nicht klar und für unterschiedliche Pflichten verschieden zu lösen.167 Betrachtet man die vertraglichen oder vorvertraglichen Pflichten hingegen unter 57 dem Brennglas des öffentlichen Rechts, ist auf sie der Kanon der Gesetzesinterpretation öffentlicher und insbesondere strafrechtlicher Normen anzuwenden. Maßgeblich ist nicht der Wille der Parteien, sondern allein der normative Gehalt der gesetzlichen Norm. Für dessen Ermittlung stehen die traditionellen öffentlich-rechtlichen Instrumente der Wortlautinterpretation, der historischen und systematischen Interpretation und mit gebotener Vorsicht auch der teleologischen Interpretation zur Verfügung. Allein aus der unterschiedlichen Zugänglichkeit der Interpretationstechniken können – in einzelnen Fällen – verschiedene Ergebnisse der Rechte- und Pflichtenkonkretisierung erzielt werden.
5. Schutzgesetzcharakter von Normen Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen gem. §§ 63 ff. WpHG als Schutzgesetze, 58 ändert sich der Auslegungsmodus: Nicht mehr vertragliche, sondern gesetzliche Normen gilt es zu interpretieren, sodass nicht das Repertoire der Vertragsauslegung, sondern jenes der Gesetzesauslegung heranzuziehen ist,168 woraus divergierende Ergebnisse bei der Ausfüllung der konkreten Pflicht möglich sind. Auch wenn es sich bei den einzelnen Pflichten um genuin europäische Normen handelt, ist die zivilrechtliche Beurteilung als Schutzgesetz nach nationalem Recht vorzunehmen.
166 Siehe nur Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Vonkilch, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2011), § 914 Rn. 138 ff.; Rummel, in: ders. (Hrsg.), ABGB (3. Aufl. 2000), § 914 ABGB Rn. 4. 167 Vgl. Kuntz, FS Schmidt, S. 774 ff. 168 Zum Verhältnis: Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Vonkilch, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2011), § 914 Rn. 8 f.
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Der BGH hat aber etwa § 31 Abs. 1 Nr. 2 WpHG a. F. jedenfalls zum Teil die Schutzgesetzqualität abgesprochen,169 in einem weiteren Urteil offengelassen.170 Bedeutender ist aber die Doppelqualifikation Schutzgesetz – öffentlich rechtliche Verhaltensnorm. Diese Parallele gilt auch bei anderen Schutzgesetzen im Rahmen kapitalmarktrechtlicher Regelungen. Beispiele für Schutzgesetze bilden etwa die Offenlegungspflichten für Emittenten nach dem österreichischen Börsegesetz (öBörseG), die in Umsetzung einzelner Richtlinien ergangen sind. Als Schutzgesetz genannt sei nach österreichischem Verständnis die Ad-hoc-Publizitätspflicht171 gem. Art 17 MAR und der die Offenlegung von Insiderinformationen, die einen Emittenten unmittelbar betreffen, anordnet. Nach deutschem Verständnis wird die Schutzgesetzqualifikation der Ad-hoc Publizität abgelehnt.172 Ein weiteres Beispiel für ein Schutzgesetz stellt etwa das Verbot der Marktmanipulation gem. Art 15 MAR dar173 sowie die Offenlegungspflicht der Stimmrechtsanteile durch einen Anleger gem. §§ 130 ff. öBörseG (Beteiligungspublizität – §§ 33 ff. WpHG).174 Die Schutzgesetze begründen im Regelfall kapitalmarktrechtliche Verhaltenspflichten, insbesondere Informations- und sonstige Pflichten von Emittenten oder deren Organe oder sonstigen Marktteilnehmern (Wertpapierdienstleistungsunternehmen), deren Verletzung in Österreich mit von der Finanzmarktaufsicht (FMA) zu verhängenden verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionen zu ahnden ist. In Deutschland hat die BaFin den Verstoß gegen die öffentlichrechtlichen Verhaltenspflichten mit der Verhängung von Bußgeldern zu sanktionieren. Die kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten stellen somit verwaltungsrechtliche Pflichten dar, die mit einer verwaltungsstrafrechtlichen Sanktion bzw. einem Bußgeld bewehrt sind. Ob allein bereits aus der leicht fahrlässigen Verletzung einer konkreten kapitalmarktrechtlichen Norm die zivilrechtliche Haftung wegen Schutzgesetzverletzung folgt, ist nicht zwingend, sondern hängt von der übertretenen Norm ab, nämlich ob sie auch subjektive Elemente enthält.175
169 BGH, ZBB 2007, 193, 195. 170 BGH, WM 2007, 487–489. 171 Kalss/Oppitz/U. Torgler/Winner-Kalss/Hasenauer, BörseG/MAR, Art 17 MAR Rn. 119; zur bisherigen Rechtslage s. OGH, GesRZ 2012, 252; Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 19 Rn. 12; Kalss/ Oppitz, in: Hopt/Voigt (Hrsg.), Prospekthaftung und Kapitalmarktinformationshaftung (2004), S. 857; ferner Rüffler, ÖBA 2009, 724, 726 f.; a. A. nunmehr Enzinger, FS Straube (2009), S. 19, 24 ff. 172 Vgl. Schwark/Zimmer-Zimmer/Steinhäuser, Kapitalmarktrechts-Kommentar, § 98 Rn. 123 ff; Pfüller, in: Fuchs (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz, § 15 Rn. 532; Hirte/Möllers-Hirte, WpHG, §§ 37b, c Rn. 10, der individualschutzrechtliche Aspekt folgt aus § 37b WpHG. 173 Kalss/Oppitz/U. Torgler/Winner-Oppitz, BörseG/MAR, Art 15 MAR Rn. 1 ff; zur bisherigen Rechtslage s. OGH, GesRZ 2012, 252; Oppitz, ÖBA 2005, 169–184; Kalss/Puck, in: Aicher/Kalss/Oppitz (Hrsg.), Grundfragen des neuen Börsenrechts (1998), S. 358; Altendorfer, in: Aicher/Kalss/Oppitz (Hrsg.), Grundfragen des neuen Börsenrechts (1998), S. 234. 174 Kalss/Oppitz/U. Torgler/Winner-Edelmann/Winner, BörseG/MAR, § 130 Rn. 131; Kalss/Oppitz/ Zollner, Kapitalmarktrecht, § 19 Rn. 40, 42; Kalss, ÖBA 1993, 918; dies./Zollner, ÖBA 2007, 884, 900. 175 Vgl. dazu Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 376.
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IV. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie
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6. Gespaltene Interpretation Der Zwitterstellung der kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten (Schutzgesetz – 59 öffentlich-rechtliche Pflicht) ist bei der Auslegung dadurch Rechnung zu tragen, dass sie weder zur Gänze den allgemeinen zivilrechtlichen Auslegungsgrundsätzen unterliegen, noch allein der regelmäßig engeren Auslegung nach dem öffentlichen Recht. So ist etwa das im Verwaltungsstrafrecht geltende Analogieverbot nicht auf die zivilrechtliche Auslegung zu übernehmen (vgl. Art. 103 GG).176 Vielmehr ist – ähnlich wie etwa im Kartellrecht177 – von einer gespaltenen oder mehrspurigen Gesetzesauslegung auszugehen.178 Ein und dieselbe Norm kann nach den zivil- oder strafrechtlichen Auslegungsregeln interpretiert werden. Der EuGH hat zwar ausgesprochen, dass ein und dieselbe Norm über die Anwendung der Bestimmung von Zivil- und Strafgerichten einheitlich auszulegen seien,179 eine generelle Ablehnung gespaltener Interpretation ist darin aber nicht zu sehen,180 vielmehr hat sich diese Frage dem EuGH konkret gar nicht gestellt. Dies bedeutet etwa, dass die Auslegung der zivilrechtlichen Verhaltenspflichten dem allgemeinen Bürgerlichen Recht folgt, soweit es um die Auslotung des Schutzgesetzes als Grundlage der Beurteilung von Haftungsfolgen geht. Unter dem Gesichtspunkt der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung gelten die für das Verwaltungsstrafrecht geltenden methodologischen Restriktionen. Insbesondere bedeutet dies, dass die Methodenbeschränkung des Verbots der Analogie und einer extensiven Interpretation innerhalb der äußersten Wortlautgrenze zu Lasten des Täters zu berücksichtigen ist.181 Während für die Interpretation der verwaltungsstrafrechtlich sanktionierten Verhaltenspflichten somit im Lichte des öffentlichrechtlich aufsichtsrechtlichen Regimes das Analogieverbot ebenso wie die Grenze des äußerten möglichen Wortsinns zu beachten sind, gelten diese Auslegungsgrundsätze nicht für die zivilrechtliche Pflicht einschließlich ihrer Absicherung durch Haftungsansprüche. Die Auslegung der zivilrechtlich abgesicherten Verhaltenspflichten folgt den bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen, insbesondere können auffüllungsbedürftige Gesetzeslücken durch Analogie beseitigt werden. Pflichten, die die Wohlverhaltens-
176 Vgl. nur Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht (8. Aufl. 2003), Rn. 731; Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 6 Rn. 8; Cahn, FS 25 Jahre WpHG, S. 41, 43 ff; Poelzig, ZBB 2019, 1, 5 ff. 177 Vgl. nur Koppensteiner, Österreichisches und Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 1997), Rn. 8 ff. 178 Cahn, FS 25 Jahre WpHG, S. 41, 41 ff; Cahn, ZHR 1998, 1, 8 f.; Grundmann, in: Ebenroth u. a. (Hrsg.), Handelsgesetzbuch (3. Aufl. 2015), Rn. VI 32; a. A. etwa Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz, Einl. Rn. 106 mwN. 179 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-384/02 Grøngaard und Bang, EU:C:2005:708 Rn. 28. 180 So Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 6 Rn. 9; Cahn, in: FS 25 Jahre WpHG, 41, 43 ff. 181 Siehe nur Leukauf/Steininger, Kommentar zum StGB (4. Aufl. 2017), § 1 Rn. 7 ff; Kienapfel, ÖJZ 1986, 338 ff.; OGH, EvBl 1975/268, OGH, EvBl 1976/278.
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regeln widerspiegeln, können daher vor allem nach österreichischem Verständnis durch analoge Anwendung ausgedehnt werden. Die Zulässigkeit der analogen Anwendung beschränkt sich nicht nur auf die unmittelbaren kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten, sondern schließt auch deren zivilrechtliche Absicherung durch Haftung ein.182 Die durch ausdehnende Interpretation oder durch Analogie gewonnene Verhaltenspflicht kann daher ebenso wie die ausdrücklich normierte Norm als Schutzgesetz i. S. v. § 1311 ABGB (§ 823 BGB) qualifiziert werden, sodass insbesondere auch die Verletzung der über den Gesetzeswortlaut hinausgehenden Pflichten eine Haftung auslösen kann.183 Für die deliktische Schutzgesetzhaftung können daher auch Straftatbestände, insbesondere auch Verwaltungsstraftatbestände, durch Analogie erweitert werden.184 Das Analogieverbot beschränkt sich unmittelbar auf die Verhängung der Strafsanktion. Für den deliktischen, d. h. zivilrechtlichen Bereich, besteht aber kein Anlass, die auch sonst zulässige Analogie zu verbieten, weil durch die sekundäre deliktische Anknüpfung der strafrechtliche Anwendungsbereich nicht berührt wird.185 Vom Straftatbestand wird nur die Verhaltenspflicht übernommen, der strafrechtliche Eingriff wird aber in das Zivilrecht nicht transferiert. Wegen Fehlens dieses Eingriffscharakters bedarf es im Zivilrecht nicht dieser engen wortlautabhängigen Auslegung. 60 Beispiele für die Notwendigkeit derart gespaltener Gesetzesauslegungen bilden etwa die Herstellung einer parallelen Frist für die Mitteilung an die Aufsichtsbehörde und die Offenlegung gegenüber dem Publikum von directors’ dealings-Geschäften gemäß Art 19 MAR (Geschäfte von Führungskräften mit Aktien der eigenen Gesellschaft).186 Als weiteres Beispiel wird in der Literatur die analoge Anwendung von § 25 WpHG auf Cash Settled Equity Swaps angeführt,187 d. h. die Anwendung der Mitteilungspflichten von Aktionären gegenüber der Gesellschaft und dem Markt, obwohl der Wortlaut die Gestaltung nicht erfasst, der Regelungszweck aber dafür spricht.188
182 Cahn, ZHR 1998, 1, 8 f. 183 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 218 f.; s. ferner Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 9. 184 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 218; Dellinger, ÖBA 1989, 1124; Dellinger, Vorstandshaftung und Geschäftsführerhaftung im Insolvenzfall insbesondere gegenüber sogenannten Neugläubigern (1989), S. 105 f.; Schmiedel, Deliktsobligationen nach deutschem Kartellrecht, Erster Teil (1974), S. 239 f.; U.H. Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 1, 9; Grundmann, in: Ebenroth u. a. (Hrsg.), Handelsgesetzbuch (3. Aufl. 2015), Rn. VI 32; a. A. JauernigTeichmann, § 823 BGB Rn. 46; Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz, Einl. Rn. 106 mwN. 185 Schmiedel, Deliktsobligationen (1974), S. 240; Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 219; U.H. Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 1, 9. 186 Kalss/Oppitz/U. Torgler/Winner-Kalss/Hasenauer, BörseG/MAR, Art 19 MAR Rn. 83 ff, 114; Kalss/ Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 18 Rn. 48; Kalss/Zollner, GeS 2005, S. 113 f. 187 U.H. Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 1, 7. 188 Ein Cash Settled Equity Swap ist eine Gestaltung, bei der dem Stillhalter ein Vollrecht eingeräumt wird, zum Fälligkeits-/Verfallszeitpunkt seine Leistungspflicht entweder durch Lieferung von Aktien oder durch die Zahlung eines Barausgleichs zu erfüllen.
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V. Resümee
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Allein eine Bestrafung der gemeinsam vorgehenden, aber nicht offen legenden Veräußerer wird an den Grenzen des Wortlauts scheitern. Sollte aber einem Anleger bzw. der Gesellschaft daraus ein Schaden entstehen, könnte ein Schadenersatz auf die Verletzung der Offenlegungspflicht gestützt werden.
V. Resümee Das europäische Kapitalmarktrecht stellt den Rechtsanwender mit seiner neuen mehrschichtigen Regelungstechnik bei Anwendung und Auslegung europäischer wie nationaler Normen vor schwierige Aufgaben. Wegen der Fülle des Materials, der verschiedenen Ebenen und Qualifikation der Normen, die unterschiedliche Bedeutung einzelner Auslegungshilfen und des Auslegungsprozederes müssen sich Markt- und Rechtsanwender vielfältigen Fragen der Interpretation stellen. Die Auslegung kapitalmarktrechtlicher Normen verlangt eine tiefgehende Einbeziehung ökonomischer Überlegungen, um dem gesetzgeberischen Willen der Effizienzsteigerung gerecht zu werden. Dem querschnitthaften Charakter des Kapitalmarktrechts soll durch die Anerkennung der unterschiedlichen Provenienz der Regelungen in der Auslegung Rechnung getragen werden, wobei aber dennoch die Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu wahren oder jedenfalls anzustreben ist. Rechnungslegung bildet eine maßgebliche Basis des Kapitalmarktrechts, insbesondere des Informationsrechts. Das besondere Zusammenspiel von privater und hoheitlicher Normgebung begründet eine Vielzahl von Fragen auch für die Auslegung und das Verständnis der neuen Regelungen.
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§ 19 Europäisches Kartellrecht Literatur: Josef Drexl, Europäisierung und Ökonomisierung des deutschen Kartellrechts, in: Klaus J. Hopt/Dimitris Tzuganatos (Hrsg.), Europäisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts (2006), S. 223– 264; David Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe: Protecting Prometheus (2001); Giorgio Monti, EC Competition Law (2007); Ernst-Joachim Mestmäcker/Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 2014).
Systematische Übersicht I.
II.
Die Quellen des EU-Kartellrechts 3–11 1. Primärrecht 4–5 2. Sekundärrecht 6–9 a) Die Kartellverordnung 7 b) Gruppenfreistellungsverordnungen 8 c) Die Fusionskontrollverordnung 9 3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission 10–11 Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen 12–29 1. Autonome Begrifflichkeit 15–17 2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung 18–22 3. Das Verhältnis der europäischen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot 23–26 4. Die Rolle der europäischen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen
Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? 27–29 III. Die Ausstrahlung des EU-Kartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht 30–39 1. Vorrang des EU-Kartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts 31–33 2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts 34–38 a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeglichener GWB-Normen 35–36 b) Vorlagemöglichkeit? 37–38 3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht 39
Das europäische Kartellrecht genießt den Status einer weitgehend verselbständigten 1 Materie, deren Behandlung vorwiegend auf den Kreis einschlägig ausgewiesener Wissenschaftler, Anwälte und Beamten der Kommission sowie nationaler Kartellbehörden beschränkt bleibt. Zeitschriften,1 Vereinigungen und periodische Diskussions-
1 Einen Schwerpunkt im europäischen Kartellrecht haben insbesondere die folgenden Zeitschriften: Concurrences (Revue des droits de la concurrence), Competition Policy International (CPI), European Competition Law Review (ECLR), Journal of Competition Law & Economics (JCLE), European Competition Journal (ECJ), Journal of European Competition Law & Practice (JECLAP), Neue Zeitschrift für Kartellrecht (NZKart), Zeitschrift für Wettbewerbsrecht (ZWeR), Wirtschaft und Wettbewerb (WuW) und World Competition (World Comp). Ackermann https://doi.org/10.1515/9783110614305-019
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foren,2 reichlich vorhandene Handbücher und Kommentare,3 die sich exklusiv den in diesem Bereich auftretenden Rechtsfragen widmen, sind äußere Zeichen für das Vorliegen einer juristischen Subdisziplin, die, wiewohl unter dem Dach des Europarechts zu Hause und in letzter Instanz auf die Rechtsprechung nicht spezialisierter Richter des EuGH angewiesen, seit langem ein Eigenleben führt. Dazu hat zweifellos beigetragen, dass die Durchdringung des Dickichts primär- und v. a. sekundärrechtlicher Wettbewerbsregeln und der sie überwuchernden Praxis schon wegen des dafür erforderlichen zeitlichen Aufwands ein Expertentum fordert. 2 Aber darum geht es nicht allein: Die Auseinandersetzung mit Fragen des europäischen Kartellrechts zeichnet sich auch durch eine besondere Herangehensweise aus, die ihrerseits auf Besonderheiten des Gegenstands zurückgeht. Hierzu gehört zunächst die – allen Kartellrechten gemeinsame – Ausrichtung auf einen ökonomischen Zweck, nämlich die Ermöglichung und Aufrechterhaltung des Wettbewerbs auf Märkten, sodann die – nur dem europäischen Kartellrecht eigene – Zugehörigkeit der Wettbewerbsregeln zu den konstitutionellen Merkmalen einer supranationalen Institution. Was folgt aus diesem Befund für die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen? Wie strahlt die daraus entwickelte Wettbewerbsordnung für den Binnenmarkt auf die Kartellrechte der Mitgliedstaaten aus? Nach einer Bestandsaufnahme der Quellen des EUKartellrechts, welche die besonderen Schwierigkeiten der Rechts„findung“ und -anwendung in diesem Bereich offen legt, sei diesen Fragen nachgegangen. Ihre Beantwortung hat das Ziel, den Leser, dessen juristische Arbeitstechnik an Gegenständen des deutschen Rechts geschult ist, für die Eigenheiten des Umgangs mit den europäischen Wettbewerbsregeln zu sensibilisieren.
2 In Deutschland zeichnen sich das Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e. V. (FIW) sowie die Studienvereinigung Kartellrecht e.V. durch regelmäßige Veranstaltungen und Publikationen aus; auf internationaler Ebene seien die Academic Society for Competition Law (ASCOLA), das European Competition Law Forum am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, das Fordham Competition Law Institute und das Global Competition Law Center am College d’Europe beispielhaft hervorgehoben,. 3 Neben in den vorangestellten Literaturhinweisen angeführten Werken von Mestmäcker/Schweitzer und Monti seien als wichtige Grundlagen für vertieftes inhaltliches Arbeiten genannt: Bechtold/ Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EU-Kartellrecht (3. Aufl. 2014); Bellamy/Child, European Union Law of Competition (8. Aufl. 2018); Faull/Nikpay, The EU Law of Competition (3. Aufl. 2014); Jaeger u. a. (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Bände II/III: EG-Kartellrecht (Loseblatt); Goyder, EC Competition Law (5. Aufl. 2009), Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 1: Kommentar zum Europäischen Kartellrecht (6. Aufl. 2019); Korah, An Introductory Guide to EC Competition Law and Practice (9. Aufl. 2007); Langen/Bunte (Hrsg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Band 2: Europäisches Kartellrecht (13. Aufl. 2018); Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht (4. Aufl. 2020); Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht, Band 1: Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 2020); Ritter/Braun, European Competition Law: A Practitioner’s Guide (3. Aufl. 2005); Van Bael/Bellis, Competition Law of the European Community (5. Aufl. 2010); Whish/Bailey, Competition Law (9. Aufl. 2018); Wiedemann (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts (4. Aufl. 2020).
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I. Die Quellen des EU-Kartellrechts
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I. Die Quellen des EU-Kartellrechts Wirtschaftlichen Wettbewerb gilt es nicht nur vor Beschränkungen durch Unterneh- 3 men, sondern auch vor Beeinträchtigungen durch staatliches Handeln zu schützen. Die Wettbewerbsordnung der EU trägt beiden Schutzrichtungen Rechnung. Daher gesellen sich den unternehmensadressierten Normen weitere Regeln hinzu, die auf die Beseitigung von Wettbewerbsverfälschungen durch staatliche Marktregulierung, Beihilfen oder Vergabepraktiken gerichtet sind. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich indes auf den unternehmensadressierten Teil der Wettbewerbsregeln und damit auf den klassischen Kernbestand des Kartellrechts, wie er uns auch in nationalen Rechtsordnungen begegnet.
1. Primärrecht Anders als etwa sein einfachgesetzliches Pendant im deutschen Recht (das GWB) hat 4 das europäische Wettbewerbsrecht für Unternehmen Verfassungsrang. Unter der Geltung des EG-Vertrags ließen die Zielbestimmungen der Gemeinschaft die konstitutive Bedeutung des Wettbewerbsschutzes für die europäische Integration unmittelbar erkennen: Nach Art. 3 Abs. 1 lit. g) EG zählte zu den der Verwirklichung der Ziele des Art. 2 EG dienenden Tätigkeitsbereichen der Gemeinschaft „ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt“. Der Vertrag von Lissabon hat diese klare Aussage aus den Normtexten des EUV und des AEUV herausgenommen und in das Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb verschoben, das sich in einer nicht sehr glücklich formulierten Parenthese auf die „Tatsache“ bezieht, „dass der Binnenmarkt, wie er in Art. 3 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Auch diese Aussage hat freilich primärrechtlichen Rang. Der vergleichsweise versteckte Ort, an dem sie nun zu finden ist, hat bisher nicht zu Rückschlüssen auf einen verminderten Stellenwert des Wettbewerbs im Gesamtgefüge des Unionsrechts Anlass gegeben.4 Die primärrechtlichen Eckpfeiler des Systems, auf das sich das Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb bezieht, finden sich im Kapitel 1 des VII. Titels des AEUV. Von diesen Regeln nehmen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in Art. 101 AEUV und das Verbot des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung in Art. 102 AEUV die Unternehmen in die Pflicht. Bereits seit der Frühzeit der europäischen Integration ist anerkannt, dass diese Verbote unmittelbar anwendbar sind.5 Ebenso anerkannt ist ihr international zwingender Charakter: Ist der Anwendungsbereich der Verbote eröffnet, haben staatliche wie auch
4 Dazu bereits früh Müller-Graff, ZHR 173 (2009), 443, 445 f. 5 EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 De Geus ./. Bosch, EU:C:1962:11.
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Schiedsgerichte ihnen in privaten Rechtsstreitigkeiten unabhängig von dem auf die rechtliche Beziehung zwischen den Parteien im Übrigen anwendbaren (mitgliedstaatlichen oder drittstaatlichen) Recht Geltung zu verschaffen.6 5 Schon bei oberflächlicher Lektüre der Vorschriften wird deutlich, dass diesem Rechtsanwendungsbefehl nicht leicht nachzukommen ist: Zentrale Tatbestandsvoraussetzungen der Verbote wie das Bezwecken oder Bewirken einer „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“ in Art. 101 Abs. 1 AEUV oder die „missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung“ in Art. 102 AEUV erweisen sich von vornherein trotz der jeweils beigegebenen Regelbeispiele als ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe. Andere Begriffe wie der des „Unternehmens“ oder der „Vereinbarung“ wirken möglicherweise vertrauter; aber diese Vertrautheit ist trügerisch, da von einem zivilrechtlichen Vorverständnis getragen, das im Kartellrecht leicht in die Irre führt. Hier in Anbetracht schwankender wettbewerbspolitischer „Moden“ den festen Boden einer gesicherten und zugleich dem Anliegen des Wettbewerbsschutzes gerecht werdenden Auslegung zu gewinnen, ist ein zentrales methodisches Problem, das sich Richtern, Kartellbehörden und Kautelarjuristen gleichermaßen stellt.
2. Sekundärrecht 6 Die primärrechtlichen Regeln werden durch Verordnungen zu einem umfassenden
System des Wettbewerbsschutzes ausgebaut, und zwar mit Blick auf die verfahrensrechtliche Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV, die Handhabung der Freistellungsregelung in Art. 101 Abs. 3 AEUV und die Ergänzung des Kartell- und des Missbrauchsverbots um eine präventive Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen. Die sekundärrechtliche Ebene des EU-Kartellrechts trägt indes in ihrer gegenwärtigen Gestalt nur in Ansätzen zur Lösung des soeben skizzierten Problems der schutzzweckgerechten Konkretisierung der Wettbewerbsregeln bei; teilweise verschärft sie es sogar.
a) Die Kartellverordnung 7 7 Die auf Art. 87 EWG (nunmehr Art. 103 AEUV) gestützte Kartellverordnung 17/62 des
Rates, die bis 2004 das Verfahren zur Durchsetzung des Kartell- und des Missbrauchsverbots regelte, gestaltete die zunächst in Art. 85 EWG enthaltenen Regelung über
6 EuGH v. 1.6.1999 – Rs. C-126/97 Eco Swiss China Time, EU:C:1999:269 Rn. 36 mit Bezug auf Schiedsverfahren. 7 Verordnung (EWG) Nr. 17 des Rates v. 6.2.1962 – Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. 1962 13/4. Ackermann
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I. Die Quellen des EU-Kartellrechts
Kartelle und sonstige koordinierte Wettbewerbsbeschränkungen als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt aus. Das Monopol zur Erteilung von Freistellungen wurde der Kommission übertragen. Die Bürde, das Vorliegen der Freistellungsvoraussetzungen wie das Erfordernis der „Verbesserung der Warenerzeugung und -verteilung“ oder der „Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ im Einzelfall zu beurteilen, hatte demnach allein die Kommission – unter der zurückhaltenden Aufsicht des EuG und des EuGH8 – zu tragen. Hiermit brach die am 1. Mai 2004 an die Stelle der VO 17/62 getretene VO 1/20039 zugunsten eines Systems der Legalausnahme: Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003 erklärt nunmehr auch die Freistellungsvorschrift des Art. 101 Abs. 3 AEUV für unmittelbar anwendbar. Damit setzte eine dezentralisierte Kartellrechtsanwendung durch die Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten ein, deren Primärrechtskonformität insbesondere von deutscher Seite nachhaltig bestritten wurde.10 Die Rechtmäßigkeit der Dezentralisierung mag zwar heute nicht mehr diskutiert werden, unbestreitbar ist jedoch, dass sie die ohnehin beträchtliche Schwierigkeit einer unionsweit einheitlichen und für die Rechtsunterworfenen vorhersehbaren Anwendung des Kartellverbots weiter erhöht: Den Problemen der Konkretisierung des Verbotstatbestandes in Art. 101 Abs. 1 AEUV gesellt sich nunmehr für jeden Rechtsanwender die weitere Herausforderung hinzu, die Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV anhand komplexer ökonomischer Wertungen auszufüllen.
b) Gruppenfreistellungsverordnungen Die mit Art. 101 Abs. 3 AEUV verbundenen „Subsumtionsrisiken“ werden durch die 8 sogenannten Gruppenfreistellungsverordnungen (GVOen) in gewissem Umfang verringert. Die Kommission, der hierfür die Zuständigkeit vom Rat übertragen wurde,11 stellt durch diese Verordnungen bestimmte Kategorien von Vereinbarungen, für die bei typisierender Betrachtung eine einheitliche wettbewerbsrechtliche Würdigung getroffen werden kann, vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV frei. Nach der Preisgabe des Freistellungsmonopols (Rn. 7) haben diese Verordnungen ihre ursprüngliche Hauptaufgabe, die Kommission von einer nicht zu bewältigenden Masse von Einzelfreistellungsverfahren zu entlasten, verloren. Ihre Funktion besteht nunmehr darin, 8 Zur Gewährung eines Beurteilungsspielraums durch EuGH und EuG s. u. Rn. 27 ff. 9 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates v. 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1/1. 10 Kritisch etwa Deringer, EuZW 2000, 5 ff.; Mestmäcker, EuZW 1999, 523 ff.; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 13 Rn. 9 ff.; Möschel, JZ 2000, 61 ff.; Rittner, DB 1999, 1485 f. – Für die Position der Kommission (die außerhalb Deutschlands weit weniger heftig bekämpft wurde) z. B. Ehlermann, CMLR 37 (2000), 537 ff. 11 Für den Bereich der horizontalen Kooperation durch die VO 2821/71, ABl. 1972 L 285/46, zuletzt geändert durch VO 1/2003, ABl. 2003 L 1/1; für den Bereich der vertikalen Kooperation und des Technologietransfers durch die VO 19/65, ABl. 1965 36/533, zuletzt geändert durch VO 1/2003. – Sektorspezifische Regelungen bleiben hier außer Betracht.
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die dezentralisierte Kartellrechtsanwendung in den Mitgliedstaaten zu steuern.12 Die vor diesem Hintergrund geschaffene, neue Generation von Freistellungsverordnungen13 bedient sich allerdings in dem Bestreben, im Rahmen eines „more economic approach“ wettbewerbsbeschränkende Abreden (Rn. 22) nicht mehr „formalistisch“, sondern wirtschaftlich „realistisch“ zu bewerten, marktbezogener Beurteilungsmaßstäbe. Es versteht sich, dass diese Maßstäbe ihrerseits rechtlich wie tatsächlich nicht einfach zu handhaben sind: Wenn etwa Art. 3 VO 330/2010 eine Marktanteilsschwelle von 30 % vorsieht, jenseits derer die Gruppenfreistellung für Vertikalvereinbarungen nicht gilt, werden unweigerlich Fragen nach den Kriterien der Marktabgrenzung in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht laut, die sich aus der Verordnung selbst nicht beantworten lassen, und stellt sich das Problem der Ermittlung des für die Marktabgrenzung und -anteilsbestimmung erforderlichen Datenmaterials.
c) Die Fusionskontrollverordnung 14 9 Mit der Fusionskontrollverordnung (FKVO) hat der Rat schließlich den unternehmensadressierten Wettbewerbsregeln in Gestalt des Kartell- und des Missbrauchsverbots eine „dritte Säule“ hinzugefügt, die Unternehmenszusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung einer präventiven Kontrolle durch die Kommission unterwirft, wie sie allein auf der Grundlage der Art. 101 und 102 AEUV nicht möglich wäre.15 Nachdem der europäische Gesetzgeber hierfür zunächst einen Marktbeherrschungstest herangezogen hatte, erhob er in der seit dem 1. Mai 2004 geltenden Fassung der FKVO das Kriterium der erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs (nach der englischen Terminologie „significant impediment of effective competition“ SIEC-Test genannt) zum neuen materiellen Beurteilungsmaßstab. Die Anwendung dieses Maß-
12 Die Wirkung der Verordnungen nur noch deklaratorisch und nicht konstitutiv zu nennen, trifft allerdings nicht zu; dazu zutr. Fuchs, ZWeR 2005, 1, 9 ff., und Baron, WuW 2006, 358 ff.; a. A. etwa Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht (3. Aufl. 2014), Art. 83 Rn. 12. 13 Als nicht sektorspezifische Verordnungen sind zu nennen: VO 330/2010, ABl. 2010 L 102/1 (Gruppenfreistellung für Vertikalvereinbarungen); VO 316/2014, ABl. 2014 L 93/17 (Gruppenfreistellung für Technologietransfervereinbarungen); VO 1218/2010, ABl. 2010 L 335/43 (Gruppenfreistellung für Spezialisierungsvereinbarungen); VO 1217/2010, ABl. 2010 L 335/36 (Gruppenfreistellung für Forschungsund Entwicklungsvereinbarungen). 14 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates v. 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. 2004 L 24/1 (seit dem 1.5.2004 in Kraft); ursprüngliche Fassung war die Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates v. 21.12.1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 1989 L 395/1. 15 Zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV auf Unternehmenszusammenschlüsse EuGH v. 17.11. 1987 – verb. Rs. 142/84 und 156/84 BAT und Reynolds ./. Kommission, EU:C:1987:490 Rn. 37, zur Anwendbarkeit von Art. 102 AEUV EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72 Europemballage und Continental Can ./. Kommission, EU:C:1973:22 Rn. 20 ff.
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I. Die Quellen des EU-Kartellrechts
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stabs ist zwar allein der – einer Überprüfung durch das EuG und den EuGH ausgesetzten – Entscheidung der Kommission und nicht den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten anvertraut, seine relative Unbestimmtheit auch im Vergleich zum älteren Marktbeherrschungstest wirft jedoch die – bisher nicht abschließend beantwortbare – Frage auf, inwieweit die recht strenge Überwachung der Fusionskontrollpraxis der Kommission durch die europäische Judikative16 auch künftig ihre Wirksamkeit behält. Hierzu zeichnen sich erst in der jüngsten Rechtsprechung Konturen ab.17
3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission Die begriffliche Unschärfe kartellrechtlicher Normen primär- wie sekundärrechtlicher 10 Provenienz lässt den mit ihrer Anwendung betrauten Behörden und Gerichten faktisch einen beträchtlichen Wertungsspielraum, der durch Vorgaben in den Urteilen der europäischen Gerichte nur ansatzweise eingeengt wird. Dies verschafft der Kommission jenseits ihrer Normsetzungsaufgabe im Bereich der Gruppenfreistellungsverordnungen und ihrer kartellverwaltungsrechtlichen Entscheidungspraxis eine zentrale Rolle bei der Beantwortung von Auslegungsfragen: Nicht nur zur Erläuterung der eigenen Praxis (insbesondere mit Blick auf die Handhabung eines ihr zustehenden Aufgreifermessens), sondern auch zur Orientierung mitgliedstaatlicher Behörden und Gerichte über die Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln behandelt die Kommission zahlreiche der sich insoweit stellenden Fragen in Leitlinien und Bekanntmachungen.18 Diese sollen nach Ansicht der Kommission über eine dadurch herbeigeführte, in ihrer Reichweite noch nicht abschließend geklärte Selbstbindung19 hinaus mittelbar Außenwirkung entfalten. „Selbst wenn Bekanntmachungen und Leitlinien für die innerstaatlichen Instanzen nicht verbindlich sind“, geht die Kommission davon aus, dass sie „einen wertvollen Beitrag zur kohärenten Anwendung des Gemeinschaftsrechts leisten [dürften], da Einzelentscheidungen der Kommission
16 Der Reform vorangegangen waren im Jahr 2002 drei Niederlagen der Kommission in Fusionskontrollfällen vor dem EuG; vgl. EuG v. 6.6.2002 – Rs. T-342/99 Airtours ./. Kommission, EU:T:2002:146; EuG v. 22.10.2002 – Rs. T-77/02 Schneider Electric ./. Kommission, EU:T:2002:255; EuG v. 25.10.2002 – Rs. T-5/02 Tetra Laval ./. Kommission, EU:T:2002:264. 17 EuG v. 28.5.2020 – Rs. T-399/16 CK Telecoms UK Investments ./. Kommission, EU:T:2020:217. 18 Beispiele: Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101/82; Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997 C 372/1; Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Art. 81 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 C 368/13; Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101/97. 19 Dazu Pampel, Rechtsnatur und Rechtswirkungen horizontaler und vertikaler Leitlinien im reformierten europäischen Wettbewerbsrecht (2005), S. 55 ff.; Smulders, CPI 5 (2009), 25 ff.; Thomas, EuR 2009, 423 ff.
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ihren Inhalt bestätigen werden. Soweit diese Entscheidungen auch noch vom Gerichtshof bestätigt werden, bilden die Bekanntmachungen und Leitlinien, auf die sie sich beziehen, einen Teil des Regelwerks, das von den nationalen Behörden angewendet werden muss.“20 11 Der darin zum Ausdruck kommenden Vorstellung, die informellen Instrumente der Kommission könnten durch die richterrechtliche Billigung der auf ihrer Basis getroffenen Entscheidungen zur Rechtsquelle aufgewertet werden, ist zu widersprechen:21 Die Nachprüfung von Entscheidungen der Kommission durch das EuG und den EuGH bezieht sich auf die Normanwendung im Einzelfall, bei der die abstrakt-generellen Aussagen der Leitlinien und Bekanntmachungen im Rahmen ihrer eine Selbstbindung begründenden Wirkung eine Rolle spielen, aber nicht ohne weiteres mit den eigenen interpretativen Aussagen der europäischen Gerichte gleichgesetzt werden dürfen. An deren Vorrang gegenüber den Leitlinien der Kommission hat GA Kokott im Verfahren British Airways zu Recht erinnert.22 Insoweit bestehen Bedenken gegenüber der Vorgehensweise der Kommission, die in ihrer Mitteilung zur Anwendung von Art. 102 AEUV auf Behinderungsmissbräuche23 faktisch interpretative Aussagen über das Missbrauchsverbot macht, diese jedoch als Setzung von Anwendungsprioritäten und damit als Ausdruck ihres Aufgreifermessens deklariert, um so einem möglichen Konflikt mit der Verbotsauslegung durch den EuGH und das EuG zu entgehen.24 Gleichwohl ist die hohe Meinung der Kommission von der Bedeutung des von ihr geschaffenen soft law nicht unberechtigt: Dessen faktischer Einfluss auf die Kartellrechtsanwendung in den Mitgliedstaaten ist groß, weil nationale Behörden und Gerichte zwar nicht an die darin enthaltenen abstrakt-generellen Formulierungen, aber an die darauf beruhende Entscheidungspraxis der Kommission gebunden sind, die dadurch in die Rolle eines authentischen Interpreten der Wettbewerbsregeln hineingewachsen ist.25
20 Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 85 und 86 EG-Vertrag, KOM(1999) 101 endg, ABl. 1999 C 132/1 Rn. 86. 21 Vgl. auch schon Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 3 Rn. 61. 22 GA Kokott, Schlussanträge v. 23.2.2006 – Rs. C-95/04 P British Airways ./. Kommission, EU: C:2006:133 Rn. 28. 23 ABl. 2009 C 45/7. 24 Zur Rechtfertigung dieser Vorgehensweise vgl. Bulst, RabelsZ 73 (2009), 704, 710 ff. 25 Für eine faktische, aber nicht rechtliche Bindung auch Pohlmann, WuW 2005, 1005, 1008 f., in Erwiderung auf einen Beitrag von Schweda, WuW 2004, 1133 ff., der eine rechtliche Bindung postuliert. – Zur Rolle der Verwaltungspraxis der Kommission im Verhältnis zur nationalen Anwendungsebene s. u. Rn. 23 ff.
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II. Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen
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II. Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen Die Aufgabe, die prima facie schwer zu fassende Begrifflichkeit der europäischen 12 Wettbewerbsregeln zu subsumtionsfähigen Aussagen zu verdichten, fällt nicht nur der Kommission, dem EuG und dem EuGH, sondern auch den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten zu, welche die Regeln (mit Ausnahme der FKVO) anzuwenden haben. Die praktische Bewältigung dieser Konkretisierungsaufgabe könnte im Ansatz durchaus mit den Mitteln der Auslegungskriterien beschrieben werden, wie sie in deutschen Hörsälen in loser Anknüpfung an Savigny gelehrt werden, und ebenso fiele es nicht schwer, in der EU-kartellrechtlichen Praxis die Verbindung der Auslegung mit rechtsfortbildenden Elementen nachzuweisen, wie sie nach deutscher Modellvorstellung für die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe charakteristisch ist.26 Die Validität der Argumente, mit denen die Diskussion um die Konkretisierung EU-kartellrechtlicher Begriffe geführt wird, hängt allerdings nicht in erster Linie von solchen Klassifikationen ab. Den methodischen Zugang zum EU-kartellrechtlichen Diskurs findet vielmehr 13 leichter, wer von den beiden eingangs beschriebenen Besonderheiten dieses Rechtsgebiets ausgeht: Zum einen verlangt die Ausrichtung kartellrechtlicher Normen auf den Wettbewerbsschutz vom Rechtsanwender, die in diese Richtung zu steuernden Strukturen und Verhaltensweisen auf Märkten zu verstehen und zu bewerten, um den ausfüllungsbedürftigen Tatbeständen einen dem Normzweck entsprechenden Sinn geben zu können. Hierfür wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse heranzuziehen, ist vor diesem Hintergrund im Kartellrecht weitaus selbstverständlicher als in anderen Bereichen, in denen über die Verhaltenssteuerung durch Recht als Einbruchstelle der ökonomischen Analyse in die Normauslegung gestritten wird.27 – Zum anderen hat die Interpretation der EU-Wettbewerbsregeln als Bestandteil der europäischen Verfassung jenen dynamischen Charakter, der den Umgang der EuGH-Rechtsprechung mit der europäischen Rechtsordnung im Ganzen kennzeichnet:28 Schon mit der Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der in den Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 102 AEUV niedergelegten Verbote29 hat der Gerichtshof den ersten Schritt getan, um die einzelnen Wettbewerbsregeln des Vertrags zu einer funktionierenden Wettbewerbsordnung für den Binnenmarkt auszugestalten. Diese Aufgabe besteht fort. Wie sich diese Grundaussagen auf die Interpretation des EU-Kartellrechts auswir- 14 ken, sei nachfolgend anhand von vier Fragestellungen demonstriert. Die beiden ersten Fragen zielen auf das „Wie?“ der Interpretation, nämlich auf die Rolle des normativen und des ökonomischen Kontextes für die kartellrechtliche Begriffsbildung, die
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Vgl. hierzu Röthel, in diesem Band, § 11. Vgl. hierzu Franck, in diesem Band, § 5. Vgl. hierzu Riesenhuber, in diesem Band, § 10. EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 De Geus ./. Bosch, EU:C:1962:11. Ackermann
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beiden letzten auf das „Wer?“, nämlich auf die Hierarchie der Norminterpreten in einem zwischen europäischer und nationaler Ebene sowie zwischen judikativen und administrativen Funktionen unterscheidenden supranationalen System.
1. Autonome Begrifflichkeit 15 Eine erste Folgerung wurde bereits angedeutet: EU-kartellrechtliche Begriffe sind au-
tonom auszulegen. Der Wettbewerbsschutz im Binnenmarkt als besonderer normativer Kontext, in den sie gestellt sind, lässt es grundsätzlich nicht zu, ihnen Inhalte beizulegen, die aus anderen Verwendungszusammenhängen importiert werden. Gerade beim Umgang mit Begriffen, denen ein spezifisch kartellrechtlicher Gehalt nicht ins Gesicht geschrieben steht, hat der Norminterpret diese Einsicht zu beherzigen. 16 Betrachten wir beispielsweise den Begriff des „Unternehmens“ als Kennzeichnung der Normadressaten in den Art. 10130 und 102 AEUV:31 Nach ständiger EuGHRechtsprechung ist Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln jede „eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit“.32 Diese Definition ist darauf ausgerichtet, wirtschaftliches Handeln umfassend und unabhängig von der Substanz und der institutionellen Verfasstheit des jeweiligen Handlungsträgers zu erfassen, damit nicht dem Schutzzweck der Wettbewerbsregeln zuwider ungeschriebene Ausnahmebereiche geschaffen werden, die einer kartellrechtlichen Kontrolle von vornherein entzogen sind. Unternehmen in diesem funktionalen Sinne sind etwa auch Freiberufler33 und diejenigen, die auf den Gebieten des Sports, der Wissenschaft und der Kultur marktmäßig tätig sind.34 Auch im Verhältnis zum nationalen Gesellschafts- und Konzernrecht ist der Unternehmensbegriff autonom zu bestimmen: Als „wirtschaftliche Einheit“ und damit als tauglicher Adressat sowohl des Bußgeld- als auch des Haftungsrechts kann sich auch ein nach nationalem Verständnis nicht rechtsfähiger Konzern erweisen.35
30 Art. 101 AEUV ist außerdem an „Unternehmensvereinigungen“ gerichtet, deren Adressatenstellung von der Unternehmensqualität ihrer Mitglieder, jedoch nicht der Vereinigung selbst abhängt. 31 Vgl. zum Unternehmensbegriff außer der allgemeinen kartellrechtlichen Lit. insbes. die Monographie von Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht (1999), sowie die Beiträge von Benicke, EWS 1997, 373 ff.; Jennert, WuW 2004, 37 ff.; Louri, LIEI 29 (2002), 143 ff., W.-H. Roth, FS Bechtold (2006), S. 393 ff., und Slot, FS Everling, Bd. II (1995), S. 1413 ff. 32 EuGH v. 23.4.1991 – Rs. C-41/90 Höfner, EU:C:1991:161 Rn. 21; EuGH v. 11.12.1997 – Rs. C-55/96 Job Centre, EU:C:1997:603 Rn. 21; EuGH v. 18.6.1998 – Rs. C-35/96 Kommission ./. Italien, EU:C:1998:303 Rn. 36. 33 Dazu EuGH v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 Wouters, EU:C:2002:98 Rn. 102 (Rechtsanwälte). 34 Vgl. dazu den Überblick bei W.-H. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Stand: 2009), Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 63 ff. 35 EuGH v. 14.3.2017, Rs. C-724/17 Skanska, EU:C:2017:204.
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Dass die Ausübung bestimmter wirtschaftlicher Tätigkeiten besonderen Regeln unterliegt und dass für die Zwecke des nationalen Steuer-, Handels- oder Gesellschaftsrechts möglicherweise andere Maßstäbe gelten, ändert nichts an der Einordnung der sich auf diesen Gebieten marktmäßig als Anbieter oder als Nachfrager (nicht notwendig mit Gewinnerzielungsabsicht)36 Betätigenden als Unternehmen i. S. d. Art. 101 f. AEUV. Nicht anders verhält es sich mit der Grenzziehung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht: Ist die ausgeübte Tätigkeit wirtschaftlicher und nicht hoheitlicher Natur, steht eine öffentlich-rechtliche Organisation oder Rechtsform nicht der Anwendung der Wettbewerbsregeln auf den Staat und dessen Untergliederungen mit Blick auf diese Tätigkeit entgegen.37 Gewisse Inkonsequenzen bei der Handhabung des Unternehmensbegriffs – etwa bei der überwiegend abgelehnten Unternehmenseigenschaft von Arbeitnehmern beim Angebot von Arbeitsleistungen –38 mögen zwar belegen, dass sich auch die kartellrechtliche Praxis nicht ganz von wettbewerbsfremden Vorprägungen befreien kann, doch jedenfalls im Grundsatz dürfte die im funktionalen Unternehmensbegriff zum Ausdruck kommende Autonomie der kartellrechtlichen Begriffsbildung außer Frage stehen. Dieser Autonomie ist auch in umgekehrter Richtung Rechnung zu tragen: Kar- 17 tellrechtliche Normaussagen dürfen aufgrund ihrer spezifisch wettbewerbsbezogenen Wertung nicht ohne Weiteres in andere Rechtsgebiete exportiert werden. Symptomatisch für die Verkennung dieser Differenz ist der Versuch, die Klauselkataloge der Gruppenfreistellungsverordnungen für die zivilrechtliche AGB-Kontrolle fruchtbar zu machen. So heißt es etwa im deutschen Schrifttum, der Vertikal-GVO 330/ 2010 komme bei der Prüfung formularmäßiger Festlegungen der Laufzeit von Bierlieferungsverträgen Leitbildfunktion zu; die in Art. 5 VO 330/2010 zugelassene Obergrenze von fünf Jahren dürfe daher in AGB nicht überschritten werden.39 Diese Ansicht vernachlässigt, dass nicht Gesichtspunkte der Vertragsgerechtigkeit und des angemessenen Interessenausgleichs zwischen den Parteien eines Bierlieferungsvertrags, sondern die (pauschalierte) Einschätzung der Wettbewerbsschädlichkeit einer
36 GA Lenz, Schlussanträge v. 20.9.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, EU:C:1995:293 Rn. 255. 37 Im Grundsatz unstr. Missverständlich, da scheinbar auf institutionelle Gegebenheiten abstellend, allerdings EuGH v. 19.1.1994 – Rs. C-364/92 SAT Fluggesellschaft ./. Eurocontrol, EU:C:1994:7 Rn. 31 (fehlende Unternehmenseigenschaft einer für die Luftüberwachung zuständigen internationalen Organisation). In der Sache kontrovers beurteilt wird insbes. die Ablehnung der unternehmerischen Natur der Nachfrage der öffentlichen Hand, soweit diese nicht mit einer wirtschaftlichen Angebotstätigkeit korrespondiert, durch EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-205/03 P FENIN, EU:C:2006:453 Rn. 25 ff.; dazu kritisch W.-H. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Stand: 2009), Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 45 ff. 38 So Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 8 Rn. 31; a. A. W.-H. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Stand: 2009), Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 53 ff. 39 Palandt-Grüneberg, § 307 BGB Rn. 78 mwN zum Meinungsstand.
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solchen Vereinbarung den Ausschlag für die kartellrechtliche Festlegung gegeben haben.
2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung 18 Dass ökonomische Erkenntnisse für ein Rechtsgebiet relevant sind, das sich Märkten
widmet, ist ohne Weiteres nachzuvollziehen. Mit dieser Aussage wird das Verhältnis zwischen rechtlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Kriterien für die Bewertung des Wettbewerbsgeschehens aber noch nicht methodisch präzise erfasst. Zwei Klarstellungen sind insoweit geboten: 19 Einerseits wäre es naiv, sich von der Wirtschaftswissenschaft eine Definition des Wettbewerbs zu erhoffen, die sich für die Kartellrechtsanwendung unmittelbar fruchtbar machen lässt. Voraussetzungen und Ergebnisse des Wettbewerbs dürfen nicht als mechanistisch greifbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung missverstanden werden, welcher der kartellrechtlichen Würdigung ein sicheres Fundament bieten könnte. Die Freiheit der Marktteilnehmer, über die dezentralen Koordinierungsvorgänge zu entscheiden, die das Marktgeschehen ausmachen, erlaubt solche Festlegungen nicht. Daher würde niemand behaupten, dass das Ziel der Formulierung und Auslegung wettbewerbsschützender Normen die Annäherung realen Marktgeschehens an die preistheoretische Modellvorstellung vollkommener Konkurrenz sein kann, unter deren (gedachten) Bedingungen ein Wohlfahrtsoptimum erzielt wird. 20 Andererseits ginge es fehl, die Bedeutung der Ökonomik für das Kartellrecht auf die Bereitstellung des Datenmaterials zu reduzieren, das erforderlich ist, um im Einzelfall das Vorliegen feststehender rechtlicher Kriterien feststellen zu können. Die materiellen Voraussetzungen, die im Zentrum der unternehmensadressierten Wettbewerbsregeln stehen (nämlich das Bezwecken oder Bewirken einer Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs in Art. 101 Abs. 1 AEUV, die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung in Art. 102 AEUV und schließlich auch der SIEC-Test der reformierten FKVO), sind nicht aus sich selbst heraus verständlich, sondern können nur im Rückgriff auf die Ziele konkretisiert werden, welche die Union mit dem Wettbewerbsschutz verfolgt. Dies sind die gesamtwirtschaftlichen Ziele, die insbesondere Art. 3 Abs. 3 EUV normiert, und der Schutz wirtschaftlicher Freiheit, ohne die eine Öffnung und Offenhaltung nationaler Märkte nicht gedacht werden kann. Wie aber können wettbewerbsbeschränkende Koordinierungen, missbräuchliche Verhaltensweisen und Unternehmensfusionen identifiziert werden, die nicht im Einklang mit diesen Zielsetzungen stehen? An dieser Stelle gewinnen wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage wettbewerbspolitischer Empfehlungen normative Relevanz: Sie verhelfen den Rechtsanwendern dazu, aus den vergleichsweise unbestimmten Begriffen des europäischen Kartellrechts anhand der dem EUV und dem AEUV zugrunde liegenden Funktionen des Wettbewerbsschutzes operable Kriterien zu gewinnen. Dass dies „nur unter Berücksichtigung der Ackermann
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Eigengesetzlichkeit der Rechtsanwendung“40 geschehen kann, zwingt allerdings zu selektivem Vorgehen, denn die begrenzten Erkenntnismöglichkeiten in rechtsförmigen Verfahren vor Gerichten und Kartellbehörden lassen es nun einmal nicht zu, beliebig komplexe Analysen anzustellen. Die Verschränkung des Kartellrechts mit wirtschaftswissenschaftlichen Einsich- 21 ten über das Wettbewerbsgeschehen führt dazu, dass wechselnde ökonomische Strömungen um die wettbewerbspolitische Orientierung nicht nur der Kartellrechtsgesetzgebung, sondern auch der Kartellrechtsanwendung konkurrieren. Umschwünge auf der Ebene wettbewerbspolitischer Leitbilder können vor diesem Hintergrund zu einschneidenden Änderungen in der kartellrechtlichen Praxis führen. Geradezu klassisches Beispiel hierfür ist die unter dem Einfluss der Chicago School erfolgte Abkehr des U. S.-Supreme Court von der bis Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verfochtenen strengen Behandlung vertikaler Vertriebsbeschränkungen nach sec. 1 Sherman Act.41 Die Rechtsprechung des EuGH und des EuG hat solche Wendungen bisher nicht vollzogen und es geschafft, ohne deutliche Festlegung auf ein wettbewerbspolitisches Leitbild den Eindruck einer einigermaßen kontinuierlichen Entwicklung zu vermitteln.42 Anders sieht es dagegen bei der Kommission aus, die seit Ende der 90er Jahre auf 22 allen Gebieten des europäischen Kartellrechts einen „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ („more economic approach“) vorantreibt. Hinter diesem Schlagwort verbirgt sich das Anliegen, mit den bereits umgesetzten Reformen im Bereich des Kartellverbots und der Fusionskontrolle43 sowie mit der allerdings bisher über die Formulierung von „Anwendungsprioritäten“ (dazu Rn. 11) nicht hinausgekommenen Modernisierung der Anwendung des Missbrauchsverbots44 die kartellrechtliche Bewertung unternehmerischer Praktiken stärker von ihren
40 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2 Rn. 76. Dieser Einsicht wird auch von wirtschaftswissenschaftlicher Seite Rechnung getragen, etwa von Evans, World Comp 28 (2005), 93 ff. und I. Schmidt, WuW 2005, 877. 41 Grundlegend ist das Urteil Continental T.V., Inc. v. GTE Sylvania, Inc., 433 U. S. 36 (1977). Näher zu dieser US-amerikanischen Entwicklung Ackermann, Art. 85 Abs. 1 EWGV und die rule of reason (1998), S. 11 ff. 42 Gegen den (bereits einige Zeit zurückliegenden) Versuch Väths, Die Wettbewerbskonzeption des Europäischen Gerichtshofs (1987), aus einzelnen Aussagen des Gerichtshofs wettbewerbspolitische Modellvorstellungen abzuleiten, wendet sich zu Recht Everling, WuW 1990, 995, 1008. Den Versuch, die europäische Praxis zu einer neben die Harvard oder die Chicago School tretenden European School zu stilisieren, macht Hildebrand, The Role of Economic Analysis in the EC Competition Rules (3. Aufl. 2009). 43 Zur „Ökonomisierung“ der Fusionskontrolle Christiansen, WuW 2005, 285 ff.; Díaz, World Comp 27 (2004), 177 ff. 44 Vgl. die Mitteilung: Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle des Behinderungsmissbrauchs, ABl. 2009 C 45/7; dazu Bulst, RabelsZ 73 (2009), 704 ff.; Möschel, JZ 2009, 1040 ff.
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Marktwirkungen und weniger von formalen Kriterien abhängig zu machen. Dies ist nicht der Ort, das inhaltliche Für und Wider dieser Neuorientierung zu beurteilen.45 Der Zugang zu der hierüber geführten Diskussion erschließt sich jedoch nur, wenn man auch die methodische Dimension der Beeinflussung der Kartellrechtsgesetzgebung und -anwendung durch divergierende ökonomische Perspektiven in den Blick nimmt: Wenn von einem „more economic approach“ die Rede ist, geht es im Grunde nicht um eine mehr, sondern um eine andere ökonomische Fundierung der Wettbewerbspolitik der Union,46 nämlich um die Ablösung des im Kern auf die ordoliberale Freiburger Schule zurückgehenden Wettbewerbsverständnisses, das auf die Erhaltung der Wettbewerbsfreiheit der Marktteilnehmer durch klar zugeschnittene Verbote freiheitsbeschränkender Verhaltensweisen zielt, durch einen wohlfahrtsökonomischen Ansatz, der eine ergebnisbezogene Bewertung unternehmerischen Marktverhaltens nach Effizienzkriterien anstrebt.47 „More economic“ ist dieser Ansatz allerdings in seinen Auswirkungen auf die kartellrechtliche Praxis: Um den Einfluss einer bestimmten unternehmerischen Maßnahme auf das Marktergebnis im Einzelfall ex post feststellen oder zukunftsgerichtet prognostizieren zu können, müssen Rechtsanwender wie auch Rechtsunterworfene, die das Risiko eines Kartellrechtsverstoßes einschätzen wollen, den wirtschaftlichen Kontext der Maßnahme naturgemäß intensiver untersuchen, als dies bei Zugrundelegung eines eher „formalistischen“ Konzepts der Fall wäre: Maßgeblich ist danach die Feststellung einer wohlfahrtsmindernden Wirkung des untersuchten Verhaltens, wobei mehrheitlich nicht eine Beeinträchtigung der Gesamt-, sondern der Verbraucherwohlfahrt für entscheidend gehalten wird. Während sich die Kommission gerade die Vermeidung von Wohlfahrtseinbußen der Verbraucher auf die Fahnen geschrieben hat, ist die Rechtsprechung des EuGH in dieser Hinsicht allerdings eher ambivalent.48
45 Näher zu inhaltlichen Aspekten Basedow, WuW 2007, 712 ff.; Hellwig, FS Mestmäcker (2006), S. 231 ff.; Hildebrand, WuW 2005, 513 ff.; Schmidtchen, WuW 2006, 6 ff.; v. Weizsäcker, WuW 2007, 1078; Zimmer, WuW 2007, 1198; zur Konvergenz der auf einen „more economic approach“ gerichteten Bestrebungen mit den Entwicklungen in den USA Vickers, ECJ 2007, 1 ff. 46 Auch Kritiker des „more economic approach“ bestreiten daher nicht, dass eine wirtschaftliche Betrachtungsweise im Kartellrecht unerlässlich ist; so ausdrücklich Immenga, WuW 2006, 463. 47 Eine gründliche Analyse der hier nur angedeuteten Entwicklung bietet Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe. 48 Ablehnend zum Erfordernis eines „consumer harm“ EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-8/08 T-Mobile Netherlands, EU:C:2009:343 Rn. 36 ff.; EuGH v. 6.10.2009 – Rs. C-501/06 P GlaxoSmithKline, EU:C:2009:610 Rn. 63; vgl. andererseits aber die Forderung einer Prüfung ökonomischer Rechtfertigungsgesichtspunkte in EuGH v. 6.9.2017 – Rs. C-413/14 P, Intel ./. Kommission, EU:C:2017:632 Rn. 139 ff.
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3. Das Verhältnis der europäischen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot Die Konkretisierung der unmittelbar anwendbaren Regeln des Unionskartellrechts im 23 Bereich des Kartell- und des Missbrauchsverbots ist nicht nur das Alltagsgeschäft der Kommission, deren Generaldirektion Wettbewerb mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe betraut ist, sondern obliegt auch den nationalen Kartellbehörden (in Deutschland nach § 50 GWB dem Bundeskartellamt und den nach Landesrecht zuständigen obersten Landesbehörden) sowie jedem nationalen Richter, der im Rahmen eines Rechtsstreits über die Anwendung einer EU-kartellrechtlichen Norm zu entscheiden hat. Damit stellt sich eine für Rechtssysteme mit mehr als einer Anwendungsebene typische Frage: Wie wird die einheitliche Anwendung des Rechts bei parallelen Zuständigkeiten auf der „höheren“ (hier der europäischen) und auf der „niedrigeren“ (hier der nationalen) Ebene sichergestellt? Auch wenn wir Auslegung und Anwendung von Normen zu unterscheiden pflegen, hat die Beantwortung dieser Frage offenkundig Bedeutung für die Interpretationshoheit über die europäischen Wettbewerbsregeln, denn die in der Normanwendung übergeordnete Instanz erlangt auch die interpretatorische Hegemonie über das anzuwendende Recht. Der schlichte Verweis auf den EuGH, der hier wie auch sonst im Europarecht an 24 der Spitze der Pyramide richterlicher Norminterpreten steht, wird dem Problem nicht gerecht. Zwar führen Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Kommission über das EuG zum EuGH und eröffnet Art. 267 AEUV in jedem nationalen Anwendungsfall, soweit er nur (spätestens in der Rechtsmittelinstanz) vor ein nationales Gericht gelangt, den Zugang zum Gerichtshof, aber damit wird die Gefahr einander im Einzelfall widersprechender Entscheidungen über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf nationaler und auf europäischer Ebene nicht wirksam gebannt. Es bedarf vielmehr eines Regimes, das bereits die Entstehung von Anwendungskonflikten verhindert, um die Kohärenz der europäischen Wettbewerbsordnung zu wahren. Der EuGH misst dieser Aufgabe primärrechtlichen Rang zu: Nach der Rechtspre- 25 chung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten aus Geist und System des Vertrags dazu verpflichtet, die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sichern.49 In den Entscheidungen Delimitis50 und Masterfoods51 hat der EuGH daraus aufsehenerregende Konsequenzen für das Verhältnis zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten bei der Kartellrechtsanwendung gezogen: Hat der nationale Richter über ei-
49 So die Zusammenfassung bei Streinz-Streinz, EUV/AEUV 3. Aufl. 2018, Art. 4 EUV Rn. 33. Mit Blick auf die Wettbewerbsregeln wird die „uneingeschränkte und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die (unbeeinträchtigte) Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergangenen oder zu treffenden Maßnahmen“ postuliert in EuGH v. 13.2.1969 – Rs. 14/68 Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt, EU:C:1969:4 Rn. 9. 50 EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-234/89 Delimitis ./. Henninger Bräu, EU:C:1991:91 Rn. 47. 51 EuGH v. 14.12.2000 – Rs. C-344/98 Masterfoods ./. HB, EU:C:2000:689 Rn. 48 ff.
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nen Sachverhalt zu entscheiden, der noch Gegenstand einer Kommissionsentscheidung werden kann, ist er gehalten, eigene Entscheidungen zu vermeiden, die mit der beabsichtigten Kommissionsentscheidung kollidieren könnten. Liegt bereits eine Kommissionsentscheidung vor, die denselben Sachverhalt betrifft, darf er keine Entscheidung treffen, die dieser zuwiderläuft. Umgekehrt ist die Kommission an eine vorangehende Entscheidung des nationalen Richters nicht gebunden. Daraus ergibt sich ein absoluter Vorrang von Kommissionsentscheidungen gegenüber den Entscheidungen nationaler Gerichte. Das Resultat mag zu denken geben, weil es einer Vorstellung von europarechtlicher Gewaltenteilung zuwiderläuft, in der die Gerichte der Mitgliedstaaten als Teil der das Europarecht anwendenden Judikative der Kommission als Exekutive gleichrangig gegenüberstehen.52 Doch ist diese Sicht nicht zwingend:53 Der Gewaltenteilungsgrundsatz wird in der Anwendungsstruktur, die der EuGH den Wettbewerbsregeln gegeben hat, im Verhältnis der Unionsorgane EuGH und Kommission verwirklicht. Der nationale Richter hat an der judikativen Überwachungsfunktion gegenüber der Exekutive auf der europäischen Ebene immerhin insoweit teil, als er den Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV anrufen kann. 26 Der Rat hat diese Rechtsprechung zum Verhältnis der Kommission zu den nationalen Gerichten mittlerweile in Art. 16 VO 1/2003 kodifiziert und ihre Grundsätze zudem auf das Verhältnis der Kommission zu nationalen Behörden erstreckt. Der aus dem Kohärenzgebot abgeleitete Primat der europäischen vor der nationalen Anwendungsebene des EU-Kartellrechts ist damit vollständig abgesichert. Für die Interpretation der unmittelbar anwendbaren Wettbewerbsregeln folgt daraus eine eigentümliche Hierarchie: Die einzelfallbezogene Auslegung dieser Regeln in der Verwaltungspraxis der Kommission setzt sich gegenüber einer abweichenden Normkonkretisierung durch nationale Institutionen, und seien es auch Gerichte, durch und ist ihrerseits nur den Maßgaben der europäischen Gerichtsbarkeit unterworfen.
4. Die Rolle der europäischen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? 27 Es bleibt der zweite Teil der Frage nach der Hierarchie der Norminterpreten: Wie ge-
staltet sich die vom EuG und vom EuGH verantwortete Kontrolle der Konkretisierung des unmittelbar anwendbaren europäischen Kartellrechts? 28 Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage ist die Rechtsprechung des EuGH aus der Zeit vor Inkrafttreten der VO 1/2003. Wie bereits erwähnt, hatte die Kommis-
52 Diese Vorstellung erschien mir vorzugswürdig (vgl. Ackermann, Art. 85 Abs. 1 EWGV und die rule of reason [1998], S. 139), hat sich aber nicht durchgesetzt. 53 Vgl. die Kritik bei Geiger, EuZW 2001, 116, 117; Gröning, WRP 2001, 83, 89. Ackermann
II. Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen
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sion damals die alleinige Zuständigkeit zur Erteilung von Freistellungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV. Die Erwägungen, welche die Kommission bei der Würdigung der Voraussetzungen des Freistellungstatbestands anstellte, wurden vom EuGH (und seit 1989 vom EuG) stets nur einer zurückhaltenden Überprüfung unterzogen. Die Kommission sei, heißt es bereits im Urteil Consten und Grundig aus dem Jahr 1966, „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu schwierigen Wertungen wirtschaftlicher Sachverhalte gezwungen. Die gerichtliche Nachprüfung dieser Wertungen muss dem Rechnung tragen und sich deshalb auf die Richtigkeit der ihnen zugrunde liegenden Tatsachen und deren Subsumtion unter die Begriffe des geltenden Rechts beschränken.“54 Diese Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle der damals konstitutiven Freistellungsentscheidungen der Kommission hat die Rechtsprechung des EuGH und des EuG wiederholt bestätigt.55 Darüber hinaus hat der EuGH der Kommission aber auch einen Beurteilungsspielraum bei der Konkretisierung des auch damals schon unmittelbar anwendbaren Kartellverbots in Art. 101 Abs. 1 AEUV zugebilligt. Dies brachte erstmals das Remia-Urteil unmissverständlich zum Ausdruck: In Anbetracht der in diesem Fall erforderlichen „Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten“ habe der Gerichtshof „seine Prüfung … auf die Frage zu beschränken, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob die Begründung ausreichend ist, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung des Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen.“56 Wenn die Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte der Kommission auch bei 29 unmittelbar anwendbarem Kartellrecht zugute kommen soll, ergibt sich unweigerlich die weitere, mit der Dezentralisierung der Kartellrechtsanwendung drängend gewordene Frage: Sollen nicht auch nationale Behörden und Gerichte, ja sogar die rechtsunterworfenen Unternehmen bei der Selbsteinschätzung ihres Wettbewerbsverhal-
54 EuGH v. 13.7.1966 – verb. Rs. 56/64 und 58/64 Consten und Grundig ./. Kommission, EU:C:1966:41, 396. 55 Z. B. EuGH v. 25.10.1977 – Rs. 26/76 Metro ./. Kommission, EU:C:1977:167 Rn. 50; EuG v. 8.6.1995 – Rs. T-7/93 Langnese-Iglo ./. Kommission, EU:T:1995:98 Rn. 178; EuG v. 8.6.1995 – Rs. T-9/93 Schöller ./. Kommission, EU:T:1995:99 Rn. 140. 56 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 42/84 Remia ./. Kommission, EU:C:1985:327 Rn. 34; bestätigt durch EuGH v. 17.11.1987 – verb. Rs. 142/84 und 156/84 BAT und Reynolds ./. Kommission, EU:C:1987:490 Rn. 62; EuGH v. 15.6.1993 – Rs. C-225/91 Matra ./. Kommission, EU:C:1993:239 Rn. 23 und 25; EuG v. 29.6.1993 – Rs. T-7/92 Asia Motor France ./. Kommission, EU:T:1993:52 Rn. 33; EuG v. 23.10.2003 – Rs. T-65/98 Van den Bergh Foods ./. Kommission, EU:T:2003:281 Rn. 80. In erweitertem (rechtsordnungs- oder disziplinübergreifendem) Zusammenhang behandeln diese Rspr. Adam, Die Kontrolldichte-Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte (1993); Herdegen/Richter, in: Frowein (Hrsg.), Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung (1993), S. 209 ff.; Nolte, Beurteilungsspielräume im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesrepublik Deutschland (1997); ausführliche Würdigungen der zitierten Rspr. zu Art. 101 AEUV außerdem bei Bailey, CMLR 41 (2004), 1327 ff.; Fritzsche, Ermessen und institutionelles Gleichgewicht: Die Kompetenzteilung zwischen Europäischer Kommission und Gericht erster Instanz (2008) und Koch, ZWeR 2005, 380 ff.
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tens einen Beurteilungsspielraum in Anspruch nehmen können, weil und soweit ihnen genauso wie der Kommission die „Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten“ bei der Anwendung kartellrechtlicher Normen abverlangt wird?57 In der Tat entstünde eine kaum überzeugend erklärbare Schieflage, wenn der EuGH die Wahrnehmung seiner Auslegungszuständigkeit bei ein und derselben Norm danach differenzierte, ob sie von der Kommission, von einer nationalen Behörde oder von einem nationalen Gericht angewendet wird. Richtigerweise sollte diese Schieflage aber nicht dadurch behoben werden, dass der Gerichtshof die Normkonkretisierung im Kartellrecht generell nur noch auf die Verletzung bestimmter äußerer Grenzen überprüft und sich dadurch seiner Funktion als Wahrer der Einheit des Unionsrechts teilweise begibt. Vielmehr sollte der EuGH den umgekehrten Weg beschreiten und im Zusammenhang mit den Art. 101 und 102 AEUV wie auch sonst bei unmittelbar anwendbaren Normen des Europarechts keine Wertungsprärogative einer anderen Institution anerkennen.58
III. Die Ausstrahlung des europäischen Kartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht 30 In welcher Weise das Europarecht im Allgemeinen die Auslegung des mitgliedstaatli-
chen Rechts beeinflusst, erläutern die Beiträge zur primärrechts- und zur richtlinienkonformen Auslegung (einschließlich der Frage der überschießenden Umsetzung) in diesem Band.59 Die Ausstrahlung der europäischen auf die nationale Rechtsebene weist jedoch im Bereich des Kartellrechts Besonderheiten auf, die gerade auch im deutschen Kartellrecht Anlass zu methodisch interessanten Neuerungen gegeben haben.
1. Vorrang des europäischen Kartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts 31 Europäisches und nationales Kartellrecht koexistieren seit jeher, ohne dass Akte des
europäischen Gesetzgebers für eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechte gesorgt hätten. Dass es dennoch zu einer Anpassung der nationalen Kartellrechte an das Vorbild der europäischen Wettbewerbsordnung gekommen ist, hat seine Ursache
57 In dieser Richtung mit Bezug auf nationale Behörden und Gerichte Jaeger, WuW 2000, 1062, 1071 ff., mit Bezug auf die Unternehmen Bechtold, WuW 2003, 343. 58 I.E. ebenfalls kritisch zur Reduzierung der Kontrolldichte Fuchs, ZWeR 2005 1, 21; Koch, ZWeR 2005, 380, 395; etwas zurückhaltender Bailey, CMLR 41 (2004), 1327, 1360. 59 Vgl. Leible/Domröse, in diesem Band, § 8; W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13; Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14.
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in Anpassungszwängen, die durch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Kartellrechtsebenen bedingt sind: Die europäischen Wettbewerbsregeln genießen, soweit ihr Anwendungsbereich 32 reicht, Vorrang gegenüber dem nationalen Kartellrecht. In der wegweisenden Entscheidung Walt Wilhelm60 aus dem Jahre 1969 hat der EuGH dieses Rangverhältnis im Sinne eines Anwendungsvorrangs des Unionsrechts interpretiert (sog. modifizierte Zweischrankentheorie). Manches Rätsel, das dieses Urteil aufgibt,61 ist mittlerweile durch sekundärrechtliche Regelungen auf der Grundlage von Art. 103 Abs. 2 lit. e) AEUV gelöst worden. Zum einen schließt Art. 21 Abs. 3 FKVO die Anwendung nationalen Wettbewerbsrechts auf die von der Verordnung erfassten Zusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung grundsätzlich aus. Zum anderen schränkt Art. 3 VO 1/2003 den Anwendungsspielraum für nationales Recht im Bereich der von Art. 101 AEUV erfassten Sachverhalte erheblich ein: Soweit eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel in der Union zu beeinträchtigen, und daher unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, kommt die Anwendung strengeren nationalen Rechts nicht in Betracht. Oberhalb der Schwelle der Zwischenstaatlichkeitsklausel bleibt damit im Wesentlichen nur noch bei der Beurteilung einseitiger missbräuchlicher Verhaltensweisen (also im Bereich des Art. 102 AEUV) Raum für eigene Wertungen des nationalen Kartellrechts. Etwas vergröbernd kann man also festhalten: „Große“ Fälle im Bereich der Fusionskontrolle und des Kartellverbots werden nur nach EU-Recht beurteilt, „kleine“ nur nach nationalem Recht. Diese Vorrangregelung hat die mitgliedstaatlichen und namentlich den deut- 33 schen Gesetzgeber unter erheblichen Anpassungsdruck gesetzt. Zwar mag strengeres nationales Kartellrecht unterhalb der Eingriffsschwellen der EU-Wettbewerbsregeln europa- wie auch verfassungsrechtlich zulässig sein,62 aber ein solches Wertungsgefälle zwischen europäischem und nationalem Recht wäre niemandem verständlich zu machen. Darüber hinaus führen jegliche Abweichungen des nationalen vom europäischen Kartellrecht zumindest im Bereich des Art. 101 AEUV zu erheblicher Rechtsunsicherheit, weil in Anbetracht der in mancherlei Hinsicht unklaren Reichweite der Zwischenstaatlichkeitsklausel oft unsicher ist, ob nationales oder europäisches Recht
60 EuGH v. 13.2.1969 – Rs. 14/68 Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt, EU:C:1969:4 Rn. 3 ff. 61 Es fehlte in Anbetracht der als ungenügend empfundenen richterrechtlichen Vorrangregel vor Verabschiedung der VO 1/2003 nicht an Versuchen des Schrifttums, ein effektiveres Regime zu begründen; vgl. etwa Walz, Der Vorrang des europäischen vor dem nationalen Kartellrecht (1994); Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen (1995). 62 Zum Fehlen einer – von Steindorff, in: FIW (Hrsg.), Schwerpunkte des Kartellrechts 1986/87 (1988), S. 27, 35 ff., befürworteten – europarechtlichen Pflicht zur Anpassung des mitgliedstaatlichen Kartellrechts Ackermann, JbJZ 1997, S. 203, 210 ff. – Zur Nichtanwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG als Grundlage einer Anpassungspflicht mit Blick auf Unterschiede zwischen deutscher und europäischer Fusionskontrolle K. Westermann, Die Einwirkungen der europäischen auf die deutsche Fusionskontrolle (1996), S. 74 ff.
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Anwendung findet. Eine autonome Anpassung der nationalen Wettbewerbsregeln an das europäische Vorbild war deshalb spätestens seit Verabschiedung der VO 1/2003 rechtspolitisch geradezu unumgänglich. Der deutsche Gesetzgeber hat sich dieser Einsicht nicht verschlossen und, nachdem bereits die 6. GWB-Novelle 1998 erste Schritte in diese Richtung gemacht hatte, mit der am 1. Juli 2005 in Kraft getretenen 7. GWB-Novelle v. a. eine sehr weitreichende Angleichung der deutschen Regelung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen an das Regime des Art. 101 AEUV vollzogen,63 die exemplarisch für die auch in späteren GWB-Novellen erfolgten Anpassungen an europäisches Recht ist. In methodischer Hinsicht sind zwei Aspekte dieses autonomen Angleichungsakts von besonderem Interesse: die europarechtsorientierte Auslegung der an das EU-Recht angepassten Normen des GWB und die vom Gesetzgeber in § 2 Abs. 2 GWB ausgesprochene dynamische Verweisung auf europäisches Sekundärrecht, nämlich auf die zu Art. 101 Abs. 3 AEUV ergangenen Gruppenfreistellungsverordnungen.
2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts 34 Die novellierten §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB übernehmen Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV
mit Ausnahme der Zwischenstaatlichkeitsklausel im Wortlaut. Damit ist das normative Fundament für einen dies- und jenseits der europarechtlichen Anwendungsschwelle einheitlichen Schutz vor kooperativen Wettbewerbsbeschränkungen gelegt. Anders als etwa der italienische und der britische Gesetzgeber64 hat der deutsche Gesetzgeber sich freilich nicht dazu durchringen können, so wie ursprünglich von der Bundesregierung geplant,65 die Auslegung dieser (und anderer) an das EU-Recht angelehnter Normen des GWB in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des europäischen Wettbewerbsrechts gesetzlich vorzugeben. Gleichwohl führt – nicht anders als in den Konstellationen überschießender Richtlinienumsetzung – die Auslegung der angeglichenen GWB-Normen zur Orientierung am europarechtlichen Vorbild, was – wiederum nicht anders als bei der überschießenden Richtlinienumsetzung – die Frage nach der Möglichkeit einer Anrufung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren hervorruft.
63 Eine informative Darstellung der 7. GWB-Novelle bieten Becker/Hossenfelder, Einführung in das neue Kartellrecht (2006), S. 1 ff. 64 Vgl. Art. 1 Abs. 4 legge antitrust Nr. 287 v. 10.10.1990 und sec. 60 Competition Act 1998. 65 Vgl. § 23 RegE und dazu BT-Drs. 15/3640, S. 47.
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a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeglichener GWB-Normen Die Anwender der angeglichenen GWB-Normen sind zunächst nicht kraft Europa- 35 rechts verpflichtet, zu Auslegungsergebnissen zu gelangen, die mit der Handhabung der europarechtlichen Vorbilder durch den EuGH, das EuG und die Kommission übereinstimmen. Der Vorrang des EU-Kartellrechts kommt hier nicht zum Tragen, da das GWB insoweit aufgrund der unmittelbar anwendbaren Normierung des Rangverhältnisses in Art. 3 VO 1/2003 (die eine deklaratorische Regelung in § 22 GWB wiederholt) ohnehin keinen Anwendungsanspruch erhebt. Ebenso wenig droht eine vom Verständnis gleichlautender europarechtlicher Begriffe abweichende Interpretation der im GWB verwendeten Begriffe die Auslegung des Europarechts so zu beeinflussen, dass dessen Wirksamkeit in Frage gestellt sein könnte.66 Es bleibt die Möglichkeit, die Ausrichtung am europäischen Vorbild aus Gründen 36 des nationalen Rechts herzuleiten, und zwar, weil es an einer gesetzlichen Anordnung fehlt, im Wege der Interpretation der autonom angeglichenen Normen. Die Übereinstimmung mit dem Wortlaut der entsprechenden EU-Regeln und das gesetzgeberische Anliegen, das deutsche Kartellrecht mit dieser Angleichung auch in der Sache an der europarechtlichen Bewertung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und sonstiger Koordinierungsformen auszurichten, lassen die Europarechtsorientierung unabweisbar erscheinen. Dies wird bestätigt durch die Begründung, mit der der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren die letztlich im Vermittlungsausschuss vorgenommene Streichung der gesetzlichen Auslegungsregel zu Gunsten des Europarechts forderte: Die Auslegung im Lichte der europäischen Regeln sei eine „methodische Selbstverständlichkeit“.67 Auch der BGH legt diese Prämisse mittlerweile seiner Rechtsprechung zu § 1 GWB zugrunde.68 Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.69
b) Vorlagemöglichkeit? Zu klären bleibt, ob der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens angerufen 37 werden kann, wenn die europarechtsorientierte Auslegung der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB
66 Für eine ausführliche Diskussion der Erheblichkeit dieser Überlegung im Zusammenhang mit der überschießenden Richtlinienumsetzung vgl. Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14 Rn. 27 ff., sowie Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht (2006), S. 107 ff. 67 BT-Drs. 15/3640, S. 75. Bei der Auslegung des GWB in der Fassung der 7. Novelle wird die Orientierung am Europarecht nunmehr auch in der Praxis- und Ausbildungsliteratur zur Kenntnis genommen, vgl. Becker/Hossenfelder, Einführung in das neue Kartellrecht (2006), S. 14 („kein Auseinanderklaffen bei der Anwendung der §§ 1, 2 GWB und des Art. 81 EG zu erwarten“); Kapp, Kartellrecht in der Unternehmenspraxis (2005), S. 34 („nur noch wenig Raum für eine anderweitige Behandlung“). 68 BGH, WuW/E DE-R 2554 Rn. 17 – Subunternehmervertrag II. 69 Die inhaltlichen Konsequenzen aus dieser methodischen Einsicht sind dagegen nicht selbstverständlich. Bereits für das GWB in der Fassung der 6. Novelle hat Schanze, Die europaorientierte Auslegung des Kartellverbots (2003), eine Durchführung dieses Gedankens unternommen.
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in Frage steht. Hier gelangt man in das Fahrwasser einer mittlerweile sattsam bekannten70 EuGH-Rechtsprechung, zu der einerseits eine Reihe von Urteilen gehört, in denen der Gerichtshof Vorlagefragen beantwortete, die sich im Zusammenhang einer autonomen Anknüpfung nationalen Rechts an EU-Recht stellten,71 andererseits aber auch die Entscheidung Kleinwort Benson, in der der EuGH seine Zuständigkeit ablehnte, als der englische Court of Appeal eine Auslegung des EuGVÜ erbat, die er zur Abgrenzung einer englisch-schottischen Zuständigkeitsregelung nach dem Vorbild des EuGVÜ heranziehen wollte.72 Im Bereich des Kartellrechts hat der EuGH jedenfalls ein Vorabentscheidungsersuchen für zulässig erklärt, das sich auf ein durch ausdrückliche gesetzgeberische Anordnung an die europäischen Vorgaben gebundenes nationales Kartellrecht bezog.73 38 Nimmt man die §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB in den Blick, so ist die Ähnlichkeit zu der Konstellation in Kleinwort Benson unverkennbar: Es handelt sich um Normen, die dem Art. 101 AEUV nachgebildet wurden und deren Auslegung nur im Sinne einer „methodischen Selbstverständlichkeit“, aber nicht durch rechtlich zwingende Vorgaben an diesem Vorbild ausgerichtet wird. Der vom EuGH zur Begründung seiner Unzuständigkeit angeführte Gesichtspunkt, dass das vorlegende Gericht frei entscheiden konnte, ob es die Auslegung des EuGVÜ für das nationale Recht übernehmen wollte, so dass sich der Gerichtshof in die Rolle einer beratenden Institution gedrängt sah, könnte auch hier zum Tragen kommen. Aber abgesehen davon, dass die restriktive Haltung in Kleinwort Benson möglicherweise rechtlich nicht überzeugt,74 darf man aus einem anderen Grund hoffen, dass der EuGH Mittel und Wege finden wird, der europaorientierten Auslegung der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB seine Unterstützung im Vorabentscheidungsverfahren zu geben: Das Rechtsproblem, das der Court of Appeal in Kleinwort Benson mit Hilfe des EuGH lösen wollte, war integrationspolitisch irrelevant. Es scheint aber schwer vorstellbar, dass der Gerichtshof nicht einem nationalen Richter die Hand reichen würde, der sich bemüht, das Gebäude der europäischen Wettbewerbsordnung mit den Bausteinen des nationalen Kartellrechts zu vervollständigen.
70 Dazu bereits Ackermann, JbJZ 1997, S. 203, 223; Drexl, FS Heldrich (2005), S. 78 ff.; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht (2006), S. 173 ff.; sowie Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14 Rn. 54 ff. 71 EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, EU:C:1990:360 Rn. 33 f.; EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-231/89 Gmurzynska-Bscher, EU:C:1990:386 Rn. 18 f.; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C130/95 Giloy, EU:C:1997:372 Rn. 24 f.; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, EU:C:1997:369 Rn. 25. 72 EuGH v. 28.3.1995 – Rs. C-346/93 Kleinwort Benson, EU:C:1995:85 Rn. 22 ff. 73 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-280/06 ETI, EU:C:2007:775 Rn. 23 ff. 74 Kritisch Drexl, in: Hopt/Tzuganatos (Hrsg.), Europäisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts, S. 223, 246.
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3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht Ein gesetzgebungstechnisches Novum im GWB stellt schließlich die dynamische Ver- 39 weisung auf europäisches Sekundärrecht dar. § 2 Abs. 2 S. 1 GWB erklärt die europäischen Gruppenfreistellungsverordnungen in ihrer jeweils geltenden Fassung für entsprechend anwendbar, und zwar, wie S. 2 hinzufügt, „auch, soweit die dort genannten Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu beeinträchtigen“. Die Formulierung ist irreführend: Weil Gruppenfreistellungsverordnungen oberhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle ohnehin unmittelbar anwendbar sind, hat nur die Anordnung der entsprechenden Anwendbarkeit unterhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle einen eigenständigen Gehalt. In methodischer Hinsicht wirft diese Verweisung Fragen auf:75 Zu welchen Anpassungen an den nationalen Kontext ist der Rechtsanwender befugt, der über § 2 Abs. 2 GWB zur „entsprechenden“ Anwendbarkeit einer Gruppenfreistellung gelangt? Teilt sich die konstitutive (nämlich „abschirmende“) Bedeutung, welche die Gruppenfreistellungen im europäischen Recht haben,76 über die Verweisung auch dem deutschen Recht mit? Werden deutsche Gerichte die Möglichkeit haben, Auslegungsfragen, die sich im Zusammenhang mit einer im streitigen Fall nicht unmittelbar, sondern nur kraft Verweisung entsprechend anwendbaren Gruppenfreistellung ergeben, dem EuGH vorzulegen? Während die letzte Frage gewiss bejahen muss, wer schon die Zulässigkeit von Vorlagen aus dem Bereich der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB befürwortet, bieten die beiden ersten Fragen Schwierigkeiten, die über eine einführende Behandlung methodenrelevanter Fragen des Kartellrechts hinausgehen.77 Sie mögen als Beleg für die Fähigkeit des Kartellrechtsgesetzgebers auf deutscher wie auf europäischer Ebene stehen, die Rechtsanwender immer wieder mit neuen technischen Finessen zu erfreuen.
75 Zur hier nicht erörterten Verfassungsmäßigkeit (bejahend) Ehricke/Blask, JZ 2003, 722 ff. 76 Dazu schon oben Fn. 11. 77 Vgl. für eine Stellungnahme Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 1 (12. Aufl. 2014), § 2 Rn. 68 ff., Rn. 76 f.
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Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung § 20 Die Rechtsprechung des EuGH Systematische Übersicht I. II.
Allgemeines 2–10 Auslegung des Unionsrechts 11–32 1. Auslegungskanon 12–17 a) Wörtliche Auslegung 12–13 b) Systematische Auslegung 14 c) Teleologische Auslegung 15–17 2. Unionsrechtstypische Auslegungs– regeln 18–32 a) Autonome und einheitliche Auslegung 19 b) Primärrechtskonforme Auslegung 20–21 c) Völkerrechtskonforme Auslegung 22–23 d) Rechtsvergleichende Auslegung 24–32
III. Auslegung des nationalen Rechts 33–42 1. Vertragsverletzungsverfahren 33 2. Schiedsverfahren 34 3. Unionsrechtlicher Verweis auf nationales Recht 35 4. Unionsrechtskonforme Auslegung 36–42 IV. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht 43–52 V. Kontrolldichte bei der Gültigkeitsprüfung 53–63 VI. Bedeutung von Präjudizien 64–66 VII. Ausblick 67
Der Fokus der nachfolgenden Abhandlung zu Methodenfragen liegt auf der Recht- 1 sprechung des EuGH. Alle Beiträge dieses Handbuchs haben sich aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Themenstellungen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs auseinandergesetzt. Im Folgenden sollen aus einer generellen Perspektive die Schwerpunkte dort gesetzt werden, wo die Rechtsprechung zur Auslegungsthematik noch in der Entwicklung begriffen ist bzw. sich aktuelle Fragen stellen. Dazu ist zunächst an bestimmte Faktoren zu erinnern, die auf die Methodik des Gerichtshofs Einfluss haben. Sodann wird die Auslegungsthematik Unionsrecht/nationales Recht im engeren Sinne behandelt und dabei insbesondere die Aufgabenverteilung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten näher untersucht. Abschließend werden einige Hinweise zum Wert von Präjudizien in der Rechtsprechung des EuGH gegeben.
Stotz https://doi.org/10.1515/9783110614305-020
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§ 20 Die Rechtsprechung des EuGH
I. Allgemeines 2 Vorab ist an die spezifischen Bedingungen zu erinnern, unter denen der Gerichtshof
seine Aufgabe wahrnimmt und die unmittelbaren Einfluss auf die Methode haben. Zunächst zum Akteur: Die personelle Heterogenität der Mitglieder des EuGH – er ist mit Persönlichkeiten besetzt, die vor ihrer Berufung in unterschiedlichen Bereichen als Richter, Hochschullehrer, Politiker, oberste Verwaltungsbeamte, Rechtsanwälte oder in vergleichbar herausgehobenen Positionen tätig waren – ist als solche nicht singulär. Eine solche Besetzung kennzeichnet, im Unterschied zu den regelmäßig homogen, d. h. mit spezialisierten Berufsrichtern besetzten obersten nationalen Fachgerichten, regelmäßig auch nationale Verfassungsgerichte. Die Heterogenität wird im Fall des Gerichtshofs aber dadurch signifikant verstärkt, dass die Richter und Generalanwälte in 27 unterschiedlichen Rechtskulturen beheimatet sind. Ulrich Everling, von 1980 bis 1988 Richter am Gerichtshof, hat diesen Umstand stets besonders betont. Er wies darauf hin, dass die Mitglieder des Gerichtshofs ihre jeweiligen Traditionen, Grundvorstellungen, Wertungen und materiellen wie formellen Eigenheiten in die gemeinsame Willensbildung mit einbringen und sich aus den individuellen Beiträgen dieser unterschiedlichen Persönlichkeiten das vom Gerichtshof gesprochene Recht formt.1 4 Je mehr Europa politisch, rechtlich und kulturell zusammenwächst und sich vor allem die juristische Ausbildung noch stärker europäisch vernetzt, desto weniger markant mögen diese Unterschiede zukünftig sein. Gegenwärtig stellt diese heterogene Zusammensetzung für den Gerichtshof jedoch eine besondere Herausforderung dar. Denn ihm obliegen nicht lediglich verfassungsgerichtliche Aufgaben, d. h. die Kontrolle der Vertragskonformität sekundärrechtlicher und nationaler Maßnahmen, sondern er nimmt gerade bei der Auslegung des sekundären Unionsrechts regelmäßig auch eine fachgerichtliche Funktion ein, die mittlerweile einen denkbar weiten Rechtsbereich umfasst. Nicht nur wächst der Bestand sekundärrechtlicher Normen stetig an und erobert bislang rein national geregelte Bereiche – das Privatrecht und das Strafrecht sind hierfür das beste Beispiel. Auch die Komplexität der geregelten Materien nimmt stark zu – man denke nur an die Regelungen im Bereich des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts2 oder zuletzt die bislang unbekannte Dimensionen umfassenden Maßnahmen im Rahmen der gemeinsamen Corona-Krisenreaktion.3 Derartige Entwicklungen sind von den gesetzgebenden Organen seit geraumer Zeit als Herausforderung erkannt worden. Unter den Stichworten „Bessere Rechtsetzung“ (neuerdings „Intelligente Regulierung“ bzw. „Smart Regulation“ oder 3
1 Everling, JZ 2000, 217, 222. 2 Vgl. z. B. die Maßnahmen zur Sicherung der Finanzmarktstabilität seit Beginn der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise von Oktober 2008. 3 Vgl. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 21.7.2020 zum Aufbauplan und zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027, EUCO 10/20.
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auch „Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung“), „Folgenabschätzung“ und „Rechtsvereinfachung“ wurden neue Initiativen im Vorfeld der Rechtsetzung ergriffen, um die Qualität der Gesetzgebung gerade im Hinblick auf deren Auswirkung nachhaltig zu stärken.4 In die Rechtssetzungspraxis haben diese Maßnahmen mittlerweile flächendeckend Eingang gefunden und sich positiv auf Qualität und Umfang der europäischen Gesetzgebung ausgewirkt. Dennoch gestaltet sich die Konsensfindung in einem Rat von 27 Mitgliedstaaten 5 bei voller Mitwirkung des Europäischen Parlaments bisweilen sehr schwierig und führt dazu, dass strittige Punkte im Text der Rechtsakte nicht geklärt, sondern im claire obscure gelassen werden, um nach langen und kontroversen Verhandlungen die Verabschiedung zu ermöglichen und der Ratspräsidentschaft den angestrebten Erfolg zu verschaffen. Es ist politische Realität, dass in der letzten Verhandlungsphase rechtsdogmatische und -systematische Erwägungen, denen bis dahin nicht Rechnung getragen wurde – entsprechenden Empfehlungen der Juristischen Dienste von Rat und Kommission wird insoweit durchaus nicht immer gefolgt –, einen erreichten Kompromiss nicht mehr in Frage stellen dürfen („Wir gewinnen hier keinen Schönheitspreis“). Die Folgen einer solchen Verfahrensweise zeigen sich, wenn die Rechtsakte von den nationalen Gesetzgebern umgesetzt, den Verwaltungen angewandt und letztlich den Gerichten ausgelegt werden. Der Gerichtshof muss sich dann mit Fragen auseinandersetzen, die im Gesetzgebungsprozess bewusst oder unbewusst offengeblieben sind und möglicherweise sogar widersprüchlich geregelt wurden. Sicherlich ist mangelhafte Qualität der Rechtsetzung, soweit sie trotz der anerken- 6 nenswerten Bemühungen um Verbesserung noch auftritt, kein typisch europäisches Phänomen, sondern hinlänglich aus dem nationalen Bereich bekannt. Auf europäischer Ebene potenzieren sich aber die Probleme, die damit einhergehen. Der Gerichtshof, dem es in letzter Instanz zufällt, eine in sich schlüssige und verbindliche Auslegung zu geben, muss bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe nicht nur der begrenzten Verbandskompetenz der Union, die auch für ihn gilt, Rechnung tragen sowie die Prärogativen des europäischen Gesetzgebers respektieren. Er muss auch und vor allem das ihm unterbreitete Rechtsproblem einer sachgerechten Lösung zuführen und
4 Grundlegend Mitteilung der Kommission über Folgenabschätzung sowie Aktionsplan „Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds“ v. 5.6.2002, KOM(2002) 278 endg; Interinstitutionelle Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ v. 16.12.2003; Ratsdokument 7797/05 v. 5.4.2005, KOM (2005) 97 endg; Aktionsprogramm der Kommission zur Verringerung der Verwaltungslasten v. 24.1. 2007, KOM(2007) 23 endg; Mitteilung der Kommission: „Intelligente Regulierung in der Europäischen Union“ v. 8.10.2010, KOM(2010) 543 endg; Sonderbericht Nr. 3/2010 des Europäischen Rechnungshofs: „Folgenabschätzung in den EU-Organen: helfen sie bei der Entscheidungsfindung?“; Mitteilung der Kommission über die regulatorische Eignung der EU-Vorschriften v. 12.12.2012 („Regulatory Fitness and Performance Programme“ – „REFIT-Programm“), KOM(2012) 746 endg.; zuletzt Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission über bessere Rechtsetzung vom 13.4.2016 (ABl. 2016, L 123, S. 1). Stotz
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dies mit Richtern, die aufgrund ihrer Herkunft, Ausbildung und beruflichen Erfahrung ganz unterschiedlichen Ansätzen folgen. Dabei kommt ein Wertungselement ins Spiel, das Axel Flessner5 trefflich als „Gedanken der Mäßigung und der Bescheidung“ identifiziert hat. „[Dieser muss] in der Union herrschen […], sollen alle gegensätzlichen nationalen und rechtskulturellen Interessen unter ihrem Dach ein Auskommen finden. Es darf nicht übertrieben oder auch nur bis ans logische Ende getrieben werden. Dieser Gedanke herrscht offenbar und muss herrschen bei der Schaffung von Normen und er wird (und darf) auch herrschen bei ihrer Anwendung, d. h. faktisch: unter den Mitgliedern des EuGH.“ 7 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass der Gerichtshof allen Versuchen der Instrumentalisierung energisch widersteht. Dies bedeutet in erster Linie, dass Mitgliedstaaten, denen es nicht gelungen ist, ihren Standpunkt in den Verhandlungen in Brüssel durchzusetzen, regelmäßig nicht darauf hoffen dürfen, diesen nachträglich in Luxemburg anerkannt zu bekommen. Aber auch subtileren Formen der Instrumentalisierung, selbst wenn sie unbewusst erfolgen, erteilt der Gerichtshof eine Absage. Diese bestehen darin, das Unionsrecht ausschließlich oder vorwiegend aus dem Blickwinkel des vertrauten nationalen Rechts zu betrachten. Es gehört zu den alltäglichen Erfahrungen des Gerichtshofs, dass Prozessparteien immer wieder wie selbstverständlich davon ausgehen, dass europäische Normen denselben Bedeutungsgehalt haben wie entsprechende nationale Bestimmungen oder dass sie sich erkennbar länderspezifisch geprägter Argumentationsmuster bedienen. Bei den Richtern und Generalanwälten verfängt ein solcher Vortrag in der Regel schon allein deshalb nicht, weil diese mit den nationalen Vergleichsparametern nicht hinreichend vertraut sind. Ein solch einseitiger Vortrag kann daher nicht überzeugen. Nicht nur methodisch, sondern bereits rein faktisch besteht daher zu einem autonomen, ggf. rechtsvergleichend unterstützten, Ansatz bei der Interpretation des europäischen Rechts keine Alternative (unten Rn. 19, 24 ff.). 8 Dies alles ist weitgehend bekannt, wird aber in der Praxis immer noch nicht hinreichend berücksichtigt. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Zwar ist die Kenntnis des Unionsrechts im Vergleich zu früher mittlerweile stark gewachsen, in erster Linie dank einer wesentlich intensiveren universitären Ausbildung, der Blickwinkel bleibt aber dennoch oftmals interessengeleitet national. Fundierte rechtsvergleichende Analysen sind aufwendig und kostspielig. Von Rechtsanwaltskanzleien kleineren oder mittleren Zuschnitts sind sie per se kaum zu erwarten und selbst multinational operierende Kanzleien leisten dies nur in Ausnahmefällen. Allenfalls die Kommission ist hierzu in der Lage. Zwar bedarf es zur Lösung anhängiger Streitfragen in vielen Fällen nicht des Rechtsvergleichs im materiellrechtlichen Sinn, weil das Unionsrecht aus sich selbst heraus interpretationsfähig ist oder unionsrechtliche Konzepte keiner un
5 Flessner, JZ 2002, 14, 20. Stotz
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mittelbaren Ableitung aus dem nationalen Recht zugänglich sind.6 Auch dann ist aber der rechtsvergleichend geschulte Blick der Richter auf Wertung und Interessenausgleich im europäischen Kontext gerichtet und orientiert sich nicht an einseitigen nationalen Belangen (unten Rn. 24 ff.). Schließlich ist die Bedeutung des Parteivortrags für die Auslegung hervorzuheben. 9 Bekanntlich prüft der Gerichtshof nach Klagegründen (moyens), Art. 21 EuGH-Satzung. Was nicht gerügt wird, sei es vom Kläger in Direktklagen oder vom nationalen Gericht im Verfahren der Gültigkeitsprüfung nach Art. 267 AEUV,7 ist regelmäßig auch nicht Gegenstand der rechtlichen Überprüfung. Qualität und Aussagekraft des Urteils hängen deshalb entscheidend vom Parteivortrag ab und können, falls dieser mangelhaft ist, durch das Urteil nur bedingt aufgefangen werden. Daher empfiehlt es sich, ähnlich wie bei Urteilen amerikanischer Gerichte, nicht nur abstrakt die Urteilsgründe zu analysieren, sondern sie stets im Lichte von Sachverhalt und Parteivortrag zu lesen. Generell kann man feststellen, dass die Prozessparteien die Möglichkeiten, die 10 Rechtsprechung des EuGH und des Gerichts durch fundierte Argumentation zu beeinflussen, in der Vergangenheit nicht immer optimal ausgeschöpft haben. Vor allem wurde versäumt, dem Gerichtshof die ökonomischen und administrativen Auswirkungen seiner Rechtsprechung vor Augen zu führen.8 Mittlerweile haben die Mitgliedstaaten ihre Argumentation in dieser Hinsicht stärker substantiiert, wie insbesondere die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Direktbesteuerung9 belegt. Adressat des Petitums, auch die wirtschaftlichen, finanziellen und administrativen Auswirkungen der Rechtsprechung in den Blick zu nehmen, sind aber nicht nur die Prozessparteien und vor allem die Kommission, die in allen Vorabentscheidungsverfahren interveniert. Auch der europäische Gesetzgeber ist hier insoweit angesprochen, als er die Begründungserwägungen (considérants) oder Erwägungsgründe (préambule) seiner Rechtsakte entsprechend ausrichten und damit nicht zuletzt dem Gerichtshof wesentliche Begründungselemente an die Hand geben muss. In dieser Hinsicht ist zu begrüßen,
6 Edward, in: Carey-Miller/Zimmermann (Hrsg.), The Civilian Tradition and Scots Law – Aberdeen Quincentenary Essays (1997), S. 310. 7 Vgl. EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-408/95 Eurotunnel, EU:C:1997:532 Rn. 34; EuGH v. 20.6.2019 – Rs. C458/15 K.P., EU:C:2019:522 Rn. 38. 8 Vgl. Schwarze, NJW 2005, 3459, 3464 f., der eine gesteigerte Sensibilität des EuGH auch für die finanziellen Folgen seiner Rechtsprechung anmahnt. 9 Vgl. die Rspr. bezüglich der Anträge auf zeitliche Begrenzung der Wirkungen der Urteile: EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, EU:C:2006:774 Rn. 221–225; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u. a., EU:C:2007:132 Rn. 32–41; EuGH v. 10.4.2014 – Rs. C-190/12 Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company, EU:C:2014:249 Rn. 107. Siehe auch im Bereich des Erdgasbinnenmarkts: EuGH v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, EU:C:2013:180 Rn. 57; zur Verbrauchssteuer EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, EU:C:2014:108 Rn. 37 ff.; beantragt von einem Mobilfunkanbieter: EuGH v. 9.4.2014 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, EU:C:2014:242 Rn. 49 ff. I. E. zur Begrenzung der zeitlichen Wirkung von Urteilen des EuGH Rosenkranz, in diesem Band, § 16.
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dass die der europäischen Gesetzgebung seit Einführung des Konzepts der Besseren Rechtsetzung zugrundeliegende Folgenabschätzung (oben Rn. 4) inzwischen auch in die Rechtsprechung Eingang gefunden hat.10
II. Auslegung des Unionsrechts 11 Formal betrachtet folgt der Gerichtshof bei seiner Auslegung des Unionsrechts, wie
nationale Gerichte auch, dem hinlänglich bekannten Kanon der Auslegungsmethoden. Dies gilt auch für das Europäische Privat- und Schuldvertragsrecht.11 Es gelten allerdings einige unionsrechtstypische Besonderheiten (unten Rn. 18–32).12
1. Auslegungskanon a) Wörtliche Auslegung 13 12 Ausgangspunkt jeder rationalen Interpretation ist zunächst der Wortlaut. Unter Hin14 weis auf Art. 1 der Verordnung Nr. 1 stellt der Gerichtshof insoweit klar, dass alle Fassungen der Handlungen in den in dieser Bestimmung angeführten Amtssprachen der Union maßgebend sind und folgert daraus, dass grundsätzlich allen Sprachfassungen einer Unionshandlung der gleiche Wert beizumessen ist,15 mithin auch keine Unterschiede nach der Größe der Bevölkerung der Mitgliedstaaten gemacht werden können, die die betreffende Sprache gebraucht.16 Ergibt eine vergleichende Prüfung der verschiedenen Sprachfassungen, dass diese voneinander abweichen,17 muss, um die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu wahren, die betreffende Vorschrift anhand von Sinn
10 EuGH v. 8.6.2010 – Rs. C-58/08 Vodafone u. a., EU:C:2010:321 Rn. 45, 55 u. 58); EuGH v. 12.5.2011 – Rs. C-176/09 Luxemburg ./. Parlament u. Rat, EU:C:2011:290 Rn. 65. Grundlegend zuletzt EuGH v. 3.12.2019 – Rs. C-482/17 Tschechische Republik ./. Parlament u. Rat, EU:C:2019:1035 Rn. 76–94, insbesondere auch zu Fallgestaltungen, in denen der Unionsgesetzgeber von der Durchführung von Folgenabschätzungen absehen kann, Rn. 85–93. 11 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529. 12 Vgl. Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/9. 13 Vgl. EuGH v. 26.3.2009 – Rs. C-348/07 Semen, EU:C:2009:195 Rn. 27–28; Grundlegend GA Bobek, Schlussanträge v. 17.3.2016 – Rs. C-592/14 European Federation for Cosmetic Ingredients, EU:C:2016:179 Tz. 77, der darauf verweist, dass der Ansatz über die wörtliche Auslegung die Kerngrundsätze der Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit widerspiegelt und diese Grundsätze letztlich zur Stärke der Rechtsstaatlichkeit in der Unionsrechtsordnung beitragen (Tz. 36 u. 37). 14 In der durch die Verordnung Nr. 517/2013 des Rates vom 13. Mai 2013 geänderten Fassung (ABl. 2013, L 158, S. 1). 15 EuGH v. 20.2.2018 – Rs. C-16/16 P Belgien ./. Kommission, EU:C:2018:79 Rn. 48, 49. 16 Vgl. EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-152/01 Kyocera, EU:C:2003:623 Rn. 32 f. 17 Vgl. EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-383/18 Lexitor, EU:C:2019:702 Rn. 25.
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und Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.18 Die in einer der Sprachfassungen einer Handlung verwendete Formulierung kann daher nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Handlung herangezogen oder insoweit Vorrang vor den anderen Sprachfassungen beanspruchen.19 Auch wenn die sprachliche Auslegung nicht divergiert, stützt sie der Gerichtshof durch eine teleologische Interpretation ab.20 Eine Regel, wann dies der Fall ist, besteht nicht und hängt von den Umständen des Falles ab, nicht zuletzt vom individuellen Argumentationsstil des jeweiligen Berichterstatters. Die Arbeitssprachen, denen sich die Unionsorgane im Gesetzgebungsprozess ggf. bedienen, spielen dagegen, anders als in der Literatur bisweilen angenommen,21 keine Rolle bei der Lösung sprachlicher Divergenzen, weil dies die postulierte Gleichheit aller Sprachversionen gerade wieder in Frage stellen würde. Die historische Auslegung, die sich auf Materialien bei der Entstehungsgeschichte 13 (genèse) der auszulegenden Bestimmungen stützt – bisweilen ist auch vom historischen Kontext (contexte historique) oder Vorarbeiten (travaux préparatoires) die Rede – und nur vergleichsweise selten zum Tragen kam, hat in jüngerer Zeit eine deutliche Aufwertung erfahren.22 In der früheren Rechtsprechung wurden diese Materialien zwar ggf. im Urteil bei der Schilderung der Entstehungsgeschichte des Rechtsstreits bzw. der Darstellung des rechtlichen Rahmens erwähnt, dienten aber sehr selten als eigentliches Begründungselement bei der rechtlichen Wertung durch den Gerichtshof“.23 Die Zurückhaltung des Gerichtshofs in diesem Punkt war nachvollziehbar, denn bei den bis zu ihrem Erlass regelmäßig höchst umstrittenen Unionsrechtsakten konnte letztlich nur der im Amtsblatt veröffentlichte Text autoritativen Charakter beanspruchen. Nach ständiger Rechtsprechung konnten deshalb auch Erklärungen, selbst wenn sie von Rat und Kommission gemeinsam aus Anlass der Verabschiedung eines Rechtsakts zu Protokoll gegeben wurden, nicht zu dessen Auslegung herangezogen werden, wenn ihr Inhalt in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden hatte.24 In der jüngeren Rechtsprechung werden entsprechende Vorarbeiten
18 St. Rspr., EuGH v. 20.2.2018 – Rs. C-16/16 P Belgien ./. Kommission, EU:C:2018:79 Rn. 49; EuGH v. 11.9.2019 – Rs. C-383/18 Lexitor, EU:C:2019:702 Rn. 26. 19 EuGH v. 20.2.2018 – Rs. C-16/16 P Belgien ./. Kommission, EU:C:2018:79 Rn. 50. 20 Vgl. EuGH v. 11.6.2009 – Rs. C-542/07 P Imagination Technologies ./. HABM, EU:C:2009:362 Rn. 43– 44. 21 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 530 unter Hinweis auf Oppermann, Europarecht (2. Aufl. 1999), Rn. 683. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 16. 22 Vgl. Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 19 ff.; siehe auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 32 ff. 23 Vgl. etwa den Hinweis im Urteil EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar, EU:C:2005:150 Rn. 20, dass weder die Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG noch „die für ihre Auslegung maßgebenden Dokumente, wie etwa die vorbereitenden Arbeiten, Aufschluss über die genaue Bedeutung des in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie genannten Begriffs Dienstleistungen [im Bereich] Beförderung“ geben. 24 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, EU:C:1991:80 Rn. 18; EuGH v. 29.5.1997 – Rs. C-329/95 VAG Sverige, EU:C:1997:256 Rn. 23; EuGH v. 24.6.2004 – Rs. C-49/02 Heidelberger Bauchemie, EU:
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(oben Rn. 4) jedoch des Öfteren unterstützend herangezogen25 und sogar das Primärrecht wird inzwischen von dieser Entwicklung erfasst.26 Mittlerweile erkennt der Gerichtshof expressis verbis an, dass auch die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift des Unionsrechts relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern kann.27 So hat er zuletzt aus der Entstehungsgeschichte von Art. 50 EUV abgeleitet, dass ein Mitgliedstaat berechtigt ist, die Mitteilung seiner Absicht, aus der Union auszutreten, einseitig zurückzunehmen.28
b) Systematische Auslegung 14 Die systematische Auslegung, d. h. die Auslegung einer Vorschrift nach ihrer Stellung
im äußeren System des Rechtsakts, ist recht verbreitet und dient vor allem der Abrundung von textlicher und teleologischer Interpretation.29
C:2004:384 Rn. 17; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, EU:C:2008:231 Rn. 32; EuGH v. 22.10. 2009 – Rs. C-242/08 Swiss Re Germany Holding, EU:C:2009:647 Rn. 62. Die Generalanwälte waren der historischen Auslegung nicht so verschlossen wie der Gerichtshof, wobei sie sich dieser des Öfteren in Bezug auf die 6. MWSt-RL bedienten. Vgl. GA Trstenjak, Schlussanträge v. 9.12.2008 – Rs. C-572/07 RLRE Tellmer Property, EU:C:2008:697 Tz. 58; GA Jacobs, Schlussanträge v. 21.3.2002 – Rs. C-292/00 Davidoff, EU:C:2002:204 Tz. 34–35 (auf dem Gebiet des Markenrechts). 25 Vgl. EuGH v. 23.2.2010 – Rs. C-310/08 Ibrahim u Secretary of State for the Home Department, EU: C:2010:80 Rn. 47; EuGH v. 23.2.2010 – Rs. C-480/08 Teixeira, EU:C:2010:83 Rn. 58; EuGH v. 20.6.2013 – Rs. C-635/11 Kommission ./. Niederlande, EU:C:2013:408 Rn. 35. 26 Vgl. in diesem Sinne GA Kokott, Schlussanträge v. 17.1.2013 – Rs. C-583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami u. a., EU:C:2013:21 Tz. 32: „Zwar hat speziell die Entstehungsgeschichte bei der Auslegung des Primärrechts bislang keine Rolle gespielt, weil die ‚travaux préparatoires‘ zu den Gründungsverträgen größtenteils nicht verfügbar waren. Die Praxis der Einsetzung von Konventen zur Vorbereitung von Vertragsänderungen hat jedoch, ebenso wie die Praxis der Veröffentlichung der Mandate von Regierungskonferenzen, zu einem grundlegenden Wandel in diesem Bereich geführt. Die gesteigerte Transparenz im Vorfeld von Vertragsänderungen eröffnet neue Möglichkeiten für die Vertragsauslegung, die als ergänzendes Auslegungsmittel nicht ungenutzt bleiben sollten, wenn – wie hier – die Bedeutung einer Vorschrift unter Berücksichtigung ihres Wortlauts, des Regelungszusammenhangs und der verfolgten Ziele im Unklaren bleibt.“ Vgl. zur traditionellen Praxis Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 32, unter Berufung auf Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 7 Rn. 33. 27 EuGH (Plenum) v. 10.12.2018 – Rs. C-621/18 Wightman u. a., EU:C:2018:999 Rn. 47, unter Verweis auf die Urteile v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 Pringle, EU:C:2012:756 Rn. 135 (unter Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte des Vertrags von Maastricht), v. 3.10.2013 – C‑583/11 P, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, EU:C:2013:625 Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung, und v. 17.3.2016 – C‑286/14 Parlament ./. Kommission, EU:C:2016:183 Rn. 43; ferner die Urteile v. 10.7.2019 – Rs. C-210/18 WESTbahn Management, EU:C:2019:586 Rn 27 f., und v. 9.10.2019 – Rs. C-548/18 BGL BNP Paribas, EU:C:2019:848 Rn. 25, 33 ff. 28 EuGH (Plenum) v. 10.12.2018 – Rs. C-621/18 Wightman u. a., EU:C:2018:999 Rn. 68. 29 Vgl. EuGH v. 14.5.2019 – verb. Rs. C-391/16, C-77/17 u. C-78/17 M u. a., EU:C:2019:403 Rn. 87 f. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft), st. Rspr.
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c) Teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung, die nach Sinn und Zweck der Regelung fragt, gibt dem 15 Urteil schließlich die notwendige inhaltliche Fundierung. Sie „trägt“ in aller Regel das Judikat. Die Erwägungen, die der Gerichtshof in diesem Zusammenhang anstellt, reichen von grundlegenden Erkenntnissen über Legitimation und Substanz der Unionsrechtsordnung bis hin zur Ermittlung des konkreten Sinngehalts einer einzelnen sekundärrechtlichen Vorschrift. Da die Verträge keine fertige Rechtsordnung geschaffen haben, liegt auch die Rechtsfortbildung im Spektrum der teleologischen Auslegung.30 So zählt gerade die wegweisende Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundlagen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung zum unionsrechtlichen Besitzstand. Dabei sollte nicht verkannt werden, dass der Gerichtshof das primäre Unionsrecht nur maßvoll und mit Zurückhaltung systemkonform fortentwickelt. Der Anteil rechtsfortbildender Judikate ist begrenzt und erstreckt sich von den Inkunabeln europäischer Rechtsprechung van Gend en Loos31 und Costa ./. E.N.E.L.32 über die Rechtsprechung zur Geltung der Grundrechte bis hin zur Entwicklung des gemeinschaftlichen Staatshaftungssystems in Francovich.33 In bestimmten Bereichen, so bei der Fortentwicklung des unionsrechtlichen Rechtsschutzsystems, hat der Gerichtshof die Tür zur Rechtsfortbildung zunächst aufgestoßen,34 später aber wieder geschlossen und auf den Verfassungsgesetzgeber verwiesen.35 Ein Indiz dafür, dass der Gerichtshof in den Bereich der Rechtsfortbildung vorstößt, ist bisweilen die sonst spärliche
30 Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem eindrucksvollen Urteil Kloppenburg v. 8.4.1987 anerkannt, BVerfGE 75, 223. Im Urteil v. 30.6.2009 zum Vertrag von Lissabon hat das BVerfG allerdings Grenzen einer Auslegung aufgezeigt, die sich nicht mehr an der im Völkervertragsrecht geltenden effet-utile-Regel orientiert, sondern den im Primärrecht vorgegebenen Rahmen überschreitet, BVerfGE 123, 267 Rn. 237–243; zur Rechtsfortbildung Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 27 ff.; eingehend Neuner, in diesem Band, § 12; s. a. Dawson/De Witte/Muir (Hrsg.), Judicial Activism at the European Court of Justice (2013). 31 EuGH v. 5.2.1963, Van Gend en Loos – Rs. 26/62, EU:C:1963:1. Vgl. Cour de justice de l’Union européenne, Tizzano/Kokott/Prechal (Organisationsausschuss), 50ème anniversaire de l’arrêt Van Gend en Loos : 1963–2013 : actes du colloque (2013). 32 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., EU:C:1964:66. 33 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u. a., EU:C:1991:428. 34 EuGH v. 23.4.1986 – Rs. 294/83 Les Verts ./. Parlament, EU:C:1986:166 u. EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C70/88 Parlament ./. Rat, EU:C:1990:217 – Tschernobyl. 35 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 P Unión de Pequeños Agricultores, EU:C:2002:462 Rn. 41 und EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-263/02 P Jégo-Quéré, EU:C:2004:210 Rn. 31; EuGH v. 10.9.2009 – verb. Rs. C-445/07 P u. C-455/07 P Ente per le Ville vesuviane, EU:C:2009:529 Rn. 29. Siehe aber auch EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 Unibet, EU:C:2007:163 Rn. 42, 64. Diese Zurückhaltung wurde auch in der jüngeren Rechtsprechung im Hinblick auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage von natürlichen und juristischen Personen in der Neufassung von Art. 263 Abs. 4 AEUV fortgeführt; EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami u. a., EU:C:2013:625 Rn. 97 f.; EuGH v. 30.4.2020 – Rs. C-560/18 P Izba Gospodarcza Producentów i Operatorów Urządzeń Rozrywkowych ./.Kommission, EU:C:2020:330 Rn. 62.
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§ 20 Die Rechtsprechung des EuGH
kombinierte Zitierung der Urteile van Gend en Loos und Costa ./. E.N.E.L.36 Durchgängig lässt sich aus dieser Zitierpraxis jedoch nicht auf das Vorliegen rechtsfortbildender Judikate schließen. Bisweilen werden damit auch Ersuchen um extensive Interpretationen abgelehnt.37 16 Dass sich der Gerichtshof der teleologischen Auslegung bedient, lässt sich regelmäßig auch daran erkennen, dass er explizit die Frage nach der „praktischen“ oder „vollen Wirksamkeit“, dem „effet utile“, der zu interpretierenden Bestimmung aufwirft.38 Die Berufung auf das „effet utile“ hat dabei allerdings dieselbe Funktion wie die Ermittlung von „Sinn und Zweck“ („ratio“, „finalité“, „objectif“) einer Regelung.39 17 Handelt es sich um eine Norm des sekundären Unionsrechts, so greift der Gerichtshof zur Interpretation regelmäßig auf die Erwägungsgründe (préambule) oder Begründungserwägungen (considérants) des Rechtsakts zurück.40 Vielfach stellt dieser notwendige Vorspann zum verfügenden Teil der Regelung (Art. 296 AEUV) die wichtigste Orientierung für deren Zielsetzung und Sinngehalt dar.41 Der Gerichtshof betont in st. Rspr., dass die Erwägungsgründe eines Unionsrechtsakts dessen Inhalt
36 Ein Beispiel hierfür ist das EuGH-Urteil v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage u. Crehan, EU: C:2001:465 Rn. 19, in dem der Gerichtshof begründet, dass ein Einzelner, auch wenn er selbst Partei eines wettbewerbsbeschränkenden Vertrags ist, berechtigt ist, sich auf die Nichtigkeit dieses Vertrages nach Art. 81 Abs. 2 EG (jetzt Art. 101 Abs. 2 AEUV) zu berufen und Schadensersatz zu verlangen. 37 Vgl. EuGH v. 24.10.2018 – Rs. C-234/17 XC u. a., EU:C:2018:853 Rn. 36–48, wonach ein Beschuldigter sich in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren nur während dieses Verfahrens auf unionseuropäische Verfahrensrechte berufen kann. Nach dessen rechtskräftigem Abschluss ist dies ausgeschlossen. 38 Vgl. EuGH v. 10.9.2013 – Rs. C-383/13 PPU G. u. R., EU:C:2013:533 Rn. 36 ff.; oder auch das den Grundsatz der Rechtskraft durchbrechende Urteil v. 18.7.2007 – Rs. C-119/05 Lucchini, EU:C:2007:434 Rn. 61, vgl. dazu auch EuGH v. 10.7.2014 – Rs. C-213/13 Impresa Pizzarotti, EU:C:2014:2067 Rn. 61; zur Auslegung nationalen Rechts: EuGH v. 27.3.2014 – Rs. C-530/12 P HABM ./. National Lottery Commission EU:C:2014:186 Rn. 40; gelegentlich ist auch nur von der Wirksamkeit, der „effectivité“, die Rede, vgl. EuGH v. 11.6.2009 – Rs. C-429/07 X BV, EU:C:2009:359 Rn. 36–39; vgl. auch EuGH v. 19.12.2019 – Rs. C-752/18 Deutsche Umwelthilfe, EU:C:2019:1114 Rn. 37, mit dem interessanten Hinweis auf die effet-utile-Rspr. des EGMR v. 19.3.1997, Hornsby/Griechenland, CE:ECHR:1997:0319JUD001835791, §§ 41 u. 45. Allein im ersten Halbjahr 2020 haben sich in acht Fällen Urteile des EuGH auf die praktische Wirksamkeit einer Unionsvorschrift berufen. 39 Vgl. Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 251 ff., der im Rahmen seiner Typologie der teleologischen Auslegung in der Rspr. des Gerichtshofs in diesem Zusammenhang von sog. „functional interpretation“ spricht. Siehe auch Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 25. 40 Vgl. EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-524/06 Huber, EU:C:2008:724 Rn. 50; EuGH v. 19.2.2009 – Rs. C228/06 Soysal u. a., EU:C:2009:101 Rn. 53; EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-240/07 Sony Music Entertainment, EU:C:2009:19 Rn. 23, 34; EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-222/07 UTECA, EU:C:2009:124 Rn. 23, 28; EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-347/08 Vorarlberger Gebietskrankenkasse, EU:C:2009:561 Rn. 36, 40. 41 S. Köndgen/Mörsdorf, in diesem Band, § 6 Rn. 75–78.
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präzisieren können.42 Insoweit sind sie ein wichtiges Auslegungselement, das den Willen des Gesetzgebers erhellen kann.43 Diese Entwicklung zeigt sich mittlerweile auch im Primärrecht.44 Ein allzu unkritischer Umgang mit den Erwägungsgründen ist jedoch nicht angezeigt. Zu Recht hat der Gerichtshof darauf verwiesen, dass die Erwägungsgründe eines Rechtsakts der Union rechtlich nicht verbindlich sind und weder zur Rechtfertigung einer Abweichung von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsaktes angeführt werden können45 noch zur Auslegung dieser Bestimmungen in einem Sinn, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht, herangezogen werden können.46 Generell sollte der Gerichtshof bei der Berücksichtigung der Erwägungsgründe nicht zu unkritisch sein. Gelegentlich erwecken Urteilspassagen den Eindruck, als stünden Erwägungsgründe und verfügende Bestimmungen eines Rechtsakts auf derselben Stufe. Derartige redaktionelle Ungereimtheiten sind aber bei der Fülle der Verfahren unvermeidbar und auch solange unschädlich, als die Erwägungsgründe nicht qualitativ an die Stelle des Rechtstextes treten.47
2. Unionsrechtstypische Auslegungsregeln Ferner hat die Rechtsprechung die klassischen Auslegungsmethoden ergänzende 18 Auslegungsregeln entwickelt, die der Besonderheit der Unionsrechtsordnung Rechnung tragen.
42 Vgl. in diesem Sinne EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA u. ELFAA, EU:C:2006:10 Rn. 76; zuletzt EuGH v. 19.12.2019 – Rs. C-418/18 P Puppinck u. a. ./. Kommission, EU:C:2019:1113 Rn. 75. 43 Vgl. GA Bobek, Schlussanträge v. 29.7.2019 – Rs. C-418/18 P Puppinck u. a. ./. Kommission, EU: C:2019:640 Rn. 93 mwN. 44 Im Urteil EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105 Rn. 20 werden die Erläuterungen zu Art. 51 der Grundrechtecharta als unterstützendes Argument für die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung des Anwendungsbereichs der Charta verwendet. Vgl. auch EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 DEB, EU:C:2010:811 Rn. 32. Die Berücksichtigung der Erläuterungen der Charta für deren Auslegung ist allerdings in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta vorgegeben/vorgeschrieben. 45 EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-162/97 Nilsson u. a., EU:C:1998:554 Rn. 54; zuletzt EuGH v. 19.12.2019 – Rs. C-418/18 P Puppinck u. a. ./. Kommission, EU:C:2019:1113 Rn. 76. 46 EuGH v. 24.11.2005 – Rs. C-136/04 Deutsches Milch-Kontor, EU:C:2005:716 Rn. 32; EuGH v. 2.4. 2009 – Rs. C-134/08 Tyson Parketthandel, EU:C:2009:229 Rn. 16; zuletzt EuGH v. 19.12.2019 – Rs. C-418/18 P Puppinck u. a. ./. Kommission, EU:C:2019:1113 Rn. 76. 47 Im Urteil EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, EU:C:2009:716 Rn. 43 hat der Gerichtshof u. a. auf einen Erwägungsgrund abgestellt, um eine Analogie zwischen der Annullierung und der Verspätung eines Fluges im Hinblick auf den Ausgleichsanspruch der Fluggäste gegen Luftfahrtunternehmen herbeizuführen.
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a) Autonome und einheitliche Auslegung 19 Nach ständiger Rechtsprechung verlangen die einheitliche Anwendung des Unions-
rechts und der Gleichheitsgrundsatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Vorschrift, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind.48 Diese Autonomie des Unionsrechts sowohl gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten als auch gegenüber dem Völkerrecht wird durch die wesentlichen Merkmale der Union und ihres Rechts gerechtfertigt, die insbesondere die Verfassungsstruktur der Union sowie das Wesen dieses Rechts selbst betreffen.49
b) Primärrechtskonforme Auslegung 20 Weiterhin betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass eine Bestimmung
des abgeleiteten Unionsrechts möglichst so auszulegen ist, dass sie mit dem Vertrag und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen vereinbar ist.50 Diese primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts („…im Licht…“) bildet der Gerichtshof speziell mit Blick auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die Grundrechte kontinuierlich fort.51 21 Das Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ging quantitativ und qualitativ mit einer signifikanten Stärkung der Rechtsprechung in diesem Bereich einher. Zum einen steigt die Anzahl der Rechtssachen, in denen die in der Charta verankerten Rechte und Grundsätze in Bezug genommen wurden, stetig an.52 Zum anderen legt der Gerichtshof im Hinblick auf die
48 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, EU:C:2000:468 Rn. 43; EuGH v. 21.3.2019 – Rs. C‑465/17 Falck Rettungsdienste u. Falck, EU:C:2019:234 Rn. 28; EuGH v. 16.7.2020 – Rs. C-610/18 AFMB, EU: C:2020:565 Rn. 50. Zur autonomen Auslegung im Verhältnis zum Völkerrecht vgl. EuGH v. 30.1.2014 – Rs. C-285/12 Diakite, Rn. 20 ff.; EuGH v. 24.10.2018 – Rs. C-353/16 MP, EU:C:2018:276 Rn. 54 (Subsidiärer Schutz eines Opfers vergangener Folterungen). S. a. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 4 ff. 49 EuGH (Plenum) v. 10.12.2018 – Rs. C-621/18 Wightman u. a., EU:C:2018:999, Rn. 45; EuGH (Plenum) v. 30.4.2019 – Gutachten 1/17, EU:C:2019:341 Rn. 109 (CETA EU–Kanada). 50 EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-413/06 P Bertelsmann u. Sony Corporation of America ./. Impala, EU: C:2008:392 Rn. 174; EuGH v. 19.12.2012 – C-549/11 Orfey Balgaria, EU:C:2012:832 Rn. 32; EuGH v. 19.12.2019 – Rs. C-442/18 P EZB/Espírito Santo Financial (Portugal), EU:C:2019:1117 Rn. 40. 51 Vgl. zuletzt EuGH v. 11.12.2019 – Rs. C-708/18 Asociaţia de Proprietari bloc M5A-ScaraA, EU: C:2019:1064 Rn. 60; EuGH v. 30.4.2020 – Rs. C-5/19, Оvergas Mrezhi u. Balgarska gazova asotsiatsia, EU:C:2020:343 Rn. 88; EuGH v. 14.5.2020 – Rs. C-924/19 PPU u. C-925/19 PPU Országos Idegenrendeszeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, EU:C:2020:367 Rn. 147. Eingehend Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 7 ff. 52 Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (1.12.2009) hat der Gerichtshof 6874 Rechtssachen entschieden (Stand: 31.12.2019). In 758 Rechtssachen wurde die Charta der Grundrechte zitiert (11,02 %). Die Zahl dieser Rechtssachen wächst beständig, zuletzt von 89 Rechtssachen in 2016 (12,64 %) über 97 in 2017 (13,87 %), 107 in 2018 (14,08 %) auf 119 in 2019 (13,75 %).
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Grundrechtskonformität des sekundären Unionsrechts strikte Maßstäbe an, wie die Nichtigerklärung der Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten belegt.53 Im Fokus seiner Grundrechte-Rechtsprechung stehen vielfach Fälle zur Auslegung von Art. 47 der Charta (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht).54
c) Völkerrechtskonforme Auslegung Eine weitere Auslegungsregel, die der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung be- 22 tont, ist die Verpflichtung, das Unionsrecht nach Möglichkeit im Lichte des Völkerrechts auszulegen,55 insbesondere soweit es um die Durchführung der von der Union geschlossenen völkerrechtlichen Verträge geht.56 Diese Auslegungsregel folgt der Maxime, dass die Union ihre Befugnisse unter Beachtung des gesamten Völkerrechts ausüben muss, also nicht nur der Regeln und Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts und des Völkergewohnheitsrechts, sondern auch der Vorschriften der internationalen Übereinkünfte, die sie binden.57 Nach Art. 31 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge58 sind völkerrechtliche Verträge nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht ihres Ziels und Zwecks auszulegen.59 Außerdem ist einem Begriff gemäß dieser Bestimmung eine be-
53 EuGH v. 8.3.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 Digital Rights Ireland u. a., EU:C:2014:238. 54 Allein im ersten Halbjahr 2020 hat der Gerichtshof in acht Urteilen Art. 47 GrCh ausgelegt (vgl. EuGH v. 29.1.2020 – Rs. C-785/18 GAEC Jeanningros, EU:C:2020:46; EuGH v. 4.2.2020 – verb. Rs. C515/17 P u. C-561/17 P Uniwersytet Wrocławski/REA, EU:C:2020:73: EuGH v. 12.3.2020 – Rs. C-659/18, VW, EU:C:2020:201 (Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht); EuGH v. 19.3.2020 – Rs. C-406/18 PG, EU:C:2020:216; EuGH v. 19.3.2020 – Rs. C-564/18 Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal, EU:C:2020:218; EuGH v. 26.3.2020 – verb. Rs. C-542/18 RX-II u. C-543/18 RX-II, Überprüfung Simpson/Conseil, EU:C:2020:232; EuGH v. 7.5.2020 – Rs. C-267/19 u. C-323/19 PARKING, EU:C:2020:351; EuGH v. 14.5.2020 – Rs. C-263/19 T-Systems Magyarország e.a., EU:C:2020:373). 55 Vgl. EuGH v. 24.11.1992 – Rs. C-286/90 Poulsen u. Diva Navigation, EU:C:1992:453 Rn. 9; Vgl. EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P u. C-415/05 P Kadi u. a. . /. Rat u. Kommission, EU:C:2008:461 Rn. 291. Eingehend zur völkerrechtskonformen Auslegung Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 29 ff.; Simon, in: Kronenberger/D’Allesio/Placco (Hrsg.), De Rome à Lisbonne: les juridictions de l’Union européenne à la croisée des chemins (2013), S. 279 ff. 56 Vgl. EuGH v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96 Racke, EU:C:1998:293 Rn. 45; ; EuGH v. 21.12.2016 – Rs. C104/16 P Rat ./. Front Polisario, EU:C:2016:973 Rn. 86; zuletzt EuGH v. 19.12.2019 – Rs. C-263/18 Nederlands Uitgeversverbond et Groep Algemene Uitgevers, EU:C:2019:1111 Rn. 38 m. w. N. 57 EuGH v. 27.2.2018 – Rs. C-266/16 Western Sahara Campaign UK, EU:C:2018:118 Rn. 47. 58 United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331. 59 EuGH v. 2.3.1999 – Rs. C‑416/96 Eddline El-Yassini, EU:C:1999:107 Rn. 47; EuGH v. 24.11.2016 – Rs. C‑464/14 SECIL, EU:C:2016:896 Rn. 94; EuGH v. 26.2.2019 – Rs. C-581/17 Wächtler, EU:C:2019:138 Rn. 35.
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sondere Bedeutung beizulegen, wenn feststeht, dass dies die Absicht der Parteien war.60 23 Gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV binden die von der Union geschlossenen Übereinkünfte die Organe der Union und die Mitgliedstaaten, d. h. sie sind ab ihrem Inkrafttreten fester Bestandteil der Rechtsordnung der Union.61 Ihre Bestimmungen müssen deshalb mit den Verträgen und den aus ihnen abzuleitenden Verfassungsgrundsätzen im Einklang stehen.62 Insbesondere müssen sie inhaltlich mit den Vorschriften über die Zuständigkeiten der Unionsorgane und den anwendbaren materiell-rechtlichen Vorschriften im Einklang stehen.63 Darüber hinaus müssen die Modalitäten ihres Abschlusses den anwendbaren Form- und Verfahrensvorschriften des Unionsrechts genügen.64 Gegenüber dem unionalen Sekundärrecht genießen internationale Übereinkünfte Vorrang.65
d) Rechtsvergleichende Auslegung 24 In der Praxis eine bedeutende Rolle spielt die rechtsvergleichende Auslegung. Sie ist im Vertrag selbst angelegt. Explizit bestimmt sich seit jeher die außervertragliche Haftung der Union nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, Art. 340 AEUV i. V. m. Art. 268 AEUV. Über diese spezifische Verpflichtung hinaus hat der Gerichtshof bereits in den fünfziger Jahren aus seinem generellen Rechtsprechungsauftrag (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV) die Pflicht abgeleitet, „Fragen, für deren Lösung der Vertrag keine Vorschriften enthält, von sich aus unter Berücksichtigung der in Gesetzgebung, Lehre und Rechtsprechung der Mitgliedstaaten anerkannten Regeln zu entscheiden, wenn er sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung aussetzen will.“66 Mittlerweile ist ein Großteil der nach dieser
60 EuGH v. 27.2.2018 – Rs. C-266/16 Western Sahara Campaign UK, EU:C:2018:118 Rn. 70; EuGH v. 26.2.2019 – Rs. C-581/17 Wächtler, EU:C:2019:138 Rn. 35. 61 EuGH v. 30.4.1974 – Rs. 181/73 Haegeman, EU:C:1974:41 Rn. 5; EuGH v. 22.11.2017 – Rs. C‑224/16 Aebtri, EU:C:2017:880 Rn. 50; EuGH v. 27.2.2018 – Rs. C-266/16 Western Sahara Campaign UK, EU: C:2018:118 Rn. 46. 62 Vgl. EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P u. C-415/05 P Kadi u. a. . /. Rat u. Kommission, EU: C:2008:461 Rn. 285; EuGH v. 26.7.2017 – Gutachten 1/15, EU:C:2017:592 Rn. 67 (PNR-Abkommen EUKanada); EuGH v. 27.2.2018 – Rs. C-266/16 Western Sahara Campaign UK, EU:C:2018:118 Rn. 46. 63 EuGH v. 27.2.2018 – Rs. C-266/16 Western Sahara Campaign UK, EU:C:2018:118 Rn. 46. 64 Vgl. EuGH Gutachten 1/75 (OECD-Vereinbarung – Norm für die lokalen Kosten) v. 11.11.1975, EU: C:1975:145, S. 1360 u. 1361; EuGH v. 26.7.2017 – Gutachten 1/15, EU:C:2017:592 Rn. 69 u. 70 (PNR Abkommen EU-Kanada); EuGH v. 27.2.2018 – Rs. C-266/16 Western Sahara Campaign UK, EU:C:2018:118 Rn. 46. 65 Vgl. EuGH v. 21.12.2011 – Rs. C-366/10 Air Transport Association of America u. a., EU:C:2011:864 Rn. 50; EuGH v. 11.4.2013 – verb. Rs. C-335/11 und C-337/11 HK Danmark, EU:C:2013:222 Rn. 28; EuGH v. 16.7.2015 – Rs. C-612/13 P ClientEarth ./. Kommission, EU:C:2015:486 Rn. 33–36; EuGH v. 4.2.2016 – verb. Rs. C-659/13 u. C-34/14 C & J Clark International, EU:C:2016:74 Rn. 82. 66 EuGH v. 12.7.1957 – verb. Rs. 7/56 u. 3–7/57 Algera u. a. ./. Gemeinsame Versammlung, EU:C:1957:7.
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Methode entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich der Grundrechte Bestandteil der Charta der Grundrechte. Seit deren Inkrafttreten stützt sich der Gerichtshof bei der Interpretation der dort genannten Rechte und Grundsätze nicht mehr auf die auch weiterhin in Art. 6 Abs. 3 EUV angeführten Rechtsquellen der EMRK und der gemeinsamen Verfassungslieferungen der Mitgliedstaaten,67 sondern legt unmittelbar die Chartabestimmungen aus, was zu einer substantiellen „Verdichtung“ des Grundrechtsschutzes geführt hat.68 Davon ausgenommen bleiben in der richterlichen Praxis die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung, die der Gerichtshof weiterhin als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts kennzeichnet,69 ohne speziell auf die Art. 20 und 21 der Charta in Bezug zu nehmen.70 Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird regelmäßig ohne textuelle Referenz auf Charta oder Vertragsbestimmungen geprüft.71 Soweit der Gerichtshof über diese Kodifizierung hinaus aufgerufen ist, sich zu Be- 25 stehen und Reichweite allgemeiner Rechtsgrundsätze zu äußern,72 hat er im Fall Audiolux generell präzisiert, dass allgemeine Rechtsgrundsätze Verfassungsrang ha-
67 Vgl. Skouris, in: Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde (2013), S. 83, 89 f.; Peers/Hervey/Kenner/Ward-Lenaerts/Gutiérrez-Fons, The EU Charter of Fundamental Rights: A Commentary (2014), S. 1559, 1592; Berger, ÖJZ 2012, 205, 211; Rosas/Kaila, Il Diritto dell’Unione Europea 2011, 12; von Danwitz/Paraschas, Fordham Int’l LJ 2012, 1396, 1423 f.; Kokott/Sobotta, The Charter of Fundamental Rights of the European Union after Lisbon, EUI Working Papers AEL 2010/6, S. 4; Safjan, Areas of Application of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, EUI Working Papers LAW 2012/22, S. 13 f. 68 Vgl. Stotz/Škvařilová-Pelzl, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung (2014), S. 957 (Rn. 69 ff.): Die „Verdichtung“ des Grundrechtsschutzes folgt aus dem Umstand, dass die Charta nicht nur Grundrechte und Grundsätze (Art. 52 Abs. 4 u. 5) enthält, die partiell einen weitergehenden Schutz als die EMRK gewähren (Art. 52. Abs. 1), sondern auch eine eigene Schrankensystematik (Art. 52 Abs. 2), die der Gerichtshof im Hinblick auf jedes Grundrecht konkret und konsequent durchprüft, vgl. zuletzt EuGH v. 8.3.2014 – verb. Rs. C-293/12 u. C-594/12 Digital Rights Ireland u. a., EU:C:2014:238 Rn. 38–69 (Vorratsdatenspeicherung). 69 Zum Grundsatz der Gleichbehandlung vgl. EuGH v. 28.6.2018 – Rs. C-564/16 P EUIPO/Puma EU: C:2018:509 Rn. 60; zum Grundsatz der Nichtdiskriminierung vgl. EuGH v. 12.12.2019 – Rs. C-376/18 Slovenské elektrárne, EU:C:2019:1068 Rn. 36. 70 Dies erfolgt nur vergleichsweise selten, vgl. EuGH v. 9.3.2017 – Rs. C-406/15 Milkova, EU: C:2017:198 Rn. 55; EuGH v. 15.11.2018 – Rs. C-457/17 Maniero, EU:C:2018:912 Rn. 36. 71 Vgl. EuGH v. 12.12.2019 – verb. Rs. C-381/18 u. C-382/18, G.S., EU:C:2019:1072 Rn. 51 (Gefahr für die öffentliche Ordnung). Ausnahme: EuGH v. 4.6.2020 – Rs. C-456/18 P Ungarn ./. Kommission, EU: C:2020:421 Rn. 41, in dem der Gerichtshof präzisiert: „Auf diesen Grundsatz verweist Art. 5 Abs. 4 EUV und Art. 1 des Protokolls (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, das dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügt ist.“ 72 Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die richterrechtlich entwickelt und regelmäßig in Bezug genommen werden, zählen u. a. die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, vgl. EuGH v. 10.12.2015 – Rs. C-427/14 SIA Veloserviss, EU:C:2015:803 Rn. 29–39; EuGH v. 13.2.2019 – Rs. C434/17 Human Operator, EU:C:2019:112 Rn. 34–36, sowie die Wahrung der Verteidigungsrechte im Verwaltungsverfahren, vgl. EuGH v. 9.11.2017 – Rs. C-298/16 Ispas, EU:C:2017:843 Rn. 26–29.
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ben.73 Regelungen, die sehr spezifische Fallkonstellationen betreffen und eine detaillierte gesetzgeberische Ausarbeitung erfordern, sind dem abgeleiteten Unionsrecht zuzurechnen.74 Ihnen fehlt der allgemeine übergreifende Charakter, der allgemeinen Rechtsgrundsätzen naturgemäß innewohnt.75 26 Methodisch hebt der Gerichtshof seit Beginn seiner Grundrechts-Rechtsprechung hervor, dass „die Gewährleistung dieser Rechte zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein [muss]“, dass sie sich aber auch „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen [muss].“76 Dieser Ansatz zeichnet einen zweistufigen Prozess bei der Ermittlung von Bestehen und Bedeutungsgehalt allgemeiner Rechtsgrundsätze vor: Zunächst erfolgt die Bestandsaufnahme der nationalen Rechtsordnungen, danach die Wertung im Lichte von Struktur und Zielen der Union. 27 Dieser Linie folgend hat der Gerichtshof einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkannt.77 Ein solcher Anspruch, „wie er in den meisten Mitgliedstaaten vorgesehen ist“, setze nicht voraus, „dass das Verhalten des Beklagten rechtswidrig oder schuldhaft war.“ Ferner müsse der Bereicherung jede wirksame Rechtsgrundlage, etwa in Form vertraglicher Verpflichtungen, fehlen.78 Da unter diesen Umständen die ungerechtfertigte Bereicherung „ein den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsames außervertragliches Schuldverhältnis begründet, kann sich die Gemeinschaft der Anwendung dieser Grundsätze auf sie selbst nicht entziehen, wenn ihr eine natürliche oder juristische Person zur Last legt, sie habe sich zu deren Lasten ungerechtfertigt bereichert.“79 Die Rechtsvergleichung dient also der Kohärenz zwischen europäischen und nationalen Regelungsmodellen. 28 Umstritten ist, ob es der wertende Vergleich auch erlaubt, allgemeine Rechtsgrundsätze anzuerkennen, wenn diese nur in einer Minderheit mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen verankert sind. Generalanwalt Poiares Maduro sah in dem Um-
73 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u. a., EU:C:2009:626 Rn. 63. 74 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u. a., EU:C:2009:6263 Rn. 62, 63. 75 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u. a., EU:C:2009:6263 Rn. 42, 63. So weist etwa der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er in der aus dem Urteil EuGH v. 11.2.2006 – Rs. C-255/02, Halifax u. a., EU:C:2006:121 Rn. 68 u. 69 hervorgegangenen Rechtsprechung auf den Bereich der Mehrwertsteuer angewandt wird, den allgemeinen Charakter auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt, vgl. EuGH v. 22.11.2017 – Rs. C-251/16 Cussens u. a., EU:C:2017:881 Rn. 31. Folglich kann der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken einem Steuerpflichtigen entgegengehalten werden, um ihm u. a. das Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen, vgl. EuGH v. 22.11.2017 – Rs. C-251/16 Cussens u. a., EU:C:2017:881 Rn. 33. 76 EuGH v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 Internationale Handelsgesellschaft, EU:C:1970:114 Rn. 4. 77 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P Masdar (UK), EU:C:2008:726. 78 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P Masdar (UK), EU:C:2008:726 Rn. 46. 79 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P Masdar (UK), EU:C:2008:726 Rn. 47.
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stand, dass nur das spanische und französische Recht eine Haftung der öffentlichen Hand für einen rechtmäßigen Gesetzgebungsakt vorsehen, kein Hindernis für die Anerkennung eines solchen Grundsatzes im Unionsrecht.80 Der Gerichtshof ist dem nicht gefolgt und hat festgestellt, dass er zwar aufgrund der vergleichenden Prüfung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sehr früh eine Übereinstimmung dieser Rechtsordnungen hinsichtlich der Anerkennung eines Grundsatzes der Haftung für rechtswidriges Handeln oder Unterlassen der öffentlichen Gewalt, einschließlich normativer Art, getroffen habe, „dass dies aber keineswegs auch in Bezug auf das eventuelle Bestehen eines Grundsatzes der Haftung für rechtmäßiges Handeln oder Unterlassen der öffentlichen Gewalt, insbesondere wenn es normativer Art ist, gilt.“81 Generalanwältin Kokott hält dennoch prinzipiell daran fest, dass auch ein Rechtsgrundsatz, der nur in einer Minderheit der nationalen Rechtsordnungen bekannt oder gar fest verankert ist, von den Unionsgerichten als Bestandteil der Unionsrechtsordnung identifiziert werden kann.82 Soweit ersichtlich ist der Gerichtshof jedoch weiterhin nicht bereit, das Ergebnis der Bestandsaufnahme der nationalen Rechtsordnungen über eine derart weitreichende Wertung zu korrigieren.83 In seinem Urteil Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals ./. Kommission aus dem Jahre 201084 hat er darauf hingewiesen, dass sich die Rechtslage in den Mitgliedstaaten der Union in den Jahren seit der Verkündung des Urteils AM & S Europe ./. Kommission aus dem Jahre 198285 nicht in einem Maße entwickelt hat, das es rechtfertigen würde, Syndikusanwälten den Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant zuzuerkennen. In Bezug auf die Rechtsordnungen der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (2010) könne „keine überwiegende Tendenz“ zugunsten des Schutzes der Vertraulichkeit der unternehmens- oder konzerninternen Kommunikation mit Syndikusanwälten festgestellt werden.86 Fehlt eine solche Tendenz, kommt die Anerkennung eines allgemeinen aus den nationalen Rechtsordnungen abgeleiteten Rechtsgrundsatzes demnach faktisch nicht in Betracht. Dies schließt nicht aus, dass allgemeine Rechtsgrundsätze darüber hinaus ihren 29 Geltungsgrund unmittelbar in den Grundrechten bzw. einer grundrechtskonformen Auslegung des Sekundärrechts finden können. In der Rechtssache Google Spain und
80 GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 20.2.2008 – verb. Rs. C-120/06 P u. C-121/06 P FIAMM u. a., EU:C:2008:476 Rn. 55–57, 62, 63. 81 EuGH v. 9.9.2008 – verb. Rs. C-120/06 P und C-121/06 P FIAMM u. a., EU:C:2008:476 Rn. 175. 82 GA Kokott, Schlussanträge v. 29.4.2010 – Rs. C-550/07 Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals, EU:C:2010:229 Tz. 95. 83 Die von GA Kokott als Beleg für ihre These angeführte Rechtsprechung relativiert sie selbst, vgl. Schlussanträge v. 29.4.2010 – Rs. C-550/07 Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals, EU:C:2010:229 Tz. 96. 84 EuGH v. 14.9.2010 – Rs. C-550/07 P Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals, EU:C:2010:512 Rn. 76. 85 EuGH v. 18.5.1982 – Rs. 155/79 AM & S Europe, EU:C:1982:157 Rn. 19 ff. 86 EuGH v. 14.9.2010 – Rs. C-550/07 P Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals, EU:C:2010:51 Rn. 74.
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Google ging es um die Frage, ob eine betroffene Person von einem Suchmaschinenbetreiber verlangen kann, von der Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, Links zu von Dritten rechtmäßig veröffentlichten Internetseiten mit wahrheitsgemäßen Informationen über sie zu entfernen, weil diese Informationen ihr schaden können oder weil sie möchte, dass sie nach einer gewissen Zeit „vergessen“ werden. Im Hinblick auf den Vortrag der Kläger des Ausgangsverfahrens, ihnen stehe ein „Recht auf Vergessenwerden“ zu,87 erwähnt Generalanwalt Jääskinen kurz die Rechtslage in „einigen Mitgliedstaaten“, die jedoch offensichtlich mehrheitlich kein derartiges Recht widerspiegelt.88 Er lehnt deshalb die Existenz eines solchen Rechts auf Unionsebene ab. Der Gerichtshof geht darauf nicht gesondert ein, sondern beschränkt sich von vornherein auf die Auslegung der Richtlinie im Lichte der Grundrechte auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 GRCh) und auf Schutz der personenbezogenen Daten (Art. 8 GRCh). Danach überwiegen die Rechte Einzelner auf Nichtverbreitung sie betreffender Informationen grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu der Information.89 Nicht ein rechtsvergleichender Befund, sondern die grundrechtskonforme Auslegung entsprechender Richtlinienbestimmungen hat hier faktisch den Weg zur Anerkennung eines allgemeinen Rechts auf Vergessenwerden geebnet. 30 Jenseits der Ermittlung des Bestehens und der Reichweite allgemeiner Rechtsgrundsätze erweist sich die Rechtsvergleichung in der Praxis des Gerichtshofs darüber hinaus als unverzichtbare Erkenntnisquelle für die Auslegung des primären und sekundären Unionsrechts. Auch hier steht der Gedanke der Kohärenz europäischer und nationaler Regelungsmodelle im Vordergrund (oben Rn. 27). Am häufigsten nutzt der Gerichtshof rechtsvergleichende Erkenntnisse in Fällen, in denen das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Spielräume im Rahmen der Einschränkung von Grundfreiheiten oder der Umsetzung von Richtlinien einräumt.90 Es geht dann darum, den Umfang dieser Spielräume zu bestimmen. Da hier regelmäßig die Rechtmäßigkeit von Handlungen einzelner Mitgliedstaaten zur Diskussion steht, kann für den Gerichtshof ein Blick auf Rechtslage und -praxis in anderen Mitgliedstaaten hilfreich sein. Dass er in diesen wie auch in anderen Fällen auf solche Erkenntnisse zurückgreift, belegen vor allem die Schlussanträge der Generalanwälte.91 Die Urteile selbst sind dazu weniger
87 EuGH v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 Google Spain und Google, EU:C:2014:317 Rn. 91. 88 GA Jääskinen, Schlussanträge v. 25.6.2013 – Rs. C-131/12 Google Spain und Google, EU:C:2013:424 Fn. 67. 89 EuGH v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 Google Spain und Google, EU:C:2014:317 Rn. 99. 90 Eine systematische Auswertung der Rechtsprechung kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Zu einer Typologie rechtsvergleichender Ansätze in der Rechtsprechung vgl. Lenaerts, in: Van der Mensbrugghe (Hrsg.), L’utilisation de la méthode comparative en droit européen (2003), S. 111, 113 ff. 91 Vgl. GA Bobek, Schlussanträge v. 21.12.2016 – Rs. C-213/15 P Kommission ./. Patrick Breyer, EU: C:2016:994, Tz. 105–112; GA Bot, Schlussanträge v. 6.9.2017 – Rs. C-367/16 Piotrowski, EU:C:2017:636
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ergiebig. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Gerichtshof im Zuge der gerichtsinternen Bearbeitung der Fälle sehr viel häufiger rechtsvergleichende Überlegungen anstellt, als sich dies in Schlussanträgen oder Urteilen widerspiegelt.92 Zu den Fällen, in denen die Rechtsvergleichung im Rahmen der Einschränkung 31 der Grundfreiheiten eine Rolle gespielt hat, zählen die Vertragsverletzungsverfahren Kommission ./. Polen93 und Kommission ./. Litauen94, in denen es um die in beiden Staaten bestehende Verpflichtung ging, für die Zulassung von Personenkraftwagen eine ggf. auf der rechten Seite befindliche Lenkanlage auf die linke Seite zu versetzen. Nachdem bereits Generalanwalt Jääskinen unter Hinweis auf die Rechtslage in anderen Mitgliedstaaten festgestellt hatte, dass die beklagten Staaten mit dieser Regelung relativ isoliert seien und es gemäßigtere Ansätze gebe, um die Sicherheit des Straßenverkehrs zu gewährleisten,95 stellte der Gerichtshof fest, nach den ihm zur Verfügung stehenden Informationen erlaubten die Regelungen von 22 Mitgliedstaaten, d. h. der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten, entweder ausdrücklich die Zulassung von Fahrzeugen, deren Fahrerplatz sich auf derselben Seite wie die Verkehrsrichtung befindet, oder tolerierten sie, auch wenn in bestimmten dieser Mitgliedstaaten der Zustand des Straßennetzes mit dem in der Republik Polen vergleichbar sei.96 Zusammen mit anderen Erwägungen qualifizierte er deshalb die streitigen Regelungen als unverhältnismäßig und damit als einen Verstoß gegen Art. 34 AEUV sowie die entsprechenden EU-Richtlinien.97 Zu erwähnen ist schließlich der große Bereich der Richtlinien, in dem der Ge- 32 richtshof immer wieder mit Rechtsfragen konfrontiert wird, bei deren Beantwortung die rechtsvergleichende Perspektive hilfreich ist. So stellte sich in der Rechtssache Chatzi98 die Frage, ob die Rahmenvereinbarung über Elternurlaub im Anhang der Richtlinie 96/75/EG dahin auszulegen ist, dass bei der Geburt von Zwillingen der im nationalen Recht vorgesehene Elternurlaub zu verdoppeln ist. Der Gerichtshof ver
Tz. 51–53; GA Szpunar, Schlussanträge v. 22.2.2018 – Rs. C-20/17 Oberle, EU:C:2018:89 Tz. 23–25; GA Campos Sánchez-Bordona, Schlussanträge v. 26.4.2018 – Rs. C-129/17 Mitsubishi Shoji Kaisha u. Mitsubishi Caterpillar Forklift Europe, EU:C:2018:292 Tz. 61–65. 92 Auf der Webseite des Gerichtshofs (www.curia.europa.eu) finden sich seit jüngerer Zeit unter der Rubrik „Justitielles Netzwerk der EU“ ausgewählte wissenschaftliche Vorarbeiten und Dokumentationen, darunter auch von seiner Direktion „Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation“ erstellte „Recherchevermerke“ (notes de recherche). Diese sind regelmäßig rechtsvergleichend angelegt. 93 EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-639/11 Kommission ./. Polen, EU:C:2014:173. 94 EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-61/12 Kommission ./. Litauen, EU:C:2014:172. 95 GA Jääskinen, Schlussanträge v. 7.11.2013 – Rs. C-639/11 Kommission ./. Polen u. Rs. C-61/12 Kommission ./. Litauen, EU:C:2013:728 Tz. 93–96. 96 EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-639/11 Kommission ./. Polen, EU:C:2014:173 Rn. 61 bzw. EuGH v. 20.3. 2014 – Rs. C-61/12 Kommission ./. Litauen, EU:C:2014:172 Rn. 66. 97 EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-639/11 Kommission ./. Polen, EU:C:2014:173 Rn. 64 bzw. EuGH v. 20.3. 2014 – Rs. C-61/12 Kommission ./. Litauen, EU:C:2014:172 Rn. 69. 98 EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 Chatzi, EU:C:2010:534. Stotz
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neinte dies unter Hinweis darauf, dass es sich bei den Bestimmungen der Rahmenvereinbarung um Mindestanforderungen handelt, bei denen die Mitgliedstaaten ein weites Ermessen bei der Durchführung des Elternurlaubs haben, und sich die nationalen Umsetzungsmaßnahmen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erheblich unterscheiden.99 Eine Verdopplung der Dauer des Elternurlaubs stelle nicht unbedingt die einzige geeignete Maßnahme dar, die die Mitgliedstaaten ergreifen könnten, um Eltern von Zwillingen die Abstimmung zwischen Familien- und Berufsleben zu erleichtern; vielmehr müsse das gesamte System betrachtet werden, zu dem die Maßnahmen gehörten, mit denen den Belastungen, denen sich diese Eltern gegenübersehen, begegnet werden solle.100 Wie bereits erwähnt (oben Rn. 29), lässt sich aus einem Rechtsvergleich nicht immer eine von der Mehrheit der Mitgliedstaaten getragene Rechtslage oder -praxis ableiten.101 Das mindert aber nicht deren Erkenntniswert, sondern verstärkt vielmehr die Bedeutung der vor allem an den Zielen der Regelung orientierten Auslegung.
III. Auslegung des nationalen Rechts 1. Vertragsverletzungsverfahren 33 Die Verträge beschränken die Rolle des Gerichtshofs nicht auf die Auslegung des Uni-
onsrechts, sondern erkennen ihm in bestimmten Fallkonstellationen unmittelbar die Aufgabe zu, auch nationales Recht auszulegen bzw. anzuwenden. Der bekannteste Fall ist die Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV,102 bei der der Gerichtshof in einem streitigen Verfahren über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht befindet.103 Die Aufgabe, den Sinngehalt des nationalen Rechts zu ermitteln, wird ihm dadurch erleichtert, dass der betroffene Mitgliedstaat an dem Verfahren als Partei beteiligt ist und seine streitige Regelung erläutern und rechtfertigen kann und dass es letztlich der Kommission obliegt, den Nachweis der Unionsrechtswidrigkeit zu erbringen, wobei sie sich nicht auf eine Vermutung gleich welcher Art stützen kann.104 Beruht aber die Vertragsverletzung auf dem Erlass einer Maßnahme in Form
99 EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 Chatzi, EU:C:2010:534 Rn. 60. Vgl. GA Kokott, Stellungnahme v. 7.7.2010 – Rs. C-149/10 Chatzi, EU:C:2010:407 Tz. 54 mit näheren Angaben zur Rechtslage in den Mitgliedstaaten. 100 EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 Chatzi, EU:C:2010:534 Rn. 59. 101 Vgl. auch GA Bot, Schlussanträge v. 10.3.2011 – Rs C-34/10 Brüstle, EU:C:2011:138 Tz. 66 ff. zur Auslegung des Begriffs des menschlichen Embryos. 102 Entsprechendes gilt für die Staatenklage nach Art. 259 AEUV. 103 Vgl. Stotz/Škvařilová-Pelzl, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung (2014), S. 993 ff. (Rn. 73 ff.). 104 St. Rspr., vgl. EuGH v. 18.6.2020 – Rs. C-78/18 Kommission ./. Ungarn, EU:C:2020:476 Rn. 36 mwN (Transparenz von Vereinigungen).
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eines Gesetzes oder einer Verordnung, deren Existenz und Anwendung nicht bestritten werden, so kann deren Vorliegen im Rahmen der Begründetheitsprüfung durch eine rechtliche Analyse der Bestimmungen dieser Maßnahme nachgewiesen werden.105 Bringt die Kommission, von diesen Fällen abgesehen, genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts im Gebiet des beklagten Mitgliedstaats bei, obliegt es diesem, diese Angaben und deren Folgen substantiiert zu bestreiten (Umkehr der Beweislast).106
2. Schiedsverfahren Wesentlich größere Probleme stellen sich in dem – allerdings seltenen – Fall, dass die 34 Zuständigkeit des Gerichtshofs auf der Schiedsklausel eines privatrechtlichen Vertrags zwischen der Kommission und einem Unternehmen nach Art. 272 AEUV beruht, in dem die Geltung nationalen Rechts vereinbart ist und das Gericht der EU die Vertragsklauseln im Lichte des nationalen Rechts auslegen muss. Von der Kommission, die in diesem Verfahren als Partei auftritt, kann das Gericht insoweit keine „neutrale“ Stellungnahme wie der Gerichtshof üblicherweise in den Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV erwarten. Der Mitgliedstaat wiederum, dessen Recht dem Vertrag zugrunde liegt, tritt dem Rechtsstreit in aller Regel nicht bei. Das Gericht ist deshalb in der Situation eines jeden nationalen Richters, der in einem Fall mit Auslandsberührung nach den Regeln des Internationalen Privatrechts ausländisches Recht anwenden muss und dabei naturgemäß größeren Risiken der Fehlinterpretation ausgesetzt ist als bei der Auslegung des ihm vertrauten Rechts.107 Bislang nicht eindeutig geklärt ist, unter welchen Voraussetzungen die Anwendung nationalen Rechts, das das Gericht aufgrund einer entsprechenden Rechtswahl der Parteien im erstinstanzlichen Verfahren angewandt hat, einer Überprüfung durch den Gerichtshof im Rechtsmittel zugänglich ist.108
105 EuGH v. 18.6.2020 – Rs. C-78/18 Kommission ./. Ungarn, EU:C:2020:476 Rn. 37 (Transparenz von Vereinigungen). 106 Vgl. EuGH v. 24.1.2018 – Rs. C-433/15 Kommission ./. Italien, EU:C:2018:31 Rn. 43, 44; EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-248/19 Kommission ./. Zypern, EU:C:2020:171 Rn. 20, 21 (Sammlung und Reinigung von kommunalem Abwasser). 107 Vgl. EuGH v. 17.2.2000 – Rs. C-156/97 Kommission ./. Van Balkom, EU:C:2000:88 Rn. 10, 33, 42, 46. 108 Siehe GA Kokott, Schlussanträge v. 27.2.2014 – Rs. C-531/12 P Commune de Millau u. SEMEA, EU: C:2014:1946 Tz. 71 ff.: die GA schlägt vor, die bisherige Rechtsprechungslinie zu überdenken und die in der Rs. Edwin ./. HABM für das Markenrecht entwickelte Lösung (siehe folgende Rn.) auf das Rechtsmittelverfahren in Schiedsklauselfällen zu übertragen. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil v. 19.6. 2014 zu dieser Frage nicht explizit Stellung bezogen.
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3. Unionsrechtlicher Verweis auf nationales Recht 35 Gelegentlich verweist das Unionsrecht auch auf das nationale Recht. Eine interessan-
te Entwicklung hinsichtlich der Zuständigkeit der Unionsgerichte zur Auslegung nationaler Rechtsvorschriften ist in den letzten Jahren auf dem Gebiet des Markenrechts zu verzeichnen. Im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens betreffend einen Antrag auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke aufgrund eines nach nationalem Recht geschützten älteren Namensrechts bestätigte der Gerichtshof die Zuständigkeit des Gerichts, die Rechtmäßigkeit der vom HABM vorgenommenen Beurteilung der angeführten nationalen Rechtsvorschriften zu überprüfen.109 Zugleich stellte der EuGH fest, er sei zuständig zu prüfen, ob das Gericht auf der Grundlage der ihm vorgelegten Unterlagen den Wortlaut der fraglichen nationalen Vorschriften oder der sich auf sie beziehenden nationalen Rechtsprechung und juristischen Literatur nicht verfälscht hat und ob es keine Feststellungen getroffen hat, die dem Inhalt oder der Tragweite der in Frage stehenden nationalen Rechtsnormen offensichtlich zuwiderlaufen.110 In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage, ob das Gericht von Amts wegen den Inhalt nationalen Rechts ermitteln darf, das von der Partei geltend gemacht wird, welche die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke wegen eines älteren Rechts, das von diesem nationalen Recht geschützt wird, beantragt.111 Der Gerichtshof hat diese Frage unter Hinweis auf die praktische Wirksamkeit der Gemeinschaftsmarkenverordnung und auf den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bejaht.112
4. Unionsrechtskonforme Auslegung 36 Soweit der Gerichtshof – wie im Regelfall – nicht selbst nationales Recht auslegt, er-
innert er den nationalen Richter an dessen Verpflichtung, sein nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen. Diese Verpflichtung kommt zum Tragen, um einen Konflikt zwischen unionsrechtlicher und nationaler Rechtsordnung im Wege der Auslegung zu verhindern. Ihren Ursprung hat sie in dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz, eine Vorschrift nach Möglichkeit so auszulegen, dass ihre
109 EuGH v. 5.7.2011 – Rs. C-263/09 P Edwin ./. HABM, EU:C:2011:452 Rn. 52. Vgl. auch Idot, Europe 2011 Nr. 8–9, 39 f.; Lerach, E.L.Rep. 2011, 220 ff.; Trézéguet, RLDI 2011, 40 f. 110 EuGH v. 5.7.2011 – Rs. C-263/09 P Edwin ./. HABM, EU:C:2011:452 Rn. 53; Siehe ausführlich dazu GA Kokott, Schlussanträge v. 27.1.2011 – Rs. C-263/09 P Edwin ./. HABM, EU:C:2011:30 Tz. 49 ff. EuGH v. 21.12.2016 – Rs. C-524/14 P Kommission ./. Hansestadt Lübeck, EU:C:2016:971 Rn. 20. 111 Bejahend GA Bot, Schlussanträge v. 28.11.2013 – Rs. C-530/12 P HABM ./. National Lottery Commission, EU:C:2013:782 Tz. 86 ff. 112 EuGH v. 27.3.2014 – Rs. C-530/12 P HABM ./. National Lottery Commission, EU:C:2014:186 Rn. 39 ff.
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III. Auslegung des nationalen Rechts
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Gültigkeit nicht infrage steht.113 Diese Regel, als verfassungskonforme Auslegung aus dem innerstaatlichen Bereich bekannt und ebenso im Verhältnis des sekundären zum primären Unionsrecht anwendbar (oben Rn. 20), liegt auch der Rechtsprechung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts zugrunde.114 Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, „dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts, wonach es dem nationalen Gericht obliegt, das nationale Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht auszulegen, dem System der Verträge immanent ist, da dem nationalen Gericht dadurch ermöglicht wird, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidet.“115 Zu den Prüfungsparametern zählen auch die in der Charta enthaltenen Grundrechte und allgemeinen Grundsätze.116 Gelingt die konforme Auslegung nicht, wird der Konflikt im Falle unmittelbar wirksamen Unionsrechts durch die Vorrangregel entschieden, d. h. die Gerichte dürfen entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.117 Aber auch dort, wo die Vorrangregel nicht greift, verpflichtet der Gerichtshof die 37 mitgliedstaatlichen Gerichte zu unionsrechtskonformer Auslegung. Relevant wird dies bei Richtlinienbestimmungen, bei denen entweder nicht alle Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirksamkeit – inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt – vorliegen oder die zwar diese Voraussetzungen erfüllen, eine unmittelbare Wirkung aber dennoch nicht in Betracht kommt, weil die entsprechende Richtlinienbestimmung in einem Rechtsstreit, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, unmittelbar zur Anwendung kommen soll, was der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung zu Recht ablehnt.118 Im Fall Pfeiffer hat der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte noch einmal eindringlich daran erinnert, alle im nationalen Recht vorhandenen Auslegungsmethoden zu nutzen, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen:
113 EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-403/99 Italien ./. Kommission, EU:C:2001:507 Rn. 37. 114 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153. 115 St. Rspr., vgl. EuGH v. 19.11.2019 – verb. Rs. C-585/18, C-624/18 u. C-625/18 A.K., EU:C:2019:982 Rn. 159 (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des obersten Gerichts). 116 Vgl. EuGH v. 21.12.2011 – verb. Rs. C-411/10 und C-493/10 N.S., EU:C:2011:865 Rn. 77; EuGH v. 15.2.2016 – Rs. C-601/15 PPU N, EU:C:2016:84 Rn. 60; EuGH v. 16.7.2020 – verb. Rs. C‑133/19, C‑136/ 19 u. C‑137/19 B.M.M., B.S., B.M u. B.M., EU:C:2020:577 Rn. 33. 117 St. Rspr., vgl. zuletzt EuGH 14.5.2020 – verb. Rs. C-924/19 PPU et C-925/19 PPU Országos Idegenrendeszeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, EU:C:2020:367 Rn. 139 mwN. 118 Vgl. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 24 f.; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, EU:C:2009:466 Rn. 59. Siehe aber auch EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, EU:C:2010:21 Rn. 48 ff. Sehr eingehend zu den unterschiedlichen Facetten dieser Rspr. EuGH v. 7.8.2018 – Rs C-122/17 Smith, EU:C:2018:631 Rn. 37–53.
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§ 20 Die Rechtsprechung des EuGH
„Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.“119
Gleiches gilt für die Auslegung von Rahmenbeschlüssen gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EUV.120 Auch wenn das Erfordernis der richtlinien-/rahmenbeschlusskonformen Auslegung nicht so weit reichen kann, dass ein(e) Richtlinie/Rahmenbeschluss selbst und unabhängig von einem nationalen Umsetzungsakt Einzelnen Verpflichtungen auferlegt oder die strafrechtliche Verantwortlichkeit der ihren Bestimmungen Zuwiderhandelnden bestimmt oder verschärft,121 so ist doch anerkannt, dass der Staat grundsätzlich Einzelnen eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts entgegenhalten kann.122 38 Der VIII. Senat des Bundesgerichtshofs hat aus dieser Rechtsprechung gefolgert, dass der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung von den nationalen Gerichten über eine Gesetzesauslegung im engeren Sinne, d. h. den Wortlaut, hinaus auch verlangt, das nationale Recht, wo dies nötig und möglich ist, richtlinienkonform fortzubilden.123 Eine solche Rechtsfortbildung im Wege einer teleologischen Reduktion setze eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus. Diese könne sich daraus ergeben, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung ausdrücklich seine Absicht bekundet habe, eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen, diese Annahme aber fehlerhaft sei.124 Ob das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung als zwingendes Postulat aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgeleitet werden kann, ist umstritten.125 Andere Senate des
119 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 116 f.; EuGH v. 19.9.2019 – Rs. C-467/18 Rayonna prokuratura Lom, EU:C:2019:765 Rn. 60. 120 St. Rspr., vgl. EuGH v. 24.6.2019 – Rs. C-573/17 Popławski, EU:C:2019:530 Rn. 72 ff. 121 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431 Rn. 9 u. 13; EuGH v. 26.9. 1996 – Rs. C-168/95 Arcaro, EU:C:1996:363 Rn. 36 f.; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, EU: C:2013:829 Rn. 22; EuGH v. 24.6.2019 – Rs. C-573/17 Popławski, EU:C:2019:530 Rn. 65 – 67. 122 EuGH v. 5.7.2007 – Rs. C-321/05 Kofoed, EU:C:2007:408 Rn. 45; EuGH v. 8.5.2019 – Rs. C-566/17 Związek Gmin Zagłębia Miedziowego, EU:C:2019:390 Rn. 48. 123 BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 Rn 20 ff. – Quelle, ergangen auf Vorabentscheidung des Gerichtshofs, EuGH v. 17.4.2008 – C-404/06 Quelle, EU:C:2008:231. 124 Bestätigung durch BGH v. 28.10.2015 – VIII ZR 158/11, BGHZ 207, 209 Rn. 37, auch wenn er im konkreten Fall eine rechtsfortbildende Auslegung ablehnt, vgl. Rn. 38 ff. 125 Dem VIII. Senat folgend der I. Senat, vgl. BGH v. 28.5.2020 – I ZR 7/16 Rn. 74 f. („Cookie-Einwilligung II“). Dieser Rechtsprechung zustimmend Möllers/Möhring, JZ 2008, 942; ebenso Pfeiffer, NJW 2009, 412; Möllers, JZ 2009, 405; ablehnend Höpfner, JZ 2009, 403. Siehe auch BGH v. 2.11.2011 – X ZR 43/11 zur richtlinienkonformen Auslegung im Pauschalreiserecht (ohne Erörterung der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine nationale Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut ausgelegt werden darf) sowie BGH v. 21.12.2011 – VIII ZR 70/08 (mit Bestätigung der Quelle-Rspr. zur richtlinienkonformen Rechtsfortbil
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III. Auslegung des nationalen Rechts
BGH126 betonen, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm kein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt werden darf. Richterliche Rechtsfortbildung berechtige den Richter nicht dazu, seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen. Demgemäß komme eine richtlinienkonforme Auslegung nur in Frage, wenn eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen dessen zulasse, was der gesetzgeberischen Zweck- und Zielsetzung entspreche. Die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege finde ihre Grenzen an dem nach der innerstaatlichen Rechtstradition methodisch Erlaubten.127 Die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung sieht der Gerichtshof in st. Rspr. 39 dort erreicht, wo sie in einer Auslegung contra legem mündet: „Die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, wird … durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt; auch darf sie nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.“128
Er betont zugleich einschränkend, das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung umfasse aber die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung oder Entscheidungspraxis gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruhe, die mit den Zielen einer/s Richtlinie/Rahmenbeschlusses unvereinbar sei.129 Folglich dürfe ein nationales Gericht nicht davon ausgehen, dass es eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen könne, nur weil sie in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Uni-
dung im Verbrauchsgüterkaufrecht (dazu Staudinger, DAR 2012, 228), auch ergangen auf Vorabentscheidung des Gerichtshofs, EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 u. C-87/09 Gebr. Weber u. Putz, EU: C:2011:396. Eingehend zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13. Zu weiteren Fallbeispielen der Rechtsfortbildung durch den EuGH vgl. Toader, in: Verschraegen (Hrsg.), Interdisziplinäre Studien zur Komparatistik und zum Kollisionsrecht, Bd III (2012), S. 25 ff. 126 Vgl. BGH v. 31.3.2020 – XI ZR 198/19 Rn. 13 mit Verweis auf die Rspr. der Senate IV, II und XI; ebenso BGH v. 14.5.2020 – VII ZR 174/19 Rn. 23 (Vorlagebeschluss an den EuGH – Honorarordnung für Architekten und Ingenieure). 127 BVerfG v. 26.09.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07, Rn. 47. 128 EuGH v. 19.3.2020 – verb. Rs. C-103/18 u. C-429/18 Sánchez Ruiz, EU:C:2020:219 Rn. 123 unter Verweis auf EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 110. Zuvor bereits zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, EU:C:2005:386 Rn. 45; dazu aus jüngerer Zeit EuGH v. 24.6.2019 – Rs. C-573/17 Popławski, EU:C:2019:530 Rn. 76, in dem er präzisiert, dass „die Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung dann nicht mehr (besteht), wenn das nationale Recht nicht so angewandt werden kann, dass ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem mit dem Rahmenbeschluss bezweckten Ergebnis vereinbar ist.“ 129 EuGH v. 30.4.2020 – Rs. C-661/18 CTT – Correios de Portugal, EU:C:2020:335 Rn. 61 (bzgl. Richtlinie) mwN; EuGH v. 5.9.2019 Rs. C-331/18 Pohotovosť, EU:C:2019:665 Rn. 61 (bzgl. Richtlinie); EuGH v. 4.3.2020 Rs. C-183/18 Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153 Rn. 68 (bzgl. Rahmenbeschluss) mwN.
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§ 20 Die Rechtsprechung des EuGH
onsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt worden sei oder von den zuständigen nationalen Behörden auf diese Weise angewandt werde.130 40 Abgesehen davon, dass eine contra legem-Auslegung wohl in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in höchstem Maße problematisch, wenn nicht gar generell unzulässig sein dürfte, hat die deutsche Rechtsprechung, soweit ersichtlich, diesen Schritt im Hinblick auf die unionsrechtliche Problematik niemals explizit vollzogen.131 So hat denn auch das Arbeitsgericht Lörrach in einem der Schlussurteile auf die Rechtssachen Pfeiffer u. a. eine richtlinienkonforme contra legem-Auslegung im Anschluss an das Bundesarbeitsgericht132 zu Recht abgelehnt.133 41 Sicherlich dürfte die Grenze zwischen der vom VIII. Senat des BGH geforderten richtlinienkonformen Rechtsfortbildung, die er eindeutig jenseits des Wortlauts der fraglichen nationalen Regelung verortet, und einer als contra legem zu qualifizierenden Auslegung nicht einfach zu ziehen sein. Die Berufung auf den Willen des Gesetzgebers führt dabei nicht notwendigerweise zu größerer Erkenntnis. Realistischerweise wird ein Mitgliedstaat nicht eingestehen, Richtlinienvorgaben bewusst fehlerhaft umzusetzen, da er sich mit diesem Eingeständnis einer sicheren Verurteilung durch den Gerichtshof und dem unmittelbaren Risiko nachfolgender Sanktionen (Art. 260 AEUV) sowie von Staatshaftungsansprüchen aussetzt.134 Hält ein Mitgliedstaat eine Richtlinienbestimmung für primärrechtswidrig, muss er von sich aus innerhalb bestimmter Fristen den Gerichtshof im Wege der Nichtigkeitsklage anrufen und die Aufhebung der Bestimmung beantragen. An seiner unbedingten Verpflichtung, die aus seiner Sicht fehlerhafte Bestimmung in nationales Recht umzusetzen, ändert dies nichts. Zumindest in der jüngeren deutschen Umsetzungspraxis dürften Fälle des bewussten und offenen Abweichens von Richtlinienbestimmungen nicht mehr anzutreffen sein.135 Der Wille des deutschen Gesetzgebers, Richtlinien vollständig und korrekt
130 EuGH v. 24.6.2019 – Rs. C-573/17 Popławski, EU:C:2019:530 Rn. 79. 131 Im Unterschied zu Teilen der Literatur, vgl. Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51 ff.; ebenso W.H. Roth/ Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 39. 132 BAG v. 18.9.2003 – 2 AZR 79/02 , AP KSchG 1969 § 17 Nr. 14, sub B.III.4. mwN. 133 ArbG Lörrach v. 15.4.2005 – 5 Ca 146/01, Gründe 3 b). In einer aktuellen Vorlage ersucht der BGH den EuGH um Auskunft zu der Frage, in welcher Weise die von dessen Rspr. erarbeiteten Grundsätze – keine Direktwirkung von Richtlinien zwischen Privaten, keine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts contra legem – im Fall der für unionsrechtswidrig erachteten Honorarordnung für Architekten und Ingenieure, vgl. EuGH v. 4.7.2019 – Rs. C-377/17 Kommission ./. Deutschland, EU: C:2019:562, in Einklang zu bringen sind, BGH v. 14.5.2020 – VII ZR 174/19, am EuGH anhängig als Rechtssache C-261/20, Thelen Technopark Berlin. 134 Der Staatssekretärsausschuss für Europafragen der Bundesregierung hat deshalb strikte Regeln zur rechtzeitigen Umsetzung von EU-Richtlinien sowie zur Abstellung von Vertragsverstößen sowie zur Abwendung drohender Sanktionen erlassen. Zur Staatshaftung als einer mittelbaren unionsrechtlichen Kontrolle der nationalen Gesetze vgl. Stotz/Škvařilová-Pelzl, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung (2014), S. 993 ff. (Rn. 128 ff.). 135 Auch W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 68, räumen ein, dass derartige Fälle in der Praxis „eher selten“ vorkommen.
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IV. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht
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umzusetzen, kann also generell unterstellt werden und wird zudem in jedem Umsetzungsgesetz ausdrücklich hervorgehoben. Neben der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung hat seit dem Urteil Wach- 42 auf aus dem Jahre 1989136 die EU-grundrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts stark an Bedeutung gewonnen. Art. 51 Abs. 1 GRCh verpflichtet mittlerweile die Mitgliedstaaten ausdrücklich zur Beachtung der Charta, jedoch strikt begrenzt auf die Durchführung des Rechts der Union („ausschließlich“). Im Urteil Åkerberg Fransson hat der Gerichtshof dieser Bestimmung klare Konturen gegeben.137 So stimmt der Anwendungsbereich der Charta mit demjenigen des Unionsrechts überein.138 Allerdings löst nur das die Mitgliedstaaten verpflichtende Unionsrecht die Geltung der Charta auf mitgliedstaatlicher Ebene aus,139 nicht die Vielzahl unspezifischer Unionsakte, die auf das nationale Rechts einwirken. Der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta liegt daher ein eingrenzendes Konzept zugrunde.140 Nicht zuletzt aufgrund seiner hohen praktischen Relevanz kommt dem Urteil eine besondere (verfassungs-)politische Bedeutung zu, was sich in der Intensität der wissenschaftlichen Kommentierungen niederschlägt.141
IV. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht Besondere Aufmerksamkeit widmet der Gerichtshof der Abgrenzung seiner Zuständig- 43 keit im Verhältnis zu derjenigen der mitgliedstaatlichen Gerichte. Insoweit betont er in ständiger Rechtsprechung,142 dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichts-
136 EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 Wachauf, EU:C:1989:321 sowie die Folgerechtsprechung, vgl. Stotz, FS Dauses (2014), S. 412 ff. 137 EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105 Rn. 18 ff. 138 EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105 Rn. 21. 139 Vgl. EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 Siragusa, EU:C:2014:126 Rn. 26; EuGH v. 7.9.2017 – verb. Rs. C-177/17 u. C-178/17 Demarchi Gino, EU:C:2017:656 Rn. 21. 140 Vgl. Stotz, FS Dauses (2014), S. 427; in diesem Sinne auch Lenaerts, in: Kronenberger/D’Allesio/ Placco (Hrsg.), De Rome à Lisbonne: les juridictions de l’Union européenne à la croisée des chemins (2013), S. 107, 117 f. 141 Vgl. beispielhaft die Kommentierungen des Urteils durch den ehemaligen Präsidenten des Gerichtshofs Skouris (Il Diritto dell’Unione Europea 2013, 229) sowie durch den aktuellen Präsidenten Lenaerts (siehe vorige Fn.); für die weiteren Kommentierungen – rund 140 (Stand Oktober 2015) – siehe www.curia.europa.eu unter Rechtsprechung – Urteilsanmerkungen und -besprechungen – Teil 3, S. 1049 ff.; der Gerichtshof hat auf sein Urteil Åkerberg Fransson bis Mitte 2020 in 77 Entscheidungen Bezug genommen. 142 Vgl. EuGH v. 24.10.2019 – Rs. C-35/19 État belge, EU:C:2019:894 Rn. 28 mwN (Leistung für Menschen mit Behinderung).
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§ 20 Die Rechtsprechung des EuGH
hof beruht. In die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fallen danach die gesamte Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften sowie die Festlegung des Gegenstands der Fragen.143 Auch obliegt es allein dem nationalen Gericht, sich zur Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu äußern.144 Demgegenüber beschränkt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs darauf, sich zur Auslegung oder zur Gültigkeit des Unionsrechts zu äußern, um dem vorlegenden Gericht sachdienliche Hinweise für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu geben.145 Aus dieser derart definierten Aufgabenteilung hat der Gerichtshof abgeleitet, dass er grundsätzlich gehalten ist, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen, da für solche Fragen eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt.146 Der Gerichtshof kann folglich nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.147 44 Die EuGH-Verfahrensordnung spiegelt diese Aufgabentrennung in prozeduraler Hinsicht wider. Anlässlich der Neufassung im Jahre 2012148 wurden die Regelungen über die Vorlagen zur Vorabentscheidung der praktischen Bedeutung dieser Verfahren entsprechend149 umgestaltet und präzisiert. Sie stehen nunmehr an der Spitze der Verfahrensarten,150 wobei bestimmte, aus der genannten Rechtsprechung resultierende Erfordernisse zu einzelnen Verfahrensfragen kodifiziert und weiterentwickelt wurden.151 Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten von besonderer Bedeutung sind
143 EuGH v. 15.1.2013 – Rs. C‑416/10 Križan u. a. EU:C:2013:8, Rn. 58 mwN; EuGH v. 6.3.2018 – verb. Rs. C-52/16 u. C-113/16 SEGRO, EU:C:2018:157 Rn. 98; EuGH v. 14.11.2019 – Rs. C-484/18 Spedidam u. a., EU:C:2019:970 Rn. 28 f. 144 Vgl. EuGH v. 30.4.2020 – Rs. C-661/18 CTT – Correios de Portugal, EU:C:2020:335 Rn. 28. 145 EuGH v. 24.10.2019 – Rs. C-35/19 État belge, EU:C:2019:894 Rn. 28 (Leistungen für Menschen mit Behinderung); EuGH v. 14.5.2020 – verb. Rs. C-924/19 PPU u. C-925/19 PPU Országos Idegenrendeszeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, EU:C:2020:367 Rn. 179. 146 EuGH v. 9.7.2020 – Rs. C-673/18 Santen, EU:C:2020:531 Rn. 27 mwN. 147 EuGH v. 9.7.2020 – Rs. C-673/18 Santen, EU:C:2020:531 Rn. 27 mwN. 148 ABl. 2012 L 265/1. Vgl. die aktuelle, ab dem 1.1.2020 geltende konsolidierte Fassung der EuGHVerfahrensordnung 2012 auf www.curia.europa.eu unter Gerichtshof – Verfahren. 149 Von den 2019 erledigten Rechtssachen ergingen rund 70 % (601 von 865) auf Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte, vgl. Jahresbericht 2019 des Gerichtshofs der EU, S. 54 (www.cu ria.europa.eu unter Das Organ – Jahresbericht). 150 Dritter Titel der EuGH-VerfO, Art. 93–118. 151 Vgl. Dittert, EuZW 2013, 726.
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die in Art. 53 Abs. 2 EuGH-VerfO genannten Fälle der offensichtlichen Unzuständigkeit – die Vorlage fällt nicht in den Anwendungsbereich der EU-Rechts – sowie die in Art. 94 EuGH-VerfO genannten Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens.152 Sie umfassen a) eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Vorlagefragen beruhen, b) den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung und c) eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt. Diese explizite Festschreibung in Art. 94 VerfO EuGH hat zweifellos zu einer kohärenteren und strikteren Auslegung der Anforderungen an Vorlagen nationaler Gerichte beigetragen.153 Jenseits dieser Kodifizierung verbleibt es bei der st. Rspr., dass der Gerichtshof 45 nicht über offensichtlich konstruierte Rechtsstreite entscheidet oder Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abgibt, bei denen die begehrte Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits steht.154 Die Rechtsprechung zu diesem Punkt war allerdings Schwankungen unterworfen. So waren die Antworten des Gerichtshofs in dem bekannten Fall Heininger155 zur Auslegung der Haustürgeschäfterichtlinie letztlich hypothetisch, da
152 In seinen „Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen“ (www.curia.europa.eu unter Gerichtshof – Verfahren) weist der Gerichtshof ausdrücklich auf diese Anforderungen hin, Rn. 15. 153 In den Jahren 2015 – 2019 wurden 60 Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte auf der Grundlage von Art. 94 VerfO EuGH durch Beschluss als offensichtlich unzulässig zurückgewiesen (2015 4, 2016 12, 2017 12, 2018 11, 2019 21; Vorlagen deutscher Gerichte waren nicht betroffen). In einem Fall (EuGH v. 24.10.2019 – verb. Rs. C-469/18 u. 470/18 Belgische Staat, EU:C:2019:895) erfolgte die Zurückweisung als unzulässig durch Urteil. Bei weiteren 31 Vorlagen wurden einzelne Fragen wegen Nichterfüllung der in Art. 94 EuGH VerfO genannten Voraussetzungen für unzulässig erklärt (2015 3, 2016 8, 2017 12, 2018 5, 2019 3). 154 Im Zeitraum von 2015 – 2019 war der Gerichtshof in rund 200 Fällen mit Hinweisen zur hypothetischen Natur von Vorlagen bzw. bestimmten Vorlagefragen konfrontiert. In rund 20 % dieser Fälle hat er die hypothetische Natur der Frage(n) festgestellt und das Vorlageersuchen entweder integral durch Beschluss (EuGH v. 1.10.2019 – Rs. C-495/18 YX, EU:C:2019:808 [Übermittlung eines Urteils an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person]) bzw. durch Urteil (EuGH v. 16.6.2016 – Rs. C-351/14 Rodríguez Sánchez, EU:C:2016:447; EuGH v. 2.3.2017 – Rs. C-97/16 Pérez Retamero, EU: C:2017:158; EuGH v. 6.7.2017 – Rs. C-392/16 Marcu, EU:C:2017:519; EuGH v. 14.11.2018 – Rs. C-238/17 Renerga, EU:C:2018:905) als unzulässig zurückgewiesen oder die entsprechenden Fragen als unzulässig qualifiziert (2015 in 6 Fällen, 2016 in 5, 2017 in 7, 2018 in 6, 2019 in 6). 155 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, EU:C:2001:684.
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§ 20 Die Rechtsprechung des EuGH
eine Beweisaufnahme des nationalen Gerichts in letzter Instanz das Fehlen einer Haustürsituation feststellte.156 In anderen Fällen war die Zulässigkeit der Vorlage von vornherein höchst zweifelhaft, bot dem Gerichtshof aber die Gelegenheit, sich aus gegebenem Anlass zu bestimmten streitigen Rechtsfragen zu äußern.157 Die hypothetische Natur von Vorlagefragen wird in den Verfahren immer wieder thematisiert.158 Die Antwort des Gerichtshofs hängt naturgemäß stark von den Umständen des Einzelfalls ab. 46 Von diesen Fällen der offensichtlich unzulässigen Inanspruchnahme des Vorabentscheidungsverfahrens abgesehen bemüht sich der Gerichtshof nach Kräften, dem nationalen Gericht bei dessen Entscheidungsfindung behilflich zu sein. So deutet er traditionell Fragen nach der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht in eine abstrakte Auslegungsfrage um, deren Beantwortung es dem vorlegenden Gericht ermöglicht, über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden.159 Gerade weil der Gerichtshof dem nationalen Gericht eine „sachdienliche Antwort“ (réponse utile) geben will, hält er sich bei der Beantwortung der Vorlagefragen auch nicht sklavisch an deren Wortlaut, sondern formuliert sie je nach Bedarf um, ändert ihre Reihenfolge oder fasst sie zusammen.160 Dabei arbeitet er aus dem gesamten von dem einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts heraus, die unter Berücksichtigung des Streitgegenstands der Auslegung bedürfen und präzisiert ggf. auch diejenigen unionsrechtlichen Vorschriften, die das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat, die aber unter Berücksichtigung des Streitgegenstands ebenfalls der Auslegung bedürfen.161 Dieses Vorgehen verdeutlicht, mit welcher Sorgfalt der Ge-
156 Vgl. OLG München, WM 2003, 69. Siehe auch GA Léger, Schlussanträge v. 28.9.2004 – Rs. C-350/ 03 Schulte, EU:C:2004:568 Tz. 43–47, mit dem Vorschlag, das betreffende Vorabentscheidungsersuchen als hypothetisch und damit unzulässig zu verwerfen, da es das vorlegende LG Bochum ausdrücklich offengelassen habe, ob im Ausgangsverfahren tatsächlich eine die Anwendung der Richtlinie rechtfertigende „Haustürsituation“ vorliege. Der Gerichtshof ist dem nicht gefolgt, sondern hat das Ersuchen für zulässig erklärt; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:637 Rn. 44. 157 Als prominentes Beispiel für diese Art von Judikatur vgl. EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl, EU:C:1997:208. Auch der Sachverhalt, der dem Urteil im Verfahren Mangold zugrunde lag, führte nicht zur Unzulässigkeit der Vorlage (vgl. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU: C:2005:709 Rn. 32–39). Im Fall der ungünstigeren Behandlung einer Bestellmutter hinsichtlich der (Nicht-)Gewährung von Mutterschaftsurlaub (EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-167/12 CD, EU:C:2014:169) hat sich der Gerichtshof zu wichtigen Fragen in diesem Zusammenhang geäußert, auch wenn der Bestellmutter der bezahlte Urlaub vom Arbeitgeber letztlich gewährt wurde (vgl. Rn. 23; es gab allerdings einen Parallelfall zur gleichen Problematik: EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-363/12 Z., EU:C:2014:159). 158 Vgl. Fn. 154. 159 Vgl. aus jüngerer Zeit EuGH v. 8.4.2020 – Rs. C-791/19 R Kommission ./. Polen, EU:C:2020:277 Rn. 74. 160 Vgl. EuGH v. 16.7.2020 – verb. Rs. C-224/19 u. C-259/19 Caixabank, EU:C:2020:578 Rn. 46 ff mwN. 161 EuGH v. 2.4.2020 – Rs. C-897/19 PPU Ruska Federacija, EU:C:2020:262 Rn. 43; EuGH v. 16.7.2020 – verb. Rs. C-224/19 u. C-259/19 Caixabank, EU:C:2020:578 Rn. 47. Stotz
IV. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht
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richtshof die ihm vorgelegten Fragen vor ihrer Beantwortung aufbereitet und sie ggf. im Hinblick auf die vorgelegte Problematik filtert. Ohne eine solche Steuerung könnte er seiner Aufgabe, dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, letztlich nicht nachkommen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Funktionsteilung, die nach der 47 Rechtsprechung das Vorabentscheidungsverfahren bestimmt – der Gerichtshof ist für die Auslegung des Unionsrechts, das nationale Gericht für dessen Anwendung im Einzelfall zuständig –, zwar primärrechtlich in Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV angelegt ist, in der Praxis aber je nach den Gegebenheiten des Falles justiert werden muss und dabei nicht immer idealtypische Trennschärfe erreicht. Der ehemalige Präsident des Gerichtshofs Rodríguez Iglesias hat eingeräumt, dass für eine effiziente Kooperation zwischen innerstaatlichen Gerichten und Gerichtshof nicht in jedem Fall eine abstrakte Aufgabentrennung möglich ist.162 So könne es Situationen geben, in denen der Gerichtshof zur Herstellung der Rechtssicherheit konkrete Aussagen zu treffen habe, die normalerweise den nationalen Richtern vorbehalten seien.163 Groh164 weist nach, dass die Zuordnung zahlreicher Beurteilungsvorgänge zu Auslegung bzw. Anwendung durch den Gerichtshof alles andere als einheitlich ist. Die Rechtsprechung liefert dafür in der Tat umfangreiche Belege. So hat der Ge- 48 richtshof in einigen Fällen selbst geprüft, ob ein Betriebsübergang im Sinne der Richtlinien 77/187 bzw. 2001/23165 vorliegt,166 in anderen hat er diese Prüfung dem nationalen Gericht überlassen.167 Für welche Variante sich der Gerichtshof im konkreten
162 Rodríguez Iglesias, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten (2000), S. 10. 163 Rodríguez Iglesias, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten (2000), S. 8. 164 Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005). 165 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26, inzwischen ersetzt durch Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16. 166 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144/87 u. 145/87 Berg ./. Besselsen, EU:C:1988:236 Rn. 18; EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Christel Schmidt, EU: C:1994:134 Rn. 17 u. 20; aus jüngerer Zeit EuGH v. 13.6.2019 – Rs. C-317/18 Correia Moreira, EU: C:2019:499 Rn. 52–63. 167 Vgl. EuGH v. 18.3.1986 – Rs. C-24/85 Spijkers ./. Benedik, EU:C:1986:127 Rn. 14; EuGH v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91 Redmond Stichting, EU:C:1992:220 Rn. 25 u. 29; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/ 95 Süzen, EU:C:1997:141 Rn. 22; aus jüngerer Zeit EuGH v. 13.6.2019 – Rs. C-317/18 Correia Moreira, EU:C:2019:499 Rn. 35–51. Stotz
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Fall entscheidet, hängt maßgeblich davon ab, ob der Fall im Licht der Antwort weiterer Prüfungen durch das nationale Gericht bedarf. Ist das nicht der Fall, lautet die Formel, eine Bestimmung des Unionsrechts „ist dahin auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Regelung entgegensteht …“ bzw. „… nicht entgegensteht …“.168 Ist das der Fall, tenoriert der Gerichtshof, eine Bestimmung des Unionsrechts „… ist dahin auszulegen, … , was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.“169 Aber auch anderer Varianten der Tenorierung bedient sich der Gerichtshof. Bei Fragen, ob ein Verhalten irreführend im Sinne der Richtlinien 2005/29170 und 2006/114171 ist172 oder ob im Rahmen der unionsrechtlichen Staatshaftung ein Verstoß gegen das Unionsrecht als hinreichend qualifiziert angesehen werden kann, zeigt sich ein vergleichbares Bild.173
168 EuGH v. 13.6.2019 – Rs. C-317/18 Correia Moreira, EU:C:2019:499, Antwort auf Frage 2. Geht es um die Frage der Anwendbarkeit der Richtlinie, lautet die Antwort „… ist dahin auszulegen, dass diese Richtlinie auf einen Fall anzuwenden ist,…“, vgl. EuGH v. 11.7.2018 – Rs. C-60/17 Somoza Hermo et Ilunión Seguridad, EU:C:2018:559; ebenso EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-472/16 Colino Sigüenza, EU: C:2018:646, Antwort auf Frage 1. 169 EuGH v. 7.8.2018 – Rs. C-472/16 Colino Sigüenza, EU:C:2018:646, Antwort auf Frage 2; EuGH v. 13.6.2019 – Rs. C-317/18 Correia Moreira, EU:C:2019:499, Antwort auf Frage 1; EuGH v. 27.2.2020 – Rs. C-298/18 Grafe u. Pohle, EU:C:2020:121. 170 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG u. 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. 2005 L 149/22, berichtigt im ABl. 2009 L 253/18). 171 Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 über irreführende und vergleichende Werbung (ABl. 2006 L 376/21), die die Richtlinie 84/450/EWG ersetzt. 172 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, EU: C:1995:224 Rn. 21 ff.; EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-383/97 van der Laan, EU:C:1999:64 Rn. 41; EuGH v. 4.4.2000 – Rs. C-465/98 Darbo, EU:C:2000:184 Rn. 33, anders im selben Urteil Rn. 20; EuGH v. 11.7. 2013 – Rs. C-657/11 Belgian Electronic Sorting Technology, EU:C:2013:516 Rn. 60; EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-59/12 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, EU:C:2013:634 Rn. 37; aus jüngerer Zeit EuGH v. 19.9.2018 – Rs. C-109/17 Bankia, EU:C:2018:735 Rn. 51, 59; EuGH v. 4.7.2019 – Rs. C-393/17 Kirschstein, EU:C:2019:563 Rn. 49. Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das vorlegende Gericht: EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Sektkellerei Kessler, EU:C:1999:35 Rn. 36 mwN; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, EU:C:2000:8 Rn. 30 f.; EuGH v. 8.4.2003 – Rs. C-44/01 Pippig Augenoptik, EU:C:2003:205 Rn. 53; EuGH v. 19.9.2006 – Rs. C-356/04 Lidl Belgium, EU:C:2006:585 Rn. 86; EuGH v.12.5.2011 – Rs. C-122/10 Ving Sverige, EU:C:2011:299 Rn. 70f.; EuGH v. 15.3.2012 – Rs. C-453/10 Pereničová u. Perenič, EU:C:2012:144 Rn. 47; aus jüngerer Zeit EuGH v. 4.10.2018 – Rs. C-105/17 Kamenova, EU:C:2018:808 Rn. 45. 173 Der Gerichtshof betont, dass es grundsätzlich den nationalen Gerichten obliegt, die Voraussetzungen für die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, entsprechend den vom ihm hierfür entwickelten Leitlinien konkret anzuwenden, vgl. EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-392/93 British Telecommunications, EU:C:1996:131 Rn. 41; EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, EU:C:2006:774 Rn. 210,
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Dies gilt auch im Hinblick auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit nationaler 49 Regelungen. Teilweise prüft er sie selbst,174 teilweise überlässt er sie dem nationalen Gericht.175 Auf dem stark gewachsenen Gebiet der Direktbesteuerung, auf dem der Schwerpunkt der Urteile – nach der regelmäßigen Bejahung des Vorliegens einer Beschränkung der einschlägigen Grundfreiheit176 – inzwischen bei den Ausführungen zur eventuellen Rechtfertigung einer solchen Beschränkung liegt,177 tendiert der Gerichtshof mittlerweile dazu, die Verhältnismäßigkeitsprüfung selbst durchzufüh-
212–217; EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 Fuß, EU:C:2010:717 Rn. 48; aus jüngerer Zeit EuGH v. 4.10.2018 – Rs. C-571/16 Kantarev, EU:C:2018:807 Rn. 95, 117; EuGH v. 29.7.2019 – Rs. C-620/17 Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe, EU:C:2019:630 Rn. 48 Satz 3. Lässt der gegebene Sachverhalt jedoch einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht erkennen oder liegt dieser ersichtlich nicht vor, stellt der Gerichtshof selbst dies fest, vgl. EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-392/93 British Telecommunications, EU:C:1996:131 Rn. 45; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 u. C-292/94 Denkavit u. a., EU:C:1996:387 Rn. 53; EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 Fuß, EU:C:2010:717 Rn. 53–58; EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-398/11 Hogan u. a., EU:C:2013:272 Rn. 52; aus jüngerer Zeit EuGH v. 9.9.2015 – Rs. C-160/14 Ferreira da Silva e Brito e.a., EU:C:2015:565 Rn. 60; EuGH v. 29.7.2019 – Rs. C-620/17 Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe, EU:C:2019:630 Rn. 48 Satz 4. 174 Vgl. z. B. EuGH v. 18.5.1993 – Rs. C-126/91 Yves Rocher, EU:C:1993:191 Rn. 15 ff.; EuGH v. 6.6. 2000 – Rs. C-281/98 Angonese, EU:C:2000:296 Rn. 44; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-58/98 Corsten, EU: C:2000:527 Rn. 39 f.; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-17/00 De Coster, EU:C:2001:651 Rn. 36 ff.; EuGH v. 21.3.2002 – Rs. C-451/99 Cura Anlagen, EU:C:2002:195 Rn. 47 und 50; EuGH v. 17.9. 2002 – Rs. C-413/99 Baumbast, EU:C:2002:493 Rn. 93; aus jüngerer Zeit EuGH v. 6.5.2020 – verb. Rs. C-415/19 – C-417/19 Blumar, EU:C:2020:360 Rn. 26 f. 175 Vgl. z. B. EuGH v. 31.3.1993 – Rs. C-19/92 Kraus, EU:C:1993:125 Rn. 41; EuGH v. 1.2.2001 – Rs. C-108/96 Mac Quen, EU:C:2001:67 Rn. 31 ff.; EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/98 Gourmet International Products, EU:C:2001:135 Rn. 33 u. 41. Siehe aber – mit entgegengesetzter Argumentation – EuGH v. 16.12.1992 – Rs. C-169/91 B&Q, EU:C:1992:519 Rn. 14. Aus jüngerer Zeit EuGH v. 30.4.2020 – Rs. C-5/ 19 Оvergas Mrezhi u. Balgarska gazova asotsiatsia, EU:C:2020:343 Rn. 67–79; EuGH v. 14.5.2020 – Rs. C-263/19 T-Systems Magyarország e.a., EU:C:2020:373 Rn. 72 ff. 176 Z. B. in Bezug auf die Kapitalverkehrsfreiheit, die in den Direktbesteuerungsfällen häufig anwendbar ist, stellt in Anlehnung an die Dassonville-Formel jede innerstaatliche oder unionsrechtliche Regelung, die geeignet ist, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat oder die dort Ansässigen von Investitionen in anderen Staaten abzuhalten, d. h. den freien Kapitalverkehr illusorisch zu machen, eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit dar, vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-483/99 Kommission ./. Frankreich, EU:C:2002:327 Rn. 41. Weitere Beispiele zu diesem breit angelegten Beschränkungsbegriff: EuGH v. 20.5.2008 – Rs. C-194/06 Orange European Smallcap Fund, EU: C:2008:289 Rn. 74; EuGH v. 27.1.2009 – Rs. C-318/07 Persche, EU:C:2009:33 Rn. 38; EuGH v.13.3.2014 – Rs. C-375/12 Bouanich, EU:C:2014:138 Rn. 55 f.; aus jüngerer Zeit EuGH v. 26.2.2019 – Rs. C-135/17 X (In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften), EU:C:2019:136 Rn. 55. 177 Vgl. EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-35/08 Busley u. Cibrian Fernandez, EU:C:2009:625 Rn. 28, 31–32; EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-540/07 Kommission ./. Italien, EU:C:2009:717 Rn. 49, 55–61, 68–72, 75; EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-164/12 DMC, EU:C:2014:20 Rn. 44–68; EuGH v. 10.4.2014 – Rs. C-190/12 Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company, EU:C:2014:249 Rn. 54–104; aus jüngerer Zeit EuGH v. 26.2.2019 – Rs. C-135/17 X, EU:C:2019:136 Rn. 70–96 (In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften).
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ren.178 Soweit er sie gelegentlich dem nationalen Richter überlässt,179 mag dies der Komplexität der fraglichen Steuerregelung oder Faktoren geschuldet sein, die dem Gerichtshof keine abschließende eigene Wertung erlauben. Ein vergleichbarer Befund zeigt sich bei der Warenverkehrsfreiheit. Während der Gerichtshof im Fall Mickelsson u. Roos dem vorlegenden Gericht die Prüfung überließ, ob das schwedische Verbot des Führens von Wassermotorrädern außerhalb von öffentlichen Wasserstraßen aus Gründen des Umweltschutzes gerechtfertigt ist und der Verhältnismäßigkeitsprüfung standhält,180 erklärte er eine französische Maßnahme, die die Gewährung eines Umweltbonus für die Einfuhr eines schadstoffarmen Fahrzeugs als „Vorführwagen“ aus einem anderen Mitgliedstaat von der Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung aus diesem Mitgliedstaat abhängig machte von sich aus als unverhältnismäßig.181 50 Auch die Rechtsprechung zur Generalklausel der Klauselrichtlinie182 gab Anlass zu Diskussionen.183 Hatte der Gerichtshof im Urteil Océano Grupo184 entschieden, dass eine von einem Gewerbetreibenden vorformulierte Vertragsklausel, die die Zuständigkeit für alle Rechtsstreitigkeiten dem Gericht zuwies, in dessen Bezirk dieser Gewerbetreibende seine Niederlassung hatte, als missbräuchlich im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie anzusehen sei, so entschied er im Urteil Freiburger Kommunalbauten,185 es sei Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob eine Vertrags-
178 Vgl. EuGH v. 11.6.2009 – verb. Rs. C-155/08 und C-157/08 X u. Passenheim-van Schoot, EU: C:2009:368 Rn. 47–75; EuGH v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07 Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt, EU:C:2008:588 Rn. 40, 44–45; EuGH v. 27.11.2008 – Rs. C-418/07 Papillon, EU:C:2008:659 Rn. 33, 52–62; EuGH v. 13.11.2012 – Rs. C-35/11 Test Claimants in the FII Group Litigation, EU:C:2012:707 Rn. 60–65; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-303/12 Imfeld u. Garcet, EU:C:2013:822 Rn. 64–80; EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-164/12 DMC, EU:C:2014:20 Rn. 59–69; aus jüngerer Zeit EuGH v. 31.5.2018 – Rs. C-190/17 Zheng, EU:C:2018:357 Rn. 37 ff., 40 ff. 179 Vgl. EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-182/08 Glaxo Wellcome, EU:C:2009:559 Rn. 93–100, 102; EuGH v. 21.1.2010 – Rs. C-311/08 SGI, EU:C:2010:26 Rn. 63–64, 67, 69–72, 75 f.; EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-164/12 DMC, EU:C:2014:20 Rn. 57 f.; aus jüngerer Zeit EuGH v. 26.2.2019 – Rs. C-135/17 X, EU: C:2019:136 Rn. 87 ff., 94 (In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften). 180 EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-142/05 Mickelsson u. Roos, EU:C:2009:336 Rn. 32–34, 36, 38–40, 42–44. Dem war so auch im Fall EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-433/05 Sandström, EU:C:2010:184 Rn. 33, 36–40 als auch in der Rechtssache EuGH v. 18.11.2010 – Rs. C-142/09 Lahousse u. Lavichy, EU:C:2010:694 Rn. 44– 48, in der allerdings ein allgemeines Verbot des Verkaufs oder der Benutzung von Material, das die Steigerung der Leistung und/oder Geschwindigkeit von Kleinkrafträdern ermöglichte, bestand. 181 EuGH v. 6.10.2011 – Rs. C-443/10 Bonnarde, EU:C:2011:641 Rn. 38. 182 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 183 Eingehend zur Auslegung von Generalklauseln Möslein/Röthel, in diesem Band, § 11. 184 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial u. a., EU:C:2000:346 Rn. 21–24. 185 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 22.
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klausel wie die des Ausgangsverfahrens die Kriterien erfüllt, um als missbräuchlich im Sinne von Art. 3 der Klauselrichtlinie qualifiziert zu werden.186 Das Signal, die nationalen Gerichte sollten die Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln nach Möglichkeit in eigener Verantwortung prüfen, griff er in der weiteren Rechtsprechung auf. Demgemäß erstreckt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die Auslegung des Begriffs „missbräuchliche Vertragsklausel“ in Art. 3 Abs. 1 und im Anhang der Richtlinie sowie auf die Kriterien, die das nationale Gericht bei der Prüfung einer Vertragsklausel im Hinblick auf die Bestimmungen der Richtlinie anwenden darf oder muss. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung dieser Kriterien über die konkrete Bewertung einer bestimmten Vertragsklausel anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.187 In der Rechtssache Kiss u. CIB Bank hat der Gerichtshof diese Kriterien weiter präzisiert.188 Angesichts der unterschiedlichen Praxis des Gerichtshofs in den einzelnen 51 Rechtsbereichen forderte Generalanwalt Jacobs anlässlich einer Vorlage zur zollrechtlichen Tarifierung eine grundlegende Reflexion darüber, welche Fragen im Rahmen des Art. 267 AEUV sinnvollerweise dem Gerichtshof zur Auslegung vorzulegen seien und welche die nationalen Gerichte in eigener Verantwortung entscheiden müssten.189 Dabei wandte er sich gegen eine immer filigranere Rechtsprechung, mit der nicht die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefördert werde, sondern die tendenziell zu weniger denn zu mehr Rechtssicherheit führe.190 Vorlagen sollten deshalb dem Gerichtshof nur dann unterbreitet werden, wenn es sich um eine Frage von allgemeiner Bedeutung handele und eine einheitliche Auslegung wirklich erforderlich
186 Wo die Grenzlinie zwischen der Definition allgemeiner Kriterien und der Anwendung dieser Kriterien auf den Einzelfall verläuft, war auch in der Lehre umstritten. Während W.-H. Roth sich mit beachtlichen Argumenten für eine restriktive Rolle des Gerichtshofs bei der Konkretisierung von Generalklauseln in Richtlinien ausgesprochen hatte, W.-H. Roth, FS Drobnig (1998), S. 140 ff., setzten andere auf die wichtige Rolle des Gerichtshofs bei der Fortentwicklung des unionsrechtlichen Missbrauchskriteriums, vgl. Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. 187 Vgl. EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, EU:C:2009:350 Rn. 42 ff.; EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing, EU:C:2010:659 Rn. 43 f.; EuGH v. 16.11.2010 – Rs. C-76/10 Pohotovosť, EU:C:2010:685 Rn. 60 ff.; EuGH v. 15.3.2012 – Rs. C-453/10 Pereničová u. Perenič, EU:C:2012:144 Rn. 47; EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 Invitel, EU:C:2012:242 Rn. 22; EuGH v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, EU:C:2013:180 Rn. 48; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164 Rn. 66; EuGH v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 u. C-116/13 Banco Popular Español, EU:C:2013:759 Rn. 63, 71; EuGH v. 21.12.2013 – Rs. C-472/11 Banif Plus Bank, EU:C:2013:88 Rn. 41; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-226/12 Constructora Principado, EU:C:2014:10 Rn. 20, 30; EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler u. Káslerné Rábai, EU:C:2014:282 Rn. 59, 74. 188 EuGH v. 3.10.2019 – Rs. C-621/17 Kiss et CIB Bank, EU:C:2019:820 Rn. 47–52; ebenso EuGH v. 16.7.2020 – verb. Rs. C-224/19 u. C-259/19 Caixabank, EU:C:2020:578 Rn. 73–76. 189 GA Jacobs, Schlussanträge v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, EU:C:1997:352. 190 GA Jacobs, Schlussanträge v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, EU:C:1997:352 Tz. 20 f.
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sei.191 Die Kriterien der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung192 zur Reichweite der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte müssten hierzu angepasst werden. 52 Diese Anregung,193 der Dichotomie – Auslegung durch den Gerichtshof/Anwendung durch das nationale Gericht – schärfere Konturen zu verleihen, hat der Gerichtshof bislang nicht aufgegriffen. Er vermeidet auch weiterhin über die C.I.L.F.I.T-Formel „keine Vorlagepflicht besteht, wenn das Gericht feststellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt; ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen“194
hinausgehende Konkretisierungen und entscheidet die Zuordnungsproblematik fallweise, mit dem Risiko einer partiell dezisionistischen Rechtsprechung. Die bereits zitierte Studie von Groh plädiert mit beachtlichen Argumenten dafür, das Auslegungsbedürfnis der Vorlagefragen kritischer als bisher an den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens zu messen, d. h. (1) ob sie zur Wahrung der Einheitlichkeit des Unionsrechts erforderlich sind, (2) ob sie den nationalen Gerichten bei der Durchsetzung des Unionsrechts dienen, sofern diese bei der Interpretation des Unionsrechts vor besonderen Schwierigkeiten stehen, und (3) ob sie dem Schutz individueller Rechtspositionen förderlich sind, sofern die Vorlage zu einem erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität führt.195 In der Praxis entschärft sich die Problematik allerdings etwas dadurch, dass der Gerichtshof Vorlagefragen, bei denen die Antwort klar ist oder sich
191 GA Jacobs, Schlussanträge v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, EU:C:1997:352 Tz. 64. In einem markenrechtlichen Fall präzisierte er, dass der Gerichtshof zur einheitlichen Anwendung der Richtlinie und der Rechtssicherheit effektiver dadurch beitragen könne, dass er die allgemeinen Kriterien und insbesondere den Maßstab für die Beurteilung der Verwechslungsgefahr eindeutig festlege, als durch den Erlass von Entscheidungen, die zu sehr auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls eingehen, Schlussanträge v. 29.10.1998 – Rs. C-342/97 Lloyd Schuhfabrik, EU:C:1998:522 Tz. 13. 192 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 CILFIT / Ministero della Sanità, EU:C:1982:335 Rn. 21. 193 Auch andere Generalanwälte haben sich gegen eine zu starke Einzelfallorientierung der Rechtsprechung ausgesprochen, vgl. GA van Gerven, Schlussanträge v. 22.11.1990 – Rs. C-312/89 Conforam u. a., EU:C:1990:418 Tz. 7; GA Gulmann, Schlussanträge v. 29.9.1993 – Rs. C-315/92 Verband Sozialer Wettbewerb, EU:C:1993:823 Tz. 9 (Clinique); GA Fennelly, Schlussanträge v. 16.9.1999 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, EU:C:1999:425 Tz. 31; GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlussanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-461/ 03 Gaston Schul, EU:C:2005:415 Tz. 80–87; GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 10.6.2010 – Rs. C-173/ 09 Elchinov, EU:C:2010:336 Tz. 29–33. 194 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 CILFIT / Ministero della Sanità, EU:C:1982:335 Rn. 21; EuGH v. 9.9.2015 – Rs. C‑160/14 Ferreira da Silva e Brito u. a., EU:C:2015:565 Rn. 38 f.; EuGH v. 28.7.2016 – Rs. C‑379/15 Assoziation France Nature Environment, EU:C:2016:603 Rn. 50; EuGH v. 4.10.2018 – Rs. C-416/ 17 Kommission ./. Frankreich, EU:C:2018:811 Rn. 110 (Steuerliche Vorauszahlung). 195 Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005), S. 118 f.
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eindeutig aus der Rechtsprechung ergibt, dem vereinfachten Verfahren nach Art. 99 EuGH-VerfO196 unterwirft, d. h. er weist die Vorlage ohne mündliche Verhandlung und Schlussanträge durch einen mit Gründen versehenen Beschluss ab. Die Vorlage bleibt damit zulässig und scheitert nicht prinzipiell an der fehlenden Auslegungskompetenz des Gerichtshofs. Die Zahl der auf Art. 99 EuGH-VerfO gestützten Beschlüsse liegt jährlich bei rund 5 % aller entschiedenen Rechtssachen.197 Damit dürfte die von Generalanwalt Jacobs proklamierte Änderung der C.I.L.F.I.T.-Formel erst dann auf der Tagesordnung stehen, wenn die Arbeitsbelastung198 durch Vorabentscheidungsersuchen ein Ausmaß annähme, dass sie nur über eine Zulässigkeitsbeschränkung der Vorlagefragen eingedämmt werden könnte.
V. Kontrolldichte bei der Gültigkeitsprüfung Im Vergleich zu den Vorlagen nationaler Gerichte zur Auslegung des Unionsrechts 53 wird der Gerichtshof nur selten mit Vorlagen zur Prüfung der Gültigkeit sekundärrechtlicher Rechtsakte befasst.199 Zwischen Januar 2010 und Juli 2020 hat er auf diese Weise in 113 Fällen die Gültigkeit von EU-Rechtsvorschriften überprüft und dabei in rund einem Viertel (28 Fälle) die entsprechenden Rechtsakte für nichtig erklärt, darunter eine im Mitentscheidungsverfahren ergangene Richtlinie,200 neun Rechtsakte des Rates (in toto oder partiell) sowie verschiedene Rechtsakte der Kommission bzw. Teile davon.201
196 Gemäß Art. 99 EuGH-VerfO kann der Gerichtshof, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, die der Gerichtshof bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden. 197 2015 35/616 = 5,68 %, 2016 45/865 = 5,20 %, 2017 27/760 = 3,55 %, 2018 24/699 = 3,43 %, 2019 43/ 704 = 6,11 %. 198 Auch GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 10.6.2010 – Rs. C-173/09 Elchinov, EU:C:2010:336 Tz. 29, stellt auf diesen Zusammenhang ab. 199 Von 2019 erledigten 601 Vorabentscheidungsersuchen (vgl. EuGH-Jahresbericht 2019, S. 54) betrafen lediglich 10 Verfahren die Prüfung der Gültigkeit von Unionsrechtsakten, d. h. 1,66 %. Eine Gültigkeitsprüfung erfolgte zudem im Rahmen von 4 Direktklagen privilegierter Klageberechtigter (Mitgliedstaaten) gegen Rat und/oder EP. Ferner war der Gerichtshof im Rahmen von 210 Rechtsmittelentscheidungen gegen Entscheidungen des Gerichts der EU auch mit Fragen der Gültigkeit von Rechtsakten befasst, wobei es weitestgehend um Einzelrechtsakte handelte. Der Fokus dieser Ausführungen liegt bei der Gültigkeitsprüfung im Rahmen von Vorabentscheidungsersuchen. 200 EuGH v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 u. C-594/12 Digital Rights Ireland u. Seitlinger u. a., EU: C:2014:238 201 Vgl. darunter die Fälle EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 u. C-93/09 Volker und Markus Schecke u. Eifert, EU:C:2010:662 zur Veröffentlichung personenbezogener Daten von Subventionsempfän
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Zu den 85 Fällen, in denen der Gerichtshof die Gültigkeit des zur Überprüfung vorgelegten Rechtsakts nicht beanstandet hat, zählt auch das vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 18. Juli 2017202 initiierte Vorabentscheidungsersuchen zur unionsrechtlichen Vereinbarkeit des vom EZB-Rat mit Beschluss vom 4. März 2015 angenommenen Programms zum Ankauf von Staatsanleihen.203 Mit Urteil der Großen Kammer vom 11. Dezember 2018204 im Fall Weiss u. a. hat der Gerichtshof die Vorlage mit der Antwort beschieden, die Prüfung der Fragen habe nichts ergeben, was die Gültigkeit des EZB-Beschlusses beeinträchtigen könnte. In einem europaweit aufsehenerregenden Urteil vom 5. Mai 2020205 hat der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts daraufhin entschieden, die Auffassung des Gerichtshofs, der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP-Programm und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, verkenne Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) offensichtlich und sei wegen der Ausklammerung der tatsächlichen Wirkungen des PSPP methodisch nicht mehr vertretbar.206 Das Urteil überschreite daher offenkundig das dem Gerichtshof in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat und bewirke eine strukturell bedeutsame Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten. Da es sich selbst als Ultra-vires-Akt darstelle, komme ihm insoweit keine Bindungswirkung zu.207 55 Eine Evaluierung dieser Rüge methodischer Unzulänglichkeit des EuGH-Urteils Weiss u. a. muss bei den verfahrensrechtlichen Anforderungen ansetzen, die die Gültigkeitsprüfung nach Art. 267 AEUV kennzeichnen. In seinem Urteil K.P. vom 20.6.2019 hat der Gerichtshof zum Umfang einer Gültigkeitsprüfung hervorgehoben, aus dem Geist der Zusammenarbeit, in dem das Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen sei, folge, dass es unerlässlich ist, dass das nationale Gericht in seinem Vorlagebeschluss die genauen Gründe darlegt, aus denen es eine Beantwortung seiner Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts für entscheidungserheblich hält.208 Daher sei entscheidend, dass das nationale Gericht insbesondere die genauen Gründe angibt, aus denen ihm die Gültigkeit von
gern, sowie EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats u. a., EU: C:2011:100 zu geschlechtsdifferenzierten Prämien in Versicherungsverträgen. 202 BVerfG BeckRS 2020, 120645. 203 Beschluss (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (Public Sector Asset Purchase Programme), EZB/2015/10, ABl EU Nr. L 121 vom 14. Mai 2015, S. 20, mehrfach geändert, nachfolgend PSPP. 204 EuGH v. 11.12.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:1000. 205 BVerfG BeckRS 2020, 7327. 206 BVerfG BeckRS 2020, 7327 Rn. 119. 207 BVerfG BeckRS 2020, 7327 Rn. 119 u. 169. 208 EuGH v. 20.6.2019 – Rs. C-458/15 K.P., EU:C:2019:522 Rn. 35 mwN der Rspr.
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Bestimmungen des Unionsrechts fraglich erscheint, und die Gründe darlegt, aus denen es sie für ungültig hält. Dieses Erfordernis ergebe sich auch aus Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.209 Die Angaben in den Vorlageentscheidungen sollten nicht nur dem Gerichtshof zweckdienliche Antworten ermöglichen, sondern auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten Gelegenheit geben, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Erklärungen abzugeben.210 Daraus folge, dass der Gerichtshof im Rahmen einer Frage nach der Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts die Gültigkeit dieser Vorschrift anhand der in der Vorlageentscheidung genannten Ungültigkeitsgründe prüfen müsse.211 Mit dieser Maßgabe nimmt der Gerichtshof sowohl das vorlegende Gericht als 56 auch sich selbst in die Pflicht. Die Präzision, die er vom nationalen Gericht bei der Abfassung von dessen Gültigkeitsvorlage einfordert („genaue Gründe“), dient einer diese Gründe reflektierenden Prüfung mit dem Ziel einer „zweckdienlichen Antwort“. Gründe bzw. Angaben, die in der Vorlage des nationalen Gerichts nicht enthalten sind, werden in aller Regel nicht berücksichtigt (oben Rn. 9). Analysiert man vor diesem Hintergrund die genannte Vorlageentscheidung des 57 Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2017 sowie das darauf basierende EuGH-Urteil Weiss u. a. vom 11. Dezember 2018, so stimmen beide Gerichte zunächst darin überein, dass Geldpolitik „zwangsläufig“ mit wirtschaftspolitischen Auswirkungen einhergeht.212 In seinen Ausführungen „Zur Abgrenzung der Währungspolitik der Union“ hebt der Gerichtshof hierzu hervor, eine währungspolitische Maßnahme könne nicht allein deshalb einer wirtschaftspolitischen Maßnahme gleichgestellt werden kann, weil sie mittelbare Auswirkungen haben könne, die auch im Rahmen der Wirtschaftspolitik angestrebt werden können.213 Geldpolitik beinhalte fortlaufend, dass auf die Zinssätze und die Refinanzierungsbedingungen der Banken eingewirkt wird, was zwangsläufig Konsequenzen für die Finanzierungsbedingungen des Haushaltsdefizits der Mitgliedstaaten habe.214 Insbesondere beeinflussten geldpolitische Maßnahmen des ESZB die Preisentwicklung unter anderem durch die Erleichterung der Kreditvergabe an die Wirtschaft sowie die Veränderung des Investitions-, Konsumund Sparverhaltens der Wirtschaftsteilnehmer und Privatpersonen.215 Um Einfluss auf die Inflationsraten zu nehmen, müsse das ESZB daher zwangsläufig Maßnahmen er
209 EuGH v. 20.6.2019 – Rs. C-458/15 K.P., EU:C:2019:522 Rn. 36 mwN der Rspr. 210 EuGH v. 20.6.2019 – Rs. C-458/15 K.P., EU:C:2019:522 Rn. 37 mwN der Rspr. 211 EuGH v. 20.6.2019 – Rs. C-458/15 K.P., EU:C:2019:522 Rn. 38; s. auch oben Rn. 9. 212 BVerfG BeckRS 2017, 120645 Rn. 120 und EuGH v. 11.12.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU: C:2018:1000 Rn. 59–67. 213 EuGH v. 11.12.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:1000 Rn. 61 mwN auf die Rspr. 214 EuGH v. 11.12.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:1000 Rn. 64. 215 EuGH v. 11.12.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:1000 Rn. 65.
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greifen, die gewisse Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben, die – zu anderen Zwecken – auch im Rahmen der Wirtschaftspolitik angestrebt werden könnten.216 58 Bundesverfassungsgericht und EuGH differieren dagegen hinsichtlich der Folgen, die sich aus diesem Befund für die Prüfung der Angemessenheit des EZB-Programms ergeben. Während das Bundesverfassungsgericht angesichts eines potentiellen Konflikts zwischen der in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallenden Währungspolitik sowie der in Titel VIII des AEUV dem Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten zugeordneten Wirtschaftspolitik217 eine erkennbare Abwägung der beabsichtigten währungspolitischen Wirkungen des PSPP mit den zu erwartenden zusätzlichen wirtschaftspolitischen Effekten fordert,218 findet sich in den Ausführungen des Gerichtshofs hierzu kein Hinweis. 59 Seine Prüfung der Angemessenheit leitet er unter Verweis auf Nr. 148 der Schlussanträge des Generalanwalts219 mit der Feststellung ein, das ESZB habe die verschiedenen beteiligten Interessen so gegeneinander abgewogen, dass tatsächlich vermieden werde, dass sich bei der Durchführung des PSPP Nachteile ergeben, die offensichtlich außer Verhältnis zu dessen Zielen stehen.220 In der in Bezug genommenen Passage argumentiert Generalanwalt Wathelet, die verschiedenen Änderungen des PSPP, insbesondere im Hinblick auf Dauer und Volumen, belegten das Ergebnis einer Abwägung der bestehenden Interessen. Über diese formale Deduktion hinaus – aus dem Umstand von Änderungen des EZB-Programms wird auf das Vorliegen einer Interessenabwägung geschlossen – enthält die Verhältnismäßigkeitsprüfung der Schlussanträge221 keine Ausführungen, die die währungspolitischen Ziele des PSPP mit dessen wirtschaftspolitischen Auswirkungen in Beziehung setzten. Unklar bleibt damit, welche beteiligten Interessen der Gerichtshof an diesem Punkt in Bezug nimmt und wie diese gegeneinander abgewogen wurden. 60 Der Gerichtshof ergänzt dieses erste Abwägungsargument durch den Hinweis, das ESZB habe die Risiken, denen der beträchtliche Umfang der im Rahmen des PSPP getätigten Wertpapierankäufe die Zentralbanken der Mitgliedstaaten gegebenenfalls aussetzen konnte, gebührend berücksichtigt und sei in Anbetracht der beteiligten Interessen der Ansicht gewesen, dass eine allgemeine Verlustteilungsregel nicht einzuführen sei.222 So sehr die vom ESZB getroffenen Maßnahmen zur Eingrenzung des Verlustrisikos von Offenmarktgeschäften in einer Abwägung zur Beurteilung der Angemessenheit des Staatsanleihen-Ankaufsprogramms ihren Platz haben, so wenig rei-
216 EuGH v. 11.12.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:1000 Rn. 66. 217 Von den der Union ausdrücklich zugewiesenen Sonderzuständigkeiten (z. B. Art. 121, Art. 122, Art. 126 AEUV) abgesehen. 218 BVerfG BeckRS 2017, 120645 Vorlagefrage 3 c) sowie Rn. 122. 219 GA Wathelet, Schlussanträge v. 4.10.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:815 220 EuGH v. 11.12.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:1000 Rn. 93. 221 GA Wathelet, Schlussanträge v. 4.10.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:815 Rn. 124–152. 222 EuGH v. 11.12.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:1000 Rn. 98.
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chen sie aus, dem vom vorlegenden Gericht geäußerten Petitum einer Abwägung der beabsichtigten währungspolitischen Wirkungen des PSPP mit dessen kompetenziell problematischen wirtschaftspolitischen Wirkungen zu entsprechen. Hierzu hätte es eines substantielleren Prüfungsaufwands seitens des Gerichtshofs bedurft. So aber markiert seine Feststellung im Rahmen seiner Ausführungen „Zur Abgrenzung der Währungspolitik der Union“, das ESZB müsse zwangsläufig Maßnahmen ergreifen, die gewisse Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben (oben Rn. 57), den Endpunkt seiner Befassung mit den vom Bundesverfassungsgericht problematisierten wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP. In seine Verhältnismäßigkeitsprüfung fließt dieser Aspekt nicht mehr ein, die sich auf eine Prüfung des durch das PSPP bewirkten Verlust- und Haftungsrisikos beschränkt. Die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 5. Mai 61 2020,223 der Gerichtshof habe die wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP im Rahmen seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung außer Betracht gelassen, erweist sich somit als zutreffend. Die im Vorlagebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2017 unter 3 c) explizit aufgeworfenen Frage, ob der genannte Beschluss der EZB wegen seiner starken wirtschaftspolitischen Auswirkungen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, bleibt unbeantwortet. Die daraus vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 abgeleiteten verfassungsrechtlichen Folgen bedürfen an dieser Stelle keiner Erörterung.224 Nettesheim hält den Anspruch des Bundesverfassungsgerichts, einen allgemeinen und justiziablen Rechtsmaßstab angemessener Geldpolitik entwickeln zu können, der in zugleich rationaler und bindungsstarker Weise den Prozess der Einbeziehung und Gewichtung aller Folgen einer EZB-Entscheidung strukturiert, für kühn, vielleicht auch uneinlösbar.225 Ohne einen derartigen Maßstab werde man aber nicht entscheiden können, ob das Verhalten der EZB tatsächlich angemessen sei. Mit Blick auf das Urteil des Gerichtshofs rügt er dessen mangelnde Kontrolldichte,226 gibt aber auch zu bedenken, dass es noch niemandem gelungen sei, eine praktikable Dogmatik hinreichender Kontrolldichte nach Art. 19 EUV zu formulieren.227 Dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichts- 62 hofs einen validen Prüfungsmaßstab darstellt, belegen die Fälle Schecke u. Eifert228
223 BVerfG BeckRS 2017, 120645 Rn. 119, 138 ff. 224 Kritisch zum BVerfG-Urteil Mayer, JZ 2020, 725; ebenso Frenz, DVBl 2020, 1017. Abwägend Nettesheim, NJW 2020, 1631. 225 Nettesheim, NJW 2020, 1631, 1633. 226 Nettesheim, NJW 2020, 1631, 1633; vgl. auch Müller-Graf, EuZW 2019, 172: „kompetenziell und demokratiekonzeptionell unbefriedigend“. 227 Nettesheim, NJW 2020, 1631, 1633. 228 EuGH v. 9.11.2010 – verb. Rs. C-92/09 u. C-93/09 Volker und Markus Schecke u. Eifert, EU: C:2010:662 Rn. 76–84.
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sowie zuletzt Facebook Ireland u. Schrems.229 Im Fall Schecke u. Eifert forderte der Gerichtshof im Rahmen der nach Art. 52 Abs. 1 Grundrechtecharta gebotenen Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Einschränkung von Grundrechten eine „ausgewogene Gewichtung“ (pondération équilibrée) „des Interesses der Union, die Transparenz ihrer Handlungen und eine bestmögliche Verwendung der öffentlichen Mittel zu gewährleisten, auf der einen und der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte auf der anderen Seite.“230 Demgegenüber billigt der Gerichtshof im Urteil Weiss u. a. eine Abwägung der verschiedenen beteiligten Interessen durch das ESZB, „bei der tatsächlich vermieden wird, dass sich bei der Durchführung des PSPP Nachteile ergeben, die offensichtlich außer Verhältnis zu dessen Zielen stehen.“231 Intensität und Ausgewogenheit der Abwägung folgen in beiden Fällen unterschiedlichen Maximen. Eine von Nettesheim angeregte dogmatische Aufbereitung der vom EuGH praktizierten Kontrolldichte wäre daher zweifelsohne hilfreich. 63 In jedem Fall muss der Gerichtshof den Anspruch einlösen, den er mit seiner Forderung an die vorlegenden Gerichte evoziert, die genauen Gründe für die Ungültigkeit eines Unionsrechtsakts anzugeben, d. h. er muss sich mit diesen Gründen auseinandersetzen (oben Rn. 55, 56). Nur dann reflektiert seine Antwort den beschworenen Geist der vom Unionsvertrag institutionalisierten justiziellen Zusammenarbeit und ist dem nationalen Gericht zweckdienlich. Das gilt im Besonderen für den Dialog mit den nationalen Verfassungsgerichten, denen es obliegt, die kompetenzielle Verzahnung ihrer Rechtsordnung mit dem Unionsrecht aus verfassungsrechtlicher Perspektive im Auge zu behalten. An dem generellen Befund, dass sich der Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Kräften bemüht, den nationalen Gerichten bei deren Entscheidungsfindung behilflich zu sein (oben Rn. 46), ändert der Fall Weiss u. a. nichts.
VI. Bedeutung von Präjudizien 64 Eine bedeutende Rolle nehmen in der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs die ei-
genen Präjudizien ein. Bekanntlich setzt sich der Gerichtshof in seinen Urteilen – sehr zum Leidwesen der rechtslehrenden Zunft – nicht mit der wissenschaftlichen Literatur auseinander. Die Gründe hierfür hat der erste deutsche Richter am Gerichtshof, Otto Riese, wie folgt beschrieben:
229 EuGH v. 16.7.2020 – Rs. C-311/18 Facebook Ireland u. Schrems, EU:C:2020:559 Rn. 176–184. 230 EuGH v. 9.11.2010 – verb. RS C-92/09 u. C-93/09 Volker und Markus Schecke u. Eifert, EU: C:2010:662 Rn. 80. 231 EuGH v. 11.12.2018 – Rs. C-493/17 Weiss u. a., EU:C:2018:1000 Rn. 93.
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„Bei seiner Rechtsprechung berücksichtigt der Gerichtshof selbstverständlich soweit als möglich alle erreichbaren Quellen, setzt sich mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur auseinander und nimmt häufig eingehende rechtsvergleichende Studien vor, die freilich zuweilen noch weiter hätten vertieft werden sollen. Dies alles kommt in den Urteilen – im Gegensatz zu den Schlussanträgen der Generalanwälte – nicht zum Ausdruck, da der Gerichtshof sich seit Beginn seiner Tätigkeit dazu entschlossen hat, in den Urteilen auf Zitate zu verzichten, ausgehend von der Ansicht, dass es nicht Aufgabe der Rechtsprechung sei, zu wissenschaftlichen Diskussionen Stellung zu nehmen, aber auch aus der Erkenntnis, dass in einigen Mitgliedstaaten sehr zahlreiche Publikationen zum neuen europäischen Gemeinschaftsrecht erscheinen, in anderen nur wenige, und dass es dem Gemeinschaftsgefühl abträglich sein könnte, wenn ein Urteil sich nur oder ganz überwiegend auf die Literatur eines der Mitgliedstaaten stützte.“232
Diese Aussage von Anfang der sechziger Jahre hat noch heute Gültigkeit. Mit Ausnah- 65 me von gelegentlichen Referenzen auf die Schlussanträge der Generalanwälte, mit denen der Gerichtshof Mitte der neunziger Jahre eine frühe Praxis wieder aufleben ließ, greift der Gerichtshof in der Begründung seiner Urteile ausschließlich auf seine frühere Rechtsprechung zurück. Nach der Wiedergabe des wesentlichen Parteivortrags und der anwendbaren Rechtsvorschrift zitiert er als Einstieg zu seiner Begründung in aller Regel zunächst die zu der streitigen Rechtsfrage bereits bestehende Rechtsprechung und entwickelt davon ausgehend seine Argumentationslinie. Diese Art der Urteilsbegründung hat interpretationsbegrenzende, teilweise sogar interpretationsersetzende Funktion. Sie begünstigt tendenziell das Denken in Fällen gegenüber dem Denken in allgemeinen Regeln. Die Auslegung anhand der üblichen Methoden wird so gewissermaßen zum Sediment, das über die stetigen Verweise in späteren Entscheidungen kontinuierlich mitgetragen wird. Dieses schrittweise Vorgehen jeweils aufbauend auf vorherigen Urteilen dient der Vorhersehbarkeit, Kohärenz233 und letztlich Akzeptanz der Rechtsprechung.234 Im Unterschied zum U. S. Supreme Court235 hat der Gerichtshof die Existenz einer 66 im Common Law bekannten stare decisis-Regel niemals anerkannt. Dennoch sind Fälle, in denen der Gerichtshof offen von seiner früheren Rechtsprechung abweicht, äußerst rar,236 selbst wenn mehrere Generalanwälte ihm dies überzeugend nahegelegt
232 Riese, Das Sprachproblem in der Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1963), S. 507, 516. 233 Vgl. Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005), S. 180 f. 234 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 227. 235 Vgl. Supreme Court v. 29.6.1992 – Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U. S. 833 (1992). 236 Vgl. EuGH v. 17.10.1989 – Rs. C-10/89 HAG GF, EU:C:1990:359 Rn. 10 (zu Genese und Folgen dieses Revirement vgl. GA Mengozzi, Schlussanträge v. 12.9.2017 – Rs. C-291/16 Schweppes, EU:C:2017:666 Tz. 42–50); EuGH v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 Keck u. Mithouard, EU:C:1993:905 Rn. 16; sowie zuletzt EuGH v. 25.7.2008 – Rs. C 127/08 Metock u. a., EU:C:2008:449 Rn. 58 ff.
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§ 20 Die Rechtsprechung des EuGH
haben.237 Jedenfalls kennzeichnet der Gerichtshof Änderungen seiner Rechtsprechung als solche, so dass die Vermutung für den unveränderten Auslegungsbestand spricht.238 Appellen, seine Rechtsprechung zu überprüfen/überdenken („reconsidérer la jurisprudence“) oder sie gar zu ändern (modifier/revirer la jurisprudence“), begegnet der Gerichtshof immer wieder, sei es seitens vorlegender Gerichte,239 der Parteien, einschließlich der Regierungen,240 der Generalanwälte241 sowie seitens der Doktrin242. Von Erfolg gekrönt sind derartige Bemühungen regelmäßig nicht, wie Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona erläutert: „Die Sicherheit der Rechtsanwendung zwingt die Gerichte, wenn nicht zur starren Anwendung des Stare-decisis-Grundsatzes, so doch zu der Umsicht, sich an das zu halten, was sie nach reiflicher Überlegung zu einem juristischen Problem selbst entschieden haben.“243 Demzufolge lehnte es auch Generalanwalt Bot ab, dem Gerichtshof die Aufgabe einer in zwei Urteilen des Gerichtshofs gefundenen Lösung, deren Begründung er für anfechtbar hielt, vorzuschlagen, „denn eine solche Änderung der Rechtsprechung setzt eine deutliche Entwicklung des rechtlichen Rahmens voraus,“ die in diesem Fall nicht gegeben war.244 Ob nur das Kriterium einer deutlichen Entwicklung des rechtlichen Rahmens eine Änderung der Recht-
237 Vgl. die Rechtssachen, in denen der Gerichtshof gegen die Stellungnahmen mehrerer Generalanwälte daran festgehalten hat, auch auf solche Vorabentscheidungsersuchen zu antworten, in denen die Unionsrechtsvorschriften, deren Auslegung begehrt wurde, nur aufgrund einer vom nationalen Recht vorgenommenen Verweisung anwendbar waren, EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 u. C197/89 Dzodzi, EU:C:1990:360 Rn. 37; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, EU:C:1997:372 Rn. 28; sowie die entsprechenden Schlussanträge; seither st. Rspr., vgl. EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-300/01 Salzmann, EU:C:2003:283 Rn. 34; EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-222/01 British American Tobacco Manufacturing, EU:C:2004:250 Rn. 40; aus jüngerer Zeit EuGH v. 24.10.2019 – verb. Rs. C-469/18 u. C-470/18 Belgische Staat, EU:C:2019:895 Rn. 22. 238 Vgl. Fn. 236 sowie GA Saugmandsgaard Øe, Schlussanträge v. 21.3.2018 – Rs. C-5/17 DPAS, EU: C:2018:205 Tz. 62. 239 Vgl. EuGH v. 25.6.2020 – Rs. C-24/19 A u. a., EU:C:2020:503 Rn. 29 (Windparks in Aalter und in Nevele); GA Saugmandsgaard Øe, Schlussanträge v. 19.12.2019 – Rs. C-311/18 Facebook Ireland u. Schrems, EU:C:2019:1145 Tz. 252 mit Verweis auf die Rs. C-623/17 und verb. Rs. C-511/18 u. C-512/18; GA Campos Sánchez-Bordona, Schlussanträge v. 15.1.2020 – Rs. C-520/18 Ordre des barreaux francophones et germanophone, EU:C:2020:7 Tz. 69–71. 240 Vgl. GA Tanchev, Schlussanträge v. 27.2.2020 – Rs. C‑897/19 PPU Ruska Federacija, EU:C:2020:128 Tz. 42. 241 Vgl. GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 8.10.2011 – Rs. C-533/10 CIVAD, EU:C:2011:819 Tz. 40; GA Kokott, Schlussanträge v. 27.2.2014 – Rs. C-531/12 P Commune de Millau u. SEMEA ./. Kommission, EU: C:2014:1946 Tz. 76; GA Kokott, Schlussanträge v. 23.10.2014 – Rs. C-172/13 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, EU:C:2014:2321 Tz. 42. 242 In ihren Schlussanträgen v. 23.10.2014 – Rs. C-172/13 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, EU: C:2014:2321, Fn. 6, verweist GA Kokott auf allein 142 zu diesem Zeitpunkt registrierte wissenschaftliche Veröffentlichungen zur umstrittenen sog. Marks & Spencer-Ausnahme. 243 GA Campos Sánchez-Bordona, Schlussanträge v. 8.12.2016 – Rs. C‑527/15 Stichting Brein, EU: C:2016:938 Tz. 41. 244 GA Bot, Schlussanträge v. 14.4.2016 – Rs. C-492/14 Essent Belgium, EU:C:2016:257 Tz. 83.
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VII. Ausblick
697
sprechung zu rechtfertigen vermag, erscheint offen. Jedenfalls rührt eine Neujustierung der Rechtsprechung heute nicht mehr an den Grundfesten der europäischen Rechtsordnung. Ein sorgfältig begründetes Abweichen von früherer Rechtsprechung zeugt auch von einem souveränen und lebendigen Umgang mit dem Recht.
VII. Ausblick Betrachtet man die Rechtsprechung aus jüngerer Zeit, so sind mehrere Tendenzen er- 67 kennbar. Zunächst gewinnt die historische Auslegung sowohl im sekundären als auch im primären Unionsrecht zunehmend an Bedeutung, vor allem weil entsprechende Gesetzes- und Vertragsmaterialien heute fundierter und besser aufbereitet zur Verfügung stehen (oben Rn. 4, 13). Die seit geraumer Zeit andauernden Bemühungen der Institutionen und der Mitgliedstaaten um eine verbesserte Gesetz- und Verfassungsgebung auf Unionsebene werden damit honoriert. Sodann macht sich der Einfluss der mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft getretenen Charta der Grundrechte auf die Auslegung des Unionsrechts und das in Durchführung ergangene nationale Recht nachdrücklich bemerkbar. Der Anteil der Rechtssachen, in denen der Gerichtshof die Charta interpretiert, steigt kontinuierlich an (oben Rn. 21). Nachdem er in der Rechtssache Åkerberg Fransson zudem den Anwendungsbereich der Charta mit dem des Unionsrechts gleichgesetzt hat (oben Rn. 42), rücken zunehmend „Durchführungs“-Sachverhalte in den Fokus. Damit bleibt angesichts konstant hoher Eingangszahlen bei den Vorabentscheidungsersuchen die Frage der in Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV verankerten Aufgabenteilung zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten auf der Tagesordnung. Die 2012 grundlegend revidierte Verfahrensordnung des Gerichtshofs spielt dabei eine zentrale Rolle. Dem Gerichtshof stehen mit den Art. 53 Abs. 2, 94 und 99 EuGH-VerfO Steuerungsinstrumente zur Verfügung, die es ihm erlauben, in Fällen offensichtlicher Unzuständigkeit, bei Nichterfüllung inhaltlicher Mindesterfordernisse sowie bei Fehlen vernünftiger Zweifel an der Antwort Vorabentscheidungsersuchen durch Beschluss ohne Beteiligung der Parteien zurückzuweisen. Er selbst sieht sich, wie der Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht um das Urteil Weiss u. a. belegt, vor Herausforderungen im Hinblick auf die Kontrolldichte seiner Gültigkeitsprüfung gestellt (oben Rn. 53–62).
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) Literatur: Jürgen Basedow, Der Bundesgerichtshof, seine Rechtsanwälte und die Verantwortung für das europäische Privatrecht, in: Gerd Pfeiffer/Joachim Kummer/Silke Scheuch (Hrsg.), Festschrift für Hans Erich Brandner (1996), S. 651–681; Alexander Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013; Michael Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses (2001); Christian Calliess, Der EuGH als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes – Auf dem Weg zu einer kohärenten Kontrolle der unionsrechtlichen Vorlagepflicht?, NJW 2013, 1905–1910; Ninon Colneric, Auslegung des Gemeinschaftsrechts und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, ZEuP 2005, 225–233; Wiebke Dettmers, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV, SchlHA 2018, 109–117; Rainer Fahrenbruch, Keine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts contra legem!, IBR 2020, 316; Max Foerster, Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV und Anhängigkeit derselben Rechtsfrage am EuGH, EuZW 2011, 901–907; Jörg Gundel, Die Öffnung des Vorabentscheidungsverfahrens zum EuGH für nichtmitgliedstaatliche Gerichte, EuZW 2019, 934–938; Ekkehardt von Heymann/Karen Annertzok, Zur Bindung der Rechtsprechung an nationale Gesetze und EU-Richtlinien, BKR 2002, 234–235; Nils Grosche/Jan Höft, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ohne Grenzen? – Zugleich Besprechung von BGH, NJW 2009, 427 – Quelle, NJOZ 2009, 2294–2309 mit Zusammenfassung in NJW 2009, 2416–2417; Clemens Höpfner, Methodenfragen bei der Auslegung des Unionsrechts, JbArbR 57 (2020) S. 69–94; Peter Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: ClausWilhelm Canaris u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band 2 (2000), S. 889–925; Juliane Kokott/Thomas Hense/Christoph Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, 633–641; Benedikt Hoffmann, Zum Prüfungsmaßstab bei gerügtem Verstoß gegen den gesetzlichen Richter durch Nichtvorlage an den EuGH, ISR 2018, 211–214; Christoph Ilg, Der Rechtspfleger als Gericht i. S. d. Art. 267 AEUV?, Rpfleger 2018, 301–308; Kai-Oliver Knops, Die Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger Normen in Privatrechtsstreitigkeiten, NJW 2020, 2297–2302; Bernhard Kreße, Die Prüfungskompetenz des EuGH in kollisionsrechtlichen Vorabentscheidungsverfahren: erbrechtliche Qualifikation des § 1371 Abs. 1 BGB?, GPR 2019, 195–200; Hans-Friedrich Lange, Praxis der Vorabentscheidungsersuchen in der Finanzgerichtsbarkeit, Festschrift für den Bundesfinanzhof, 2018, S. 865–894; Clemens Latzel/Thomas Streinz, Das richtige Vorabentscheidungsersuchen, NJOZ 2013, 97–109; Alexander Linn/Benedikt Pignot, Zur EuGH-Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte – Das EuGH-Urteil Kommission/Frankreich, IStR 2019, 87–91; Mehrdad Payandeh, Europarecht: Nichtvorlage als Vertragsverletzung – Rüge der Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 III AEUV – im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV, JuS 2019, 82–84; Katherina Paraschas, Die Vorlage zur Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs, DRiZ 2018, 348–351; Andreas Piekenbrock/Götz Schulze, Die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung – autonomes Richterrecht oder horizontale Direktwirkung, WM 2002, 521–529; Thomas Pfeiffer, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht, StudZR 2004, 171–194; ders., Richtlinienkonforme Auslegung gegen den Wortlaut des nationalen Gesetzes – Die Quelle-Folgeentscheidung des BGH, NJW 2009, 412–413; Oliver Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503–530; René Repasi, Die Reichweite des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes bei der Richtlinienumsetzung, EuZW 2009, 756–757; Karl Riesenhuber/Ronny Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre – Zugleich eine Besprechung von EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u. a., RIW 2005, 47–54; Thomas Ritter, Neue Werteordnung für die Gesetzesauslegung durch den Lissabon-Vertrag, NJW 2010, 1110–1114; Wulf-Henning
Schmidt-Räntsch https://doi.org/10.1515/9783110614305-021
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
Roth, Die Europäisierung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in: Barbara Dauner-Lieb/Horst Konzen/ Karsten Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis (2003), S. 25–39; Bettina SchöndorfHaubold, Die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von EU-Recht durch nationale Gerichte, JuS 2006, 112–115; Reiner Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999); Monika Schlachter, Richtlinienkonforme Rechtsfindung – ein neues Stadium im Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und den nationalen Gerichten – Besprechung des Urteils EuGH v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C-403/01, RdA 2005, 115–120; Natascha Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung (2004); Matthias Thume/Hervé Edelmann, Keine Pflicht zur systemwidrigen richtlinienkonformen Rechtsfortbildung – zugleich eine Besprechung der Urteile des EuGH vom 25.10.2005 in den Rechtssachen C-229/04 („Crailsheimer Volksbank“) und C-350/03 („Schulte“), BKR 2005, 477–487; Rolf Wank, Die unmittelbare Wirkung von Unionsrecht unter Privaten im Arbeitsrecht, RdA 2020, 1–12; Matthias Wendel, Neue Akzente im europäischen Grundrechtsverbund – Die fachgerichtliche Vorlage an den EuGH als Prozessvoraussetzung der konkreten Normenkontrolle, EuZW 2012, 213–218. Rechtsprechung: EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 Foto-Frost, EU:C:1987:452; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, EU:C:1995:463; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis 244/98 Océano Grupo, EU:C:2000:346; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, EU:C:2001:684; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, EU: C:2005:640; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:637; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C144/04 Mangold, EU:C:2005:709; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Königreich), EU:C:2006:10; BGHZ 179, 27 – Quelle.
Systematische Übersicht I.
II.
Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB 1–7 1. Öffentliches Recht 1–3 2. Zivil- und Arbeitsrecht 4 3. Strafrecht 5–7 Auslegungskompetenz der OGB 8–48 1. Auslegungsmonopol des EuGH 8–13 a) Auslegung des Unionsrechts 8–10 b) Anwendung des Unionsrechts 11–12 c) Gültigkeit des Unionsrechts 13 2. Vorlagerecht 14–21 a) Entscheidungserhebliche Fragen 14–15 b) Vorlagezeitpunkt 16–18 c) Vorlageberechtigte Gerichte 19–20 d) Vorlageermessen 21
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3.
4.
Vorlagepflicht der OGB gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV 22–32 a) Grundsatz 22 b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht 23–30 aa) Klärung durch den EuGH 24–25 bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EU-Rechts 26–28 cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH 29–30 c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht 31–32 Vorlageverfahren vor den OGB 33–41 a) Form und Anlass der Vorlage 33–34 b) Inhalt des Vorlagebeschlusses 35–40
I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB
aa) Tenor 35 bb) Begründung 36–39 cc) Praxis der OGB 40 c) Technische Abwicklung 41 5. Vorlageverfahren vor dem EuGH 42–47 a) Schriftliches Vorverfahren 42–43 b) Mündliche Verhandlung 44 c) Urteil des EuGH 45–46 d) Parallelverfahren 47 III. Auslegungssituationen 48–85 1. Vorabentscheidungsersuchen 48–50 2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen 51–52 3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts 53–63 a) Primäres Gemeinschaftsrecht 53 b) Verordnungsrecht 54–60 aa) Öffentliches Recht 54–57 bb) Zivilrecht 58–60 c) Richtlinien und (Rahmen-) Beschlüsse 61–63 4. Anwendung von Umsetzungsvorschriften 64–75
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Umsetzungspflicht 64–68 Auslegung von Umsetzungsvorschriften 69–74 aa) EU-konforme Auslegung 69–71 bb) Überschießende Umsetzung 72–74 c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln 75 5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften 76 6. Haftung für verspätete Umsetzung von EU-Recht 77–81 a) EU-rechtliche Haftung 77–79 b) Amtshaftung 80–81 7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten 82–85 a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten 82–83 b) Überbrückung durch Rechtsprechung 84–85 IV. Auslegungsmethoden 86–90 1. Vorbemerkung 86 2. Wortlautauslegung 87 3. Systematische Auslegung 88 4. Historische Auslegung 89 5. Teleologische Auslegung 90 V. Fazit 91 a) b)
I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB 1. Öffentliches Recht Der weit überwiegende Bestand der Normen des EU-Rechts ist aus deutscher Sicht 1 dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Fragen der Anwendung und Auslegung solcher EU-Rechtsnormen stellen sich deshalb in erster Linie den für das öffentliche Recht zuständigen obersten Gerichtshöfen des Bundes, dem BVerwG, dem BFH und dem BSG. In der Rechtsprechung dieser obersten Gerichtshöfe nimmt das EU-Recht einen je nach Sachgebiet mehr oder weniger breiten, aber tendenziell immer breiter werdenden und auch immer mehr Rechtsgebiete durchdringenden Raum ein. So bildet etwa die Anwendung der einschlägigen umweltrechtlichen Richtlinien1 bei der gericht1 Z. B. Richtlinie 79/409/EWG des Rates v. 2.4.1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. 1979 L 102/1 i. d. F. der RL 2009/147/EG v. 30.11.2009, ABl. 2010 L 20/7 (Vogelschutz-Richtlinie);
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
lichen Überprüfung der meisten Planfeststellungsbeschlüsse den wesentlichen Schwerpunkt.2 Die Rechtsprechung des BFH etwa zum Umsatzsteuerrecht ist heute durch die Umsatzsteuerrichtlinien der EU geprägt.3 2 In nicht geringem Umfang ist auch der BGH mit der Anwendung solcher EURechtsnormen befasst. Wichtige Teilbereiche des öffentlichen Rechts sind nämlich dem BGH gesetzlich zugewiesen: Das sind vor allem das Kartellrecht, das Energiewirtschaftsrecht, das Vergaberecht, die Überprüfung der Entscheidungen des DPMA und das Berufsrecht der Rechtsanwälte und Notare. Die ersten drei Bereiche sind sehr stark, der vierte Bereich schon merklich EU-rechtlich durchdrungen. 3 Der BGH muss sich auch außerhalb solcher Rechtswegzuweisungen mit deutschem öffentlichem Recht und damit auch mit Verordnungen oder mit den das deutsche öffentliche Recht vorbestimmenden EU-Rechtsnormen befassen. Das ist beim Amtshaftungs-, Wettbewerbs- und auch im Strafrecht der Fall. Amtshaftungsfälle, Straftaten und Wettbewerbsverstöße können sich auf nahezu allen Feldern des öffentlichen Rechts ereignen. Auch das Freiheitsentziehungsrecht gehört dazu. Ob der Haftgrund der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist, ist bei der Überprüfung von Ab- oder Zurückschiebungshaft zu prüfen,4 ggf. auch anhand der einschlägigen EU-Normen. Mit Art. 28 gibt die sog. Dublin-III-Verordnung5 auch den Haftgrund vor.6 § 62a AufenthG ist im Lichte der Rückkehrrichtlinie7 einschränkend auszulegen.8 Dementsprechend lassen sich die Gebiete des öffentlichen Rechts, mit denen der BGH auf diesen Wegen befasst wird, nicht thematisch eingrenzen. Richtlinie 92/43/EWG des Rates v. 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. 1992 L 206/7, zuletzt geändert durch Richtlinie 2006/105/EG v. 20.11.2006, ABl. 2006 L 363/368 (FFH-Richtlinie); Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13. 12. 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 2012 L 26/1 (UVP-Richtlinie); Richtlinie (EU) 2018/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.5.2018 zur Änderung der Richtlinie 94/62/EG über Verpackungen und Verpackungsabfälle, ABl. L 150/141; Richtlinie (EU) 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.6.2019 über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffprodukte auf die Umwelt, ABl. L 155/1. 2 Z. B. BVerwG, NuR 2009, 334, 408 – Flughafen Weeze; BVerwG, NuR 2009, 776 – BAB A 44; VG Dresden, UPR 2009, 360 – Dresdner Waldschlößchenbrücke (Vollabdruck bei juris). 3 Z. B. BFHE 226, 205; 226, 435. 4 Nachweise bei Schmidt-Räntsch, NVwZ 2014, 110, 113. 5 Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. 2013 L 180/31. 6 BGH, Asylmagazin 2014, 315 Rn. 11. 7 BGH v. 25.7.2014 – V ZB 137/14, Rn. 8 (juris). 8 Richtlinie 2008/115/EG des europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. 2008 L 348/98.
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I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB
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2. Zivil- und Arbeitsrecht Ähnlich stark EU-rechtlich durchdrungen wie das öffentliche Recht ist inzwischen das 4 Arbeitsrecht. Neben den grundrechtlichen Gewährleistungen des EU-Primärrechts9 sind hier eine ganze Reihe von EU-Richtlinien zum internationalen,10 zum Individual-11 und zum kollektiven Arbeitsrecht12 zu nennen. Diese Richtlinien prägen auch die Rechtsprechung des BAG zu den Umsetzungsvorschriften.13 Demgegenüber hat der BGH als oberster Gerichtshof der ordentlichen Gerichtsbarkeit in erster Linie Vorschriften des Zivilprozessrechts, des materiellen Zivil- und Handelsrechts und des Strafrechts anzuwenden. Aber auch dazu gehören in inzwischen nicht unbeträchtlichem, allerdings gebietsweise unterschiedlichem Umfang auch unmittelbar geltende EU-Rechtsnormen. Die EU-rechtlich vorbestimmten Bereiche des deutschen Zivilprozess-, Zivil- und Handelsrechts sind vor allem: das internationale Zivilprozessund Insolvenzrecht, das Gesellschaftsrecht, das Recht der gewerblichen Schutzrechte und das Urheberrecht, das Handelsvertreterrecht, das Kaufrecht und das Verbraucherschutzrecht.
3. Strafrecht Das Strafrecht der Mitgliedstaaten der EU ist sehr heterogen und deshalb bislang in 5 seinem Kernbestand noch nicht so tief EU-rechtlich vorbestimmt wie das Zivilrecht. Das bedeutet aber nicht, dass das Strafrecht einer solchen Durchdringung von vornherein entzogen wäre. Die Querschnittskompetenzen der EU erfassen auf ihrem Sektor alle Rechtsgebiete ohne Ausnahme, auch das Strafrecht. Bislang hat die EU aber meist davon abgesehen, den Mitgliedstaaten speziell 6 strafrechtliche Sanktionen vorzugeben, sondern ihnen die Wahl der Sanktion, oft
9 Dazu Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 2 Rn. 6, 13, 14. 10 Z. B. Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. 1997 L 18/1; dazu Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 7. 11 Z. B. Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. 2006 L 204/23; Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 30/16; zu diesen: Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, §§ 10 und 12. 12 Z. B. Richtlinie 2009/38/EG des Rates v. 6.5.2009 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. 2009 L 122/28; dazu Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 31. 13 Z. B. BAG, RIW 2010, 76; NZA 2009, 378; BAGE 126, 352.
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
auch das Durchsetzungsmittel überhaupt, freigestellt. Deshalb besteht meist kein EUrechtlicher Zwang zur Umsetzung in Form von Strafrechtsnormen, der aber entgegen verbreiteter Ansicht möglich wäre.14 Allerdings müssen auch Tatbestände von Strafrechtsnormen bisweilen unter Rückgriff auf Normen anderer Rechtsgebiete ausgefüllt werden. Soweit diese EU-rechtlich geregelt oder vorbestimmt sind, muss ggf. auch bei der Anwendung von Strafrechtsnormen EU-Recht angewendet werden. Bislang ist das meist auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts der Fall. 7 Eine solche Notwendigkeit kann aber auch bei den Normen des Kernstrafrechts auftre-ten. Beispiele sind das Steuer- und Umweltstrafrecht15 oder § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG, den der BGH unter Rückgriff auf Art. 72 ff. Börsenrechtsrichtlinie16 und Kommentare der Kommission17 auslegt.18 Neben der Ausfüllung von Straftatbeständen durch das Unionsrecht ergibt sich bisweilen auch die Notwendigkeit, nationale Strafnormen EU-rechtskonform einzuschränken.19
II. Auslegungskompetenz der OGB 1. Auslegungsmonopol des EuGH a) Auslegung des Unionsrechts 8 Dieses thematisch breit angelegte Spektrum von Fallgestaltungen, die die obersten Gerichtshöfe des Bundes unter unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung und Auslegung von EU-Recht zu lösen haben, gibt inhaltlich vielfältige Möglichkeiten zur Entwicklung methodischer Grundsätze zur Anwendung und Auslegung des EU-Rechts. Diese können die Gerichtshöfe des Bundes aber nur in eingeschränktem Umfang nutzen. 9 Die Auslegung des Unionsrechts ist nach Art. 267 Abs. 1 AEUV Sache des EuGH. Ihm allein steht es zu, den Vertrag und das Sekundärrecht auszulegen und die Gültigkeit20 von Handlungen der Organe zu überprüfen. Handlungen der Organe sind im
14 EuGH v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03 Kommission ./. Rat, EU:C:2005:542 Rn. 48. 15 Vgl. etwa BGHSt 43, 219, 224 ff.; BGHSt 37, 168, 174 ff. 16 Richtlinie 2001/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen, ABl. 2001 L 184/1. 17 Kommentare zu bestimmten Artikeln der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 sowie zur Siebenten Richtlinie 83/ 349/EWG v. 13.6.1983 über Rechnungslegung v. November 2003, unveröffentlicht. 18 BGHSt 49, 381, 389. 19 BGH, NJW 2003, 2842, 2843. 20 Z. B. BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Omeprazol.
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vorliegenden Kontext vor allem die Verordnung, die Richtlinie, die Entscheidung21 (des Rates oder der Kommission) und der nach Art. 81 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV mögliche Beschluss, der inhaltlich dem nach Maßgabe des früheren Art. 35 EU möglichen Rahmenbeschluss22 nach dem früheren Art. 34 EU entspricht. Seine Auslegungskompetenz könnte der EuGH nicht wahrnehmen, wenn die Ge- 10 richte der Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit und unter bestimmten Voraussetzungen auch die Verpflichtung hätten, Fragen der Auslegung des Unionsrechts und der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten dem EuGH vorzulegen. Das ist der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV.
b) Anwendung des Unionsrechts Von der Auslegung des Unionsrechts ist seine Anwendung auf den konkreten Einzel- 11 fall zu unterscheiden.23 Diese Unterscheidung hat der EuGH im Urteil Freiburger Kommunalbauten24 prägnant herausgearbeitet. In jenem Fall hatte der VII. Zivilsenat des BGH dem EuGH die Frage vorgelegt, ob das Klauselwerk einer Bürgschaft nach der MaBV mit der Klauselrichtlinie in Übereinstimmung steht.25 Diese Vorlage hat der EuGH als unzulässig zurückgewiesen. Er hat dabei in Abgrenzung zu seiner OcéanoEntscheidung26 deutlich gemacht, dass es bei der Auslegung des Rechts im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, wie im nationalen Recht, im Wesentlichen darum geht, die für die Subsumtion eines Einzelfalls unter das Gesetz erforderlichen Obersätze und ihren Inhalt festzustellen. Ob aber im Einzelfall die Erfordernisse des so konkretisierten EU-Rechts erfüllt sind oder nicht, sei, so der EuGH,27 nicht mehr eine Frage der Auslegung des EU-Rechts, sondern seiner Anwendung auf den Einzelfall, die den Gerichten der Mitgliedstaaten obliege. Diese Grundsätze hat er im Fall Kattner Stahlbau GmbH28 bekräftigt. Aus der Rechtsprechung des BGH lassen sich als Anwendungsbeispiele weiter 12 nennen die Anwendung des EuGVÜ bzw. der EuGVVO,29 des Marken- und Sorten-
21 Z. B. BGHZ 146, 153, 160. 22 Zu dessen Wirkungen: EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, EU:C:2005:386; Adam, EuZW 2005, 558, 560. 23 V. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 32. 24 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 22. 25 BGH, BGH-Report 2002, 835, 836. 26 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo, EU:C:2000:346 Rn. 21–24. 27 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209 Rn. 22. 28 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07 Kattner Stahlbau-GmbH ./. Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft, EU:C:2009:127 Rn. 24. 29 BGH, NJW 2006, 230; BGH, GRUR 2006, 513, 514 f. – Arzneimittelwerbung im Internet.
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schutzrechts30 oder des Arznei- und Lebensmittelrechts31 im konkreten Einzelfall oder die Prüfung von Mietvertragsklauseln in der Form von AGB.32 Nicht vorlagefähig wäre ferner etwa auch die Frage, ob die konkreten Umstände des Einzelfalls die Annahme außergewöhnlicher Umstände im Sinne der Rechtsprechung des EuGH33 rechtfertigen, die eine Ausnahme von den artenschutzrechtlichen Verboten nach Art. 16 FFH-Richtlinie erlauben.34 Entsprechendes gilt für die Frage, ob ein Bundesverkehrswegeplan mit Vorschriften der FFH-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie übereinstimmt.35
c) Gültigkeit des Unionsrechts 13 Im Verfahren vor dem nationalen Gericht kann nicht nur die Auslegung und Anwendung des EU-Primär- oder EU-Sekundärrechts, sondern auch die Frage entscheidungserheblich sein, ob das EU-Sekundärrecht seinerseits dem Primärrecht entspricht. Zweifel daran könnten die Mitgliedstaaten durch eine, allerdings nach Art. 263 Abs. 6 AEUV innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe des Rechtsakts zu erhebende, eigene Anfechtungsklage nach Art. 263 Abs. 2 AEUV klären.36 Geschieht das nicht, hindert das nach Art. 277 AEUV eine Inzidentüberprüfung aus Anlass eines nationalen Gerichtsverfahrens nicht. Der EG-Rechtsakt kann aber nicht durch das nationale Gericht, auch nicht durch einen nationalen obersten Gerichtshof, sondern nur durch den EuGH für ungültig erklärt werden.37
30 BGH, BGH-Report 2005, 446, 447 – Maglite; BGHZ 139, 59, 63 f. – Fläminger; BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II; GRUR 2006, 407, 409 – Auskunftsanspruch bei Nachbau III; EuZW 2009, 708. 31 BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; BGH, ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung; BGH, GRUR 2006, 513, 514 f. – Arzneimittelwerbung im Internet, mwN zur Rechtsprechung des EuGH. 32 BGH, NZM 2004, 734. 33 EuGH v. 14.6.2007 – Rs. C-342/05 Kommission ./. Finnland, EU:C:2007:341. 34 Beispiel nach BVerwG, NuR 2009, 414. 35 BVerwG v. 3.12.2008 – 9 B 35/08, juris. 36 Beispiele sind die beiden deutschen Klageverfahren gegen die Tabakwerberichtlinie, vgl. EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, EU:C:2000:544 (Nichtigerklärung) und EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-380/03 Deutschland ./. Parlament und Rat, EU:C:2006:772 (Klageabweisung). 37 EuGH v. 21.2.1991 – verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 Zuckerfabrik Süderdithmarschen, EU:C:1991:65 Rn. 17; EuGH v. 21.3.2000 – Rs. C-6/99 Greenpeace France u. a., EU:C:2000:148 Rn. 54; EuGH v. 10.1. 2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Königreich), EU:C:2006:10 Rn. 27; EuGH v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 Digital Rights Ireland, EU:C:2014:238.
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2. Vorlagerecht a) Entscheidungserhebliche Fragen Fragen der Auslegung des EU-Rechts können die Gerichte der Mitgliedstaaten nach 14 Art. 267 Abs. 2 AEUV dem EuGH vorlegen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Aus welchen Gründen das der Fall ist, ist ohne Bedeutung. Die Entscheidungserheblichkeit kann sich schon daraus ergeben, dass es sich um eine unmittelbar anwendbare Verordnung handelt. Sie kann auch daraus folgen, dass eine nationale Vorschrift zur Umsetzung einer Richtlinie oder eine nicht speziell zur Umsetzung von EU-Recht geschaffene, dazu aber auch dienende allgemeine nationale Vorschrift unter Rückgriff auf die Richtlinie EU-konform auszulegen oder durch EU-Recht auszufüllen und zu diesem Zweck festzustellen ist, welche inhaltlichen Vorgaben das EU-Recht hierfür macht.38 Bei der Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit steht dem nationalen Richter 15 ein Ermessen zu. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist es allein Sache des nationalen Gerichts, sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen.39 Der EuGH prüft deshalb grundsätzlich nicht, ob der vorlegende Richter die Erheblichkeit der ihm gestellten Frage nach dem nationalen Recht zutreffend angenommen hat.40 Die Grenzen des Ermessens sind aber erreicht, wenn die Erheblichkeit der dem EuGH vorgelegten Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits aus dem Vorlagebeschluss nicht mehr erkennbar wird41 oder die dem EuGH vorgelegte Frage nur hypothetischen Charakter hat.42 Unerheblich ist etwa die Frage nach den Grenzen des Anwendungsbereichs einer Richtlinie dann, wenn der nationale Gesetzgeber über die Richtlinie hinausgehen kann.43
38 Zu Vorlageberechtigung und ggfs. -pflicht in Fällen einer überschießenden Richtlinienumsetzung s. Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14 Rn. 54 ff. 39 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, EU:C:1995:463 Rn. 59; EuGH v. 15.6.2006 – Rs. C-466/04 Acereda Herrera, EU:C:2006:405 Rn. 47; EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich ./. Österreich, EU: C:2009:140 Rn. 36 f.; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV, EU:C:2009:645 Rn. 25; EuGH v. 28.2.2012 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie and Terre wallonne, EU:C:2012:103 Rn. 35; EuGH v. 15.10.2020 – Rs. C-778/18 Ass. fr. des usagers bancaires, EU:C:2020:831 Rn. 47. 40 Streinz-Ehricke, Art. 267 AEUV Rn. 35; Schwarze-Schwarze, Art. 267 AEUV Rn. 37. 41 EuGH v. 12.5.2016 – Rs. C-281/15 Sahyouni, EU:C:2016:343 Rn. 29, vgl. dazu auch BGH, v. 26.8. 2020 – XII ZB 158/18, Rn. 58 (juris). 42 EuGH v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98 PreussenElektra, EU:C:2001:160 Rn. 39; EuGH v. 17.5.2001 – Rs. C340/99 TNT Traco, EU:C:2001:281 Rn. 31; EuGH v. 6.12.2001 – Rs. C-472/99 Clean Car Autoservice, EU: C:2001:663 Rn. 14; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV, EU:C:2009:645; in der Sache Mangold hat der EuGH ein objektives Bedürfnis zur Klärung der angesprochenen Fragen ausreichen lassen: EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 38. 43 BGH, NJW 2005, 53, 55 für Versteigerung nach § 312d Abs. 4 BGB; BGHSt 43, 219, 226 ff. für Umweltstrafrecht.
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
b) Vorlagezeitpunkt 16 Art. 267 Abs. 2 AEUV schreibt nicht vor, zu welchem Zeitpunkt während des Verfah-
rens der nationale Richter das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten hat. Der EuGH verlangt aber, dass der Sachverhalt und die ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fragen so weit geklärt sind, dass sich der Gerichtshof über alle Tatsachen- und Rechtsfragen unterrichten kann, auf die es bei der von ihm vorzunehmenden Auslegung des Unionsrechts möglicherweise ankommt.44 17 Auch dabei hat der nationale Richter einen Beurteilungsspielraum, den er aber überschreitet, wenn im Zeitpunkt der Vorlage nicht absehbar ist, dass und weshalb es auf die Frage ankommt.45 Fehlt es an der Sachaufklärung, ist sie vor einer Vorlage an den EuGH nachzuholen.46 Wenn aber die Ermittlungen eine sachgerechte Beantwortung der Vorlagefrage erlauben, prüft der EuGH nicht nach, ob sich nach nationalem Recht oder nach dem Vortrag der Parteien eine Lösung ohne Beantwortung der Frage finden ließe.47 Der nationale Richter könnte den EuGH mit einer Frage zur Auslegung von Unionsrecht befassen, bevor er eine umfangreiche Beweisaufnahme durchführt, deren Ergebnis sie entbehrlich macht. Er könnte aber auch den einzigen Zeugen zunächst noch vernehmen. Bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes stellt sich diese Frage nicht, weil sie an den festgestellten Sachverhalt gebunden sind. 18 Es lässt sich nicht immer ausschließen, dass der EuGH eine Frage zur Auslegung des EU-Rechts beantwortet, obwohl dies ex post betrachtet nicht notwendig gewesen wäre. Ein Beispiel hierfür ist das Vorabentscheidungsersuchen des BGH48 im Fall Heininger zur Reichweite der früheren Haustürgeschäfterichtlinie49 (HtWRL), in dem sich nach der Entscheidung des EuGH50 und der Aufhebung des Berufungsurteils durch den BGH51 ergab, dass es an einer Haustürsituation im Sinne der Richtlinie52 fehlte.53
44 Nr. 19 der Hinweise des EuGH zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 11.6.2005, ABl. 2005 C 143/1. 45 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke, EU:C:1992:332 Rn. 23, 26, 29. 46 Z. B. BGH, NJW 1999, 3261, 3263; BGH, GRUR 2006, 405, 407 – Aufbereiter II: Zurückverweisung mit der Maßgabe, nach Aufklärung selbst vorzulegen. 47 EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV, EU:C:2009:645. 48 BGH, NJW 2000, 521. 49 Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1986 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31, aufgegangen in der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2011 L 304/64. 50 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, EU:C:2001:684. 51 BGHZ 150, 248, 251. 52 Art. 1 Abs. 1 HtWRL ist strenger als § 312 BGB, wonach der Vertrag nicht in der Haustürsituation geschlossen, sondern nur durch diese bestimmt werden muss: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA; AnwaltKommBGB-Ring, § 312 BGB Rn. 2. 53 OLG München, WM 2003, 69 f.; siehe auch Stotz, in diesem Band, § 20 Rn. 45.
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c) Vorlageberechtigte Gerichte Vorlageberechtigt ist, außer in den Fällen des früheren Art. 68 EG,54 jedes Gericht54a, 19 aber nur das eines Mitgliedstaats, kein supranationales Gericht.55 Es kommt nicht darauf an, welchem Gerichtszweig es angehört. Unerheblich ist, ob es sich um ein erstinstanzliches, ein Berufungs-, ein Revisions- oder um ein Verfassungsgericht handelt. Ohne Bedeutung ist auch, welcher Spruchkörper in dem Gericht zu entscheiden hat, ob es sich um einen allein entscheidenden Amtsrichter, einen Einzelrichter, eine Kammer oder einen Senat handelt. Der EuGH prüft nicht, ob der nationale Richter nach den nationalen Vorschriften 20 zuständig war. Entscheidend für ihn ist nur, dass ein wirksames Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH vorliegt.
d) Vorlageermessen Das nationale Gericht ist nach Art. 267 Abs. 2 AEUV grundsätzlich nicht verpflichtet, 21 vorzulegen. Es kann die EU-rechtliche Vorfrage auch selbst entscheiden und die Anrufung des EuGH dem Berufungs- oder Revisionsverfahren oder einem anderen statthaften Rechtsmittelverfahren (in der ordentlichen Gerichtsbarkeit z. B. dem Rechtsbeschwerdeverfahren) überlassen. Bei der Ausübung des Ermessens sollte allerdings der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens berücksichtigt werden. Es soll in erster Linie divergierende Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten über den Inhalt des Unionsrechts vermeiden. Deshalb sollte auch der nicht zur Vorlage verpflichtete Richter von einer Vorlage im Grundsatz nur absehen, wenn ein zur Vorlage verpflichteter Richter dazu nicht verpflichtet wäre,56 also nur, wenn der Inhalt des EU-Rechts offenkundig oder anhand der gefestigten Rechtsprechung zu ermitteln ist.57 Wenn zu erwarten ist, dass die Frage auch bei anderen Gerichten derselben Gerichtsbarkeit auftritt, sollte dagegen von einer Vorlage abgesehen, ein Rechtsmittel zugelassen und die Koordinierungsmöglichkeit des zuständigen obersten Gerichtshofs des Bundes genutzt werden. Abweichend hiervon muss das nationale Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten, wenn es in seiner Entscheidung einen EURechtsakt (inzident) für ungültig erklären will. Es dürfte auch nicht abwarten, ob der zuständige oberste Gerichtshof seine Auffassung teilt.58 Will ein Gericht eine Norm zur Umsetzung von Unionsrecht nach Art. 100 GG dem BVerfG vorlegen, muss es zuvor ggf. durch ein Vorabentscheidungsersuchen klären, ob dem Gesetzgeber ein Spiel
54 Dazu EuGH v. 25.6.2009 – Rs. C-14/08 Roda Golf & Beach Resort SL, EU:C:2009:395. 54a Zu den Anforderungen an ein „Gericht“: EuGH v. 16.9.2020 – Rs. C-462/19 Anesco, EU:C:2020:715 Rn. 37 ff. 55 EuGH v. 14.6.2011 – Rs. C-196/09 Miles ./. Europäische Schulen, EU:C:2011:388 Rn. 39 f. 56 Davon gehen BGH, NJW 1999, 3261, 3263 und wohl auch BGHSt 37, 168, 175 aus. 57 In diesem Sinne wohl BVerwG, NVwZ 2005, 598, 601. 58 Vgl. oben Rn. 13 a. E.
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raum verblieben ist.59 Das Rechtsmittelverfahren vor dem obersten Gerichtshof des Bundes kann auch dazu führen, dass nicht sofort ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu stellen ist, sondern erst, wenn sich im neuen Berufungs- oder Beschwerdeverfahren die Notwendigkeit dazu ergibt. Dann kann der oberste Gerichtshof dem Berufungs- oder Beschwerdegericht nahelegen, ggf. gleich von sich aus ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten.60
3. Vorlagepflicht der OGB gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV a) Grundsatz 22 Vorlagepflichtig sind nach Art. 267 Abs. 3 AEUV Gerichte, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln nach dem innerstaatlichen Recht nicht mehr angefochten werden können. Das sind in erster Linie die obersten Gerichtshöfe des Bundes und das BVerfG.61 Dazu gehören aber auch andere Gerichte, wenn sie Entscheidungen erlassen, gegen die förmliche Rechtsmittel wie die Berufung oder Revision, die Beschwerde, die Rechtsbeschwerde oder die Nichtzulassungsbeschwerde62 nicht gegeben sind oder von der Zulassung durch das entscheidende Gericht abhängen und dieses das Rechtsmittel nicht zulassen will. Die obersten Gerichtshöfe lassen, soweit vorgesehen, das Rechtsmittel zu, wenn für die Entscheidung eine Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet werden müsste.63
b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht 23 Die nach Wortlaut und Zweck des Art. 267 Abs. 3 AEUV an sich unbeschränkte Pflicht der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Vorlage kennt allerdings doch einige Ausnahmen. 24
aa) Klärung durch den EuGH. Eine Vorlage ist nicht erforderlich, wenn die anstehenden Fragen durch den EuGH bereits geklärt sind. Dann hat das Vorabentscheidungsverfahren nämlich seinen Zweck erreicht. Eine spezielle Ausprägung dieser Situation ist der Fall, dass der EuGH eine grundsätzliche Frage geklärt hat und der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes eine Änderung der eigenen Rechtspre-
59 BVerfGE 129, 186 Rn. 47 f. 60 Beispiel: BGH, NuR 2020, 50 Rn. 54 f. 61 Dies hat bisher zweimal vorgelegt, nämlich im Fall betreffend den sog. OTM-Beschluss des Rates der EZB, vgl. BVerfGE 134, 366, und im Fall betreffend die Vereinbarkeit des EZB-Programms zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (Public Sector Purchase Programme – PSPP) mit Unionsrecht, BVerfGE 146, 216. 62 Schwarze-Schwarze, Art. 267 AEUV Rn. 44. 63 BVerwG, v. 9.6.2020 – 2 B 32/19 (juris).
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chung vornimmt und dabei Einzelheiten zu klären hat. Hierfür lassen sich Beispiele aus der Rechtsprechung des BAG anführen, das jeweils eine erneute Anrufung des EuGH nicht als notwendig angesehen hat. Ein Beispiel ist die Auslegung des Begriffs Entlassung in der Massenentlassungs-Richtlinie (MERL)64 durch den EuGH.65 Das BAG änderte seine Rechtsprechung, legte aber wegen der von ihm für das nationale deutsche Recht verneinten Rückwirkung nicht erneut vor.66 Ähnlich hielt es der BGH bei der Umsetzung des Urteils des EuGH67 zur internationalen Zuständigkeit für Insolvenzanfechtungsklagen bei fehlendem sachlichem Gerichtsstand im Inland,68 oder bei der Frage, ob § 36 Abs. 2 Nr. 2 VSBG den Anforderungen des Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2013/11/EU genügt.69 Zu einer solchen wiederholten Anfrage kann es, außer bei einem Versehen des na- 25 tionalen Gerichts, vor allem dann kommen, wenn das nationale Gericht nicht weiß, dass der EuGH mit der von ihm gestellten Frage bereits befasst ist. Um das zu vermeiden, werden die Vorabentscheidungsersuche der nationalen Gerichte und die von ihnen vorgelegten Fragen im Teil C des Amtsblatts der EU veröffentlicht. Allerdings geht der Sachverhalt, der dem Ersuchen zugrunde liegt, aus dem Veröffentlichungstext nicht hervor, so dass das nationale Gericht nicht ohne weiteres beurteilen kann, ob das dem EuGH vorliegende Vorabentscheidungsersuchen alle Aspekte des zu entscheidenden Falls abdeckt. Das kann zu Doppelvorlagen führen. Der EuGH kann bei dem vorlegenden nationalen Gericht anfragen, ob es im Blick auf die ergangenen Entscheidungen des EuGH an dem Ersuchen festhält70 und solche sachlich unnötigen Vorentscheidungsersuchen gemäß Art. 99 EuGH-VerfO nach Anhörung des Generalanwalts im Beschlusswege erledigen.71 bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EU-Rechts. Wie das nationale Recht ist auch 26 das EU-Recht nicht immer auslegungsbedürftig. Es gibt auch im EU-Recht zahlreiche Vorschriften, deren Inhalt sich ohne weiteres erschließt. Solche Fragen können die nationalen Gerichte selbst entscheiden, ohne dass eine Schwächung des EU-Rechts durch widersprüchliche Auslegungen der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten zu befürchten ist. Deshalb ist eine Vorlage nach ständiger Rechtsprechung des EuGH entbehrlich, 27 wenn die Auslegung des EU-Rechts offenkundig ist. Offenkundig ist die Auslegung
64 Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 L 225/16. 65 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, EU:C:2005:59. 66 BAG, NZA 2007, 1101. 67 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-339/07 Christopher Seagon ./. Deko Marty Belgium NV, EU:C:2009:83. 68 BGH, NJW 2009, 2215. 69 BGH, v. 22.9.2020 – XI ZR 162/19, Rn. 14, 18 (juris). 70 Z. B. BGH, WM 2013, 2160. 71 Ein Beispiel EuGH v. 19.5.2009 – Rs. C-166/08 Strafverfahren gegen Guido Weber, EU:C:2009:320. Schmidt-Räntsch
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
dann, wenn keinerlei Raum für vernünftige Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt und die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und der EuGH auch keine Zweifel an dem Auslegungsergebnis haben würden.72 Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerfG ist die (fehlende) Notwendigkeit, das Antiterrordateigesetz am Maßstab des EU-Rechts zu messen.73 Beispiele aus der Rechtsprechung des BGH sind die Anforderungen an eine verdeckte Sacheinlage,74 die Eignung eines Zahlwortes als Marke,75 die Subsumtion der Zusicherung des Zielstaats einer Abschiebung, mit der er eine den Vorgaben insbesondere der Art. 1 und 4 GRCh entsprechende Behandlung des Betroffenen zusichert, unter den Begriff der Unterlagen in Art. 15 Abs. 6 der Rückkehrrichtlinie76, die Vereinbarkeit der Unwiderruflichkeit von außerhalb von Geschäftsräumen eingegangenen Bürgschaften,77die Auslegung der EU-Autoabgasnormen,78 der Übergang der Zuständigkeit nach der Dublin-III-Verordnung,79 die Verfahrensaussetzung nach EU-Sortenschutzrecht,80 der Begriff des Reisenden in der Pauschalreiserichtlinie,81 das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht und Wettbewerbsrecht82 oder die Anforderungen an die internationale Zuständigkeit für Unterlassungs-83 oder Klagen aus Verbraucherwerkverträgen.84 Beispiele aus der Rechtsprechung des BVerwG sind die Frage, ob ein Einzelner einen Verstoß gegen die FFH-Richtlinie geltend machen kann,85 dass nicht jedem Vorhaben, das das Erfordernis der Planrechtfertigung erfüllt, ein besonderes Gewicht zukommt, das eine Abweichungsentscheidung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie rechtfertigt,86 die Anwendbarkeit der SUP-Richtlinie87 auf Altfälle,88 die Anwendung des Beihilferechts,89 die Vereinbarkeit der Endgültigkeit der erklärten Minderung mit der Verbrauchsgüter-
72 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 16; v. 9.9.2015 – Rs. C-72-14 und C-197/14 van Dijk, EU:C:2015:564 Rn. 58–63; v. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EG Rn. 67; Streinz-Ehricke, Art. 267 AEUV Rn. 47 f. 73 BVerfGE 133, 277 Rn. 90. 74 BGHZ 110, 47, 69 ff. – IBH/Lemmerz. 75 BGH, NJW 1995, 1752, 1754 – Quattro II. 76 BGH v. 20.5.2020 – XIII ZB 10/19, Rn. 20 (juris). 77 BGH, v. 22.9.2020 – XI ZR 219/19, Rn. 23 f., 31 (juris). 78 BGH, NJW 2020, 2798 Rn. 16. 79 BVerwG, InfAuslR 2020, 399 Rn. 20. 80 BGH, GRUR 2009, 750. 81 BGH, NJW 2002, 2238, 2239 f. 82 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. 83 BGH, NJW 2006, 689. 84 BGH, ZIP 2006, 1013, 1016. 85 BVerwGE 128, 358, 366 – Mühlenberger Loch. 86 BVerwG, NuR 2009, 789, 790 – Flughafen Münster. 87 Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.7.2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABl. 2001 L 197/30. 88 BVerwG v. 23.8.2006 – 4 A 1075/04, juris. 89 BVerwGE 138, 322 Rn. 13, 17.
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kaufrichtlinie90 oder die Reichweite des Verbandsklagerechts nach der UVP-Richtlinie.91 Beispiele aus der Rechtsprechung des BAG sind die Vereinbarkeit der hochschulrechtlichen Befristungsregelung mit der Befristungsrichtlinie der EU92 oder die Anwendung von Art. 27 Abs. 1 EuGVVO.93 Offenkundig ist eine Auslegung nach dem Verständnis der obersten Gerichtshöfe 28 des Bundes nicht nur, wenn sie keiner weiteren Erklärung bedarf. Es genügt vielmehr, was aber regelmäßig nicht ausdrücklich ausgeführt wird, wenn das Auslegungsergebnis ohne Schwierigkeiten aus dem Unionsrecht entwickelt werden kann.94 Das muss anhand des Unionsrechts begründet werden; die Begründung muss auch zeigen, dass sie wirklich eindeutig ist.95 Bedacht werden sollte, dass die Klärung durch den EuGH auch von den deutschen Untergerichten oder ausländischen Gerichten herbeigeführt werden und dann zu einer anderen Sichtweise führen kann.96 cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH. Zwischen den beiden vor- 29 genannten Fallgruppen liegt ein Fall, der in der Praxis häufig vorkommt: Der Fall vor dem nationalen Gericht wirft eine Frage der Anwendung und Auslegung des EURechts auf, die der EuGH zwar noch nicht exakt in dieser Form entschieden hat, die sich aber anhand der Rechtsprechung des EuGH ohne weiteres beantworten lässt. In dieser Fallgestaltung ist das EU-Recht durch die bereits vorhandene Rechtsprechung des EuGH so klar geworden, dass es weitergehender Konkretisierung nicht bedarf. Voraussetzung hierfür ist eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH, unabhängig davon, in welcher Verfahrensart sie sich gebildet hat; das nationale Gericht ist an einer neuen Vorlage nicht gehindert, wenn es diese für angebracht hält.97 Wann diese Voraussetzung zu bejahen ist, lässt sich naturgemäß nicht allgemein bestimmen. Dies richtet sich vielmehr nach dem Grad der Durchdringung des betreffenden Rechtsgebiets durch den EuGH und dem Inhalt der Frage. Als Beispiele mögen das Kartellrecht,98 der Umfang der Pflicht zur Anerkennung 30 ausländischer Eignungsprüfungen für die Zulassung als Wirtschaftsprüfer, der sich nach Ansicht des BGH aus der Rechtsprechung des EuGH ohne die Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH ermitteln lässt,99 die Dienstleistungsfreiheit von Rechts-
90 BGHZ 218, 320 Rn. 66 ff. 91 BVerwGE 148, 155 Rn. 24 ff. 92 BAG, NZA 2009, 84. 93 BAG, IPRspr. 2007, Nr. 180c, 498. 94 Z. B. BGHZ 161, 79, 83 f.; BVerwG, NVwZ 1996, 389 – Tiergartentunnel Berlin; BAG, DB 2009, 626 – Altersdiskriminierung bei betriebsbedingter Kündigung. 95 BVerfG, NJW 2010, 1268, 1271. 96 Beispiel: BGH, v. 12.2.2020 – XIII ZB 65/19, Rn. 8 f. (juris) und v. 14.7.2020 – XIII ZB 81/19, Rn. 11 (juris). 97 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 14 f. 98 BGH, v. 13.7.2020 – KRB 99/19, Rn. 29 ff. (juris). 99 BGH, NJW 2005, 747 f.
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anwälten,100 die Strukturkündigung nach der GVO 1400/2002 (Kraftfahrzeuge),101 die Anwendung des Eignungsprüfungsgesetzes auf ausländische Rechtsanwälte,102 der Begriff des Aufbereiters nach EU-Sortenschutzrecht,103 die Voraussetzungen des sortenschutzrechtlichen Auskunftsanspruchs,104 Eintragungshindernisse bei Formmarken,105die Berücksichtigung ausländischer Verurteilungen bei der Strafzumessung,106 die Auslegung des Begriffs der begleitenden Straftat in § 72 Abs. 4 AufenthG a. F.,107 die Frage nach der Zulässigkeit Veröffentlichung der Begünstigten der Fonds für die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik,108 die Rechtsprechung des EuGH zur Übertragung der Milch-Referenzmengen auf den Verpächter nach der VO (EWG) Nr. 3950/92,109 zur Heilmittelwerbung,110 seine Rechtsprechung zu den Schranken des markenrechtlichen Schutzes bei einer unzulässigen Beschränkung des freien Warenverkehrs,111 der Begriff derselben Tat in Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens,112 die Anwendung der Richtlinie 2000/78/EG113 auf Notare,114 die Ausnahme der Notare von der Dienstleistungsfreiheit,115 das Monopol der Notare für die Entgegennahme der Auflassung nach § 925 Abs. 1 S 2 BGB,116 oder das Telekommunikationsrecht117 dienen. Aus der Rechtsprechung des BSG wären die Fragen zu nennen, ob sozialversicherungsrechtliche Voraussetzungen des nationalen Rechts auch durch den Bezug von Arbeitsunfallrenten eines anderen Mitgliedstaats erfüllt118 oder ob Ansprüche auf Familienleistungen für die Zeit vor Erlass des Sürül-Urteils des EuGH vom 4. Mai 1999119 aus Art. 3 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 abgeleitet werden können.120 Ähnlich beurteilte das BAG im Anschluss an die Rechtspre
100 BGH, NJW 2009, 1822; BGH, NJW 2011, 1517 Rn. 13 ff.; vgl. auch BGH, NJW 2010, 3783. 101 BGH, WM 2009, 1121. 102 BGH, NJW 1997, 867, 868 f. 103 BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II. 104 BGH, GRUR 2006, 407, 409 – Auskunftsanspruch bei Nachbau III. 105 BGH, GRUR 2006, 589, 590 – Rasierer mit drei Scherköpfen. 106 BGH, NJW 2020, 3184 Rn. 11, 14. 107 BGH, InfAuslR 2018, 415 Rn. 11 f. 108 BVerwG, AUR 2020, 183 Rn. 12 ff. 109 BGH, RdL 2005, 82, 83; BGH, NJW-RR 2004, 210, 211. 110 BGH, NJW-RR 2009, 620, 622. 111 BGH, GRUR 2005, 52, 53; ähnlich BGH, EuZW 2010, 71 – Kaufgewährleistungsrichtlinie. 112 BGH, NJW 2014, 1025 Rn. 15. 113 Richtlinie des Rates 2000/78/EG v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16. 114 BGHZ 185, 30 Rn. 15 f. und BGH, NJW 2014, 631. 115 BGHZ 196, 271 Rn. 29 ff. 116 BGH, NJW 2020, 1670 Rn. 28 ff. 117 BGH, NJW 2011, 1509 Rn. 33 f. 118 BSGE 95, 293. 119 EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, EU:C:1999:228. 120 BSG, EuroAS 2004, 162.
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chung des EuGH121 die Frage, ob nur die von dem Arbeitgeber finanzierten, nicht die zusätzlich und freiwillig allein vom Arbeitnehmer finanzierten Anteile der von der Pensionskasse geschuldeten Versorgungsleistungen Leistungen der betrieblichen Altersversorgung sind und deshalb dem Diskriminierungsverbot des Art. 157 AEUV unterfallen.122 Ein anderes Beispiel ist die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 MERL, die nach Ansicht des BAG eindeutig ergibt, dass für die Erfüllung der Konsultationspflicht bei Massenentlassungen nicht die Anrufung eines unparteiischen Dritten gefordert ist, um mit dem Betriebsrat als nationalem Arbeitnehmervertreter zu einer Einigung über die geplante Massenentlassung zu gelangen.123 Beispiele aus der Rechtsprechung des BFH sind die Frage, ob die pauschale Besteuerung von Erträgen aus im Inland nicht registrierten ausländischen Investmentfonds (sog. „schwarzen Fonds“) gemäß § 18 Abs. 3 AuslInvestmG gegen Art. 65 AEUV124 oder ob die Anknüpfung der Kindergeldberechtigung an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in den Fällen, in denen der Kindergeldberechtigte mit seiner Familie den Wohnsitz in das EU-Ausland verlegt, gegen EG-Primärrecht verstößt.125 Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerwG sind die Einzelheiten der Anwendung von Art. 4 der Vogelschutz-Richtlinie.126
c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht Verstöße gegen die Vorlagepflicht stellen eine Verletzung des EU-Vertrages dar, die 31 grundsätzlich mit den Mitteln des Vertragsverletzungsverfahrens verfolgt werden kann.127 In der Regel wird es allerdings bei einem feststellenden Urteil des EuGH nach Art. 258 AEUV sein Bewenden haben. Zu der Verhängung von Zwangsgeldern nach Art. 260 AEUV wird es kaum kommen können, da das einzelstaatliche Verfahren nicht wiederholbar ist. Unter besonderen Umständen kann die Verletzung der Vorlagepflicht aber auch 32 einen Staatshaftungsanspruch nach sich ziehen,128 der nicht durch nationale Vorschriften ausgeschlossen werden darf.129 Das setzt allerdings voraus, dass der Verstoß offenkundig130 ist. Daran kann es fehlen, wenn das Gericht (wie im Fall Köbler der österreichische VwGH) eine Vorlage in der irrigen Annahme zurückzieht, die Frage sei
121 EuGH v. 8.9.1994 – Rs. C-200/91 Coloroll, EU:C:1994:348 Rn. 90 f. 122 BAGE 112, 1. 123 BAGE 99, 377. 124 BFH, BFH/NV 2009, 731. 125 BFH, FamRZ 2009, 507. 126 BVerwG, Buchholz 451.91 Europ UmweltR Nr. 33 – Anschlussstelle Magdala/Jena/Göschwitz. 127 Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 106 ff. 128 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, EU:C:2003:513 Rn. 54 ff., 116 ff.; BGH, NJW 2005, 747. 129 EuGH v. 13.6.2006 – Rs. C-173/03 Traghetti del Mediterraneo SpA, EU:C:2006:391. 130 Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 129 ff.; Schöndorf-Haubold, JuS 2006, 112, 113.
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schon entschieden. Die Verletzung der Vorlagepflicht stellt zudem auch eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG dar. Eine Verfassungsbeschwerde lässt sich allerdings mit diesem Verstoß nur begründen, wenn die Verletzung der Vorlagepflicht bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.131 Das ist normalerweise der Fall, wenn das Gericht die europarechtlichen Dimensionen des Falles völlig verkannt und deshalb nicht vorgelegt hat, obwohl es von der Rechtsprechung des EuGH abwich, wenn die Rechtsprechung des EuGH Lücken aufweist und es sich einer eindeutig vorzuziehenden Meinung nicht angeschlossen und dem EuGH die Frage nicht vorgelegt hat und wenn es mit einem eigenen Begründungsansatz eine Vorlage vermeidet.132 Dagegen ist die Anhörungsrüge analog § 321a ZPO und den entsprechenden Vorschriften anderer Verfahrensordnungen gegen eine Verletzung der Vorlagepflicht nicht gegeben.133 Eine solche Möglichkeit sollte aber de lege ferenda erwogen werden.
4. Vorlageverfahren vor den OGB a) Form und Anlass der Vorlage Über die Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens entscheiden das nationale Ge33 richt und damit auch die obersten Gerichtshöfe des Bundes von Amts wegen. Das gilt nicht nur in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, sondern auch im Zivilrechtsstreit, der vom Beibringungsgrundsatz geprägt ist. Bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes und Gerichten, deren Entscheidungen nicht angegriffen werden können, ist dieses Ermessen nicht gegeben. Art. 267 AEUV eröffnet den Parteien mit dem Vorabentscheidungsersuchen keinen Rechtsbehelf.134 Deshalb können die Parteien des Rechtsstreits eine Vorlage nur anregen, aber nicht beantragen. 34 In welcher Form die Vorlage des nationalen Gerichts zu erfolgen hat, legt das EURecht nicht fest. Das bestimmt sich vielmehr nach dem nationalen Verfahrensrecht. In Deutschland ist das der Beschluss, weil über eine Vorlagefrage an den EuGH regelmäßig nicht mündlich verhandelt werden muss. Eine mündliche Verhandlung hierüber ist aber möglich, etwa um das Fragenprogramm mit den Parteien zu erörtern.135 Die Bedeutung der Ausgestaltung des Fragenprogramms wird mE nach wie vor unterschätzt. Der EuGH kann mit seiner Antwort die von dem vorlegenden Gericht ange-
131 BVerfG, NVwZ 2001, 1148, 1149; BVerwG, NJW 2010, 1268, 1269; BVerwG, NVwZ 2012, 426; BVerfGK 19, 197; BGH, EuZW 2012, 190 Rn. 29; v. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EG Rn. 71; Streinz-Ehricke, Art. 267 AEUV Rn. 52. 132 BVerfG, NJW 2010, 1268, 1269; BVerfG, NVwZ 2012, 297 Rn. 17. 133 BGH, GRUR-RR 2017, 416 Rn. 5; offen gelassen dagegen in BGH-Report 2006, 671, 672. 134 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade, EU:C:2006:10 Rn. 28. 135 Z. B. BGH, ZOV 2012, 43. Schmidt-Räntsch
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strebte Klärung der Unionsrechtslage nur bewirken, wenn die in dem Vorlagebeschluss formulierten Fragen den Klärungsbedarf auch klar und deutlich beschreiben. Eine solche Formulierung der Fragen gelingt oft nicht. Der EuGH vermag auch in solchen Fällen vielfach das Gewollte zu ermitteln und eine Antwort zu geben, die die Fragen anspricht, um deren Klärung es geht. Das ändert aber nichts daran, dass die Antwort des EuGH umso zielgerichteter ausfällt, je klarer die Vorlagefragen den Klärungsbedarf beschreiben. Dabei kann eine mündliche Verhandlung durchaus hilfreich sein.
b) Inhalt des Vorlagebeschlusses aa) Tenor. Der Tenor des Beschlusses besteht aus der Aussetzung des Verfah- 35 rens136 und Formulierung der Frage(n), die dem EuGH zur Beantwortung vorgelegt werden solle(n). Da der EuGH nur abstrakte Fragen der Auslegung des Unionsrechts klären darf, darf die Frage nicht konkret auf den Einzelfall bezogen werden. Das Gericht hat vielmehr aus dem ihm vorliegenden Sachverhalt eine abstrakte Rechtsfrage zu entwickeln, die der EuGH losgelöst vom Einzelfall und abstrakt beantworten kann. Schon in der dem EuGH vorzulegenden Frage sollte das Auslegungsproblem auf den Punkt gebracht und möglichst präzise und einfach formuliert werden. bb) Begründung. Der Vorlagebeschluss ist zu begründen. Eine solche Begründung 36 und ihre Ausgestaltung sind gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Allerdings ergeben sich aus der dem EuGH mit Art. 267 AEUV gestellten Aufgabe gewisse Mindestanforderungen. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss die Vorlageentscheidung die genauen Gründe angeben, aus denen dem nationalen Gericht die Auslegung des Gemeinschaftsrechts fraglich und die Vorlage von Vorabentscheidungsfragen an den Gerichtshof erforderlich erscheinen. Dazu sieht der EuGH ein Mindestmaß an Erläuterungen durch das vorlegende nationale Gericht zu den Gründen für die Wahl der Unionsbestimmungen, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang als unerlässlich an, den es zwischen diesen Bestimmungen und den auf den Ausgangsrechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften herstellt.137 In dem Vorlagebeschluss muss deshalb dargelegt werden, aus welchen Gründen das vorlegende Gericht die Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es dem EuGH ersucht,
136 In der Praxis der obersten Gerichtshöfe des Bundes wird stets ausdrücklich ausgesetzt. Partiell überholt daher Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses, S. 133 ff. 137 EuGH v. 7.4.1995 – Rs. C-167/94 Grau Gomis u. a., EU:C:1995:113 Rn. 9; EuGH v. 6.12.2005 – verb. Rs. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04 ABNA u. a., EU:C:2005:741 Rn. 46; EuGH v. 31.1.2008 – Rs. C-380/05 Centro Europa 7, EU:C:2008:59 Rn. 54; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meert ./. Proost NV, EU:C:2009:645.
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im Ausgangsfall für anwendbar hält.138 Der EuGH hat hierzu Hinweise139 zusammengestellt. Diese Hinweise sind rechtlich nicht verbindlich. 37 Die Begründung des Vorlagebeschlusses besteht aus zwei Teilen. In einem ersten Teil ist der tatsächliche und rechtliche Rahmen darzustellen, in dem sich die Vorlagefrage stellt. Der nationale Richter hat dem EuGH also den Sachverhalt zu schildern, den er zu beurteilen hat. Außerdem hat er dem EuGH darzulegen, wie der Fall vorbehaltlich der zu klärenden Rechtsfrage zu lösen ist und in welcher Hinsicht es auf die Klärung der dem EuGH vorgelegten Frage ankommt. Nach Nr. 15 S. 2 Sps. 2 der Hinweise des EuGH soll dabei auch der Wortlaut der einschlägigen nationalen Vorschriften mitgeteilt werden, was je nach dem Umfang im Text des Beschlusses oder durch Beifügung als Anlage geschehen kann. Der Ertrag des Vorentscheidungsersuchens hängt ganz wesentlich von einer einfachen und klaren Darstellung von Problemstellung und Auslegungsfrage ab. Sie gibt den anderen Mitgliedstaaten und den entscheidenden Richter, die sich dem Unionsrecht aus der Perspektive einer anderen Rechtsordnung nähern und es aus supranationaler Perspektive auszulegen haben, am ehesten die Möglichkeit zu erfassen, worum es dem vorlegenden Gericht geht, und ihm eine zielführende Antwort auf seine Fragen zu geben. 38 Umfang und Ausführlichkeit stehen im Ermessen des vorlegenden Richters. Nr. 14 S. 4 der Hinweise des EuGH gibt als Richtschnur einen Umfang von zehn Seiten an, weist aber darauf hin, dass sich der Umfang letztlich nach der Sache richten muss. Die Schilderung muss deshalb zwar nicht immer lang, wohl aber so ausführlich sein, dass der EuGH die Frage ggf. zuspitzen oder umformulieren kann, um sie sachgerecht und zielführend zu beantworten.140 Nur so können auch die anderen am Verfahren vor dem EuGH beteiligten Stellen eine sachgerechte Stellungnahme abgeben. Das sind neben den Organen der EU auch die Regierungen der Mitgliedstaaten, die an Verfahren vor einem obersten Gerichtshof des Bundes in dieser Eigenschaft nicht immer beteiligt sind. Zu beachten ist, dass nur eine Stellungnahme im Umfang bis zu zehn Seiten vollständig übersetzt wird. Längere Texte werden bei der Übersetzung zusammengefasst und nicht vollständig übersetzt. Die dem EuGH vorzulegenden nationalen Vorschriften können dabei in der Begründung des Ersuchens eingefügt werden.141 Blähen sie die Begründung aber auf, sollten sie als Anlagen vorgelegt werden.142 39 In einem zweiten Teil der Begründung ist die Fragestellung aufzubereiten. Dem EuGH ist darzustellen, welche Auslegungszweifel geklärt werden sollen, jedenfalls
138 EuGH v. 12.5.2016 – Rs. C-281/15 Sahyouni, EU:C:2016:343 Rn. 29, vgl. dazu auch BGH, v. 26.8. 2020 – XII ZB 158/18, Rn. 58 (juris). 139 Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 25.11. 2016, ABl. 2016 C 439/1. 140 Z. B. BGH, WRP 2011, 344. 141 Beispiel: BGH, v. 22.11.2018 – V ZB 180/17 (juris). 142 Beispiel: BVerwG, ZUR 2020, 494. Schmidt-Räntsch
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aber welche Auslegungsmöglichkeiten bestehen.143 Wird die Gültigkeit eines EURechtsaktes in Zweifel gezogen, sind diese Zweifel näher zu erläutern. Auch hier haben die vorlegenden Gerichte ein Gestaltungsermessen. Zweck der Darstellung ist es, dem EuGH die Feststellung zu erlauben, worum es dem nationalen Richter geht. Hierauf sollte besondere Sorgfalt verwandt werden. cc) Praxis der OGB. Die Vorlagebeschlüsse der obersten Gerichtshöfe des Bundes 40
folgen durchweg dem dargestellten Grundmuster. In der Ausgestaltung dieses Grundmusters sind sie allerdings durchaus unterschiedlich. Es gibt eher knapp gehaltene Vorlagebeschlüsse.144 Andere Vorlagebeschlüsse setzen sich mit der Auslegung des EU-Rechts sehr eingehend auseinander145 und entlasten damit im Ergebnis den Generalanwalt des EuGH.
c) Technische Abwicklung Der Beschluss wird den Verfahrensbeteiligten zugestellt und ist dann in 20facher Aus- 41 fertigung dem Kanzler des Gerichtshofs zuzustellen. Nach Nr. 20 S. 2 der Hinweise des EuGH sollen auch die Verfahrensakten, jedenfalls aber Kopien davon, übersandt werden. Der BGH legt dem EuGH deshalb die gesamte Verfahrensakte, also die bei dem BGH selbst entstehende Akte und die bei den Vorinstanzen entstandenen Akten, vor.146 Zurück bleibt nur ein Senatsheft, in dem Kopien der Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten und Vorbereitungsunterlagen des Senats enthalten sind. Die Verfahrensakte wird beim EuGH, jedenfalls beim Generalanwalt, auch durchaus verwertet.147
143 Z. B. BGH, ZIP 2013, 2167; BGH, GRUR 2013, 1137; BGH, RIW 2013, 726. 144 Z. B. BGH, WRP 2002, 547, 549 – GERRI/KERRY Spring; BGH, BB 2000, 1507, 1508 – Solokünstler; BGH, GRUR 1999, 600, 601 – Haarfärbemittel; BGH, GRUR 1998, 738 f. – Diät-Käse; BGH, NJW 1996, 930, 932 – Bürgschaft als Haustürgeschäft; BGH, ZIP 1995, 372, 373 f. – Siemens; BVerwG, Blutalkohol 46, 350 – Fahrerlaubnis; BVerwG, NVwZ 2008, 686 – erschlichene Einbürgerung; BVerwG, Buchholz 240 § 48 BBesG Nr. 11. 145 Z. B. BGH, GRUR 2005, 348 – Bestellnummernübernahme; BGH, WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; BGH, EuZW 2005, 156, 158 f.; BGH, NJW 2002, 2464, 2467 f., 2468 ff.; BGH, EuZW 2009, 667 – Provisionsanspruch des Handelsvertreters bei möglicher Kündigung; BGH, EuZW 2010, 313; BGH, ZOV 2012, 43; BVerwG, AuAS 2009, 267 – Assoziationsratsbeschluss; BVerwG, NuR 2009, 481 – Zuteilungsgesetz 2007; BVerwG, NVwZ 2009, 592; BVerwGE 132, 79; 128, 278; BVerwG, DVBl. 2008, 1255; BAG, RIW 2010, 76 – Altersgrenze bei Lufthansapiloten. 146 Vgl. BGH, BGH-Report 2001, 223, insoweit nur bei juris veröffentlicht. 147 Vgl. z. B. GA Léger, Schlussanträge v. 2.6.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, EU:C: 2005:351 Tz. 47.
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5. Vorlageverfahren vor dem EuGH a) Schriftliches Vorverfahren 148 42 Beim EuGH wird der Vorlagebeschluss in die anderen Amtssprachen übersetzt und den Verfahrensbeteiligten zur Stellungnahme zugeleitet. Verfahrensbeteiligte sind nicht nur die am nationalen Gerichtsverfahren beteiligten Parteien unter Einschluss von Nebenintervenienten oder Beigeladenen. Dazu gehören darüber hinaus auch alle Mitgliedstaaten und die Kommission. Der Rat und die Europäische Zentralbank werden nur beteiligt, wenn die Vorlagefrage dies nahe legt. 43 Im schriftlichen Vorverfahren haben die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme. In der Regel äußern sich die Parteien des Rechtsstreits und die Kommission. Die Mitgliedstaaten äußern sich dann, wenn die Klärung der einen oder anderen Rechtsfrage für sie übergeordnete Bedeutung hat. Die Stellungnahmen werden den anderen Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis übersandt. Diese haben keinen Anspruch darauf, sich noch einmal schriftsätzlich zu diesen Stellungnahmen zu äußern. Sie können dies aber tun, wenn sie das für angezeigt halten und die Stellungnahmefrist noch nicht abgelaufen ist.
b) Mündliche Verhandlung 44 Im Anschluss an das schriftliche Vorverfahren findet eine mündliche Verhandlung vor dem EuGH statt. Sie wird eingeleitet durch die Schlussanträge des Generalanwalts, in welchen dieser den Fall EU-rechtlich aufarbeitet und dem EuGH eine Beantwortung der Vorlagefrage aus EU-rechtlicher Sicht vorschlägt. Hierüber wird vor dem EuGH mündlich verhandelt. An der mündlichen Verhandlung können alle Verfahrensbeteiligten teilnehmen.149 Hat der EuGH die Frage bereits beantwortet oder ergibt sich die Antwort aus der Rechtsprechung des EuGH, kann der EuGH nach Anhörung des Generalstaatsanwalts von dessen Beteiligung absehen und durch Beschluss entscheiden, Art. 99 EuGH-VerfO.
c) Urteil des EuGH 45 Den Abschluss des Verfahrens bildet das Vorabentscheidungsurteil des EuGH. Darin schildert der EuGH gewöhnlich den ihm vorgestellten Sachverhalt. Er beantwortet dann die ihm vorgelegten Fragen der Reihe nach, indem er jeweils zunächst den EUrechtlichen Hintergrund erläutert und anschließend die Frage beantwortet. Das Urteil bindet das vorlegende Gericht.150
148 Vgl. dazu oben Rn. 38. 149 Streinz-Ehricke, Art. 267 AEUV Rn. 62. 150 Zur Bindungswirkung im Übrigen: v.d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EG Rn. 90 ff.
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Das Verfahren vor dem EuGH ist kostenfrei. Über die sonst entstehenden Kosten 46 entscheidet das nationale Gericht in seiner abschließenden Entscheidung.
d) Parallelverfahren Stellt sich eine vorabentscheidungsfähige Frage in mehreren Verfahren, muss das Ge- 47 richt ein Vorabentscheidungsersuchen nicht in allen Verfahren stellen. Es kann sich auf ein Ersuchen in einer oder mehrerer dieser Sachen beschränken und die übrigen Verfahren aussetzen.151 Es kommt auch vor, dass mehrere Vorabentscheidungsersuchen zur selben Sachfragen gestellt werden. Der EuGH versucht, die Verfahren zu verbinden. Wenn er aber mit dem anhängigen Verfahren bereits weitgehend gediehen ist, führt er dieses Verfahren zu Ende und fragt dann bei dem vorlegenden anderen nationalen Gericht an, ob es die Vorlage zurückzieht. Geschieht das, wird das Verfahren eingestellt. Das nationale Gericht kann aber auch zu dem Ergebnis kommen, dass durch das ergangene Urteil noch nicht alle Fragen geklärt sind.152 Dann wird das weitere Verfahren mit einem ggf. eingeschränkten Prüfprogramm weitergeführt.
III. Auslegungssituationen 1. Vorabentscheidungsersuchen Die Situation, in welcher die obersten Gerichtshöfe des Bundes am intensivsten Gele- 48 genheit zur Auslegung des EU-Rechts haben, ist das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Das klingt auf den ersten Blick paradox. Denn das Vorabentscheidungsersuchen stellen die obersten Gerichtshöfe des Bundes ja gerade dann, wenn sie keine Auslegungskompetenz haben und die Auslegung dem EuGH im Wege eben ihres Ersuchens überlassen müssen. Wie ausgeführt, müssen die obersten Gerichtshöfe des Bundes in ihren Ersuchen indes nicht nur die Vorlagefragen benennen, sondern auch darstellen, warum die EU-Norm Auslegungsfragen aufwirft und welche Auslegungsalternativen bestehen. Dieses Erfordernis zwingt die obersten Gerichtshöfe des Bundes zwar nicht, sich 49 eingehend mit der Auslegung der EU-Norm auseinanderzusetzen. Es gibt ihnen aber Gelegenheit dazu. Die deutschen Gerichte müssen an dem Auslegungsprozess nicht nur gewissermaßen passiv teilnehmen. Sie haben vielmehr durchaus die Möglichkeit, sich aktiv in den judiziellen Dialog153 einzuschalten, indem sie aus ihrer Sicht zur Auslegung der Normen Stellung beziehen und ggf. auch einen Auslegungsvorschlag ma-
151 BGH, RIW 2012, 405. 152 Beispiele: BVerwG, v. 20.8.2020 – 1 C 9/19 (juris) und v. 8.9.2020 – 1 C 16/19 (juris). 153 Dazu Schmidt-Räntsch, EWiR 2005, 282. Schmidt-Räntsch
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chen. Von dieser Möglichkeit machen die obersten Gerichtshöfe des Bundes in unterschiedlichem Umfang Gebrauch. Teils nehmen sie zu der Auslegung des EU-Rechts sehr eingehend Stellung und schlagen auch eine konkrete Auslegung vor.154 Teils nehmen sie sich hier eher zurück.155 Dies hängt in erster Linie von den konkreten Fragen ab. 50 Das erscheint jedenfalls dann angezeigt, wenn der oberste Gerichtshof mit dem Rechtsgebiet intensiver befasst ist. Denn dann verfügt er über eine auf Fallmaterial gestützte ausgeprägte Expertise, die er dem EuGH nicht vorenthalten sollte. Ein solches Vorgehen dient auch der besseren Durchdringung des EU-Rechts. Anhand der eigenen Fallpraxis lässt sich besser überblicken, welche Folgefragen die Auslegung des EU-Rechts im einen oder anderen Sinne aufwirft und welche Auswirkungen sie in der Praxis hat.
2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen 51 Gelegenheit zur Auslegung des EU-Rechts haben die obersten Gerichtshöfe des Bun-
des auch im umgekehrten Fall der Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen. Darüber, ob ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen ist, entscheidet das nationale Gericht von Amts wegen. Das hindert die Parteien gerade auch bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes nicht daran, die Stellung eines solchen Ersuchens anzuregen. Mitunter hat ein solcher Vorschlag aber auch taktische Gründe, nämlich den Zweck, beim EuGH eine Änderung der nationalen Rechtsprechung zu erreichen. Das ist legitim. Das nationale Gericht kann und muss aber prüfen, ob die Vorlage an den EuGH wirklich sachgerecht oder rechtlich geboten ist. Auch das erfordert eine Auslegung des EU-Rechts, die allerdings von der Natur der Sache her nicht ausgeprägt sein kann. Sie muss aber erkennen lassen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen wirklich nicht erforderlich ist.156 52 Beispiele sind die sog. Schrottimmobilien157 oder der vergebliche Versuch, den BGH dazu zu bewegen, den EuGH im Hinblick auf das Entfallen von Anerkennungshindernissen nach Art. 34 Nr. 2 EuGVVO erneut mit der Frage einer Anerkennung von Versäumnisurteilen,158 dem Stromeinspeisungsgesetz,159 mit der Auslegung von Miet-
154 BGH, GRUR 2005, 348 – Bestellnummernübernahme; BVerwG, AuAS 2009, 267; FamRZ 2019, 3184; NStZ-RR 2020, 228 Rn. 9 ff.; v. 12.5.2020 – XI ZR 371/18, Rn. 14 ff. (juris); v. 27. 7. 2020 – VI ZR 476/18, Rn. 12 ff., 36 ff. (juris); v. 24.9.2020 – I ZB 59/19, Rn. 12 ff. (juris). 155 BVerwG, NuR 2009, 481; BFHE 223, 358; BFHE 221, 284. 156 BVerfG, NJW 2010, 1268, 1270 f. 157 BGH, NJW 2004, 153, 154; BGH, NJW 2004, 154, 155; BGH, WM 2003, 2186. 158 BGH, NJW 2004, 3189. 159 BGHZ 155, 141, 157 f.
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III. Auslegungssituationen
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vertragsklauseln am Maßstab der Klauselrichtlinie,160 mit den Voraussetzungen der internationalen Zuständigkeit für Unterlassungsklagen,161 mit dem Schutzzweck der Jahresabschlussrichtlinien,162 dem Begriff des Unternehmervorteils i § 89 Abs. 1 S 1 Nr. 1 HGB163 zu befassen oder gar einer Anhörungsrüge analog § 321a ZPO stattzugeben, um eine Vorlage zum Verhältnis des Gemeinschaftsgeschmacksmusterrechts zum Wettbewerbsrecht zu ermöglichen.164 In der Praxis des BVerwG sind hier die Versuche zu nennen, Planfeststellungsbeschlüsse unter Hinweis auf das EU-Recht doch noch zu Fall zu bringen,165 eine Kampfhundsteuer zu vermeiden,166 die Berechnung der Arbeitszeiten bei der Feuerwehr zu beeinflussen167 oder die Idee eines deutschen Rechtsanwalts, seine deutsche Zulassung trotz unvereinbarer Maklertätigkeit unter Hinweis auf österreichisches Recht behalten zu können.168
3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts a) Primäres Gemeinschaftsrecht Gelegenheit zur eigenständigen Auslegung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht 53 haben die obersten Gerichtshöfe des Bundes, soweit sie dazu nach den Ausführungen unter II. berufen sind, zunächst bei den unmittelbar auch für Bürger und Unternehmen geltenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. Das primäre Gemeinschaftsrecht regelt zwar in erster Linie die Rechtsbeziehungen der Organe der Gemeinschaften untereinander und zwischen den Mitgliedstaaten. Es gibt aber auch Vorschriften des primären Unionsrechts, die von den Behörden der Mitgliedstaaten zu beachten sind.169 Andere Vorschriften gelten zwischen den Beteiligten und können in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten Bedeutung erlangen. Das sind vor allem die Vorschriften der Art. 101 und 102 AEUV über wettbewerbshindernde Vereinbarungen170 und den Missbrauch einer den Markt beherrschenden Stellung. Die Vorschriften des EU-Beihilfenrechts der Art. 107 ff. AEUV gehören dazu.171 Auch andere Vorschriften
160 BGH, NZM 2004, 734. 161 BGH, NJW 2006, 689. 162 BGH, NJW 2006, 690, 691. 163 BGH, v. 24.9.2020 – VII ZR 69/19, Rn. 17 f. (juris). 164 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. 165 BVerwG, NVwZ 2008, 1115. 166 BVerwG, NVwZ 2005, 598. 167 BVerwGE 119, 363. 168 BGH, v. 29.7.2020 – AnwZ (Brfg) 7/20, Rn. 13 ff. (juris). 169 BVerwG, RdL 2008, 222; BVerwGE 129, 116; BVerwG, NVwZ 2006, 703; BAG, NZA 2008, 1417, 1419. 170 Beispiel: BGH, WRP 2004, 1378, 1380 f. – Citroën. 171 Dazu Schmidt-Räntsch, NJW 2005, 106, 107 f.; aus der Rechtsprechung des BGH: BGH, EuZW 2003, 444; BGH, EuZW 2004, 252; BGH, VIZ 2004, 77; BGHZ 155, 141, 157 f.
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
der Unionsverträge, z. B. Art. 36 AEUV172oder die GRCh173 können unmittelbare Wirkung haben und z. B. in Verfahren vor dem BGH anzuwenden sein.
b) Verordnungsrecht 54
aa) Öffentliches Recht. Häufiger werden die nationalen Gerichte der Mitgliedstaa-
ten mit EU-Verordnungsrecht konfrontiert. Es gilt nach Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat und ist auch für Bürger und Unternehmen und nicht nur für die Mitgliedstaaten verbindlich. Gegenstand des EU-Verordnungsrechts sind aber überwiegend Materien, die nach deutschem Rechtsverständnis dem öffentlichen Recht zuzuordnen und deshalb in erster Linie von den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit, unter den OGB also von BVerwG, BFH und BSG, zu beurteilen sind. 55 Allerdings kann die Anwendung und Umsetzung von EU-Verordnungsrecht auch von den ordentlichen oder den Arbeitsgerichten174 zu beurteilen sein. Das ist vor allem in Fällen aus dem Bereich des Amts- und Staatshaftungsrechts, des Wettbewerbsrechts und des Strafrechts der Fall. Verordnungen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt richten sich oft (auch) an die Behörden der Mitgliedstaaten und sind von ihnen bei ihrem Amtswalten zu beachten. Geschieht dies nicht, so löst dies unter den gleichen Voraussetzungen Schadensersatzansprüche aus wie ein Verstoß gegen nationale Vorschriften. 56 Vor allem EU-Verordnungen mit lebensmittelrechtlichem oder gewerberechtlichem Inhalt richten sich oft nicht nur an Behörden, sondern in erster Linie an die Gewerbetreibenden selbst. Sie geben ihnen bestimmte Rezepturen vor, verbieten die Verwendung bestimmter Stoffe und Verfahren und dergleichen mehr. Hält sich ein Gewerbetreibender nicht an diese Vorschriften, verschafft er sich einen unerlaubten Sondervorteil gegenüber seinen Wettbewerbern, die sich an die Vorschriften halten und handelt deshalb wettbewerbswidrig im Sinne von § 3 UWG.175 Verlangt ein Wettbewerber nach § 13 UWG Unterlassung, haben die ordentlichen Gerichte in solchen Fällen im Kern zu prüfen, ob die lebensmittel- oder gewerberechtlichen Vorschriften eingehalten sind. Handelt es sich dabei um EU-Verordnungsrecht, ist dieses heranzuziehen.176 57 Aus EU-Verordnungsrecht können sich auch in anderen Bereichen Vorgaben für die Anwendung des nationalen Rechts ergeben. Das war etwa bei der pachtrecht-
172 BGHZ 155, 141, 158. 173 Beispiele: BGH, N&R 2016, 163 Rn. 20 ff.: Karenzzeitenregelung; v. 27.7.2020 – VI ZR 476/18 (juris): Berücksichtigung bei der Anwendung der DSGVO. 174 BAG, NZA-RR 2009, 354; BGH, NJW 2008, 2797. 175 BGH, GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut (betraf allerdings eine Richtlinie). 176 BGH, BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein.
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lichen Zuordnung der Milchreferenzmenge der Fall, die durch das EU-Marktordnungsrecht177 bestimmt wurde.178 Ein anderes Anwendungsbeispiel ist die Überstellungshaft, für welche die Haftgründe durch Art. 28 der Dublin-III-Verordnung festgelegt werden179. bb) Zivilrecht. Auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts gab und gibt es ver- 58 gleichsweise wenig EU-Verordnungsrecht. Der Unionsgesetzgeber zieht hier bisher die Rechtsform der Richtlinie vor, weil sie den Mitgliedstaaten das Einpassen der unionsrechtlichen Vorgaben in die nationale Zivilrechtsordnung erleichtert. Die recht häufigen Verzögerungen bei der Umsetzung und vor allem die sich bei der Umsetzung ergebenden Regelungsunterschiede in den Mitgliedstaaten haben bei der Kommission die Neigung verstärkt, auch auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts unmittelbar geltendes Verordnungsrecht vorzuschlagen, das dann in Deutschland von den dazu in erster Linie berufenen ordentlichen Gerichten und dem BGH zu beurteilen ist. Zu nennen sind hier die EuGVVO (auch: Brüssel I-VO),180 die EuEheVO (auch: 59 Brüssel IIa-VO),181 EuUntVO,182 die EUErbVO,183 die Zustellungsverordnung,184 die
177 VO (EWG) 950/92 des Rates v. 28.12.1992 über die Erhebung einer Zusatzabgabe im Milchsektor, ABl. 1992 L 405/1, aufgehoben mit Wirkung v. 1.4.2004 durch Art. 25 der VO (EG) 1788/2003 des Rates v. 29.9.2003 über die Erhebung einer Abgabe im Milchsektor, ABl. 2003 L 270/123. 178 BGH, RdL 2005, 82, 83; NJW-RR 2004, 210, 211. Diese Beihilfe ist inzwischen durch eine unternehmensbezogene Beihilfe ersetzt worden. 179 BGH, Asylmagazin 2014, 315 Rn. 11. 180 VO (EG) 1215/2012 v. 12.12.2012 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 351/1, zul. geänd. d. DelVO (EU) 2015/281 v. 26.11.2014, ABl. 2015 Nr. L 54/1. 181 VO (EG) 2201/2003 des Rates v. 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der VO (EG) 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1, zul. geänd. d. VO (EG) 2116/2004 v. 2.12.2004 ABl. Nr. L 367/1. 182 VO (EG) 4/2009 des Rates v. 18.12.2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl. 2009 Nr. L 7/1, zul. geänd. d. DVO (EU) 2018/1937 v. 10.12.2018, ABl. Nr. L 314/36. 183 VO (EU) 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.7.2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. Nr. L 201/107. 184 VO (EG) 1393/2007 des Rates v. 13.11.2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) 1348/2000, ABl. L 324/79, geänd. d. VO (EU) 51/2013 v. 13.5.2013, ABl. Nr. L 158/1. Schmidt-Räntsch
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Insolvenzverordnung,185 die Beweisaufnahmeverordnung,186 die Mahnverordnung,187 und die Vollstreckungstitelverordnung.188 60 EU-Verordnungsrecht gibt es nicht nur auf dem Gebiet des internationalen Insolvenz- und Prozessrechts. Es gibt dies, wenn auch in geringerem Umfang, im Bereich des materiellen Zivil- und Handelsrechts. Weitgehend „vergemeinschaftet“ ist das internationale Privatrecht.189 Zu nennen sind ferner Vorschriften über gewerbliche Schutzrechte190 und die supranationalen Gesellschaftsformen der EWIV,191 der SE,192 und der SCE193 etwa auch die Verordnung über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro194 und, im Zusammenhang mit der Umstellung auf den Euro, die Vorschriften über die Einführung des Euro, die sich auch mit der Umstellung von vertraglichen Preisregelungen befassen.195 Im Reiserecht hat die Fluggastrechte-Verordnung (EG)
185 VO (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren (Neufassung), ABl. Nr. L 141/19. 186 VO (EG) 1206/2001 des Rates v. 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, ABl. 2001 L 174/1 zul. geänd. d. VO (EG) 1103/2008 v. 22.10.2008, ABl. Nr. L 304/80. 187 VO (EG) 1896/2006 des Europäische Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. Nr. L 399/1. 188 VO (EG) 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 zur Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. 2004 L 143/15, zul. geänd. d. VO (EG) 1103/2008 v. 22.10.2008, ABl. Nr. L 304/80. 189 VO (EG) 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177/6; VO (EG) 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. 2007 L 199/40 und VO (EU) 1259/2010 des Rates v. 20.12.2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, ABl. 2010 L 343/10. 190 Vgl. z. B. VO (EG) 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1993 L 11/1 idF der VO (EG) 422/2004 des Rates v. 19.2.2004 zur Änderung der VO (EG) 40/94 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 2004 L 70/1; VO (EG) 2100/94 v. 27.7.1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 1994 L 227/1, idF der VO (EG) 873/2004 des Rates v. 29.4.2004 zur Änderung der VO (EG) 2100/94 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 2004 L 162/38; VO (EG) 1610/96 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.7.1996 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Pflanzenschutzmittel, ABl. 1996 L 198/30; VO (EWG) 1768/92 des Rates v. 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 L 182/1. 191 VO (EWG) 2137/85 des Rates v. 25.7.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. 1985 L 199/1. 192 VO (EG) 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 L 294/1. 193 VO (EG) 1435/2003 des Rates vom 22.7.2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE), ABl. L 207/1. 194 VO (EG) 2569/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12.2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 L 344/13. 195 Vgl. etwa BGH, RdL 2005, 147; zu den Einzelheiten der Euro-Einführung Schmidt-Räntsch, ZIP 1998, 2041 ff.
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III. Auslegungssituationen
Nr. 261/2004196 besondere Bedeutung erlangt. Sie ist durch vergleichbare Regelungen für andere Verkehrsmittel197 ergänzt worden, die zum Teil strenger sind.198
c) Richtlinien und (Rahmen-)Beschlüsse Unmittelbar gelten können im Einzelfall auch Vorschriften von Richtlinien. Voraus- 61 setzung hierfür ist neben dem Ablauf der Umsetzungsfrist vor allem, dass die Richtlinienvorschrift hinreichend bestimmt ist, der Mitgliedstaat also kein Gestaltungsermessen hat.199 Teilweise wird darüber hinaus auch verlangt, dass die Richtlinie subjektive Rechte des Einzelnen formuliert, was sich in der Rechtsprechung des EuGH aber nicht zwingend widerspiegelt.200 Eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie kommt auch nur im Verhältnis des Bürgers zum Staat in Frage. Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien im Verhältnis der Bürger unter- 62 einander ist bislang nicht anerkannt.201 Im Arbeitsrecht kommt der EuGH allerdings unter Rückgriff auf das Primärrecht zu anderen Ergebnissen.202 Das bedeutet, dass die unmittelbare Wirkung einzelner Richtlinienvorschriften nur im Bereich des öffentlichen Rechts zum Tragen kommt. Die ordentlichen Gerichte werden hiermit nur im Rahmen von Haftungs-, Wettbewerbs- und Strafprozessen konfrontiert. Beschlüsse nach Art. 288 Abs. 3 AEUV stehen funktionell den Richtlinien gleich. 63 Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Pupino203 haben sie auch annähernd gleiche Rechtswirkungen. Entschieden ist das bislang nur für die Frage der EU-konformen Auslegung. Die Begründung des EuGH lässt aber erwarten, dass dies auch im Übrigen so beurteilt werden wird.
196 VO (EG) 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der VO (EWG) 295/91, ABl. 2004 L 46/1. 197 VO (EG) 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, ABl. 2007 L 315/14; VO (EU) 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.11.2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der VO (EG) 2006/2004, ABl. 2010 Nr. L 334/1 und VO (EU) 181/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.2.2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der VO (EG) 2006/2004, ABl. 2011 L 55/1. 198 EuGH v. 26. 9. 2013 – Rs. C-509/11 ÖBB-Personenverkehr AG, EU:C:2013:613: keine Entlastung bei höherer Gewalt. 199 V. d. Groeben/Schwarze-Schmidt, Art. 249 EG Rn. 42; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 101 ff. 200 Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 95. 201 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 108 f. 202 Vgl. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, EU:C:2005:709 Rn. 77. 203 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, EU:C:2005:386; dazu: Adam, EuZW 2005, 558, 560.
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a) Umsetzungspflicht Der weit überwiegende Teil des Unionsrechts mit prozessrechtlichem, zivil- und handelsrechtlichem, aber auch von öffentlich-rechtlichem Inhalt ist bislang nicht in der Form der Verordnung, sondern in der Form der Richtlinie erlassen worden. Richtlinien gelten aber, wie ausgeführt, im Unterschied zu Verordnungen im Verhältnis Privater untereinander nicht unmittelbar. Sie sind vielmehr an die Mitgliedstaaten gerichtet und verpflichten diese, ihre Rechtsordnung an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen. Da die Vorgaben solcher Richtlinien regelmäßig das Verhältnis der Bürger und Unternehmen untereinander betreffen, liegen bei ihnen die Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendung in der Regel nicht vor. Das nationale Gericht hat deshalb grundsätzlich nicht die Richtlinie, sondern allein die Vorschriften zu ihrer Umsetzung auszulegen und anzuwenden und muss, auch wenn diese verspätet erlassen werden, grundsätzlich erst deren Erlass abwarten. Es hat also vorbehaltlich noch zu erläuternder Ausnahmen zunächst keine Gelegenheit, solche Richtlinien selbst auszulegen und anzuwenden. Die inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie hat der nationale Gesetzgeber umzusetzen; eine Umsetzung durch Verwaltungsvorschrift reicht nicht.204 Die Vorgaben sind in älteren Richtlinien auf dem Gebiet des Zivilrechts zurückhaltender als in neueren Richtlinien, deren Vorgaben zum Teil ausgesprochen engmaschig sind. Wie der nationale Gesetzgeber das erreicht, steht ihm nach der Natur der Richtlinie frei. Er kann ein Sondergesetz erlassen, wie dies etwa mit dem Haustürwiderrufs-205 oder dem Teilzeit-Wohnrechtegesetz206 geschehen ist, die beide in das BGB überführt worden sind. Beispiele aus dem Arbeitsrecht sind das Arbeitnehmer-Entsendegesetz,207 das Gesetz zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutzrichtlinien208 oder das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge.209 Im Bereich des öffentlichen Rechts könnten das UVP-Ge-
204 BVerwG, NVwZ 2012, 641 Rn. 21. 205 Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften idF der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. 2000 I, 956, das die Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31, umsetzte. 206 Gesetz über die Veräußerung von Teilzeitnutzungsrechten an Wohngebäuden idF der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. 2000 I, 958, das die Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/82, umsetzte. 207 Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen v. 20.4.2009, BGBl. 2009 I, 799. 208 V. 7.8.1996, BGBl. 1996 I, 1246. 209 V. 21.12.2000, BGBl. 2000 I, 1966. Schmidt-Räntsch
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setz210 oder das Umweltinformationsgesetz211 genannt werden. Der Gesetzgeber kann sich, wie etwa im Reiserecht,212 im Recht der AGB-Kontrolle213 oder im Steuerrecht, zur Umsetzung der Richtlinie aber auch vorhandener Vorschriften bedienen. Der Gesetzgeber hat auch die Möglichkeit, neue allgemeine Vorschriften zu erlassen. Ein Beispiel hierfür ist die Umsetzung der (inzwischen ersetzten) Kaufgewährleistungsrichtlinie von 1999214 und der Verbraucherrechterichtlinie.215 Auch die Warenkaufrichtlinie216 und Digitale-Inhalte-Richtlinie217 von 2019 könnten ähnlich umgesetzt werden. Wie auch immer der Mitgliedstaat seine Umsetzungspflicht erfüllt, sie endet wie 68 stets nicht mit dem Erlass der Gesetze. Vielmehr hat er durch die zuständigen Stellen sicherzustellen, dass die erlassenen Vorschriften auch so angewendet werden, dass die Vorgaben und Ziele der umgesetzten Richtlinie erreicht werden.
b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften aa) EU-konforme Auslegung. Bei der Auslegung der zur Umsetzung von Richtlinien 69 und (Rahmen-)Beschlüssen nach Art. 288 Abs. 4 AEUV218 erlassenen Vorschriften ist der nationale Richter deshalb nicht frei. Er kann sie nicht autonom so auslegen, wie das aus nationaler deutscher Sicht empfehlenswert oder geboten ist. Die Pflicht zur 210 Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung idF der Bekanntmachung v. 25.6.2005, BGBl. 2005 I, 1757, 2797, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes v. 11.8.2009, BGBl. 2009 I, 2723. 211 V. 22.12.2004, BGBl. 2004 I, 3704. 212 Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates v. 23.6.1990 über Pauschalreisen v. 24.6.1994, BGBl. 1994 I, 1322, mit dem die Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59, umgesetzt wurde. 213 Gesetz zur Änderung des AGB-Gesetzes und der Insolvenzordnung v. 19.7.1996, BGBl. 1996 I, 1013, mit dem die Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29, umgesetzt wurde. 214 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 215 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2011 L 304/64 umgesetzt durch das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung vom 23. September 2013, BGBl. 2013 I, 3642. 216 Richtlinie (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. Nr. L 136/28. 217 Richtlinie (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. Nr. L 136, 1 218 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, EU:C:2005:386; dazu Adam, EuZW 2005, 558, 560. Schmidt-Räntsch
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
Umsetzung einer Richtlinie nach Art. 288 Abs. 3 AEUV erschöpft sich nicht in dem Erlass der erforderlichen nationalen Umsetzungsvorschriften. Diese Umsetzungsvorschriften sind vielmehr von den Verwaltungsorganen und von den Gerichten so anzuwenden, dass Inhalt und Ziele der Richtlinie effektiv verwirklicht werden (sog. effet utile). 70 Zu diesem Zweck haben die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten das Umsetzungsrecht unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH EU-konform auszulegen. Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, inwieweit sich der zu entscheidende Fall von den in der Rechtsprechung des EuGH bereits entschiedenen Fällen unterscheidet.219 Im Wege einer vorgreifend richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts wird gelegentlich auch ein Vorabentscheidung an den EuGH vermieden.220 71 Die Grenze der EU-konformen Auslegung bildet zwar grundsätzlich der Wortlaut des nationalen Umsetzungsrechts.221 Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben aber alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel der Auslegung zu nutzen, um ein der Richtlinie entsprechendes Rechtsanwendungsergebnis zu erzielen. Sie müssen deshalb die Techniken, mit denen im nationalen Kontext Normenkonflikte vermieden werden, auch in einem Konflikt des nationalen mit dem EU-Recht anwenden.222 Dieses Anforderungsprofil relativiert die Wortlautgrenze stark.223 Wie weit die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur richtlinienkonformen Anwendung des nationalen Rechts geht, wird am Beispiel des sog. Quelle-Falls deutlich. Es ging um die Frage, ob es mit der Kaufgewährleistungsrichtlinie vereinbar ist, dem Verkäufer bei der Nacherfüllung einer mangelhaften Sache im Wege der Ersatzlieferung gegen den Käufer einen Anspruch auf Ersatz der Nutzung der mangelhaften Sache einzuräumen. Der BGH legte in seinem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH dar, dass das deutsche Recht dies so vorsehe und nicht anders auszulegen sei.224 Nachdem der EuGH die Vorlagefrage verneint hatte,225 stand der BGH vor der Frage, wie er das keine Auslegungsspielräumen gebende deutsche Kaufrecht EU-rechtskonform anwenden konnte. Er entschied sich für eine richtlinienkonforme richterliche Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion der fraglichen Vorschrift.226 Der von dem EuGH geprägte Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung verlange von den nationalen Gerichten aber mehr als bloße Auslegung im engeren Sinne. Er unterscheide anders als der deutsche Rechtskreis nicht zwischen Auslegung (im engeren Sinne) und Rechtsfortbildung. Dieser Unterschied im Ansatz wird auch in dem in diesem Zusammenhang wegweisenden Urteil des EuGH in der Rechts-
219 Z. B. in BGH, NJW-RR 2003, 327, 328 – Zulassungsnummer III. 220 Vgl. BGH, GRUR 2009, 1064. 221 BGH, NJW-RR 2005, 354, 355; BGH, NJW 2004, 153, 154; BGH, WM 2003, 2186, 2187. 222 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 113 f.; ähnlich auch BGHZ 150, 248, 253. 223 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51 f.; der BGH spricht in BGHZ 160, 134, 140 und NJW 2004, 2971 (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen) von „berichtigender Auslegung“, die er aber in casu verneint; sehr weit geht er bei der Auslegung von § 5 Abs. 2 HWiG in BGHZ 150, 248, 253. 224 BGH NJW 2006, 3200, 3201. 225 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, EU:C:2008:231. 226 BGHZ 179, 27, 34 f.
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sache Mangold227 deutlich. Der BGH leitet deshalb aus dem Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung die Notwendigkeit ab, das nationale Recht, wo dies nötig und möglich ist, richtlinienkonform fortzubilden.228 Das sei im Bereich des Verbraucherrechts möglich, weil der deutsche Gesetzgeber bestrebt gewesen sei, eine EG-konforme Regelung zu schaffen. Ähnlich verfuhr der BGH bei der Umsetzung des Urteils des EuGH in der Rechtssache Weber und Putz229 zu der Frage einer Haftung des Verkäufers für die Kosten des Ausbaus fehlerhafter Ware und des Wiedereinbaus der nachgelieferten230 und bei der Umsetzung des Urteils des EuGH vom 19.12.2013231 zum Widerrufsrecht bei Versicherungsverträgen.232 Dieses Vorgehen ist auch unter dem Gesichtspunkt der Gesetzesbindung des Richters nicht zu beanstanden.233 Auf dieser Grundlage kann es im Einzelfall auch geboten sein, EU-widriges nationales Recht nicht anzuwenden.234
bb) Überschießende Umsetzung. Eine EU-konforme Auslegung bereitet bei Vor- 72 schriften keine Schwierigkeiten, die ausschließlich Fälle betreffen, die von den Richtlinien erfasst werden. Das ist regelmäßig bei Sondergesetzen der Fall, die zur Umsetzung einzelner Richtlinien erlassen werden. Anders liegt es aber bei allgemeinen oder besonderen Vorschriften, die auch auf Fälle anwendbar sind, die von den Richtlinien selbst nicht erfasst werden. Beispiele hierfür sind die Vorschriften des mit dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts umgestalteten Leistungsstörungs- und Kaufrechts, die nicht nur für Verbrauchsgüterkäufe im Sinne der Kaufgewährleistungsrichtlinie gelten, sondern schlechthin für alle Kaufverträge und auch für ganz andere Verträge. In diesen Fällen besteht eine Verpflichtung zur EU-konformen Auslegung nur, soweit es sich um Fälle handelt, die von den Richtlinien erfasst werden. Im Übrigen aber besteht eine EU-rechtliche Pflicht zur EU-konformen Auslegung nicht.235 Eine solche überschießende Umsetzung ist EU-rechtlich unbedenklich. Sicher- 73 zustellen ist nach der Rechtsprechung des EuGH lediglich, dass der Rechtsanwender klar erkennen kann, wie die von der Richtlinie erfassten Fälle behandelt werden sollen.236 Das bedeutet, dass überschießende nationale Umsetzungsvorschriften EUrechtlich gespalten ausgelegt werden können, nämlich EU-konform für die von den
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EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold ./. Helm, EU:C:2005:709 Rn. 77. BGHZ 179, 27, 35. EuGH v. 16. 6. 2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Weber und Putz, EU:C:2011:396. BGHZ 195, 135 Rn. 16 f.; dazu Schmidt-Räntsch, in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler (Hrsg), Produzentenhaftung, Nr. 1400 S. 92 f. EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, EU:C:2013:864. BGH, WM 2014, 1030. BVerfG, NJW 2012, 669 Rn. 51. EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 Österreich ./. ČEZ as, EU:C:2009:660; EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C341/08 Petersen ./. Berufungsausschuss für Zahnärzte für den Bezirk Westfalen-Lippe, EU:C:2010:4; Schmidt-Räntsch, NZM 2007, 6, 8; W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 61 ff. Einzelheiten dazu bei Schmidt-Räntsch, FS Wenzel (2005), S. 413 f. EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, EU:C:1998:370 Rn. 34.
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
Richtlinien erfassten Fälle und autonom im Übrigen.237 Eine solche gespaltene Auslegung ist aber nur möglich, wenn sie den nationalen Vorgaben genügt. Sie darf also nicht im Widerspruch zu dem im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers und zur Systematik des Gesetzes stehen,238 außerdem muss für eine unterschiedliche Behandlung der Fallgruppen ein sachlicher Grund gegeben sein. 74 Es lässt sich zwar nicht ausschließen, dass diese Vorgaben in dem einen oder anderen Fall erfüllt sind. In der Regel werden sie aber nicht erfüllt sein. Es wäre zum Beispiel nicht möglich, den Begriff des geringfügigen Mangels bei Verbrauchsgüterkäufen anders auszulegen als bei Immobilienkäufen,239 oder das Widerrufsrecht nach den Haustürwiderrufsvorschriften nur bei Realkreditverträgen, nicht aber auch bei Personalkreditverträgen zu geben.240 Werden Anlagen den hohen Umweltstandards des EU-Rechts (in casu der IVU-Richtlinie) unterstellt, können diese nicht deshalb anders interpretiert werden, weil die Unterstellung EU-rechtlich nicht geboten war. Die Auslegung der Antidiskriminierungsrichtlinien durch den EuGH schlägt im Anwendungsbereich des AGG zwangsläufig auf die Bereiche durch, in denen die Einführung eines Diskriminierungsverbots EU-rechtlich nicht zwingend war. Sachlich möglich ist es allerdings, Sonderlösungen für den Verbrauchsgüterkauf – in casu die richtlinienkonforme Auslegung von § 439 Abs. 2 BGB241 – auf Verbrauchsgüterkäufe zu beschränken.242
c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln 75 Der nationale Gesetzgeber kann sich, wie ausgeführt, zur Umsetzung von Richtlinien
auch vorhandener nationaler Vorschriften bedienen. Es war deshalb zulässig, die naturschutzrechtlichen EU-Richtlinien im Bundesnaturschutzgesetz243 umzusetzen. Nationale Generalklauseln sind dafür aber nur geeignet, wenn sie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine gefestigte Ausprägung in Fallgruppen erfahren haben, die die Vorgaben der umzusetzenden Richtlinie hinreichend konkret abbildet.244 Das war etwa bei § 1 UWG a. F. (heute § 3 UWG) der Fall, der in der Rechtsprechung des BGH eine Konkretisierung in festen Fallgruppen erfahren hat und die Vorgaben der früheren wettbewerbsrechtlichen Richtlinien deutlich abbildete. Dagegen hat der EuGH eine
237 Eingehend dazu Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14 Rn. 35 f. 238 W.-H. Roth, in: Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 34 f.; Prütting/Wegen/Weinreich-Prütting, BGB-Kommentar (5. Aufl. 2010), Einl. Rn. 35 a. E. 239 Schmidt-Räntsch, FS Wenzel (2005), S. 415 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch BGH, ZIP 2006, 904, 905 Rn. 11. 240 BGH, NJW 2002, 1881, 1883; BGH, BB 2004, 2711, 2712. 241 BGHZ 192, 148 Rn. 25; BGHZ 195, 136 Rn. 16. 242 So BGH, GuT 2013, 133; BGHZ 195, 135 Rn. 17; BGH, IBR 2013, 593. 243 Mehrfach neu erlassen, derzeit idF des Gesetzes v. 29.7.2009, BGBl. 2009 I, 2542. 244 Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 78.
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Vorschrift des niederländischen Nieuw Burgerlijk Wetboek (NBW) nicht ausreichen lassen, die inhaltlich § 307 Abs. 1 BGB entsprach.245 Es fehlten nämlich konkretisierende Vorschriften, wie sie z. B. das BGB in den §§ 308 und 309 aufweist. Aus diesem Grund genügten die Generalklauseln des BGB auch nicht zur Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien der EU.246
5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften Anders liegt es bei Generalklauseln, die nicht speziell zur Umsetzung einer Richtlinie 76 gedacht sind. Solche Generalklauseln müssen regelmäßig konkretisiert werden. Die Konkretisierung ist oft nur unter Rückgriff auf Vorschriften aus anderen Rechtsbereichen möglich. Dazu kann unmittelbar geltendes EU-Recht, dazu können aber auch EU-rechtlich vorbestimmte nationale Vorschriften gehören. Ein Beispiel ist die Beachtung der Verkehrssicherungspflicht, die sowohl im vertragsrechtlichen als auch im deliktsrechtlichen Kontext eine Rolle spielt. Die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht ergeben sich regelmäßig aus gewerberechtlichen Vorschriften oder DINund ähnlichen Normen.247 Diese können auf EU-Recht beruhen oder selbst EU-Recht sein. Ein anderes Beispiel ist die Ausfüllung von § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG durch die einschlägigen EU-Rechtsnormen.248
6. Haftung für verspätete Umsetzung von EU-Recht a) EU-rechtliche Haftung Bürgern und Unternehmen kann aber aus der verspäteten Umsetzung ein Schaden 77 entstehen. Diesen Schaden haben die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH dem Bürger unter besonderen Umständen zu ersetzen. Die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm muss den Zweck haben, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß muss hinreichend qualifiziert249 sein. Außerdem muss zwischen dem Verstoß gegen die dem Mitgliedstaat obliegende 78 Verpflichtung und dem Geschädigten entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen.250 Diese Voraussetzungen waren etwa bei Art. 7 der
245 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, EU:C:2001:257 Rn. 17 f., 21; weniger streng aber EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, EU:C:2002:281 Rn. 18, 20. 246 Entwurfsbegründung in BT-Drs. 16/1780, S. 39 f. 247 BGH, NJW 2004, 1449, 1450. 248 BGH, NJW 2005, 445, 448. 249 Dazu z. B. BGHZ 146, 153, 160 ff.; BGH, NJW 2009, 2534 – Verpackungsverordnung; BGH, RdL 2009, 265 – Danske Slagetier. 250 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, EU:C:2003:513 Rn. 30 f.; BGH, NJW 2005, 742.
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Pauschalreiserichtlinie251 gegeben, der zufolge der Mitgliedstaat den Pauschalreisenden gegen das Risiko einer Insolvenz des Reiseveranstalters abzusichern hat.252 Bei der Einlagensicherungsrichtlinie,253 nach der die Mitgliedstaaten zur Sicherung der Einlagen einen Fonds einzurichten haben, lag es genauso.254 Selbst wenn eine Richtlinie solche Rechte begründet, wie z. B. die von Deutschland nicht rechtzeitig umgesetzten255 Richtlinien 68/151/EWG und 78/660/EWG über die Offenlegung von Jahresabschlüssen,256 kann der konkret geltend gemachte Schaden außerhalb des Schutzbereichs dieses Rechts liegen.257 79 Für das Versäumnis haftet in Deutschland die Körperschaft, die für die Umsetzung zuständig ist, bei Bundesvorschriften also der Bund, der sich aber im Einzelfall entlasten kann, wenn die ausführenden Landesbehörden ein eigenes Verschulden bei der Umsetzung des nationalen Rechts trifft.258 Über solche Schadensersatzansprüche entscheiden die ordentlichen Gerichte.
b) Amtshaftung 80 Die Vorgaben einer nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinie können allerdings von den ordentlichen Gerichten auch im Zusammenhang mit einem Amtshaftungsrechtsstreit zu beachten sein. Einmal kann es sein, dass die Richtlinie den Behörden der Mitgliedstaaten besondere Amtspflichten dafür auferlegt, dass die vorzusehenden Einrichtungen auch tatsächlich eingerichtet werden. Das war etwa der eigentliche Gegenstand der soeben schon erwähnten Rechtssache Paul, in der eine solche Amtspflicht kraft Richtlinie aber verneint wurde.259 81 Ferner kann es sein, dass eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie mit öffentlich-rechtlichem Inhalt unmittelbar anzuwenden und das Verhalten der Behörde an den Vorgaben der Richtlinie unmittelbar zu messen ist. Dem hätten die ordentlichen Gerichte im Amtshaftungsprozess nachzugehen.
251 Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 252 EuGH v. 8.10.1996 – verb. Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94 Dillenkofer u. a., EU:C:1996:375 Rn. 22, 36 ff.; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, EU:C:1999:306 Rn. 44 ff. 253 Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30.5.1994 über Einlagensicherungssysteme, ABl. 1994 L 135/5. 254 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, EU:C:2004:606 Rn. 26 f. 255 EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihaitsu, EU:C:1997:581; EuGH v. 29.9.1998 – Rs. C-191/95 Kommission ./. Deutschland, EU:C:1998:441. 256 BGH, NJW 2006, 690, 691. 257 BGH, NJW 2006, 690, 691 Rn. 11. 258 BGHZ 161, 224, 234; ähnlich BGHZ 146, 153, 164. 259 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, EU:C:2004:606 Rn. 30 f.; ihm folgend BGH, NJW 2005, 742, 743.
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7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten Das nationale Recht der Mitgliedstaaten kann dem EU-Recht widersprechen. Wider- 82 spricht es unmittelbar geltendem Verordnungsrecht, haben die nationalen Gerichte nur das vorrangige und unmittelbar geltende Verordnungsrecht anzuwenden. Das ihm widersprechende nationale Recht bleibt außer Anwendung.260 Etwas anderes könnte nur gelten, wenn ausnahmsweise der Verfassungsvorbehalt greift.261 Das ist aber regelmäßig nicht der Fall, weil die bisher vorgenommenen Übertragungen von Kompetenzen an die Union verfassungsrechtlich unbedenklich waren und das Unionsrecht jedenfalls nach Erlass der Grundrechtscharta und ihrer Anerkennung durch Art. 6 EUV eine ausreichende Grundrechtsgarantie enthält. Anders liegt es bei einem Widerspruch des nationalen Rechts zu einer EU-Richt- 83 linie. Die EU-Richtlinie verpflichtet den Mitgliedstaat dazu, sein Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen. Sie kann aber das Recht der Mitgliedstaaten nicht ändern oder außer Kraft setzen. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen ist.
b) Überbrückung durch Rechtsprechung Die Versäumung der Frist zur Umsetzung einer Richtlinie ist regelmäßig in erster Linie 84 ein Versäumnis des nationalen Gesetz- oder Verordnungsgebers. Der Gesetz- und der Verordnungsgeber des Mitgliedstaates sind aber nicht die einzigen Adressaten der Umsetzungspflicht. Die Umsetzungspflicht trifft vielmehr alle Organe des Staates, die dazu beitragen können. Das sind auch die Gerichte.262 Sie können eine privatrechtswirksame Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist zwar nicht unmittelbar anwenden. Sie haben sich aber bei der Auslegung des nationalen Rechts unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde, jedenfalls dann, wenn die Richtlinie unbedingt und hinreichend bestimmt ist,263 so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, sodass das mit dieser verfolgte Ziel, auch im Verhältnis von Privaten untereinander, in größtmöglichem Umfang erreicht wird.264 Im 260 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., EU:C:1964:66; v.d. Groeben/Schwarze-G. Schmidt, Art. 249 EG Rn. 2, 6; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 46, 62 f. 261 Dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 55 ff.; v.d. Groeben/Schwarze-G. Schmidt, Art. 249 EG Rn. 5. 262 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u. a., EU:C:2004:584 Rn. 110 f.; EuGH v. 10.12.2020 – Rs. C-735/19 Euromin Holdings [Cyprus], EU:C:2020:1014 Rn. 75. 263 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 26; BGHZ 151, 300, 315 – Elektronischer Pressespiegel. 264 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo, EU:C:2000:346 Rn. 30; EuGH v. 10.12.2020 – Rs. C-735/19 Euromin Holdings [Cyprus], EU:C:2020:1014 Rn. 75; BGH, NJW 2001, 3698, 3699 f. – U-Bahn-Waggons; BGH, NJW 1993, 3139 – Dos; BGHSt 37, 168, 174 f.
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
Vorgriff auf die spätere Änderung von § 474 Abs. 2 BGB265 hat der BGH deshalb mit einer teleologischen Reduktion der Vorschrift im Wege richterlicher Rechtsfortbildung einen EU-rechtskonformen Zustand hergestellt.266 Ähnlich liegt es bei der Auslegung von § 439 Abs. 2 BGB.267 85 Die Pflicht der Gerichte zur Beteiligung an der Umsetzung von EU-Richtlinien besteht nicht erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist,268 sondern auch schon davor.269 Deshalb hätten die ordentlichen Gerichte beispielsweise die Vorgaben der Rassediskriminierungsrichtlinie270 schon vor dem Erlass des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes beachten müssen, wenn sich ein Mietinteressent gegen die Verweigerung eines Mietvertrags wegen seiner Hautfarbe zivilrechtlich hätte wehren wollen oder ein Verbraucherverband im Unterlassungsklageverfahren nach § 1 UKlaG ethnische Gruppen benachteiligende Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Überprüfung gestellt hätte.271 Die Umsetzung des Unionsrechts in der Rechtsprechung enthebt den nationalen Gesetzgeber nicht seiner eigenen EU-rechtlichen Verpflichtungen.272
IV. Auslegungsmethoden 1. Vorbemerkung 86 Die obersten Gerichtshöfe des Bundes sind zwar inhaltlich mit den unterschiedlichs-
ten Fragen der Anwendung des Gemeinschaftsrechts befasst. Wenn die obersten Gerichtshöfe des Bundes EU-Vorschriften auslegen, wenden sie je nach den Bedürfnissen des konkreten Einzelfalls die klassischen Auslegungsmethoden an und berücksichtigen bei dem EU-Recht zusätzlich auch die Begründungserwägungen. Gelegentlich greifen sie auch auf die Stellungnahme der EU-Kommission in einschlägigen Verfahren zurück,273 deren Verständnis als sog. Hüterin der Verträge trotz des Aus-
265 Durch Gesetz v. 16.12.2008, BGBl. 2008 I, 2399, heute § 439 Abs. 2, § 475 Abs. 4 BGB. 266 BGHZ 179, 27 – Quelle. 267 BGHZ 195, 135 – Weber/Putz. 268 BGHZ 199, 43 Rn. 16 zur Berücksichtigung der Dienstleistungs-Richtlinie 2006/123/EG bei der Auslegung von § 43b BRAO oder BGH, InfAuslR 2014, 148 für die Berücksichtigung der Vorgaben der Richtlinie 2008/115/EG im Freiheitsentziehungsrecht. 269 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment Wallonie, EU:C:1997:628 Rn. 44 ff.; BGHZ 138, 55, 62 – Testpreis-Angebot; eingehend zur Vorwirkung von Richtlinien Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 26 ff. 270 Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180/22. 271 Schmidt-Räntsch, NZM 2007, 6, 16. 272 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, EU:C:2001:257 Rn. 21. 273 BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II.
Schmidt-Räntsch
IV. Auslegungsmethoden
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legungsmonopols des EuGH durchaus Gewicht zukommt. Im Einzelnen ergibt sich Folgendes.
2. Wortlautauslegung Die in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes am häufigsten ver- 87 wandte Methode zur Auslegung des Unionsrechts ist die Wortauslegung.274 Zur Auslegung des Unionsrechts kommen die obersten Gerichtshöfe in erster Linie, wenn sie das Unionsrecht als klar und eindeutig ansehen. Sie befassen sich mit der Auslegung des Unionsrechts aber auch in Vorabentscheidungsersuchen. Dabei berücksichtigen sie naturgemäß die Rechtsprechung des EuGH.275 Gelegentlich spielen auch die verschiedenen Sprachfassungen eine Rolle.276
3. Systematische Auslegung Eine systematische Auslegung des EU-Rechts unter Einbeziehung auch die des 88 Rechtsaktes Systematik verdeutlichender Begründungserwägungen kommt in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes häufiger vor. Beispiele hierfür sind aus dem Bereich des Marken- und Wettbewerbsrechts der Fall Bestellnummernübernahme277 zum Zusammenspiel von Art. 3 a Abs. 1 lit. d) und g) der EU-Richtlinie zur vergleichenden Werbung278 oder der Fall Omeprazol279 zur Gültigkeit und Auslegung der Art. 15 und 19 der Arzneimittel-Schutzzertifikat-Richtlinie.280 Beispiele aus
274 Beispiele: BGH, NJW 2005, 747; BGH, GRUR 2005, 258, 260 – Roximycin; BGH, GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut; BGH, NJW 2004, 2664, 2665 – Informatec (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilung) ebenso BGH, NJW 2004, 2668 und 2971; BGH, WRP 2004, 1378, 1380 – Citroën; BGH, MDR 2004, 1415, 1416; BGH, BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein; BGH, GRUR 2004, 793, 796 – Sportlernahrung II; BGHZ 158, 236, 244, 247 f. – Internet-Versteigerung; BGH, WM 2003, 2186 – Schrottimmobilien; BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; BGH, ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung; BGH, NJW 2001, 2963, 2965 – Vollmacht für Verbraucherkreditvertrag. 275 Z. B. BGH, RdL 2005, 82, 83; BGH, NJW-RR 2004, 210, 211; BGH, MDR 2004, 1415, 1416; BGH, NJWRR 2000, 438, 439. 276 Z. B. BGH, WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; BGH, EuZW 2004, 537 – Nachbauvergütung; BGH, NVwZ 2014, 166 Rn. 16 zur sog. Rückkehrrichtlinie 2008/115/EG; kritisch insoweit EuGH v. 17.7.2014 – verb. Rs. C-473/13 und C-514/13 Bero und Bouzalmate, EU:C:2014:2095 Rn. 28. 277 BGH, GRUR 2005, 348 f. 278 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. 1984 L 250/17, idF der Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997, ABl. 1997 L 290/18. 279 BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Opremazol. 280 VO (EWG) 1768/92 des Rates v. 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 L 182/1.
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§ 21 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
anderen Bereichen sind das Reitunfall-Urteil des BGH zu den EU-rechtlichen Vorgaben für die Möglichkeit des Reiseveranstalters, sich von der Haftung für Schäden des Reisenden zu entlasten,281 der Fall Kerosinzuschlag I282 zu den EU-Vorgaben für nachträgliche Preiserhöhungen bei Pauschalreisen oder der Fall Davidoff Hot Water zu der grundrechtskonformen Auslegung der Richtlinie zur Durchsetzung geistigen Eigentums.283 Ausführungen zur Systematik von Gemeinschaftsrecht finden sich in geeigneten Fällen auch in Urteilen ohne vorherige Befassung des EuGH.284
4. Historische Auslegung 89 Die historische Auslegung ist bei der Auslegung des Unionsrechts zu berücksichti-
gen.285 Sie findet sich in der Rechtspraxis der obersten Gerichtshöfe des Bundes ebenso wie bei der Auslegung des nationalen Rechts eher selten.286 Sie findet sich tendenziell eher bei Entscheidungen, die EU-rechtlich stärker durchdrungen sind.287 Bei Rechtsgebieten, die EU-rechtlich weniger stark durchdrungen sind, findet sich eine historische Auslegung nicht.
5. Teleologische Auslegung 90 In der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Auslegung des Uni-
onsrechts findet sich auch die teleologische Auslegung. Ein Beispiel ist das unberechtigte Festhalten eines ausländischen Schiffs unter Verstoß gegen die Anforderung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Hier hatten sich die Landesbehörden mit einem Hinweis auf die Richtlinie 95/21/EG288 zu verteidigen versucht. Dies hielt einer an ihrem Zweck ausgerichteten Auslegung der Richtlinie offensichtlich nicht stand.289 Weitere
281 BGH, NJW 2005, 418, 420. 282 BGH, NJW 2003, 507, 508 f. 283 BGH, GRUR 2013, 1237 Rn. 24 f. 284 Z. B. BGH, NJW 2000, 3212, 3214 – Programmfehlerbeseitigung. 285 EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami, EU:C:2013:625 Rn. 50. 286 Z. B. BGH, NJW-RR 2002, 1615, 1616 – Bodensee-Tafelwasser; BGH, NJW 2013, 2814, oder die Vorabentscheidungsersuchen des BGH in NVwZ 2014, 166 Rn. 17, in GRUR 2013, 1247 Rn. 14 oder in NJWRR 2012, 436. 287 Z. B. BGH, GRUR 2000, 1020, 1021 – La Bohème; BGH, NJW 2000, 521, 523 (Vorlage Heininger); ansatzweise auch BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Opremazol. 288 Richtlinie 95/21/EG des Rates v. 19.6.1995 zur Durchsetzung internationaler Normen für die Schiffssicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord von Schiffen, die Gemeinschaftshäfen anlaufen und in Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten fahren (Hafenstaatkontrolle), ABl. 1995 L 157/1. 289 BGHZ 161, 224, 230 f.
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V. Fazit
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Beispiele sind das Schriftformerfordernis nach Art. 17 Abs. 1 EuGVÜ/LugÜ,290 die Auslegung des § 312b Abs. 2 BGB291 nach dem Schutzzweck der Fernabsatzrichtlinie,292 die Auslegung des § 137h UrhG293 unter Rückgriff auf den Zweck des Art. 7 Abs. 3 der Satelliten- und Kabelrichtlinie,294 die Bewertung von Vergabeentscheidungen am Zweck der maßgeblichen Koordinierungsrichtlinie,295 die Anforderungen an Packungsbeilagen für Humanarzneimittel296 oder die Vorlagebeschlüsse zur Bemessung der Nachbauentschädigung im Sortenschutz.297 Dabei werden auch die bei deutschen Normen nicht vorhandenen Begründungserwägungen298 berücksichtigt.299
V. Fazit – – – –
Die obersten Gerichtshöfe des Bundes können EU-Recht nur auslegen, wenn es 91 klar oder in der Rechtsprechung des EuGH geklärt ist. Sie befassen sich mit der Auslegung des EU-Rechts häufiger, als es dieser enge Rahmen erwarten lässt. Gegenstand der Auslegung sind nicht nur EU-Vorschriften mit typisch zivilrechtlichem Inhalt, sondern auch Normen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt. Die obersten Gerichtshöfe des Bundes folgen den klassischen Auslegungsmethoden, meist in einer knappen Wortauslegung. Gerade bei Vorabentscheidungsersuchen, aber auch in anderen Fällen, wenden sie auch die anderen möglichen Auslegungsmethoden an.
290 BGH, MDR 2004, 1371. 291 BGH, NJW 2004, 3699, 3670. 292 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 293 BGH, GRUR 2005, 48, 50 – Man spricht deutsch. 294 Richtlinie 93/83/EWG des Rates v. 27.9.1993 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk- und Kabelweiterverbreitung, ABl. 1993 L 248/15. 295 BGH, NZBau 2004, 517, 518; BGHZ 148, 55, 62 f. 296 BGH, NJW 1998, 3412, 3413 – Neutrotat forte. 297 BGH, EuZW 2005, 156, 158 f. 298 Dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 35 ff.; zu ihrer Bedeutung bei überschießender Umsetzung: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA. 299 BGH, NJW-RR 2000, 631, 632 f. – Generika-Werbung; BGH, NJW 2005, 747.
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Abschnitt 3 Perspektiven anderer Mitgliedstaaten § 22 Frankreich Literatur*: Conseil d’État (Hrsg.), Droits et Débats. L’ordre juridique national en prise avec le droit européen et international: questions de souveraineté ? Le regard croisé du Conseil d’État et de la Cour de cassation, Un colloque organisé par le Conseil d’État et de la Cour de cassation le 10 avril 2015 (2016); Cour de cassation (Hrsg.), Le rôle normatif de la Cour de cassation (2018); Guinchard, Serge/Varinard, André/Debard, Thierry, Institutions juridictionnelles (15. Aufl. 2019); Mélin-Soucramanien, Ferdinand/ Pactet, Pierre, Droit constitutionnel (36. Aufl. 2018); Lombard, Martine/Dumont, Gilles/Sirinelli, Jean, Droit administratif (13. Aufl. 2019); Pellet, Alain/Miron, Alina (Hrsg.), Les grandes décisions de la jurisprudence francaise de droit international public (2015) = GAJDIP (Nr. und Rn.); Terré, François/Molfessis, Nicolas, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019). Rechtsprechung**: Cass. mixte 24.5.1975, Cafés Jacques Vabre, Nr. 73–13.556, ; Cass. 29.6.2010, Melki & Abdéli, Nr. 12133, ; C. E. Ass. 20.10.1989, Nicolo, Nr. 108243, C. E. Ass. 8.2.2007, Sté Arcelor Atlantique, Nr. 287110, ECLI:FR:CEASS:2007:287110.20070208; Cons. const., déc. Nr. 2004–505 DC v. 19.11.2004, Traité établissant une Constitution pour l’Europe, ECLI:FR:CC:2004:2004.505.DC; Cons. const., déc. Nr. 2004–496 DC v. 10.6.2004, Loi pour la confiance dans l’économie numérique, ECLI:FR:CC:2004:2004.496.DC; Cons. const., déc. Nr. 2006–535 DC v. 30.3.2006, Loi pour l’égalité des chances, ECLI:FR:CC:2006:2006.535.DC; Cons. const., déc. Nr. 2010–605 DC v. 12.5.2010, Loi relative à l’ouverture à la concurrence et à la régulation du secteur des jeux d’argents et de hasard en ligne, ECLI: FR:CC:2010:2010.605.DC; Cons. const., déc. Nr. 2013–314P QPC v. 4.4.2013, M. Jeremy F., ECLI:FR: CC:2013:2013.314P.QPC; Cons. const., déc. Nr. 2013–314 QPC v. 14.6.2013, M. Jeremy F., ECLI:FR: CC:2013:2013.314.QPC; EuGH v. 22.6.2010 – Rs. C-188/10 u. C-189/10 Melki & Abdéli, EU:C:2010:363; EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-168/13 PPU Jeremy F., EU:C:2013:358.
Systematische Übersicht I. II.
Vorbemerkung 1 Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem 2
1.
Die Normenhierarchie der Fünften Republik 2
* Abkürzungen von gängigen französischen Zeitschriften und Sammelwerke: AJDA = L’Actualité juridique: Droit administratif; D. = Recueil Dalloz; JCP = Juris-Classeur périodique (La Semaine Juridique); Rép. comm. = Répertoire de droit communautaire; Rép. eur. = Répertoire de droit européen; RFDA = Revue française de droit administratif; RGD online = Revue générale du droit online; RTDciv. = Revue trimestrielle de droit civil. ** Die Zitierweise der Rechtsprechung folgt ECLI, soweit dies verfügbar ist; Entscheidungen vor Einführung von ECLI sind nach der Webseite légifrance: zitiert, d. h. mit den Nummern von JURITEXT oder CETATEXT. Alle Verweise sind auf dem Stand vom 27.9.2020.
Babusiaux https://doi.org/10.1515/9783110614305-022
742
§ 22 Frankreich
2.
Das französische Gerichtssystem 6 3. Methoden der Rechtsanwendung und die Rolle der Gerichte 9 4. Der Prüfungsmaßstab der contrôle concret und der style direct 13 III. Unionsrecht und nationales (französisches) Recht 18 1. Allgemeines Verhältnis zum Völkerrecht 19 2. Verhältnis zum Unionsrecht 23 3. Das Verhältnis von französischem Verfassungsrecht und Unionsrecht 29 a. Die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel 31
b.
Die Positionierung des Conseil d’État 33 c. Die Cour de cassation zwischen QPC und Unionsrecht 36 IV. Europäische Methodenlehre im nationalen Recht 40 1. Die Konventionalitätskontrolle als genuin richterliche Befugnis 41 2. Die Geltendmachung des Unionsrechts 44 V. Der jurisdiktionelle Dialog in Europa 49
I. Vorbemerkung 1 Frankreichs Rechts- und Gerichtssystem befindet sich im Umbruch. Die Gründe hier-
für sind unter anderem im Unionsrecht und in der 2008 eingeführten „vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit“ (question prioritaire de constitutionnalité, QPC) zu sehen.1 Beide Entwicklungen stellen bisher bestehende Vorstellungen über die Rolle der Gerichte im Kompetenzgefüge in Frage. Hinzu kommen zahlreiche Reformvorhaben in Kernbereichen des Code civil2 und in der Gerichtsorganisation3, deren Folgen
1 Nicht einzugehen ist hier auf die rechtspolitischen Umstände, die nicht nur durch den état d’urgence sanitaire wegen COVID-19 zwischen dem 24. März 2020 und dem 10. Juli 2020, sondern vor allem durch den fast zwei Jahre andauernden Notstand wegen terroristischer Bedrohung (état d’urgence pour menace terroriste) vom 13. November 2015 bis 30. Oktober 2017, geprägt sind. Die Notstandsgesetzgebung hat das Bewusstsein für die Bedeutung der Grundrechte und der EMRK in der französischen Öffentlichkeit geschärft und eine breite juristische Debatte ausgelöst, die möglicherweise auch auf das Selbstverständnis der Gerichte gewirkt hat. 2 Zur Geschichte des Code civil, vgl. Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 145–151. Zur Reform des Vertragsrechts, vgl. (in deutscher Sprache) Babusiaux/Witz, Das neue französische Vertragsrecht. Zur Reform des Code civil, JZ 2017, 496–507; Beiträge in: Bien/Borghetti (Hrsg.), Die Reform des französischen Vertragsrechts. Ein Schritt zu mehr europäischer Konvergenz? (2018); zur seit längerem in Diskussion befindlichen Reform des Haftungsrechts, vgl. den Gesetzesvorschlag (proposition de loi) des Senats vom 29. Juli 2020: ; zum Inhalt der Reform, vgl. Zwickel, Der Vorentwurf für eine Reform des französischen Haftungsrechts (responsabilité civile), RIW 2017, 104–111. 3 Maßgeblich ist das Gesetz Nr. 2019-222 vom 23. März 2019 de programmation 2018–2022 et de réforme pour la justice, NOR: JUST1806695L in der Fassung vom 19. August 2020, vgl.: . Neben der Reform der Strafgerichtsbarkeit und der Einführung der elektronischen Klageeinreichung ist vor allem die am 1. Januar 2020 in Kraft getretene Babusiaux
II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem
743
noch nicht absehbar sind. Aus methodischer Sicht ist dabei hervorzuheben, dass die französische Rechtsprechung und Lehre das Unionsrecht von Anfang an als Befreiung der nationalen Gerichte von der Unterwerfung unter den Gesetzgeber aufgefasst hat (vgl. Rn. 12). Daher bildet die den Gerichten zugewiesene Kompetenz, zwischen nationalen und europäischen Rechtsquellen zu vermitteln, aus französischer Sicht die Hauptfrage der europäischen Methodenlehre. Diese, zunächst vor allem theoretisch reflektierte Stärkung der dritten Gewalt hat in jüngster Zeit auch praktische Folgen gezeitigt. So haben alle drei Höchstgerichte ihre Entscheidungs- und Begründungspraxis reformiert, um den justiziellen Dialog mit EuGH und EGMR zu erleichtern (vgl. Rn. 13–16).
II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem 1. Die Normenhierarchie der Fünften Republik Die Rechtsordnung Frankreichs der Fünften Republik ist als Normenhierarchie orga- 2 nisiert.4 Grundnorm ist die Verfassung vom 4. Oktober 1958 (Constitution de la Ve république du 4 octobre 1958 = Const.).5 Da sie in ihrer Präambel auf die allgemeine Deklaration der Bürger- und Menschenrechte von 1789,6 die Präambel der Verfassung von 19467 sowie die Umweltcharta von 2004 verweist,8 gelten auch diese Texte als in-
Zusammenfassung der früheren tribunaux d’instance und der tribunaux de grande instance in neu geschaffenen tribunaux judiciaires zu beachten sowie der obligatorische Schlichtungsversuch bei Streitwerten unter 5.000 €. Zu Einzelheiten, vgl. Baillon-Wirtz/Bernand/Binet/Boisson, La loi de réforme pour la justice (2019); Dargent/Royer (Hrsg.), Réforme de la justice (2019). 4 Alle Rechtsvorschriften finden sich auf ; vgl. Cabrillac, Sources of Law, in: Levasseur/Trahan/Gruning (Hrsg.), The Legal System of France (2020) 9–15. 5 Vgl. ; auf deutsch: ; hierzu knapp: Broyelle, The Constitutional Framework, in: Levasseur/Trahan/Gruning (Hrsg.), The Legal System of France (2020) 17–23. Zur französischen Verfassungsgeschichte, vgl. Godechot/Faupin (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789 (2018). 6 Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen de 1789, vgl. . Diese Rechte werden als „Rechte der ersten Generation“ bezeichnet. 7 Préambule de la Constitution du 27 octobre 1946, vgl. . Die hier genannten sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte „principes fondamentaux reconnus par les lois de la République“ werden als „Rechte der zweiten Generation“ bezeichnet. 8 Verfassungsgesetz Nr. 2005–205 vom 1. März 2005 zur Charte de l’environnement, NOR: JUSX 0300069L, . Die hier formulierten Ziele gelten als „Rechte der dritten Generation“, vgl. Huglo, La QPC: quelle utilisation en droit de l’environnement? Nouveaux Cahiers du conseil constitutionnel 43 (Avril 2014), ; vgl. Cons. const., déc. Nr. 2019-823 QPC v. 31.1.2020, Union des industries de la protection des plantes [Interdiction de la production, du stockage et de la circulation de certains produits phytopharmaceutiques], ECLI:FR:CC:2020:2019.823.QPC. 9 Vgl. Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 282–286. 10 Mélin-Soucramanien/Pactet, Droit constitutionnel (36. Aufl. 2018) Rn. 1645. 11 So die Begriffsübersetzung bei Grewe, Die Grundrechte und ihre richterliche Kontrolle in Frankreich, EuGRZ 2002, 209–212; gemeint ist die Kontrolle der Einhaltung völkerrechtlicher Verträge (conventions). 12 Mélin-Soucramanien/Pactet, Droit constitutionnel (36. Aufl. 2018) Rn. 1729–1736. 13 Es handelt sich um das Konzept des parlementarisme rationalisé, der durch die Reform von 2008 allerdings etwas beschränkt wurde, vgl. Hamon/Troper, Droit constitutionnel (40. Aufl. 2019/2020) 458 f. (zum parlementarisme rationalisé); 780–786 (zur Gesetzgebung mittels ordonnances). 14 Dies gilt auch für die Umsetzung von Richtlinien, vgl. z. B. Gesetz Nr. 2004-237 v. 18.3.2004, JORF Nr. 67 v. 19.3.2004, S. 5311, NOR: MAEX0300214L; Gesetz Nr. 2001-1 v. 3.1.2001, JORF Nr. 3 v. 4.1.2001, S. 93, NOR: MAEX0000132L. 15 Sénat (Division des lois et de la logistique), Les ordonnances prises sur le fondement de l’article 38 de la Constitution, vgl. .
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II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem
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sungsreform vom 23. Juli 200816 einen Abs. 2 in Art. 38 Const. eingefügt, der nach Ablauf der in der gesetzlichen Ermächtigung genannten Frist eine ausdrückliche Ratifikation der ordonnance durch das Parlament verlangt. Ohne Ratifikation innerhalb der Frist verliert die ordonnance ihre gesetzesgleiche Wirkung.17 Die Auswirkungen dieser Regelung auf die Rechtsanwendung sind an der Reform des Code civil, die 2016 zunächst als Verordnung erlassen und 2018 durch den Gesetzgeber ratifiziert wurde, gut erkennbar.18 Im Rang nach gesetzgleicher Verordnung und Gesetz stehen die gesetzesausfüh- 5 renden Verordnungen (règlements d’application des lois)19 und die Einzelanordnungen (actes administratifs unilatéraux)20 von Regierung und Verwaltung. Zu beachten ist, dass den in der Praxis häufigen „Rundschreiben“ (circulaires) als Dienstanweisungen grundsätzlich keine Außenwirkung und damit keine Rechtsquellenqualität zukommt.21 Sofern sie in Rechte eingreifen, sind die Verwaltungsgerichte dennoch zur Kontrolle berufen und können auf Antrag von Betroffenen eine Rechtsverletzung feststellen.22
2. Das französische Gerichtssystem Das französische Gerichtssystem geht auf die Französische Revolution zurück.23 Dem 6 revolutionären Verständnis der Gewaltenteilung entsprechend sind die ordentliche
16 Verfassungsgesetz Nr. 2008–724 v. 23.7.2008, JORF v. 24.7.2008, S. 11890/11895, NOR: JUSX08 07076L. 17 Einfügung eines Satz 3 in Abs. 2 des Art. 38 Const.: „Elles [sc. les ordonnances] ne peuvent être ratifiées que de manière expresse“. 18 Gesetz Nr. 2018–287 v. 20.4.2018 zur Ratifikation der ordonnance Nr. 2016-131 v. 10.2.2016 „portant réforme du droit des contrats, du régime général et de la preuve des obligations“, NOR: JUSC1612295L, JORF Nr. 0093 v. 21.4.2018, . Zu den Veränderungen, die das Parlament gegenüber der ordonannce vorgenommen hat, vgl. Mekki, La loi de ratification de l’ordonnance du 10 février 2016. Une réforme de la réforme? D. 2018, 900–911. 19 Vgl. Lombard/Dumont/Sirinelli, Droit administratif (13. Aufl. 2019) Rn. 110–118. 20 Einzelheiten hierzu Lombard/Dumont/Sirinelli, Droit administratif (13. Aufl. 2019) Rn. 377–454. 21 Zu den circulaires, die vor allem interpretierende Funktion haben, vgl. Lombard/Dumont/Sirinelli, Droit administratif (13. Aufl. 2019) Rn. 134 f. 22 C. E. sect. 18.12.2002, Mme Duvignères, Nr. 233618, ; C. E. sect. 12.6.2020, Nr. 418142, ECLI:FR:CESEC:2020:418142.20200612 und die conclusions des rapporteur public Guillaume Odinet, vgl. . 23 Grundlage ist das Gesetz zur Gerichtsorganisation von 1790, Loi des 16–24 août 1790 sur l’organisation judiciaire, Art. 13: „Les fonctions judiciaires sont distinctes et demeureront toujours séparées des fonctions administratives. Les juges ne pourront, à peine de forfaiture, troubler, de quelque manière que ce soit, les opérations des corps administratifs, ni citer devant eux les administrateurs pour raison de leurs
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Gerichtsbarkeit (juridiction judiciaire) und die als Privileg der Administration verstandene Verwaltungsgerichtsbarkeit (juridiction administrative) bis heute streng getrennt. Aus dieser Logik erklärt sich, dass Kompetenzkonflikte zwischen beiden Rechtswegen nur durch Anrufung des paritätisch besetzten Tribunal des Conflits beseitigt werden können.24 Zudem bestehen umfangreiche Vorlageverpflichtungen (questions préjudicielles) mit Blick auf das dem jeweiligen Gerichtszweig zugewiesene Recht.25 Bei Anwendung des Unionsrechts, der EMRK26 wie der QPC27 sind diese engen Zuständigkeitsgrenzen nicht immer einzuhalten, weshalb der Ruf nach institutionellen Reformen zu vernehmen ist.28 7 Innerhalb des jeweiligen Gerichtszweiges gilt im Grundsatz ein dreiteiliger Instanzenzug. Nach dem tribunal judiciaire (seit 2020)29 bzw. tribunal administratif folgt auf Ebene der Berufungsinstanz die cour d’appel bzw. die cour d’appel administrative. An der Spitze stehen als Kassationsinstanz die Cour de cassation30 für die ordentlichen Gerichte31 und der Conseil d’État32 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Ihre Kontrollfunktion33 erlaubt es beiden obersten Fachgerichten, die Urteile der Instanzgerichte
fonctions“ (bis heute in Kraft, 28. August 2020). Zur Zweiteilung des Rechtsweges, vgl. Guinchard/Varinard/Debard, Institutiones juridictionnelles (15. Aufl. 2019) Rn. 89–97; es ist von Interesse, dass die Cour de cassation 2013 über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu entscheiden hatten, vgl. Cass. civ. 2ème 11.7.2013, Nr. 13–60.190, ECLI:FR:CCASS:2013:C201409. 24 Vgl. ; zu Geschichte, Kompetenzen und Aufbau, vgl. Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 264–269; Lombard/Dumont/Sirinelli, Droit administratif (13. Aufl. 2019) Rn. 421–425. 25 Auch diese Frage befindet sich im Fluss, vgl. Messoudi, Le dialogue après la bataille? Le nouvel équilibre des questions préjudicielles, Colloque: La guerre des juges aura-t-elle lieu?, RGD on line, 2016, Nr. 23365, . 26 Vgl. Guinchard/Varinard/Debard, Institutiones juridictionnelles (15. Aufl. 2019) Rn. 98. 27 Warusfell, Les juridictions suprêmes dans l’ordre interne, in: Cartier (Hrsg.) La QPC, le procès et ses juges. L’impact sur le procès et l’architecture juridictionnelle (2013) 248–252. Hierzu gehört auch die Frage, ob die Verwaltungsgerichte auch „juge des libertés publiques“ sein können, eine Rolle, die traditionell dem juge judiciare zugewiesen ist, vgl. Louvel, JCP 2015, 1122, S. 1908, zuletzt Andriantsimbazovina, La protection des libertés, fondement de la compétence du juge administratif?, RGD on line, 2019 Nr. 50511, . 28 So soll keine Vorlagepflicht zwischen den beiden obersten Fachgerichten mit Blick auf das Unionsrecht bestehen, vgl. T. C. 17.10.2011, SCEA du Chéneau c. INAPORC et Cherel et al. c. CNIEL, Nr. C3828, . 29 Einzelheiten bei Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 200. 30 Vgl. auch mit Informationen in deutscher Sprache. 31 Zur ordentlichen Gerichtsbarkeit gehören auch die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit. 32 Vgl. auch mit Informationen in deutscher Sprache. 33 Der Conseil d’État verfügt zudem über weitreichende beratende Kompetenzen, vgl. nur Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 256f.; Lombard/Dumont/Sirinelli, Droit administratif (13. Aufl. 2019) Rn. 697–701. Babusiaux
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ihres Gerichtszweiges aufzuheben (cassation) oder aufrecht zu halten (rejet). Soweit erforderlich, können beide obersten Gerichte die Sache auch unter Hinweis auf das zutreffende Rechtsverständnis zur erneuten Tatsachenprüfung an die Instanzgerichte zurückverweisen (renvoi).34 Als Verfassungsgericht fungiert der Conseil constitutionnel, der seit 2008 auch im 8 Rahmen eines Rechtsstreites mittels QPC angerufen werden kann:35 Stellt er auf Antrag einer Partei36 und nach Zulassung durch eines der beiden höchsten Fachgerichte37 die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes fest, kann er dieses aufheben oder mit interpretativen Vorbehalten versehen.38 Die durch die QPC eröffnete konkrete Normenkontrolle ergänzt die seit 1958 vorgesehene ex-ante-Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vor ihrer Promulgation (Art. 61 Const.). Dass die Verfassung ausführende Gesetz (loi organique) bezeichnet diese Kontrolle als „vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit“ (QPC). Die Etablierung eines Vorrangs sollte insbesondere verhindern, dass die Fachgerichte die Verfassungsfrage umgehen und sich auf die Prüfung der Konventionalitätskontrolle einer französischen Norm zurückziehen (vgl. Rn. 36–37).
34 Zu den Kontrollkompetenzen der Cour de cassation, vgl. Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 211; zu den Kontrollbefugnissen des Conseil d’État, vgl. Lombard/Dumont/Sirinelli, Droit administratif (13. Aufl. 2019) Rn. 702–706; zu Unterschieden zwischen deutscher Revision und französischer Kassation, vgl. Ferrand, Cassation française et révision allemandes. Essai sur le contrôle exercé en matière civile par la Cour de cassation française et par la Cour fédérale de Justice de la République fédérale d’Allemagne (1993). 35 Zu dem kulturellen Bruch, den dies bedeutet, vgl. Guinchard/Varinard/Debard, Institutions juridictionnelles (15. Aufl. 2019) Rn. 108–111. 36 Auf diesen wichtigen Unterschied (im Vergleich zum deutschen Recht) weist Grewe, Le contrôle de constitutionnalité de la loi en Allemagne: Quelques comparaisons avec le système français, Pouvoirs 137 (2011) 143–154, 148 hin. 37 Sog. „Filterfunktion“, vgl. Art. 23–2 Abs. 1 Ziff. 2 des Gesetzes Nr. 2009–1523 v. 10.12.2009 zu den Bedingungen für die Weiterleitung an den Conseil constitutionnel: „Elle [sc. la loi] n’a pas déjà été déclarée conforme à la Constitution dans les motifs et le dispositif d’une décision du Conseil constitutionnel, sauf changement des circonstances“, dazu Toulemonde/Thumerel/Galati, Les juridictions suprêmes renforcées dans leur office de Cour suprême, in: Cartier (Hrsg.) La QPC, le procès et ses juges. L’impact sur le procès et l’architecture juridictionnelle (2013) 283–302. Die QPC der Cour de cassation sind auf der Internetseite des Gerichts abrufbar: . 38 Vgl. Art. 61–1 Const.: (1) Lorsque, à l’occasion d’une instance en cours devant une juridiction, il est soutenu qu’une disposition législative porte atteinte aux droits et libertés que la Constitution garantit, le Conseil constitutionnel peut être saisi de cette question sur renvoi du Conseil d’État ou de la Cour de cassation qui se prononce dans un délai déterminé.“ Babusiaux
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3. Methoden der Rechtsanwendung und die Rolle der Gerichte 9 Die französische Methodendiskussion war lange von der ebenfalls auf die Französi-
sche Revolution zurückzuführende Vorstellung der richterlichen Funktion als „Mund des Gesetzes“ (bouche de la loi) gekennzeichnet.39 In dieser Sicht ist die Rechtsprechung streng gesetzesgebunden und beschränkt sich auf das Aussprechen der im Gesetz vorgesehenen Rechtsfolge. Dieser formalistischen Logik entsprach auch die Begründungspraxis von Cour de cassation40 und Conseil d’État.41 Bis vor kurzem (vgl. Rn. 14–15) begründeten beide Gerichte ihre Urteile in einem einzigen Satz (jugement à phrase unique)42 und vermittelten damit den Eindruck einer streng logischen Deduktion aus dem Gesetz. Diese Übung kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide obersten Fachgerichte über einen großen Spielraum verfügen, wie er in weitreichenden richterlichen Rechtsschöpfungen (créations prétoriennes)43 und bisweilen überraschenden Rechtsprechungsänderungen (revirements de jurisprudence)44 sichtbar wird. 10 Die Methoden der Rechtsanwendung werden aus den in Art. 4 und Art. 5 C. civ. formulierten Grenzen richterlicher Macht abgeleitet:45 Einerseits verbietet Art. 4 C. civ. den Richtern, unter dem Vorwand des Schweigens, der Unklarheit oder Unvollständigkeit des Gesetzes eine Entscheidung zu verweigern,46 andererseits untersagt Art. 5 C. civ. den Gerichten, allgemeine Anordnungen (arrêts de règlements) zu erlassen, das heißt in den Bereich des Gesetzgebers hineinzuregieren.47 Positiv gewendet bedeuten
39 Zur Vorstellung der Rechtsprechung als „bouche de la loi“, vgl. Molfessis, Loi et jurisprudence, Pouvoirs 126 (2008) 87–100; Cour de cassation (Hrsg.), Le rôle normatif de la Cour de cassation (2018) 1522. 40 Die Entscheidungen der Cour de cassation werden traditionell mit „attendu que“ eingeleitet. 41 Die Entscheidungen des Conseil d’État werden traditionell mit „considérant que“ eingeleitet. 42 Deumier, Repenser la motivation des arrêts de la Cour de cassation (Vortrag vom 14. September 2015): ; vgl. zuletzt Weber, Der Begründungsstil von Conseil constitutionnel und Bundesverfassungsgericht. Eine vergleichende Analyse der Spruchpraxis, Tübingen 2019, 149–169 (zur Cour de cassation) und 192–218 (zum Conseil d’État). 43 Cour de cassation (Hrsg.), Le rôle normatif de la Cour de cassation (2018) 23–113. 44 Cour de cassation (Hrsg.), Le rôle normatif de la Cour de cassation (2018) 113–124. 45 Vgl. Cour de cassation (Hrsg.) Le rôle normatif de la Cour de cassation (2018) 10f. 46 Art. 4 C. civ.: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice“, dazu Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 361–363; Chevallier, L’interprétation des lois, in: Fauré/Koubi (Hrsg.), Le titre préliminaire du Code civil (2003) 125–141. 47 Art. 5 C. civ.: „Il est défendu aux juges de prononcer par voie de disposition générale et réglementaire sur les causes qui leur sont soumises.“, dazu Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 364–371. Babusiaux
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beide Vorgaben, dass der Richter auf erster Stufe das Gesetz auszulegen48 und nach Möglichkeit anzuwenden hat, auf zweiter Stufe aber auch ohne Gesetz zu einer Entscheidung kommen muss. Methodische Präzisierungen zu der zweiten Stufe der „freien“ Rechtsfindung stammen von François Gény, der Ende des 19. Jahrhunderts eine libre recherche scientifique, also eine „wissenschaftliche“ Entscheidungsfindung, propagierte.49 Sie sollte es den Gerichten insbesondere erlauben, einen überholten Gesetzestext neuen Gegebenheiten anzupassen und einen veralteten Gesetzeswortlaut zu aktualisieren.50 Etwas restriktiver bestimmt Art. 12 Abs. 1 Nouveau Code de procédure civile, dass die Gerichte nicht nur an das Gesetz, sondern an das „Recht“ gebunden sind, womit auch andere Rechtsquellen in die Entscheidungsfindung einfließen können.51 Eine Grenze der freien Rechtsfindung ist das Verbot des Judikats contra legem.52 11 Ein aktuelles Beispiel hierfür bildet die Ablehnung der Cour de cassation, ein drittes Geschlecht zur Eintragung zuzulassen. Unter Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber zwar die Möglichkeit eröffne, eine Geschlechtsänderung einzutragen,53 bewusst aber auf die Anerkennung eines dritten Geschlechts verzichtet habe, hielt sich die Cour de cassation für nicht befugt, eine entsprechende Eintragung zu erlauben:54 „Die Abwesenheit einer Definition oder einer Bezugnahme auf die Zweiteilung der Geschlechter (…) bedeutet freilich nicht, dass ex nihilo durch richterliche Rechtsfortbildung neue
48 Gemeint ist ein enges Verständnis im Sinne der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens (détermination du sens d’un texte), vgl. auch Rieg, in: L’interprétation par le juge des règles écrites, Travaux Association Henri Capitant XXIV (1978/79) 70. Vgl. Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 2, 74 f., dazu Frydman, Le sens des lois (2005) 488–490. Zum Mythos der école d’exégèse, der hier zu Unrecht gepflegt wird, vgl. Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (2. Aufl. 1995) 225–245. 49 Vgl. Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 2, 74–234; zum Fortwirken Génys vgl. Jamin, Francois Gény d’un siècle à l’autre, in: Jestaz/Thomasset/Vanderlinden (Hrsg.), François Gény, Mythe et réalité (2000) 25–28. Weder die Cour de cassation noch der Conseil d’État nehmen auf Gény Bezug, weshalb Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 607 betonen: „les tribunaux ont davantage consacré la méthode de l’interprétation déformante ou constructive, préconisée notamment par Saleilles.“ 50 Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 1, 222–226 ; Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 2, bes. 77–79, 93–113. Vgl. auch Carbonnier, Droit civil I (2004) 192–309. 51 Art. 12 Abs. 1 NCPC: „Der Richter entscheidet den Rechtsstreit in Übereinstimmung mit den Rechtsregeln, die auf ihn anwendbar sind“, dazu Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile. Droit interne et droit européen (3. Aufl. 2012) Rn. 507–510. 52 Ferrand, Cassation française et Révision allemande (1993) 317–333. 53 Das Gesetz Nr. 2016–1547 v. 18.11.2016 „de modernisation de la justice du XXIe siècle“, NOR: JUSX1515639L, ELI: , hat einen neuen Art. 61–5 C. civ. eingeführt. 54 Cass. civ. 1re 4.5.2017, Nr. 16–17.189, ECLI:FR:CCASS:2017:C100531.
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Kategorien geschaffen werden könnten: Es ist zwar Sache des Richters, auf Grundlage des bestehenden Rechts oder aufgrund dessen Verdrängung nach übergeordneten Prinzipien, die er deutlich heraushebt, zu entscheiden: Es steht dem Richter aber im Gegenzug nicht zu, neue rechtliche Personenkategorien zu erschaffen. Andernfalls würde er seine Befugnisse offenkundig überschreiten und gegen Artikel 34 der Verfassung verstoßen, wobei im Übrigen daran zu erinnern ist, dass ihm eine solche Befugnis auch nicht aus einem internationalen Vertrag und namentlich auch nicht aus der EMRK zukommt.“55 12 Aufgrund der Europäisierung der französischen Rechtsordnung hat die freie, nicht an das Gesetz gebundene Rechtsfindung an Bedeutung gewonnen. Da sie den Gerichten erlaubt, das französische Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht wie mit der EMRK zu prüfen, wird die Konventionalitätskontrolle als Befreiung des Richters von dem Gesetzeszentrismus (légicentrisme) angesehen.56 Auch die 2008 eingeführte konkrete Normenkontrolle (QPC) wird als Stärkung der richterlichen Funktion gegenüber dem Gesetzgeber gedeutet. Sie betreffe nicht nur den Verfassungsrat, sondern auch die Cour de cassation und den Conseil d’État in ihrer „Filter“Funktion für die Zulassung der QPC.57 Beide Entwicklungen, die es den Gerichten erlauben, das Gesetz an höherrangigem Recht zu prüfen, haben das Verständnis der richterlichen Funktion und damit der Methode der Rechtsanwendung grundlegend verändert.58 Seinen sichtbarsten Beleg findet dieser Paradigmenwechsel in der unlängst eingeleiteten Reform von Prüfungsmaßstab und Begründungspraxis der obersten Gerichte.
4. Der Prüfungsmaßstab der contrôle concret und der style direct 13 Anlass für die Veränderung der Prüfungs- und Begründungspraxis war die Be-
obachtung, dass die Gesetze gleichsam doppelt auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht geprüft werden, indem sie einerseits der Verfassung, andererseits den europäischen Vorgaben genügen müssen. Beide Vorgaben schließen einander nicht aus; vielmehr hat der Conseil constitutionnel ausdrücklich festgehalten, dass
55 So die Begründung des avocat général, Übersetzung von U.B., Original abrufbar unter: ; vgl. Cour de cassation, Le rôle normatif de la Cour de cassation (2018) 138 f. 56 Als Ursprung dieser Sichtweise gelten die conclusions des commissaire de gouvernement Patrick Frydman in der Sache Nicolo, vgl. Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 434. 57 Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 287. 58 Deumier, Contrôle concret de conventionnalité: l’esprit et la méthode, RTDciv. 2016, 578–585, 581 spricht von einem doublon un peu superflu du contrôle de conventionnalité.
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die Fachgerichte auch nach Einführung der QPC ermächtigt sind, Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht und der EMRK zu untersuchen.59 Die Komplementarität der beiden Prüfungsmaßstäbe begründet er dabei nicht nur institutionell, sondern auch aus einem Wesensunterschied der Kontrollbefugnisse: Während die dem Verfassungsrat vorbehaltene Prüfung der Verfassungsmäßigkeit die Kompetenz einschließe, das verfassungswidrige Gesetz mit Wirkung erga omnes aufzuheben, beschränke sich die Konventionalitätskontrolle darauf, das Gesetz inter partes außer Acht zu lassen.60 Diese unterschiedlichen Rechtsfolgen finden ihren Widerhall auf Ebene des Prüfungsmaßstabs. Im Gegensatz zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, die in abstracto erfolgt, fragt die Konventionalitätskontrolle, ob die Anwendung des Gesetzes in concreto zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in Garantien der EMRK oder in durch das Unionsrecht vermittelte Positionen führt.61 Die Notwendigkeit einer Prüfung im Einzelfall zeitigt Konsequenzen für die Kontrollbefugnis der obersten Fachgerichte: Da diese berufen sind, die gleichmäßige Anwendung des Rechts innerhalb des jeweiligen Gerichtszweiges zu garantieren, sind sie auch gehalten, ihren Prüfungsmaßstab den Eigenschaften des jeweiligen Rechts anzupassen. Sofern mithin die EMRK oder das Unionsrecht betroffen sind, kann sich aufgrund der Eigenheiten dieser beiden Rechtsquellen die Kontrolle der untergerichtlichen Entscheidungen nicht darauf beschränken, deren Gesetzmäßigkeit zu prüfen;62 vielmehr ist zu untersuchen, ob die Entscheidung mit Blick auf die beiden europäischen Verträge den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt.63 Diese Kontrolle der Verhältnismäßigkeit (contrôle de proportionnalité) setzt den Einbezug der Tatsachen voraus und eine Analyse der Rechtsfolgen im Einzel-
59 Vgl. Cons. const., déc. Nr. 2009–595 DC v. 3.12.2009, Loi organique à l’application de l’article 61–1 de la Constitution, ECLI:FR:CC:2009:2009.595.DC, Rn. 14; dazu Rémy, Pouvoirs 107 (2003/2004) 39f.; allgemein Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, in: Rép. comm. IV. Rapprochement des législations à Union européenne (Traité de Nice), Sept. 2014 Rn. 83. 60 Es gibt einige Überschneidungen und ungeklärte Fragen hinsichtlich der Abgrenzung der Kompetenzen, vor allem zwischen Conseil constitutionnel und Conseil d’État, vgl. Platon, Les interférences entre l’office du juge ordinaire et celui du Conseil constitutionnel: ‚malaise dans le contentieux constitutionnel‘, RFDA 2012, 639–649, bes. 641–643. 61 Es kann dennoch vorkommen, dass das französische Fachgericht sowohl dem Conseil constitutionnel als auch dem EuGH vorzulegen hat, vgl. Deumier, QPC et jeux d’interprétations, RTDciv. 2018, 615– 620. 62 Louvel, Pour exercer pleinement son office de Cour suprême, la Cour de cassation doit adapter ses modes de contrôle, JCP 2015, 1122, S. 1906–1912, ; eine umfassende Kritik bei Chénedé, Contre-révolution tranquille à la Cour de cassation?, D. 2016, 796–806, 798–801. 63 Es ist umstritten, ob diese neue Aufgabe mit den Vorgaben von Art. L.411–2 Abs. 2 des Code de l’organisation judiciaire zusammenpasst. Dieser stellt fest: „La Cour de cassation ne connaît pas du fond des affaires, sauf disposition législative contraire.“ Babusiaux
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fall, das heißt von Elementen, die bisher nicht in der Kassationsinstanz untersucht werden konnten.64 14 Einen veränderten Prüfungsmaßstab hat die Cour de cassation bisher vor allem mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK angewendet.65 Als Dammbruch66 gilt die Entscheidung vom 4. Dezember 2013,67 mit der das Gericht festhielt, die gerichtliche Feststellung der Nichtigkeit einer Ehe zwischen Schwiegertochter und Schwiegervater nach Art. 161 C. civ.,68 habe die „Qualität eines ungerechtfertigten Eingriffs in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, da die ohne Einspruch zustande gekommene Verbindung mehr als zwanzig Jahre gedauert“ habe.69 Dies bedeutet: Obgleich das Eheverbot des Art. 161 C. civ. generell in Kraft bleibt, darf es im konkreten Fall nicht angewendet werden, weil seine Anwendung aufgrund der Umstände das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. Entsprechend wurde die entgegenstehende Entscheidung der Cour d’appel mit dem Kassationsvermerk (visa) von Art. 8 Abs. 1 EMRK aufgehoben.70 Der Präsident der Cour de cassation, Bernard Louvel, rechtfertigte die viel beachtete Neuerung aus den Anforderungen der Konventionalitätskontrolle und der Verantwortung des Kassationshofes für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Verstärkend verwies er auf ein Souveränitätsargument: Verzichte die Cour de cassation auf die Prüfung in concreto, gebe sie ihren Status als letzte Instanz im Inland preis und überlasse den Grundrechtsschutz den beiden europäischen Gerichten (EGMR und EuGH).71
64 Zu den bis hierher gültigen Schranken der Kassationskontrolle, vgl. Ferrand, Cassation française et Révision allemande (1993) bes. 105–108, 120–122. 65 Andere Fälle von Art. 8 Abs. 1 EMRK betreffen die Räumungsklage, vgl. Cass. civ. 3ème 22.10.2015, Nr. 14–11.776, ECLI:FR:CCASS:2015:C301109; Cass. civ. 3ème 17.12.2015, Nr. 14–22.095, ECLI:FR:CCA SS:2015:C301406. 66 Zu Vorläufern und Tendenzen in diese Richtung vor 2013, vgl. Urvoas, L’aggiornamento nécessaire de la Cour de cassation, D. 2018, 1087–1095, 1093 f. Spektakulär zuletzt Cass. civ. 1re 18.12.2019, Nr. 18– 11.815, ECLI:FR:CCASS:2019:C101111 und Nr. 18–12.327, ECLI:FR:CCASS:2019:C101112 zur Anerkennung von Kindern aus Leih- oder Ersatzmutterschaften, dazu Schlürmann, Steter Tropfen höhlt den Stein – Neues zur Anerkennung ausländischer Leihmutterschaften in Frankreich, ZEuP 2020, 691–706. 67 Cass. civ. 1re 4.12.2013, Nr. 12–26066, ECLI:FR:CCASS:2013:C101389; Bull. civ. 2013, Nr. 234; zur Kommentierung, vgl. Lamarche, Empêchement à mariage entre alliés et nullité: sentimentalisme ou pragmatisme de la Cour de cassation, JCP 2014, 93, S. 139 f. 68 Art. 161 C. civ. lautet: „En ligne directe, le mariage est prohibé entre tous les ascendants et descendants et les alliés dans la même ligne.“ 69 „le caractère d’une ingérence injustifiée dans l’exercice de son droit au respect de sa vie privée et familiale dès lors que l’union, célébrée sans opposition, avait duré plus de vingt ans“. 70 Zu dieser Konstitutionalisierung des Code civil, vgl. Canas, L’influence de la fondamentalisation du droit au respect de la vie privée sur la mise en oeuvre de l’article 9 du code civil, Nouveaux Cahiers du Conseil constitutionnel Nr. 48 (2015) 47–58, vgl. auch . 71 Gleichsinnig Fulchiron, Flexibilité de la règle, souplesse du droit, D. 2016, 1376f., 1377; aus Sicht des EGMR stellt dies ein Problem der Subsidiarität dar.
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Der Conseil d’État ist dem Vorbild der Cour de cassation in der Entscheidung 15 Gonzalez-Gomez im Jahre 2016 gefolgt.72 Zur Frage stand, ob die Weigerung der französischen Behörden, einer spanischen Staatsangehörigen die Gameten ihres verstorbenen Mannes für eine posthume Insemination zur Verfügung zu stellen, gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK verstoße. Der Conseil d’État kam zum Schluss, die Untersagung einer künstlichen Befruchtung post mortem sei als solche nicht menschenrechtswidrig. Im konkreten Fall aber verletze die Weigerung des Gametentransfers die Garantie des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Maßgeblich für diese Wertung waren Tatsachenelemente. Hierzu gehörte namentlich, dass das Paar bereits vor dem Tod des Mannes einen Reproduktionsversuch unternommen hatte, und dass das spanische Recht eine künstliche Befruchtung bis zu 12 Monate nach dem Tod des Ehemanns erlaubt.73 Zudem hob das Gericht hervor, dass die Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Spanien gerade nicht zu dem Zweck erfolgt sei, das französische Verbot zu umgehen. In dieser Entscheidung ging der Conseil d’État mithin auf die Umstände des konkreten Falls ein und prüfte die Bewertung dieser Tatsachen durch das Untergericht. Das Gericht folgte damit der rapporteur public, die forderte, sich an die Methoden des EGMR anzulehnen und (dadurch) den Schutz der EMRK zu stärken.74 Aus Sicht der französischen Tradition bedeutet das Urteil den Abschied von der reinen Legalitätskontrolle: Auch der Conseil d’État ist fortan bereit, die Anwendung des Rechts im Einzelfall auf seine Konformität mit der EMRK und dem Unionsrecht zu überprüfen. Der neue Prüfungsmaßstab hat Folgen für die Begründungspraxis der obersten 16 Gerichte: Nach dem Vorbild des Conseil constitutionnel75 haben sich sowohl die Cour de cassation als auch der Conseil d‘État entschieden, rechtsfortbildende Urteile im „direkten Stil“ (style direct) zu verfassen und insoweit das jugement à phrase unique aufzugeben. Der „direkte Stil“ zeichnet sich dadurch aus, dass die Entscheidungsgründe dargelegt und mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung erläutert werden.76
72 C. E. Ass. 31.5.2016, Gonzalez Gomez, Nr. 396848, ECLI:FR:CEASS:2016:396848.20160531, dazu Devolvé, Note, RFDA 2016, 754–760; auch Deumier, RTDciv. 2016, 578–579; Girard, Le contrôle concret de conventionnalité de la loi enfin admis par le juge administratif des référés. Note sous CE Ass., 31 mai 2016, Gonzalez Gomez, n° 396848, RGD on line 2016, Nr. 24295 . 73 Die Entscheidung ist auch deshalb von Bedeutung, weil der Conseil d’État erstmalig die Überprüfung des Gesetzes anhand der EMRK im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zulässt. 74 Bretonneau, Conclusions sur Conseil d’État, assemblée, 31 mai 2016, Mme Gonzalez-Gomez, n° 396848, RFDA 2016, 740–753. 75 Der Conseil constitutionnel hat durch zwei Entscheidungen vom 10. Mai 2016 den neuen Stil eingeführt, vgl. Mélin-Soucramanien/Pactet, Droit constitutionnel, (36. Aufl. 2018) Rn. 1492. Zur Diskussion, vgl. Belloubet, La motivation des décisions du Conseil constitutionnel: justifier et réformer. 76 Ein Beispiel ist die Rechtsprechungsänderung durch Cass. mixte 24.2.2017; vgl. ; zur Frage vgl. auch Deumier, Motivation enrichie: bilan et perspectives, D. 2017, 1783–1786. 77 Deumier, D. 2017, 1786. 78 Grundlage für die Praxisänderung des Conseil d’État ist der Bericht einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Präsidenten Philippe Martin vom Mai 2012, vgl. . Zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, vgl. , wo sich auch eine Anleitung zur Abfassung der Entscheidungen befindet. 79 Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 375. 80 Grundlage für die Praxisänderung bei der Cour de cassation ist der Bericht einer Kommission unter Leitung des président de chambre Jean-Paul Jean vom April 2017, vgl. . Zur Diskussion in der Wissenschaft, vgl. Supplément La Semaine Juridique (JCP) édition générale 11 janvier 2016, Regards d’universitaires sur la réforme de la Cour de cassation. Actes de la Conférence débat 24 novembre 2015. 81 Bericht zur „Remise du rapport sur les méthodes de travail à Mme la première présidente de la Cour de cassation“ vom 17. Juli 2020, vgl. , dazu Ferrand, La révision de ses processus internes par la Cour de cassation. A propos du rapport du groupe de travail ‘Méthodes de travail de la Cour de cassation’ (juin 2020), JCP 2020, 1027, S. 1618–1622. Noch offen sind die Fragen der Begrenzung des Zugangs zum Gericht, die nur durch den Gesetzgeber entschieden werden können. 82 Vgl. : „Seront ainsi instaurés trois circuits différenciés de traitement des pourvois dans l’objectif d’ajuster les moyens employés pour résoudre le litige en fonction du degré de complexité qu’il présente et Babusiaux
III. Unionsrecht und nationales (französisches) Recht
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Zugang zur französischen Rechtsprechung und damit den justiziellen Dialog in Europa zu erleichtern.83 Das Echo in der französischen Literatur auf diese Praxisänderung ist vielstimmig: 17 Während manche Kommentatoren betonen, die Cour de cassation nehme endlich vollwertig die Rolle eines Gerichtes wahr84 und die Änderung in einer Kontinuitätslinie zur „freien wissenschaftlichen Rechtsfindung“ im Sinne von Gény (vgl. Rn. 10) sehen,85 gibt es auch warnende Stimmen: Sie kritisieren die drohende Subjektivierung der Rechtsfindung86 und fürchten, dass die Ausweitung der Anwendungskontrolle zu Rechtsunsicherheit führe. Nach ihrer Meinung bedürfte eine derartige Reform einer stärkeren Einhegung, um reine Billigkeitsentscheidungen zu vermeiden.87 Wieder andere sehen in der auf den Einzelfall ausgerichteten Kontrolle eine Gefahr für die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung, die Cour de cassation und Conseil d’État zu überwachen hätten.88
III. Unionsrecht und nationales (französisches) Recht Nach der Verfassung der Fünften Republik (vgl. Rn. 3–4) sind völkerrechtliche Verträ- 18 ge hierarchisch zwischen Verfassung und Gesetz eingeordnet. Dieser Platz kommt auch dem Unionsrecht zu, das als Folge eines völkerrechtlichen Vertrages angesehen wird. Die Kontrolle des französischen Gesetzes an völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Normen wird als Konventionalitätskontrolle bezeichnet und erfasst vor allem auch die EMRK, die in Frankreich – wie gesehen (vgl. Rn. 3) – im Rang über dem
de réserver l’expression de la Cour de cassation, par des arrêts motivés en style direct, aux décisions présentant un apport normatif.“ (vgl. ). 83 Vgl. Deumier, D. 2017, 1785 f. 84 Zénati-Castaing, La juridictionnalisation de Cour de cassation, RTDciv. 2016, 511–530; Urvoas, L’aggiornamento nécessaire de la Cour de cassation, D. 2018, 1087–1095, 1094; wichtig auch der Hinweis von Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 375, die den Gehalt einer auf die Autorität gegründeten Entscheidung und einer aufgrund von Überzeugungsargumenten gegründeten Entscheidung hervorheben. 85 Zur Hierarchisierung der Rechtsquellen, vgl. Gautier, Contre la ‚balance d’intérêts‘: hierarchie des droits fondamentaux, D. 2015, 2189f., 2190; Fulchiron, Flexibilité de la règle, souplesse du droit, D. 2016, 1376 f. 86 Vgl. auch Chénedé, D. 2016, 799 f. „… le juge est ainsi amené à juger de la légitimité de l’arbitrage opéré par le législateur, et, le cas échéant, à faire prévaloir son appréciation personnelle du conflit d’intérêts en présence.“ 87 Deumier, RTDciv. 2016, 585; Chénedé, D. 2016, 803: „La généralisation d’un tel contrôle de proportionnalité marquerait effectivement la fin de l’État de droit.“ 88 Chénedé, D. 2016, 801 f.
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Gesetz steht.89 Die Modalitäten dieser Kontrolle hat die Cour de cassation für die ordentlichen Gerichte und der Conseil d’État für die Verwaltungsgerichtsbarkeit näher ausgestaltet. Vor allem seit Einführung der QPC ist auch das Verhältnis von Unionsrechts und Verfassungsrecht in den Blick gerückt. Die hierfür notwendigen Abstimmungsoperationen haben vor allem Conseil constitutionnel und Conseil d’État entwickelt.
1. Allgemeines Verhältnis zum Völkerrecht 90 19 Trotz der scheinbar klaren monistischen Konzeption der Art. 53–55 Const. hat es un-
ter der Verfassung der Fünften Republik fast zwanzig Jahre gedauert, bis die Gerichte bereit waren, den Vorrang völkerrechtlicher Verträge gegenüber dem Gesetz durchzusetzen.91 Grund für die Zurückhaltung der Cour de cassation wie des Conseil d’État war die traditionell strenge Konzeption der Gewaltenteilung. Sie betraf einerseits das Verhältnis von Judikative und Exekutive: Aufgrund einer auf die Zeit Napoleons III. zurückgehenden Theorie des „Regierungsaktes“ (acte de gouvernement)92 erklärten sich die Gerichte für nicht befugt, völkerrechtliche Verträge auszulegen. Zudem hielten sie sich für außerstande die Ratifikation und die Einschätzung der Reziprozität zu überprüfen, da die diplomatischen Beziehungen der Verwaltung vorbehalten seien. Eine strikte Gewaltenteilung galt auch im Verhältnis zur Legislative: Aufgrund der seit der Französischen Revolution wirksamen Vorstellung, es sei den Gerichten untersagt, das Gesetz zu rügen oder zu missachten (ni censurer, ni méconnaître la loi),93 galt Art. 55 Const. nicht als Befugnisnorm für die Gerichte, sondern als nicht justiziable Vorgabe für den Gesetzgeber. Diese Lehre wird als „Theorie vom Gesetzesschirm“
89 Für die EMRK und das Unionsrecht bedarf es keiner Prüfung der réciprocité, weil beide Verträge eine eigene Gerichtsbarkeit eingeführt haben, die die Anwendung des Vertrages in den Vertragsstaaten überwacht, vgl. Dupendant, GAJDIP (2015) Nr. 9, Rn. 23. 90 Zur monistischen Tradition, vgl. Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 296f.; Dupuy/Kerbrat, Droit international public (14. Aufl. 2018) Rn. 430 und Rn. 441–443. 91 Ein Überblick in: Conseil d’État (Hrsg.), Droits et Débats (2016) 67–100. 92 Die Theorie besagt, dass ihrer Natur nach politische Entscheidungen nicht gerichtlich überprüft werden können. Sie beruht auf einer Lehre aus der Restauration, vgl. C. E. 19.2.1875, Prince Napoléon, Nr. 46707, , dazu Danic, GAJDIP (2015) Nr. 3, Rn. 5–9. Diese Theorie ist bis heute wirksam, vgl. Girard, Les ‚actes de Gouvernement‘ demeurent insusceptibles de tout recours juridictionnel en France, Note sous TC, 6 juillet 2015, K. et autres, n° C 03995, RGD on line, 2015, Nr. 22851, . 93 Diese Auffassung kam für die ordentlichen Gerichte in der sog. „doctrine Matter“ (nach Paul Matter 1865–1938) für die Verwaltungsgerichte in der Rechtsprechung „des semoules“ zum Ausdruck (C. E. sect. 1.3.1968, Syndicat général des fabricants de semoule, ECLI:FR:CESJS:1968:62814.19680301), vgl. Terré/Molfessis, Introduction générale au droit (11. Aufl. 2019) Rn. 429. Babusiaux
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(théorie de la loi-écran) bezeichnet und steht der gerichtlichen Infragestellung des Gesetzes entgegen.94 Erst 1975 brach die Cour de cassation mit dieser Tradition. In der auch für das 20 Unionsrecht (vgl. Rn. 24) maßgeblichen Entscheidung Café Jacques Vabre95 erklärte sie sich für zuständig, das französische Zollgesetz auf seine Übereinstimmung mit den Römischen Verträgen zu prüfen und bei einem Verstoß auch dessen Anwendung in Frage zu stellen. Die Cour de cassation folgte damit zum einen der vom EuGH begründeten Auffassung, die europäischen Verträge hätten eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar sei und Vorrang vor dem nationalen Recht genieße.96 Zum andern hatte kurz zuvor der Conseil constitutionnel den Weg zu einer Neudeutung von Art. 55 Const. eröffnet: In einer viel beachteten Entscheidung aus dem Jahre 1974 hatte er festgehalten, dass sich die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nicht nach Art. 55 Const. beurteile, weshalb er sich weigerte, das Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch auf seine Konformität mit der EMRK zu untersuchen.97 Diese Unzuständigkeitserklärung des Verfassungshofes deuteten französische Kommentatoren als Signal an die Fachgerichte, sich der Kontrolle nach Art. 55 Const. anzunehmen und die Völkerrechtskonformität von Gesetzen zu überprüfen. Die Cour de cassation hat das Signal offensichtlich sofort empfangen und umgesetzt. Offenbleiben musste 1975 allerdings noch die Frage, ob das Gericht auch zur Prüfung der Ratifikation und der Reziprozität des Vertrages berufen sei, da die Cour de cassation insoweit schlicht der Rechtsprechung des für die Römischen Verträge zuständigen Gerichts, dem EuGH, folgte. Erst 2001 ergab sich die Gelegenheit, Art. 55 Const. vollständig der Kontrolle der ordentlichen Gerichte zu unterstellen.98
94 Diese Theorie hat ihre Grundlage im Gesetz zur Gerichtsorganisation von 1790. Die Loi du 16–24 août 1790 sur l'organisation judiciaire; bestimmt in Art. 10: „Les tribunaux ne pourront prendre directement ou indirectement aucune part à l’exercice du pouvoir législatif, ni empêcher ou suspendre l’exécution des décrets du Corps législatif, sanctionnés par le Roi, à peine de forfaiture“, und Art. 12 lautet: Ils ne pourront point faire de règlements, mais ils s’adresseront au corps législatif toutes les fois qu’ils croiront nécessaire, soit d’interpréter une loi, soit d’en faire une nouvelle“; die Vorschrift gilt bis heute (28. August 2020). 95 Cass. mixte 24.5.1975, Cafés Jacques Vabre, Nr. 73–13.556, ; Kommentar bei Dupendant, GAJDIP (2015) Nr. 9, Rn. 82–96. 96 EuGH v. 15.7.1965 – Rs. C-6/64 Costa / ENEL, EU:C:1964:66; zu betonen ist, dass die Entscheidung der Cour de cassation noch vor dem Urteil EuGH v. 9.3.1978 – Rs. C-106/77 Simmenthal, EU:C:1978:49 erging. 97 Cons. const., déc. Nr. 74–54 DC v. 15.1.1974, Loi relative à l’interruption volontaire de la grossesse (IVG), ECLI:FR:CC:1975:74.54.DC, (mit deutscher Übersetzung der Entscheidung). 98 Cass. civ. 1re 29.5.2001, Agence pour la sécurité de la navigation aérienne en Afrique et à Madagascar, Nr. 99–16.673, . Babusiaux
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Größere Zurückhaltung gegenüber der Justiziabilität von Art. 55 Const. zeigt die Rechtsprechung des Conseil d’État.99 Erst in der im Jahre 1989 ergangenen Entscheidung Nicolo erkannt er sich für zuständig, die Völkerrechtskonformität eines französischen Gesetzes zu überprüfen und ein völkerrechts- bzw. gemeinschaftsrechtswidriges Gesetz unangewendet zu lassen.100 Anlass dieser Entscheidung war erneut das europäische Gemeinschaftsrecht, wenngleich der Conseil d’État sich weigerte, dessen Besonderheiten anzuerkennen und allein auf Art. 55 Const. rekurrierte. Nach diesem ersten Schritt101 folgte bereits ein Jahr später die Entscheidung GISTI, mit der sich der Conseil d’État für kompetent erklärte, völkerrechtliche Verträge zu interpretieren; 1998 eignete er sich die Befugnis an, auch die Ratifikation des völkerrechtlichen Vertrages zu überprüfen;102 2010 erfolgte sodann die Ausweitung der justiziellen Kontrolle auf die Reziprozität des völkerrechtlichen Vertrages.103 Als ein weiterer Meilenstein wird schließlich die Entscheidung Kandyrine von 2011 angesehen, mit der sich der Conseil d’État für zuständig erklärte, auch die Anwendung eines internationalen Vertrages kontrollieren zu können.104 Hierzu gehöre auch, einen Widerspruch zwischen zwei internationalen Verträgen durch harmonisierende Auslegung zu beseitigen.105 Sei ein Ausgleich zwischen beiden Verträgen nicht möglich, komme der Vertrag zur Anwendung, den die Verwaltung im konkreten Fall anwenden wollte. 22 Vorrang gegenüber dem Völkerrecht genießt nach der Rechtsprechung beider obersten Fachgerichte die Verfassung, wobei zu beachten ist, dass hierunter auch gewisse verfassungsergänzende Gesetze (lois organiques) und Referendumsgesetze (lois référendaires) fallen.106 Dieser Vorrang wird dadurch gewahrt, dass der Conseil consti-
99 Der Conseil d‘État erkannte sich traditionell für kompetent, das Vorliegen eines Ratifikationsgesetzes zu prüfen, vgl. C. E. sect. 13.7.1956, Villa, Nr. 37656, . 100 C. E. Ass. 20.10.1989, Nicolo, Nr. 108243, ; dazu Kommentar von Pellet, GAJDIP (2015) Nr. 16. 101 Diese Einschätzung findet ihren Ausdruck im Dossier: Les 30 ans de l’arrêt Nicolo, AJDA 2019, 2096–2128. Zur Frage des Völkerrechts, vgl. Lachaume, De l’article 55 de la Constitution à Nicolo en passant par les Semoules, AJDA 2019, 2097–2103. 102 C. E. Ass. 18.12.1998, SARL Parc d’activité de Blotzheim, Nr. 181249, . 103 C. E. Ass. 9.7.2010, Mme Cheriet-Benseghir, Nr. 317747, ECLI:FR:CEASS:2010:317747.20100709, dazu Soussan, GAJDIP (2015) Nr. 48. 104 C. E. Ass. 23.12.2011, Kandyrine de Brito Paiva, Nr. 303678, ECLI:FR:CEASS:2011:303678.20111223, dazu Kommentar von Pellet, GAJDIP (2015) Nr. 54; seitdem C. E. Ass. 19.7.2019, Association des Américains accidentiels, Nr. 424216, ECLI:FR:CEASS:2019:424216.20190719. 105 Dies schließt eine Wertung der verschiedenen betroffenen Interessen nach ihrem Gewicht und Stellenwert nicht aus, sondern ein. Dabei sind vor allem die grundrechtlichen Belange und verfassungsrechtlichen Prinzipien vorrangig zu berücksichtigen, vgl. Pellet, GAJDIP (2015) Nr. 54, Rn. 32. 106 Zur Einordnung der lois organiques als „materiellem Verfassungsrecht“, vgl. Cass. Ass. 2.6.2000, Fraisse, Nr. 99–60.274, ; einige französische Kommentatoren sehen hierin eine Korrektur der monistischen Konzeption im Sinne des DualisBabusiaux
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tutionnel nach Art. 54 Const. auf Antrag des Präsidenten der Republik, des Premierministers, eines Präsidenten der beiden Parlamentskammern oder einer Gruppe von 60 Parlamentariern der Nationalversammlung oder des Senats107 vor Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages prüfen kann, ob der zu ratifizierende Vertrag verfassungskonform ist.108 Stellt der Conseil constitutionnel die Inkompatibilität des Vertrages mit der Verfassung fest, ist letztere anzupassen. Ist der Vertrag – unabhängig davon, ob mit oder ohne Anrufung des Conseil constitutionnel – einmal ratifiziert, kann er nachträglich nicht mehr auf seine Verfassungskonformität überprüft werden. Dieses Prüfungsverbot gilt nicht nur für den Conseil constitutionnel, sondern bindet auch die Fachgerichte, namentlich die Cour de cassation und den Conseil d’État.
2. Verhältnis zum Unionsrecht Das Unionsrecht ist seit dem Vertrag von Maastricht109 in einem eigenen Verfassungs- 23 abschnitt „de l’Union européenne“110 geregelt, der aus den Art. 88–1 bis 88–7 Const. besteht. Einerseits wird die Übertragung von Hoheitsrechten geregelt, andererseits die Mitwirkung der beiden Parlamentskammern (Nationalversammlung und Senat) an der europäischen Rechtssetzung. Art. 88–1 Const. hält allgemein fest, dass Frankreich an der Union mitwirkt und im Rahmen dieser Mitwirkung auch Befugnisse auf diese überträgt, während Art. 88–2 Const. spezifischer die Ermächtigung zum Erlass von Vorschriften zum europäischen Haftbefehl erteilt. Art. 88–3 Const., der das Wahlrecht von Unionsbürgern im Rahmen von Kommunalwahlen vorsieht, und Art. 88–5 Const., der die Ratifizierung weiterer Beitrittsverträge im Grundsatz dem Referendum unterwirft, betreffen die Übertragung von Hoheitsrechten in zentralen Bereichen der nationalen Souveränität. Für das Verhältnis von Parlament und Regierung sieht Art. 88–4 Const. eine Vorlagepflicht der Regierung gegenüber Nationalversammlung und Senat
mus, vgl. Forteau, GAJDIP (2015) Nr. 28, Rn. 7. Zu den lois référendaires, vgl. Mélin-Soucramanien/ Pactet, Droit constitutionnel (36. Aufl. 2018) Rn. 1147. 107 Die Möglichkeit, als Minderheit einen Antrag zu stellen wurde erst 1992 eingeführt, vgl. MélinSoucramanien/Pactet, Droit constitutionnel (36. Aufl. 2018) Rn. 1640. 108 Art. 54 Const. (in der Fassung seit 25. Juni 1992): „Si le Conseil constitutionnel, saisi par le Président de la République, par le Premier ministre, par le président de l'une ou l'autre assemblée ou par soixante députés ou soixante sénateurs, a déclaré qu'un engagement international comporte une clause contraire à la Constitution, l'autorisation de ratifier ou d'approuver l'engagement international en cause ne peut intervenir qu'après la révision de la Constitution.“ Zu beachten ist, dass nicht alle völkerrechtlichen Verträge dieser Kontrolle unterliegen, sondern nur diejenigen, die durch Gesetz ratifiziert werden müssen, vgl. auch Mélin-Soucramanien/Pactet, Droit constitutionnel (36. Aufl. 2018) Rn. 1642f., die von einer unzureichenden Kontrolle der Exekutive in diesem Bereich sprechen. 109 Verfassungsgesetz Nr. 92–554 vom 25.6.1992, NOR: JUSX9200072L. 110 Die Umstellung auf die Union erfolgte durch das Verfassungsgesetz Nr. 2008–103 vom 4.2.2008 anlässlich der Ratifikation des Vertrags von Lissabon, NOR: JUSX0773810L. Babusiaux
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vor. Die Pflicht betrifft die Entwürfe europäischer Rechtsakte. Beiden Parlamentskammern wird die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt. Weitergehend erteilt Art. 88–6 Const. beiden Kammern die Befugnis, den Entwurf eines europäischen Rechtsaktes beim EuGH mit dem Hinweis zu rügen, das Subsidiaritätsprinzip sei verletzt. Art. 88–7 Const. erlaubt den Kammern schließlich, sich gemeinsam einer Änderung der Regeln für den Erlass von Rechtsakten der Europäischen Union zu widersetzen. 24 Da der neue Verfassungsabschnitt erst seit 1992 existiert, haben die französischen Gerichte die Integration des Unionsrechts (damals Gemeinschaftsrecht) in die französische Rechtsordnung ursprünglich nach den allgemeinen Normen für das Völkerrecht, das heißt Art. 53–55 Const., beurteilt (vgl. Rn. 19–21). Die Unterschiede zwischen Cour de cassation und Conseil d’État hinsichtlich des Völkerrechts gelten damit auch für das Unionsrecht: Während die Cour de cassation seit der Entscheidung Café Jacques Vabre nicht nur den Vorrang des Unionsrechts vor dem französischen Gesetzesrecht akzeptiert,111 sondern dem primären und sekundären Unionsrecht auch sonst alle Wirkungen zuerkennt, die der EuGH ihm zuschreibt, hat der Conseil d’État erst im Entscheid Nicolo von 1989 (vgl. Rn. 21) den Vorrang des Unionsrechts zugestanden. Auch wenn heute die Interpretationshoheit des EuGH für das Unionsrecht sowie die Eigenständigkeit des Unionsrechts allgemein anerkannt sind,112 ist ein Blick in die Entwicklung der Rechtsprechung des Conseil d‘État hilfreich, um die methodischen Vorgaben und das kompetenzrechtliche Verständnis der unionsrechtlichen Methodendiskussion zu erhellen. 25 Zwar hatte der Conseil d’État schon in der Entscheidung Boisdet 1990 festgehalten,113 dass der französische Verordnungsgeber verpflichtet sei, eine gegen EURechtsverordnung verstoßende Verordnung aufzuheben.114 Zur Begründung berief
111 Im Jahre 2019 hat die Cour de cassation diese Rechtsprechung dahingehend ergänzt, dass die fehlende Kompatibilität eines französischen Gesetzes mit der EMRK oder dem Unionsrecht auch bei der saisine pour avis überprüft werden kann, Cass. plén. Avis 17.7.2019, Nr. 19-70010/11, ECLI:FR: CCASS:2019:AV15012. 112 Cass. com. 10.12.1985, Roquette, Nr. 83–12.043, ; C. E. Ass. 23.12.2011, Kandyrine de Brito Paiva, Nr. 303678, ECLI:FR:CEASS:2011:30 3678.20111223; C. E. Ass. 11.12.2006, Société de Groot en Slot Allium, BV et Société Bejo Zaden BV, Nr. 234560, , dazu Kommentar von Bergé, GAJDIP (2015) Nr. 38. Dies ist durchaus bemerkenswert, weil diese verbindliche Interpretation dem verbotenen arrêt de règlement durchaus nahekommt. 113 Zum Vorrang der EU-Verordnung, vgl. C. E. sous-sect. réunies 24.9.1990, Boisdet, Nr. 58657, ; dies gilt auch, wenn die Verordnung Grundlage eines Verwaltungsaktes ist, gegen den sich der Kläger richtet, vgl. C. E. sous-sect. réunies 8.7.1991, Palazzi, Nr. 95461, . 114 Vgl. bereits (zu einer Verordnung, die zur Umsetzung einer Richtlinie erlassen worden war): C. E. sous-sect. réunies 28.9.1984, Confédération nationale des sociétés de protection des animaux de France, Nr. 28467, . Babusiaux
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sich der Conseil d’État jedoch nicht auf die Besonderheiten des Unionsrechts, sondern auf Art. 55 Const., indem er das sekundäre Unionsrecht als Folge einer völkerrechtlichen Verpflichtung Frankreichs deutete.115 Diese völkerrechtliche Sicht des Gemeinschaftsrechts hatte zur Folge, dass der Conseil d‘État einer Richtlinie nur die Wirkungen zuerkannte, die sich aus dem Wortlaut des Primärrechts ergaben und die interpretativen Erweiterungen der Richtlinienwirkungen durch den EuGH explizit ablehnte. Den klarsten Ausdruck fand diese Haltung in der Entscheidung Cohn Bendit aus dem Jahre 1975:116 Unter Verweis auf den Wortlaut des damaligen Art. 189 EWG (= Art. 288 AEUV), kam der Conseil d’État zum Schluss, die nicht umgesetzte Richtlinie könne keine Wirkung im Innern entfalten. Daher könne sich auch ein Bürger gegenüber staatlichem Handeln nicht auf ihren Inhalt berufen.117 Voraussetzung für eine Wirkung der Richtlinie im Innern war nach dieser Vorstellung ein Umsetzungsgesetz, also der Wille des französischen Gesetzgebers, die Richtlinie in die französische Rechtsordnung aufzunehmen. In dieser modifizierten Weise hat der Conseil d‘État die traditionelle „Theorie vom Gesetzesschirm“ (vgl. Rn. 19) für die Richtlinie aufrechterhalten.118 Die Aufgabe der Rechtsprechung Cohn Bendit erfolgte in Etappen. Sie sind auch 26 für das Verständnis der französischen Methodendiskussion von Bedeutung, da sie die unterschiedlichen Wirkungsweisen der Richtlinie betreffen. Diese werden in Frankreich unter dem Stichwort der „Geltendmachung“ (invocabilité, wörtlich: „Berufbarkeit“) der Richtlinie diskutiert. Der Begriff beschreibt, ob die Richtlinie Teil der Normen ist, an denen sich das Verwaltungshandeln und/oder das Gesetz zu messen hat. Als schwächste Stufe der Geltendmachung gilt die Berücksichtigung im Rahmen der Auslegung (invocabilité d’interprétation) des Gesetzes oder der Rechtsverordnung.
115 Cons. const., déc. Nr. 77–90 DC v. 30.12.1977, Isoglucose, ECLI:FR:CC:1977:77.89.DC, dazu Breton, GAJDIP (2015) Nr. 18, Rn. 10. 116 C. E. Ass. 22.12.1978, Ministre de l’intérieur c/ Cohn-Bendit, Nr. 11604, ; ein Kommentar bei Barav, Remarques à propos de l’arrêt du Conseil d’Etat de France dans l’affaire Ministre de l’Intérieur c. Cohn-Bendit, Revue belge de droit international 1980, 126–148, abrufbar unter . 117 „Unter der Erwägung, (…) dass es eindeutig aus Art. 189 des Vertrages vom 25. März 1957 hervorgeht, dass die Richtlinien zwar die Mitgliedstaaten mit Blick auf das zu erreichende Ziel binden, und dass die nationalen Stellen gehalten sind, die Gesetzgebung und Regelung der Mitgliedstaaten an dieses Ziel anzupassen, das sie [die Richtlinien] definieren, bleiben die Stellen doch allein zuständig, um über die Art und Weise der Umsetzung der Richtlinien zu entscheiden und selbst unter der Kontrolle der nationalen Gerichte, über die geeigneten Mittel zu entscheiden, um diesen im internen Recht Wirksamkeit zu verschaffen. [Unter der Erwägung,], dass daher unabhängig davon, welche Bestimmungen die Richtlinie an die Adresse der Mitgliedstaaten enthalten, diese nicht von einem Angehörigen dieser Staaten im Rahmen einer Beschwerde gegen eine individuelle Verwaltungsentscheidung geltend gemacht werden können.“ (Übersetzung U.B.). 118 Breton, GAJDIP (2015) Nr. 18, Rn. 6. Babusiaux
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Auch diese setzt nach der traditionellen Sichtweise des Conseil d’État (vgl. Rn. 25) die direkte Anwendung der Richtlinie, das heißt einen Umsetzungsversuch des Gesetzgebers, voraus.119 Nur in diesem Rahmen erkannte das Gericht auch eine „Verdrängungswirkung“ (invocabilité d’éviction) einer Richtlinie an: So entschied der Conseil d‘État in Sachen SA Rothmans International France et SA Philip Morris France, das französische Umsetzungsgesetz zur Tabakrichtlinie sei insoweit außer Acht zu lassen, als es den Zielen der Richtlinie widerspreche.120 Auch in dieser Entscheidung argumentierte das Gericht nicht unions- sondern verfassungsrechtlich, indem es ausführte, der französische Gesetzgeber habe gegen Art. 55 Const. verstoßen, weil er die Umsetzungsverpflichtung aus Art. 288 AEUV missachtet habe.121 Auf gleicher Linie lag schließlich die Argumentation des Conseil d’État für die in der Entscheidung Société Arizona Tabacco Products et SA Philip Morris France anerkannte „Entschädigungswirkung“ (invocabilité de réparation), das heißt die Staatshaftung bei fehlerhafter Umsetzung.122 27 Den Schritt123 zur Anerkennung der Wirkung einer nicht umgesetzten Richtlinie im Innern vollzog der Conseil d’État erst mit Entscheid Mme Perreux im Jahre 2009. Er betraf einen Fall der Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes. Da der französische Gesetzgeber die Gleichberechtigungsrichtlinie trotz Ablauf der Umsetzungsfrist noch nicht umgesetzt hatte, berief sich die Klägerin direkt auf die in Art. 10 der Richtlinie vorgesehene Beweislastumkehr.124 Der Conseil d’État entschied, dass sich jeder
119 C. E. sect. 22.12.1989, Min. Finance c. Cercle militaire de la caserne Mortier, Nr. 86113, . 120 C. E. Ass. 28.2.1992, SA Rothmans International France et SA Philip Morris France, Nr. 56776 56777, ; dazu Kommentar von Breton, GAJDIP (2015) Nr. 18. Grundlage war die Entscheidung des EuGH v. 21.6.1983 – Rs. C-90/82 Kommission/Frankreich, EU:C:1983:169; EuGH v. 13.7.1988 – Rs. C-169/87 Kommission/Frankreich, EU:C:1988:393; vgl. C. E. sous-sect. réunies 10.1.2001, France Nature environnement, Nr. 217237, ; C. E. sous-sect. réunies 7.12.1984, Fédération française des sociétés de protection de la nature, Nr. 41974, . 121 Breton, GAJDIP (2015) Nr. 18, Rn. 10. 122 Gheza, Responsabilité de l’État pour mauvais transposition d’une directive communautaire, Commentaire sous CE Ass. 28 février 1992 requête numéro 87753 Société Arizona Tabacco Products et SA Philip Morris France, Rec. p. 78, RGD on line, 2008, Nr. 2022, . 123 Zwischenschritte waren u. a. die Anerkennung der Wirkung einer nicht umgesetzten Richtlinie gegenüber ungeschriebenen Regeln des französischen Rechts, vgl. C. E. Ass. 6.2.1998, Tête, Nr. 138777 147424 147425, , dazu auch Breton, GAJDIP (2015) Nr. 18, Rn. 15. 124 Richtlinie Nr. 2000/78/CE zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27. November 2000 (vgl. ).
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Rechtsunterworfene bei seiner Beschwerde gegen das staatliche Handeln auf die genauen und unbedingten Bestimmungen einer Richtlinie berufen könne,125 wenn die Umsetzungsfrist verstrichen sei.126 Mit der Entscheidung sind zwei neue Grundsätze anerkannt: zum einen die unmittelbare Wirkung einer nicht umgesetzten Richtlinie nach Verstreichen der Umsetzungsfrist; zum andern die „Ersetzungswirkung der Richtlinie“ (invocabilité de substitution de la directive). Somit kann die nicht umgesetzte Richtlinie, sofern ihre Bestimmungen genau bestimmt und unbedingt sind, zugunsten des Bürgers im Verhältnis zur öffentlichen Gewalt zur Anwendung kommen.127 Nach wie vor keine unmittelbare Wirkung hat die Richtlinie zwischen Privaten; zudem darf die „Ersetzungswirkung“ der Richtlinie nicht dazu verwendet werden, contra legem zu judizieren (vgl. Rn. 11). Die Rechtsprechungsänderung des Conseil d’État im Fall Mme Perreux aus dem 28 Jahr 2004 ist vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zu verstehen: In der Entscheidung Loi pour la confiance dans l’économie électronique interpretierte der Conseil constitutionnel Art. 88–1 Const. als Ausdruck einer alle staatlichen Stellen treffenden verfassungsrechtlichen Pflicht, die von der Union erlassenen Richtlinien in französisches Recht zu überführen.128 Aufgrund dieser Auslegung sieht sich der Conseil d’État mithin verfassungsrechtlich ermächtigt,129 die nicht umgesetzte Richtlinie als Prüfungsmaßstab des Gesetzes oder des Verwaltungshandelns heranzuziehen.
125 C. E. Ass. 30.10.2009, Mme Perreux, Nr. 298348, ECLI:FR:CCASS:2009:298348.20091030; zu Einzelheiten der Entscheidungen vgl. Bertrand, RFDA 2011, 367–376; ein Kommentar bei Breton, GAJDIP (2015) Nr. 44. 126 „Unter der Erwägung, (…) dass jeder Rechtsunterworfene (…) die Aufhebung der verordnungsrechtlichen Bestimmungen, die gegen die von der Richtlinie definierten Ziele verstoßen, verlangen kann, und, um eine verwaltungsrechtliche Entscheidung anzugreifen, geltend machen kann, dass die nationalen Stellen weder verordnungsrechtliche Bestimmungen fortbestehen lassen dürfen, noch geschriebene oder ungeschriebene Regeln des nationalen Rechts zur Anwendung bringen dürfen, die mit den durch die Richtlinie definierten Zielen unvereinbar wären. [Unter der Erwägung], dass außerdem, jeder Rechtsunterworfene sich (…) auf die bestimmten und unbedingten Bestimmungen einer Richtlinie berufen kann, wenn der Staat nicht innerhalb der von dieser auferlegten Frist, die für die Umsetzung notwendigen Maßnahmen ergriffen hat.“ (Übersetzung U.B.). 127 Vgl. C. E. sous-sect. réunies 10.1.2011, Mme Lévèque, Nr. 325268, ; C. E. sect. 11.7.2011, Mme Montaut, Nr. 321225, ECLI:FR:CESEC:2011:3212 25.20110711. 128 Cons. const., déc. Nr. 2004-496 DC v. 10.6.2004, Loi pour la confiance dans l’économie numérique, ECLI:FR:CC:2004:2004.496.DC, mit Kommentar von Chemain, GAJDIP (2015) Nr. 33. 129 Vgl. C. E. Ass. 8.2.2007, Sté Arcelor Atlantique, Nr. 287110, ECLI:FR:CEASS:2007:287110.20070208. Babusiaux
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3. Das Verhältnis von französischem Verfassungsrecht und Unionsrecht 29 Wie gesehen (vgl. Rn. 3–4) rangiert das Unionsrecht in der französischen Rechtsord-
nung über dem Gesetz und unterhalb der Verfassung. Dabei wird die Kompatibilität des primären Unionsrechts mit der Verfassung durch Verfassungsänderung vor der Ratifikation hergestellt, wie zum Beispiel die Verfassungsänderungen zur Ratifikation der Verträge von Lissabon und Amsterdam130 belegen. Für das Verhältnis von Verfassungsrecht und Sekundärrecht der Union ist Art. 88–1 Const. zu beachten:131 Nach dem Vorbild des Conseil constitutionnel sehen Conseil d’État und Cour de cassation132 diese Vorschrift als verfassungsrechtliche Anerkennung der Eigenständigkeit des Unionsrechts an. Aus dieser Eigenständigkeit folge, dass dem EuGH die alleinige Prüfungskompetenz für alle nationalen Umsetzungsakte zukomme, die nur die „zwingenden Folgerungen“ (conditions inconditionnelles) aus den europäischen Rechtsakten ziehen.133 Entsprechend ist den französischen Gerichten die Überprüfung des Umsetzungsaktes an der Verfassung grundsätzlich untersagt. 30 Der Normenhierarchie entsprechend haben sich umgekehrt alle drei Gerichte geweigert, Verfassungsnormen an primärem oder sekundärem Unionsrecht zu überprüfen:134 Da die Gerichte ihre Befugnisse aus der Verfassung ableiteten, könnten sie sich nicht über die Verfassung stellen und diese anhand völkerrechtlicher Verträge kontrollieren. Dieser „Verfassungsschirm“ (écran constitutionnel) führt in Kombination mit der Auslegung von Art. 88–1 Const. als verfassungsrechtlicher Umsetzungspflicht zu Abgrenzungsfragen zwischen Unionsrecht und französischem Verfassungsrecht. Besondere Schwierigkeiten bereitet die gerichtliche Kontrolle der Richtlinienumsetzung: Zwar darf die Richtlinie nicht selbst an der Verfassung gemessen werden, weil dies die Befugnisse des EuGH verletzte.135 Das französische Umsetzungsgesetz muss
130 Verfassungsgesetz Nr. 99–49 vom 25.1.1999 (Traité d’Amsterdam) = NOR: JUSX9800107L; Verfassungsgesetz Nr. 2005-204 vom 1.3.2005 (Traité établissant une constitution pour l’Europe) = NOR: JUSX0400284L; ELI: ; Verfassungsgesetz Nr. 2008-103 vom 4.2.2008 modifiant le titre XV de la constitution (traité de Lisbonne) = NOR: JUSX0773810L, ELI: . 131 Pellet, GAJDIP (2015) Nr. 16, Rn. 185. 132 Cass. soc. 30.9.2013, Syndicat du spectacle SUD et Syndicat national des affaires culturelles (SNAC), Nr. 12–14.752, ECLI:FR:CCASS:2013:SO01560. 133 Cons. const., déc. Nr. 2004–496 DC v. 10.6.2004, Loi pour la confiance dans l’économie numérique, ECLI:FR:CC:2004:2004.496.DC; C. E. Ass. 8.2.2007, Sté Arcelor Atlantique, Nr 287110, ECLI:FR:CEASS: 2007:287110.20070208. 134 Cass. Ass. 2.6.2000, Fraisse, Nr. 99–60.274, , Kommentar bei Forteau, GAJDIP (2015) Nr. 28; gleichsinnig C. E. Ass. 30.10.1998, M. Sarran, M. Levacher et autres, Nr. 200286 200287, , dazu Kommentar bei Champeil-Deplats, GAJDIP (2015) Nr. 24. 135 C. E. Ass. 11.4.2012, GISTI et FAPIL, Nr. 322326, ECLI:FR:CEASS:2012:322326.20120411, dazu Kommentar von Latty, GAJDIP (2015) Nr. 55. Babusiaux
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aber den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügen, zu denen auch die Frage gehört, ob die verfassungsrechtliche Umsetzungspflicht gemäß Art. 88–1 Const. eingehalten wurde. Um den konkurrierenden Anforderungen des Unionsrechts wie des französischen Verfassungsrechts zu genügen, haben der Conseil constitutionnel und die beiden obersten Fachgerichte unterschiedliche Mechanismen entwickelt, die im Folgenden darzustellen sind.
a) Die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel Im Jahr 2006 hat der Conseil constitutionnel ein System geschaffen, das sowohl dem 31 Unionsrecht als auch dem französischen Verfassungsrecht gerecht werden soll.136 Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass eine offensichtlich fehlerhafte Umsetzung einer Richtlinie gleichzeitig die verfassungsrechtliche Pflicht aus Art. 88–1 Const. verletze. Für diesen Fall erkennt sich der Conseil constitutionnel für zuständig, die Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes zu prüfen. Sei die Umsetzung hingegen prima facie ordnungsgemäß, hält sich der Conseil constitutionnel nicht für berufen, die Verfassungskonformität des Gesetzes zu untersuchen, weil sonst die Gefahr bestehe, auch die Richtlinie zu überprüfen. Nur ausnahmsweise soll es dem Conseil constitutionnel auch bei ordnungsgemäßer Umsetzung erlaubt sein, die Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes zu prüfen. Diese Ausnahme betrifft Fälle, in denen „das Umsetzungsgesetz ein Prinzip verletzt, das die verfassungsmäßige Identität Frankreichs verkörpert“ (une loi de transposition qui porterait atteine à un principe inhérent à l’identité constitutionnelle de la France).137 Dieser Souveränitätsvorbehalt, der bisher nicht zur Anwendung gekommen ist, ist unterschiedlichen Deutungen zugänglich: Nach einem konzeptionellen Verständnis sind hiermit alle Werte erfasst,138 welche die französische Verfassung ausmachen. Hierzu gehört etwa die Staatsform der Republik, die in Art. 89 Abs. 5 Const. festgeschrieben wird.139 Weiter werden in der Doktrin auch der Schutz von Grund- und Freiheitsrechten sowie die Einheit und Unteilbarkeit des französischen Volkes genannt.140 Die Rechtsprechung hat den Vorbehalt der identité
136 Hajjami, GAJDIP (2015) Nr. 8, Rn. 18. 137 Cons. const., déc. Nr. 2006–543 DC v. 30.11.2006, Loi relative au secteur de l’énergie, ECLI:FR: CC:2006:2006.543.DC, (auch deutsche Übersetzung); Cons. const., déc. Nr. 2006–540 DC v. 27.7.2006, Loi relative aux droits d’auteurs et aux droits voisins dans la société de l’information, ECLI:FR:CC:2006:2006.540.DC, (mit deutscher Übersetzung). 138 Dubout, Les règles ou principes inhérents à l'identité constitutionnelle de la France. Une supraconstitutionnalité?, RFDC 83 (2010) 451–482: . 139 Art. 89 Abs. 5 Const. „La forme républicaine du gouvernement ne peut faire l’objet d’une révision.“ 140 Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Const. „La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale.“, dazu Mélin-Soucramanien/Pactet, Droit constitutionnel (36. Aufl. 2018) Rn. 1581. Babusiaux
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constitutionnelle bisher funktionell verstanden. Nach ihr gehören hierzu verfassungsrechtlich geschützte Besonderheiten der französischen Rechtsordnung, die keinen vergleichbaren Schutz auf Ebene des Unionsrechts erhielten.141 In jedem Fall zeigt der Vorbehalt, dass der Conseil constitutionnel gewillt ist, sich die Befugnis zu erhalten, ein Umsetzungsgesetz auf seine Verfassungskonformität zu untersuchen, sofern er die französische Verfassungssouveränität durch das Unionsrecht gefährdet sieht. 32 Dass der Conseil constitutionnel die sich vorbehaltene Kompetenz mit Zurückhaltung auszuüben gedenkt, lässt sich aus der bisherigen Rechtsprechung ableiten.142 So kann nach einer Entscheidung vom Mai 2010 der auf Art. 88–1 Const. zurückgeführte Vorbehalt nicht im Rahmen der QPC gerügt werden, weil er nicht individualschützend sei.143 Dies soll sogar dann gelten, wenn die unionsrechtliche Vorschrift, deren Verletzung gerügt wird, selbst offensichtlich dem Individualschutz dient.144 Vor allem hat es der Conseil constitutionnel im Dezember 2010 ausgeschlossen, ein Umsetzungsgesetz, das lediglich die Vorgaben der Richtlinie nachvollziehe, an den Grund- und Freiheitsrechten der französischen Verfassung zu überprüfen.145 Diese Prüfung obliege nach Art. 6 AEUV dem EuGH. Ein Anerkenntnis der Auslegungshoheit des EuGH ergibt sich schließlich aus der Entscheidung Jeremy F. aus dem Jahre 2013. Da der Conseil constitutionnel selbst nicht zu entscheiden vermochte, ob die mit einer QPC angegriffene Regelung des Umsetzungsgesetzes auf den Vorgaben des Unionsrechts beruhe, entschloss er sich zur Vorlage nach Art. 267 AEUV an den EuGH.146 Die Vorlage betraf die Frage, ob der Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002 zum europäischen Haftbefehl die Mitgliedstaaten daran hindere, einen Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung von 30 Tagen vorzusehen.147 Nachdem der EuGH die Auskunft erteilt hat-
141 Pireyre, La singularité de l’ordre constitutionnel dans le mouvement d’européanisation des droits nationaux, . 142 Chemain, GAJDIP (2015) Nr. 40, Rn. 17. 143 Cons. const., déc. Nr. 2010–605 DC v. 12.5.2010, Loi relative à l'ouverture à la concurrence et à la régulation du secteur des jeux d'argent et de hasard en ligne, ECLI:FR:CC:2010:2010.605.DC. 144 Cons. const., déc. Nr. 2011–217 QPC v. 3.2.2012, M. Mohammed Akli B., ECLI:FR:CC:2012:2011.217. QPC. 145 Bekräftigt in Cons. const., déc. Nr. 2010–67/86 QPC v. 17.12.2010, Région Centre et région PoitouCharentes, ECLI:FR:CC:2010:2010.67.QPC, (mit deutscher Übersetzung). Der Conseil constitutionnel unterstreicht, dass er nicht kompetent ist, ohne Anhaltspunkt für die Verletzung eines principe inhérent à l’identité constitutionnelle de la France, ein Umsetzungsgesetz auf seine Verfassungskonformität zu prüfen. 146 Cons. const., déc. Nr. 2013–314P QPC v. 4.4.2013, M. Jeremy F., ECLI:FR:CC:2013:2013.314P.QPC. Der Fall betraf Art. 88–2 Const., der als Spezialnorm zu Art. 88–1 Const. anzusehen ist. 147 Eine deutsche Übersetzung der Frage in EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-168/13 PPU Jeremy F., EU: C:2013:358, Rn. 27: „Sind die Art. 27 und 28 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten daran hindern, einen Rechtsbehelf vorzusehen, mit dem der Vollzug der Entscheidung der Justizbehörde ausgesetzt wird, die binnen 30 Tagen nach Eingang des Ersuchens ergeht, um ihre Zustimmung dazu zu erteilen, dass eine Person wegen einer anderen vor der Übergabe aufgrund eines Babusiaux
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te, der Rahmenbeschluss schließe eine entsprechende Rechtsschutzmöglichkeit nicht aus, solange die Frist von 90 Tagen für den definitiven Entscheid eingehalten werde,148 konnte der Conseil constitutionnel seinerseits die Verfassungsmäßigkeit des französischen Gesetzes beurteilen. Da der französische Gesetzgeber eigenverantwortlich keinen entsprechenden Rekurs vorgesehen hatte,149 lag nach Meinung des Gerichts ein Verstoß gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens und den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes vor.150 Das jede Rechtsschutzmöglichkeit ausschließende französische Gesetz wurde daher als verfassungswidrig verworfen. Das Beispiel zeigt, wie Umsetzungsgesetze im Dialog zwischen Conseil constitutionnel und EuGH auf ihre Vereinbarkeit mit französischer Verfassung und Unionsrecht überprüft werden können. Dabei wird die Konkurrenzfrage nicht methodenrechtlich, sondern kompetenzrechtlich gelöst.151
Europäischen Haftbefehls begangenen strafbaren Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Haft gehalten wird, oder dazu, dass eine Person einem anderen Mitgliedstaat als dem Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, dem eine vor ihrer Übergabe begangene strafbare Handlung zugrunde liegt, übergeben wird?“ 148 EuGH v. 30.5.2013, – Rs. C-168/13 PPU Jeremy F., EU:C:2013:358, Rn. 76: „Art. 27 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, einen Rechtsbehelf vorzusehen, mit dem der Vollzug der Entscheidung der Justizbehörde ausgesetzt wird, die binnen 30 Tagen nach Eingang des Ersuchens ergeht, um ihre Zustimmung dazu zu erteilen, dass eine Person wegen einer anderen vor der Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls begangenen strafbaren Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Haft gehalten wird, oder dazu, dass eine Person einem anderen Mitgliedstaat als dem Vollstreckungsmitgliedstaat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, dem eine vor der genannten Übergabe begangene strafbare Handlung zugrunde liegt, übergeben wird, soweit die endgültige Entscheidung unter Einhaltung der nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen erlassen wird.“ 149 Cons. Const., déc. Nr. 2013–314 QPC v. 14. Juni 2013, M. Jeremy F., ECLI:FR:CC:2013:2013.314.QPC, (mit deutscher Übersetzung). 150 Grundlage dieser Entscheidung sind Art. 6 und 16 der allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. 151 Vgl. Simon, „Il y a toujours une première fois“. À propos de la décision 2013–314 QPC du Conseil constitutionnel du 4 avril 2013, Europe 2013, 6–10; Magnon, La révolution continue: le Conseil constitutionnel est une juridiction... au sens de l’article 267 du Traité sur le fonctionnement de l’Union européenne, RFDC 2013, 917–940, . Babusiaux
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b) Die Positionierung des Conseil d‘État 33 Der Conseil d´État hat die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zur Abgren-
zung von Verfassungskontrolle und Unionskonformität für die Kontrolle des Verwaltungshandelns fortgeführt. Zentral ist die Entscheidung Société Arcelor Atlantique aus dem Jahre 2007.152 Sie betraf ein Dekret, das zur Umsetzung der Emissionshandelsrichtlinie (Richtlinie 2003/87/CE vom 13. Oktober 2007) erlassen worden war. Die Klage verlangte die Aufhebung des Dekretes mit der Begründung, es sei verfassungswidrig. Da das Dekret ohne gesetzliche Umsetzung ergangen war, also direkt auf der Richtlinie beruhte, war in der Tat der Conseil d’État und nicht der Conseil constitutionnel zur Prüfung der Verfassungswidrigkeit berufen.153 An dieser für die Verwaltungsgerichtsbarkeit üblichen Legalitätskontrolle sah sich der Conseil d’État allerdings dadurch gehindert, dass das Dekret eine wortgenaue Umsetzung der Richtlinie enthielt. Auf diese Weise hätte die Überprüfung des Verwaltungshandelns nämlich dazu geführt, gleichzeitig die Verfassungskonformität der Richtlinie zu untersuchen.154 34 Eine erste Antwort zur Auflösung der Konfliktlage bot die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel (vgl. Rn. 31–32). Aus ihr schloss der Conseil d’État, dass der Verfassung bei der Rechtsanwendung im Innern Vorrang vor dem Unionsrecht gebühre. Da gleichzeitig feststehe, dass die Richtlinie selbst nicht auf ihre Verfassungskonformität untersucht werden könne, griff das Gericht zu einer „Parallelverschiebung“ (opération de translation) vom nationalen Verfassungsrecht zum Unionsrecht.155 Danach kann die Richtlinie zwar nicht anhand der Verfassung, aber anhand der dem französischen Verfassungsrecht entsprechenden unionsrechtlichen Vorgaben überprüft werden.156 Der Conseil d’État hält sich somit erstens für zuständig, zu unter-
152 C. E. Ass. 8.2.2007, Sté Arcelor Atlantique, Nr. 287110, ECLI:FR:CEASS:2007:287110.20070208. 153 C. E. sous-sect. réunies 6.12.2012, Air Algérie, Nr. 347870, ECLI:FR:CESSR:2012:347870.20121206, dazu Chemain, GAJDIP (2015) Nr. 40, Rn. 10; Cassia, Nouvelles variations sur la hiérarchie et l’agencement des normes internes, internationales et de l’Union européenne, RFDA 2013, 653–659. 154 Zur Erläuterung dieses Konfliktes, vgl. Sirinelli, Transposition des directives et contrôle de constitutionnalité, Commentaire sous l'arrêt C. E. Ass., 8 février 2007, Société Arcelor Atlantique et Lorraine, n°287110, RGD on line, 2008, Nr. 1929, . 155 Zur neuen Technizität des Begriffs, vgl. Martucci, Droit de l’Union européenne, (2. Aufl. 2020) Rn. 1154. 156 C. E. Ass. 8.2.2007, Sté Arcelor Atlantique, Nr. 287110, ECLI:FR:CEASS:2007:287110.20070208, Rn. 10: ”(…) qu’alors, (…) il appartient au juge administratif, saisi d’un moyen tiré de la méconnaissance d’une disposition ou d’un principe de valeur constitutionnelle, de rechercher s’il existe une règle ou un principe général du droit communautaire qui, eu égard à sa nature et à sa portée, tel qu’il est interprété en l’état actuel de la jurisprudence du juge communautaire, garantit par son application l’effectivité du respect de la disposition ou du principe constitutionnel invoqué (…)“. Übersetzung U.B.: „Unter der Erwägung (…), dass, (…) es dem Verwaltungsgericht, das mit der Begründung angerufen wird, eine Vorschrift oder ein Prinzip mit Verfassungsrang sei missachtet worden, obliegt, zu untersuchen, ob eine Vorschrift oder ein Prinzip des Gemeinschaftsrechts existiert, die mit Blick auf ihre Natur oder ihren Babusiaux
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suchen, ob der unionsrechtliche Schutz dem französischen Verfassungsrecht gleichwertig ist.157 Soweit ein Prinzip des Unionsrechts vergleichbaren Schutz verspricht, erkennt sich der Conseil d´État weiter die Befugnis zu, die Richtlinie bzw. die Umsetzungsmaßnahme auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu prüfen. Voraussetzung hierfür ist, dass es eine entsprechende Rechtsprechung des EuGH gibt, die angewendet werden kann, oder ein acte clair vorliegt, der keiner zusätzlichen Auslegung durch den EuGH bedarf. Eine Vorlagepflicht des Conseil d’État an den EuGH besteht daher nur dann, wenn die Frage nicht anhand existierender Rechtsprechung oder eindeutiger Rechtsakte der Union entschieden werden kann.158 Im Rahmen der skizzierten „Parallelverschiebung“ erkennt sich der Conseil d‘État schließlich – sofern kein gleichwertiger Schutz auf Unionsebene besteht – auch die Kompetenz zu, die Verfassungswidrigkeit der Verwaltungsmaßnahme zu untersuchen und diese bei Feststellung eines Verfassungsverstoßes zu verwerfen.159 Die vom Conseil d’État aufgestellten Regeln der „Parallelverschiebung“ gelten nur 35 dann, wenn die Verwaltungsentscheidung unmittelbar auf der Richtlinie beruht. Dies ist dann der Fall, wenn die Verwaltungsentscheidung selbst die Umsetzung darstellt oder wenn die von der Verwaltung vorgesehene Rechtsfolge „autonom“ ist, also nicht vom französischen Gesetzgeber vorgegeben wurde.160 Liegt eine Verwaltungsentscheidung vor, die in Inhalt und Form auf ein Umsetzungsgesetz zurückgeht, kann der Conseil d’État nicht selbst entscheiden, sondern muss die QPC an den Conseil constitutionnel verweisen. Dieser prüft nach seinen eigenen Maßstäben, ob der Verfassung wie dem Unionsrecht genüge getan ist. Dass sich der Conseil d’État im Vergleich zum Verfassungsrat einen stärkeren Zugriff auf die Umsetzung von Unionsrecht im Innern zuerkennt, wird in der Doktrin weitgehend akzeptiert. Sie argumentiert, dass diese Rechtsprechung den Rechtsunterworfenen vor (französischer und unionsrechtlicher) Verwaltungswillkür schütze.161 Andere sehen hingen den Vorrang des Unionsrechts in Gefahr und betonen, dass sich Frankreich mit der Auslegung von Art. 88–1
Gehalt, nach der zurzeit gültigen Interpretation durch den Richter des Gemeinschaftsrechts, durch ihre Anwendung die wirksame Einhaltung der geltend gemachten Vorschrift oder des verfassungsrechtlichen Prinzips garantiert (…).“ 157 Chemain, GAJDIP (2015) Nr. 40, Rn. 14, der hervorhebt, dass es hierdurch zu Widersprüchen zwischen EuGH und Conseil d’État mit Blick auf identische Rechtsakte kommt. 158 Vgl. Vorlage nach C. E. Ass. 24.2.2017, Mme C. et autres, Nr. 391000, ECLI:FR:CEASS:2017: 391000.20170224. 159 Nur französisches Recht entscheidet über die Einhaltung der Kompetenz- und Verfahrensordnung, die vom Conseil d’État in der opération de translation explizit ausgenommen wurde, vgl. Chemain, GAJDIP (2015) Nr. 40, Rn. 10. 160 Chemain, GAJDIP (2015) Nr. 40, Rn. 10. Die Frage der Abgrenzung zwischen der Entscheidung des Gesetzgebers und Unionsrichtlinie obliegt im Rahmen der QPC der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel. 161 Chemain, GAJDIP (2015) Nr. 40, Rn. 24. Babusiaux
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Const. auf einen Sonderweg begebe.162 Wieder anders stellt sich die Frage vor den ordentlichen Gerichten.163
c) Die Cour de cassation zwischen QPC und Unionsrecht 36 Vor Einführung der QPC waren Konflikte zwischen Unions- und Verfassungsrecht im
Rahmen der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit kaum vorstellbar, da Gesetze nur vor ihrer Promulgation auf die Verfassungswidrigkeit untersucht werden konnten. Erst mit der konkreten Normenkontrolle stellt sich auch für die Cour de cassation vermehrt die Frage, wie Unionsrecht und Verfassungsrecht in Einklang gebracht werden können.164 Dabei zeigt sich, dass die Cour de cassation zwar die Rechtsprechung zur identité constitutionnelle de la France rezipiert (vgl. Rn. 31–32), aber nur im Rahmen ihrer „Filter“-Funktion im Rahmen der QPC Konflikte zwischen Unions- und Verfassungsrecht untersucht. Im Rahmen ihrer Kontrollfunktion über die fachgerichtliche Rechtsanwendung sieht sich die Cour de cassation hingegen vorrangig als Durchsetzungsinstanz des Unionsrechts,165 wie ein spektakuläres Verfahren aus dem Jahre 2010 zur QPC zeigt. Anlass war, dass das Verfassungsgesetz zur QPC166 den Gerichten auferlegte, die Frage der Verfassungskonformität des Gesetzes „vorrangig“ (en premier lieu) vor der Konformität mit dem Unionsrecht zu prüfen.167 Da die Entscheidungen des mit der QPC befassten Conseil constitutionnel nach Art. 62 Abs. 2 Const. für
162 Vgl. Haguenau-Moizart, Les conditions du contrôle de constitutionnalité du droit dérivé, AJDA 2015, 2035–2037. 163 Im Folgenden sind nur die Straf- und Zivilrechtsprechung zu betrachten; die ebenfalls an der Cour de cassation angesiedelte Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit hat gerade in Auseinandersetzung mit dem Unionsrecht viele eigene Grundsätze ausgeprägt, deren Darstellung den hier verfügbaren Rahmen sprengen würde. 164 Als Beispiel (Verfassungswidrigkeit einer strafbewehrten Einschränkung des Jagdrechts aus Gründen des Artenschutzes), vgl. Cass. crim. 19.8.2020, Nr. 20-80.648/649/632/634, ECLI:FR:CCAS:20 20:CR001679, ECLI:FR:CCAS:2020:CR001680, ECLI:FR:CCAS:2020:CR001677, ECLI:FR:CCAS:2020:CR 001678. 165 So auch die Interpretation von Benlolo Carabot, GAJDIP (2015) Nr. 46, Rn. 8. 166 Organgesetz Nr. 2009–1523 v. 10.12.2009 relative à l’application de l’article 61–1 de la Constitution. NOR: JUSX0902104L, ELI: . 167 Art. 23–2 Abs. 2: „En tout état de cause, la juridiction doit, lorsqu’elle est saisie de moyens contestant la conformité d’une disposition législative d’une part aux droits et libertés garantis par la Constitution et d’autre part aux engagements internationaux de la France, se prononcer en premier sur la transmission de la question de la constitutionnalité au Conseil d’État ou à la Cour de cassation.“ Dies gilt auch für die Weiterleitung durch die beiden Höchstgerichte, vgl. auch Art. 23–5 Abs. 2, vgl. Warsmann, Rapport au nom de la commission des lois constitutionnelles sur le projet de loi organique (n° 1975) relatif à l’application de l’article 61–1 de la Constitution, XII législature, 4 nov. 2009, 24 und 26, vgl. . Babusiaux
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alle staatlichen Stellen verbindlich sind,168 hätte die konsequente Beachtung des Vorrangs der QPC dazu führen können, ein Fachgericht an der Vorlage an den EuGH im Rahmen von Art. 267 AEUV zu hindern. Jedenfalls konnte man die Auffassung vertreten, Art. 267 AEUV werde durch den im Verfassungsgesetz angeordneten Vorrang der QPC eingeschränkt.169 Die Cour de cassation ergriff bereits 2010 die Gelegenheit, die Unionskonformität 37 der französischen Regelung überprüfen zu lassen. In einem Verfahren um die Rechtmäßigkeit einer Abschiebung (Melki et Abdeli) war die Frage zu entscheiden, ob Art. 78–2 Abs. 4 der französischen Strafprozessordnung170 der französischen Verfassung sowie Art. 67 AEUV (Schengen) entspreche. Anstatt die erhobene QPC an den Conseil constitutionnel weiterzuleiten, entschied sich die Cour de cassation zur Vorlage an den EuGH. Die erste Vorlagefrage lautete: „Steht Art 267 AEUV Rechtsvorschriften wie den durch das verfassungsergänzende Gesetz Nr. 2009–1523 vom 10. Dezember 2009 eingefügten Art. 23–2 Abs. 2 und 23–5 Abs. 2 der ordonnance Nr. 58–1067 vom 7. November 1958 entgegen, soweit diese den Gerichten vorschreiben, vorrangig über die Übermittlung der bei ihnen aufgeworfenen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel zu befinden, sofern sich die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit der Verfassung aus ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht ergibt?“171 Der EuGH kam zum Schluss, Art. 267 AEUV stehe nationalen Rechts-
168 Art. 62 Abs. 2 Const. „Les décisions du Conseil Constitutionnel ne sont susceptibles d’aucun recours. Elles s’imposent aux pouvoirs publics et à toutes les autorités administratives et juridictionnelles.“ 169 Cass. Ass., déc. Nr. 10–40.001 und Nr. 10–40.002 QPC v. 29.6.2010, Aziz Melki et Sélim Abdeli, und , dazu Benlolo Carabot, GAJDIP (2015) Nr. 46, 535–548. 170 Art. 78–2 Abs. 4 Code de procédure pénale: „In einem Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu den Staaten, die dem am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommen beigetreten sind, und einer diesseits im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie sowie in den öffentlich zugänglichen Bereichen der Häfen, Flughäfen und Eisenbahn- oder Busbahnhöfe, die für den internationalen Verkehr geöffnet und durch Erlass bestimmt sind, kann die Identität jeder Person ebenfalls nach den in Abs. 1 festgelegten Modalitäten kontrolliert werden, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen. Findet die Kontrolle in einem Zug statt, der eine internationale Streckenverbindung bedient, kann sie auf dem Streckenabschnitt zwischen der Grenze und dem ersten Haltepunkt, der mehr als 20 km von der Grenze entfernt ist, durchgeführt werden. (…) Die Tatsache, dass bei einer Identitätskontrolle eine andere Straftat als die Nichteinhaltung der oben genannten Verpflichtungen festgestellt wird, bildet keinen Grund für die Nichtigkeit der Zwischenverfahren.“ (Übersetzung nach EuGH v. 22.6.2010 – Rs. C-188/10 u. C-189/10 Melki & Abdéli, EU:C:2010:363, Rn. 15). 171 Übersetzung in EuGH v. 22.6.2010 – Rs. C-188/10 u. C-189/10 Melki & Abdeli, EU:C:2010:363. Cass. Ass., déc. Nr. 10–40.001 und Nr. 10–40.002 QPC v. 29.6.2010, Aziz Melki et Sélim Abdeli, und : „L’article 267 du Traité sur le fonctionnement de l’Union européenne signé à Lisbonne le 13 décembre 2007 s’oppose-t-il à une législation telle que celle résultant des articles 23–2, alinéa 2, et 23–5, alinéa 2, de l’ordonnance n° 58–1067 du 7 novembre 1958 créés par la loi organique n° 2009–1523 du 10 déBabusiaux
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vorschriften, die den Vorrang der konkreten Normenkontrolle im Inland festlegen, nicht entgegen, wenn gewisse Bedingungen eingehalten würden: Erste Voraussetzung sei, dass es den nationalen Gerichten freistehe, dem EuGH jederzeit eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Zweitens müsse ihnen die Möglichkeit erhalten bleiben, Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zur Wahrung unionsrechtlich geschützter Rechte anzuordnen, und drittens müssten die Gerichte befähigt sein, die nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, wenn sie diese als unionsrechtswidrig ansähen.172 Mit dieser Begründung folgte der EuGH einer vom Conseil constitutionnel vorgezeichneten Auslegung: Dieser hatte in anderer Sache am 12. Mai 2010173 entschieden, dass seine Kompetenz, die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes gem. Art. 62 Const. mit Wirkung erga omnes festzustellen, die europarechtlich garantierte Prüfung der Unionsrechtskonformität durch die Fachgerichte nicht beeinträchtige.174 Weiter betonte das Gericht, dass die Priorität der Verfassungsfrage die Fachgerichte keineswegs daran hindere, in dringenden Fällen Eilmaßnahmen zu ergreifen und vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren. Vor allem aber sei es den ordentlichen Gerichten wie den Verwaltungsgerichten keinesfalls untersagt, neben der QPC auch dem EuGH eine Vorlagefrage gem. Art. 267 AEUV zu unterbreiten. 38 Das in der Lehre durchaus kritisch kommentierte175 Vorgehen der Cour de cassation hat klare Verhältnisse geschaffen: So sieht sich die Cour de cassation weiterhin berufen, die Konformität des französischen Gesetzesrechts mit dem Unionsrecht zu überprüfen und widersprechendes Gesetzesrecht unangewendet zu lassen. Zudem haben sowohl EuGH als auch Conseil constitutionnel bestätigt, dass die Konventionalitätskontrolle nicht nur erhalten bleibt, sondern sogar schnellere und einfachere Ergebnisse liefern kann als die QPC. Die Ausnutzung dieser Möglichkeit zeigt die Entscheidung der Cour de cassation im Fortgang des Verfahrens Melki et Abdeli: Nachdem der EuGH entschieden hatte, dass zu weitreichende Kontrollbefugnisse der nationalen Polizeibehörden Art. 67 AEUV entgegenstünden,176 erklärte die Cour de cassati-
cembre 2009, en ce qu’ils imposent aux juridictions de se prononcer par priorité sur la transmission, au Conseil constitutionnel, de la question de constitutionnalité qui leur est posée, dans la mesure où cette question se prévaut de la non-conformité à la Constitution d’un texte de droit interne, en raison de sa contrariété aux dispositions du droit de l’Union?“ 172 EuGH v. 22.6.2010 – Rs. C-188/10 u. C-189/10 Melki & Abdeli, EU:C:2010:363. 173 Cons. const., déc. Nr. 2010–605 DC v. 12.5.2010, Jeux d’argents et de hasard en ligne, ECLI:FR: CC:2010:2010.605.DC, (auch in deutscher Übersetzung). 174 C. E. sous-sect. réunies v. 14.5.2010, Rujovic, Nr. 312305, ECLI:FR:CESSR:2010:312305.20100514. 175 Nachweise bei Benlolo Carabot, GAJDIP (2015) Nr. 46, Rn. 1. 176 EuGH v. 22.6.2010 – Rs. C-188/10 u. C-189/10 Melki u. Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 75: „Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze dieses Staates zu den Vertragsstaaten des SDÜ die Identität jeder Person unabhängig von deren VerBabusiaux
III. Unionsrecht und nationales (französisches) Recht
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on177 Art. 78–2 Abs. 4 der französischen Strafprozessordnung für unanwendbar.178 Die mögliche Verfassungswidrigkeit der strafprozessualen Norm blieb hingegen außer Betracht.179 Diese Nachrangigkeit der QPC wird auch von anderen Entscheidungen bestätig, die zeigen, dass die Cour de cassation das Gesetz vorrangig an Unionsrecht (und EMRK) misst.180 Diese Praxis ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Konventionalitätskontrolle des Gesetzes von Amts wegen erfolgt,181 während die QPC nur auf Antrag einer Partei untersucht werden kann. Der Vergleich der Rechtsprechung der beiden obersten Fachgerichte zeigt, wie 39 sehr die Rechtsfolgen, die beide aus der Konkurrenz von Verfassungs- und Konventio-
halten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann.“ 177 Cass. 29.6.2010, Melki & Abdéli, Nr. 12133, : (…) Attendu, (…), que la Cour de justice de l’Union européenne a également dit pour droit que l’article 67, paragraphe 2, TFUE ainsi que les articles 20 et 21 du règlement (CE) n° 562/ 2006 du Parlement européen et du Conseil, du 15 mars 2006, établissant un code communautaire relatif au régime de franchissement des frontières par les personnes (…), s’opposent à une législation nationale conférant aux autorités de police de l’Etat membre concerné la compétence de contrôler, uniquement dans une zone de 20 kilomètres à partir de la frontière terrestre de cet Etat avec les parties à la convention d’application de l’accord de Schengen, du 14 juin 1985, entre les gouvernements des Etats de l’Union économique Benelux, de la République fédérale d’Allemagne et de la République française relatif à la suppression graduelle des contrôles aux frontières communes, signé à Schengen (Luxembourg) le 19 juin 1990, l’identité de toute personne, indépendamment du comportement de celle-ci et des circonstances particulières établissant un risque d’atteinte à l’ordre public, en vue de vérifier le respect des obligations de détention, de port et de présentation des titres et documents prévus par la loi, sans prévoir l’encadrement nécessaire de cette compétence garantissant que l’exercice pratique de ladite compétence ne puisse pas revêtir un effet équivalent à celui des vérifications aux frontières (…).“ 178 Das Kassationsvisum lautete: „Vu l’arrêt de la CJUE du 22 juin 2010“ („Unter Beachtung des EuGHEntscheids vom 22. Juni 2010“). 179 Cass. 29.6.2010, Melki & Abdeli, Nr. 12133, : „(…) Que, dès lors que l’article 78 2, alinéa 4, du code de procédure pénale n’est assorti d’aucune disposition offrant une telle garantie, il appartient au juge des libertés et de la détention d’en tirer les conséquences au regard de la régularité de la procédure dont il a été saisi, sans qu’il y ait lieu de renvoyer au Conseil constitutionnel la question posée ;“ 180 Kritisch hierzu Mélin-Soucramanien/Pactet, Droit constitutionnel (36. Aufl. 2018) Rn. 1491, die hierin eine Entmachtung des Conseil constitutionnel und eine Entwertung der QPC sehen. 181 Für das Unionsrecht, vgl. Cass. mixte 7.7.2017, Nr. 15–25.651, ECLI:FR:CCASS:2017:MI00284, ; für die EMRK, vgl. Cass. Ass. 15.4.2011, Garde à vue, Nr. 10–30.316, Nr. 10–30.313, Nr. 10–30.242 und Nr. 10–17.049, ; vgl. Boissise, GAJDIP (2015) Nr. 52. Babusiaux
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nalitätskontrolle ableiten, divergieren:182 Der Conseil d´État räumt dem Verfassungsrecht den Vorrang vor dem Unionsrecht ein. Entsprechend hält er sich für befugt, die Richtlinie an den Vorgaben des Unionsrechts wie der französischen Verfassung zu messen.183 Hingegen hat die Cour de cassation die Konventionalitätskontrolle des Gesetzes de facto mit Vorrang vor der Prüfung der Verfassungskonformität versehen.184 Diese Unterschiede entsprechen dem abweichenden Selbstverständnis der beiden Gerichte: Während sich der Conseil d´État als Wahrer der Grund- und Menschenrechte in der Rechtsanwendung in der französischen Rechtsordnung versteht,185 betont die Cour de cassation ihre Rolle als Partner von EGMR und EuGH, und dies unabhängig von den nationalstaatlichen Vorgaben.
IV. Europäische Methodenlehre im nationalen Recht 40 Die unterschiedliche Akzentuierung des Verhältnisses von Unionsrecht und Verfas-
sungsrecht durch Conseil d’État und Cour de cassation zeigt, dass die europäische Methodenlehre vorrangig als Frage der Kompetenzverteilung verstanden wird. Die Abstimmung der verschiedenen Rechtsmassen wird vor allem prozessual durch Vorlageverfahren und Begrenzungen des Prüfungsmaßstabes gestaltet und konkretisiert. Gerne wird dieser justizielle Dialog – in Anlehnung an Mireille Delmas-Marty – als Mechanismus verstanden, die Rechtsordnung (ordre juridique) zu einem „geordneten Pluralismus“ (pluralisme ordonné) fortzuentwickeln.186 Das Unionsrecht wurde dabei zunächst als Mittel beschrieben, die nationalen Gerichte aus dem nationalen Kompetenzgefüge herauszulösen;187 heute steht zunehmend die Kooperation zwischen den (europäischen) Gerichten verschiedener Stufen und Rechtsbereiche im Vorder-
182 Chemain, GAJDIP (2015) Nr. 40, 474, Rn. 13. 183 Hierzu gehört auch, dass sich der Conseil d’État für befugt hält, das Unionsrecht an der EMRK zu prüfen, vgl. C. E. sect. 10.4.2008, Conseil national des barraux – Conseil des barreaux européen, Nr. 296845 und Nr. 296907, , dazu Kommentar von Bodeau-Livinec, GAJDIP (2015) Nr. 42. 184 Allerdings kam auch der Conseil d’État in die Situation, die Konventionalitätskontrolle vorrangig durchzuführen, wenn die Frage der Verfassungswidrigkeit gerade von der Auslegung des Unionsrechts abhängt. Er hat die QPC allerdings schlicht verworfen und nicht ausgesetzt, vgl. C. E. Ass. 31.5.2016, Jacob, Nr. 393881, ECLI:FR:CEASS:2016:393881.20160531, ; EuGH v. 22.3.2018 – Rs. C-327/16, Jacob, EU:C:2018:210. 185 Bodeau-Livinec, GAJDIP (2015) Nr. 42, Rn. 11. 186 Delmas-Marty, Le pluralisme ordonné et les interactions entre ensembles juridiques, D. 2006, 951–957; vgl. Delmas-Marty, Études juridiques comparatives et internationalisation du droit, . 187 Vgl. Barav, La fonction communautaire du juge national, Diss. Strasbourg 1983; Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, Diss. Bordeaux 1999 (2001); Humbert, La mutation de l’office du juge français, Diss. Strasbourg 2005. Babusiaux
IV. Europäische Methodenlehre im nationalen Recht
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grund. Die unlängst vollzogene Anpassung der Begründungs- und Prüfungspraxis durch Conseil d’État und Cour de cassation (vgl. Rn. 13–15) entspricht beiden Deutungen: Der style direct zeigt nicht nur die Emanzipation der Gerichte von den anderen Gewalten (vgl. Rn. 17), sondern erhöht auch die Lesbarkeit der französischen Entscheidungen für die europäischen Gerichte. Im Folgenden sind die methodischen Konsequenzen dieser Sichtweise zu skizzieren.
1. Die Konventionalitätskontrolle als genuin richterliche Befugnis Ausgangspunkt der französischen Methodendiskussion zum Unionsrecht ist die in 41 Art. 4 und Art. 5 C. civ. definierte richterliche Befugnis (vgl. Rn. 10), im Einzelfall Recht zu sprechen. Diese Kompetenzbeschreibung betrifft vor allem die Fachgerichte, während die verfassungsrechtliche Rechtsprechung als außerordentliche Befugnis verstanden wird. Auf dieser Linie liegt es, wenn der Conseil constitutionnel auch einen Wesenunterschied zwischen der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes (Art. 61 f. Const.) und der Konventionalitätskontrolle (Art. 55 Const. und Art. 88–1 Const.) konstatiert. In der Entscheidung zum Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahre 1974188 stellte der Conseil constitutionnel fest, die ihm obliegende Verfassungsmäßigkeitskontrolle sei absolut und endgültig. Hingegen sei die Konventionalitätskontrolle nach Art. 55 Const. „sowohl relativ als auch vom Einzelfall abhängig“ (à la fois relatif et contingent).189 Dieser Bezug auf den Einzelfall entspricht der Definition der richterlichen Macht. Es ist daher kein Zufall, dass die Fachgerichte diese Beschreibung als Ermächtigung gelesen haben, das französische Gesetz am Unionsrecht (und der EMRK) zu prüfen.190 Der neuen Rolle der Gerichte als Kontrolleure des Gesetzgebers stehen neue Bin- 42 dungen gegenüber, die unter dem Stichwort der „Bindungswirkung der Auslegungsentscheidung“ (autorité de la chose interprétée) diskutiert werden.191 Der Begriff ist dem Grundsatz der Rechtskraft (autorité de la chose jugée) nachgebildet und verweist auf die Konsequenzen der Auslegungshoheit des EuGH wie der Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV. Zwar komme der Vorlageentscheidung keine eigentliche Rechtskraft
188 Cons. const., déc. Nr. 74–54 DC v. 15.1.1974, Loi relative à l’interruption volontaire de grossesse (IVG), (dort auch deutsche Übersetzung). 189 Die auf verfügbare deutsche Übersetzung übersetzt „à la fois relatif et contingent“ als „relativ und unbestimmt“, was den Sinn, auf die richterliche Funktion zu verweisen, nicht zutreffend abbildet. 190 Zu dieser Methodenfrage, vgl. Deumier, Contrôle concret de conventionnalité: l’esprit et la méthode, RTDciv. 2016, 578–585. 191 Zur Begriffsbildung, vgl. Bergé, GAJDIP (2015) Nr. 38, Rn. 9. Die Bindungswirkung der EuGHRechtsprechung kommt auch in der Formulierung zum Tragen: „a dit pour droit“ = „hat für Recht erkannt“. Babusiaux
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zu, weil sie nicht den Rechtsstreit, sondern nur die Auslegungsfrage entscheide. Die getroffene Auslegung sei aber als verbindlich anzusehen, wobei sich Cour de cassation192 und Conseil d’État193 auch nach Art. 88–1 Const. für verpflichtet halten,194 dem EuGH in der Interpretation des Unionsrechts zu folgen. Dies gilt – wie gesehen (vgl. Rn. 24; 27–28) – nicht nur für das sachliche Verständnis einzelner Richtlinien, sondern auch für alle vom EuGH entwickelten Wirkungen des sekundären Unionsrechts, namentlich für die verschiedenen Effekte nicht umgesetzter Richtlinien.195 Die Interpretationshoheit des EuGH ersetzt damit zum Teil die Methodenfrage: Genauso wie die französischen Obergerichte berufen sind, für einen bestimmten Teil der französischen Rechtsordnung das letzte Wort zu sprechen, wird auch die ausschließliche Befugnis des EuGH für das Unionsrecht als Konsequenz der Eigenständigkeit des Unionsrechts angesehen.196 43 Die europäischen Vorgaben wirken sich – wie gesehen (vgl. Rn. 13) – nach Meinung der obersten Fachgerichte auch auf ihre Kontrollfunktion gegenüber den niederen Instanzen aus: Da die Auslegung durch den EuGH verbindlich ist, wird ihre Beachtung durch die beiden Kassationsinstanzen überwacht.197 Ein Sonderfall dieser Bindungswirkung ist die von der Cour de cassation den Instanzgerichten auferlegte Pflicht, die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht von Amts wegen zu prüfen, wenn es sich um Vorgaben des ordre public handelt.198 Hierzu zählen unter anderem die Vor-
192 Cass. com. 10.12.1985, Roquette, Nr. 83–12.043, vgl. . 193 C. E. Ass. 11.12.2006, Société de Groot en Slot Allium, BV et Société Bejo Zaden BV, Nr. 234560, , dazu Bergé, GAJDIP (2015) Nr. 38. 194 Vgl. etwa Cass. soc. 30.9.2013, Syndicat du spectacle SUD et Syndicat national des affaires culturelles (SNAC), Nr. 12–14.752 und Nr. 12–14.964, ECLI:FR:CCASS:2013:SO01560. 195 Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, in: Rép. comm. t. IV. Rapprochement des législations. Union européenne, Suppl. 4, März 2014, Rn. 37–68. 196 Symptomatisch etwa De Béchillon, Cinq cours suprêmes? Apologie (mésurée) du désordre, Pouvoirs 137 (2011) 33–45. Eine Veränderung könnte durch die zunehmende Konstitutionalisierung auch des französischen Rechts eintreten, vgl. dazu Verpeaux, Brèves considérations sur la constitutionnalisation des branches du droit, RFDA 2014, 1203–1210; in deutscher Sprache vgl. Stelten, Gerichtlicher Grundrechtsschutz in Frankreich, Baden-Baden (2018) bes.137–148. 197 Z. B. Cass. civ. 1re 13.10.1993, Nr. 91–19655, : „Vu le principe de la primauté du droit communautaire, ensemble l’article 809, alinéa 2 du nouveau Code de procédure civile“. 198 Art. 12 Abs. 3 Code de procédure civile; zur Diskussion, vgl. Bernard, Responsabilité du fait des produits défectueux: primauté du droit de l’Union européenne, Revue Lamy Droit civil Nr. 151, 5–7 (Sept. 2017); für eine Gesetzesänderung vgl. Usunier, L’office du juge en présence d’un instrument européen de droit dérivé, RTDciv. 2017, 829–832, 832. Auch dies entspricht der Rechtsprechung des EuGH, vgl. Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, in: Rép. comm. t. IV. Rapprochement des législations. Union européenne, Suppl. 4, März 2014, Rn. 30.
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gaben des Unionsrechts zum Schutz vor Diskriminierungen,199 zum Konsumentenschutz oder Richtlinien, die Garantien des Primärrechts konkretisieren.200 Beispielhaft sei auf die Entscheidung der Cour de cassation vom 7. Juli 2017 Monsanto201 verwiesen, mit der sie den Instanzgerichten einschärft, die dem ordre public angehörende Richtlinie zur Produkthaftung von Amts wegen zu berücksichtigen: Das Appellationsgericht hätte die Anwendbarkeit der Produkthaftungsrichtlinie auf den Fall untersuchen müssen, auch wenn der Kläger selbst nur die deliktische Haftung geltend gemacht hatte.
2. Die Geltendmachung des Unionsrechts Die Wirkungen des Unionsrechts im Innern, die sich für das Primärrecht nach Art. 55 44 Const., für das Sekundärrecht nach Art. 88–1 Const. und Art. 88–2 Const. richten, werden mit den bereits betrachteten (vgl. Rn. 26–27) Abstufungen der „Geltendmachung“ (invocabilité) erfasst.202 Der Begriff bezeichnet die Fähigkeit des Unionsrechts, subjektive Rechte zu begründen, die prozessual geltend gemacht werden und damit Grundlage der gerichtlichen Entscheidung sein können.203 Nachdem die beiden obersten Fachgerichte die Eigenständigkeit des Unionsrechts und damit dessen unmittelbare Wirkung im Innern (effet direct) anerkannt haben (vgl. Rn. 25), bedarf es für die „Gel199 Vgl. Cass. soc. 18.3.2020, Nr. 16–27825, ECLI:FR:CCASS:2020:SO00375: „En application d’une jurisprudence constante de la Cour de justice de l’Union européenne (…)“; vgl. ferner Cass. soc. 6.2.2019, Nr. 17–28.752 – Nr. 17–28.762, ECLI:FR:CCASS:2019:SO00193: .„Attendu qu’il ne peut être tenu compte d’un système d’équivalence au sens du premier de ces textes pour vérifier en matière de temps de travail effectif le respect des seuils et plafonds fixés par la directive 2003/88/CE du 4 novembre 2003, telle qu’interprétée par la Cour de justice de l'Union européenne (arrêt du 1er décembre 2005, Dellas e.a., C-14/04, EU:C:2005:728, points 51 et 52), dont celui de la durée hebdomadaire maximale de quarante-huit heures ; que la preuve du respect des seuils et plafonds prévus par le droit de l’Union européenne et des durées maximales de travail fixées par le droit interne incombe à l’employeur;“. 200 Vgl. zuletzt Cass. civ. 1re 5.2.2020, Nr. 18–15.300, ECLI:FR:CCASS:2020:C100094: „Vu l’accord européen du 13 décembre 1957 sur le régime de la circulation des personnes entre les pays membres du Conseil de l’Europe, et la directive 2004/38/CE du Parlement européen et du Conseil, du 29 avril 2004, relative au droit des citoyens de l'Union et des membres de leurs familles de circuler et de séjourner librement sur le territoire des Etats membres“. 201 Cass. mixte 7.7.2017, Monsanto, Nr. 15–25.651, ECLI:FR:CCASS:2017:MI00284, vgl. . 202 Der Begriff wird auch für die Berufung auf völkerrechtliche Verträge verwendet, vgl. Delile, L’invocabilité des accords internationaux devant le juge de la légalité des actes de l’Union européenne. État des lieux à l’occasion des arrêts Vereniging Milieudefensie et Stichting Natuur en milieu, Cahier de droit européen 51 (2015) 149–176. 203 Die invocabilité als Initiative des Bürgers für das Unionsrecht steht damit der Umsetzung des Unionsrechts durch die nationalen Behörden gegenüber, vgl. Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, in: Rép. comm. t. IV. Rapprochement des législations. Union européenne, Suppl. 4, März 2014, Rn. 27.
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tendmachung“ des Unionsrechts keiner weiteren Prüfung seiner Anwendbarkeit. Sie wird vielmehr vorausgesetzt und gilt auch für Richtlinien, sofern die Umsetzungsfrist abgelaufen ist oder ein Umsetzungsversuch vorliegt, der anhand der Richtlinie überprüft werden kann.204 Die Berufung auf eine Vorschrift des Primär- oder Sekundärrechts kann die Anwendung des nationalen Rechts in unterschiedlichem Grade beeinflussen: Als geringster Eingriff gilt die Auslegungswirkung (invocabilité d’interprétation), mit der eine nationale Vorschrift im „Lichte des Unionsrechts“ (à la lumière du droit de l’Union européenne), oder spezifischer „im Lichte der Richtlinie“ (à la lumière de la directive), ausgelegt wird. Auf diese Weise erhält die Anwendung der nationalen Norm eine unionsrechtliche Stoßrichtung.205 Die invocabilité d’interprétation findet dort ihre Grenze, wo nicht mehr das nationale Recht, sondern das Unionsrecht selbst zur Anwendung kommt. Ist das Unionsrecht, namentlich eine Richtlinie allein Grundlage der Rechtsanwendung, wird dies als „Ersetzungswirkung“ (invocabilité de substitution) bezeichnet, die bei Richtlinien besonderen Vorgaben und Beschränkungen unterliegt. 45 Die „Ersetzungswirkung“ (invocabilité de substitution) setzt nicht nur die unmittelbare Wirkung der unionsrechtlichen Vorschrift voraus, sondern verlangt auch, dass diese Vorschriften unbedingt und hinreichend bestimmt formuliert sind.206 Wie gesehen, akzeptiert seit der Entscheidung Mme Perreux auch der Conseil d’État, dass nicht umgesetzte Richtlinien, sofern sie ausreichend bestimmt und unbedingt formuliert sind, als Grundlage der Legalitätsprüfung herangezogen werden können207 (vgl. Rn. 27). Zwischen Privaten, das heißt in horizontalen Verhältnissen, sind nicht umgesetzte Richtlinien hingegen grundsätzlich208 nicht anwendbar.209 Ist einem Rechtsunterworfenen durch die fehlende Umsetzung ein Schaden entstanden, kann die Richtlinie die Staatshaftung auslösen, was als „Entschädigungswirkung“ bezeichnet wird (invocabilité de réparation).210 46 Zwischen den beiden Polen der „Interpretationswirkung“ und der „Ersetzungswirkung“ steht die „Verdrängungswirkung“ (invocabilité d’éviction): Sie bezeichnet die Verpflichtung der nationalen Gerichte, das dem Unionsrecht widersprechende na-
204 Vgl. Dumortier, La mise en oeuvre de la jurisprudence Nicolo: retour sur trente ans de grands travaux, AJDA 2019, 2104–2110. 205 Vgl. z. B. Cass. civ. 1re 10.4.2019, Nr. 17–13.307, ECLI:FR:CCASS:2019:C100348: „Vu l'article L. 120– 1, devenu L. 121–1 du code de la consommation, tel qu'interprété à la lumière de la directive 2005/29/CE du Parlement européen et du Conseil du 11 mai 2005, relative aux pratiques commerciales déloyales des entreprises vis-à-vis des consommateurs dans le marché intérieur;“; zur Klärung, vgl. Simon, Directive, in: Rép. eur., Januar 2018, Rn. 133. 206 Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, in: Rép. comm. t. IV. Rapprochement des législations. Union européenne, Suppl. 4, März 2014, Rn. 29. 207 Vgl. auch Simon, Directive, in: Rép.eur., Januar 2018, Rn. 99, 142–146. 208 Zu den Ausnahmen, vgl. Simon, Directive, in: Rép. eur., Januar 2018, Rn. 109–110. 209 Simon, Directive, in: Rép.eur., Januar 2018, Rn. 148 sowie Rn. 167. 210 Simon, Directive, in: Rép. eur., Januar 2018, Rn. 150 m. w. N.
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IV. Europäische Methodenlehre im nationalen Recht
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tionale Recht im konkreten Fall außer Acht zu lassen.211 Dabei ist zu beachten, dass diese Wirkung nicht nur gegenüber Umsetzungsakten besteht, sondern gegenüber dem gesamten Recht unterhalb der Verfassung. Die französische Lehre spricht deshalb teilweise von einer „Übertragungswirkung“ (invocabilité de transfusion) und meint damit die Möglichkeit, sich „übertragend“, also gegenüber dem gesamten nationalen Recht, auf das Unionsrecht zu berufen.212 Sowohl die Interpretationswirkung als auch die Ersetzungswirkung finden ihre 47 Grenzen an dem Verbot eines Judikats contra legem. Hierunter wird eine Entscheidung verstanden, die sich über den klaren und eindeutigen Wortsinn einer nationalen Vorschrift hinwegsetzt, um das Ziel des Unionsrechts zu erreichen.213 In jüngerer Zeit hat die Cour de cassation diese Grenze aktiviert, um die Wirkungen der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung zu begrenzen: Anlass war ein Fall, in dem der Kläger seine Schadenersatzklage gegen den Hersteller einer Impfung gegen Hepatitis-B damit begründete, sie habe eine multiple Sklerose ausgelöst.214 Das Appellationsgericht lehnte die auf die deliktische Generalklausel, und subsidiär auf die Spezialvorschriften zur Produkthaftung gestützte Klage wegen Verjährung ab.215 Es stützte die Verjährung auf Art. 10 der Produkthaftrichtlinie, die eine Verjährung von 3 Jahren vorsieht.216 In der Tat war, als die Impfung 1989 in den Verkehr gebracht wurde, die Produkthaftungsrichtlinie trotz Ablauf der Frist noch nicht umgesetzt worden, weshalb die Anwendung der Richtlinie den üblichen methodischen Grundsätzen entsprach (vgl. Rn. 24). Die Cour de cassation hob die Entscheidung dennoch auf, da sie darauf verwies, dass dem Kläger nur die regelmäßige Verjährung des (damals anwendbaren) Deliktsrechts von 10 Jahren entgegengesetzt werden könne:217 Wie sich aus der Rechtsprechung des
211 Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, in: Rép. comm. t. IV. Rapprochement des législations. Union européenne, Suppl. 4, März 2014, Rn. 28. Diese Wirkung kommt dem Unionsrecht insgesamt zu; vgl. auch Simon, Directive, in: Rép. eur., Januar 2018, Rn. 140. 212 Simon, Directive, in: Rép. eur., Januar 2018, Rn. 132. 213 Simon, Directive, in: Rép. eur., Januar 2018, Rn. 135; so auch Cass. civ. 1re 5.2.2020, Only Keys, Nr. 18–23.752, ECLI:FR:CCASS:2020:C100088. 214 Cass. civ. 1re 15.5.2015, Nr. 14–13.151, ECLI:FR:CCASS:2015:C100522. 215 Kilgus, Interprétation conforme d’une directive non transposée et jurisprudence contra legem, Dalloz actualité v. 27. Mai 2015, . 216 Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte: Artikel 10 (1) „Die Mitgliedstaaten sehen in ihren Rechtsvorschriften vor, daß der aufgrund dieser Richtlinie vorgesehene Ersatzanspruch nach Ablauf einer Frist von drei Jahren ab dem Tage verjährt, an dem der Kläger von dem Schaden, dem Fehler und der Identität des Herstellers Kenntnis erlangt hat odert hätter erlangen müssen.“, vgl. . 217 Cass. civ. 1re 15.5.2015, Nr. 14–13.151, ECLI:FR:CCASS:2015:C100522: „alors que l’action en responsabilité extracontractuelle dirigée contre le fabricant d'un produit dont le caractère défectueux est invoqué, qui a été mis en circulation après l'expiration du délai de transposition de la directive, mais avant la date d’entrée en vigueur de la loi du 19 mai 1998 transposant cette directive, se prescrit, selon les disposiBabusiaux
780
§ 22 Frankreich
EuGH ergebe, finde die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung eine Grenze in allgemeinen Rechtsgrundsätzen, namentlich im Gebot der Rechtssicherheit und im Verbot der Rückwirkung.218 Genau diese Prinzipien würden verletzt, wenn sich der Schädiger auf die kürzere Verjährung der Richtlinie berufen könne. Wie die Begründung zeigt, ermittelt die Cour de cassation auch die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung und Rechtsfortbildung weniger aus dem innerstaatlichen Kompetenzgefüge als vielmehr auf den Vorgaben des EuGH. Dieses Vorgehen entspricht der bisherigen Linie des Gerichts, das sich als Wahrer des Unionsrechts und als Umsetzungsinstanz der vom EuGH vorgegebenen Auslegung versteht. 48 Die Auslegung einer überschießenden Umsetzung (surtransposition)219 hat in der französischen Rechtsprechung bisher keine Rolle gespielt. Aufgrund von rechtspolitisch besonders umstrittenen Ausweitungen unionsrechtlich induzierter Regeln hat sich der Gesetzgeber unlängst der Frage angenommen. Erklärtes Ziel ist es, die Umsetzung auf das unionsrechtlich notwendige Maß zu begrenzen. In diesem Sinne hat der Senat im Jahre 2018 eine Gesetzesinitiative verabschiedet, nach der überschießende Umsetzungsakte, namentlich im Konsumentenschutzrecht und im Umweltrecht, rückgängig gemacht werden sollen. Ausnahmen sollen nur gelten, wenn besondere Gründe des nationalen Wohls eine Ausweitung der Umsetzung auf nicht unionsrechtlich gebotene Bereiche oder eine Verschärfung der unionsrechtlichen Regelung verlangen.220 Der Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens in der Nationalversammlung ist zurzeit nicht absehbar.
V. Der jurisdiktionelle Dialog in Europa 49 Im Sinne einer Zusammenfassung ist festhalten, dass die französische Methodendis-
kussion vorrangig aus der Perspektive der richterlichen Rechtsanwendung geführt wird. Daher tritt die Lösung des Normkonfliktes hinter die Fragen der Kompetenz-
tions du droit interne, qui ne sont pas susceptibles de faire l'objet sur ce point d'une interprétation conforme au droit de l'Union, par dix ans à compter de la date de la consolidation du dommage initial ou aggravé,“; gleichsinnig: Cass. civ. 2ème 29.8.2019, FGAO, Nr. 18–14.768, ECLI:FR:CCASS:2019:C201094. 218 Cass. civ. 1re 15.5.2015, Nr. 14–13.151, ECLI:FR:CCASS:2015:C100522: „Attendu qu'il résulte de la jurisprudence constante de la Cour de justice de l'Union européenne (arrêts du 4 juillet 2006, Adeneler, C212/04 et du 15 avril 2008, Impact, C-268/06) que l'obligation pour le juge national de se référer au contenu d'une directive lorsqu'il interprète et applique les règles pertinentes du droit interne trouve ses limites dans les principes généraux du droit, notamment les principes de sécurité juridique ainsi que de non-rétroactivité, et que cette obligation ne peut pas servir de fondement à une interprétation contra legem du droit national;“ 219 Simon, Directive, in: Rép. eur., Januar 2018, Rn. 76. 220 Projet de loi portant suppression de sur-transpositions de directives européennes en droit français (EAEX1823939L), (letzte Änderung 21. August 2019). Babusiaux
V. Der jurisdiktionelle Dialog in Europa
781
abgrenzung zwischen den einzelnen Gerichten, namentlich zwischen Cour de cassation, Conseil d’État, Conseil constitutionnel, EuGH und EGMR, in den Hintergrund. Diese Sichtweise mag auch darin begründet sein, dass mit der traditionell strengen Trennung von ordentlicher Gerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichten verschiedene Gerichte exklusiv für verschiedene Rechtsmassen zuständig waren. Daher wurden Konflikte vorrangig als Zuständigkeitsfragen und weniger als Normwiderspruch gedeutet. Das Unionsrecht und die ihm in verschiedener Hinsicht gleichgestellte EMRK erscheinen dabei nur als zusätzliche Rechtsmassen, deren Auslegung ihrerseits besonderen Gerichten zugewiesen ist. Inhaltliche Konflikte zwischen dem Unionsrecht und dem französischen Recht haben sich bisher nur angedeutet. Jedenfalls haben Conseil constitutionnel und Conseil d’État aber erkennen lassen, dass sie bestimmte Bereich des französischen Verfassungsrechts auch gegenüber dem Unionsrecht durchsetzen werden, falls dieses keinen äquivalenten Grundrechtsschutz bietet. Aufgrund der zunehmenden Konstitutionalisierung der französischen Rechtsordnung ist damit zu rechnen, dass derartige Inhaltskonflikte in Zukunft häufiger auftreten werden. Es ist nach alldem nicht zu übersehen, dass die französische Rechtsordnung wie 50 die französische Rechtskultur durch das Zusammenwachsen des europäischen Rechtsraums starken Wandelungen unterliegen. Schon die Einführung der konkreten Normenkontrolle (QPC) im Jahre 2008 lässt sich als Versuch lesen, die Wandelungen der richterlichen Funktion wenigstens teilweise wieder an den Nationalstaat zurückzubinden. Erst recht sind die Reform des Prüfungsmaßstabes und die Einführung der contrôle in concreto durch Cour de cassation und Conseil d’État dem Anliegen geschuldet, die richterlichen Kontrollbefugnisse nicht vollständig an die europäischen Instanzen abzugeben. Vielmehr haben beide obersten Fachgerichte deutlich zum Ausdruck gebracht, ihre Rolle als Wahrer der Einheit der Rechtsprechung in Frankreich auch für das Unionsrecht und die EMRK wahrnehmen zu wollen.221
221 Zur Frage der Souveränität, vgl. Conseil d’État (Hrsg.), Droits et Débats (2016) 35–54. Babusiaux
§ 23 Vereinigtes Königreich Literatur: John Hamilton Baker, An Introduction to English Legal History (4. Aufl. 2002); Zenon Bankowski/D. Neil MacCormick, Statutory Interpretation in the United Kingdom, in: D. Neil MacCormick/ Robert S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes: a comparative study (1991), S. 359–406; Martin Brenncke, ‘Statutory interpretation and the role of the courts after Brexit’ EPL 25 (2019), 637–664; Hugh Collins, Social Rights, General Clauses and the Acquis Communautaire, in: Stefan Grundmann/Denis Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law (2006), S. 111–140; Paul P. Craig, Britain in the European Union, in: Jeffrey Jowell/Dawn Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution (7. Aufl. 2011), S. 102–131; Paul P. Craig, Indirect Effect of Directives in the Application of National Legislation, in: Mads Andenas/Francis Jacobs (Hrsg.), European Community Law in the English Courts (1998), S. 37–55; Paul Craig/Gráinne de Búrca, EU Law: Text, Cases and Materials (6. Aufl. 2015); Rupert Cross/John Bell/George Engle, Statutory Interpretation (3. Aufl. 1995); Rupert Cross/James W. Harris, Precedent in English Law (4. Aufl. 1991); Gráinne de Bùrca, Giving Effect to European Community Directives, MLR 55 (1992), 215–240; Ewan McKendrick Goode on Commercial Law (5. Aufl. 2016); Trevor Hartley, The Foundations of European Community Law (8. Aufl. 2014); Ian McLeod, Legal Method (9. Aufl. 2013); Michael Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009); Robin White/Ian D. Willock/Hector MacQueen, The Scottish Legal System (5. Aufl. 2013); Michael Zander, The Law-Making Process (7. Aufl. 2015). Rechtsprechung: Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004; H.P. Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A. [1974] Ch. 401; R. v Henn and Darby (1978) 2 CMLR 688; R. v Henn and Darby [1981] A.C. 850; Phonogram Ltd. v Lane [1982] 1 Q.B. 938; Garland v British Rail Engineering Ltd. [1983] 2 A.C. 751; Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618; Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66; Litster v. Forth Dry Dock & Engineering Co Ltd. [1990] 1 A.C. 546; Cotronic (UK) Ltd. v Dezonie [1991] B.C.C. 200; R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. [1990] 2 A.C. 85; R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. (No. 2) [1991] 1 A.C. 603; Pepper v Hart [1993] 1 All E.R. 42; Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49; Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. (No 2) [1995] 1 W.L.R. 1454; Kleinwort Benson Ltd. v Lincoln City Council [1999] 2 A.C. 349; Director General of Fair Trading v First National Bank plc [2002] 1 A.C. 481; Thoburn v Sunderland City Council [2003] Q.B. 151; R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37; OFT v Abbey National plc and others [2009] EWCA Civ 116; [2009] UKSC 6; OFT v Foxtons [2009] EWHC 1681 (Ch); OFT v Ashbourne [2011] EWHC 1237 (Ch).
Systematische Übersicht I. II.
Einleitung 1–3 Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem 4–22 1. Fallrecht 4–12 a) Vertikale und horizontale Dimension der Präjudizienbindung 5–6 b) Methodik des Fallrechts 7–10 c) Rechtsschöpfung durch die Gerichte? 11–12 2. Gesetzesrecht 13–22
a)
Die klassische Auslegung nach dem Wortlaut 14–17 b) Die moderne Auslegung nach Sinn und Zweck 18–20 c) Auslegung und Präjudizienbindung 21–22 III. Unionsrecht und nationales Recht auf der Grundlage des European Union (Withdrawal) Act 2018 (EUWA) 23–26 IV. Europäische Methodenlehre und rezipiertes Unionsrecht 27–48
Schillig https://doi.org/10.1515/9783110614305-023
784
§ 23 Vereinigtes Königreich
1.
2.
Sekundärrecht und nationale Gerichte 27–34 a) Die Auslegung des Sekundärrechts vor dem Inkraftreten des EUWA 28–30 b) Die Auslegungsgrundsätze des EUWA 31–33 c) Vorlagepraxis 34 Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, insbesondere rezipierten Unionsrechts 35–48
a)
V.
Spezifisches Umsetzungsrecht (auf Unsionsrecht basierendes nationales Recht, sec.2 EUWA) 38–42 b) Sonstiges Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie 43–48 Fazit 49–50
I. Einleitung 1 Das „Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland“ als Völkerrechts-
subjekt beherbergt bekanntermaßen unter einem Dach drei Rechtsysteme mit je eigenständiger Gerichtsorganisation und teilweise eigenständigem materiellen Recht.1 Insoweit ist zwischen englischem, schottischem und nordirischem Recht zu unterscheiden. Soweit sich Gesetzgebung auf Großbritannien (England und Wales, Schottland) oder das gesamte Vereinigte Königreich erstreckt, kann man daneben von britischem Recht bzw. dem Recht des Vereinigten Königreichs sprechen.2 Im Bereich des privaten Handels- und Wirtschaftsrechts kommt dem englischen Recht eine dominierende Rolle zu. So orientieren sich bereits seit dem 19. Jahrhundert auch schottische und nordirische Juristen und Richter in großem Umfang an englischen Entscheidungen und literarischen Expositionen, die allein schon wegen ihrer größeren Anzahl oftmals leichter und schneller zugänglich waren, als schottische oder irische Texte.3 Die einheitliche privat- und wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts4 hat diese Tendenz noch verstärkt.5 2 Das Vereinigte Königreich ist im Hinblick auf völkerrechtliche Verträge streng dualistisch.6 Die innerstaatliche Wirksamkeit der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften, der nachfolgenden Verträge und des Sekundärrechts bedurften damit eines nationalen Anwendungsbefehls7 in Gestalt des European Communities
1 Nicht zum Vereinigten Königreich gehören die Kanalinseln, einschließlich Jersey und Guernsey, und die Isle of Man. 2 White/Willock/MacQueen, The Scottish Legal System, S. 37, 38. 3 White/Willock/MacQueen, The Scottish Legal System, S. 32. 4 Vgl. etwa Companies Act 1865; Partnership Act 1890, Bills of Exchange Act 1882; Bankruptcy Act 1883; Sale of Goods Act 1893; Consumer Rights Act 2015. 5 White/WillockMacQueen, The Scottish Legal System, S. 32, 33. 6 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 272. 7 McWhirter v Attorney-General [1972] CMLR 882, 886 per Lord Denning. Schillig
I. Einleitung
785
Act 1972 (ECA), zuletzt in der Fassung des European Union Act 2011. Der ECA hatte umfassende Auswirkungen auf das Recht des Vereinigten Königreiches ebenso wie auf die Rechtsmethode. In einem Referendum hat sich am 23. Juni 2016 eine knappe Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung für einen Austritt aus der Europäischen Union ausgesprochen. Die Regierung des Vereinigten Königreiches stellte daraufhin am 29. März 2017 den Austrittsantrag gemäß Artikel 50 EUV. Die sich anschließende zweijährige Austrittsfrist wurde zweimal verlängert. Der formelle Austritt des Vereinigten Königreiches erfolgte nunmehr zum 31. Januar 2020, allerdings mit einer Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2020. Gemäß des European Union (Withdrawal) Act 2018 (EUWA) wurde der ECA mit Wirkung zum Tag des Austritts aufgehoben, die entscheidenden Vorschriften für das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht blieben allerdings bis zum Ende der Übergangsfrist wirksam.8 Zudem überführt der EUWA nicht nur das sich am Tag des Austritts (genauer: am Tage der Ende der Übergangsfrist) in Kraft befindliche materielle Unionsrecht in nationales Recht, sondern auch den überkommenen Methodenkanon des Gerichtshofs zur Auslegung des Unionsrechts sowie die Verpflichtung nationaler Gerichte zur unionsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts. Dies hat zur Konsequenz, dass nationales Recht und Unionsrecht auch weiterhin und für nicht absehbare Zeit miteinander verschränkt und zumindest teilweise angeglichen bleiben.9 Im Folgenden ist zunächst die Methodenlehre nach englischem Recht zu skizzie- 3 ren (II.). Die Beschränkung – insoweit – auf das englische Recht ist wegen des dominierenden Einflusses englischen Rechtsdenkens auf die übrigen Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs gerechtfertigt und aus Gründen der Präzision geboten.10 Zu unterscheiden ist dabei zwischen Fallrecht (II. 1.) und Gesetzesrecht (II. 2.). Im Hinblick auf das Gesetzesrecht waren die hergebrachten Methoden im Lichte des Unionsrechts zu modifizieren. Die Grundlage hierfür bildete, vermittelt durch den Verfassungsgrundsatz der Parlamentssouveränität, der innerstaatliche Anwendungsbefehl, mit dem die europäische Rechtsordnung in das nationale Recht überführt wurde. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreiches und dem Ende der Übergangsfrist wird das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht neu geordnet (III). Der EUWA modifiziert dabei die Anwendung der Methoden des Gerichtshofs durch nationale Gerichte bei der Auslegung Europäischen Privatrechts (IV. 1.) ebenso wie Umfang und Grenzen einer richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts (IV. 2.).
8 Sec.1A EUWA (as inserted by the European Union (Withdrawal) Act 2020)). 9 Brenncke, ‘Statutory interpretation and the role of the courts after Brexit’ EPL 25 (2019), 637, 638. 10 Freilich dürfte dabei meist Gleiches oder Ähnliches auch für die übrigen Rechtsordnungen gelten. Schillig
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§ 23 Vereinigtes Königreich
II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem 1. Fallrecht 11 4 Während die Entwicklung des Common Law von Anbeginn auf real entschiedenen
Fällen basierte, ist die Präjudizienbindung im engeren Sinne (doctrine of binding precedent, stare decisis bzw. stare rationibus decidendis)12 nach der selbst fehlerhafte Entscheidungen durch nachfolgende Gerichte wiederholt werden müssen, ein Kind der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.13 Eine wesentliche Ursache war wohl die Einführung eines hierarchisch gegliederten Gerichtssystems,14 bestehend aus High Court of Justice, Court of Appeal und House of Lords in seiner judiziellen (nicht-parlamentarischen) Funktion als höchstes Rechtsmittelgericht. Mit Inkrafttreten des Constitutional Reform Act 2005 zum 1. Oktober 2009 wurde ein neuer Supreme Court of the United Kingdom geschaffen, der an die Stelle des House of Lords trat.
a) Vertikale und horizontale Dimension der Präjudizienbindung 5 Aus dieser hierarchischen Gliederung folgt die vertikale Dimension der Präjudizien-
bindung. Danach sind die Gerichte niederer Stufe grundsätzlich an Entscheidungen
11 Der Begriff Common Law ist mehrdeutig und gewinnt seine Bedeutung im Zusammenhang mit dem jeweiligen Gegenbegriff, von dem er abzugrenzen ist. In seiner weitesten Bedeutung meint Common Law all diejenigen Rechtssysteme, die aus dem englischen Recht hervorgegangen sind und traditionell überwiegend auf Fallrecht beruhen. Der Begriff dient hier der Abgrenzung zu auf dem römischen Recht basierenden kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, die dem Kodifikationsgedanken verpflichtet sind (civil law). Innerhalb des englischen Rechtssystems lässt sich Common Law weiterhin vom statutory law unterscheiden. In diesem Zusammenhang meint Common Law das in Gerichtsentscheidungen enthaltene Fallrecht, im Gegensatz zu dem durch Gesetz und Verordnung gesetzten Recht. Und schließlich ist Common Law noch von equity abzugrenzen. Die Unterscheidung hat historische Gründe: das strenge, auf dem writ-System basierende Common Law entwickelte sich in den königlichen Gerichten, während die der Billigkeit verpflichtete equity durch den Lord Chancellor ausgeübt wurde. Hieraus entwickelten sich zwei unterschiedliche Rechtssysteme mit je eigenem Prozessrecht, eigener Gerichtsorganisation und eigenem materiellem Recht. Erst seit den Judicature Acts von 1873 und 1875 sind beide Gerichtszweige vereinigt. In materieller Hinsicht bleibt die Unterscheidung aber bedeutsam. Vgl. zum ganzen McLeod, Legal Method, S. 26–32. In diesem Abschnitt ist Common Law im zweiten Sinne, als Fallrecht, zu verstehen. 12 Zander, The Law-Making Process, S. 229. Die Präjudizienbindung ist zu unterscheiden von der res judicata-Doktrin, die das funktionale Äquivalent zur formellen und materiellen Rechtskraft bildet und nur für die Parteien des Ausgangsrechtstreits von Bedeutung ist. Stare decisis dagegen wirkt nicht nur inter partes, sondern erga omnes. 13 Vgl. Bole v Horton (1673) Vaugh. 360, 383; Mirehouse v Rennell (1833) 1 Cl. & Fin. 520, 546. In beiden Entscheidungen wird betont, dass ein nachfolgendes Gericht nur insoweit durch eine frühere Entscheidung gebunden ist, als diese richtig und vernünftig ist. 14 Supreme Court of Judicature Acts 1873 and 1875. Vgl. Baker, An Introduction to English Legal History, S. 200. Schillig
II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem
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der Gerichte höherer Stufe gebunden.15 Das Verhältnis zwischen House of Lords und Court of Appeal war dabei nicht immer unproblematisch.16 Nach Ansicht des House of Lords verlangt das hierarchisch strukturierte Gerichtssystem jedoch, dass die Gerichte der niederen Stufen, einschließlich des Court of Appeal, die Entscheidungen der höheren Stufen loyal akzeptieren.17 Logisch nicht zwingend aus der Gerichtshierarchie ableitbar ist die horizontale 6 Dimension der Präjudizienbindung, wonach Gerichte an eigene frühere Entscheidungen bzw. frühere Entscheidungen der Gerichte gleicher Stufe gebunden sind.18 Für das House of Lords wurde die Frage geklärt19 durch London Tramways v London County Council20 aus dem Jahre 1898. Lord Halsbury begründete die Bindungswirkung von Prajudizien mit der desaströsen Rechts- und Planungsunsicherheit die resultieren würde, wenn bereits entschiedene Fragen immer wieder neu aufgerollt werden müssten, ohne dass es je eine endgültige Entscheidung gäbe.21 Allerdings befreite sich das House of Lords von diesen selbstauferlegten Fesseln im Jahre 1966. Nach dem Practice Statement (Judicial Precedent)22 behandelt das House of Lords seine früheren Entscheidungen als grundsätzlich verbindlich, sieht sich jedoch befugt, von einer früheren Entscheidung abzuweichen, soweit es dies für gerechtfertigt hält. Bisher wurde von dieser Befugnis nur sehr sparsam Gebrauch gemacht. Dass eine frühere Entscheidung als falsch bewertet wird, reicht in aller Regel nicht aus, um davon abzugehen.23 Der Court of Appeal entschied in Young v Bristol Aeroplane Co. Ltd.24 im Jahre 1944, dass seine früheren Entscheidungen Bindungswirkung entfalten. Hiervon wurden jedoch drei Ausnahmen anerkannt: (1) zwischen zwei einander widersprechenden früheren Entscheidungen hat der Court of Appeal das Recht und die Pflicht zur Wahl; (2) der Court of Appeal muss von seiner früheren Entscheidung abgehen, soweit diese nach seiner Überzeugung zu einer Entscheidung des House of Lords im Widerspruch steht; (3) die frühere Entscheidung erging per incuriam, d. h. unter Außerachtlassung des relevanten Fall- oder Gesetzesrechts. Ähnliches wie für den Court of Appeal gilt auch für den High Court of Justice, soweit dieser als Rechtsmittelgericht tätig wird (sogenannte
15 Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf das Privatrecht; im Bereich des Strafrechts gelten zum Teil abweichende Grundsätze, vgl. Zander, The Law-Making Process, S. 254 ff. 16 Vgl. Broom v Cassell [1971] 2 Q.B. 354; Schorsch Meir GmbH v Hennin [1975] Q.B. 416. 17 Broome v Cassel (No. 1) [1972] A.C. 1027, 1054 per Lord Hailsham; Milingos v George Frank (Textiles) Ltd [1976] A.C. 443, 472 per Lord Simon of Glaisdale; 495 per Lord Cross. 18 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 200. 19 Vgl. jedoch bereits Beamish v Beamish (1861) H.L.C. 274. 20 [1898] A.C. 375. 21 London Tramways v London County Council [1898] A.C. 375, 380 per Lord Halsbury. 22 [1966] 1 W.L.R. 1234 per Lord Gardiner LC. 23 Vgl. Jones v Secretary of State for Social Services [1972] A.C. 944, 995 per Lord Wilberforce; 996 per Lord Pearce. 24 Young v Bristol Aeroplane Co. Ltd [1944] K.B. 718, 729 per Lord Greene MR.
Schillig
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§ 23 Vereinigtes Königreich
Divisional Courts).25 Entscheidungen erstinstanzlicher Gerichte, einschließlich des High Court, sind für diese selbst und gleichstufige Gerichte jedoch nicht normativ verbindlich.26
b) Methodik des Fallrechts 7 In einem ersten Schritt sind aus dem einschlägigen Fallmaterial diejenigen Fälle he-
rauszufiltern, die entsprechend der obigen Grundsätze für das entscheidende Gericht verbindlich sind und daraus wiederum diejenigen, deren zugrundeliegende Sachverhalte mit dem hic et nunc zu entscheidenden Sachverhalt hinreichende Ähnlichkeit aufweisen.27 8 Auf der Grundlage der einschlägigen Präjudizien ist sodann deren ratio decidendi zu bestimmen.28 Ratio decidendi ist der einzige Teil eines Präjudizes, der normative Bindungswirkung entfalten kann.29 Alles was nicht der ratio decidendi angehört ist per Definition dictum oder obiter dictum, nimmt nicht an der normativen Bindungswirkung teil und kann allenfalls eine mehr oder weniger starke Überzeugungskraft entfalten.30 Die Feststellung der ratio decidendi wird im englischen Schrifttum als äußerst problematisch angesehen. Herrschend dürfte wohl die auf Goodhart zurückgehende Ansicht sein, wonach ratio decidendi bestimmt ist durch diejenigen Tatsachen, die der frühere Richter als maßgeblich angesehen hat und die daran anknüpfende rechtliche Schlussfolgerung.31 Ratio decidendi ist somit diejenige Rechtsregel, die aus der früheren Entscheidung bei Zugrundelegung der maßgeblichen Tatsachen folgt. Jedes nachfolgende Gericht, das der Bindung durch das Präjudiz unterliegt, muss zur gleichen Entscheidung gelangen, es sei denn, im hic et nunc zu entscheidenden Fall liegt eine zusätzliche Tatsache vor, die der jetzige Richter als maßgeblich bewertet, bzw. es fehlt am Vorliegen einer derjenigen Tatsachen, die der frühere Richter als maßgeblich angesehen hat.32 Entscheidend sind somit die Feststellung der maßgeblichen Tatsachen und das Abstraktionsniveau, auf dem diese formuliert werden. Je höher das Abstraktionsniveau, umso größer die Anzahl an möglichen Sachverhaltsgestaltungen, für die die jeweilige ratio decidendi Bindungswirkung entfalten kann.
25 Police Authority for Huddersfield v Watson [1947] K.B. 842. Die Situation ist etwas unklar, vgl. R. v Greater Manchester Coroner, ex parte Tal [1984] 3 All E.R. 240, wonach ein Divisional Court von einer früheren Entscheidung abweichen kann, soweit er von deren Unrichtigkeit überzeugt ist. 26 Zander, The Law-Making Process, S. 260. 27 Vgl. etwa Hedley Byrne & Co. Ltd. v Heller & Partners Ltd. [1964] A.C. 465, 525 per Lord Devlin. 28 Cross/Harris, Precedent in English Law, S. 192. 29 Zander, The Law-Making Process, S. 277. 30 Zander, The Law-Making Process, S. 277. Dictum meint dabei eine Äußerung, die obwohl nicht Teil der ratio decidendi, gleichwohl mit der zu entscheidenden Sachfrage in (engem) Zusammenhang steht, wohingegen obiter dicta sich in der weiteren Peripherie bewegen. 31 Goodhart, Yale L. J. 40 (1930/31), 161, 169. 32 Vgl. Cross/Harris, Precedent in English Law, S. 63; Zander, The Law-Making Process, S. 278. Schillig
II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem
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Bei der Herausarbeitung der ratio decidendi ist das einschlägige Präjudiz nicht isoliert, sondern im Kontext sämtlicher relevanter Entscheidungen zu sehen. In ihrer Gesamtheit setzen diese Entscheidungen dem gegenwärtigen Richter bei der Bestimmung des Abstraktionsniveaus und der Formulierung der ratio decidendi gewisse Grenzen, da sich das neue Präjudiz möglichst widerspruchsfrei in eine Kette von Entscheidungen einfügen muss.33 Im Anschluss daran muss das Gericht entscheiden, inwieweit der zu entscheiden- 9 de Sachverhalt mit den der ratio decidendi zugrunde liegenden maßgeblichen Tatsachen übereinstimmt.34 Mit der Herausarbeitung der ratio decidendi und der Bestimmung des Abstraktionsniveaus der maßgeblichen Tatsachen ist oftmals die eigentliche Wertungsarbeit schon getan. Das Abstraktionsniveau wird in der Weise festgelegt, dass der jetzige Sachverhalt erfasst oder eben nicht erfasst wird. Soweit der Bestimmung der Abstraktionshöhe und der ratio decidendi durch eine etablierte Kette von Entscheidungen Grenzen gesetzt sind, kann gleichwohl im Lichte des vorliegenden Sachverhaltes die Ausdehnung der festgestellten ratio, unter Verzicht auf das Vorliegen bestimmter maßgeblicher Tatsachen, oder deren Einschränkung unter Hinzufügung als notwendig anzusehender weiterer Tatsachen geboten und gerechtfertigt erscheinen.35 Im Gegensatz dazu lässt das Verfahren des „distinguishing“ die ursprüngliche ratio unberührt. Das Gericht kommt lediglich zu dem Schluss, dass die maßgeblichen Tatsachen des Präjudizes und des hic et nunc zu entscheidenden Falles nicht vergleichbar sind.36 Sowohl im Rahmen der Formulierung der ratio decidendi selbst als auch bei deren 10 Ausdehnung oder Einschränkung und insbesondere bei der Möglichkeit des distinguishing hat das hic et nunc entscheidende Gericht einen mehr oder weniger großen Bewertungsspielraum. Bei dessen Ausfüllung in Anwendung des genannten Instrumentariums geht es letzten Endes um rechtspolitische Wertungsentscheidungen.37
c) Rechtsschöpfung durch die Gerichte? Ein rechtstheoretischer Streit rankt sich um die Frage, ob die Gerichte bei der beschrie- 11 benen Vorgehensweise (neues) Recht schaffen oder lediglich vorhandenes Recht offenbarend zu Tage fördern.38 Die Offenbarungstheorie war lange Zeit ganz herrschend. Das Common Law ist danach ein Korpus ewiger, unveränderlicher Ideen, weitgehend basierend auf gesundem Menschenverstand, der durch die Gerichte fort-
33 Vgl. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 f. per Lord Diplock. 34 Cross/Harris, Precedent in English Law, S. 192. Vgl. auch Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 f. per Lord Diplock. 35 Vgl. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1059 per Lord Diplock. 36 McLeod, Legal Method, S. 150. 37 Vgl. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 per Lord Diplock. 38 Zander, The Law-Making Process, S. 310.
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laufend offenbart und verfeinert wird.39 Die Gerichte nehmen danach keine Rechtsschöpfungskompetenz in Anspruch,40 sondern wenden das existierende Recht auf immer neue Sachverhaltsgestaltungen an.41 12 Heute ist dagegen die rechtsschöpfende Funktion der Gerichte weithin anerkannt.42 Rechtsschöpfung durch die Gerichte darf dabei freilich nicht in dem Sinne verstanden werden, dass jede neue Entscheidung bei Rechtskraft unmittelbar objektives Recht schafft. Dies liegt daran, dass erst nach einiger Zeit mit einigermaßen hinreichender Gewissheit gesagt werden kann, ob, und in welcher Form, die einer Entscheidung zu entnehmende ratio decidendi als Rechtsregel Anerkennung findet.43 Die Einzelentscheidung ist lediglich ein Glied in einem fortlaufenden Prozess steter Rechtsentwicklung.44 Es ist der prozesshafte Charakter des Common Law, bei dem die Gerichte im Zusammenwirken ständig das vorhandene Fallmaterial im Hinblick auf neu zu entscheidende Sachlagen durcharbeiten, analysieren und fortentwickeln, der letztendlich das objektive Recht hervorbringt.45
2. Gesetzesrecht 13 Die Rolle der Gesetzgebung in England ist traditionell eine andere als auf dem Kon-
tinent. Zwar ergingen auch hier von Anbeginn an Gesetze, jedoch nicht mit dem Ziel, einen bestimmten Sachbereich einer umfassenden Regelung im Sinne einer Kodifikation zuzuführen, sondern lediglich um bestimmten, im Wege des Fallrechts entstandenen, jedoch als unpraktikabel oder schädlich empfundenen Regelungen abzuhelfen.46 Erst Ende des 19. Jahrhunderts ging man insbesondere im Bereich des privaten Wirtschaftsrechts dazu über, bestimmte Bereiche einer umfassenderen Regelung zu unterwerfen. Heute sind große Teile des Privatrechts gesetzlich geregelt.47 Kennzeichnend ist jedoch bis heute, dass diese Gesetze an das hergebrachte Fallrecht anknüp-
39 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 195. 40 Munster v Lamb [1883] 11 Q.B.D. 588, 600 per Brett MR. 41 Willis v Baddeley [1892] 2 Q.B. 324, 326 per Lord Esher. 42 Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 per Lord Diplock; Kleinwort Benson Ltd. v Lincoln City Council [1999] 2 A.C. 349, 377 per Lord Goff. 43 Zander, The Law-Making Process, S. 311. 44 Dworkin, Law’s Empire (1998), S. 228 ff., hat hierfür das anschauliche Bild des „Kettenromans“ (chain novel) eingeführt, wobei jeder neue Autor nach Interpretation der bisherigen Kapitel ein weiteres Kapitel hinzufügt. 45 Kleinwort Benson Ltd. v Lincoln City Council [1999] 2 A.C. 349, 377 per Lord Goff. 46 Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 197, 259. Als Beispiel kann das Statute of Uses 1535 dienen, das sicherstellte, dass feudale Lasten nicht mit Hilfe eines trust umgangen werden konnten, vgl. Hayton, The Law of Trusts (4. Aufl. 2003), S. 12. 47 Vgl. etwa Companies Act 2006; Insolvency Act 1986; Law of Property Act 1925; Sale of Goods Act 1979; Unfair Contract Terms Act 1977.
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fen, die dort entwickelten Begrifflichkeiten und Konzepte voraussetzen, weiterführen und zur Füllung etwaiger Regelungslücken heranziehen.48 Die traditionelle Beschränkung der Gesetzgebung auf einen begrenzten Sachbereich ermöglichte es, sehr detaillierte Gesetze zu konstruieren und möglichst alle denkbaren Situation ausdrücklich zu erfassen; eine Tendenz, die bis heute anhält und selbst von Richtern mitunter kritisiert wird.49
a) Die klassische Auslegung nach dem Wortlaut Eine, wenn nicht die tragende Säule der ungeschriebenen Verfassung des Vereinigten 14 Königreichs ist das Prinzip der Parlamentssouveränität (doctrine of parliamentary souvereignty). Traditionell hatte danach das Parlament (in Westminster) die Kompetenz zum Erlass und zur Aufhebung jeden erdenklichen Gesetzes; daneben existierte im Vereinigten Königreich keine Institution, die ein Parlamentsgesetz abändern, aufheben oder außer Anwendung setzen konnte. Für die Auslegung von Gesetzen folgte aus diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben, dass die Gesetze durch die Gerichte so zur Anwendung zu bringen sind, wie sie vom Parlament erlassen wurden, ohne Abänderung, Hinzufügung oder Weglassung der im Gesetz ausdrücklich postulierten Regelungsgehalte. Mittel hierzu war eine äußerst restriktive Auslegung der Gesetze anhand des Wortlauts.50 Ausgangspunkt der klassischen Auslegungslehre ist folglich die sogenannte lite- 15 ral rule. Diese besagt, dass, soweit die im Gesetz verwendeten Begriffe in sich selbst präzise und eindeutig sind, allein deren natürliche und gewöhnliche Bedeutung für die Auslegung maßgeblich ist.51 Der Wortlaut in seiner natürlichen und gewöhnlichen Bedeutung bestimmt abschließend den Regelungsgehalt einer Vorschrift. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich zumindest für einige Gesetzesbegriffe eine eindeutige natürliche und gewöhnliche Bedeutung ermitteln lässt. Eine mehr oder minder weitgehende sprachliche Unbestimmtheit der in den Rechtssätzen verwendeten Begrifflichkeiten ist jedoch stets unvermeidbar.52 Auch kann eine einseitige Orientierung am gewöhnlichen Sprachgebrauch unter Außerachtlassung des Verwendungskontextes leicht zu absurden Ergebnissen führen.
48 Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 197 f. 49 Vgl. Collins, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards, S. 117; Lando, ERPL 14 (2006), 475, 476; Kerr, L.Q.R. 96 (1980), 515, 527 ff. 50 Vgl. Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, S. 10 ff.; Bankowski/MacCormick, in: MacCormick/ Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, S. 396. 51 Vgl. Sussex Peerage Case (1884) 8 E.R. 1034, 1058 per Lord Tindal CJ: „If the words of the statute are in themselves precise and unambiguous, then no more can be necessary than to expound those words in their natural and ordinary sense. The words themselves alone do, in such a case, best declare the intention of the lawgiver.“. 52 H.L.A. Hart, The Concept of Law (2. Aufl. 1994), S. 123 ff.
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Im Hinblick darauf versuchte man bereits im 19. Jahrhundert die Strenge der literal rule abzumildern. Hierzu diente die sogenannte golden rule. Den verwendeten Begriffen ist grundsätzliche ihre Bedeutung nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch beizulegen, es sei denn, dies führe zu einer Inkonsistenz, Absurdität oder Unannehmlichkeit von einem solchen Ausmaß, dass die gewöhnliche Bedeutung nicht gemeint sein kann und die Zugrundelegung einer abweichenden Bedeutung gerechtfertigt ist. Auch diese muss aber noch durch den Wortlaut gedeckt sein. Die Reichweite dieser golden rule war allerdings unklar. Zum einen waren die maßgeblichen Anwendungskriterien (Inkonsistenz, Absurdität, Unannehmlichkeit) selbst in hohem Maße unbestimmt und wertungsoffen. Zum anderen wurde die Existenz der golden rule von einigen Richtern schlicht geleugnet. 17 Vorreiter der modernen, an Sinn und Zweck orientierten Auslegungslehre ist die auf das 16. Jahrhundert zurückgehende rule in Heydon’s Case53 oder mischief rule. Danach sind für die Interpretation eines Gesetzes stets die folgenden Überlegungen anzustellen: (i) Wie stellte sich die Rechtslage nach Common Law vor Erlass des Gesetzes dar?; (ii) Was war der Defekt oder die Unzulänglichkeit im Recht, für die das Common Law keine Lösung bot?; (iii) Welchen Rechtsbehelf hat das Parlament bereitgestellt, um diesem Defekt abzuhelfen?; (iv) Was ist der wahre Grund des Rechtsbehelfs? Aufgabe der Gerichte im Wege der Interpretation ist dann stets die Beseitigung des erkannten Defekts und die Förderung des Rechtsbehelfs im Einklang mit der wahren Intention des Gesetzgebers. Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die mischief rule in die moderne, sich an Sinn und Zweck einer Regelung orientierende Auslegungslehre fortentwickelt.
b) Die moderne Auslegung nach Sinn und Zweck 18 Die moderne Auslegungslehre stellt maßgeblich auf Sinn und Zweck einer Regelung
ab (sogenannter purposive approach).54 Die Auswirkungen des traditionellen Denkens sind aber noch immer prominent.55 So ist Voraussetzung für eine Auslegung nach Sinn und Zweck stets, dass der Wortlaut einen bestimmten Bedeutungsspielraum lässt und das gefundene Auslegungsergebnis noch durch den allgemeinen Sprachgebrauch und den natürlichen Wortsinn gedeckt ist. 19 Sinn und Zweck des Gesetzes ergeben sich aus der „Intention des Parlaments“. Dabei ist heute jedoch allgemein anerkannt, dass es sich bei der „Intention des Parlaments“ um eine bloße Fiktion, eine bequeme sprachliche Vereinfachung eines argumentativen Abwägungsprozesses handelt.56 Bei der Auslegung geht es nicht darum,
53 (1584) 76 E.R. 637. 54 Vgl. Pepper v Hart [1993] 1 All E.R. 42, 50 per Lord Griffiths; vgl. auch Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, S. 192–197. 55 Vgl. Lando, ERPL 14 (2006), 475, 476. 56 McLeod, Legal Method, S. 281. Schillig
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festzustellen, was das Parlament tatsächlich bezweckte, sondern um die Ermittlung der wahren Bedeutung dessen, was das Parlament niedergelegt hat.57 Nach dem Rechtsstaatsprinzip haben die Bürger das Recht, ihr Verhalten an dem auszurichten, was im Gesetz niedergelegt ist; nicht daran, was niedergelegt werden sollte oder was niedergelegt worden wäre, wenn der damalige Gesetzgeber die jetzige Situation in Betracht gezogen hätte.58 „Intention des Parlaments“ ist folglich diejenige Intention, die das Parlament nach Ansicht des Gerichts im Hinblick auf die verwendeten Begrifflichkeiten vernünftigerweise haben konnte. Nicht geht es um die subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, deren Zwecke oftmals voneinander abweichen mögen.59 Neben dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zu den Europäischen Gemein- 20 schaften im Jahre 1973 (dazu sogleich Rn. 23) hat auch das Inkrafttreten des Human Rights Acts 1998 (HRA) im Jahre 2000 die Verfassungslage wesentlich verändert. Nach sec. 3(1) HRA sind Gesetze und Verordnungen soweit wie möglich („so far as it is possible“) so zu interpretieren, dass sie mit den Rechten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention im Sinne der Rechtsprechung des EGMR im Einklang stehen. Soweit eine solche Interpretation nicht in Betracht kommt, können High Court, Court of Appeal und Supreme Court untergesetzliche Vorschriften für ungültig erklären. Bezüglich formeller Gesetze kommt lediglich eine Inkompatibilitätserklärung (declaration of incompatability) in Betracht. Der Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention kann in diesem Fall nur durch das Parlament selbst beseitigt werden. Der HRA stellt hierzu ein vereinfachtes Gesetzgebungsverfahren bereit. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Abgrenzung einer noch möglichen konventionskonformen Interpretation einerseits und einer unzulässigen, weil dem Parlament vorbehaltenen, Rechtssetzung durch die Gerichte andererseits.60 Von offensichtlichen Fällen abgesehen, dürften sich zuverlässig handhabbare Kriterien insoweit kaum benennen lassen.61
57 Black-Clawson International Ltd. v Papierwerke Waldhof-Aschaffenburg AG [1975] A.C. 591, 613 per Lord Reid: „We are seeking not what Parliament meant but the true meaning of what they said.“ 58 Stock v Frank Jones (Tipton) Ltd [1978] 1 W.L.R. 231, 237 per Lord Simon. 59 R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions ex pate Spath Holme Ltd [2001] 2 A.C. 349, 397 per Lord Nicholls. 60 McLeod, Legal Method, S. 302–304. 61 Vgl. etwa Ghaidan v Mendoza [2004] 3 All E.R. 411, zur Frage ob „spouse“ im Sinne des Rent Act 1977 dahingehend konventionskonform interpretiert werden kann, dass auch der überlebende homosexuelle Lebenspartner eines verstorbenen Mieters erfasst wird: bejahend insoweit die Mehrheit des House of Lords; entgegengesetzt aber Lord Millet. Schillig
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c) Auslegung und Präjudizienbindung 21 Bei der Frage, inwieweit eine Auslegungsentscheidung normative Bindungswirkung
entfaltet, ist zwischen Sachfragen (matters of fact) und Rechtsfragen (matters of law) zu unterscheiden.62 So ist die Feststellung, ob ein Rechtsbegriff nach seiner gewöhnlichen Bedeutung auf einen bestimmten Sachverhalt zutrifft, eine Sachfrage.63 Die Präjudizienbindung findet insoweit keine Anwendung. Beispielsweise führte Slade LJ in der Entscheidung Phillips Products v Hyland64 aus, dass die vom Gericht getroffene Entscheidung, ob eine bestimmte Vertragsklausel dem reasonableness-Test nach dem Unfair Contract Terms Act 1977 (UCTA) genügt, nicht als Präjudiz für Fälle herangezogen werden sollte, in denen zwar die selben Klauseln zu überprüfen, die zugrundeliegenden Sachverhalte jedoch andere sind.65 22 Dagegen ist die Auslegung eines Gesetzes, das heißt die Bestimmung der rechtlichen Folgen, die sich aus der Bedeutung eines Rechtsbegriffes ergeben,66 eine Rechtsfrage,67 bezüglich derer die Präjudizienbindung grundsätzlich Anwendung finden kann. Da es bei der Auslegung allerdings darum geht, die rechtliche Bedeutung eines Rechtsbegriffs gerade für die Zwecke desjenigen Gesetzes zu ermitteln, in dem der Begriff Verwendung findet, kann die Präjudizienbindung grundsätzlich auch nur für Begriffe innerhalb desselben Gesetzes Anwendung finden. Bezüglich identischer Begriffe in einem anderen Gesetz kann einer Auslegungsentscheidung allenfalls eine mehr oder weniger große Überzeugungskraft (pursuasive authority) zukommen.68 Eine normative Bindungswirkung besteht grundsätzlich nicht. Eine Ausnahme hiervon, also normative Bindungswirkung einer Entscheidung zu Gesetz A für eine nachfolgende Entscheidung zu identischen Begriffen in Gesetz B, gilt dann, wenn beide Gesetze den gleichen Sachbereich betreffen, also in pari materia sind.69 Bezüglich des Verhältnisses von Entscheidungen zu identischen Formulierungen im Gesetzesrecht und im Fallrecht (Common Law) gelten die gleichen Grundsätze.70
62 Dazu McLeod, Legal Method, S. 36 ff. 63 Brutus v Cozens [1973] A.C. 854, 860 per Lord Reid: „The meaning of an ordinary word of the English language is not a question of law.“ 64 Phillips Products v Hyland [1987] 1 W.L.R. 659. 65 Phillips Products Ltd v Hyland [1987] 1 W.L.R. 659, 669 per Slade LJ. Allgemein zum Problem der Behandlung des reasonableness-Tests als question of fact Whittaker, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards (2006), S. 70 ff. 66 McLeod, Legal Method, S. 229. 67 Brutus v Cozens [1973] A.C. 854, 860 per Lord Reid: „The proper construction of a statute is a question of law.“ 68 Quiltotex Co Ltd v Minister of Housing and Local Government [1966] 1 Q.B. 704, 711 per Salmon LJ; Carter v Bradbeer [1975] 1 W.L.R. 1204, 1206 per Lord Diplock. 69 R v Palmer (1785) 168 E.R. 279: „If there are several Acts upon the same subject, they are to be taken together as forming one system and as interpreting and enforcing each other.“ 70 McLeod, Legal Method, S. 230.
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III. Unionsrecht und nationales Recht
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III. Unionsrecht und nationales Recht auf der Grundlage des European Union (Withdrawal) Act 2018 (EUWA) Mit dem Beitritt des Vereinigten Königreichs im Jahre 1973 erlangten die Verträge zur 23 Gründung der Europäischen Gemeinschaften, die nachfolgenden Verträge und das Sekundärrecht innerstaatliche Wirksamkeit aufgrund des nationalen Anwendungsbefehls71 in Gestalt des European Communities Act 1972 (ECA). Dabei überführte sec. 2(1) ECA das Prinzip der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts in nationales Recht. Nach sec. 2(2) ECA erfolgte die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben und Verpflichtungen regelmäßig im Verordnungswege (Statutory Instrument) unter Zustimmung von Ober- und Unterhaus.72 Sec. 3 ECA verlieh den Entscheidungen des Gerichtshofs zu Auslegung und Wirksamkeit von EU-Rechtsakten Präjudizienwirkung im innerstaatlichen Recht.73 Durch den EUWA wurde der ECA mit Wirkung zum 31. Januar 2020 aufgehoben. Die entscheidenden Vorschriften der sec. 2–4 blieben jedoch für die Dauer der Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2020 in Kraft. Probleme bereitete von Anfang an der Grundsatz vom Vorrang des Unionsrechts. 24 Nach sec. 2(4) ECA sollte jedes Gesetz einschließlich künftiger Gesetze entsprechend der vorstehenden Bestimmungen der sec. 2 ECA ausgelegt und angewendet werden. Der Verweis auf sec. 2(1) ECA schien zu bewirken, dass jedenfalls unmittelbar anwendbares Unionsrecht gegenüber nationalem Recht Vorrang genießt. Hinzu kam die Präjudizienwirkung von EuGH-Entscheidungen nach sec. 3(1) ECA. Auch der in Costa ./. E.N.E.L. niedergelegte Vorrang des Unionsrechts74 wäre danach innerstaatlich normativ verbindlich festgeschrieben.75 Hier war nun allerdings wiederum der Grundsatz der Parlamentssouveränität zu berücksichtigen. Danach sind der Gesetzgebungsmacht des Parlaments keine rechtlichen Grenzen gesetzt, allerdings mit der Ausnahme, dass das Parlament seine Gesetzgebungsbefugnisse nicht für die Zukunft beschränken kann.76 Soweit danach ein zeitlich späteres Gesetz von einem zeitlich früheren abweicht, setzt sich ersteres durch und gilt letzteres, soweit der Konflikt reicht, als implizit aufgehoben (doctrine of implied repeal). Der Vorrang des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts nach sec.s 2(4) und 3(1) ECA war damit unproblematisch für Gesetze, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ECA bereits erlassen waren. Nachfolgende Gesetze würden sich dagegen auch gegenüber abweichendem Unionsrecht durchsetzen, da die Vorrangregelungen des ECA insoweit stets als impli-
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McWhirter v Attorney-General [1972] CMLR 882, 886 per Lord Denning. Vgl. ECA Schedule 2 para. 2(2). Craig/de Búrca, EU Law: Text, Cases and Materials, S. 297. EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., EU:C:1964:66. Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 276. Craig, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, S. 113. Schillig
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zit aufgehoben anzusehen gewesen wären.77 Eine Lösung dieses Konundrums fand das House of Lords in einer „strengen Auslegungsregel“.78 Nach der Leitentscheidung Factortame hatte sec. 2(4) ECA die Wirkung, dass jedes nachfolgende Gesetz so zu lesen war, als enthielte es eine ausdrückliche Bestimmung, wonach das unmittelbar anwendbare Unionsrecht unberührt blieb.79 Damit war der Vorrang des Unionsrechts im innerstaatlichen Recht angekommen;80 freilich nur mit der Einschränkung, dass es dem Parlament nach wie vor unbenommen blieb, in einem Gesetz klar und ausdrücklich von anwendbarem Unionsrecht abzuweichen. In diesem Fall wären die nationalen Gerichte zur Anwendung des vom Unionsrecht abweichenden nationalen Rechts berufen gewesen.81 Zum gleichen Ergebnis führte die von Laws LJ in Thoburn eingeführte Unterscheidung von konstitutionellen Gesetzen, welche, wie der ECA, die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien des Staates übergreifend regeln, und sonstigen Gesetzen.82 Konstitutionelle Gesetze können danach nur dadurch ganz oder teilweise aufgehoben werden, dass das nachfolgende Gesetz entweder eine ausdrückliche Aufhebungsregelung enthält oder so klar und eindeutig von dem früheren Gesetz abweicht, dass der Schluss auf einen entsprechenden Aufhebungswillen zwingend ist. Für sonstige Gesetze gilt dagegen die doctrine of implied repeal uneingeschränkt. Nach beiden Ansätzen bestimmte sich das Verhältnis von nationalem Recht und EU-Recht sowie dessen Wirk- und Durchsetzungskraft nach nationalem Recht.83 25 Der EUWA überführt, im Interesse rechtlicher Kontinuität, den Großteil des materiellen Unionsrechts in Kraft zum Ende der Übergangsfrist in nationales Recht und erschafft damit die neue Rechtsmaterie des „rezipierten Unionsrechts“ („retained EU law“) als Teil des innerstaatlichen Rechts.84 Das “rezipierte Unionsrecht“ setzt sich dabei aus fünf verschiedenen Kategorien zusammen: (i) sec. 2 EUWA übernimmt das auf Unionsrecht basierende nationale Recht („EU-derived domestic legislation“) bestehend aus den Gesetzen und Rechtsverordnungen, die EU-Richtlinien in nationales Recht umsetzen; (ii) sec. 3 transformiert EU-Verordnungen als „unmittelbares Unionsrecht“ („direct EU legislation“) in deren Gesamtheit in nationales Recht; (iii) sec. 4 betrifft die auf Unionsrecht basierenden Rechte und Pflichten, die nicht schon den
77 Thoburn v Sunderland City Council [2003] Q.B. 151 para. 59 per Laws LJ. 78 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 276. 79 R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. [1990] 2 A.C. 85, 140 per Lord Bridge. 80 Vgl. R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. (No. 2) [1991] 1 A.C. 603, 658 per Lord Bridge; R v Secretary of State for Employment, ex parte Equal Opportunities Commission [1995] 1 A.C. 1, 58 per Lord Keith. 81 Macarthys Ltd. v Smith [1979] I.C.R. 785, 789 per Lord Denning. 82 Thoburn v Sunderland City Council [2003] Q.B. 151 para. 62 f. 83 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 278; Craig, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, S. 118. 84 Brenncke, ‘Statutory interpretation and the role of the courts after Brexit’ EPL 25 (2019), 637, 641 ff.
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sec. 2 und 3 unterfallen, im Wesentlichen unmittelbar anwendbare Vertragsbestimmungen. Weiterhin, gemäß sec. 6(3) ist das rezipierte Unionsrecht (in unveränderter Form) auszulegen (iv) im Lichte der „rezipierten allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts“ („retained general principles of EU law“) als diejenigen allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung vor dem Austrittszeitpunkt anerkannt hat; (v) sowie im Lichte des „rezipierten Fallrechts“ (“retained case law“) in den Formen des „rezipierten nationalen Fallrechts“ („retained domestic case law“) und des „rezipierten Unionsfallrechts“ („retained EU case law“). Bei ersterem handelt es sich um Auslegungsentscheidungen nationaler Gerichte bezüglich des rezipierten Unionsrechts vor dem Austrittstag; es gelten die allgemeinen Regeln der Fallrechtsbindung. Letzteres besteht in den vor dem Austritt ergangen Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofs betreffend das rezipierte Unionsrecht. Das rezipierte Unionsfallrecht bleibt für nationale (Unter-)Gerichte verbindlich, allerdings nur solange der Supreme Court keine abweichende Entscheidung erlässt, sec. 6(4). Zeitlich nach dem Austritt ergangene Entscheidungen des Gerichtshofs können zur Auslegung herangezogen werden, sind aber nicht verbindlich. Nur der Supreme Court kann von rezipiertem Unionsfallrecht abweichen, indem er einer nach Austritt ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs folgt; Untergerichte bleiben an das rezipierte Unionsfallrecht gebunden, selbst wenn der Gerichtshof nach Austritt von seiner eigenen Rechtsprechung abweicht.85 Hierbei handelt es sich um eine potentielle Quelle divergenter Entwicklung von rezipiertem Unionsrecht und dem zugrundeliegenden Unionsrechtsakt. Gemäß sec. 5(2) findet das Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts auch nach dem 26 Austritt bzw. dem Ende der Übergangsfrist Anwendung, soweit es um die Auslegung bzw. Nichtanwendung von vor dem Austritt erlassenen nationalen Rechtsnormen geht, nicht jedoch im Hinblick auf nach dem Austritt ergangene Rechtsnormen. In diesem Zusammenhang betrifft der Vorrang des Unionsrechts sowohl das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht, als auch von rezipiertem Unionsrecht (als nationalem Recht) und vor dem Austritt ergangenem nationalen Recht.86 Es folgt, dass das vor Austritt ergangene nationale Recht soweit als möglich im Lichte des rezipierten Unionsrechts auszulegen ist.
85 Brenncke, ‘Statutory interpretation and the role of the courts after Brexit’ EPL 25 (2019), 637, 639 f. 86 Aber vgl. Brenncke, ‘Statutory interpretation and the role of the courts after Brexit’ EPL 25 (2019), 637, 650.
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IV. Europäische Methodenlehre und rezipiertes Unionsrecht 1. Sekundärrecht und nationale Gerichte 27 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Begriffe des Unionsrechts ent-
sprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs und der mit der Regelung verfolgten Ziele auszulegen.87 Eine Besonderheit besteht darin, dass Sekundärrechtsakte jeweils in allen Amtssprachen vorliegen und jeder Text gleichermaßen verbindlich ist.88 Die eigentlich maßgebliche Normfassung ergibt sich so erst durch einen Vergleich der verschiedenen sprachlichen Fassungen.89 Im Sinne einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts treffen entsprechende methodische Vorgaben nicht nur den Gerichtshof, sondern sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte, soweit diese Unionsrecht auslegen. Eine Hilfestellung bietet das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV, wonach mitgliedstaatliche Gerichte eine Frage zur Auslegung des Unionsrecht dem Gerichthof vorab zur Beantwortung vorlegen können bzw. vorlegen müssen.
a) Die Auslegung des Sekundärrechts vor dem Inkrafttreten des EUWA 28 Nach sec. 3(1) ECA waren die englischen Gerichte per nationalem Gesetz dazu verpflichtet, zur Auslegung von Texten des EU-Rechts die vom Gerichtshof hierfür entwickelten Methoden heranzuziehen.90 Dies wurde von Lord Denning in H.P. Bulmer Ltd v J. Bollinger S.A.91 frühzeitig erkannt. Gleichwohl taten sich die englischen Gerichte noch einige Zeit schwer, sich von einer allzu engen wörtlichen Auslegung zu verabschieden. So hatte der Court of Appeal in R. v Henn and Darby, trotz Dassonville,92 erhebliche Zweifel daran, dass ein totales Einfuhrverbot eine „mengenmäßige
87 So zusammenfassend EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar, EU:C:2005:150 Rn. 21. Vgl. auch EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 18–20; EuGH v. 5.3.1963 – Rs. 26/62 Van Gend en Loos, EU:C:1963:1 Rn. 8: „Geist“, „Systematik“, „Wortlaut“. Vorbildlich GA Trstenjak, Schlussanträge v. 15.11.2007 – Rs. C-404/06 Quelle, EU:C:2007:682 Tz. 43–66. Zur Auslegung des Primärrechts eingehend Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 7; zur Auslegung des Sekundärrechts eingehend Riesenhuber, in diesem Band, § 10. 88 Vgl. Art. 1 VO Nr. 1 v. 15.4.1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die EWG, ABl. 1958, 17/385; in der Fassung der VO (EU) Nr. 517/2013 v. 13.5.2013, ABl. 2013 L 158/1. 89 Vgl. EuGH v. 5.12.1967 – Rs. 19/67 van der Vecht, EU:C:1967:49; EuGH v. 12.7.1979 – Rs. 9/79 Koschniske, EU:C:1979:201 Rn. 6; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335 Rn. 18; EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar, EU:C:2005:150 Rn. 25; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-306/06 01051 Telecom, EU:C:2008:187 Rn. 24. 90 Slynn, Stat.L.R. 14 (1993), 12, 23. 91 H.P. Bulmer Ltd v J. Bollinger S.A. [1974] Ch. 401, 425. 92 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, EU:C:1974:82. Schillig
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Einfuhrbeschränkung“ im Sinne des Art. 34 AEUV/28 EG sein könne.93 In der Revision stellte das House of Lords hierzu fest, dass die Äußerung dieser Zweifel die Gefahren verdeutliche, die daraus resultierten, dass ein englisches Gericht englische Auslegungskriterien zur Auslegung von Texten des Unionsrechts heranzieht.94 Im Zeitpunkt des Austritts war aber die Anwendung der Auslegungsmethoden des 29 Gerichthofs durch englische Gerichte gut etabliert. Nahezu mustergültig ist die Entscheidung des Court of Appeal in R(Khatun) v Newham LBC.95 Es ging um die Frage, ob die Klauselrichtlinie96 (umgesetzt nunmehr als Teil des Consumer Rights Act 2015) auch auf Verträge über Grundstücksrechte Anwendung findet. Dies war, vor der Entscheidung des Gerichtshofs in Freiburger Kommunalbauten,97 deswegen zweifelhaft, weil sich die Richtlinie in ihrer englischen Fassung in zahlreichen Begründungserwägungen und in Art. 4 Abs. 2 auf „goods and/or services“ bezieht. Nach englischem Verständnis können „goods“ aber nur bewegliche Sachen sein.98 Laws LJ, der das einstimmige Urteil des Court of Appeal formulierte, hob zunächst hervor, dass der Umsetzungsrechtsakt (damals UTCCR) lediglich die Klauselrichtlinie in nationales Recht umsetze, so dass es entscheidend auf die Auslegung der Richtlinie selbst ankomme. Ausgangspunkt sei die hinter der Richtlinie stehende dominierende Zielsetzung.99 Diese sei der Verbraucherschutz, was sich, neben Begründungserwägungen 8–10, insbesondere aus dem in Absatz 3 des als Rechtsgrundlage dienenden Art. 114 AEUV geforderten hohen Verbraucherschutzniveaus ergäbe. Vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Mieter (beim lease handelt es sich um ein Grundstücksrecht) besonders gefährdet seien und ein Grundstückskauf für viele Menschen ein seltenes und besonders bedeutsames Geschäft darstelle, gäbe es für einen Ausschluss der Grundstücksgeschäfte vom Anwendungsbereich der Richtlinie keinen vernünftigen Grund. Auf den scheinbar gegenteiligen Wortlaut der Richtlinie könne es nicht ankommen, denn die französische (biens), italienische (beni), spanische (bienes) und portugiesische (bens) Sprachfassung bezögen Grundstücksrechte jeweils mit ein.100 Zudem sei die europäische Rechtsordnung als ein einheitlicher Rechtskorpus anzusehen, der in allen Mitgliedstaaten verbindlich ist.101 Die strikte dogmatische Unterscheidung von Rechten an beweglichen Sachen und Grundstücksrechten im englischen Recht sei historisch begründet und habe auch noch einen gegenwärtigen Nutzen. Im Zusammenhang eines europaweiten Verbraucherschutzregimes sei sie aber allenfalls eine peinliche Marotte.102 Auch die travaux préparatoires sprächen für die Einbeziehung
93 R. v Henn and Darby [1978] 2 CMLR 688, 691. 94 R. v Henn and Darby [1981] A.C. 850, 904 per Lord Diplock. 95 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37. Vgl. auch OFT v Abbey National plc and others [2009] EWCA Civ 116 para. 84 (reversed on appeal [2009] UKSC 6). 96 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 97 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, EU:C:2004:209. Zum Zeitpunkt der Entscheidung lagen lediglich die Schlussanträge des Generalanwalts vor, vgl. R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 66. 98 Vgl. McKendrick, Goode on Commercial Law, S. 32. 99 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 67 f. 100 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68. 101 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68. 102 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68.
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von Grundstücksrechten.103 Wäre ein Ausschluss von Grundstücksverträgen bezweckt gewesen, so wäre dies ausdrücklich angeordnet worden, wie etwa in der Haustürgeschäfterichtlinie und der Fernabsatz-Richtlinie104 geschehen.105 Laws LJ kam so zum Ergebnis, dass die Richtlinie (und folglich UTCCR) auf Grundstücksverträge Anwendung findet.106
30 Diese Entscheidung führt sämtliche europarechtlichen Auslegungskriterien zusam-
men und gewichtet sie entsprechend der Vorgaben des Gerichtshofs: Zur Bestimmung des Wortlauts erfolgt die Heranziehung mehrerer Sprachfassungen, die travaux préparatoires werden einbezogen, im Rahmen einer systematischen Auslegung werden Nachbarrechtsakte gewürdigt, und den Schwerpunkt bildet die teleologische Auslegung unter Hinweis auf Begründungserwägungen und Rechtsgrundlage. Nicht alle Entscheidungen spiegeln in diesem Umfang und in dieser Qualität die Anforderungen des Gerichtshofs wider. Manchmal findet sich nur ein ganz pauschaler Hinweis auf Sinn und Zweck der Richtlinie.107 Oftmals wird von Untergerichten vorhergehenden Auslegungsentscheidungen der nationalen Obergerichte ausschlaggebende Bedeutung beigemessen.108 Aber dass es um eine autonome, unionsweite Auslegung ging,109 bei der es maßgeblich auf die Teleologie der Vorschrift ankommt und der Wortlaut nur eine ganz durchlässige Eingrenzung darstellt, war allgemein anerkannt.110
103 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68 f. 104 Nunmehr Art 3 Abs. 3 lit. e) der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2011 L 304/64. 105 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 69. 106 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 69. 107 Phonogram Ltd. v Lane [1982] Q.B. 938, 943 per Lord Denning. 108 So wird die Leitentscheidung zur Klauselkontrolle Director General of Fair Trading v First National Bank plc [2002] 1 A.C. 481 prinzipiell allen nachfolgenden Entscheidungen mehr oder weniger zu Grunde gelegt; vgl. nur OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6; OFT v Foxtons [2009] EWHC 1681 (Ch); OFT v Ashbourne [2011] EWHC 1237 (Ch). 109 Overy v Paypal (Europe) Ltd [2012] EWHC 2659 (QB) Rn. 169; Turner & Co (GB) Ltd v Abi [2010] EWHC 2078 (QB) Rn. 38. 110 Vgl. nur Director General of Fair Trading v First National Bank plc [2002] 1 A.C. 481, 494 per Lord Bingham; Litster v Forth Dry Dock & Enineering Co Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 562 per Lord Oliver; International Sales & Agencies Ltd. v Sidney Marcus [1982] 2 CMLR 46 Rn. 21; TCB Ltd. v Gray [1986] Ch. 621, 635; Smith v Henniker-Major & Co. [2003] Ch. 182, 195 per Robert Walker LJ; 215 per Schiemann LJ; OFT v Abbey National plc and others [2009] EWCA Civ 116 para. 84 (reversed on appeal [2009] UKSC 6).
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b) Die Auslegungsgrundsätze des EUWA Rezipiertes Unionsrechts ist nationales Recht. Nach dem Austritt stellt sich das Pro- 31 blem einer direkten Auslegung des Unionsrechts durch nationale Gerichte nicht mehr: EU-Verordnungen wurden als rezipiertes unmittelbares Unionsrecht in nationales Recht transformiert, und für EU-Richtlinien stellte sich das Problem der Auslegung von Richtlinienvorschriften stets nur mittelbar über den Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts. Nachdem die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur Auslegung des (vor Austritt ergangenen) nationalen Rechts weitgehend unangetastet bleibt (Rn. 37), ist auch die Auslegung des sekundären Unionsrechts (Richtlinien und Verordnungen) durch nationale Gerichte weiterhin relevant, und zwar als Vorstufe zur Auslegung des rezipierten Unionsrechts. Das rezipierte Unionsrecht ist im Einklang mit dem rezipierten Fallrecht auszule- 32 gen, sec. 6(3). Zusätzlich zu materiell-rechtlichen Fragen, beinhaltet das rezipierte Unionsfallrecht auch die hergebrachten Auslegungsmethoden des Gerichtshofs.111 Allerdings übernimmt das nationale Recht den Methodenkanon des Gerichtshofs in modifizierter Form. So ist für die Überführung des Verordnungsrechts lediglich die Version des zugrundeliegenden Texts in englischer Sprache verbindlich. Für Zwecke der Auslegung können gleichwohl die übrigen Sprachfassungen herangezogen werden, sec. 3(4). Als Methodenanweisung erscheint die Heranziehung anderer Sprachfassungen als der englischen weniger stark zu sein, als nach der hergebrachten Methode des Gerichtshofs, sind doch im Unionsrecht sämtliche Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich. Weiterhin mag der Gerichtshof im Zuge einer teleologischen Auslegung gelegentlich den Geist oder das System der Verträge, die Effektivität des Unionsrechts, oder die Idee eines „immer engeren Zusammenschlusses“ als Auslegungsargumente bemühen. Im Hinblick auf die politische Motivation des Austritts erscheint die Heranziehung dieser und ähnlicher Argumente durch nationale Gerichte nach erfolgtem Austritt kaum mehr legitim im Zuge der Auslegung rezipierten Unionsrechts.112 Im Grunde beinhaltet die Transformation der europäischen Methode in das nationale Recht eine Einengung der zur Verfügung stehenden Argumentationstopoi. Lediglich Argumente, die direkt aus dem relevanten Rechtsakt ableitbar sind, können herangezogen werden. Die Grenzen sind freilich fließend und wie sich die Gerichte auf die neue Rechtslage einstellen werden sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Nachdem die Auslegung des rezipierten Unionsrechts grundsätzlich dem etablier- 33 ten Methodenkanon des Gerichtshofs unterliegt, liegt die Annahme nahe, das Gleiches auch für die Auslegung des zugrunde liegenden Unionsrechtsakts (als Vorstufe der Auslegung des rezipierten Unionsrechts) gelten muss. In diesem Zusammenhang stellt sich freilich die Frage, ob die Methode des Gerichtshofs im Original oder in modi-
111 Brenncke, ‘Statutory interpretation and the role of the courts after Brexit’ EPL 25 (2019), 637, 645. 112 Brenncke, ‘Statutory interpretation and the role of the courts after Brexit’ EPL 25 (2019), 637, 646 ff.
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fizierter Form Anwendung findet. Auf dieser (Vor-)Stufe des Auslegungsprozesses sollte es dem nationalen Gericht um die Herausarbeitung der “wahren Bedeutung“ des Unionsrechtstextes gehen (als Grundlage für die nachfolgende Auslegung des rezipierten Unionsrechts). Hierfür scheint die Methode des Gerichtshofs im Original vorzugswürdig. Auf der Ebene des Unionsrechts sind nun einmal alle Sprachfassungen verbindlich und kann die Bedeutung einer Rechtsnorm nur durch Heranziehung aller Sprachfassungen zuverlässig ermittelt werden. Soweit relevant, mögen der Geist bzw. das System der Verträge, oder auch der Gedanke des Binnenmarktes die Auslegung in eine Bestimme Richtung leiten. Nachdem das nationale Gericht den Unionsrechtsakt im europäischen Kontext und im Zusammenhang des gesamten Unionsrechts gewürdigt hat, kann es sodann in Anwendung des Methodenkanons in modifizierter Form zur Auslegung des rezipierten Unionsrechts etwaigen Brexit-Befindlichkeiten Rechnung tragen.
c) Vorlagepraxis 34 Stellt sich einem mitgliedstaatlichen Gericht eine Frage zur Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts und hält das Gericht eine Beantwortung dieser Auslegungsfrage zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es dem Gerichtshof die entsprechende Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung vorlegen, Art. 267 Abs. 2 AEUV. Letztinstanzliche Gerichte sind unter den gleichen Voraussetzungen zur Vorlage verpflichtet, Art. 267 Abs. 3 AEUV. Hinsichtlich des „Für-erforderlich-haltens“ der Beantwortung der Auslegungsfrage und der Ausübung des daran anknüpfenden Ermessens der unterinstanzlichen Gerichte hatte Lord Denning in H.P. Bulmer Ltd v J. Bollinger S.A.113 anfänglich sehr strenge Kriterien aufgestellt. Im Laufe der Zeit hatte sich die Einstellung der Gerichte etwas gewandelt und sie waren eher zu einer Vorlage bereit.114 Eine kursorische Betrachtung der Rechtsprechungsstatistik des Gerichtshofs ergibt,115 dass es vom Beitritt des Vereinigten Königreichs an fast 20 Jahre dauerte, bis die Anzahl der Vorlagen etwa derjenigen von Frankreich entsprach. Verglichen mit Italien, aber auch Belgien und der Niederlande ist die Zahl der von Gerichten des Vereinigten Königreichs jährlich neu eingereichten Verfahren deutlich geringer. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die Gerichte relativ leicht zu dem Schluss gelangten, dass die Antwort auf eine Vorlagefrage eigentlich klar ist und keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt. In der
113 H.P.Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A [1974] Ch. 401, 422. 114 R. v The Pharmaceutical Society of Great Britain [1987] 3 CMLR 951, 970 ff. per Kerr LJ; Regina v International Stock Exchange of the United Kingdom and the Republic of Ireland Ltd., Ex parte Else (1982) Ltd. [1993] Q.B. 534, 545 per Sir Thomas Bingham MR. 115 Rechtssprechungsstatistiken des Gerichtshofs (abrufbar unter https://curia.europa.eu/jcms/up load/docs/application/pdf/2020-05/qd-ap-20-001-en-n.pdf).
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sog. C.I.L.F.I.T.-Entscheidung116 hat der Gerichtshof bekanntlich eine entsprechende Einschränkung der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte anerkannt, wenn auch nur unter strengen Voraussetzungen. Das House of Lords hat hiervon in der Vergangenheit großzügig Gebrauch gemacht.117 Nach dem Austritt besteht gemäß sec. 6(1)(b) EUWA die Möglichkeit einer Vorlage nicht mehr.
2. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, insbesondere rezipierten Unionsrechts Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs118 sind die mitgliedstaatlichen Ge- 35 richte „im Rahmen ihrer Zuständigkeit“ verpflichtet, das gesamte innerstaatliche Recht „soweit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks“ der Richtlinie auszulegen119 und im Rechtsstreit zwischen Privaten „alles [zu] tun“ um die volle Wirksamkeit der Richtlinie zu gewährleisten.120 In Adeneler hat der EuGH dies etwas relativiert.121 Die Richtlinie dürfe „nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.“122 Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung (und Rechtsfortbildung) sind damit aus Sicht des Gerichtshofs durch die nationalen Methodenlehren determiniert.123 Noch vor Von Colson124 begannen englische Gerichte damit, einen Konflikt zwi- 36 schen nationalem Recht und (unmittelbar anwendbarem) Europarecht durch eine europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts auszuräumen. Nach Garland v British Rail125 sind Gesetze des Vereinigten Königreichs, die nach Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages zum gleichen Sachgebiet erlassen wurden, so auszulegen,
116 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335; bereits zuvor EuGH v. 27.3.1963 – verb. Rs. 28/62 bis 30/62 Da Costa, EU:C:1963:6. 117 Beispielsweise OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6. 118 Beispielhaft EuGH v. 10.4.1984 – Rs. C-14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, EU:C:1984:155 Rn. 26 und aus neuerer Zeit EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, EU:C:2004:584 Rn. 110. 119 Vgl. EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153 Rn. 26; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU:C:1990:395 Rn. 8; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292 Rn. 26; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346 Rn. 30. 120 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, EU:C:2004:584 Rn. 115–118; vgl. auch EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, EU:C:2005:637 Rn. 71; sowie EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06, Impact, EU:C:2008:223 Rn. 101; EuGH v. 28.1.2010 – Rs. C-406/08 Uniplex (UK), EU: C:2010:45 Rn. 45–48. 121 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 110 f. Vgl. auch EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, EU:C:2005:386 Rn. 47. 122 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 110. 123 Dazu im Einzelnen W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band § 13 Rn. 35–42. 124 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, EU:C:1984:153. 125 Garland v British Rail Engineering Ltd. [1983] 2 A.C. 751.
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dass sie der völkerrechtlichen Verpflichtung zum Durchbruch verhelfen; allerdings nur, soweit die verwendeten Begriffe vernünftigerweise eine solche Bedeutung haben können. Dieses Auslegungsprinzip gelte a fortiori für europarechtliche Verpflichtungen nach sec. 2 ECA.126 Es hat seine Grundlage im Prinzip der Parlamentssouveränität. Die Gerichte verhelfen lediglich dem Willen des Parlaments zur Umsetzung der internationalen Verpflichtung zum Durchbruch. Die Vermutung eines solchen Umsetzungswillen ist aber nur schlüssig, soweit das auszulegende Gesetz nicht eindeutig und unmissverständlich der völkerrechtlichen Verpflichtung zuwiderläuft.127 37 Hinsichtlich der europarechtlichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs galten gleichwohl stets Besonderheiten. Zu unterscheiden war insoweit zwischen der Auslegung von speziell zur Umsetzung einer Richtlinie ergangenem nationalen Recht und sonstigem nationalen Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie.128 Für Letzteres galt die hergebrachte völkerrechtliche Auslegungsregel; für ersteres wurde diese im Sinne größerer Flexibilität erheblich modifiziert. Die Verpflichtung zur Unionsrechts-konformen Auslegung hat der EUWA in modifizierter Form übernommen. Gemäß sec. 5(2) und 6(3) ist nationales Recht soweit als möglich im Einklang mit dem Unionsrecht zu interpretieren.129 Für die Untergerichte bezieht sich dies freilich nur auf etwaige Auslegungen des Unionsrecht durch den Gerichtshof zeitlich vor dem Austritt, sec.6(1). Der Verweis in sec. 6(3) und (7) auf das rezipierte nationale Fallrecht hat zur Folge, dass auch die unterschiedliche Behandlung von Umsetzungsrecht und sonstigem Recht für zeitlich vor dem Austritt ergangene Rechtsakte relevant bleibt.
a) Spezifisches Umsetzungsrecht (auf Unionsrecht basierendes nationales Recht, sec. 2 EUWA) 38 Hinsichtlich spezifischen Umsetzungsrechts haben sich die englischen Gerichte grundsätzlich bereit und in der Lage gezeigt, dem unionsrechtlichen Regelungsziel zum Durchbruch zu verhelfen. 39
In Pickstone v Freemans130 ging es um die Auslegung von sec. 1(2)(c) des Equal Pay Act 1970 (EPA). Danach hatten Frauen ursprünglich nur dann einen Anspruch auf gleichen Lohn, wenn ein (besser bezahlter) Mann entweder die gleiche Arbeit wie die Frau ausführte (sec. 1(2)(a) EPA), oder seine Arbeit aufgrund einer Jobevaluation als äquivalent eingestuft worden war (sec. 1(2)(b) EPA). Dies wurde vom Gerichtshof im Hinblick auf die Umsetzung der Gleichbehandlungsricht-
126 Garland v British Rail Engineering Ltd. [1983] 2 A.C. 751, 771 per Lord Diplock. 127 Vgl. de Bùrca, MLR 55 (1992), 215, 219 f. 128 Craig, in: Andenas/Jacobs (Hrsg.), European Community Law in the English Courts, S. 46; Fairhurst, Law of the European Union, S. 296 ff. 129 EUWA Explanatory Memorandum Rn. 104. 130 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66.
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linie (Entgelt)131 beanstandet.132 Daraufhin wurde sec. 1(2)(c) eingefügt, wonach auch die Arbeit eines Mannes vergleichbar ist, die, „soweit section 1(2)(a) und (b) nicht anwendbar sind“, gegenüber der Arbeit der Frau von gleichem Wert ist. Hierauf gestützt machte die Klägerin geltend, dass ihre Arbeit von gleichem Wert sei, wie die eines besser bezahlten männlichen Kollegen. Ein anderer männlicher Kollege, der die gleiche Arbeit ausführte wie die Klägerin, erhielt hierfür jedoch den gleichen Lohn. Deshalb vertrat der Arbeitgeber, dass sec. 1(2)(a) EPA einschlägig sei (gleiche Arbeit) und mithin sec. 1(2)(c) EPA (gleicher Wert), wegen der dort enthaltenen Ausschlussklausel („soweit …“), nicht in Betracht komme. Dies wurde von einem einstimmigen House of Lords zurückgewiesen. Obwohl nach dem Wortlaut an sich eindeutig und so zu verstehen wie vom Arbeitgeber gedacht,133 war die Ausschlussklausel doch so auszulegen, dass sec. 1(2)(c) nur insoweit keine Anwendung findet, als sec. 1(2)(a) oder (b) für denjenigen männlichen Arbeitnehmer vorliegen, den sich die Frau selbst als Vergleichsmaßstab ausgewählt hat. Dies sei in sec. 1(2)(c) EPA hineinzulesen.134 Die Neuregelung verfolge das Ziel, das Recht des Vereinigten Königreichs vollständig an das Unionsrecht und die Entscheidung des Gerichtshofs anzupassen. Dies sei durch die richtige Auslegung von sec. 1(2)(c) EPA erreichbar und entspreche dem Willen von Regierung und Parlament.135
Bei Pickstone v Freemans handelt es sich eigentlich um einen Fall der primärrechts- 40 konformen Auslegung des nationalen Rechts.136 Wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit des damaligen Art. 141 EG (Art. 157 AEUV) wäre es auf eine richtlinienkonforme Auslegung an sich gar nicht angekommen.137 Gleichwohl legte der Fall nach allgemeiner Ansicht den Grundstein für die richtlinienkonforme Auslegung, deren Grundsätze mit der nachfolgenden Entscheidung in Litster v Forth Dry Dock138 endgültig etabliert wurden. Es ging um die Auslegung der Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 41 1981 (TUPE),139 durch die die Betriebsübergangsrichtlinie aus dem Jahr 1977140 in nationales
131 Richtlinie 75/117/EWG des Rates v. 10.2.1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen, ABl. 1975 L 45/19. 132 EuGH v. 6.7.1982 – Rs. 61/81 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, EU:C:1982:258. 133 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 125 per Lord Oliver. 134 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 120 f. per Lord Templeman. 135 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 121 per Lord Templeman. 136 Dazu eingehend Leible/Domröse, in diesem Band, § 8. 137 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 128 per Lord Keith, der umgekehrt argumentiert: Da sich das richtige Ergebnis über die Auslegung nationalen Rechts bewerkstelligen ließe, komme es auf die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 141 EG (nunmehr Art 157 AEUV) nicht an. 138 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546. 139 Nunmehr The Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 2006, SI 2006/ 246. 140 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26; nunmehr Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Ar
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Recht umgesetzt wurde. Nach reg. 5(3) bestanden die Arbeitsverträge solcher Personen mit dem Erwerber fort, die unmittelbar vor dem Übergang („immediately before the transfer“) beim Veräußerer beschäftigt waren. Die Richtlinie selbst stellt in Art. 3 Abs. 1 auf den „Zeitpunkt des Übergangs“ ab. Im Ausgangsfall kündigte der Veräußerer sämtlichen Arbeitnehmern fristlos um 15.30 Uhr. Der Betriebsübergang erfolgte am gleichen Tag um 16.30 Uhr. Ein Arbeitsvertrag endet bei fristloser Kündigung mit der Kündigung, unabhängig davon, ob diese Kündigung rechtmäßig ist oder nicht.141 Der Ausdruck „unmittelbar davor“ (immediately before) bedeutet nach allgemeinem Sprachgebrauch, dass zwischen zwei Ereignissen keine Zeitspanne liegt, beide Ereignisse also im gleichen Moment zusammen treffen.142 Bei wörtlicher Auslegung von reg. 5(3) TUPE wären die Kläger daher nicht geschützt gewesen. Allerdings hatte der Gerichtshof bereits in der Entscheidung Bork143 ausgesprochen, dass Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse entgegen Art. 4 der Richtlinie (und reg. 8(1) TUPE) vor dem Betriebsübergang beendet wurden, so anzusehen sind, als wären sie im Zeitpunkt des Übergangs noch Beschäftigte des Veräußerers. Nach Lord Oliver sei ein Gesetz so auszulegen, dass es den europarechtlichen Verpflichtungen entspricht, soweit es vernünftigerweise so verstanden werden kann, selbst wenn dies dazu führt, dass von einer wörtlichen Anwendung der vom Gesetzgeber gewählten Begriffe abgegangen werden muss.144 Der Zweck der Richtlinie könne leicht vereitelt werden, wenn sich die Parteien der Arbeitnehmerschaft durch rechtswidrige Kündigungen kurz vor Übergang einfach entledigen könnten.145 Aus einer Zusammenschau der Entscheidungen Wendelboe,146 Danmols,147 Daddy’s Dance Hall148 und insbesondere Bork149 ergebe sich, dass eine Entlassung entgegen Art. 4 der Richtlinie für die Zwecke des Art. 3 der Richtlinie unwirksam sei. Damit war fraglich, ob die Regulations in diesem Sinne ausgelegt werden konnten.150 Bei einer wörtlichen Auslegung komme dies nicht in Betracht. Zu berücksichtigen sei jedoch der Schutzzweck der Richtlinie und die Verpflichtung, effektive Rechtsbehelfe zu dessen Durchsetzung bereitzustellen.151 Nach Pickstone v Freemans erlaube die größere Flexibilität, die ein Gericht bei der Auslegung von Umsetzungsrechtsakten habe, in ein Gesetz bestimmte Worte hineinzulesen, die dem Richtlinienzweck zum Durchbruch verhelfen.152 Im vorliegenden Fall sei reg. 5(3) TUPE so zu ergänzen, dass auch Arbeitnehmer erfasst werden, die unmittelbar vor dem Übergang beschäftigt gewesen wären, hätte man sie nicht entgegen reg. 8 TUPE vorher entlassen.153
beitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16. 141 Im Falle einer rechtswidrigen Kündigung kann das Gericht die Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsvertrages, Wiedereinstellung oder Entschädigung anordnen. Dies ergibt sich nunmehr aus dem Employment Rights Act 1996, sec. 112–124. 142 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 567 per Lord Oliver. 143 EuGH v. 15.6.1988 – Rs. 101/88 Bork, EU:C:1988:308. 144 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 559 per Lord Oliver. 145 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 562 per Lord Oliver. 146 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, EU:C:1985:54. 147 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols, EU:C:1985:331. 148 EuGH v. 10.2.1988 – Rs. 324/86 Daddy’s Dance Hall, EU:C:1988:72. 149 EuGH v. 15.6.1988 – Rs. 101/88 Bork, EU:C:1988:308. 150 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 576 per Lord Oliver. 151 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 576 per Lord Oliver. 152 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 576 f. per Lord Oliver. 153 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 577 per Lord Oliver. Dies entspricht nunmehr der Regelung in reg. 4(3) Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 2006.
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Seit Litster v Forth Dry Dock ist klar, dass mittels einer richtlinienkonformen Aus- 42 legung dem Ziel der Richtlinie selbst dann zum Durchbruch verholfen werden kann, wenn das nationale Umsetzungsrecht eindeutig und klar ist, also nach traditionellem Verständnis kein Auslegungsspielraum besteht. Hierzu werden in den Umsetzungsrechtsakt diejenigen Worte hineingelesen, die zur Zielerreichung erforderlich sind. Entscheidend hierfür ist der vermutete Umsetzungswille des Gesetzgebers. Über diesen lässt sich der Ansatz zur richtlinienkonformen Auslegung des Umsetzungsrechts (auf Unionsrecht basierendes nationales Recht) mit der traditionellen, dem Grundsatz der Parlamentssouveränität verpflichteten Auslegungslehre in Einklang bringen. Hätte der Gesetzgeber bei der Umsetzung die Erfordernisse der Richtlinie richtig erkannt, so wäre eine Umsetzung unter Einschluss der nunmehr hinzuzufügenden Worte erfolgt.154 Der EUWA bringt insoweit keine Änderungen. Eine Einschränkung gilt jedoch im Hinblick auf Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofs nach Austritt. Nur der Supreme Court kann diese im Wege der Unionsrechts-konformen Auslegung zur Konkretisierung des rezipierten Unionsrechts heranziehen.
b) Sonstiges Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie Die Auslegung sonstigen Rechts im Anwendungsbereich einer Richtlinie orientiert 43 sich viel enger an der traditionellen Auslegungslehre.155 Dies lag ursprünglich daran, dass in diesen Fällen ein Umsetzungswille entweder fehlte oder jedenfalls schwieriger zu konstruieren war, selbst wenn der Gesetzgeber davon ausging, dass das hergebrachte Recht bereits den Anforderungen der Richtlinie genügte. In Duke v GEC Reliance156 ging es um die Auslegung von sec. 6(4) des Sex Discrimination Act 1975 44 (SDA), die „Bestimmungen bezüglich des Todes oder der Pensionierung“ („provisions in relation to death or retirement“) vom Diskriminierungsverbot nach sec. 6(1) und (2) SDA ausnahm. Im Unternehmen des Beklagten bestand die Praxis, Arbeitnehmerinnen mit Erreichen des 60., Arbeitnehmer dagegen erst mit Erreichen des 65. Lebensjahres zwangsweise zu pensionieren. Lord Templeman kam nach einer Untersuchung der Gesetzgebungsgeschichte zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber einerseits die Möglichkeit der Diskriminierung im Hinblick auf das Pensionierungsalter beibehalten wollte und anderseits davon ausging, dass dies mit dem Unionsrecht, insbesondere dem damaligen Art. 141 EG (nunmehr Art. 157 AEUV) und der Gleichbehandlungsrichtlinie (Entgelt), vereinbar sei.157 Als der SDA verabschiedet wurde, lag die Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen)158 lediglich als Entwurf vor. Hätten Regierung und Gesetz-
154 de Bùrca, MLR 55 (1992), 215, 222. 155 Vgl. Craig, in: Andenas/Jacobs (Hrsg.), European Community Law in the English Courts, S. 47 ff.; Fairhurst, Law of the European Union, S. 297. 156 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618. 157 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 629–634 per Lord Templeman. 158 Richtlinie 76/207/EWG des Rates v. 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 1976 L 39/40; inzwi
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geber die Abschaffung der weithin praktizierten Differenzierung hinsichtlich des Pensionierungsalters bezweckt, so wäre sec. 6(4) SDA anders formuliert worden, um deutlich zu machen, dass mit einer hergebrachten Praxis gebrochen werden soll.159 Die Regierung sei davon ausgegangen, dass auch die Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) eine Diskriminierung bezüglich des Pensionierungsalters nicht verbiete.160 In Marshall entschied der Gerichtshof allerdings entgegengesetzt.161 Zwar sei ein britisches Gericht stets gewillt und bemüht, zu einem Auslegungsergebnis zu gelangen, das mit dem Unionsrecht in Einklang steht. Die Auslegung eines britischen Gesetzes unterliege jedoch der Beurteilung durch die britischen Gerichte und knüpfe an den Wortlaut an, wie er im Lichte der Umstände zur Zeit der Verabschiedung des Gesetzes zu verstehen sei. Der SDA erging nicht zur Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie und bezweckte die Beibehaltung von diskriminierenden Pensionierungsaltersgrenzen.162 Die in sec. 6(4) SGA verwendeten Begriffe könnten vernünftigerweise nicht anders verstanden werden. Sec. 2(4) ECA erlaube einem britischen Gericht nicht, die Gesetzesbegriffe zu verfälschen, um einer nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinie im Privatrechtsverhältnis zum Durchbruch zu verhelfen, sondern gelte nur für unmittelbar anwendbares Unionsrecht.163 Die Entscheidung des Gerichtshofs in von Colson biete keine Grundlage dafür, dass ein mitgliedstaatliches Gericht den Wortlaut eines nationalen Gesetzes verfälschen müsse, um dieses mit Unionsrecht in Einklang zu bringen, das nicht unmittelbar anwendbar ist.164 Auch wäre es unfair gegenüber dem Beklagten, wollte man den SDA im Lichte der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) und der Marshall-Entscheidung des Gerichtshofs auslegen. Die übrigen Law Lords stimmten dem zu.165 166 45 Mit der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Marleasing, wonach die
Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung das gesamte nationale Recht, auch das vor der Richtlinie ergangene, erfasst,167 erschien jedoch eine Modifikation dieser Grundsätze erforderlich. 46
Webb v EMO Air Cargo168 betraf die Auslegung von sec. 1(1) und 5(3) SDA. Für den zum Nachweis einer rechtswidrigen Diskriminierung erforderlichen Vergleich der Situation der Frau mit derjeni-
schen neugefasst als Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. 2006 L 204/23. 159 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 633 per Lord Templeman. 160 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 637 per Lord Templeman. 161 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, EU:C:1986:84. 162 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 638 f. per Lord Templeman. 163 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 639 f. per Lord Templeman. 164 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 641 per Lord Templeman. 165 Die Entscheidung Finnegan v Clowney Youth Training Programme Ltd. [1990] 2 A.C. 407, betraf einen identischen Sachverhalt. Allerdings war die zu interpretierende nationale Vorschrift für Nordirland nach Erlass der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) ergangen. Gleichwohl kam das House of Lords zu dem Ergebnis, dass eine Auslegung der mit sec. 6(4) SDA identischen Vorschrift im Sinne der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) nicht dem Willen des nationalen Gesetzgebers entsprach. 166 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU:C:1990:395. 167 Dazu ausführlich W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 21 f. 168 Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49.
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gen eines Mannes verlangt sec. 5(3) SGA, dass die maßgeblichen Umstände (relevant circumstances) in beiden Fällen im Wesentlichen identisch sind. Die Klägerin war als Mutterschaftsvertretung für eine schwangere Arbeitnehmerin eingestellt worden. Der Arbeitsvertrag der Klägerin war unbefristet. Ca. drei Wochen nach Arbeitsbeginn stellte die Klägerin fest, dass sie selbst schwanger war und etwa zur gleichen Zeit, wie die Arbeitnehmerin, zu deren Vertretung sie eingestellt worden war, schwangerschaftsbedingt ausfallen würde. Nach Lord Keith war die Situation der Klägerin nicht mit irgendeinem Mann, sondern mit einem Mann, der für den maßgeblichen Zeitraum aus irgendwelchen Gründen ebenfalls nicht zur Verfügung steht, zu vergleichen; dies seien die „relevanten Umstände“ im Sinne der sec. 5(3) SDA. Der genaue Grund für die Abwesenheit sei unerheblich. Bei richtiger Auslegung liege daher keine Diskriminierung vor, da auch ein Mann bei Abwesenheit zum maßgeblichen Zeitraum entlassen worden wäre.169 Lord Keith hatte jedoch Zweifel daran, ob diese Auslegung mit der Gleichbehandlungsrichtlinie vereinbar sei. Ein nationales Gericht müsse das nationale Recht im Anwendungsbereich der Richtlinie so auslegen, dass das Ergebnis mit der Auslegung der Richtlinie durch den Gerichtshof übereinstimmt, jedoch nur, soweit dies möglich sei, ohne die Bedeutung der nationalen Vorschriften zu verzerren. Dies gelte, nach Marleasing, unabhängig davon, ob die nationale Norm nach oder, wie im zu entscheidenden Fall, vor der Richtlinie erging.170 In jedem Fall müsse aber die nationale Vorschrift für eine Auslegung im Sinne der Bedeutung der Richtlinie offen sein.171 Das House of Lords legte sodann dem Gerichthof im Wege der Vorabentscheidung die Frage vor, ob ein Sachverhalt, wie derjenige im Ausgangsverfahren, eine Diskriminierung im Sinne der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) darstellt, was der Gerichtshof bejahte.172 Nach Lord Keith könne diese Entscheidung in den nationalen Regelungsrahmen dadurch eingefügt werden, dass man annimmt, für eine Frau mit unbefristetem Arbeitsvertrag, sei die Tatsache, dass sie wegen Schwangerschaft vorübergehend zu einer Zeit arbeitsunfähig ist, zu der der Arbeitgeber auf ihre Arbeitskraft ganz besonders angewiesen ist, ein „relevanter Umstand“ im Sinne der sec. 5(3) SDA; ein Umstand also, der auf einen hypothetischen Mann als Vergleichsmaßstab nicht zutreffen würde.173
Dies lässt sich wie folgt zusammenfassen: Für Vorschriften im Anwendungsbereich ei- 47 ner Richtlinie wird der Umsetzungswille des nationalen Gesetzgebers vermutet. Diese Vermutung gilt als widerlegt, soweit die gesetzliche Regelung eindeutig ist und nach ihrem Wortlaut nicht im Sinne der Richtlinienvorgaben verstanden werden kann. Eine richtlinienkonforme Auslegung kommt damit stets nur dann in Betracht, wenn die verwendeten Begriffe mehrdeutig sind und einen entsprechenden Auslegungsspielraum belassen. Selbst in diesem Fall kann die Vermutung des Umsetzungswillens aber widerlegt werden, nämlich dann, wenn nach der Gesetzgebungsgeschichte, wie im Falle Duke, oder aufgrund sonstiger Anhaltspunkte eine entgegengesetzte Intention des Gesetzgebers nahe liegt. Diese Rechtslage ist mit den Vorgaben des Gerichtshofs zur richtlinienkonformen Auslegung vereinbar. Denn danach sind die Grenzen der europarechtlichen Verpflichtung durch das nach der nationalen Methodenlehre
169 170 171 172 173
Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49, 55 per Lord Keith. Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49, 59 per Lord Keith. Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49, 59 per Lord Keith. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-32/93 Webb ./. EMO Air Cargo, EU:C:1994:300. Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. (No 2) [1995] 1 W.L.R. 1454, 1459 per Lord Keith. Schillig
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Machbare definiert.174 Zudem ist der Grundsatz der Rechtssicherheit zu berücksichtigen.175 Damit erscheint es gerechtfertigt, Vorkehrungen dagegen zu treffen, dass der Bürger durch eine Auslegung überrascht wird, die dem Wortlaut des Gesetzes und/ oder der erkennbaren Intention des nationalen Gesetzgebers zuwiderläuft. 48 Diese von der des spezifischen Umsetzungsrechts (auf Unionsrecht basierendes nationales Recht) abweichende Behandlung erklärt sich durch die relative Stärke des vermuteten Umsetzungswillens. Im Bereich des spezifischen Umsetzungsrechts ist dieser so stark, dass er sich gegebenenfalls auch über den eindeutig entgegenstehenden Wortlaut hinwegsetzen kann. Aber auch hier ist die Vermutung widerleglich. Dies ergibt sich aus dem immer wieder betonten Erfordernis, dass das Umsetzungsgesetz vernünftigerweise so ausgelegt werden kann, dass es mit den Anforderungen der Richtlinie übereinstimmt.176 Der EUWA bringt insoweit keine Änderungen.
V. Fazit 49 Während der Unionsmitgliedschaft des Vereinigten Königreiches bestimmte der in-
nerstaatliche Verfassungsgrundsatz der Parlamentssouveränität den Umgang der Gerichte mit dem Europäischen Privatrecht und dem europarechtlich determinierten nationalen Recht. Gleichwohl hatten sich die Gerichte des Vereinigten Königreichs als hinreichend flexibel erwiesen, den Anforderungen des Gerichthofs zu genügen. Mit der Anbindung der richtlinienkonformen Auslegung an die nationalen Methodenlehren unter Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit hat der Gerichtshof hierfür selbst die Voraussetzungen geschaffen. Insgesamt erschien aber doch die Vorgehensweise der Gerichte etwas zurückhaltend. Dies entsprach freilich dem Umgang mit dem Gesetzesrecht ganz allgemein. Ebenso wie dort dürfte die Ursache in einem ausgeprägten Konservatismus sowie in der Überzeugung wurzeln, dass jede Intervention des Gesetzgebers, des nationalen wie des europäischen, in die hergebrachten und organisch gewachsenen Strukturen des Common Law grundsätzlich mit Misstrauen zu betrachten ist. Zudem dient die Begrenzung des Anwendungsbereichs national wie europarechtlich determinierten Gesetzesrechts der Sicherung des eigenen Machtbereichs der Gerichte bei der Fortbildung des Common Law. 50 Während die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich noch immer im Verhandlungsstadium verharren, bringt der EUWA etwas Klarheit im Hinblick auf die Entflechtung beider Rechtsordnungen. Dabei wurde das materielle Unionsrecht, das am Ende der Übergangszeit in Kraft war, weitgehend in nationales Recht überführt. Dieses rezipierte Unionsrecht unterliegt so-
174 Vgl. Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden, S. 80 ff. 175 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u. a., EU:C:2006:443 Rn. 110. 176 Vgl. etwa Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 559 per Lord Oliver.
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V. Fazit
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dann den Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, allerdings mit bestimmten Modifikationen. Die Pflicht zu Unionsrechts-konformer Auslegung besteht für vor dem Austritt ergangenes nationales Recht, insbesondere auf Unionsrecht basierendem nationalen Recht, im Wesentlichen fort. Diese Kontinuität hat zur Folge, das Unionsrecht und europäischer Methodenkanon weiterhin relevant bleiben und die rechtliche Trennung weniger „sauber“ ist, als möglicherweise von der Regierung des Vereinigten Königreiches angestrebt.
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§ 24 Spanien Literatur: Klaus Jochen Albiez Dohrmann (Hrsg.), Derecho privado europeo y modernización del Derecho contractual (2011); El rol del Derecho comparado en la construcción del Derecho privado europeo, e-legal History Review, Núm. Extra, 27, (2018), Homenaje al Profesor Pérez-Prendes; Ricardo Alonso García, El Juez español y el Derecho Comunitario (2003); Paz Andrés Sáenz de Santa María/ Javier González Vega/ Bernardo Fernández Pérez, Introducción al Derecho de la Unión Europea (2. Aufl. 1999); Paz Andrés Sáenz de Santa María, En pos de la relevancia constitucional del Derecho comunitario (una visión desde la labor de un magistrado), Pacis Artes, Obra homenaje al Profesor Julio D. González Campos (2005), S. 863–895; X. Arziz Santiesteban, La transposición de directivas en el estado autonómico: diagnóstico y perspectivas de futuro, in: X. Arzoz Santiesteban (Hrsg.), Transposición de directivas y autogobierno: El desarrollo normativo del Derecho de la Unión Europea en el Estado autonómico,(2013); Ma Dolores Díaz-Ambrona Bardají u. a., Derecho civil de la Unión Europea (5. Aufl. 2012); Esteve Bosch Capdevila (Hrsg.), Derecho contractual europeo (problemática, propuestas y perspectivas) (2009); V. Bou Franch, Introducción al Derecho de la Unión Europea, (2014); Sergio Cámara Lapuente (Hrsg.), Derecho privado europeo (2003); Javier Carrascosa González, El reglamento sucesorio europeo 650/2012, de 4 de julio de 2012: análisis crítico (2019); María del Rosario Díaz Romero u. a. (Hrsg.), Derecho privado europeo: estado actual y perspectivas de futuro (2008); María José GarcíaValdecasas Dorrego, La jurisprudencia del TJUE sobre protección del consumidor en préstamos hipotecarios, Jornadas sobre la adaptación del Derecho español a la legislación y jurisprudencia europea en materia de créditos inmobiliarios, Fundación registral (2018); Agustín Luna Serrano, Las normas que acogen conceptos elásticos o formulaciones abiertas,(2019); Araceli Mangas Martín, Veinticinco años de España en la Unión Europea, RDCE, 2011, S. 7–15; Araceli Mangas Martín/Diego Javier Liñán Nogueras, Instituciones y Derecho del a Unión Europea (9. Aufl. 2016); Encarna Roca, El codi civil coma instrument de politica juridica, in: Area de Dret civil, Universitat de Girona (Hrsg.); El Dret civil català en el context europeu (2003); Encarna Roca, Incidenza del diritto communitario sull diritto interno in Spagna; V.Rizzo(Hrsg.),Diritto privato communitario (1997), S. 99–120; Sixto Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo (2002); Sixto Sánchez Lorenzo (Hrsg.), Derecho contractual comparado. Una perspectiva europea y transnacional (4. Aufl. 2016); Héctor Simón Moreno, El proceso de armonización de los derechos reales en Europa (2013).
Systematische Übersicht Einleitung 1–3 Das spanische Rechts- und Gerichtssystem 4–6 III. Unionsrecht und spanisches Recht 7–14 1. Vorrang des Unionsrechts 7–10 2. Der besondere Rechtspluralismus 11–14 IV. Europäische Methodenlehre im spanischen Recht 15–44 1. Allgemeine Fragen 15–22
a)
I. II.
2.
Auslegung und Rechtsfortbildung des Unionsrechts 15–18 b) Die Rolle der Lehre 19 c) Soft law 20–22 Primärrecht 23–25 a) Nicht-legislatorische und präventive Harmonisierung 23–24 b) Die primärrechtskonforme Auslegung 25
Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo https://doi.org/10.1515/9783110614305-024
814
§ 24 Spanien
3.
Sekundärrecht 26–44 a) Umsetzungstechniken 26–39 b) Wirkungen nach der Umsetzungsfrist 40–41
c) d)
Die Vorwirkung von Richtlinien 42 Die richtlinienkonforme Auslegung 43–44
I. Einleitung 1 Spanien ist seit dem 1. Januar 1986 Teil der Europäischen Union. Sein Beitritt ist die
Folge eines langwierigen Prozesses, für den nach dem Ende der langen Franco-Diktatur die Konsolidierung des demokratischen Systems durch die Verfassung von 1978 ausschlaggebend war. Die Verfassung von 1978 etablierte die parlamentarische Monarchie als politische Staatsform und ein dezentralisiertes Staatsmodell, welches einem föderalistischen System sehr ähnelt. Den Staat bilden siebzehn Autonome Gemeinschaften (Comunidades Autónomas), zwei davon Inselgruppen (die Kanarischen Inseln, Region, für die aufgrund ihrer besondere Lage am äußersten Rand der EU gemäß Artikel 349 AEUV Sonderregeln gelten, sowie die Balearen), ferner zwei Städte (Ceuta und Melilla) an der nordafrikanischen Küste, die beide einen autonomen Status haben. Gleichzeitig ist Spanien ein multikultureller Staat. Mit der spanischen/kastilischen Sprache koexistieren als Amtssprachen Katalanisch, Baskisch und Galizisch in den jeweiligen autonomen Gemeinschaften. 2 Spaniens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft wurde von einem intensiven Prozess der Internationalisierung, insbesondere von der aktiven Einbeziehung Spaniens in internationalen Foren und Institutionen sowie von der Ratifizierung vieler internationaler Übereinkommen begleitet. In einer ersten Phase bis 1994 nahm Spanien eine eindeutig pro-europäische Position ein, unterstützte die deutsch-französische Achse und trat ganz offen für eine starke Integration und Vereinigung ein. Ab 1994, und vor allem nach 1996 unter der ersten konservativen Regierung, war Spaniens Haltung stärker nationalistisch geprägt, oftmals ganz ähnlich den Vorbehalten der Briten. Nach der Erweiterung von 2004 kühlte die bisher eindeutig positive Einstellung der spanischen Gesellschaft zu Europa ab, zur gleichen Zeit als Spanien politisches Gewicht in der Europäischen Union verlor. Infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 stieg die Skepsis in sozialer Hinsicht gegenüber Europa. Die Bürger Spaniens fühlten sich damals angesichts der eingeforderten harten Sparmaßnahmen in ihrer traditionellen Loyalität zu Europa enttäuscht. Insbesondere gab es eine weit verbreitete Skepsis gegenüber der Einheitswährung und der Währungspolitik. An den von den europäischen Institutionen beschlossenen harten Maßnahmen wurde offen Kritik geübt, die von den Medien besonders an der Person der Bundeskanzlerin Merkel festgemacht wurde. 3 Trotz der aktuellen Skepsis blieben sowohl die Politik als auch die spanische Gesellschaft der europäischen Idee weiter treu, vielleicht weil Europa für Spanien seit Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
II. Das spanische Rechts- und Gerichtssystem
815
dem 17. Jahrhundert die Utopie des Fortschritts verkörpert. Spanien ist das Problem und Europa die Lösung, sagte Anfang des 20. Jahrhunderts der spanische Philosoph Ortega y Gasset. Das Rechtsystem bildet da keine Ausnahme, und die Europäisierung des spanischen Rechtssystems ist offensichtlich, nicht nur auf der normativen Ebene, sondern auch in der Rechtslehre und in der eigenen Mentalität der Vertreter des Rechts. Infolgedessen ist die Methodik des europäischen Rechts Bestandteil des täglichen Lebens und Normalität der Rechtswirklichkeit in Spanien, sowie ein wesentlicher Teil der juristischen Universitätsausbildung. Jetzt stehen wir wieder vor einer großen Krise, der Covid-19-Krise, die auch in Spanien gerade von rechtspopulistischen und europaskeptischen politischen Parteien ausgenutzt wird, um Europa in Frage zu stellen.
II. Das spanische Rechts- und Gerichtssystem Das spanische Rechtssystem wird meist der romanisch-germanischen Rechtsfamilie 4 zugeordnet, genauer den Rechtssystemen französischer Provenienz. Diese typisierende und etwas klischeehafte Einordnung in der Rechtsvergleichung beruht freilich auf einer zivilrechtlichen Perspektive, die auf die Verwurzelung des spanischen Código civil (Cc) von 1889 im napoleonischen Code civil zurückzuführen ist. Das ist zwar richtig, doch ist die Einordnung in die romanische Rechtsfamilie zugleich eine Quelle von Missverständnissen. Tatsächlich ist das spanische Rechtssystem eindeutig kontinental-europäisch geprägt (civil law). Seine Merkmale sind aber komplexer und oft spezifisch. Sicherlich ist das spanische Zivilrecht in erheblichem Maße vom französischen Zivilrecht inspiriert. Indes darf man den Código civil von 1889 nicht mit dem spanischen Zivilrecht gleichsetzen. Anders als der napoleonische Code,war der spanische Código civil im 19. Jahrhundert nicht in der Lage, den aus dem Mittelalter ererbten Rechtspluralismus von Foral- und Sonderrechten, aufzuheben. So bleiben in einigen Bereichen die unterschiedlichen Zivilrechte von anhaltender Bedeutung. Die spanische Verfassung von 1978 (Constitución Española, CE) hat diese Vielfältigkeit noch verschärft. Seiner normativen Basis nach ist das spanische Rechtssystem deutlich kontinen- 5 taleuropäisch geprägt. Es handelt sich um ein kodifiziertes Recht, das auf den folgenden Grundsätzen beruht: Legalität, Normenhierarchie, Publizität der Normen und Rechtssicherheit. Gerichtsentscheidungen haben im spanischen Recht keinen Rechtsquellencharakter, obwohl natürlich die Rechtsprechung insbesondere des Obersten Gerichtshofs (Tribunal Supremo) (Art. 1.6 Cc) wesentlich zur Auslegung und Fortbildung des Rechts beiträgt. Ein Grundsatz des stare decisis ist im spanischen Recht nicht anerkannt, und die Rechtsprechung entwickelt sich ausdrücklich von Fall zu Fall und nicht selten auch widersprüchlich. Die Möglichkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung und die wichtige Funktion, die einer „kreativen Rechtssprechung“ gerade auch im Bereich des Privatrechts zukommt, sind damit freilich nicht geleugnet. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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§ 24 Spanien
Im Hinblick auf das geschriebene Recht hat der spanische Richter, anders als Richter in manchen anderen kontinental-europäischen Rechtsordnungen oder im Common Law, umfangreiche Auslegungs- und Rechtsfortbildungsbefugnisse. In diesem Punkt unterscheidet sich das spanische Rechtssystem nicht wesentlich vom deutschen. Hinzu kommt ein nicht zu unterschätzender Einfluss der Methodenlehre durch Karl Larenz auf die spanische Zivilrechtslehre.1 Sie hat der richterlichen Rechtsfortbildung sowie der ergänzenden Auslegung von Gesetzen und von Verträgen den Weg bereitet. 6 Der Einfluss der deutschen Rechtswissenschaft macht sich ebenso in der spanischen Verfassung sowie dem daraus abgeleiteten System der Rechtsquellen bemerkbar. Hier hat sich das deutsche Grundgesetz von 1949 als eine wichtige Inspirationsquelle für das spanische Verfassungssystem erwiesen. So begründet die spanische Verfassung die Zuständigkeit des Tribunal Constitucional, sowohl Gesetzgebungsakte (Normenkontrollverfahren) als auch Verwaltungshandeln auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Auch im Übrigen ist die spanische Verfassungsdoktrin innerlich der deutschen Lehre verbunden. Sie fußt wesentlich auf der Lehre des Rechtspositivismus von Hans Kelsen. Außer den genannten Einflüssen zeigen sich in vergleichender Analyse der spanischen Rechtsordnung außerdem Spuren anderer Rechtssysteme. Im Verwaltungsrecht, aber auch im Völkerrecht und im Privatrecht ist der Einfluss der französischen Lehre spürbar. Im Handelsrecht zeigen sich Spuren des italienischen Rechts. Deutsche Einflüsse gibt es wieder in den Gebieten des Scheck- und Wechselsowie des Verbraucherrechts. Punktuell gibt es im Vertragsrecht sogar eigenartige Ähnlichkeiten mit dem Common Law (privity of contract).
III. Unionsrecht und spanisches Recht 1. Vorrang des Unionsrechts 2 7 Der Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht, den der EuGH in seiner
Rechtsprechung postuliert hat, wird in ständiger Rechtsprechung auch vom Tribunal Constitucional respektiert.3 Allerdings ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht verfassungsrechtlich verankert. Es ist die Aufgabe der ordentlichen Gerichte,
1 Spanische Übersetzung: Larenz, Metodología de la Ciencia del Derecho (1. Aufl. 1966; 2. Aufl. 1980– 2001); und das Werk von Díez-Picazo y Ponce de León, Experiencias jurídicas y teoría del Derecho (3. Aufl. 1990). Zur Zeit wird auch in Spanien die Verstrickung von Larenz in den Nationalsozialismus analysiert (so, Federico Fernández-Crehuet López, Hegel bajo la esvástica. La filosofía del derecho de Karl Larenz y Julius Binder, (2017). 2 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa/E.N.E.L., EU:C:1964:66; EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, EU:C:1978:49. 3 RTC 1991/28; RTC 1991/64. Siehe auch RTC 2014/215 u. RTC 2015/232. Vgl. dazu Andrés Sáenz de Santa María, FS González Campos, S. 863 ff.
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III. Unionsrecht und spanisches Recht
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den Anwendungsvorrang zu beachten und im Einzelfall zu entscheiden, ob eine nationale Rechtsnorm, gleich welchen Ranges, wegen Widerspruchs zum Unionsrecht unanwendbar bleibt. Mit Rücksicht darauf, dass nach spanischem Verfassungsrecht internationale Verträge Vorrang auch vor nachfolgenden internen Gesetzen haben (Art. 96 Abs. 1 CE), halten manche Autoren allerdings für zulässig, im Falle einer Diskrepanz zwischen nationalem Recht und Primärrecht die Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen.4 Dabei haben die ordentlichen Gerichte allerdings keine Normverwerfungskompetenz, es geht lediglich darum, dem Unionsrecht durch seinen Anwendungsvorrang zur Geltung zu verhelfen. Die spanische Rechtsprechung5 folgt insoweit den Vorgaben des EuGH in der Entscheidung Ministero delle Finanze/ IN.CO.GE.’90.6 Lediglich untergesetzliche materielle Rechtsnormen (man spricht auch von „internen Verordnungen“ im Unterschied zu Europäischen Verordnungen) können die ordentlichen Gerichte in eigener Zuständigkeit für unanwendbar erklären.7 Bei Nichtbeachtung des Vorrangs des Unionsrechts durch die (nationalen spa- 8 nischen) Gerichte ist die Verfassungsbeschwerde eröffnet, soweit die dem europäischen Recht widersprechende Anwendung des nationalen Rechts zu einer nicht nachvollziehbaren und willkürlichen Auswahl der herangezogenen Vorschriften führt. Denn ein solches Vorgehen verletzt den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nach Artikel 24 der Verfassung. So gab etwa wegen des Prinzips des Vorrangs des Unionsrechts und der Vollstreckbarkeit der Entscheidungen des EuGH das Verfassungsgericht8 (Tribunal Constitucional) der Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung statt,9 weil diese die Rückwirkung (ex tunc) einer Entscheidung des EuGH von 200810 nicht berücksichtigt hatte. Die Rechtsprechung des Tribunal Constitucional steht in einem gewissen Span- 9 nungsverhältnis zu der des EuGH. Das spanische Verfassungsgericht lehnt einen „Überverfassungscharakter“ des europäischen Rechts ab, ähnlich wie auch die Verfassungsgerichte Italiens und Deutschlands oder das dänische Oberste Gericht.11 Zur Begründung hat es sich in seiner Erklärung 1/2004 auf den Unterschied zwischen dem Vorrang des Unionsrechts und der Vorherrschaft der staatlichen Verfassung berufen: „Diese Auslegung muss anerkennen, dass der Prozess der Übertragung nationaler Kompetenzen auf die Europäische Union und die darauf folgende Umsetzung von gemeinschaftsrechtlichen
4 Alonso García, El juez español y el Derecho comunitario, S. 41 ff. 5 TS v. 10.12.2002, RJ 2003/3005. 6 EuGH v. 22.10.1998 – verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97 Ministero delle Finanze/IN.CO.GE.’90, EU:C: 1998:498. 7 Z. B.TS v. 31.3.2003, RJ 2003/2877; TS v. 30.4.2004, RJ 2004/1678. Vgl. dazu Fajardo del Castillo, RDCE 2006, 135, 142 ff. 8 TC v. 2.7. 2012, RTC 2012/145. 9 TSJ Madrid v. 22.4.2010, RJCA, 2010/542. 10 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-207/07 Kommission/Spanien, EU:C:2008:428. 11 Erklärung TC 132/1992, RTC 1992/132 ff.
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§ 24 Spanien
Vorschriften in nationales Recht die eigenen souveränen Institutionen vor unumgängliche Schwierigkeiten stellt. Eine Umsetzung erfolgt nur dann, wenn anzunehmen ist, dass das europäische Recht mit den Grundprinzipien des demokratischen Rechts- und Sozialstaats, wie sie in der nationalen Verfassung festgelegt sind, vereinbar ist. Deshalb setzt Art. 93 der spanischen Verfassung, der die Übertragung von Zuständigkeiten und Kompetenzen grundsätzlich ermöglicht, einer solchen Übertragung von Zuständigkeiten doch zugleich inhaltliche Grenzen. Stehen diese inhaltlichen Grenzen auch nicht ausdrücklich in der Verfassung, so sind sie dem Zweck der Verfassung nach doch abzuleiten. Solche Grenzen ergeben sich insbesondere aus dem Respekt vor der Souveränität des Staates, aus grundlegenden Verfassungsstrukturen und aus dem System der Grundwerte und Grundprinzipien, wie sie in unserer Verfassung verankert sind und aus der die Grundrechte ihre eigene Individualität entnehmen (Art. 10.1 CE).“12
10 Auf der anderen Seite hatte der Tribunal Supremo das Verfassungsrecht und das euro-
päische Recht bei Ansprüchen auf Haftung des Staates wegen Verstoßes gegen diese Rechtsordnungen differenziert behandelt.13 Im Falle des europäischen Rechts wird die vorherige Ausschöpfung der internen Rechtsbehelfe verlangt. Diese Auslegung hat jedoch der EuGH erst vor kurzem als Verstoß gegen das unionsrechtliche Äquivalenzprinzip angesehen.14
2. Der besondere Rechtspluralismus 11 Eine Besonderheit des spanischen Rechtssystems, die auch für die Methode des euro-
päischen Privatrechts von Bedeutung ist, ist der Rechtspluralismus, der in weiten Teilen des Verwaltungs- und des Wirtschaftsrechts besteht und der insbesondere auch im gesamten Bereich des Privatrechts herrscht.15 Er findet seine Grundlage in Titel VIII der Verfassung. Wie in allen Rechtssystemen mit föderaler Struktur, entstehen auch hier öfter Kompetenzkonflikte zwischen dem Staat einerseits und den Autonomen Regionen andererseits. Sie können sich auf die Entwicklung des Unionsrechts auswirken.16 Der Rechtspluralismus hat insbesondere zur Folge, dass es auch im Hinblick auf die Gerichtszuständigkeiten Konkurrenzen gibt. Die Obersten Gerichtshöfe (Tribunales Superiores de Justicia) der Autonomen Regionen mit eigenem Zivilrecht verrich-
12 Erklärung TC 1/2004, RTC 2004/256, Rn. 2. Die Erklärung bezieht sich auf die Übereinstimmung der spanischen Verfassung mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. 2004 C 310/1. 13 TS v. 29.1.2004, RJ 2004/1077; TS v. 24.5.2005, RJ 2005/5408. 14 EuGH v. 26.1.2010 – Rs. C-118/08 Transportes Urbanos, EU:C :2010 :39. 15 Zu den Problemen vgl. K. Schurig, FS Großfeld (1999), S. 1097–1098. Sonnenberger, JZ 1998, 982, 983; De Groot, ZeuP 2001, 617, 623. Zur Autonomie des katalanischen Privatrechts, Padoa-Chioppa, ZEuP 1997, 706, 707. 16 TC v. 12.12.1991, RTC 1991/236; TC v. 28.5.1992, RTC 1992/79; TC. v. 22.4.1993, RTC 1993/14; TC v. 26.5.1994, RTC 1994/165; TS v. 24.6.2004, RJ, 2005/5530. Vgl. dazu Díaz-Ambrona, in: Derecho civil comunitario (3. Aufl. 2006), S. 61–63; Derecho civil de la Unión Europea, S. 67–71. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
III. Unionsrecht und spanisches Recht
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ten in der Sache die gleiche Arbeit, wie der Tribunal Supremo, wenn sie das autonome Zivilrecht anwenden. Ebenso sind die Parlamente der Autonomen Gemeinschaften mit ihren Gesetzgebungsbefugnissen an Umsetzung und Überwachung des Subsidiaritätsprinzips beteiligt. Die Beteiligung der autonomen Parlamente am Frühwarnsystem (procedimiento de alerta rapida) wurde durch das Gesetz 24/2009 vom 22. Dezember (2009) an den Lissabonner Vertrag angepasst, indem das Gesetz 8/1994 vom 19. Mai (1994) geändert wurde, welches den Gemeinsamen Ausschuss für die Europäische Union regelt. Die Kontrollmechanismen wurden auch bei der Verabschiedung der neuen Autonomiestatuten berücksichtigt.17 Im Bereich des Privatrechts hat die spanische Verfassung die Kulturvielfalt unter- 12 schiedlicher Zivil‑, Foral- oder Sonderrechte beibehalten, Art. 149 Nr. 6–8 CE. Die Entwicklung des Zivilrechts ist in jeder Autonomen Region mit eigenem Zivilrecht sehr verschieden. Katalonien, zum Beispiel, ist eine der Autonomen Regionen mit selbstständig entwickeltem Zivilrecht (eine der letzten Reformen sind die Gesetze 3/2017 – bezogen auch auf Schuld- u. Vertragsrecht- u. 6/2019 – sichert die Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung im Erbrecht-). Katalonien hat einige Richtlinien, wie z. B. die Pauschalreiserichtlinie,18 eigenständig umgesetzt. Neuerdings hat es die Richtlinie 2014/17/ЕU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Februar 2014 über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher teilweise im Verbraucherkodex umgesetzt (Art. 261–1ff.). Die Inkorporierung der Klauselrichtlinie19 und der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie20 in sein autonomes Zivilrecht hat zum Schluss doch nicht stattgefunden wie im Prinzip gedacht wurde. Seit dem 20. Juli 2010 hat Katalonien einen eigenen Verbraucherkodex (Código de consumo). Die europäische Einigung verlangt zweifellos auch Veränderungen solcher Partikularrechte. Besonders das Sekundärrecht, namentlich das Richtlinienrecht mit seinen Umsetzungspflichten, birgt die Gefahr, dass es in den Teilrechtsordnungen zeitlich und inhaltlich unterschiedliche Umsetzungen gibt.21 So gibt es einige, teils große Differenzen zwischen dem Gesetz 5/2019 über Wohnimmobilienkreditverträge und der Regulierung im Verbraucherkodex von Katalonien. Wegen der dargestellten Kompetenzverteilung ist die Umsetzung und Anwendung des Sekundärrechts in vielen Bereichen Sache der Autonomen Regionen. Eine Grenze bildet im Vertragsrecht allerdings der Vorbehalt für die „Grundlagen“ des Vertragsrechts, die nur einheitlich der Gesamtstaat regeln kann; dazu rechnet man etwa die grundlegenden Elemente des Vertrags, der vertraglichen Haftung,
17 Miquel Palomares Amat, La participación del Parlamento de Cataluña en la aplicación y control del principio de subsidiariedad, RDCE 2011, S. 19 ff. 18 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 19 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 20 Marco Molina, La Notaría (11/12) 2001, 15–50; dies., in: Badossa Coll y Arroyo i Amayuelas (Hrsg.), La armonización del Derecho de obligaciones en Europa (2006), S. 183–186. 21 Roca, in: V. Rizzo (Hrsg.), Diritto privato communitario (1997), S. 99–120.
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der Vertragstypen und der AGB-Kontrolle.22 Vor kurzem hat das Plenum des Verfassungsgerichts im Urteil 132/2019 die neue Regulierung des Kaufvertrages im katalonischen Zivilkodex für verfassungskonform erklärt, sowie auch die Reform des Tauschvertrages, des Mandats und der Geschäftsführung ohne Auftrag (nur Art. 621– 54.3 verstößt gegen Art. 149.1–8a der Verfassung; wobei jedoch vier Richter gegen das Urteil gestimmt und ein Minderheitsvotum abgegeben haben). Ungeachtet dessen trägt aber der Staat unionsrechtlich die Verantwortung bei Nichterfüllung. Deswegen hat der „Bericht des Staatsrats (Consejo de Estado) vom 14. Februar 2008 über die Einführung des europäischen Rechts in die spanische Rechtsordnung“ einen Mechanismus, wie ihn das italienische Recht mit der cedevolezza kennt, empfohlen. Demnach würden die staatlichen Umsetzungsvorschriften nach Ablauf der Umsetzungsfrist auch in den Autonomen Regionen zur Geltung kommen, soweit und solange diese keine eigenen Umsetzungsvorschriften verabschiedet hätten.23 Auch darüber hinaus werfen die Umsetzungspflichten zahlreiche Fragen auf. Sie stellen sich vor allem in den Bereichen, in denen die Autonomen Regionen die ausschließliche Regelungszuständigkeit haben.24 13 In Spanien werden die Materien Erbrecht, Trennung und Scheidung in den einzelnen Gebieten unterschiedlich reguliert. Die “vecindad civil” (zivilrechtliche Gebietszugehörigkeit) wird als Anknüpfungskriterium für innerspanische Rechtsstreitigkeiten angewendet. Allerdings ist die “vecindad civil” an die spanische Staatsangehörigkeit gebunden, so dass bei internationalen Konflikten die subsidiäre Regel des „Mehrrechtsstaates“ angewendet werden muss (Art. 36 650/2012127 EU-ErbVo; Art. 33 Verordnung 2016/1104 über Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands; Art. 14 Verordnung 1259/2010 über anzuwendendes Recht bei Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes .25 14 Ungeachtet dieser Besonderheiten steht doch die Vielschichtigkeit des spanischen Rechtssystems der Entwicklung eines einheitlichen Vermögens- und Handelsrechts nicht entgegen. Allerdings könnte eine Entwicklung hin zu einem kühnen Kodifikationsvorhaben wie einem einheitlichen Zivilgesetzbuch mit globalem Anspruch besondere Verfassungsprobleme hervorrufen.26 Zudem nimmt die Rechtsvielfalt im Privatrecht derzeit noch zu. Die Verfassungsrechtsprechung hat die Entwick-
22 TC v. 30.11.1982, RTC 1982/71; TC. v. 1.7.1988, RTC 1986/88; TC. v. 22.3.1991, RTC 1991/62; TC v. 29.9.1992, RTC 1992/124. 23 Alonso García, RDCE 2008, 7, 11–12. Arzoz Santiesteban, 2013, 491, 551–558. 24 Sánchez Barrilao, RDCE 2004, 241, 245. 25 U.a, Javier Carrascosa González, El reglamento sucesorio europeo 650/2012, de 4 de julio de 2012: análisis crítico (2019). 26 Vgl. Goldstein, in: Vareilles-Sommières (Hrsg.), Le droit privé européen (1998), S. 175–178. S. auch Espiau Espiau, Derecho privado y Constitución (2000), S. 63, 75; vgl. auch Roca, in: Area de Dret civil Universitat de Girona (Hrsg.), El Dret civil català en el context europeu (2003), S. 36–42; Bosch Capdevila, in: Bosch Capdevila (Hrsg.), Derecho contractual europeo (2009), S. 25–26. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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lung verschiedener Zivilrechte eher vorangetrieben. Eine Zuständigkeit der Europäischen Union zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Zivilgesetzbuchs wird in der spanischen Rechtslehre jedenfalls überwiegend nicht anerkannt.27
IV. Europäische Methodenlehre im spanischen Recht 1. Allgemeine Fragen a) Auslegung und Rechtsfortbildung des Unionsrechts Einige der wichtigsten Entscheidungen des EuGH zum Sekundärrecht gehen auf Vor- 15 lagen spanischer Gerichte zurück (Marleasing,28 Océano,29 El Corte Inglés,30 Caja Madrid ./. Ausbanc,31 Banco Español de Crédito,32Aziz,33 Gómez del Moral Guasch34…). Man könnte geneigt sein, darin den Ausdruck für eine besondere Vorlagefreudigkeit spanischer Gerichte zu sehen. Statistisch erschien diese Annahme indes lange Zeit nicht begründet.35 Vielmehr deutete sich an, dass die spanischen Gerichte, einer Art acte clair-Doktrin folgend, in der Mehrzahl der Fälle selbst bemüht waren, das Unionsrecht auszulegen und anzuwenden.36 Am Anfang, nach dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1986, betrug die Zahl der Vorlagen, die die spanischen Gerichte eingereicht hatten, nicht mehr als 200. Diese Zahl blieb damals deutlich hinter den Vorlagen anderer Mitgliedstaaten zurück. Im Jahre 2005 legten spanische Gerichte dem EuGH nur in zehn Fällen Fragen zur Vorabentscheidung vor, 2006 waren es siebzehn. Darin zeichnet sich ein gewisser Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren ab. Fast die Hälfte aller Vorlagefragen in diesem Zeitraum von 20 Jahren betrifft die Auslegung des Primärrechts, insbesondere Fragen der Grundfreiheiten und des Beihilferechts. Bei Vorlagen zum Sekundärrecht ging es meist um die Auslegung
27 Vgl. Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo, S. 193–224; ders., in: Area de Dret civil Universitat de Girona (Hrsg.), El Dret civil català en el context europeu, S. 47 ff.; Martín y Pérez de Nanclares, in: Cámara Lapuente (Hrsg.), Derecho privado europeo, S. 129 ff.; Arroyo i Amayuelas/Vaquer Aloy, La Ley 2002 No. 5482, 1. 28 EuGH v. 13.12.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, EU:C:1990:395. 29 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, EU:C:2000:346. 30 EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-192/94 El Corte Inglés, EU:C:1996:88. 31 EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 Caja Madrid/Ausbanc, I-4785. EU:C:2010:309. 32 EuGH v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 Banco Español de Crédito, EU:C:2012:349. 33 EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, EU:C:2013:164. 34 EuGH v. 3.3.2020 – Rs. C-125/18 Gómez del Moral Guasch, EU:C:2020:138. 35 Faramiñán Gilbert/Muñoz Rodríguez, RDCE 2009, 181–238. 36 Z. B. TS v. 24.6.2009, RJ 2009/4286; TS v. 22.6.2011, RJ 2012/6860. Auf Grund dieses Urteil wurde das Gesetz 1/2013 v. 14. Mai 2013 verabschiedet. Mit diesem Gesetz werden die Rechte der Hypothekarschuldner gestärkt. Es ermöglicht auch die Umstrukturierung der Schuld und reguliert die soziale Miete.
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von Richtlinien auf den Gebieten des Arbeitsrechts, des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechts. In dieser Zeit waren nur zwei der Vorlagefragen dem Europäischen Privatrecht in einem engeren Sinne zuzuordnen. Eine bezog sich auf die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr,37 die andere, im Fall Mostaza Claro,38 auf die Klauselrichtlinie, insbesondere in Bezug auf missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. Man konnte daraus schließen, dass die spanischen Gerichte Fragen der Auslegung und Fortbildung von Richtlinienrecht ohne Vorlage an den EuGH selbst beantworten. Früher wandten sie sich nur selten an den EuGH39 und beachteten die C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung40 nicht. Obwohl in der spanischen Lehre eine weitgehende Kompetenz des EuGH zur Konkretisierung von Generalklauseln anerkannt ist,41 gab es auch in diesem Bereich nur wenige Vorlagen. Die große Zahl von Gerichtsentscheidungen zu AGB-Fällen stand immer noch in eklatantem Widerspruch zur Zahl von Vorlagen zur Klauselrichtlinie. Die nur schwach ausgeprägte Vorlegungsneigung verhinderte indes lange Zeit eine einheitliche Auslegung der Richtlinie und wurde dem Ziel eines Dialogs zwischen EuGH und nationalen Gerichten nicht gerecht.42 Das hat sich aber radikal geändert. In wenigen Jahren sind viele Urteile des EuGH erschienen, die auf Vorlagen zur Klauselrichtlinie beruhen, besonders im Bereich der Hypothekendarlehen.43 16 Vorher hatte der spanische Tribunal Supremo die Notwendigkeit einer unionsrechtskonformen und auch rechtsvergleichenden Auslegung hervorgehoben, insbesondere die Fälle, in denen das nationale Gericht nach dem internationalen Privatecht verpflichtet ist, das Recht eines anderen Staates anzuwenden. Rechtsvergleichende Erwägungen haben naturgemäß besondere Bedeutung, wenn das nationale Gericht nach dem internationalen Privatrecht verpflichtet ist, das Recht eines anderen Mitgliedstaats anzuwenden. Konkret hat der Tribunal Supremo in seinem Urteil v. 4. Juli 2006 über die Anwendung der deutschen Umsetzungsvorschriften zur Han-
37 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, ABl. 2000 L 178/1. 38 EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, EU:C:2006:675. 39 Das gilt selbst dann, wenn sie ausdrücklich auf eine wichtige Frage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts stoßen; TS v. 13.11.1998, RJ 1998/8742 (im Hinblick auf die Beurteilung einer Unterwerfungsklausel nach der Klauselrichtlinie). Vgl. die allgemeine Kritik von Hinojosa Martínez/Segura Serrano, RDCE 2000, 565, 578–581. 40 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., EU:C:1982:335. 41 Vgl. Klauer, ERPL 8 (2000), 187–210; Niglia, ERPL 7 (2001), 575–599; Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo, S. 90–96, gegen die begrenzenden Thesen von W.-H. Roth, FS Drobnig (1998), S. 140. 42 Basedow: in Schulte-Nölke (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 277–290. 43 María José García-Valdecasas Dorrego, La jurisprudencia del TJUE sobre protección del consumidor en préstamos hipotecarios, Jornadas sobre la adaptación del Derecho español a la legislación y jurisprudencia europea en materia de créditos inmobiliarios, Fundación registral (2018). Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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IV. Europäische Methodenlehre im spanischen Recht
delsvertreterrichtlinie darauf hingewiesen, dass dabei auch die entsprechenden spanischen Umsetzungsvorschriften vergleichend zu berücksichtigen seien, da beide Umsetzungsregelungen einheitlich und in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Richtlinie auszulegen sind.44 Auf diese Weise ist es in Bereichen des angeglichenen Rechts leichter eine Revision vor dem Tribunal Supremo zu begründen, als im Bereich des autonomen spanischen Rechts:45 „In diesem Fall erfolgte der Beweis des ausländischen Rechts – durch beide Parteien – unter Bezug auf die sachverständigen Aussagen verschiedener Rechtsgelehrter sowie Verweise auf das anwendbare Recht, wodurch das deutsche Recht ausreichend nachgewiesen wurde. Allerdings nimmt das Urteil, das mit der Berufung angegriffen wurde, in einer Begründung auch auf das spanische Gesetz Bezug, das den Handelsvertretervertrag regelt. Das hindert indes nicht zu bestätigen, dass das deutsche Recht auf die in Streit stehende Rechtsbeziehung angewandt wird, da beide Rechtssysteme den Handelsvertretervertrag gemäß den Vorgaben der Richtlinie 86/653/EG regeln. Die einheitliche Behandlung der Rechtsbeziehung kommt nicht von ungefähr, da die europäischen Richtlinien eine Rechtsangleichung bezwecken.“46
Besondere Schwierigkeiten hat wiederholt die Verwendung von Generalklauseln im 17 Primärrecht und im Sekundärrecht aufgeworfen.47 Im Primärrecht sind Generalklauseln allerdings bereits durch eine umfangreiche Rechtsprechung des EuGH näher konkretisiert. So liegen die Dinge etwa im Hinblick auf den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ in Art. 52 AEUV.48 Im Sekundärrecht ist es oft schwieriger. Auch hier trägt die Rechtsprechung des EuGH freilich in vielen Fällen bereits zur Konturierung der Generalklauseln bei.49 In der spanischen Rechtslehre war der Begriff der Generalklauseln bis vor kurzem nicht gebräuchlich;50 man hat die entsprechenden Fälle den „unbestimmten Rechtsbegriffen“ zugeordnet. Im Unionsrecht werfen Generalklauseln die gleichen Probleme einheitlicher Anwendung auf, wie wir sie bereits im Hinblick auf die Auslegung erörtert haben. Ein Beispiel für eine gelungene Rechtsentwicklung ist das Urteil vom 28. März 2005,51 in dem es um einen markenrechtlichen unbestimmten Rechtsbegriff geht, die „aktuelle und effektive Verwendung eines Warenzeichen“. Zur
44 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 45 Fernández Rozas/Sánchez Lorenzo, Derecho internacional privado (7. Aufl. 2013), S. 178–179. 46 TS v. 4.7.2006, RJ 2006/6080, Rn. 3. 47 Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo, S. 90–98, 174–176. 48 TSJ Andalucía v. 29.9.2003, RJCA 2003/992, Rn. 4. Derselben Linie folgt TSJ Andalucía v. 24.10.2003, RJCA 2003/996, Rn. 1 und v. 24.10.2003, JUR 2004/66220, Rn. 4. 49 TS v. 26.10.2005, RJ 2005/8294, Rn. 2. 50 Vgl. Miquel González, Anuario de la Facultad de Derecho de la Universidad Autónoma de Madrid (1997), S. 297 ff. Einen wichtigen Beitrag bietet uns jetzt über die Generaklauseln in Spanien Agustín Luna Serrano, Las normas que acogen conceptos elásticos o formulaciones abiertas (2019), S. 95 ff. u. S. 205 ff. 51 RJ 2005/1697, Rn. 6.
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Auslegung gab es in der spanischen Lehre zwei widerstreitende Ansätze. Das spanische Gericht betont, dass der Begriff des spanischen Umsetzungsgesetzes nicht exakt dem weniger konturierten unionsrechtlichen Begriff der „effektiven Verwendung“52 entspricht. Zum Verständnis des Begriffs trägt eine vergleichende Analyse der verwendeten Wortzeichen sowie auch anderer Umsetzungsregeln bei. Der Vorzug gebührt der Auslegung, die am besten mit dem europarechtlichen Gebot einer einheitlichen Auslegung vereinbar ist. Letztlich klärt freilich erst die Rechtsprechung des EuGH den Begriff verbindlich.53 18 Die spanische Rechtsprechung ist aber darüber hinausgegangen. Sie zieht die Auslegung unionsrechtlicher unbestimmter Rechtsbegriffe durch den EuGH auch heran, um entsprechende Begriffe des autonomen nationalen Rechts zu konkretisieren. Auf diese Weise hat der Tribunal Supremo etwa den Begriff der fuerza mayor (force majeure, höhere Gewalt) des Art. 1.105 Cc mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des EuGH ausgelegt.54
b) Die Rolle der Lehre 19 Die Methode des europäischen Rechts war in Spanien zunächst vor allem aus der Per-
spektive des Völkerrechts und des öffentlichen Rechts erörtert worden. Mit einer zunehmenden Harmonisierung auch von privatrechtlichen Gegenständen kam sie vermehrt auch in den Blick von Privatrechtlern.55 Ein Kennzeichen der spanischen Lehre ist dabei ihre Offenheit für die Rechtsvergleichung56. Wissenschaftliche Arbeiten, besonders auch Doktorarbeiten, erörtern Fragen des europäischen Rechts regelmäßig im Vergleich zu anderen mitgliedstaatlichen Rechtssystemen, vor allem im Vergleich zum deutschen, französischen oder italienischen Recht, zudem auch, wenngleich seltener, im Vergleich zum Common Law. Diese rechtsvergleichende Perspektive des Europarechts hat die Öffnung für eine genuin europäische Methode erleichtert. Für das Verständnis des europäischen Rechts ist ein vergleichender Ausgangspunkt oft unentbehrlich. Über die Lehre hat diese europäische und rechtsvergleichende Perspektive auch Eingang in die Rechtsprechung gefunden, wenn gleich die Lehre in Spanien keine Rechtsquelle ist. Das spanische System der Richterlaufbahn ermöglicht indes akademischen Lehrern den Wechsel in die Justiz. So war mit Dr. Encarna Roca
52 Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1994 L 11/1. 53 Hier EuGH v. 11.3.2003 – Rs. C-40/01 Ansul/Ajax, EU:C: 2003:135. 54 TS v. 25.3.2003, RJ 2003/3793, Rn. 2. 55 Vgl. Auch zur Eurohypothek, Muñiz Espada/Nasarre Aznar/Sánchez Jordán, Un modelo para una Eurohipoteca. Desde el Informe Segré hasta hoy (2008). Allgemein über die Harmonisierung des Sachenrechts, Héctor Simón Moreno, El proceso de armonización de los derechos reales en Europa (2013). 56 Klaus Jochen Albiez Dohrmann, El rol del Derecho comparado en la construcción del Derecho privado europeo, e-legal History Review, Núm. Extra, 27, Homenaje al Profesor Pérez-Prendes, (2018). Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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Trías eine hochqualifizierte Spezialistin des europäischen Privatrechts an den Tribunal Supremo berufen worden (inzwischen ist sie Richterin am Verfassungsgerichtshof); ihre damalige Tätigkeit hat sicherlich dazu beigetragen, dass der Tribunal Supremo in vielen Bereichen Aspekte des europäischen Vertragsrechts berücksichtigt hat. Es zeichnet sich in vielen Bereichen des Vertragsrechts geradezu eine neue Rechtsprechungslinie ab.57
c) Soft Law Die Auswirkung von soft law-Texten zur Vereinheitlichung des europäischen Privat- 20 rechts auf das spanische Recht ist nicht nur eine Frage akademischen Interesses. Besonders im Bereich des Vertragsrechts haben solche Texte in den vergangenen Jahren Bedeutung erlangt, zu nennen sind insbesondere die Grundregeln des Europäischen Vertragsrecht (Principles of European Contract Law, PECL), der Entwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs der Pavia-Gruppe, der Gemeinsame Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht (Draft Common Frame of Reference, DCFR) und der Text der European Group on Tort Law. Ein Einfluss dieser Texte zeigt sich sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Auslegung des nationalen Rechts durch die Rechtsprechung. Namentlich die PECL haben, wie schon öfter hervorgehoben wurde,58 als „narrative Normen“ einen Einfluss auf die Auslegung des spanischen Vertragsrechts entfaltet. So hat die Rechtsprechung einige traditionelle Rechtsinstitute des Vertragsrechts nach dem Modell der PECL und des CISG fortgebildet. Zum Beispiel kann man das Modell der Vertragsauflösung wegen Nichterfüllung nehmen, das sich von einem richterlichen Gestaltungsakt (Art. 1.124 Cc) zu einem Modell der Vertragsauflösung durch Parteierklärung gewandelt hat.59 Art. 8:103 und 9:301 PECL haben dazu beigetragen, die Auslegung des Begriffs der „wesentlichen Nichterfüllung“ zu ändern,60 Art. 7:301 Abs. 1 PECL hat die Auslegung der Wirkungen einer vorzeitigen Erfüllung beeinflusst.61 Auch in anderen Bereichen sind die Lösungen der PECL für eine Auslegung des spanischen Rechts berücksichtigt worden, so hinsichtlich der Nachfrist (Art. 8:106 Abs. 3 PECL),62 der Verjährung des Anspruchs auf Naturalerfüllung
57 S. z. B. das Urteil des Tribunal Supremo vom 20. Januar 2014 über einen SWAP-Vertrag TOL 4.103.965. 58 Perales Viscasillas, La Ley 2007, D-128 1750 ff.; dies.,in: Díaz Romero u. a. (Hrsg.), Derecho privado europeo: estado actual y perspectivas de futuro, S. 453 ff.; Vendrell Cervantes, ZEuP 2008, 534 ff.; Roca Trías/Fernández Gregoraci, ERCL 5 (2009), 45–59. 59 TS v. 28.3.1996, RJ 1996/2198; TS v. 10.7.2003, RJ 2003/4339. 60 TS v. 10.10.2005, RJ 2005/8567; TS v. 5.4.2006, RJ 2006/1921; TS v. 20.7.2006, RJ 2006/7305; TS v. 31.10.2006, RJ 2006/8405. 61 TS v. 27.9.2006, RJ 2006/8631. 62 TS v. 23.7.2007, RJ 2007/4702.
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(Art. 9:102 Abs. 3 PECL) sowie der Aufrechnung,63 des Systems der Wahlschulden (Art. 10:102)64 oder des Schadenersatzes (Art. 13:102).65 21 Auch als Mustergesetz spielt das europäische soft law, spielen aber auch ausländische Privatrechtsordnungen, in Spanien eine Rolle. Die PECL und der DCFR ebenso wie die Reformen anderer Rechtssysteme, namentlich die deutsche Schuldrechtsmodernisierung, beeinflussen Reformüberlegungen im spanischen Zivilrecht und werden bei der Reform der Gesetzbücher berücksichtigt. So ist etwa, wie seine Einleitung ausweist, der Vorentwurf für die Modernisierung des Schuld- und Vertragsrechts, den die Allgemeine Kommission für Kodifikation66 vorgelegt hatte, deutlich von den PECL und dem „künftigen europäischen Vertragsrecht“ inspiriert.67 Auch die voranschreitende Fortentwicklung des katalonischen Gesetzbuches ist eng an die Entwicklung des europäischen Privatrechts angelehnt. So hat man die europäische Entwicklung schon beim Verjährungssystem berücksichtigt; gegenwärtig kann man ihren Einfluss auf die Abfassung des VI. Buches über das Schuldrecht beobachten.68 Am 20. Juni 2013 wurde der Vorentwurf des neuen Handelsgesetzbuchs von dem Justizminister vorgelegt. Das neue Gesetzbuch sollte den alten Código de Comercio von 1885 ersetzen. Eine erste Lektüre zeigt, dass die Redakteure sich kaum auf das europäische Vertragsrecht beziehen. In der Begründung des Vorentwurfs werden nur die PECL neben dem UN-Kaufrecht und den Unidroit-Principles genannt. Auch hier wird für eine Modernisierung der allgemeinen Handelsvertragsregel plädiert. Außerdem werden die wichtigsten Handelsverträge überarbeitet und neu reguliert. Im Jahre 2015 sollte das neue Handelsgesetzbuch (Código Mercantil) in Kraft treten.69 Aber aus rein politischen Gründen wurde es dann zum Schluss nicht verabschiedet. 22 Im Jahre 2018 wurde von der Vereinigung der Zivilprofessoren der Entwurf eines vollständig neuen Zivilgesetzbuchs (Propuesta de Código civil)70 vorgestellt. In der Präambel wird der Einfluss des europäischen Rechts wiederholt hervorgehoben. Das vorgeschlagene neue Schuld- und Vertragsrecht ist stark beeinflusst von den Prinzipien für ein Europäisches Vertragsrecht (Principles of European Contract Law, PECL) und dem Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht (Draft Common Frame of Reference, DCFR), weniger hingegen von dem Europäischen Vertragsgesetzbuchs der
63 TSJ Navarra v. 6.10.2003, RJ 2003/8687. 64 TS v. 31.10.2005, RJ 2005/7351; TS v. 11.7.2006, RJ 2006/4977. 65 TS v. 5.1.2007, RJ 2007/321. 66 B.I.M.J., LXIII, enero 2009. 67 Das Justizministerium hat aber bis heute den Vorentwurf nicht der Regierung vorgelegt. Vgl. Albiez Dohrmann (Hrsg.), Derecho privado europeo y modernización del Derecho contractual en España (2011). 68 Arnau Raventós, in: Bosch Capdevila (Hrsg.), Derecho contractual europeo, S. 549 ff.; Martín Casals, La Notaría (11/12) 2001, 51–61. 69 Verfügbar unter www.nuevocodigomercantil.es. 70 Verfügbar unter www.derechocivil.net/publicaciones/propuesta-obligaciones-civil.
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Pavia-Gruppe. In der derzeitigen politischen Lage ist allerdings nicht zu erwarten, dass dieser Vorschlag die Weichen für eine Reform des Zivilgesetzbuchs stellen wird. Immerhin dient der Vorschlag als Grundlage für die wissenschaftliche Diskussion und bietet argumentative Anknüpfungspunkte für die Gerichte.
2. Primärrecht a) Nicht-legislatorische und präventive Harmonisierung Anders als in anderen Mitgliedstaaten – insbesondere in Frankreich und in Deutsch- 23 land – wird das Problem der „umgekehrten Diskriminierung“ in Spanien nur wenig erörtert. Vorlagen dazu von spanischen Gerichten gibt es nicht. Allgemein kann man sagen, dass Entscheidungen des EuGH in diesem Bereich tiefer in das mitgliedstaatliche Recht eingreifen als sekundärrechtliche Vorgaben, da sie interne und unionsrechtlich geregelte Sachverhalte gleichermaßen abdecken. Dieser Befund erklärt sich teilweise daraus, dass das spanische Rechtssystem zu einer einseitigen oder indirekten Harmonisierung neigt, die auch legislativ und vorbeugend verfolgt wird. Der Gesetzgeber setzt die unionsrechtlichen Vorgaben regelmäßig erweiternd um und erstreckt ihre Anwendung auch auf nationale oder unionsrechtlich offengelassene Fälle (überschießende Umsetzung; s. allgemein § 14 in diesem Band). Zum Beispiel hat das spanische Ausländerrecht unionsrechtlich begründete Vorteile auch drittstaatenangehörigen Ehegatten und Verwandten von Spaniern zukommen lassen. Ein Fall wie der in der Rechtssache Mary Carpenter71 könnte daher im spanischen Recht von vorneherein nicht auftreten. In ähnlicher Weise hat der spanische Gesetzgeber auch auf Entscheidungen wie Hubbard72 oder Mund & Fester73 reagiert und benachteiligende Rechtsinstitute des spanischen Zivilverfahrensrechts wie das cautio iuidicatum solvi oder die besonderen Regeln über die vorläufige Beschlagnahme für Ausländer (Art. 534 und 1400 Ley de Enjuiciamiento civil, LEC [spanische Zivilprozessordnung]) in der neuen Zivilprozessordnung von 2000 mit Wirkung nicht nur für Unionsbürger, sondern für alle Ausländer aufgehoben. Solche „präventive Harmonisierung“ ist manchmal auf die Betrachtung des euro- 24 päischen Rechts als ratio scripta zurückzuführen. Vom Blickwinkel einer judiziellen oder nicht-legislativen Harmonisierung kann man darin eine Anwendung des Unionsrechts ultra vires sehen, bei der das Europarecht als ein Element der Auslegung und Fortbildung des autonom-nationalen Rechts auch für solche Fragen herangezogen wird, die vom Unionsrecht nicht erfasst sind; die Dinge liegen hier ähnlich wie bei dem oben (Rn. 20 ff.) erörterten soft law. Zum Beispiel hat die Audiencia Territorial
71 EuGH v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00 Mary Carpenter, EU:C:2002:434. 72 EuGH v. 1.7.1993 –Rs. C-20/92 Hubbard/Hamburger, EU:C:1993:280. 73 EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester/Hartrex, EU:C:1994:52. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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(Oberlandesgericht) von Palma de Mallorca in ihrem Urteil vom 13. Oktober 198874 das Brüsseler Übereinkommen von 27. September 196875 herangezogen, um das autonomspanische Gerichtsverfassungsgesetz (Ley Orgánica del Poder Judicial, LOPJ) auszulegen, ungeachtet der Tatsache, dass Spanien dem Übereinkommen zu diesem Zeitpunkt noch nicht beigetreten war. Dieser Einfluss ist im legislativen Bereich ebenso nachweisbar. So hat man auch schon vor Beitritt Spaniens zur EG versucht, die dem Brüsseler Übereinkommen zugrunde liegenden Kriterien zu verallgemeinern und bei der Anwendung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in der LOPJ zu berücksichtigen. Das ist einer der Gründe, warum Spanien in der – nicht eben kurzen – Liste der (vorbehaltenen) besonderen innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften in Anhang I zur aktuellen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (EuGVVO)76 keinen Eintrag hat.
b) Die primärrechtskonforme Auslegung 25 Das Gebot einer primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts, insbesondere einer Auslegung in Übereinstimmung mit den Grundfreiheiten, gilt selbstverständlich auch im spanischen Recht und wird nicht nur bei der gerichtlichen Rechtsanwendung berücksichtigt, sondern gleichsam präventiv bei der Gesetzesbegründung verwendet. Ein anschauliches Beispiel für die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts bietet der Fall García Avello,77 der zunächst dem EuGH zur Entscheidung vorlag. Dort ging es um das spanische Namensrecht für Doppelstaatsangehörige, die die spanische Staatsangehörigkeit und die eines anderen Mitgliedstaats haben. Hier kann das spanische Recht – wie es sich aus nationalen Gesetzen ebenso wie aus internationalen Abkommen ergibt – in zahlreichen Fällen zu einer Vervielfältigung oder Umkehrung der Nachnamen führen, so auch in dem zu entscheidenden Fall, in dem es um spanisch-portugiesische Nachnamen ging. Die Dirección General de los Registros y del Notariado78 (DGRN; umbenannt in Dirección General de Seguridad Jurídica y Fe Pública durch das Real Decreto 453/2020, v. 10. März) schloss im konkreten Fall die Anwendung des nationalen Gesetzes aus und eröffnete den Betroffenen, die die Staatsangehörigkeit mehrerer Mitgliedstaaten
74 RGD 1989, 745. 75 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (1978), ABl. 1978 Nr. L 304/1. 76 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/1. 77 EuGH v. 2.10.2003 – Rs. C-148/02 García Avello, EU:C:2003:539. 78 Die Dirección General de los Registros y del Notariado (Dirección General de Seguridad Jurídica y Fe Pública) ist eine Abteilung des Justizministeriums; sie erlässt Erläuterungen für die mit standesamtlichen Fragen betrauten Richter sowie für die Notare und entscheidet zudem über Beschwerden gegen Entscheidungen jener Gerichte und Notare. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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besaßen, die Möglichkeit, das anwendbare Recht zu wählen.79 Um die einheitliche Anwendung dieser Entscheidungsgrundsätze durch die zuständigen Richter (Jueces Encargados del Registro Civil)80 zu gewährleisten, veröffentlichte die DGRN die „Verwaltungsanweisung vom 23. Mai 2007 über Nachnamen von Ausländern mit spanischer Staatsangehörigkeit und deren Hinterlegung im spanischen Standesamt“ (Instrucción de 23 de mayo de 2007 sobre apellidos de los extranjeros nacionalizados españoles y su consignación en el Registro Civil español), mit der das Recht von Unionsbürgern mit Mehrstaatsangehörigkeit bestätigt wird, unter den konkurrierenden nationalen Rechten das anwendbare Recht frei zu bestimmen.
3. Sekundärrecht a) Umsetzungstechniken Wegen der außerordentlichen Vielzahl unionsrechtlicher Richtlinien und Verordnun- 26 gen ist es schwierig, die Umsetzung des Sekundärrechts in das spanische Recht zusammenzufassen. Es scheint beinahe unmöglich, auch nur einen Überblick über die Entwicklung des Umsetzungsrechts in Spanien seit dem Beitritt zur EG im Jahre 1986 zu geben. Zum Beispiel hat die Europäische Gemeinschaft nach den im Amtsblatt veröffentlichten Angaben in der Zeit von Januar 1997 bis Januar 2008 allein im Nahrungsmittelsektor mehr als 1.400 Regelungen verabschiedet. Das Beispiel verdeutlicht, dass eine wissenschaftliche Untersuchung zur Umsetzung von Unionsrecht in den Mitgliedstaaten nur zum Ergebnis haben kann, dass bestenfalls eine weitgehende Annäherung erreicht wurde. Im Folgenden können daher nicht alle Einzelheiten des Sekundärrechts erörtert werden. Stattdessen werden Aspekte der Umsetzung von Unionsrecht in das spanische Recht speziell mit Blick auf Rechtsakte des Privatrechts erörtert. So wie auch in anderen Rechtsordnungen üblich, werden Richtlinien und Verord- 27 nungen durch Spezialgesetze ins nationale Recht implementiert. Der Consejo de Estado (Staatsrat) hat in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben, dass die Umsetzungsregelung einer Richtlinie denselben Normenrang haben muss, wie die bereits geregelte Materie im nationalen Recht hatte; das bisherige nationale Recht ist an die Richtlinienvorgaben anzupassen.81 Wenn allerdings die Umsetzung dringlich ist und auch aus Gründen des Gesetzesvorbehalts, erfolgt eine Richtlinienumsetzung nicht selten durch Rechtsverordnung; so wird insbesondere verfahren, wenn die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist.
79 DGRN v. 30.5.2006, RJ 2007/3394. 80 Bei den Jueces Encargados del Registro Civil (etwa: „Standesamt-Richter“) handelt es sich um Richter mit administrativen Aufgaben und ohne Rechtsprechungsgewalt. 81 Vgl. Gutachten 997/1988 v. 12.3.1998, 3527/2000 v. 14.12.2000, 1957/2002 v. 25.6.2002 und Bericht E-1/2007 v. 14.2008. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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Besonders im Verbraucherrecht wurden viele unionsrechtliche Vorgaben durch Spezialgesetze umgesetzt. Dabei blieb der Código civil nahezu unverändert. Eine Ausnahme stellt lediglich Art. 1262 Cc über den Abschluss von Verträgen dar, der im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr geändert wurde.82 Durch dasselbe Gesetz wurde auch Art. 54 Código de Comercio (CCom) über den Vertragsschluss im Handelsverkehr an die Vorgaben der Richtlinie angepasst. 29 Die Umsetzung von Richtlinienvorgaben macht nicht selten eine Abstimmung mit bereits vorbestehenden autonomen nationalen Regelungen erforderlich. Im Bereich des Verbraucherschutzes existierten solche insbesondere schon mit dem Gesetz über den Verbraucher- und Verwenderschutz (Ley para Defensa de los Consumidores y Usarios, LGDCU).83 Dieses enthielt bereits ein Haftungssystem sowie Regelungen über missbräuchliche Vertragsklauseln. Für den spanischen Gesetzgeber stellte sich daher die Frage, ob die Produkthaftungsrichtlinie84 und die Klauselrichtlinie weiteren Umsetzungsbedarf hervorriefen. Die Produkthaftungsrichtlinie setzte der spanische Gesetzgeber durch ein weiteres Spezialgesetz um.85 Im Hinblick auf die Umsetzung der Klauselrichtlinie wählte er hingegen ein doppelgleisiges Verfahren und inkorporierte ihre Vorgaben zum einen in das LGDCU, verabschiedete aber gleichzeitig ein spezielles AGB-Gesetz 7/1998.86 In der Rechtspraxis führte dieses Nebeneinander von Gesetzen zu einer Vielzahl von Problemen und Widersprüchen. 30 Ähnliche Probleme traten bei der Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 87 auf. Zu diesem Zeitpunkt galt bereits das Gesetz über die Ordnung des Kleinhandels,88 das verschiedene Arten von Kaufverträgen regelt. So war es einerseits erforderlich, dieses Gesetz entsprechend den Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu ändern.89 Darüber hinaus erließ der Gesetzgeber aber noch das Gesetz 23/2003 vom 10. Juli 2003 über die Gewährleistung beim Verbrauchsgüterkauf.90 Auch hier hat die Literatur Reibungspunkte und Widersprüche der beiden Gesetze kritisiert. 31 Bei der Umsetzung einer Richtlinie sind so häufig mehrere Gesetze betroffen – vorhandene Gesetze werden geändert, neue Gesetze erlassen. Ein neues letztes Bei-
82 Ley 34/2002 v. 11.7.2002 de servicios de la sociedad de la información y de comercio electrónico. 83 Ley 26/1984 v. 19.7.1984 para defensa de los consumidores y usuarios. 84 Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29. 85 Ley 22/1994 v. 6.7.1994 de Responsabilidad civil por los daños causados por productos defectuosos. 86 Ley 7/1998 v. 13.4.1998 de las Condiciones Generales de la Contratación. 87 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 88 Ley 7/1996 v. 15.1.1996 de Ordenación del Comercio Minorista. 89 Durch das Gesetz 47/2002 v. 19.12.2002 de reforma de la Ley/1996, de 15 de enero, de Ordenación del Comercio Minorista, para la transposición de la la Directiva 97/7/CE en materia de contratos a distancia, y para la adapatación de la Ley a diversas Directivas. 90 Ley 23/2003 v. 10.7.2003 de Garantías en la Venta de Bienes de Consumo. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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spiel ist die Umsetzung der Richtlinie 2011/7/EU zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr durch das RDL 4/2013, vom 22. Februar, de Medidas de apoyo al emprendedor y de estímulo de crecimiento y de creación de empleo. Die genannten Beispiele zeigen die inhaltliche Verflechtung mehrerer Gesetze bei der Umsetzung einer Richtlinie. Die Folge ist eine umfangreiche horizontale Ausweitung der Unionsnormen in einem bestimmten Bereich des Marktes. Das kann sowohl positive als auch negative Effekte haben. Denn nicht immer kann der Rechtsanwender deutlich unterscheiden, wann eine Norm unionsrechtskonform auszulegen ist und wann nicht. Die zunehmende Bereitschaft des spanischen Gesetzgebers zu legislativem Han- 32 deln kann sich sowohl positiv als auch negativ auf die Angleichung des spanischen Rechts an das Unionsrecht auswirken. Zum Beispiel wurde der königliche Erlass 1/ 2007 vom 16. Dezember 2007 verabschiedet, durch den das LGDCU neu verkündet wird. Die Neufassung des LGDCU (Texto refundido de la Ley General para la Defensa de los Consumidores y Usuarios y otras Leyes complementarias, TRLGDCU) führt mehrere Sondergesetze zusammen, die wiederum der Umsetzung verschiedener Richtlinien dienen. Der königliche Erlass beschränkt sich allerdings nicht auf die Konsolidierung des vorbestehenden Rechts, sondern enthält darüber hinaus inhaltliche Änderungen. Das wiederum stellt die Wirksamkeit der vom Unionsrecht intendierten Rechtsangleichung in Frage. Ein anderes Beispiel ist das Gesetz über Maßnahmen für die Förderung der Informationsgesellschaft.91 Dieses Gesetz modifiziert nicht nur das ältere Gesetz über Dienste der Informationsgesellschaft und elektronischen Geschäftsverkehr,92 das seinerseits die Vorgaben der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr umsetzt, sondern auch das Gesetz über elektronische Signaturen und den zugehörigen königlichen Erlass über elektronische Signaturen.93 Schon dieser Erlass berücksichtigte den Entwurf einer Richtlinie über elektronische Signaturen, der erst später verabschiedet wurde.94 – Durch die wiederholte Änderung nationaler Umsetzungsvorschriften wird der Rechtsrahmen von Mal zu Mal undurchsichtiger und weniger nachvollziehbar. Erschwert wird auch festzustellen, ob das mitgliedstaatliche Umsetzungsrecht den unionsrechtlichen Vorgaben noch genügt oder sich von diesen entfernt hat. Diese zunehmende Intransparenz macht es nicht zuletzt den Unionsorganen schwer, etwaige Verstöße gegen das Unionsrecht zu kontrollieren; sie sind dabei stets auf nationale Berichte und Klagen Einzelner angewiesen, die solche Umsetzungsdefizite hervorheben. Spanien – wie einige andere Mitgliedstaaten auch – hat die Umsetzung von Richt- 33 linien in nationales Recht nicht stets mit vollem Eifer und Erfolg betrieben, sei es, dass die Umsetzungsfrist überschritten wurde, sei es, dass inhaltliche Vorgaben nicht voll-
91 Ley 56/2007 v. 28.12.2007 de Medidas de Impulso de la Sociedad de la Información. 92 Fn. 82. 93 Real Decreto Ley 14/1999 v. 17.9.1999 sobre firma electrónica. 94 Richtlinie 1999/93/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.12.1999 über gemeinschaftliche Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen, ABl. 2000 L 13/12. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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ständig oder richtig umgesetzt wurden.95 Die von den Unionsorganen vorgegebenen Umsetzungsfristen fügen sich oft nicht bruchlos in den politischen und legislativen Kalender der Mitgliedstaaten. Mitunter erschweren besondere Umstände die fristgerechte Umsetzung. Beispiele dafür liefert auch die spanische Umsetzungspraxis. So konnte das Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der Produkthaftungsrichtlinie erst nach sechsjähriger Dauer und damit mit dreijähriger Verspätung mit Verabschiedung des Gesetzes über die Haftung für fehlerhafte Produkte96 abgeschlossen werden. In der Zwischenzeit machte man das allgemeine Haftungssystem der Art. 25–28 LGDCU für die Zwecke der Umsetzung fruchtbar. Schon im Jahr 1995 lag bereits ein erster Entwurf zur Umsetzung der Richtlinie und – damit verbunden – Änderung des LGDCU vor, doch fand dieser kein Echo. Erst 1997 wurde ein im Auftrag des Ministerrats verfasster neuer Entwurf vorgelegt. Dieser basierte auf früheren Regelungsvorschlägen, die, inhaltlich an das Modell des deutschen AGBG angelehnt, teils schon vor Verabschiedung der Klauselrichtlinie 93/13/EWG ausgearbeitet worden waren. Von da an ging es ganz schnell, die Regierung übertrug die Federführung für das Gesetzesvorhaben der Kommission für Justiz und Inneres und das Gesetz wurde schließlich am 13. April 1998 verabschiedet. Zügig erfolgte hingegen die Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, die nach weniger als zwei Jahren durch das Gesetz über Gewährleistungsrechte beim Verbrauchsgüterkauf97 erfolgte. Bis dahin war in der Lehre umstritten, ob die Umsetzung der Richtlinie durch ein Sondergesetz oder durch Änderung des LGDCU vorzugswürdig sei. Schließlich erwog man auch, ob die Richtlinienvorgaben nicht überschießend durch eine breitere Regelung umgesetzt werden sollten, die auch eine Änderung des Código civil und des Handelsgesetzbuchs umfasst. Seit 2007 sind die Sachfragen jetzt übrigens im TRLGDCU geregelt.98
34 Spanien hatte sich wiederholt in Vertragsverletzungsverfahren wegen fehlerhafter
Umsetzung von Richtlinien zu verteidigen, und wiederholt mussten nationale Umsetzungsvorschriften nachgebessert werden.99 Ein Beispiel aus dem hier erörterten Bereich des Europäischen Privatrechts ist das Urteil des EuGH vom 9. September 2004, in dem es um die Umsetzung der Klauselrichtlinie in Spanien ging.100 Nach Auffassung des Gerichtshofs war die Vorschrift von Art. 5 S. 3 Klauselrichtlinie nicht richtig umgesetzt, nach der die contra proferentem-Regel im Verbandsklageverfahren nicht anzuwenden ist.101 Das war zwar in der Tat im Wortlaut der spanischen Umsetzungsvorschriften nicht eigens hervorgehoben, doch begründete die Lehre das richtlini-
95 Der Statistik ist freilich zu entnehmen, dass Spanien insoweit nicht säumiger ist als andere Mitgliedstaaten; Bellido Barrionuevo, La directiva comunitaria (2003), S. 145. 96 Fn. 85. 97 Fn. 87. 98 Statt aller Carrasco Perera/Cordero Lobato/Martínez Espín, Estudios sobre Consumo (2000), S. 125. 99 S. z. B. EuGH v. 25.2.2010 – Rs. C-295/09 Kommission/Spanien, EU:C:2010:99; EuGH v. 11.2.2010 – Rs. C-523/08 Kommission/Spanien, EU:C:2010:73. Allgemein Bellido Barrionuevo, La directiva comunitaria (2003), S. 145. 100 EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-70/03 Kommission/Spanien, EU:C:2004:505. 101 S. nur Infante Ruiz, Revista de Derecho Privado 2005, 159 ff.; ders., Revista de la Facultad de Derecho de la Universidad de Granada (2006), S. 469.
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enkonforme Ergebnis im Wege der Auslegung. Das Urteil des EuGH führte schließlich dazu, dass die Umsetzungsvorschrift klarstellend angepasst wurde.102 In derselben Entscheidung stellte der Gerichtshof einen Verstoß gegen die Vorgaben von Art. 6 Abs. 2 Klauselrichtlinie fest.103 Dabei hätte der EuGH durchaus zu einem anderen Ergebnis kommen können, wenn er seiner Entscheidung eine Interpretation zugrunde gelegt hätte, welche die maßgeblichen Vorschriften des LCGC und des LGDCU im Zusammenhang sieht. Richtig verstanden verstießen sie nicht gegen Art. 6 Abs. 2 Klauselrichtlinie. Der spanische Gesetzgeber hat Richtlinienvorgaben auf unterschiedliche Weise 35 umgesetzt und sich dabei teils eng an den Richtlinienwortlaut gehalten, diesen teils freier umgesetzt; nicht selten ist er auch über die Vorgaben hinausgegangen. Im Rahmen der Kaufgewährleistungsrechte des Verbrauchers regelt Art. 124 36 LGCDU idF von 2007 die Klage des Verbrauchers gegen den Hersteller, wenn auch nur subsidiär, für den Fall, dass er seine Rechte nicht gegen den Verkäufer durchsetzen kann. Das ist ein Fall von überschießender Umsetzung. Auch die Vorgaben der Klauselrichtlinie hat der spanische Gesetzgeber in einigen Punkten übererfüllt. Das betrifft zum Beispiel die Kontrolltechniken des Richters über missbräuchliche Klauseln. Die Gerichte sind befugt, eine wegen treuwidriger Benachteiligung nichtige Klausel aufrecht zu erhalten und zu modifizieren, Art. 83.2 LGDCU idF von 2007. Der EuGH erklärte aber in seinem Urteil vom 14. Juni 2012104, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 einer mitgliedstaatlichen Regelung, wie sie in Art. 83 des Decreto Legislativo 1/2007 vorgesehen ist, entgegensteht, wonach das nationale Gericht, wenn es die Nichtigkeit einer missbräuchlichen Klausel in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher feststellt, durch Abänderung des Inhalts dieser Klausel den Vertrag anpassen kann. Diese Kompetenz der Richter wurde dann durch das Gesetz 3/2014 v. 27 März 2014 gestrichen. Ein anderes Beispiel ist das Urteil des EuGH v. 17. Juli 2014105, welches hervorgehoben hat, dass nationale Vollstreckungsverfahren, wie die Hypothekenvollstreckungsverfahren den Anforderungen unterliegen, die sich aus seiner einem wirksamen Verbraucherschutz dienenden ständigen Rechtsprechung ergeben. Um dieser Rechtsprechung Rechnung zu tragen und insbesondere im Anschluss an die Verkündung des Urteils Aziz wurden mit dem Gesetz 1/2013 u. a. die Artikel des Zivilprozessgesetzes über das Vollstreckungsverfahren bei hypothekarisch belasteten Sachen geändert. In dem Urteil v. 17 Juli 2014 stellte der EuGH fest, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung des Zwangsvollstreckungsverfahrens wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ent
102 103 104 105
Ley 44/2006 v. 29.12.2006 de mejora de la protección de los consumidores y usuarios. Vgl. nur Esteban de la Rosa, La Ley 2005, D-101 1932. EuGH v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10, Banco Español de Crédito, EU:C:2012:349. EuGH v. 17.7.2014 – Rs. C-169/14, Sánchez Morcillou. Abril García, EU:C:2014:2099. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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gegensteht, die vorsieht, dass das Erkenntnisgericht ein Hypothekenvollstreckungsverfahren nicht auszusetzen, sondern in seiner Endentscheidung allenfalls eine Entschädigung zum Ausgleich des dem Verbraucher entstandenen Schadens zu gewähren vermag, wobei dieser als Vollstreckungsschuldner kein Rechtsmittel gegen die Entscheidung einlegen kann, mit der sein Einspruch gegen die Vollstreckung zurückgewiesen wird, wohingegen der Gewerbetreibende als Vollstreckungsgläubiger ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung einlegen kann, mit der die Einstellung des Verfahrens angeordnet oder eine missbräuchliche Klausel für nicht anwendbar erklärt wird. Dem folgte der EuGH in seinen Urteilen v. 29. Oktober 2015106 und 26. Januar 2017.107 37 In anderen Fällen werden aber auch Umsetzungsdefizite gerügt. So hat der spanische Gesetzgeber beispielsweise Art. 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie über die Kontrollfreiheit von Hauptgegenstand und Preis der Verträge nicht ausdrücklich umgesetzt. Eine der Hauptlücken war das materielle Transparenzprinzip im Rahmen der AGB. Diese Lücke wurde erst durch das Gesetz v. 15. März 2019 mit der Einfügung dieses Prinzips im Art. 83 TRLGDCU vollständig geschlossen. Auch wenn das spanische Recht das formelle Transparenzprinzip reguliert hatte (Art. 5 u. 7 LCGC u. Art. 81 TRLGDCU), fehlte die Rechtsgrundlage bei Unklarheit über das Preis-Leistungs-Verhältnis oder wenn der AGB-Verwender sich Gestaltungsmöglichkeiten für die Vertragsentwicklung vorbehält und damit für den Vertragspartner unüberschaubare Risiken schafft. Der Einfluss der europäischen Rechtsprechung war dabei entscheidend (die meisten Rechtsfälle beziehen sich auf intransparente Bodenklauseln108). 38 Im Privatrecht hat man manchmal den Eindruck, dass der spanische Gesetzgeber in einigen Bereichen das Vertragsrecht modernisieren will, vor allem wenn es um den Verbraucherschutz geht. Die Umsetzung ins Privatrecht geht dabei nicht selten weiter als es das Unionsrecht verlangt und oft werden gleichzeitig mehrere Gesetze geändert. Diese Umsetzungstechnik macht es in einigen Fällen schwer zu erkennen, ob die Regelung die Richtlinienvorgaben überschießend umsetzt. Das ist zum Beispiel bei dem LGDCU idF von 2007 der Fall. Hier hat der Gesetzgeber nicht nur die bestehenden Vorschriften neu geordnet und Sondergesetze integriert, sondern gleichzeitig auch inhaltliche Veränderungen vorgenommen, die teilweise über das hinausgehen, was mit dem Mittel einer gesetzesvertretenden Verordnung (Real Decreto Legislativo)109 geregelt werden kann. Dem Gesetzgeber ist dabei zu Gute zu halten, dass er das Anliegen verfolgte, das Unionsrecht effektiv umzusetzen. Mit der revidierten Fassung des Textes wollte er die richtliniendeterminierten
106 EuGH v. 29.10.2015 – Rs. C-8/14, BBVA/Pedro Peñalva u. a., EU:C:2015:731. 107 EuGH v. 26.1.2017 – Rs. C-421/14, Banco Primus,EU:C:2017:60. 108 Der Anhaltspunkt war das Urteil des TS v. 9.5.2013, RJ 2013/3088. 109 Die spanische Verfassung kennt verschiedene Formen der Legislativakte, nämlich das (parlamentarische) Gesetz (Ley), die Verordnung (Reglamento), gesetzesvertretende Verordnung (Decreto Legislativo, Art. 85 CE) sowie die in Eilfällen zugängliche Gesetzesverordnung (Decreto Ley, Art. 86 CE).
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Vorschriften verdeutlichen und näher erläutern.110 Zum Beispiel hat die Reform von 2007 die vorher spezialgesetzlich geregelte AGB-Kontrolle präzisiert.111 Auch die Umsetzungsvorschriften zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie wurden klarer gefasst, teils auch gegenüber dem Richtlinientext verbessert.112 Ebenso hat der Gesetzgeber die Vorschriften über die Produkthaftung teilweise sprachlich überarbeitet, teils inhaltlich erweitert, so wenn die Haftung auf fehlerhafte Dienstleistungen erstreckt wird. Auf diese Weise wird zwar einerseits das Umsetzungsgesetz verbessert, wird aber andererseits die Kontrolle durch die Europäische Kommission erschwert. Mit der Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie113 wird zudem der TRLGDCU geändert. Die Reform ist am 27. März 2014 verabschiedet worden (veröffentlicht im Bundesgesetzblatt am 28. März). Der spanische Gesetzgeber hat wieder einmal die Umsetzungsfrist nicht eingehalten.
Das Gesetz der Immobilienkreditverträge vom 15. März 2019, das die Richtlinie 2014/ 39 17/ЕU über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher114 umsetzt, geht in manchen Aspekten über diese hinaus. Es wird nicht nur der Verbraucher geschützt, sondern auch Privatunternehmer, die eine Darlehenshypothek aufnehmen. Eine der Besonderheiten ist die Kontrolle der Notare, die verpflichtet sind, die volle Transparenz der Darlehenshypotheken zuzusichern (Art. 15). Sie müssen die Darlehensnehmer über den Inhalt der Darlehenshypothekenverträge informieren und beraten. Im Anschluss erstellt der Notar ein Protokoll (aber nur für Darlehenshypotheken, nach der Anweisung der DGRN v. 20. Dezember 2019115). Darin hält der Notar fest, welche Punkte geprüft wurden sowie die konkreten Aspekte, die er dem Darlehensnehmer erklärt hat. Diese formellen Bedingungen können die Handlungsfreiheit des Einzelnen begrenzen, da die Teilnahme eines spanischen Notars zwingend erforderlich ist. Wichtige Klauseln der Darlehensverträge wie z. B. die vorzeitige Kündigungsklausel oder die variable Zinsklausel sind nichtig –also nicht mehr, wie vorher, nur missbräuchlich- wenn sie gegen das Gesetz verstoßen. Das Gesetz gilt auch ausdrücklich für die Garanten des Darlehens (z. B. Bürgen). Viele andere Besonderheiten des Gesetzes, ergänzt von dem Gesetz Real Decreto 309/2019 und einer Verordnung über Transparenz im Bankenbereich, sind Folgen der damaligen Finanzkrise, die Spanien hart traf und der Unfähigkeit der Gerichte die Verbraucher vor den missbräuchliche Prakti
110 Vgl. Grunderklärung 1/2007 über gesetzesvertretende Verordnungen v. 16.11.2007, die die revidierte Fassung der LGDCU bestätigt. 111 Vgl. Art. 125 mit dem Art. 11 des Gesetzes 23/2003 v. 10.7.2003. 112 Vgl. Art. 119.2–2 oder Art. 123.4, S. 2, 126 S. 2. 113 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64. 114 Richtlinie 2014/17/ЕU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Februar 2014 über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010. 115 Instrucción de 20 de diciembre de 2019, de la Dirección General de los Registros y del Notariado, sobre la actuación notarial y registral ante diversas dudas en la aplicación de la Ley 5/2019, de 15 de marzo, reguladora de los contratos de crédito inmobiliario. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
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ken der Banken zu schützen (z. B. die Einfügung von Bodenklauseln, die jetzt nichtig sind durch Art. 21.3).
b) Wirkungen nach der Umsetzungsfrist 40 Die unmittelbare Anwendbarkeit des Sekundärrechts ist selbstverständlich auch in
der spanischen Rechtsprechung anerkannt.116 Allerdings hat die Rechtsprechung die unmittelbare Anwendbarkeit bei fehlerhafter oder verspäteter Umsetzung der Richtlinie zu streng auf das Vertikalverhältnis Staat–Bürger beschränkt. So lehnte der Tribunal Supremo117 in einer Entscheidung aus dem Jahre 1991 die Anwendung der Insolvenzschutzrichtlinie118 im Rechtsstreit zwischen einer Privatperson und dem Lohngarantiefonds – einer Einrichtung des Ministeriums für Arbeit und Soziales – zu Unrecht ab.119 41 Insgesamt ist die Rechtsprechung in Bezug auf die Richtlinienwirkungen uneinheitlich. Während einige Entscheidungen des Tribunal Supremo weder die Faccini Dori-Vorgaben120 beachten, noch eine unionsrechtkonforme Auslegung, noch eine unionsrechtliche Staatshaftung in Betracht ziehen,121 beachten andere Entscheidungen die Vorgaben des EuGH zutreffend und legen das nationale Recht unionsrechtskonform aus.122 In einigen Entscheidungen wird sogar über die europarechtlichen Vorgaben hinausgehend eine unmittelbare horizontale Wirkung anerkannt, so etwa in Bezug auf die Vorschriften der Klauselrichtlinie. In einem Fall hat der Tribunal Supremo die Vorgaben sogar angewandt, obwohl die Richtlinie nicht umgesetzt worden war oder der Vertragsschluss weit vor Ablauf der Umsetzungsfrist lag.123 In einigen Fällen stützt sich die Anerkennung der horizontalen unmittelbaren Wirkung der Richtlinie auf ein umfassendes Konzept „des verpflichteten Staats“, der die Richter einschließt, die dafür verantwortlich wären, dass das von der Richtlinie bezweckte Ziel erreicht wird, indem sie diejenigen nationalen Normen nicht anwenden könnten, die dagegen verstoßen, selbst wenn sich die Parteien nicht auf die betreffende Richtlinie berufen
116 Z. B. TS v. 17.4.1989, RJ 1989/4524; TS v. 10.2.1997, RJ 1997/2141; TS v. 16.2.2000, RJ 2000/1889. 117 TS v. 13.7.1991, RJ 1991/5985. 118 Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1980 L 283/23. 119 González-Orús, RDCE 1999, S. 465 ff. 120 EuGH 14.7.1994 – Rs. C- 91/92 Faccini Dori, EU:C:1994:292. 121 TS v. 31.1.1998, RJ 1998/121. 122 TS v. 20.11.1996, RJ 1996/8371; TS v. 15.3.1995, RJ 1995/1964. Auch TS v. 24.7.2000, RJ 2000/6473; TS v. 15.3.2001, RJ 2001/5980; TS v. 30.4.2004, RJ 2004/2678; TS v. 28.3.2005, RJ 2005/1697; TS v. 23.6.2005, RJ 2005/4930; TS v. 19.12.2008, RJ 1009/24; TS v. 17.3.2009, JUR 2009/169539, Rn. 1; TS v. 27.3.2009, RJ 2009/3288; AP Madrid v. 15.2.2010, AC 2010/509. 123 TS v. 5.7.1997, RJ 1997/6151; TS v. 28.11.1997, RJ 1997/8435; TS v. 20.2.1998, RJ 1998/604; TS v. 31.1.1999, RJ, 1999/121.
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IV. Europäische Methodenlehre im spanischen Recht
837
sollten.124 Im Schrifttum werden diese Entscheidungen überwiegend kritisiert,125 doch gibt es auch Stimmen, die sich für eine „weitreichende unmittelbare horizontale Anwendbarkeit“ von Richtlinien aussprechen.126
c) Die Vorwirkung von Richtlinien Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien kommt nur in Betracht, wenn die Vor- 42 gaben der Richtlinie nicht oder fehlerhaft umgesetzt wurden. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist ist eine solche horizontale Wirkung nicht anerkannt. Nach der Rechtsprechung des Tribunal Supremo127 kommt der Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine „latent verpflichtende Wirkung“ zu (s. allgemein § 15 in diesem Band). Die Rechtsprechung ist diesbezüglich ein wenig undeutlich. Der Tribunal Supremo128 hat die Anwendung der Vorschriften der Klauselrichtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist gebilligt, sogar vor Inkrafttreten der Richtlinie. Hierbei handelt es sich nicht um eine richtlinienkonforme Auslegung des damals geltenden spanischen Rechts, sondern um eine Vermischung von Auslegung nationalen und des Unionsrechts.
d) Die richtlinienkonforme Auslegung Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine richtlinienkonforme Auslegung erst ab 43 Ablauf der Umsetzungsfrist geboten. Bis dahin gilt lediglich, dass die Mitgliedstaaten keine Regelungen erlassen oder beibehalten dürfen, die einer erfolgreichen Umsetzung der Richtlinien entgegenstehen (Vereitelungsverbot).129 Auch der Tribunal Supremo hat zunächst vor Ablauf der Umsetzungsfrist keine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung angenommen.130 In der Lehre wird hingegen teilweise eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist befürwortet.131 Dem scheint der Tribunal Supremo in jüngeren Entscheidungen zu folgen:132
124 AP Girona v. 20.3.2102, JUR 2012/49134. 125 TS v. 12.7.1996, RJ 1996/5580; TS v. 23.9.1996, RJ 1996/6721; TS v. 8.11.1996, RJ 1996/7954; TS v. 30.11.1996, RJ 1996/8457. Vgl. Alonso García, El juez español y el Derecho comunitario (2003), S. 145; Del Valle Gálvez/T. Fajardo del Castillo, RDCE1999, 122; López Escudero/F. Cuesta Rico, RDCE1999, 412– 414; Blanco Pérez Rubio, Estudios sobre Consumo (1997), S. 37 ff. 126 Brú Purón, in: García Collantes (Hrsg.), La unificación jurídica europea (1999), S. 61. 127 TS v. 18.3.1995, RJ 1995/1964. 128 TS v. 5.7.1997, RJ 1997/6151. 129 TS v. 28.3.2005, RJ 2005/1697. 130 Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo (2002), S. 82. 131 Andrés Sáenz de Santa María/González Vega/Fernández Pérez, Introducción al Derecho de la Unión Europea (2. Aufl. 1999), S. 436. 132 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, EU:C:1987:431.
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§ 24 Spanien
„Die Normen der nationalen Rechtsordnung müssen von allen Gerichten gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden, unabhängig von der Tatsache, dass die Norm vor oder nach der Richtlinie verabschiedet wurde oder die Richtlinie bereits in nationales Recht umgesetzt wurde oder nicht“.133
44 Die spanischen Gerichte haben in vielen Fällen das Prinzip der unionsrechtskon-
formen Auslegung bis an die Grenzen des Möglichen angewendet, auch wenn diese Auslegung eine Nichtbeachtung des nationalen Rechts impliziert, das eindeutig der europäischen Norm widerspricht.134 Über Reichweite und Grenzen der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung gibt es unterschiedliche Ansichten. Im Hinblick auf die Klauselrichtlinie haben einige Gerichte eine richtlinienkonforme Auslegung für unmöglich gehalten, da das spanische Umsetzungsgesetz höhere Anforderungen an den Verbraucher stellt.135 Andere Entscheidungen haben indes eine Auslegung in Übereinstimmung mit Art. 3 Klauselrichtlinie für möglich gehalten.136 In einigen Fällen ist die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung als eine Ergebnispflicht verstanden worden, die auch dann besteht, wenn die gebotene Auslegung nur contra legem erreicht werden könnte,137 nicht nur als eine Verhaltenspflicht. Beispielhaft zeigt sich dieses weite Verständnis zur Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung in Entscheidungen über die Nichtigkeit von Gesellschaften infolge der Marleasing-Entscheidung des EuGH.138 In Arbeitsrechtssachen hat das Tribunal Supremo (Sala Cuarta) die gleiche Auslegung verteidigt.139
133 TS v. 16.4.2007, RJ 2007/3780, Rn. 3; wiederholt in TS v. 10.7.2008, RJ 2008/4371, Rn. 3; TS v. 10.7.2008, RJ 2008/4372, Rn. 3. 134 TS v. 24.6.2009, RJ 2009/4286; TS Castilla y León v. 24.2.2010, AS 2010/1442. 135 TS v. 21.1.1988, RJ 1988/121; TS v. 20.11.1996 RJ 1996/8371. 136 TS v. 23.7.1993, RJ 1993/6467; TS v. 20.7.1994, RJ 1994/6518. 137 TS v. 30.4.2004, RJ 2004/1678 (in Bezug auf die Handelsvertreterrichtlinie 86/633/EEC). 138 TS v. 26.3.2009, RJ 2009/2388, Rn. 2. 139 TS v. 8.6.2016, RJ 2016/2348 (in Bezug auf die Richtlinie 2003/88 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung); TS v.17.10.2016, RJ 2016/4654 (in Bezug auf die Richtlinie 98/59 über Massenentlassungen). Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo
§ 25 Polen Literatur: Nina Baranowska, Stosowanie wykładni zgodnej z prawem unijnym w sporach horyzontalnych w razie nieprawidłowej implementacji dyrektywy, EPS 2018/7, 4–14; Agnieszka Doczekalska, Zasada pewności prawa w wykładni wielojęzycznego prawa Unii Europejskiek, EPS 2019/5, 12–18; Agnieszka Doczekalska/Jacek Jaśkiewicz, Wykładnia aktów wielojęzycznego prawa pochodnego Unii Europejskiej przez polskie sądy administracyjne, Zeszyty Naukowe Sądownictwa Administracyjnego 2014, S. 66–77; Monika Domańska, Implementacja dyrektyw unijnych przez sądy krajowe (2014); Paweł Filipek, Nieusuwalność sędziów i granice kompetencji państwa członkowskiego do regulowania krajowego wymiaru sprawiedliwości, EPS 2019/12, 4–14; Krzysztof Lasiński-Sulecki/Wojciech Morawski, Granice swobody wykładni unijnego prawa podatkowego i celnego przez sąd krajowy wobec wyroku Trybunału Sprawiedliwości. Uwagi na tle wybranych orzeczeń TS, Przegląd Podatkowy 2018/ 9, 12–18; Leszek Leszczyński (Hrsg.), System Prawa Europejskiego, Tom 3, Wykładnia prawa Unii Europejskiej (2019); Wojciech Lewandowski, Pomiędzy Scyllą zawieszenia wzajemnego zaufania i Charybdą fragmentaryzacji standardu ochrony prawa podstawowego, EPS 2019/7, 4–13; Marc Liebscher/Fryderyk Zoll (Hrsg.), Einführung in das polnische Recht (2005); Dawid Miąsik, Podstawowe zasady stosowania prawa UE przez sądy powszechne w świetle orzecznictwa Sądu Najwyższego, EPS 2014/1, 66–70; Lech Morawski, Zasady wykładni prawa (3. Aufl. 2014); Michał Rams, Specyfika wykładni prawa karnego w kontekście brzmienia i celu prawa Unii Europejskiej (2016); Marek Safjan, Rządy prawa a przyszłość Europy, EPS 2019/8, 4–11; Marcin Skowronek, O wykładni prounijnej. Rozważania na tle interpretacji przez Sąd Rejonowy w Zakopanem przepisów ustawy o grach hazardowych, Prokuratura i Prawo 2017/9, 146–157; Maciej Szpunar, Bezpośredni skutek dyrektywy w postępowaniu przed sądem krajowym, PiP 2004/9, 56–69; Maciej Zieliński, Wykładnia prawa (6. Aufl. 2012). Rechtsprechung1: EuGH (Große Kammer) v. 7.3.2017 – Rs. C-390/15 RPO, EU:C:2017:174; EuGH (Große Kammer) v. 25.7.2018 – Rs. C-216/18 PPU LM, EU:C:2018:586; EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Mariusz Pawlak, EU:C:2019:260; EuGH (Große Kammer) v. 24.6.2019 – Rs. C-619/18 Kommission/Polen, EU:C:2019:531; EuGH (Große Kammer) v. 5.11.2019 – Rs. C-192/18 Kommission/Polen, EU:C:2019:924; EuGH (Große Kammer) v. 19.11.2019, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18 A.K. u. a., EU: C:2019:982; EuGH (Große Kammer) v. 8.4.2020 – Rs. C-791/19 R Kommission/Polen, EU:C:2020:277.
VerfGH v. 28.6.2000, K 25/99, Dz. U. 2000, poz. 648; VerfGH v. 11.5.2005 – K 18/04; VerfGH v. 26.11.2011 – SK 45/09; VerfGH v. 3.12.2015, K 34/15; VerfGH v. 28.1.2020, Kpt 1/20. OG v. 6.11.2003, III RN 133/02; OG v. 18.12.2007, II PK 17/06; OG v. 4.1.2008, I UK 182/07; OG v. 28.4.2010, III CZP 3/10; OG v. 19.7.2017, III UZP 3/17; OG v. 29.8.2019, III UZP 3/17; OG v. 5.12.2019, III PO 7/18; OG v. 15.1.2020, III PO 9/18; OG v. 23.1.2020, BS. I-4110-1/2020.
1 Die besprochenen Entscheidungen polnischer Gerichte werden nach Gericht, Datum und Aktenzeichen zitiert. Sie können in den Datenbanken der jeweiligen Gerichte auf deren Internetauftritten durch Eingabe des Aktenzeichens aufgerufen werden (Oberstes Gericht: sn.pl; Verfassungsgerichtshof: trybunal.gov.pl; alle Verwaltungsgerichte: orzeczenia.gov.pl). Anmerkung: Für wertvolle Hinweise bedanke ich mich bei Prof. Dr. Christian Baldus (Heidelberg) und Prof. Dr. Wojciech Dajczak (Poznań). Einzelne Schriften sind mit non vidi gekennzeichnet, da wegen der Corona-Pandemie ein eigentlich geplanter Forschungsaufenthalt in Polen im Frühjahr 2020 nicht stattfinden konnte. Raff https://doi.org/10.1515/9783110614305-025
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§ 25 Polen
Systematische Übersicht Einleitung 1–2 Grundlagen 3–15 1. Rechts- und Gerichtssystem 3–5 2. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung 6–7 3. Polnische Auslegungsmethoden; Einfluss durch das Unionsrecht 8–15 III. Justizreformen 16–41 1. Die Entmachtung des polnischen Verfassungsgerichtshofs ab 2015 16–22 2. Der Zustand der übrigen Gerichtsbarkeit; Kooperation mit Luxemburg 23–39
I. II.
a)
Nationale Entwicklung 23–28 b) Verfahren vor dem EuGH 29–39 3. Verlust gegenseitigen Vertrauens 40–41 IV. Die Anwendung von Unionsrecht durch polnische Gerichte 42–60 1. Verfassung und Unionsrecht; Anwendungsvorrang 44–45 2. Auslegung von Unionsrecht durch polnische Gerichte 46–49 3. Europarecht und nationales Recht; Umgang mit EuGH-Entscheidungen durch polnische Gerichte 50–60 V. Fazit 61
I. Einleitung 1 Die Republik Polen ist am 1. Mai 2004 im Rahmen der großen Erweiterungsrunde
(„Osterweiterung“) Mitglied der EU geworden. Das Land mit seiner wechselvollen Geschichte (Großmacht im 16. Jahrhundert; Niedergang ab der Mitte des 17. Jahrhunderts; politische Inexistenz zwischen 1795 und 1918; Besatzung durch die Deutschen zwischen 1939 und 1945 und die Sowjetunion zwischen 1939 und 1941; sowjetische Vorherrschaft zwischen 1945 und 1989; Dritte Republik seit 1989) schien zur Ruhe gekommen zu sein. U. Ernst schreibt in der dritten Auflage dieses Bandes (2015), dass jedes ostmitteleuropäische Land „nach Überwindung der sowjetischen Vorherrschaft seinen eigenen Weg für den Umbau von Gesellschaft, Recht und staatlichen Institutionen“ gewählt habe.2 Zum Zehn-Jahres-Jubiläum des EU-Beitritts von Polen im Jahr 2014 herrschte am polnischen Weg kein Zweifel.3 2 2015 fand in Polen ein Regierungswechsel statt. Seither findet ein Machtkampf zwischen Parlament und Regierung einerseits und Justiz andererseits statt,4 in den mittlerweile auch der EuGH mehrfach eingegriffen hat (Rn. 29 ff.). Diese Auseinandersetzung hat Auswirkungen auf die Methodenlehre, u. a. (aber nicht nur) darauf, wie EuGH-Urteile heute in Polen umgesetzt werden. Die polnischen Justizreformen wer
2 Ernst, in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (3. Aufl. 2015), § 28, Rn. 1. 3 Vgl. dazu Baldus u. a., GPR 2014, 302 ff. 4 In deutscher Sprache (bis zum Stand von Januar 2020) gut zusammenfassend Karpenstein/Sangi, EuZW 2020, 140.
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II. Grundlagen
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den folglich ausführlich besprochen (III.), bevor die Anwendung von Unionsrecht durch polnische Gerichte im Vordergrund steht (IV.). Zu Beginn legt dieser Beitrag einige Grundlagen (II.), wobei für die Einzelheiten aus der Zeit zwischen 2004 und 2015 auf den Beitrag von U. Ernst in der dritten Auflage verwiesen wird. Strafrechtliche Besonderheiten müssen aus Platzgründen gänzlich außer Betracht bleiben.5
II. Grundlagen 1. Rechts- und Gerichtssystem Nachdem Polen zwischen 1795 und 1918 von der politischen Landkarte verschwunden 3 war, entwarf der junge Staat zwischen den Weltkriegen und auch in der Zeit des sozialistischen Staates ein Rechtssystem, das sich seiner historischen Wurzeln zwar bewusst war und ist, das aber gleichzeitig viele eigene Wege ging, namentlich auch im Zivilrecht.6 Polen hat ein pandektistisches Zivilgesetzbuch (Allgemeiner Teil, Sachenrecht, Schuldrecht, Erbrecht)7, das 1964 in Kraft getreten ist, dessen Vorarbeiten aber in die Zwischenkriegszeit zurückreichen. Es konnte aufgrund der polnischen Teilungen jahrzehntelangen rechtspraktischen Umgang mit verschiedenen Rechtsmassen auf heutigem polnischen Boden beobachten und schließlich ein wohlüberlegtes System mit innovativen Lösungen entwickeln. Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist so aufgebaut, dass in der ersten Instanz bei ge- 4 ringerem Streitwert das sąd rejonowy (entspricht dem deutschen Amtsgericht), bei höherem das sąd okręgowy (entspricht dem deutschen Landgericht) zuständig ist. In der zweiten Instanz entscheidet das sąd okręgowy bzw. das sąd apelacyjny. In dritter – und letzter – Instanz entscheidet das Sąd Najwyższy (fortan Oberstes Gericht, abgekürzt OG)8, gem. Art. 3981 ff. der polnischen Zivilprozessordnung (ZPO) als Kassationsgericht. Das OG ist auch zuständig für Antworten auf Rechtsfragen, die ordentliche Gerichte ihm bei Auslegungszweifeln im konkreten Fall vorlegen können, Art. 390 der
5 Hierzu verweise ich auf Rams, Specyfika, der auf S. 379–436 obergerichtliche Judikatur auf unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht untersucht. 6 Siehe dazu jüngst Dajczak, ZNR 2019, 47–64; ferner etwa Ernst, Zugang zu Recht, Juristen, Schrifttum, in: Liebscher/Zoll (Hrsg.), Einführung, 1–10; Kempter, Der Einfluss des europäischen Rechts auf das polnische Zivilgesetzbuch (2007), 25 ff.; Witkowski/Wrzyszcz, Modernisierung des Rechts auf polnischem Boden vom 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Giaro (Hrsg.), Modernisierung durch Transfer im 19. und 20. Jahrhundert (2006), 249–274. 7 Das Familienrecht ist in einem eigenen Gesetzbuch geregelt, so dass das polnische ZGB konsequent vermögensrechtlich geprägt ist. 8 Das OG hat zahlreiche weitere Aufgaben, siehe Art. 1 des Gesetzes über das OG, Dz.U. 2019, poz. 825 mit Änderungen.
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§ 25 Polen
polnischen ZPO.9 Die Antwort ist für alle in dieser Sache entscheidenden Gerichte verbindlich.10 Hier zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit zum Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV. 5 Im Verwaltungsrecht folgt Polen zum Teil französischen Vorbildern (zentralistische Staatsverwaltung, u. a. über die Gliederungsebenen der Wojewodschaften). Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist zweistufig aufgebaut: Auf der Ebene der Wojewodschaften gibt es Wojewodschaftsverwaltungsgerichte (WVerwG) und in zweiter Instanz das Hauptverwaltungsgericht (HVerwG). Die Einzelheiten regelt die Verwaltungsprozessordnung vom 30. August 2002.11
2. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung 6 Die polnische Literatur über Methodenfragen im Zusammenhang mit Unionsrecht hat
in den letzten fünf Jahren nochmals deutlich zugenommen. Einen großen Beitrag zur Systematisierungsleistung der polnischen Rechtswissenschaft leisten u. a. die sog. System-Bücher12, die an klassische französische traités erinnern, diese im Umfang aber übertreffen. Die Werke wurden 2019 um ein mehrbändiges System zum Recht der Europäischen Union ergänzt, von dem sich der gesamte Band 3 mit Methodenfragen beschäftigt.13 Dort wird die mittlerweile beinahe unübersehbar gewordene Anzahl an polnischen Schriften über Methodenlehre im Zusammenhang mit Unionsrecht aufgeschlüsselt und verwertet (ohne die internationale Literatur über europäische Methodenfragen außer Acht zu lassen). 7 Sind Methodenfragen – aus einem deutschen Blickwinkel heraus – lange recht theoretisch abgehandelt worden,14 so scheint die polnische Lehre aus der theoretischen Fundierung jetzt deutlich stärker praktische Schlussfolgerungen zu ziehen, ohne das Fundament selbst zu beschädigen. Begründungen erscheinen daher so biswei
9 Beziehen sich diese Fragen auf einen Widerspruch von nationalem mit unionalem Recht, gibt es nach Ansicht des OG aber keine Grundlage für ein eigenes Vorabentscheidungsersuchen; dann sei die letzte Instanz, die in der Sache entscheide, zur Vorlage verpflichtet, so die ständige Rspr. seit OG v. 28.4.2010, III CZP 3/10; zuletzt OG v. 23.2.2018, III CZP 95/17. 10 Vgl. zur Bedeutung dieser Antworten (Der Begriff für Entscheidungen lautet uchwała) Grochowski in: Leszczyński (Hrsg.), System, § 25, Rn. 256 ff. m. w. N. 11 Dz. U. 2002 poz. 1270 mit Änderungen. 12 System prawa prywatnego [System des gesamten Zivilrechts]; System prawa Unii Europejskiej [System des Rechts der Europäischen Union]; System prawa administracyjnego [System des Verwaltungsrechts] etc. 13 Leszczyński (Hrsg.), System. 14 Vgl. etwa Ernst, in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (3. Aufl. 2015), § 28, Rn. 6 ff.; Raff, Vertragstypenbildung im polnischen Recht, in Andrés Santos u. a. (Hrsg.), Vertragstypen in Europa (2011), S. 233 ff. (242 f.).
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II. Grundlagen
len reichhaltiger und gewinnbringender als anderswo.15 Auch verwertet die Literatur die Rechtsprechung mittlerweile stärker als noch vor einigen Jahren. Die Rechtsprechung ihrerseits setzt sich mit der Lehre nicht nur auseinander, sondern zitiert sie auch. Wie namentlich in den deutschsprachigen Staaten auch, lässt sich so der Einfluss bestimmter Konzepte, insbesondere auch im Methodischen, auf die Rechtsprechung leichter nachvollziehen (für ein Beispiel siehe Rn. 54 ff.).
3. Polnische Auslegungsmethoden; Einfluss durch das Unionsrecht Wegen des starken Einflusses theoretischer Strömungen (Rn. 7) gab es lange nur we- 8 nige praktische Methodenlehren, hier verstanden als mit konkreten Beispielen versehene Anleitungen, wie mit einer Norm umzugehen ist. Dies hat sich geändert: Immer mehr Werke setzen sich im Schwerpunkt mit Fällen auseinander und entwerfen Auslegungsschritte. Dabei wird auch Methodenlehre aus anderen Ländern rezipiert.16 Aus der starken theoretischen Fundierung folgt eine im Schulendenken geprägte Rechtstheorie, in der zwei Hauptströmungen zu beobachten sind: eine „klarifizierende“17 und eine „derivative“18 Auslegungsschule.19 In der „klarifizierenden“ Schule geht es beispielsweise darum, dass die Rechts- 9 norm nur bei Mehrdeutigkeit des Textes auszulegen sei.20 Ferner unterscheiden ihre Vertreter zwischen Auslegung ersten und zweiten Grades. Auslegung ersten Grades meint die Kanones (v. a. Wortlaut, System und funktionale Auslegung), Auslegung zweiten Grades beschreibt Reihenfolge und Gewicht der Kanones21. Hier unterstreichen die Autoren typischerweise den Primat der Wortlautauslegung: Wenn nach der Wortlautauslegung das Ergebnis eindeutig ist, hört die Auslegung auf. Nur wenn nach der Wortlautauslegung mehrere Ergebnisse denkbar sind, geht es mit funktionalen (Rn. 12) Auslegungskriterien weiter.22 Die „derivative“ Auslegungslehre kennt dagegen einen weiteren Auslegungs- 10 begriff. Ihre Vertreter unterscheiden scharf zwischen der Rechtsnorm und der die
15 Siehe etwa den Beitrag von Zirk-Sadowski, in Leszczyński (Hrsg.), System, § 3 und Sołtys, Obowiązek (2015). 16 Insb. Zieliński, Wykładnia und Morawski, Zasady. 17 Wróblewski, Zagadnienia teorii wykładni prawa ludowego (1959). 18 Zieliński, Wykładnia. 19 Zu weiteren – generell stark theoretisch ansetzenden – Strömungen zusammenfassend Zieliński, Wykładnia, S. 72 ff., 79 ff. 20 Wróblewski, Zagadnienia teorii wykładni prawa ludowego (1959), S. 129–132 und ders., Sądowe stosowanie prawa (1988), S. 113 f., 124 – beide zitiert nach Sołtys, Obowiązek, S. 536 f., da während der Corona-Pandemie diese Bücher nicht zugänglich waren. 21 Wróblewski, Sądowe stosowanie prawa (1988), S. 120, zitiert nach Sołtys, Obowiązek, S. 536 f. 22 Ziembiński, in Wronkowska/Ziembiński, Zarys teorii prawa (1997), S. 205.
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§ 25 Polen
Rechtsnorm artikulierenden Vorschrift oder Vorschriften.23 Die Auslegung erfolgt in drei Phasen: in der ersten wird nach der geltenden Vorschrift gesucht, in der zweiten wird der normative Sinngehalt der Vorschrift entnommen und in der dritten schließlich wird die konkrete Vorgehensweise festgelegt.24 Dabei gibt es keinen Primat der Wortlautauslegung. Die Regeln „interpretatio cessat in claris“25 und „clara non sunt interpretanda“ lehnen die Vertreter dieser Methodenlehre im Wesentlichen ab.26 11 Unabhängig von der jeweiligen Auslegungsschule geht die Auslegung polnischer Gesetze vom Wortlaut aus. Einem in der deutschen Rechtswissenschaft ausgebildeten Leser erscheint es sogar so, dass dem Wortlaut in der Tendenz größere Bedeutung zukommt als etwa in Deutschland.27 Das liegt nicht zuletzt daran, dass die herrschende Lehre es jedenfalls bislang ernst meint, wenn es heißt, dass der Gesetzgeber das Recht erlasse und der Rechtsanwender dieses nur lesbar mache.28 Gleichwohl gibt es zumindest unter den Anhängern der derivativen Auslegungslehre eine gewisse Flexibilität darin, über den Wortlaut hinauszugehen, selbst wenn er eindeutig erscheint und dies etwa im Anwendungsbereich des Unionsrechts erforderlich sein sollte (für ein Beispiel siehe näher Rn. 55, 57).29 12 Neben dem Wortlautkriterium bedient sich die polnische Methodenlehre vor allem einer systematischen und einer funktionellen Auslegung. Die funktionelle Auslegung erfasst teleologische Kriterien und geht darüber hinaus.30 Morawski zählt zu den funktionalen Auslegungskriterien auch historische Elemente.31 Die Einordnung ist interessant, weil die historische Auslegung als Unterkriterium der funktionellen Auslegung keinen Gleichrang neben Wortlaut, System und funktionellem Element zu genießen scheint. Die historische Auslegung umfasst genetische wie objektiv-historische Elemente. Genetische Argumente spielen für die polnischen Rechtswissenschaftler und Praktiker punktuell dort eine Rolle, wo es Materialien gibt.32 Mit der objektiv-
23 Zieliński, Wykładnia, S. 14; Sołtys, Obowiązek, S. 298 ff., 537 f. 24 Zusammenfassend Sołtys, Obowiązek, S. 537 f. 25 Zieliński, Wykładnia, S. 311 f. 26 Zieliński, Wykładnia, S. 56 ff. m.w.N; siehe auch Domańska, Implementacja, S. 212. 27 Zirk-Sadowski, in Leszczyński, System, § 3, Rn. 106. 28 Zirk-Sadowski, in Leszczyński, System § 3, Rn. 118. 29 Zirk-Sadowski, in Leszczyński, System § 3, Rn. 106, 122 f. Zu den Auslegungsgrenzen siehe auch Stelmach, Interpretacja bez granic, Forum Prawnicze 2011/2(4), 13–18. Vgl. für Beispiele auch Napierała, Wykładnia prawa spółek Unii Europejskiej (2019; non vidi). 30 Dazu eingehend Morawski, Zasady, S. 155–174. 31 Morawski, Zasady, S. 173 f. Beispiele finden sich in Entscheidungen des OG (jeweils in erweiterter Besetzung mit sieben Richtern) v. 25.2.2009, I KZP 32/08, v. 25.2.2005, I KZP 36/04, und v. 29.1.2004, I KZP 39/03. Zur historischen Auslegung in Polen siehe ferner Dajczak, Rechtstradition und Fortbildung des Privatrechts, in: Stelmach (u. a. Hrsg.), Krakauer-Augsburger Rechtsstudien. Die Grenzen der Rechtsdogmatischen Interpretation (2011), S. 243–257. 32 Siehe zum Beispiel OG (in erweiterter Besetzung mit sieben Richtern) v. 11.4.2008, III CZP 130/07, auch zu der Kritik der Literatur daran, dass die (polnischen) Gerichte viel zu selten subjektiv-historische Erwägungen anstellten. Die Vorarbeiten zum polnischen Zivilgesetzbuch von 1964 und vor allem
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II. Grundlagen
historischen Auslegung meint Morawski Erfahrungswissen.33 Er führt sie auf Savigny zurück.34 In Rechtsprechung und Lehre herrscht wohl nach wie vor die Meinung vor, die 13 systematische und die funktionelle Auslegung seien subsidiär zur Wortlautauslegung (mit gewissen Grenzen).35 Die Vertreter dieser Ansicht verweisen zur Begründung häufig auf die in der Zeit zwischen 1945 und 1989 gemachten Erfahrungen mit einer weit gehenden funktionellen Auslegung. Das OG erlässt aber schon im Jahr 2003 eine Entscheidung, die zu einem ganz anderen Ergebnis gelangt.36 Unter dem Eindruck des Unionsrechts (zu den Auswirkungen im Horizontalverhältnis siehe Rn. 59) scheint die vom OG in dieser Entscheidung vertretene Ansicht vorzudringen, denn die unionsrechtskonforme Auslegung verbiete es geradezu, dem Wortlaut Vorrang einzuräumen oder sich mit der Abarbeitung nur einzelner der Kanones zufrieden zu geben.37 Das kann man zunehmend auch in der übrigen Rechtsprechung beobachten38, so dass die Entscheidung des OG aus dem Jahr 2003 wohl nicht mehr als Ausnahmefall abgetan werden kann. Von Bedeutung ist schließlich die Frage nach der Trennung zwischen der Aus- 14 legung und sonstigen methodischen Vorgehensweisen wie etwa der Analogie. Hier gibt es in Polen keine einheitliche Handhabe. Klassisch ist die Einteilung dieser Phänomene in eine Auslegung stricto sensu und eine Auslegung sensu largo.39 Der Aus-
zum Obligationengesetzbuch von 1934 sind allerdings nicht vollständig vorhanden. Siehe hierzu Górnicki, Kodyfikacja prawa prywatnego, in: Safjan (Hrsg.), System prawa prywatnego, Bd. 1 (2. Aufl. 2012), S. 77–155 und Raff, Die gewöhnlichen Erhaltungskosten (2017), S. 419 ff. (zum Verwendungsersatz). 33 Morawski, Zasady, S. 173 f. 34 Dieser Verweis auf Savigny ist richtig, siehe Baldus, in diesem Band, § 3, Rn. 65. 35 Morawski, Zasady, S. 72 ff., 155 f.; Zieliński, Wykładnia, S. 338 (Grundsatz Nr. 5); VerfGH (Plenarentscheidung) v. 28.6.2000, K 25/99, Dz. U. 2000, poz. 648, S. 52 f.; HVerwG v. 17.9.2019, I GSK 286/17. 36 OG v. 6.11.2003, III RN 133/02, dem zufolge der Wortlaut weder Vorrang vor den übrigen Auslegungselementen hat noch diese sperrt. Die Entscheidung soll nach Morawski, Zasady, S. 74 f. aber nicht verallgemeinerungsfähig sein. 37 Sołtys, Obowiązek, S. 291 ff., 544 f. m. w. N. (auch zur Gegenansicht); Szot, in: Leszczyński, System, § 26, Rn. 294 ff. m. w. N.; ähnlich auch Baranowska, EPS 2018/7, 4, 12 m. w. N.; Domańska, Implementacja, S. 221 ff. und S. 228 ff. 38 Siehe etwa die Vorlageentscheidung des OG v. 19.12.2008, III SK 27/08. Sołtys, Obowiązek, S. 636, weist hier mit Recht darauf hin, dass die Entscheidung nach der Wortlautauslegung eindeutig erschienen sei und dass das OG trotzdem weitere Auslegungselemente heranzogen habe. Siehe aus der Rspr. des HVerwG auch die Urt. v. 10.3.2015, I FSK 138/14 und v. 18.3.2015, I FSK 240/14 (hier wird von einer „komplexen“ Auslegung im Gegensatz zum Vorrang der Wortlautauslegung gesprochen). Mit anderer Tendenz dagegen HVerwG v. 17.9.2019, I GSK 286/17. 39 Zieliński, Wykładnia, S. 44; offen gelassen dagegen bei Sołtys, Obowiązek, S. 293 (Fn. 183). Siehe zur Analogie im polnischen Zivilrecht ferner etwa Kabza, Problem stosowania analogii w prawie cywilnym, Forum Prawnicze 2010/1(1), 44–65 mit zahlreichen weiteren Nachweisen zur theoretischen Diskussion, zu den Voraussetzungen der Analogie wie zu praktischen Anwendungsfällen.
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legung stricto sensu (Wortlaut, System, funktionelle Auslegung) soll Vorrang gegenüber der Auslegung largo sensu zukommen.40 Damit ist zwar beides Auslegung, aber mit einer aus Deutschland der Sache nach bekannten klaren Unterscheidung. Freilich erlaubt es der einheitliche Oberbegriff der polnischen Methodenlehre, die Analogie als Teil der europarechtskonformen „Auslegung“ aufzufassen.41 15 Die mit der Analogie (Auslegung largo sensu) zusammenhängende Wortlautgrenze kann man nach polnischer Methodenlehre in Ausnahmesituationen überschreiten, und zwar nach der klarifizierenden42 wie nach der derivativen43 Methodenlehre. Entscheidend ist, dass dann der Begründungsaufwand steigt.44 Das OG hat z. B. ein Gesetz, das ein allein nach Geschlechtszugehörigkeit unterschiedliches Renteneintrittsalter festlegt, etwa gegen den Wortlaut so – unionsrechtskonform – angewandt, dass für alle das niedrigere Renteneintrittsalter gelten solle.45 Die Begründung ist ausführlich.
III. Justizreformen 1. Die Entmachtung des polnischen Verfassungsgerichtshofs ab 2015 16 Schon kurz nach den Parlamentswahlen im September 2015 begannen die neue Par-
lamentsmehrheit und die von ihr getragene Regierung mit einfach-gesetzlichen Mitteln, auf die Zusammensetzung des polnischen Verfassungsgerichtshofs (VerfGH) einzuwirken und ihn auch im Übrigen zu reformieren. Dies hatte und hat Auswirkungen auf Methodenfragen im Allgemeinen wie auch auf den Umgang mit dem Unionsrecht, namentlich mit Entscheidungen des EuGH. Im Einzelnen: 17 Am 8.10.2015 wählte der Sejm in der letzten Sitzung der alten Legislaturperiode fünf neue Richter für den VerfGH, die ihre Ämter am 7.11.2015 bzw. am 3.12. bzw. am 9.12.2015 antreten sollten, also in der nachfolgenden Legislaturperiode. In der neuen, der achten, Legislaturperiode beschloss der Sejm in der Sitzung vom 19.11.2015 eine Reform des Verfassungsgerichtsgesetzes, die u. a. das Ende der Amtszeit des damaligen Präsidenten und des damaligen Vizepräsidenten des VerfGH binnen drei Monaten ab Inkrafttreten des Gesetzes vorsahen. Das Gesetz wurde vom Präsidenten der Republik unterzeichnet und am 20.11.2015 im Gesetzblatt veröffentlicht.46 Es trat gem. Art. 3 des Gesetzes 14 Tage später in Kraft. In der Sitzung vom 26.11.2015 stellte der
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Morawski, Zasady, S. 222. Sołtys, Obowiązek, S. 294 f.; Baranowska, EPS 2018/7, 4, 10 – jeweils m. w. N. Ziembiński, in: Wronkowska/Ziembiński, Zarys teorii prawa (1997), S. 205. Zieliński, Wykładnia, S. 343 f. VerfGH (Plenarentscheidung) v. 28.6.2000, K 25/99, Dz. U. 2000, poz. 648, S. 52 f. OG v. 4.1.2008, I UK 182/07. Dz. U. 2015, poz. 1928.
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neue Sejm per Beschluss fest, dass die Wahl der Richter vom 8.10.2015 (durch den alten Sejm in der 7. Legislaturperiode) rechtswidrig gewesen sei. Am 2.12.2015 wählte der Sejm sodann fünf neue Richter und ignorierte dabei einen zwischenzeitlich ergangenen Beschluss des VerfGH, dem zufolge der Sejm bis zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Wahl vom 8.10.2015 stillhalten sollte. Der VerfGH entschied am 3.12.201547, dass die Wahl der Richter durch den Sejm noch in der siebten Legislaturperiode verfassungsgemäß gewesen sei, soweit Richter für die Amtszeit ab dem 7.11.2015 gewählt wurden; im Übrigen hielt der VerfGH die Wahlen für verfassungswidrig. Am 9.12.2015 entschied der VerfGH sodann,48 dass die Reform des Verfassungsgerichtsgesetzes (Rn. 17) verfassungswidrig sei.49 Zur Verfassungskrise kam es, als die polnische Ministerpräsidentin sich zunächst weigerte, die Entscheidungen des VerfGH im Gesetzblatt zu veröffentlichen, was gem. Art. 190 Abs. 2 der polnischen Verfassung erforderlich war. Zur Begründung stellte die Ministerpräsidentin darauf ab, dass die Urteile nicht von neun Mitgliedern, sondern von fünf Mitgliedern des VerfGH entschieden worden waren. Die Entscheidungen wurden gleichwohl – nach massiver Kritik des Präsidenten des VerfGH – am 16. bzw. 18. Dezember im Gesetzblatt veröffentlicht.50 In der Folge reformierte der Sejm das Verfassungsgerichtsgesetz weiter grundlegend. Am 22.12.2015 wurde u. a. beschlossen, dass der VerfGH regelmäßig in der vollen Besetzung entscheiden müsse.51 Ferner änderte der Gesetzgeber die Definition der vollen Besetzung (statt bisher 9 von 15 nunmehr 13 von 15). Auch beschloss er, dass die Mitglieder nun mit einer Mehrheit von zwei Dritteln statt wie bisher einer einfachen Mehrheit entscheiden sollten. Weiterhin mussten die Richter die Verfahren ab sofort nach Eingangsdatum bearbeiten und durften sie nicht vor Ablauf von sechs Monaten entscheiden, soweit die Verfahren einer Entscheidung in voller Besetzung bedurften (was nun grundsätzlich der Fall war). Mit Entscheidung vom 9.3.2016 entschied der VerfGH, dass das Reformgesetz verfassungswidrig sei.52 Wiederum verweigerte die Ministerpräsidentin einstweilen die Veröffentlichung des Urteils, mit der Begründung, es sei unter Missachtung der neuen Bestimmungen gefasst worden (die für verfassungswidrig erklärt waren) und es stelle nur die Meinung einiger Richter des VerfGH dar. Das Urteil wurde erst am 5.6.2018 ver-
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47 VerfGH v. 3.12.2015, K 34/15. 48 VerfGH v. 9.12.2015, K 35/15. 49 Aus der Anmerkungsliteratur siehe etwa (teilweise sehr kritisch gegenüber den Entscheidungen) Dziadzio, Quis custodiet custodes ipsos? Trybunał Konstytucyjny jako (nie) obiektywny strażnik konstytucji. Uwagi na kanwie orzeczenia K 34/15 Trybunału Konstytucyjnego z 3 grudnia 2015 roku, Forum Prawnicze 2015/5 (31), 12–29; Mikołajewicz, Czy dobrze się bawimy? O zadaniach nauki prawa w warunkach kryzysu konstytucyjnego, Forum Prawnicze 2016/1 (33), 3–22. 50 Dz. U. 2015, poz. 2129 bzw. 2147. 51 Dz. U. 2015, poz. 2217. 52 VerfGH v. 9.3.2016, K 47/15. Raff
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öffentlicht, also mehr als zwei Jahre nach dem Entscheidungsdatum. Ein weiteres Verfassungsgerichtsgesetz folgte am 22. Juli 2016,53 das ebenfalls (jedenfalls in großen Teilen) für verfassungswidrig erklärt wurde.54 Gleichzeitig begannen neu ernannte Richter die Arbeit des VerfGH zu boykottieren; sie fehlten regelmäßig bei Sitzungen. 22 Am 30.11.55 und am 13.12.201656 wurden weitere Gesetze zur Reform des Verfassungsgerichtsgesetzes erlassen. Darin wurde u. a. geregelt, dass einem Richter vom Präsidenten des VerfGH nur dann Verfahren übertragen werden dürften, wenn dieser vor dem Präsidenten der Republik den Eid abgegeben hatte. Damit waren Richter ausgeschlossen, die noch in der siebten Legislaturperiode gewählt worden waren. In der Folge sanken die Erledigungszahlen beim VerfGH. Die ordentlichen Gerichte und die Verwaltungsgerichte entschieden in der Folge häufig auch über verfassungsrechtliche Fragen und hinterfragten teilweise Entscheidungen des VerfGH, etwa mit dem Argument, dieser sei nicht rechtmäßig besetzt.57
2. Der Zustand der übrigen Gerichtsbarkeit; Kooperation mit Luxemburg a) Nationale Entwicklung 23 Die übrigen Gerichte, d. h. die ordentlichen und die Verwaltungsgerichte, kooperier
ten auch unter dem Eindruck der Veränderungen beim VerfGH immer enger mit Luxemburg. Insgesamt haben polnische Gerichte seit dem 01.5.2004 bis zum 31.1.2020 rund 200 Vorlageverfahren eingeleitet, ungefähr die Hälfte davon seit 2015. Das belegt zum einen die zunehmende Vertrautheit polnischer Gerichte mit der unionsrechtlichen Vernetzung nationalen Rechts. Viele recht technischen Vorlagefragen treiben die Fortbildung des Unionsrechts voran, etwa im Bereich des Mehrwertsteuersystems.58 Zum anderen hat die derzeitige politische Situation ihren Anteil an der Entwicklung der Verfahrenszahlen beim EuGH, denn rund zehn Eingänge sind (u. a.) aus Anlass der polnischen Justizreformen entstanden. Neben Vorabentscheidungsverfahren gibt es auch einige wichtige Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Republik Polen, die die polnische Justiz zum Gegenstand haben (Rn. 29 ff.). Diese Verfahren betreffen den Versuch von Parlament und Regierung, nunmehr auch die Verwaltungsgerichte und die ordentlichen Gerichte zu reformieren. Diese Reformen werden nachstehend wiederum kurz dargestellt, bevor einzelne Verfahren unter Ein
53 Dz. U. 2016, poz. 1157. 54 VerfGH v. 11.8.2016, K 39/16. 55 Dz. U. 2016, poz. 2072 und poz. 2073. 56 Dz. U. 2016, poz. 2074. 57 WVerwG Warschau v. 20.6.2018, V SA/Wa 459/18. 58 Siehe etwa Lasiński-Sulecki/W. Morawski, Przegląd Podatkowy 2018/9, 12 ff.; Szot, in: Leszczyński, System, § 26, Rn. 306 ff. mit Verweis darauf, dass in steuerrechtlichen Angelegenheit der Effektivitätsgrundsatz in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur eine wichtige Rolle spiele.
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beziehung der EuGH-Judikatur in der Sache und methodisch näher beleuchtet werden. Wichtige Teile der nachstehend beschriebenen Entwicklungen gibt im Übrigen das OLG Karlsruhe in einem jüngeren Beschluss in deutscher Sprache wieder, der die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat Polen) wegen der Justizreformen aussetzt.59 Mit Gesetz vom 8.12.2017, das im Wesentlichen am 3.4.2018 in Kraft trat,60 senkte 24 der Gesetzgeber u. a. das Renteneintrittsalter der Richter des OG auf 65 Jahre, und zwar auch für bereits ernannte Richter (Art. 37 § 1 des Gesetzes).61 Dem steht Art. 183 Abs. 3 der polnischen Verfassung zumindest teilweise entgegen, weil er vorsieht, dass der Präsident des OG für die Dauer von sechs Jahren ernannt wird. Ferner sah das Gesetz die Erhöhung der Gesamtzahl der Richter von 93 auf 120 vor. Dieses Gesetz hätte, wäre es so umgesetzt worden, große Auswirkungen gehabt (siehe für die Reaktion des polnischen Gesetzgebers auf zwischenzeitliche Entscheidungen des EuGH Rn. 31). Ferner richtete der Gesetzgeber mit dem Gesetz zwei neue Kammern beim OG ein, 25 eine Disziplinarkammer und eine Kammer für Sonderkontrolle und öffentliche Angelegenheiten. Die Richter der neuen Kammern können – insoweit in Übereinstimmung mit der polnischen Verfassung – nur auf Vorschlag des Nationalen Richterrats vom Präsidenten ernannt werden. Mit weiterem Gesetz vom 8.12.201762 beendete der Gesetzgeber die Tätigkeit des bisherigen Richterrats ohne Rücksicht auf die laufende Amtszeit, wohl unter Verstoß gegen Art. 187 Abs. 3 der polnischen Verfassung, dem zufolge die Amtszeit der Mitglieder des Richterrats vier Jahre beträgt. Der Richterrat besteht seither stärker aus von der Legislative besetzten Mitgliedern, obwohl Art. 187 Abs. 1 Nr. 2 der polnischen Verfassung insoweit eine andere Regelung vorsieht, namentlich, dass unter den Mitgliedern des Richterrats auch Richter des OG sein müssen. Die neuen Regelungen haben dazu geführt, dass die Richter einen geringeren Einfluss darauf haben, wer Mitglied im Nationalen Richterrat wird. Dieser aber schlägt dem Präsidenten die zu ernennenden Richter vor, so dass indirekt das Parlament großen Einfluss auf die Richterernennung gewonnen hat.63 Auf Basis des Vorschlags des so besetzten Richterrats hat der Präsident der Republik neue Mitglieder der neu geschaffenen Disziplinarkammer und der neu geschaffenen Kammer für Sonderkontrolle und öffentliche Angelegenheiten ernannt. Aufgabe der Disziplinarkammer ist es infolge eines weiteren Gesetzes vom 26 20.12.201964 u. a., Rechtsverstöße von Richtern zu ahnden (Art. 107 n.F. des Gerichts
59 OLG Karlsruhe v. 17.2.2020, Ausl 301 AR 156/19 –, juris. 60 Dz.U. 2018 poz. 5. 61 Für eine deutsche Übersetzung dieser und weiterer Bestimmungen vgl. EuGH (Große Kammer) v. 19.11.2019 – verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18 A.K., EU:C:2019:982 Rn. 17 ff. 62 Dz. U. 2018, poz. 3. 63 Siehe zu diesen und weiteren verfassungsrechtlichen Problemen OG v. 23.1.2020, BS. I-4110-1/ 2020, unter V. 64 Dz. U. 2020, poz. 190.
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verfassungsgesetzes). Zu den Normen, gegen die ein Richter verstoßen kann, gehört der neu eingefügte Art. 42a Gerichtsverfassungsgesetz. Danach dürfen Richter die Legitimation von Gerichten nicht infrage stellen; auch dürfen Richter eines ordentlichen Gerichts nicht beurteilen, ob die Berufung eines Richters zu Recht erfolgte oder die sich aus dieser Berufung ergebende Berechtigung zur Erfüllung von Aufgaben im Bereich der Justiz besteht.65 Es liegt nahe, dass hiervon auch Vorabentscheidungsersuchen von polnischen Gerichten erfasst sein können, wenn sie – wie zur Zeit häufig – die rechtmäßige Besetzung der Gerichte betreffen. Das ist ein Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit sowie auf das Recht jedes Gerichts, gem. Art. 267 AEUV Fragen an den EuGH zu stellen. 27 Am 26. April 2019 verabschiedete der Sejm ein weiteres Gesetz zur Änderung des Richterrats.66 Danach sollte den unterlegenen Kandidaten für Richterposten am OG gegen Entscheidungen des nationalen Richterrats nicht mehr – wie bisher – ein Rechtsmittel zum HVerwG zustehen. Damit verband die Regierung die Hoffnung, dass OG und HVerwG keine weiteren Vorabentscheidungsersuchen (siehe Rn. 29 ff.) im Zusammenhang mit der Arbeit des nationalen Richterrats würden stellen können bzw. bereits gestellte Ersuchen sogar zurückziehen müssten. Die Kammer für Sonderkontrolle und öffentliche Angelegenheiten des OG hat in einer Entscheidung entgegen diesem neuen Gesetz allerdings ein solches Rechtsmittel zugelassen.67 28 Der VerfGH nahm zu den Reformen ebenfalls Stellung und kam in einem Verfahren zum Ergebnis, dass weite Teile der [bis dahin vorgenommenen] Justizreformen verfassungsgemäß seien.68 Eine Vorlage an den EuGH erwog der VerfGH offenbar nicht. Er hat dem EuGH bisher ohnehin erst ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt, und dieses noch vor den Justizreformen.69 Dass Verfassungsgerichte beim Dialog mit Luxemburg zögerlich sein können, ist allerdings auch aus anderen Staaten, wie beispielsweise Deutschland, bekannt. Hier geht es – auch in der polnischen Debatte – um Souveränitätsfragen.70
65 Der VerfGH hat in einer Eilentscheidung v. 2.6.2020, P 13/19, entschieden, dass Art. 49 der polnischen ZPO verfassungswidrig sei, soweit er erlaubt, den Richter wegen Fehler bei seiner Ernennung abzulehnen. 66 Dz. U. 2019, poz. 914. 67 OG v. 3.6.2020, I NO 192/19. 68 VerfGH v. 25.3.2019, K 12/18. 69 EuGH (Große Kammer) v. 7.3.2017 – Rs. C-390/15 RPO, EU:C:2017:174. Der VerfGH stellt darin Fragen zur Gleichbehandlung von gedruckten und digitalen Büchern im Mehrwertsteuersystem. Nach der Antwort des EuGH zog der Antragsteller seinen Antrag vor dem VerfGH zurück. Daraufhin stellte der VerfGH das Verfahren ein. 70 Vgl. dazu C. Mik, Fenomenologia regionalnej integracji Państw. Studium prawa międzynarodowego, Band 2 (2019) S. 350 m. w. N. (non vidi). Raff
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b) Verfahren vor dem EuGH In zwei Wellen gingen beim EuGH Verfahren gegen die Justizreformen (Rn. 23 ff.) ein, und zwar sowohl Vorabentscheidungsersuchen polnischer Gerichte als auch Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Republik Polen. Die eine Welle betraf im Kern das Renteneintrittsalter. Das OG hatte dazu ein Vorabentscheidungsverfahren eingereicht71, aber später zurückgenommen, weil der Gerichtshof im parallelen Vertragsverletzungsverfahren entscheiden sollte (Rn. 31). Am 19.10.2018 erließ die Vizepräsidentin des Gerichtshofs auf Antrag der Kommission, die zwischenzeitlich ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verletzung der Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, Art. 47 GRC vorbereitet hatte, im Eilverfahren eine vorläufige Anordnung gem. Art. 161 Abs. 1 VerfO, der zufolge das Gesetz vorerst nicht angewandt werden darf, die von dem Gesetz betroffenen Richter unter den gleichen Bedingungen wie bisher weiterarbeiten und keine neuen Richter anstelle der betroffenen Richter ernannt werden dürfen.72 Die Große Kammer bestätigte die einstweilige Anordnung mit Eilbeschluss vom 17.12.2018.73 Die Kernfrage lautete dabei, ob die nationalen Vorschriften gegen die Verpflichtung Polens aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV i. V. m. Art. 47 GRC verstoßen, die dem Land abverlangt, „einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten“.74 Mit Urteil vom 24.6.2019 stellte der Gerichtshof im Hauptsacheverfahren fest, dass Polen durch die gesetzlichen Maßnahmen gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV i. V. m. Art. 47 GRC verstoßen habe.75 Als Kerngedanke entwickelte der EuGH den Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern fort76, der in diesem Fall verletzt worden sei.77 Schon infolge der Eilrechtsanordnung hatte der Sejm reagiert und am 21.11.2018 ein Gesetz verabschiedet, nach welchem die Amtszeiten der betroffenen Richter nicht unterbrochen worden waren und sie weiter im Amt sind.78 Mit Urteil vom 5.11.2019 stellte der Gerichtshof auf ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren hin zusätzlich fest, dass die Republik Polen durch die Gesetze gegen Art. 157 AEUV verstoßen habe.79 Ferner stellte er in dieser Entscheidung fest, dass auch eine frühere Fassung des Gesetzes über das OG als die, die dem Verfahren in der
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71 Das Verfahren war unter dem Az. C-537/18 geführt worden. 72 EuGH (Vizepräsidentin) v. 19.10.2018 – Rs. C-619/18 R Kommission/Polen, EU:C:2018:852. 73 EuGH (Große Kammer) v. 17.12.2018 – Rs. C-619/18 R Kommission/Polen, EU:C:2018:1021. 74 EuGH (Große Kammer) v. 17.12.2018 – Rs. C-619/18 R Kommission/Polen, EU:C:2018:1021 Rn. 44. 75 EuGH (Große Kammer) v. 24.6.2019 – Rs. C-619/18 Kommission/Polen, EU:C:2019:531. 76 Zum ersten Mal genannt (indirekt) wurde er im Urteil v. 22. Oktober 1998 in den verb. Rechtssachen C-9/97 und C-118/97 Jokela und Pitkäranta, EU:C:1998:497 Rn. 20, sodann ausdrücklich im Urteil v. 19.9.2006 – Rs. C-506/04 Wilson, EU:C:2006:587 Rn. 51 und ferner im Urteil v. 25.7.2018 – Rs. C216/18 PPU LM, EU:C:2018:586 Rn. 64. 77 EuGH (Große Kammer) v. 24.6.2019 – Rs. C-619/18 Kommission/Polen, EU:C:2019:531 Rn. 75 ff. 78 Dz.U. 2018, poz. 2507. 79 EuGH (Große Kammer) v. 5.11.2019 – Rs. C-192/18 Kommission/Polen, EU:C:2019:924.
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Rs. C-619/18 (Rn. 31) zugrunde gelegen hatte, gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV verstoßen habe.80 33 Polnische Gerichte haben in der zweiten Welle weitere Vorabentscheidungsersuchen eingelegt. So hat das OG in drei Verfahren, die verbunden wurden, dem Gerichtshof Fragen gestellt, die im Kern einen weiteren Aspekt der Justizreformen betreffen, nämlich die Vergrößerung des Gerichtshofs und die damit einhergehende Besetzung der neu eingerichteten Disziplinarkammer (Rn. 25 ff.).81 Problematisch ist, wie gesehen, insbesondere, dass der Richterrat, der neue Kandidaten für die Richterernennung vorschlägt, selbst so reformiert wurde, dass über seine Besetzung jetzt in erster Linie das Parlament entscheidet. Aus Unionssicht lautet entsprechend die Kernfrage, ob „in Anbetracht der Art und Weise, in der die Mitglieder des Nationalen Richterrats berufen werden, und der Mittel zur Auswahl der Richter in der Disziplinarkammer die Anforderungen an die Unabhängigkeit im Sinne des Unionsrechts erfüllt“ sind.82 34 Der EuGH hat zunächst in den verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18 entschieden und dem OG eine zwar sehr ausführliche Antwort geliefert, die eine sorgfältige Auslegung von Art. 47 GRC und Art. 9 Abs. 1 der RL 2000/78/EG enthält, aber eben – wie üblicherweise sonst auch – keine konkrete Fallentscheidung. Aber die Botschaft im Tenor ist für einen außenstehenden Beobachter klar: Danach sind die genannten Vorschriften so auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, „dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit einer Einrichtung fallen können, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta ist“.83 Unter welchen Voraussetzungen ein Gericht nicht unabhängig und unparteiisch ist, wird im Tenor weiter ausgeführt. 35 Die Rechtswissenschaft in Polen hat die Judikatur des EuGH ausführlich diskutiert.84 In der Folge erließ das OG zwei Entscheidungen, die im Wesentlichen zum Ergebnis kamen, dass die Disziplinarkammer kein unabhängiges Gericht sei.85 Ferner hat das OG in einer gemeinsamen Entscheidung der Kammer für Zivilsachen, der Kammer für Arbeits- und Versicherungsangelegenheiten und der Kammer für Strafsachen (also ohne die neuen Kammern) entschieden, dass Urteile der Disziplinarkam
80 Siehe dazu auch die Anm. v. Leick, NVwZ 2020, 291. 81 EuGH (Große Kammer) v. 19.11.2019 – verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18 A.K., EU: C:2019:982 (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des OG). Die Schlussanträge stammen von Generalanwalt Tanchev. Es zeugt von einer gewissen Sensibilität gegenüber Polen, dass der Generalanwalt eines jüngeren Mitgliedstaats zur Begutachtung bestellt wurde und nicht etwa ein Generalanwalt, der einem Mitgliedstaat aus Old Europe entstammt. 82 GA Tanchev, Schlussanträge v. 27.6.2019 – verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-625/18 A.K., EU: C:2019:551 Tz. 5. 83 Siehe den Tenor des Urteils der Großen Kammer v. 19.11.2019 – verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C625/18 A.K., EU:C:2019:982. 84 Siehe etwa den Diskussionsbericht von Biernat u. a., EPS 2020/1, 4–32; ferner Filipek, EPS 2019/12, 4–14; Safjan, EPS 2019/8, 4–11. 85 OG v. 5.12.2019, III PO 7/18; OG v. 15.1.2020, III PO 9/18.
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III. Justizreformen
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mer stets der Aufhebung unterlägen und Urteile von Gerichten, an denen erstens Richter beteiligt waren, die auf Vorschlag des reformierten Richterrats vom Präsidenten der Republik ernannt worden waren, und die zweitens nach der vorliegenden Entscheidung ergehen sollten, der Aufhebung unterlägen.86 Am 22.1.2020 wandte sich in diesem Zusammenhang der Marschall des Sejm87 mit 36 einer Anfrage an den VerfGH (sog. Kompetenzstreit, spór kompetencyjny). Der Marschall fragte u. a., ob dem OG oder einem anderen Gericht die in der Verfassung nicht vorgesehene Kompetenz zustehe, die Wirksamkeit von Richterberufungen zu hinterfragen. In einem nur knapp begründeten Beschluss vom 28.1.202088 gab der VerfGH dem OG auf, einstweilen keine Entscheidungen mehr zu treffen, die folgende Fragen betreffen: die Vereinbarkeit der Zusammensetzung des Richterrats, die Auswahl der dem Präsidenten der Republik vorzuschlagenden Richterkandidaten, das Vorrecht des Präsidenten der Republik zur Richterernennung und die Vereinbarkeit der Ausübung der Tätigkeit der [so ernannten] Richter mit nationalem und internationalem Recht sowie mit Entscheidungen internationaler Gerichte. Ferner beschloss der VerfGH, dass die (Rn. 35) gemeinsame Entscheidung der drei Kammern des OG einstweilen nicht angewandt werden dürfe. Am 21. April 2020 bestätigte der VerfGH die Entscheidung endgültig (im Übrigen nach der in Rn. 37 erlassenen einstweiligen Anordnung des EuGH). Danach stehen dem OG Entscheidungen in den vorgenannten Fragen nicht zu.89 Bereits vor Erlass der einstweiligen Anordnung strengte die Kommission ein Ver- 37 tragsverletzungsverfahren an und beantragte am 23. Januar 2020 zugleich eine einstweilige Anordnung. Am 8.4.2020 erließ der EuGH – anders als üblich nicht nur durch die Vizepräsidentin, sondern in Besetzung der Großen Kammer – eine einstweilige Anordnung mit dem Inhalt, dass die Disziplinarkammer ihre Arbeit sofort einzustellen habe und dass die bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren keiner anderen „formation de jugement“ übertragen werden dürften, die den im Urteil vom 19.11.2019 aufgestellten Kriterien nicht genüge. Außerdem beschloss der EuGH, dass die polnische Regierung binnen einen Monats ab Zustellung der einstweiligen Anordnung über alle Maßnahmen berichten müsse, die sie ergriffen habe, um der einstweiligen Anordnung Folge zu leisten.90 In der Folge forderte die damalige Präsidentin des OG, Gersdorf, die Mitglieder der Disziplinarkammer auf, ihre Tätigkeiten einzustellen.91
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OG v. 23.1.2020, BS. I-4110-1/2020 (mit sechs Sondervoten). Äquivalent zum deutschen Bundestagspräsidenten. VerfGH v. 28.1.2020, Kpt 1/20 (mit drei Sondervoten). VerfGH v. 21.4.2020, Kpt 1/20 (mit fünf Sondervoten). Die Gründe liegen noch nicht vor. EuGH (Große Kammer) v. 8.4.2020 – Rs. C-791/19 R Kommission/Polen, EU:C:2020:277. Erklärung vom 9.4.2020, PP I-0131-1279/20. Raff
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Der polnische Premierminister hat angekündigt, die Entscheidung des EuGH vom polnischen VerfGH überprüfen zu lassen. Eine solche Entscheidung liegt noch nicht vor. 39 Diese EuGH-Entscheidungen haben zunächst einmal Folgen für die gesamte weitere Rechtsprechungstätigkeit polnischer Gerichte. Seit den jüngsten Justizreformen im Zusammenhang mit der neuen Disziplinarkammer legen polnische Gerichte dem EuGH auch Verfahren vor, in denen sie ganz generell die Befürchtung äußern, ihre Entscheidungen könnten disziplinarisch überprüft werden.92 Die Vorlagefragen waren dem EuGH aber teils von zu allgemeiner Natur, so dass er zwei Gesuche als unzulässig einstufte. Beachtlich ist aber, dass die Große Kammer im Anschluss an diese Feststellung gleichwohl u. a. in Erinnerung ruft, dass die nationalen Gerichte in jedem Moment des Verfahrens die Möglichkeit hätten, Fragen nach Art. 267 AEUV zu stellen. Es handle sich hier um ein unbeschränktes Recht.93
3. Verlust gegenseitigen Vertrauens 40 Darüber hinaus haben diese Entscheidungen Folgen für das Verhältnis von Polen zu
den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Art. 4 Abs. 3 EUV legt eine gegenseitige Treuepflicht der Mitgliedstaaten fest. Aus dieser Treuepflicht sowie aus der freiwilligen Übernahme der Werte aus Art. 2 EUV wächst im Gegenzug wechselseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander.94 Unabhängig davon, dass die Justizreformen in Polen von der polnischen Regierung als nationale Maßnahme gedacht sein und nicht gegen das Unionsrecht zielen mögen, gilt: Nur wenn die Union eine Rechtsgemeinschaft ist, können etwa Mechanismen wie der Europäische Haftbefehl funktionieren. Wird das Vertrauen in die Einhaltung der Treuepflichten eines Mitgliedstaats verletzt, werden solche Mechanismen u. U. nicht mehr angewandt – und das hat Auswirkungen auf die Anwendung von bestehendem Recht. Denn auch die polnische Methodenlehre, die mehrheitlich positivistisch grundiert ist, lässt dem Richter viele Freiheiten.95 41 So gibt es mittlerweile eine wichtige Entscheidung des EuGH zu der Frage, ob eine gesuchte Person wegen des Vorbehalts in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/
92 Siehe etwa EuGH (Große Kammer) v. 26.3.2020 – verb. Rs. C-558/18 und C-563/18 Miasto Łowicz, EU:C:2020:234. 93 EuGH (Große Kammer) v. 26.3.2020 – verb. Rs. C-558/18 und C-563/18 Miasto Łowicz, EU: C:2020:234 Rn. 54–59. 94 Siehe in Bezug zu Polen EuGH (Große Kammer) v. 17.12.2018 – Rs. C-619/18 R Kommission/Polen, EU:C:2018:1021 Rn. 73–77; EuGH (Großen Kammer) v. 24.6.2019 – Rs. C-619/18 Kommission/Polen, EU:C:2019:531 Rn. 42 f. Ausführlich zu diesem Grundsatz des Unionsrechts L. von Danwitz, EuR 2020, 61. 95 Zirk-Sadowski, in Leszczyński, System, § 3, Rn. 100.
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584/JI (Europäischer Haftbefehl) nach Polen noch ausgeliefert werden dürfe, da große Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz bestünden.96 Der EuGH stellte in der Entscheidung Kriterien auf, unter denen die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe an den Mitgliedstaat verweigern darf, der den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat. In Anwendung dieser Kriterien hob mittlerweile z. B. das OLG Karlsruhe am 17.2.2020 einen eigenen Auslieferungshaftbefehl auf, „weil eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die Auslieferung des Verfolgten nach Polen zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der derzeitigen aktuellen Entwicklungen in Polen im Rahmen der „Justizreform“ als zumindest derzeit unzulässig erweist“.97
IV. Die Anwendung von Unionsrecht durch polnische Gerichte Eine zentrale Erkenntnis für den deutschen Leser könnte in der Tatsache liegen, dass 42 Polen – wie wohl andere zentraleuropäische Staaten auch – im Hauruckverfahren eine große Masse an Unionsrecht übernehmen musste, ohne an dessen Entwicklung beteiligt gewesen zu sein. Zirk-Sadowski sieht darin ein Problem, nämlich die Folge, dass Unionsrechtsinstitute keine gemeinsamen Symbole und Zeichen generierten, sondern als von außen kommende Phänomene angesehen würden, die man (nun auch noch) mit dem schon komplizierten nationalen Recht koordinieren müsse.98 Dazu passt die gelegentlich erhobene Forderung, bei der Umsetzung von Richtlinien deren Bestimmungen möglichst dem Wortlaut nach zu kopieren; dies solle die unionsrechtskonforme Auslegung von nationalem Recht erleichtern.99 Nachstehend werden aus den Folgen der Integration der Unionsrechtsmassen in 43 die polnische Rechtsordnung drei Fragestellungen herausgegriffen und an polnischer Rechtsprechung und Lehre erprobt: das Verhältnis der polnischen Verfassung zum Unionsrecht (1.); die Auslegung von Unionsrecht durch polnische Gerichte (2.); Europarecht und nationales Recht sowie der Umgang polnischer Gerichte mit EuGH-Entscheidungen (3).
1. Verfassung und Unionsrecht; Anwendungsvorrang Der polnische VerfGH ging jedenfalls vor den Justizreformen (Rn. 16 ff.) von einem 44 Kooperationsverhältnis zwischen ihm und dem EuGH mit „beiderseitig freundlicher
96 EuGH (Große Kammer) v. 25.7.2018 – Rs. C-216/18 PPU LM, EU:C:2018:586. Siehe dazu z. B. die Anm. v. Lewandowski, EPS 2019/7, 4 ff. 97 OLG Karlsruhe v. 17.2.2020, Ausl 301 AR 156/19 –, juris mit ausführlicher Begründung. 98 Zirk-Sadowski, in Leszczyński, System, § 3, Rn. 126. 99 Miąsik, EPS 2014/1, 66, 67.
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Auslegung“ aus. Diese Auslegung habe ihre Grenzen, sagte der VerfGH gleichwohl, denn sie dürfe nicht zu einem Ergebnis führen, das gegen den ausdrücklichen Wortlaut von Verfassungsnormen verstoße.100 In einer Entscheidung vom 16.11.2011 sprach der VerfGH sodann klar aus, dass das Unionsrecht gem. Art. 91 Abs. 3 der polnischen Verfassung zwar Vorrang vor einfachen Gesetzen habe, dass aber die polnische Verfassung Vorrang vor allen anderen in Polen geltenden Rechtsakten habe – auch vor dem Unionsrecht.101 45 Demgegenüber unterstreicht das OG den Anwendungsvorrang teils stärker.102 So gibt es zwar Entscheidungen, die wie der VerfGH formulieren.103 Das OG hat dies beispielsweise im Zusammenhang mit Rechtsstreitigkeiten um die Richtlinie 98/34/EG einmal so verstanden, dass die ordentlichen Gerichte und die Verwaltungsgerichte nationale Rechtsnormen nicht einfach unangewendet lassen dürften, sondern dass darüber der VerfGH zu entscheiden habe.104 In anderen Fällen behandelt das OG den Anwendungsvorrang demgegenüber als autonome Regel des Unionsrechts.105 Mittlerweile betont das OG den Anwendungsvorrang des Unionsrechts generell bei vielen Gelegenheiten, wie der Dialog des OG mit dem EuGH zu den Justizreformen zeigt (Rn. 23 ff.). Das HVerwG beruft sich ebenfalls klar auf den Anwendungsvorrang.106 Auch in der polnischen Literatur wird die Frage nicht einheitlich beantwortet.107 Dort wird auch die Frage diskutiert, in welchem Verhältnis der Anwendungsvorrang zu der unionsrechtskonformen Auslegung steht.108
100 VerfGH v. 11.5.2005 – K 18/04; eingehende Würdigung des Urteils von Bainczyk/Ernst, EuR 2006, 236 ff.; ausführlich dazu auch Ernst, in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre (3. Aufl. 2015), § 28, Rn. 12 ff. 101 VerfGH v. 26.11.2011 – SK 45/09. Näher zum Verhältnis von Unionsrecht und polnischem Verfassungsrecht Domańska, Implementacja, S. 80 f., 84 f. m. w. N. 102 Siehe auch Miąsik, EPS 2014/1, 66, 68. 103 Z. B. OG v. 8.12.2009, I BU 6/09. 104 OG v. 28.11.2013, I KZP 15/13, unter 6., zur RL 98/34/EG und entgegen der EuGH-Rechtsprechung, z. B. dem Urteil v. 8.9.2005 – Rs. C-303/04 Lidl Italia, EU:C:2005:528 Rn. 23. Ebenso noch einmal OG v. 8. 01. 2014, IV KK 183/13; zustimmend Skowronek, Prokuratura i Prawo 2017/9, 146, 152 f.; anders wohl OG v. 27.11.2014, II KK 55/14 (ohne die Rechtsprechung der anderen Besetzung zu thematisieren); aus prozessualen Gründen offen gelassen in der Entscheidung des OG (in erweiterter Besetzung) v. 19.1.2017, I KZP 17/16, die jedoch im Übrigen sehr klar zugunsten des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts formuliert (möglicherweise unter dem Eindruck der Justizreformen). 105 OG v. 4.1.2008, I UK 182/07, unter 13.; v. 3.6.2008, I PZP 10/07, unter I.; v. 15.1.2020, III PO 8/18, unter II. 106 Siehe etwa HVerwG v. 9.6.2017, I FSK 1271/15; v. 11.9.2015, I FSK 1186/13. 107 Für einen uneingeschränkten Anwendungsvorrang des Unionsrechts: Sołtys, Obowiązek, S. 104 m. w. N. 108 Siehe etwa Baranowska, EPS 2018/7, 4, 8 f. m. w. N.
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2. Auslegung von Unionsrecht durch polnische Gerichte Wie bereits gesehen (Rn. 13), herrscht – wenn auch mit abnehmender Tendenz – in 46 der polnischen Methodenlehre zum einen die Meinung vor, dass dem Wortlaut gegenüber den übrigen Auslegungselementen Vorrang zukomme. Zum anderen konnte zwar bereits beobachtet werden, dass das Unionsrecht hier gewissen Druck in die andere Richtung ausübte. Es verwundert aber nicht, dass die polnische Methodenlehre angesichts ihres sorgsamen Umgangs mit dem Wortlaut auch beim EuGH eine gewisse Tendenz zur Wortlautauslegung erkennen will.109 Dies zeigt sich u. a. darin, dass Rechtsprechung und Lehre in Polen das Problem 47 der Mehrsprachigkeit der Unionsrechtsordnung besonders intensiv diskutieren,110 u. a. mit dem Argument, dass mehrere Sprachen mehrere Zugänge zum Wortlaut erlaubten.111 Auch polnische Obergerichte beschäftigen sich intuitiv stärker als etwa ihre deutschen Äquivalente mit dieser Frage. Diese Sensibilität hat mit u. a. mit dem EUBeitritt zu tun, denn die Übertragung zahlreicher Rechtsakte zum 1.5.2004 in die polnische Sprache brachte im Wesentlichen zwei Fragen mit sich: Sind die polnischen Sprachfassungen von Rechtsakten, die älter als 2004 sind, ebenfalls authentisch? Und was passiert bei Abweichungen von Sprachfassungen, und zwar solchen, die als offensichtlich fehlerhaft zu qualifizieren sind? Polnische Obergerichte wählen hier teils einen rechtsrealistisch anmutenden An- 48 satz, indem sie die polnischen Sprachfassungen als Übersetzungen bezeichnen.112 Das stimmt mit der Auffassung des EuGH nicht überein, der stets nur von Sprachfassungen spricht, so dass die Auffassung der polnischen Obergerichte in der polnischen Literatur auch kritisiert wird.113 Würden die polnischen Gerichte dem in der Praxis folgen, müssten sie ja andere Sprachfassungen zwingend bei jeder Gerichtsentscheidung mit Unionsrechtsbezug berücksichtigen. Das wäre – wie in anderen Ländern auch – nur schwer zu leisten und hätte die Konsequenz, dass der polnische Bürger auf die polnische Fassung nicht vertrauen dürfte. So gibt es denn auch Entscheidungen, in denen von der Authentizität der polnischen Sprachfassung darauf geschlossen wird, dass man sich auf die Auslegung der polnischen Sprachfassung beziehen könne.114 Selbst offensichtlich falsche Sprachfassungen (unvollständige Übersetzungen oder Fehler bei der Veröffentlichung sowie offensichtliche Übersetzungsfehler) sollen Rechtsanwender nach Auffassung des HVerwG nicht unangewendet lassen dürfen. Das HVerwG zieht hier Parallelen zur Rechtsprechung des EuGH bei fehlenden Ver
109 Zirk-Sadowski, in Leszczyński, § 3, Rn. 107. So auch Baldus/Raff, Richterliche Interpretation des Gemeinschaftsrechts, in: Gebauer (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 6 (2016), § 3, Rn. 99 ff. 110 Siehe z. B. m. w. N. Doczekalska, Zasada, EPS 2019/5, 12 ff. 111 Siehe z. B. m. w. N. Doczekalska, Zasada, EPS 2019/5, 12 ff.; Domańska, Implementacja, S. 224 ff. 112 HVerwG v. 7.12.2012, II GSK 1772/11; WVerwG Krakau v. 16.6.2010, I SA/Kr 1783/09. 113 Doczekalska/Jaśkiewicz, Zeszyty Naukowe Sądownictwa Administracyjnego 2014, 66, 69. 114 WVerwG Rzeszów v. 2.12.2010, I SA/Rz 658/10.
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öffentlichungen im Amtsblatt.115 Danach sind solche Fehler auf Unionsrechtsebene zu berichtigen – was zu Folgeproblemen führen kann.116 49 Unabhängig von der Frage, ob die polnische Sprachfassung vor 2004 entstandener EU-Rechtsakte nun authentisch ist oder nur eine Übersetzung darstellt, meinen polnische Gerichte, dass sie nicht in jedem Fall bei der polnischen Fassung Halt machen dürften. Sie wenden andere Sprachfassungen an, wenn sie selbst Zweifel am Ergebnis der Auslegung allein nach der polnischen Sprachfassung haben oder wenn eine Partei solche anmeldet.117 Die Gerichte ziehen freilich, soweit ersichtlich, nie alle amtlichen Sprachfassungen heran (das tut auch der Gerichtshof höchst selten118), sondern nur diejenigen, die die Richter beherrschen (in der Regel Englisch, Deutsch, Französisch, auch Tschechisch).119 In einer Entscheidung gibt das OG sogar eine praktische Rangfolge vor: Entscheidende Bedeutung komme der französischen Sprachfassung zu, da dies die Hauptarbeitssprache der [damaligen] EG sei. Danach folge Englisch, dann die übrigen Sprachen.120
3. Europarecht und nationales Recht; Umgang mit EuGH-Entscheidungen durch polnische Gerichte 50 Der Umgang mit nationalem Recht, das unionsrechtlich überformt ist (insb. Gesetze
im Anwendungsbereich von EU-Richtlinien) unterscheidet sich etwas vom Umgang in Deutschland. Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Rechtsprechung des EuGH in Polen teils als veritable Rechtsquelle verstanden wird,121 nicht nur als Rechtserkenntnisquelle. Begründet wird dies mit der Ähnlichkeit der EuGH-Rechtsprechung zur Vorgehensweise im common law (distinguishing) und damit, dass die Entscheidungen des EuGH für die mitgliedstaatlichen Gerichte bindend sind. 51 Nach dem Beitritt 2004 arbeitete das OG anfänglich mit einer etwas künstlichen Einschränkung europarechtskonformer Auslegung, die Miąsik als Auslegung sensu stricto gegenüber einer solchen sensu largo (siehe dazu Rn. 14 f.) bezeichnete.122 Das
115 HVerwG v. 23.4.2008, II GSK 31/08. 116 Vgl. dazu kritisch Bobek, European Law Review 2009, 950 ff. 117 Vgl. z. B. HVerwG v. 18.3.2015, I FSK 240/14; v. 15.2.2012, II GSK 1529/10; v. 9.8.2012, II GSK 1065/ 11; v. 25.9.2012, II GSK 1434/11; v. 22.8.2013, II GSK 565/12. Siehe zu solchen anlassbezogenen (im Gegensatz zu anlasslosen) Sprachvergleichen Baldus/Raff, Richterliche Interpretation des Gemeinschaftsrechts, in: Gebauer (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 6 (2016), § 3, Rn. 97. 118 Wohl zuletzt EuGH v. 4.9.2014 – Rs. C-162/13 Vnuk, EU:C:2014:2146 Rn. 44 f. 119 In dieser Reihenfolge, vgl. die empirische Analyse von Doczekalska/Jaśkiewicz, Zeszyty Naukowe Sądownictwa Administracyjnego 2014, 66, 72 mit Fn. 45 zum Stand von 2014. 120 OG v. 9.6.2006, III PK 30/06. 121 Lasiński-Sulecki/W. Morawski, Przegląd Podatkowy 2018/9, 12, 13; in der Tendenz auch Szot, in: Leszczyński, System, § 26, Rn. 310 ff. 122 So Miąsik, EPS 2014/1, 66, 67.
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OG meinte, dass nationales Recht erst dann europarechtskonform ausgelegt werden dürfe, wenn zuvor festgestellt sei, dass die Richtlinie nicht oder nicht richtig umgesetzt worden sei.123 Diese Einschränkung wurde später, soweit ersichtlich, nicht wiederholt; seither nimmt das OG eine unionsrechtskonforme Auslegung unabhängig von der Feststellung vor, ob eine Divergenz zwischen Unionsrecht und nationalem Recht vorliegt.124 Das hat wohl damit zu tun, dass die Feststellung, ob Unionsrecht und nationales Recht differieren, bereits Teil der unionsrechtskonformen Auslegung sein dürfte. Unionsrechtskonforme Auslegung findet Anwendung im Vertikal- wie im Hori- 52 zontalverhältnis. Sie kann auch dazu führen, dass eine ständige Rechtsprechung aufgegeben werden muss.125 Das bereitet Polen als kodifikationsgeprägtem Staat weniger Probleme als anderen Mitgliedstaaten, in denen die Rechtsprechung eine hervorgehobene methodische Stellung hat.126 Besondere Bedeutung hat nach Auffassung der Lehre in Polen die unionsrechtskonforme Auslegung im Privatrecht, weil dort nach herrschender Auffassung keine unmittelbare Anwendung der Richtlinie möglich ist.127 Gewisse Schwierigkeiten bereitet OG und HVerwG der Umgang mit Kassations- 53 beschwerden, wenn der Rechtsmittelführer keinen Unionsrechtsverstoß rügt, ein solcher sich aber erweist. Die polnischen Gerichte prüfen in Kassationsverfahren lediglich Rechtsverstöße, die vom Rechtsmittelführer hinreichend konkretisiert wurden.128 Das OG ist daher der Auffassung, dass es nicht von Amts wegen verpflichtet sei, einen Unionsrechtsverstoß zu prüfen, es sei denn, es sei offensichtlich, dass die Vorschriften des Unionsrechts denselben Gegenstand regeln wie das nationale Recht, und es gibt eine Möglichkeit diese Unionsrechtsvorschriften unmittelbar anzuwenden oder die nationalen Vorschriften in Übereinstimmung mit den Unionsrechtsvorschriften auszulegen.129 Das OG hat später klargestellt, dass die Rüge der Verletzung einer nationalen Vorschrift implicite auch die Rüge der Verletzung einer unionalen Vorschrift umfasse.130 In der Tendenz möglicherweise anders sieht es wohl das HVerwG, das ohne solche Einschränkungen Vorlageverfahren an den EuGH eröffnet131 und hin-
123 OG v. 9.7.2008, I PK 315/07; v. 19.11.2008, I PZP 4/08. 124 OG v. 8.3.2012, V CSK 102/11. 125 OG v. 21.11.2012, III PZP 6/12, unter III. mit der vom OG selbst festgestellten Folge, dass man dem EuGH nicht vorlegen müsse, wenn man eine bestimmte Auslegung nicht wähle (Selbstbeschränkung hinsichtlich der Auslegungsmöglichkeiten); Miąsik, EPS 2014/1, 66, 68. 126 Vgl. für Dänemark etwa EuGH (Große Kammer) v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 DI, EU:C:2016:278 und dazu Baldus/Raff, GPR 2016, 71 ff. 127 Baranowska, EPS 2018/7, 4, 7 m.w.N; M. Szpunar, PiP 2004/9, 56, 57. 128 Art. 39813 § 1 ZPO. Das ähnelt dem Rechtsmittelverfahren vor dem EuGH. 129 Grdl. OG v. 18.12.2007, II PK 17/06; zuletzt OG v. 8.1.2020, I NOZP 3/19, unter IX. 130 OG v. 14.6.2012, I PK 230/11, Rn. 43. 131 HVerwG v. 31.3.2016, I FSK 1565/14; v. 4.11.2016, I FSK 638/15.
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sichtlich der Entscheidungslinie des OG relativiert, dass mit der Rüge einer nationalen Vorschrift praktisch immer die Auslegung anderer Vorschriften, darunter solcher des Unionsrechts, umfasst sei.132 Die Frage ist auch in der Lehre umstritten.133 Die Lösung des OG könnte mit verbraucherrechtlicher Judikatur des EuGH in Konflikt geraten, nach der bestimmte Verstöße gegen Verpflichtungen, die einem Unternehmer gegenüber einem Verbraucher obliegen, von Amts wegen zu prüfen sind.134 Ein Widerspruch ist jedenfalls dann denkbar, wenn die Selbstbeschränkungen des OG im konkreten Fall nicht reichen, um Verstöße gegen Europarecht zu prüfen. 54 Methodisch interessante Aspekte enthält der Fall Mariusz Pawlak,135 der hier als pars pro toto etwas ausführlicher dargestellt werden soll. Mariusz Pawlak streitet mit seiner Sozialversicherung über Entschädigungsansprüche. Im Verfahren legt der Klagegegner (der Träger der Versicherung) am letzten Tag der Frist gegen die erstinstanzliche Entscheidung, die zugunsten des Versicherungsnehmers ausgegangen ist, Berufung mithilfe eines Postdiensteanbieters ein. Nach Art. 165 § 2 der polnischen ZPO ist die Einreichung eines Schriftstücks bei einem Postdiensteanbieter mit der Einreichung bei Gericht dann gleichzusetzen, wenn der Postdiensteanbieter nach dem Postgesetz zur Erbringung von Postdiensten im jeweiligen Umfang verpflichtet ist. Der Anbieter, den der Träger der Versicherung wählte, war hierzu aber nicht verpflichtet, sondern nur berechtigt. Das OG (in erweiterter Besetzung mit sieben Richtern) legte dem EuGH Fragen zur Auslegung von Art. 7 und 8 der RL 97/67/EG vor sowie zum Problem, ob eine Emanation des Staates (zu der der Träger der Sozialversicherung rechnet) sich gegenüber einem Rechtsunterworfenen unmittelbar auf eine Richtlinienbestimmung berufen könne. 55 Das OG weist in seinem Vorlagebeschluss zunächst darauf hin, dass die Frage umstritten sei, ob Art. 165 ZPO unionsrechtskonform dergestalt ausgelegt werden könne, dass auch andere als nur verpflichtete Postdiensteanbieter erfasst seien. Es legt ausdrücklich dar, dass das OG in früheren Entscheidungen zum Ergebnis gekommen sei, dass eine unionsrechtskonforme Auslegung möglich sei, dass in diesen Entscheidungen die Kriterien und die Art einer unionsrechtskonformen Auslegung aber nicht dargestellt worden seien.136 Sodann erläutert das OG, dass nach der überwiegenden Linie in seiner Rechtsprechung (so auch im Vorlagebeschluss) eine unionsrechtskon-
132 HVerwG v. 18.2.2015, II GSK 2476/13; v. 27.3.2015, I FSK 402/14. Szot, in: Leszczyński, System § 26, Rn. 290 ff. sieht hier allerdings keine Unterschiede zwischen dem Vorgehen des OG und des HVerwG. 133 Kritisch: Brzeziński, EPS 2011/9, 37 ff; eher referierend Grochowski, in: Leszczyński (Hrsg), System, § 25, Rn. 266. 134 St. Rspr. seit EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, EU:C:2009:350 Rn. 32; zuletzt EuGH v. 5.3.2020 – Rs. C-679/18 ORP-Finance, EU:C:2020:167 Rn. 34. 135 EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Mariusz Pawlak, EU:C:2019:260. 136 OG v. 19.7.2017, III UZP 3/17, Rn. 12 mit Verweis auf OG v. 23.10.2015, V CZ 40/15 und v. 17.3.2016, V CZ 7/16.
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IV. Die Anwendung von Unionsrecht durch polnische Gerichte
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forme Auslegung von Art. 165 ZPO nicht möglich sei, sondern eine Auslegung contra legem darstelle.137 An dieser Stelle beschreibt das OG den Umgang der polnischen Rechtsprechung 56 mit dem Wortlaut, insbesondere die Fälle, in denen von einem Auslegungsergebnis nach dem Wortlaut abgewichen werden dürfe (siehe dazu auch Rn. 15): der Wortlaut widerspricht offensichtlich grundlegenden Wertungen der Verfassung; die Wortlautauslegung ist offensichtlich sinnlos oder irrational; die Wortlautauslegung führt zu einem absurden Ergebnis; es handelt sich um einen Redaktionsfehler. Ein solcher Fall liege hier nicht vor. Ferner verweist das OG darauf, dass gerade im Prozessrecht eine Abweichung vom Wortlaut besonders kritisch gesehen werde.138 Der EuGH stellt – nachdem das OG in seinem Vorlagebeschluss das auch getan 57 hatte – selbst ausdrücklich fest, dass eine mit der Richtlinie vereinbare Auslegung von Art. 165 der ZPO eine Auslegung contra legem darstellen würde.139 Ferner stellt er fest, dass sich eine Emanation der Staatsgewalt gegenüber dem Einzelnen nicht unmittelbar auf eine Richtlinie berufen dürfe, weil diese sonst Nutzen aus einem Verstoß gegen das Unionsrecht ziehen könnte.140 Gerade die ausdrückliche Feststellung durch den EuGH selbst, dass die von der vorlegenden Kammer des OG abgelehnte Auslegung contra legem wäre, zeigt eine gewisse Sensibilität gegenüber nationalen Methodentraditionen.141 In der Entscheidung, die auf das Vorlageurteil des EuGH folgt, beschäftigt sich 58 die erweiterte Kammer des OG noch einmal mit der unionsrechtskonformen Auslegung, weil die Richtlinie zugunsten des Trägers der Sozialversicherung ja nicht unmittelbar angewendet werden dürfe.142 Zunächst bezieht sich das OG auf das auch hier schon mehrfach ausgewertete Buch von Sołtys, die für den Fall, dass eine Wortlautauslegung des nationalen Rechts zu keinem europarechtskonformen Ergebnis gelangt, vorschlägt, mit der derivativen Auslegungsmethode (Rn. 10) dieses Auslegungsergebnis zu überwinden.143 Dann begründet das OG die europarechtskonforme Auslegung, nämlich die Anwendung von Art. 165 § 2 ZPO im konkreten Fall, wie
137 OG v. 19.7.2017, III UZP 3/17, Rn. 31. Zur Bedeutung der Auslegung contra legem im Zusammenhang mit der unionsrechtskonformen Auslegung siehe auch Skowronek, Prokuratura i Prawo 2017/9, 146, 150. 138 OG v. 19.7.2017, III UZP 3/17, Rn. 32. 139 EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Mariusz Pawlak, EU:C:2019:260 Rn. 88. 140 EuGH v. 27.3.2019 – Rs. C-545/17 Mariusz Pawlak, EU:C:2019:260 Rn. 89 m. w. N. aus der Rechtsprechung. 141 Im Fall DI hatte es der EuGH dagegen beispielsweise abgelehnt, einer entgegenstehenden Rechtsprechung die gleiche Bedeutung beizumessen – obwohl in einem Land wie Dänemark eine ständige Rechtsprechung eine ganz andere Bedeutung hat als etwa in Deutschland oder Polen. Siehe EuGH (Große Kammer) v. 19.4.2016 – Rs. C-441/14 DI, EU:C:2016:278 und dazu Baldus/Raff, GPR 2016, 71 ff. 142 OG v. 29.8.2019, III UZP 3/17. 143 OG v. 29.8.2019, III UZP 3/17, mit Verweis auf Sołtys, Obowiązek, S. 539–542.
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§ 25 Polen
folgt: Gem. Art. 91 Abs. 3 der polnischen Verfassung stehe die Unionsvorschrift [gemeint sind wohl Art. 7 und Art. 8 der RL 97/67/EG] in der Normenhierarchie über der nationalen Vorschrift, so dass eine systematische Auslegung eine Abweichung vom Wortlaut erlaube. Eine Gesetzesnovelle aus dem Jahr 2013 habe zum Ziel gehabt, dass Art. 165 § 2 ZPO mit der RL 97/67/EG übereinstimme, so dass Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit dem Gesetzgeberwillen eine Abweichung vom Wortlaut erlaube. Es folgen weitere Begründungen, die sich auch tatsächlich an den in Rn. 56 genannten Fällen orientieren, in denen nach der traditionellen polnischen Methodenlehre eine Abweichung vom Wortlaut möglich ist, die aber das OG im Vorlagebeschluss noch nicht für einschlägig gehalten hatte. 59 Dieses Beispiel zeigt, wie nationale Methodenlehre unter den Druck von EuGHEntscheidungen geraten kann (Rn. 13). Ähnlich wie der BGH in der Quelle-Entscheidung144 argumentiert das OG damit, der Gesetzgeber habe richtig umsetzen wollen. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die Lösung des OG nicht zwingend ist, denn es hätte an seiner Auffassung, dass die letztlich doch gewählte Auslegung contra legem sei, festhalten können. Offenbar sah sich das polnische OG – ähnlich wie der BGH in der Quelle-Entscheidung – unter dem (selbst gewählten?) Druck, das vom Unionsrecht verlangte Ergebnis ohne Zwischenschritt des Gesetzgebers sofort zu erreichen. Ob das der nationalen Methodenlehre gut tut, muss diese mit sich ausmachen. Das Unionsrecht verlangt ein solches Vorgehen jedenfalls nicht. 60 Polen trägt durch seine immer zahlreicheren Vorlageverfahren (Rn. 23) generell zur Fortentwicklung des Unionsrechts bei. Unionsweite Aufmerksamkeit erlangten beispielsweise die Vorlagefragen des Sąd Okręgowy Gorzów Wielkopolski zu Streitfragen über die Auslegung der Erbrechtsverordnung. Hier konnten geschickt herbeigeführte Rechtstreitigkeiten zu einem sehr frühen Zeitpunkt seit Inkrafttreten der Erbrechtsverordnung so wichtige Fragen lösen wie die Anerkennung eines Vindikationslegats in anderen teilnehmenden Rechtsordnungen145 oder die Problematik um die Einordnung eines polnischen Erbscheins als gerichtliche Entscheidung gem. Art. 3 Abs. 1 lit. g) EuErbVO146. Bedeutung spielen polnische Vorlagen auch etwa in den zahlreichen Banken-Fällen (u. a. zur Auslegung der RL 93/13/EWG).147
144 BGH v. 26.11.2008, VIII ZR 200/05, JZ 2008, 518 m. Anm. v. Gsell. 145 EuGH v. 12.10.2017 – Rs. C-218/16 Kubicka, EU:C:2017:755. 146 EuGH v. 23.5.2019 – Rs. C-658/17 WB, EU:C:2019:444 m. Anm. v. Raff, DNotZ 2019, 643 ff. 147 Siehe z. B. EuGH v. 3.10.2019 – Rs. C-260/18 Dziubak, EU:C:2019:819 (zu an eine Fremdwährung gebundenes Darlehen). Siehe aus der Judikatur des OG etwa Urt. v. 11.12.2019, V CSK 382/18, mit eingehender Auseinandersetzung mit der bis dahin ergangenen Judikatur des EuGH in den Banken-Fällen.
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V. Fazit
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V. Fazit Die polnischen Gerichte sind durch immer zahlreichere Vorlageverfahren ein wichti- 61 gerer Dialogpartner des EuGH geworden. Das Land im Zentrum Europas nimmt damit die Stellung ein, die ihm als großem Mitgliedstaat mit einer Bevölkerungszahl, die der Spaniens entspricht, zusteht. Das polnische Beispiel zeigt aber auch, welche Auswirkungen Justizreformen auf den Dialog mit dem EuGH und das wechselseitige Vertrauensverhältnis der Mitgliedstaaten untereinander haben können. Die weitere Entwicklung bleibt zu beobachten.
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Stichwortregister Fette Zahlen bezeichnen Paragraphen, magere Zahlen Randnummern. Academia dei Giusprivatisti Europei 4, 37 acquis communautaire 3, 4; 12, 8 Acquis Group 4, 37 f. acte clair 7, 47; 10, 15, 51; 16, 15; 20, 52 f.; 21, 26 ff.; 24, 14; 25, 10; s. a. C.I.L.F.I.T.-Urteil Adeneler-Urteil 13, 24, 41; 15, 23, 26, 30 ff., 38, 54, 57, 62; 23, 35, 52 Åkerberg-Fransson-Urteil 20, 42, 67 Aktionsplan zum Europäischen Vertragsrecht 4, 12, 39 Aktionspläne 4, 12, 18 ff., 39; 6, 91; s. a. Kommission Akzo-Nobel-Chemicals-Urteil 20, 28 Alemo-Herron-Urteil 17, 59 allgemeine Rechtsgrundsätze 4, 8 f.; 7, 26 f., 37, 54, 61; 12, 41; 13, 35 17, 68; 20, 20 f., 24 f., 28 f. Altersdiskriminierung 17, 65 f.; 6, 40 AMS-Urteil 6, 52, 72 AM & S Europe-Urteil 20, 28 Analogie 8, 58; 12, 33 ff., 46; 17, 43; 25, 14 f. – Analogieverbote 12, 17, 47 f. – „gleißendes Licht der Analogieprüfung“ 3, 18 – im 19. Jahrhundert 3, 4, 72 ff., 80 ff., 88 – in der Topik des 16. und 17. Jahrhunderts 3, 67 – im polnischen Recht 25, 14 f. – Transparenzmechanismus 3, 18 f. – und Grundrechte 12, 47 – und Rechtssetzungsmonopol 3, 17 – Wortsinngrenze 12, 47; s. a. Rechtsfortbildung analogische Auslegung; s. Analogie im 19. Jahrhundert Angonese-Urteil 6, 36; Anhörungsrüge analog § 321a ZPO 21, 32 Anlegerschutz 18, 5 Anwendungsvorrang; s. supranationales Unionsrecht – Anwendungsvorrang Arbeitnehmer; s. Europäisches Arbeitsrecht Arbeitnehmerentsendung 17, 54 Arbeitssprache; s. Europäischer Gerichtshof Arbeitszeit; s. Europäisches Arbeitsrecht Arbeitszeitrichtlinie 17, 38 f. argumentum a fortiori 12, 36
https://doi.org/10.1515/9783110614305-026
argumentum a maiore ad minus 17, 43 argumentum a similii 3, 33 argumentum e contrario 10, 34, 41 ATRAL-Urteil 14, 7, 59 Audiolux-Urteil 12, 41; 20, 25 ausfüllungsbedürftige Normen 21, 76 Auslandsgesellschaft 6, 63 Auslegung – ausdehnende 3, 74 – autonome; s. autonome Auslegung – contra legem 8, 36 f.; 12, 3, 27, 49 ff.; 13, 24, 33, 36 ff., 41 f.; 20, 39ff.; 23, 35; 24, 38; 25, 55, 57, 59 – contra proferentem 24, 34 – deklarative 3, 68 – deklaratorische Natur 13, 17, 73; 17, 2 – derivative 25, 8, 10, 58 – dynamische 7, 11; 19, 13 – – (integrations-)dynamische 7, 59; 10, 46 – Eindimensionalität 10, 43, 45; 17, 20 – einheitliche; s. einheitliche Auslegung im Überschussbereich – enge Auslegung von Ausnahmen 7, 27 – europarechtsfreundliche s. a. – Sekundärrecht, integrationsfreundliche – europarechtsorientierte 19, 34 ff. – extensive 3, 67 – funktional 25, 9, 12 – genetische; s. subjektiv-historische Auslegung – gespaltene; s. gespaltene Auslegung – grammatikalische 3, 20, 66; 4, 25; 7, 17 ff., 48 ff.; 13, 18, 45; 17, 24 ff.; 20, 12; 21, 87; 25, 9, 11 ff., 46, 56 – – mehrere Sprachfassungen 3, 19 f.; 4, 25; 7, 18 ff., 48; 10, 14 ff., 51; 12, 4, 17; 17, 25; 20, 12; 21, 87; 23, 30; 25, 47 ff. – historische 3, 65; 4, 27; 7, 33 f., 53; 17, 34 f.; 20, 13; 21, 89; 25, 12 – – Vorbildrecht 10, 5, 39 – „im engeren Sinne“ 13, 49 f. – intergouvernementales Unionsrecht; s. a. supranationales Unionsrecht; Auslegung völkerrechtlicher Verträge – – grammatikalische 7, 47
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– – historische 7, 52 – – rechtsvergleichende 7, 53 f. – – systematische 7, 49 – – teleologische 7, 49 f. – Kanon 3, 48, 63 f.; 20, 11 ff. – klarifizierende 25, 9 – Kollisionsregeln 10, 29 ff, 50 ff. – Kompetenz der obersten Gerichtshöfe 21, 48 ff.; 25, 44 ff. – Methoden der obersten Gerichtshöfe 21, 86 ff. – Monopol des EuGH 23, 8 ff.; 22, 36 ff. – nationales Recht 20, 33 ff. – objektiv-teleologische 2, 13, 15; 3, 89; 10, 10; 12, 27, 51 – offenkundige; s. acte clair – praktische Wirksamkeit 13, 18 – primärrechtskonforme; s. primärrechtskonforme Auslegung – Rang der Auslegungsmethoden 3, 64; 7, 40; 25, 9 ff. – rechtsvergleichende 4, 24 ff.; 7, 41, 54 f.; 17, 47 f.; 20, 24 ff. – restriktive 3, 68 f. – richtlinienkonforme; s. richtlinienkonforme Auslegung – Sekundärrecht – – anhand der Begründungserwägungen 6, 78 – – authentische 10, 28, 33 ff. – – autonome 10, 4 ff., 14 – – historische 4, 27; 10, 32 ff.; 17, 34 f.; 18, 35 – – grammatikalische 10, 13 ff., 21 – – integrationsfreundliche 10, 44 – – primärrechtskonforme 8, 7 ff.; 20, 20 ff. – – rechtsaktsübergreifende 10, 22, 24 – – systematische 10, 23; 17, 28 ff. – – teleologische 10, 41 ff.; 17, 36 ff. – subjektiv-historische 2, 13; 3, 65; 12, 27 51 – supranationalen Unionsrechts 17, 50 ff.; s. a. intergouvernementales Unionsrecht – – grammatikalische 7, 17 ff. – – grundrechtskonforme 21, 88 – – historische 7, 13, 33 f., 41 – – systematische 7, 22 ff. – – teleologische 7, 27 ff. – systematische 4, 28; 7, 22 ff., 48; 10, 21 ff.; 17, 18 ff.; 28 ff.; 19, 17; 20, 14; 21, 88; 25, 12, 58
– – Berücksichtigung von Regelungsentwürfen 10, 27 f. – – äußeres System 10, 22 ff., 44 – – inneres System 10, 22 ff., 44, 46 – – rechtsaktsübergreifend 10, 22, 24 – teleologische 4, 29; 7, 27 ff., 50 f.; 20, 15 ff.; 17, 36 ff.; 21, 90; 25, 12; s. a. teleologische Extension, teleologische Reduktion – – effet utile 10, 45; 20, 16 – – kompetenzkonforme 10, 41 – und Konkretisierung von Generalklauseln 11, 31 ff.; 20, 50; s. a. dort – und Rechtsfindung 13, 17, 20 – unionsrechtskonforme; s. unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts – Unterscheidung von Rechtsfortbildung 17, 2 – Vereinigtes Königreich; s. dort – Verhältnis der Auslegungskriterien 3, 64; 7, 41, 56 – völkerrechtlicher Verträge 7, 43 ff. – völkerrechtskonforme 20, 22 – Wortlaut; s. Auslegung – grammatikalische – Wortlautgrenze/Wortsinngrenze; s. Rechtsfortbildung – Wortlautgrenze/Wortsinngrenze – Ziel 10, 8 ff., 33; 12, 18 – – objektive Theorie 10, 10 – – subjektive Theorie 10, 9, 53; 12, 27, 51 – – Vereinigungstheorie 10, 11, 33 Auslegungsgesetz 22, 34 Auslegungsmonopol des EuGH; s. Auslegung Auslegungsregeln 10, 29 ff., 50 ff.; s. a. Zweifelsregel – contra proferentem 24, 34 – in dubio pro consumente (“in dubio pro consumatore”) 10, 57 ff.; 11, 43 – in favor laborem 17, 19 f. Auslegungsmethoden; s. Auslegung Ausnahmevorschriften 8, 23; 10, 62 ff.; 12, 35; 17, 28; s. a. singularia non sunt extendenda Ausschlussregeln 3, 64 Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden (Commitee of European Securities Regulators, CESR) – Rolle bei Normsetzung und -auslegung 18, 39 – – Consultation Papers 18, 34 autonome Auslegung 4, 4; 11, 12; 12, 4; 17, 13; 19, 5, 15 ff.; 20, 19 – Primärrecht 7, 20, 36
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– Sekundärrecht 10, 4 ff. – Vermutungsregel 10, 6, 13, 56 ff. Aziz-Urteil 24, 36
Common Frame of Reference; s. Gemeinsamer Referenzrahmen comply or explain-Prinzip 18, 14 contra legem 8, 36 f.; 12, 3, 27, 49 ff.; 13, 24, 32 f., 37 ff., 41 f.; 20, 39 ff.; 23, 35; 24, 38; 25, 55 ff.; s. a. Auslegung; Rechtsfortbildung Consten und Grundig-Urteil 19, 28 Corporate Governance 4, 12; 9, 52, 55
Basisrechtsakt 18, 7 Begründung – Element der 17, 5 Begründungserwägungen 3, 104; 6, 75 ff.; 10, 11, 35, 38; 17, 34; 20, 17; 21, 90; 23, 29 – Bedeutung für die Auslegung 6, 78 ff.; 10, 38 – Rechtsnatur 6, 75 f.; 10, 38 Begründungslehre 17, 5 Behavioural (Law and) Economics 5, 11 ff., 41 ff. Beitritt zur Europäischen Union 25, 1 – nicht in Landessprache veröffentlichtes Recht 25, 49 Bereicherungsausgleich 20, 27 bessere Rechtsetzung 20, 4 Betriebsübergangsrichtlinie 5, 22; 8, 8; 17, 8, 13, 20, 25, 40, 45, 58 f. Bilanzrichtlinien 4, 16; 14, 47 Binnenmarkt 5, 20, 30; 10, 44, 59; 16, 55 – Binnenmarktintegration 5, 20, 50 – Binnenmarktkompetenz 5, 20, 23 f., 52; 9, 15 – Binnenmarktziel 5, 1 Björnekulla Fruktindustrier-Urteil 13, 23 Bodenklausel 24, 37, 39 Bosman-Urteil 6, 35; 16, 34; 17, 58 Brexit 1, 9; 9, 51; 23, 2, 23 ff. s. a. European Union (Withdrawal) Act 2018 bounded rationality; s. eingeschränkte Rationalität Buchstabenjurisprudenz 10, 54
C.I.L.F.I.T.-Urteil 16, 15; 20, 51 f.; 23, 34; 24, 14; s. a. acte clair Charta der Europäischen Grundrechte 17, 21, 57; 20, 21, 24, 29, 36, 42, 62, 67; s. a. Unionsgrundrechte Chatzi-Urteil 20, 32 Code Civil 3, 12, 98 Código Civil 24, 4 Codes of Best Practice 6, 92 ff. Committee of European Securities Regulators (CESR); s. Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden Commission on European Contract Law 4, 37 Common Core of European Private Law 4, 37
Dassonville-Entscheidung 6, 28; 23, 28 DCFR s. Gemeinsamer Referenzrahmen De-Larosière-Gruppe 18, 5 Delegationsnormen 11, 4 Delimitis-Urteil 19, 25 Demokratieprinzip 12, 4, 18 déni de justice 3, 104; 22, 10 Derogation von Normen 8, 59; 12, 3, 16, 27, 49 Dialog der Gerichte 20, 63; 22, 36 f., 49 f.; 25, 44 f. Dienstleistungsfreiheit 17, 54 f. Diskriminierungsverbot 12, 33; 17, 62 ff.; 20, 24 Draft Common Frame of Reference; s. Gemeinsamer Referenzrahmen Drittwirkung des Unionsrechts; s. Unionsrecht Durchführung des Unionsrechts 20, 42, 59, 62, 67 Durchführungsrechtsakt 18, 9 Durchführungsrichtlinie 18, 27, 39 dynamische Auslegung; s. Auslegung – dynamische dynamische Verweisung auf Unionsrecht 19, 39 Dzodzi-Urteil 14, 29, 58; 19, 37;
Eckpunktemodell 9, 13 école de la libre recherche scientifique 3, 99 economic analysis of law; s. Ökonomische Analyse des Rechts Economics of Happiness 5 13 ff. ECTIL; s. European Centre of Tort and Insurance Law Effektivitätsgrundsatz – positive Dimension 13, 29 – negative Dimension 13, 30 effet utile 3, 20; 6, 19, 35, 67, 70, 84, 95; 7, 26, 30, 38, 51, 57; 10, 45; 13, 18, 28 ff.; 17, 19, 44 ff.; 20, 16 Effizienz 5, 1 ff.; s. a. more economic approach – als Interpretationsleitlinie 18, 48
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einheitliche Auslegung im Überschussbereich 14, 4; s. a. gespaltene Auslegung – Pflicht aus europäischem Recht 14, 25 ff. – Pflicht aus nationalem Recht 14, 35 f. – überschießende Umsetzung von Richtlinien; s. überschießende Umsetzung – Vermutung für 14, 41 Egenberger-Urteil 6, 50 Einheitsrecht; s. internationales Einheitsrecht Einzelfallanwendung 21, 11 Einzelrichter 21, 19 EMRK 7, 38, 60 Entscheidungserheblichkeit; s. Vorabentscheidungsverfahren Entscheidungsstil 22, 16, 40 Entstehungsgeschichte 3, 65; 17, 34 f. Erbrechtsverordnung 25, 60 ergänzende Vertragsauslegung 13, 60; 18, 56 Erwägungsgründe; s. Begründungserwägungen estoppel-Prinzip 6, 19, 70, 84; s. a. Rechtsmissbrauchsverbot EuGH; s. Europäischer Gerichtshof EuGVÜ; s. Europäisches Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen Euro-Marketing 5, 50 Europäische Bankenaufsichtsbehörde 18, 5 Europäische Methodenlehre passim – Aufgaben 17, 3 – Bedeutung des EuGH 3, 104 – Begriff 1, 12; 12, 1 – Unionsverfassungsrecht als Metaordnung 3, 103 Europäische Sozialcharta 17, 32 Europäische Versicherungsaufsichtsbehörde 18, 5 Europäische Vertragsgrundregeln (PECL) 4, 28, 38 f. Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde 18, 5, 33 ff. Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) 9, 17 Europäischer Gerichtshof (EuGH) – Aufgaben 20, 4 f., 43 ff. – Auslegungszuständigkeit 4, 10, 23 ff.; 7, 14 f.; 21, 8 ff. – Begründungsaufwand 17, 5 – Berichterstatter 17, 10 – Dialog mit nationalen Gerichten 20, 63; 22, 37; 25, 44 f.
– Ermessenskontrolle 19, 28 – Funktionsteilung mit nationalen Gerichten 20, 43 ff. – Geschäftsverteilung 17, 10 – Gleichbehandlung der Fälle 12, 10, 33 ff. – Gleichberechtigung aller Amtssprachen 3, 18; 12, 4, 6, 17 – konkret-individuelle Entscheidungsfindung 12, 9 – Konkretisierung von Generalklauseln 11, 7 ff., 17 ff.; s. a. dort – obiter dictum 12, 10 – offensichtliche Unzuständigkeit 20, 43 ff. – Präjudizien; s. dort – Qualität der Rechtsprechung 20, 4 ff. – Rechtskultur 3, 104; 22, 50 – Rechtsquelle 12, 10; 17, 7 – Richterrecht 12, 8 – stare decisis-Doktrin 12, 10; s. a. Präjudizien – Verfahrensordnung 20, 44, 55, 67 – Vorabentscheidungsverfahren; s. dort – Zusammensetzung 20, 3 ff. Europäischer Haftbefehl 22, 23, 32; 25, 41 Europäisches Arbeitsrecht – Arbeitnehmer, Begriff 17, 12, 14 – Arbeitszeit, Begriff 17, 19, 37 f. – Diskriminierungsverbote 17, 62 ff. – Entgelt 17, 22, 50, 52, 64 – grammatikalische Auslegung 17, 24 ff. – Harmonisierungsgrad 17, 12 ff., 45 – historische Auslegung 17, 34 f. – inneres System 17, 34 ff. – systematische Auslegung 17, 18 ff., 28 ff. – teleologische Auslegung 17, 36 ff. – und Grundfreiheiten 17, 53 ff.; s. a. dort – und Unionsgrundrechte 17, 56 ff.; s. a. dort – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 17, 68 – Vertrauensschutz 17, 69 Europäisches Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) 4, 10, 13; 19, 37 Europäisches Gesellschaftsrecht 10, 24 – Aktionärsschutzmodell 9, 55 – Außenverhältnis 9, 45, 60 – Generalisierbarkeit 9, 61 – Informationsmodell 9, 65 – Kompatibilität der Formen 9, 58 – Quotenveränderung 9, 54 – Rechnungslegung 9, 46
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Stichwortregister
– Societas Europea (SE); s. dort – Umstrukturierung 9, 59 – Wettbewerb der Rechtsordnungen 9, 56 Europäisches Kapitalmarktrecht – als Schutzgesetz 18, 58 – Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden; s. dort – bindende technische Standards 18, 11 ff. – Charakteristika 18, 1 – Consultation Papers 18, 33 f. – Durchführungsrichtlinie 18, 27, 39 – Effizienz als Interpretationsleitlinie 18, 48 – Entwicklung 18, 2 ff. – EU-Wertpapierausschuss; s. dort – Feedback Statements 18, 33, 35 – Querschnittsmaterie 18, 1, 49 – Rahmenrichtlinie 18, 27 – Technical Advices 18, 36 – Wertpapierprospekt 18, 37 – Wohlverhaltensregeln 18, 53 ff. Europäisches Kartellrecht – autonome Anpassung der nationalen Wettbewerbs-regeln 19, 33 – Bekanntmachungen 19, 10 – Beurteilungsspielraum der Kommission 19, 28 – dezentralisierte Anwendung 19, 7 – Leitlinien 19, 10 – ökonomische Analyse 19, 13, 18 – Quellen 19, 3 – Selbstbindung der Kommission 19, 10 – und AGB-Kontrolle 19, 17 – unmittelbare Geltung unter Privaten 6, 33 f. Europäisches Privatrecht – Dynamik 10, 46; s. a. Auslegung – dynamische – Entstehung 4, 4, 6 ff. – Grundfreiheiten 4, 7 – Kompetenzen 4, 7 – Ziel der Rechtsangleichung 10, 6; 14, 2 Europäisches Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ) 4, 10, 13 Europäisches Sozialmodell 17, 21 Europäisches Urheberrecht 10, 24; 12, 41 Europäisches Vertragsrecht 4, 18 ff.; 9, 26 ff.; s. a. Vertrag – Aktionsplan der Kommission 4, 12, 18 f., 39 – (Draft) Common Frame of Reference ([D]CFR); s. Gemeinsamer Referenzrahmen
– Gemeinsamer Referenzrahmen; s. dort – Informationsmodell 9, 41 – Wettbewerb der Rechtsordnungen 9, 37 Europäisches Zivilgesetzbuch 6, 20; s. a. Europäisches Vertragsrecht Europarechtskonformität nationalen Rechts 22, 33 f., 36 ff. European Centre of Tort and Insurance Law (ECTIL) 4, 37 European Civil Code 6, 20; s. a. Gemeinsamer Referenzrahmen European Law Institute 4, 20, 37 European Union (Withdrawal) Act 2018 23, 2, 23 ff. – Auslegungsgrundsätze 23, 31 ff. – Rezipiertes Unionsrecht 23, 25 f., 31 ff., 42, 50 EVÜ; s. Europäisches Schuldvertragsübereinkommen Expertenrecht 6, 92 ff.; s. a. Lamfalussy-Prozess; Codes of Best Practice
favor laboris 17, 19 f.; s. a. Auslegungsregeln, Zweifelsregeln Federalism, Economics of 5, 29 Fernabsatzmarkt 5, 55 FKVO; s. Fusionskontrollverordnung Francovich-Urteil 7, 62; 17, 50; 20, 15 Frankreich; s. a. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert – europäisches Recht als Inspirationsquelle der Rechtsfortbildung 22, 12 – Funktion des Richters als Methodenproblem 22, 41 ff. Fransson-Urteil 20, 42, 67 Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert – Aubry 3, 98 – école de l’exégèse 3, 98 – école de la libre recherche scientifique 3, 99 – François Gény 3, 99 – interprétation par analogie 3, 100 – Rau 3, 98 – Wortlautgrenze 3, 98 – Zachariä von Lingenthal 3, 31, 41, 98 Freiburger Kommunalbauten-Urteil 11, 19, 20, 25, 41; 20, 50; 21, 11 Freiburger Schule 19, 22 Freiheitsentziehung 21, 3 Freirechtsschule 3, 42
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Stichwortregister
Frustrationsverbot; s. Vorwirkung von Richtlinien Funktion des Richters 22, 29 funktionale Auslegung; s. Auslegung funktionaler Unternehmensbegriff 19, 16 Fusionskontrollverordnung (FKVO) 19, 9
– Richtlinienumsetzung durch Generalklausel 21, 75 Gesamtanalogie 3, 74; s. a. Analogie Gesamtkanon der Auslegungsmethoden Savignys 3, 64 Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht (SECOLA) 4, 37 f. Gesellschaftsrecht; s. Europäisches Gesellschaftsrecht Gesetzesmaterialien 12, 18; 13, 53, 62 f.; 18, 36, 38; 20, 4, 13 Gesetzesumgehung 12, 42 Gesetzgebungskommission; s. refere legislatif 3, 2 f., 21 gespaltene Auslegung 14, 4; 21, 73; s. a. einheitliche Auslegung im Überschussbereich – überschießende Umsetzung von Richtlinien; s. überschießende Umsetzung – Gründe 14, 42 ff. – im Kapitalmarktrecht 18, 59 Gewaltenteilungsprinzip 12, 14, 51, 53; 16, 2, 7; 19, 25; 22, 6, 19; s. a. institutionelles Gleichgewicht Gleichheit der Staaten 7, 10, 54; 10, 6 Gleichheitssatz, allgemeiner 2, 4; 12, 33 ff. Google Spain-Urteil 20, 29 gouvernement des juges 22, 12 ff. Granulat-Urteil 14, 23 Größenschluss; s. pragmatische Schlüsse Grünbuch 4, 13 Grundfreiheiten – Anwendung unter Privaten 6, 30 ff. – Beschränkungsverbot 4, 7; 6, 28 ff..; 7, 60 – Bindung der Union 6, 33 – Bindung von Privatpersonen 6, 35 ff. – Größenvorteile 5, 50 – Ökonomische Analyse 5, 47 – Rechtsfortbildung 7, 56 f. – Rechtsquellen 6, 28 ff. – und Europäisches Arbeitsrecht 17, 53 ff.; s. a. dort grundfreiheitenkonforme Auslegung; s. a. primärrechtskonforme Auslegung – von abgeleitetem Unionsrecht 8, 7 ff. – – Begriff 8, 9 ff. – – bei Totalharmonisierung 8, 12 ff. – – und grundrechtskonforme Auslegung 8, 14 – – und Mindestharmonisierung 8, 11 – von nationalem Recht 8, 38 f.
Galatea-Urteil 11, 26 García Avello-Urteil 24, 25 GASP; s. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GEK; s. Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Gemeines Recht – Auslegung aus dem „ähnlichen“ Grund 3, 29 – extensive Auslegung 3, 29 – grammatische Auslegung 3, 29 – logische Auslegung 3, 29 Gemeineuropäische Rechtsprinzipien 6, 84 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 7, 42 Gemeinsamer Referenzrahmen 4, 12, 18 ff., 28, 38 ff.; 6, 84; 9, 36; 24, 20 ff. – Auslegungsgesichtspunkte 4, 28 – lex academica 11, 45 – optionales Instrument 4, 20; 5, 31; s. a. Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex Gemeinsames Europäisches Kaufrecht; s. Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Gemeinschaftscharta über die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer 17, 32, 36 Gemeinschaftsgrundrechte; s. Unionsgrundrechte gemeinschaftskonforme Auslegung nationalen Rechts; s. unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts Gemeinschaftsmarke 20, 35 Gemeinschaftsrecht; s. Unionsrecht gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch; s. unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung; s. unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts Generalklauseln 11, 1 ff.; 18, 9; 20, 50; 21, 75 – Konkretisierung; s. Konkretisierung von Generalklauseln
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Stichwortregister
Grundrechte; s. Unionsgrundrechte Grundrechtecharta; s. Charta der Europäischen Grundrechte grundrechtskonforme Auslegung 12, 44; 20, 20 f., 42; 21, 88; s. a. primärrechtskonforme Auslegung – von abgeleitetem Unionsrecht 8, 7 ff. – – Begriff 8, 9 ff. – – und grundfreiheitenkonforme Auslegung 8, 14 – von nationalem Recht 8, 38 f. Gründungstheorie; s. a. Europäisches Gesellschaftsrecht Gruppenfreistellungsverordnungen 19, 8 Gültigkeitsprüfung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren 20, 53 ff. – Kontrolldichte 20, 53 ff. Gültigkeitsvermutung 16, 50
inhaltliche Übererfüllung 14, 11 f., 15 ff.; s. a. überschießende Umsetzung von Richtlinien Insolvenzschutzrichtlinie 17, 13 institutionelles Gleichgewicht 8, 25; 10, 9; 12, 14, 18, 45; s. a. institutionelle Ordnung institutionelle Ordnung 11, 8 ff.; s. a. institutionelles Gleichgewicht Inter-Environnement Wallonie-Urteil 12, 20; 15, 8 ff., 30, 32, 37, 54, 62 f. intergouvernementales Unionsrecht – Auslegung 7, 43 ff., s. a. Auslegung – GASP; s. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – PJZS; s. Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) – Rechtsnatur 7, 7 ff. International Accounting Standards (IAS) 4, 15; 8, 30; 18, 41 ff. International Chamber of Commerce (ICC) 4, 12 internationale Rechnungslegungsstandards 18, 41 ff. internationales Einheitsrecht 4, 4, 14, 16, 18, 32; s. a. UN-Kaufrecht interprétation par analogie 3, 42 interpretatorische Gesamtabwägung 14, 37 interpretatorische Vorrangregel 8, 27; 13, 22, 24 f., 46 ff.; 14, 37
Hanse Law School 4, 41 Harmonisierungskonzept 10, 24; s. a. Mindestharmonisierung bzw. Vollharmonisierung Harmonisierungsziel 4, 3, 26 Handelsvertreterrichtlinie 10, 5, 39; 11, 17 Hayek 5, 7 ff. Heininger-Urteil 10, 24, 31, 62; 13, 50; 14, 24, 36, 40, 49; 20, 45; 21, 18 Hermeneutik der Aufklärung 3, 31 Hierarchie des Primärrechts; s. Primärrecht historische Auslegung; s. Auslegung – historische Horizontalwirkung von Richtlinien; s. Richtlinie
IAS/IFRS-Verordnung 4, 15; 8, 30; 18, 41 ff.; s. a. International Accounting Standards ICC; s. International Chamber of Commerce ICI-Urteil 14, 21 f. im Zweifel für den Arbeitnehmer 17, 19 f.; s. a. Auslegungsregeln, Zweifelsregeln Immobiliarkreditrichtlinie 6, 61; 24, 12, 39 Impact-Urteil 13, 37 implication in factimplied powers 7, 26 in claris non fit interpretatio 7, 47; 25, 10; s. a. acte clair in dubio pro consumente / in dubio pro comsumatore; s. Zweifelsregeln Individualrechtsschutz 16, 2 Informationsasymmetrie 5, 39, 54; 18, 5 Informationsmodell 5, 42; 9, 41 f., 65 ff.
Jahresabschluss-Richtlinien 4, 15; 9, 46 Joint Network on European Private Law (CoPECL) 4, 19, 38 f. judikative Rechtsfortbildung; s. Rechtsfortbildung judizieller Dialog; s. Dialog der Gerichte Junk-Urteil 17, 25, 41; 21, 24
Kaldor-Hicks-Kriterium 5, 3 f., 43 Kanon 3, 64; 20, 11 ff.; s. a. Auslegung Kant 3, 34 Kapitalverkehrsfreiheit 6, 30 f.; 8, 10 Kartellrecht 19, 1 ff.; s. a. Europäisches Kartellrecht Kattner Stahlbau-Urteil 21, 11 Kaufrecht; s. UN-Kaufrecht, Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Keck-Urteil 6, 28; 5, 47, 50, 59; 6, 25 f.; 20, 66 Klarheitenregel 25, 10; s. a. acte clair
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Stichwortregister
Klauselrichtlinie 4, 16; 9, 42; 11, 16, 20, 31 ff., 41; 20, 50; 23, 29; 25, 60 Kleinwort Benson-Urteil 14, 58; 19, 37; s. a. Dzodzi-Urteil Kodifikationsbewegung um 1800 3, 12 Kodifikationsvoraussetzungen 3, 69 Kodifizierte Unionsrechtsakte 10, 23 Kohärenz 10, 20, 24 f.; 17, 62; 20, 27, 30, 65 – der nationalen Rechtsordnungen 17, 14 – durch Rechtsvergleichung 20, 27 Kohärenzgebot 7, 7, 25; 19, 23 ff. Kollektive Maßnahmen 17, 53, 54 f., 60 Kollektivverträge 17, 22, 37 Kollisionsrecht 4, 13; 14, 53 Kollisionsregeln 10, 29 ff. Komitologieverfahren 6, 95; 18, 6 Kommission – Aktionspläne 4, 12, 39; 6, 91; s. a. soft law – Beurteilungsspielraum 19, 28 – Mitteilungen 6, 86; s. a. soft law – Selbstbindung 19, 10 Kompetenz-Kompetenz 12, 15 kompetenzkonforme Auslegung; s. Auslegung – teleologische; primärrechtskonforme Auslegung Konformität – nationalen Rechts mit Unionsrecht; s. Europarechtskonformität nationalen Rechts konkret-individuelle Entscheidungsfindung 12, 9 f., 15 Konkretisierung von Generalklauseln 11, 1 ff. – als Prozess 11, 45 f. – Beispiel: Klauselrichtlinie 11, 31 ff. – durch den EuGH 11, 17 ff. – Konkretisierungsmethode 11, 28 ff. – Leitbilder 11, 44 – Prinzipien 11, 43 – „Recht im Werden“ 11, 48 – Referenzmaßstäbe – – principles, gemeineuropäische 11, 39 – – gemeinschaftsautonome 11, 37 ff. – – Gemeinsamer Referenzrahmen 11, 45 f. – – sekundärrechtliche Referenzordnung 11, 41 f. – Spanien 24, 14, 16 f. – und Vollharmonisierung 11, 23 ff. Konsensprinzip 7, 4, 7, 44 Kontrolldichte bei Gültigkeitsprüfung des EuGH 20, 53 ff.
Konventionalitätskontrolle 22, 3, 12 ff., 38 ff. Konzept des „informierten“ Verbrauchers 9, 22; s. a. Verbraucherleitbild; in dubio pro consumente Kücukdeveci-Urteil 6, 44, 71
Lamfalussy-Prozess 6, 60; 18, 6 Laval-Urteil 17, 54 f. Law and Economics 5, 1 Leffler-Urteil 13, 19 Legalausnahme 19, 7 Leitbilder 10, 47 ff.; 11, 42, 44; s. a. Verbraucherleitbild Leitlinien der Kommission 18, 14 Leur-Bloem-Urteil 14, 28 ff. lex fori 8, 55 f.; 13, 3 ff. lex posterior 7, 5; 10, 30 lex specialis 7, 31; 10, 31 lex scripta 6, 85 lex superior 10, 29; 12, 43 Lindner-Urteil 13, 19 Lissabon-Urteil des BVerfG 6, 8, 12; 20, 15 Loyalitätspflicht 13, 3 ff., 7 Lücke 12, 3, 16, 28 ff., 46, 48, 51; 13, 56 ff.; s. a. Auslegung; Rechtsfortbildung
Maastricht-Urteil des BVerfG 7, 57 Mahnverfahren 4, 13 Mangold-Urteil 6, 39, 49, 71; 8, 41; 15, 11 f., 20 ff., 54, 62; 17, 66; 21, 71 Marktbürger 6, 15 ff.; s. a. Unionsbürger Marktmissbrauchsrichtlinie 5, 53; 18, 26 ff., 48, 58 Marktwirtschaft 5, 6, 17 ff. Marktzutritt 5, 48 f.; s. a. Marktzugang Marktzugang 6, 28; s. a. Marktzutritt Massenentlassungsrichtlinie 10, 4 f., 17; 17, 13, 25, 41 Masterfoods-Urteil 19, 25 materielle Freiheit 9, 19 Mehrdirektionalität des Unionsrechts 6, 13 Mehrebenensystem 5, 29; 6, 10; 9, 2 f.; 16, 37 Mehrheitsprinzip 7, 4, 7 Mehrsprachigkeit des Unionsrechts 12, 6, 17; 25, 47; s. a. Auslegung – Sprachfassungen mehrstufige Regelungstechnik 18, 1 Mehrstufigkeit; s. Mehrebenensystem Methodenlehre – Funktion 3, 2 f., 103 f.
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Stichwortregister
Methodenwahl 3, 64; 12, 53 Mindestharmonisierung 6, 60 ff.; 14, 17; 17, 12 ff.; s. a. Vollharmonisierung Mitbestimmung der Arbeitnehmer; s. Arbeitnehmermitbestimmung mitgliedstaatliche Grundsätze – Demokratie 12, 4 – Rechtsstaatlichkeit 12, 4, 44, 50, 52; 17, 4 Mitteilungen der Kommission 6, 86; s. a. soft law more economic approach 19, 8, 22
Nachweisrichtlinie 17, 41 nationales Recht – Europarechtskonformität; s. Europarechtskonformität nationalen Rechts Neue Institutionenökonomik 5, 9 ff.; s. a. Ökonomische Analyse des Rechts Nichtigkeit einer Gemeinschaftsmarke 20, 35 Nichtigkeitsklage 12, 45 – Feststellung der Nichtigkeit 12, 26, 50 ff. – Rückwirkung 16, 13 Niederlassungsfreiheit 9, 57 Normanwendungsbefehl 16, 7 Normhierarchie 12, 43; 22, 2 ff., 29 f. Normenkollision 13, 27; 16, 77; 22, 36 ff. Normenvergleichung 4, 14, 18 nulla poena sine lege 12, 47
obiter dictum 12, 10 Océano-Urteil 11, 18, 25; 20, 50; 21, 11 öffentliches Recht 21, 1 ff., 54 ff. Ökonomik 5, 1 ökonomische Analyse des Rechts 5, 47; 19, 13, 18 ff. Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex 9, 9 Osterweiterung 25, 1
Pandektenwissenschaft 3, 12; 25, 3 – (Gesetzes)-Analogie 3, 93 – ändernde Auslegung 3, 121 – Arndts 3, 83 – Baron 3, 83 – Brinz 3, 83 – deklarative Auslegung 3, 79 – Dernburg 3, 83 – extensive Auslegung 3, 79
– Freirechtsschule 3, 96 – Gesetzeslücke 3, 93 – Hufeland 3, 80 – Kohler 3, 88 – Kontrolle des Richters 3, 80 – korrigierende Auslegung 3, 83 – Mühlenbruch 3, 83 – Puchta 3, 86 – restriktive Auslegung 3, 79 – Richterbindung 3, 82 – Vangerow 3, 83 – Verbot der Rechtsverweigerung 3, 82 – Windscheid 3, 90 ff. – Wortlautgrenze 3, 79, 81 Pareto-Kriterium 5, 4 Parteierklärungen; s. a. Auslegung Pauschalreiserichtlinie 24, 12; persuasive authority 4, 34 Pfeiffer-Urteil 13, 9 f., 16, 23 ff., 27; 20, 37, 40 PJZS; s. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Polen – Analogie 25, 14 f. – Auslegung nationalen Rechts 25, 8 ff., 50 ff. – Beitritt zur EU 25, 1 – Gerichtssystem 25, 4 f. – Justizreformen 25, 2, 16 ff. – Rechtstheorie 25, 8 – Rechtssystem 25, 3 – unionsrechtskonforme Rechtsanwendung 25, 42 ff. – Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre 25, 6 f. – Vorlage durch nationale Gerichte 25, 50 ff. – Vorlagepraxis 25, 50 ff. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) 7, 3 Positivismus 3, 44; Posner, Richard 5, 6 Präjudizien – EuGH 12, 10, 22 ff.; 16, 14 f., 18; 17, 7; 20, 64 ff.; 23, 23 – Vereinigtes Königreich 23, 4 f., 23 f. pragmatische Schlüsse 10, 34; 17, 32, 43 – a fortiori 12, 36 – a maiore ad minus 17, 43 – a simili 3, 33 – e contrario 10, 34; 12, 31 praktische Wirksamkeit; s. effet utile
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Primärrecht 6, 10 f., 19, 27 ff.; 20, 13, 17 s. a. Auslegung – allgemeine Rechtsgrundsätze; s. dort; s. a. Unionsgrundrechte – Bedeutung der Rechtsvergleichung 4, 7 ff. – Hierarchie 7, 13 – im Rahmen verfassungskonformer Auslegung 8, 43 – Rechtsfortbildung 7, 57 ff. primärrechtskonforme Auslegung 7, 13; 8, 3, 7, 38, 44; 12, 43 ff.; 17, 67; 20, 20 f.; s. a. primärrechtskonforme Rechtsfortbildung – als interpretatorische Vorrangregel 8, 27 – Begriff 8, 4 – des abgeleiteten Unionsrechts/Sekundärrechts 8, 7 ff.; 10, 52 – Funktion 8, 3, 25 – Geltungsgrund 8, 20 ff., 44 ff. – grundfreiheitenkonforme Auslegung 8, 9 ff., 42; s. a. dort – grundrechtskonforme Auslegung 8, 9 ff.; 42; s. a. dort – kompetenzkonforme Auslegung 10, 41; 17, 67 – methodologische Grenze 8, 31 ff. – mögliche Bezugspunkte 8, 8, 39 – nationalen Recht 8, 38 f. – Reichweite 8, 29 ff. – Stellung im System der juristischen Methodenlehre 8, 28 – Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien 8, 27 primärrechtskonforme Rechtsfortbildung 8, 32 ff., 35, 57 ff.; 12, 45; 20, 15; s. a. primärrechtskonforme Auslegung – Analogieschluss 8, 35 – Grundrechte 12, 4, 44, 47, 50 – methodologische Grenzen 8, 57 ff. – Mittel der 8, 35 – teleologische Reduktion 8, 35 – Verbot des contra-legem-Judizierens 8, 36; 12, 3, 27, 49 primärrechtsorientierte Auslegung 8, 43 principles, gemeineuropäische 11, 39 Principles of European Contract Law (PECL) 4, 28, 32, 37; 11, 46; 24, 19 f. Principles of European Insurance Contract Law (PEICL) 5, 31
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 4, 13; 6, 58; 8, 25; 10, 45; 11, 7; 12, 6, 13, 15, 30; 14, 2, 26 Prinzip der Verfassungsorgantreue 12, 20 Privatautonomie 17, 28 Privatrecht, s. a. Vertragsrecht – binnenmarktfinales 6, 22 – dispositives 6, 32 – klassisches 6, 20, 53 – regulatorisches 6, 20 ff., 53 – regulierendes; s. regulatorisches – zwingendes 6, 32 Proportionalitätskontrolle 22, 13 Pupino-Urteil 13, 3
Quelle-Urteil 13, 58, 61 f., 64, 66; 14, 22, 36, 40; 21, 71; 25, 59 question prioritaire de constitutionnalité 22, 1, 8, 32, 36 ff. QPC; s. question prioritaire de constitutionnalité
Rabobank-Urteil 10, 27 Rahmenbeschluss 13, 3; 21, 63; 22, 32 rahmenbeschlusskonforme Auslegung 13, 3 Rahmenrichtlinie 18, 7 Rangfolge der Auslegungsregeln 3, 64; 7, 40; 25, 9 ff. Rangverhältnis der Rechtsquellen 7, 31 Ratingagenturen 18, 5 ratio legis 3, 48 ratio scripta 24, 24 Rechnungslegung 9, 46 Recht auf Vergessenwerden 20, 29 Rechtsakte – kodifizierte 10, 23 – Rahmenbeschluss; s. Rahmenbeschluss Rechtsangleichung 4, 13 ff.; 6, 53; 10, 6, 63; 14, 2 Rechtsfindung 13, 17 Rechtsfortbildung 3, 78; 4, 3; 7, 38, 57, 65, 68; 8, 32, 57; 12, 1 ff.; 13, 17 ff., 51 ff.; 17, 49; 20, 15, 38 ff.; 22, 11, 27, 47; s. a. Analogie, teleologische Reduktion – Analogieschluss 8, 58 – beschränkte Regelungszuständigkeit 12, 13 – contra legem 8, 59; 13, 36 ff., 41 f., 51 ff., 61 ff., 65 ff.; 22, 38 ff.; s. a. dort
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Stichwortregister
– Grenze 12, 2; 13, 52 ff., 65 ff., 73 f. – Grundfreiheiten 7, 59 – Grundrechte 7, 60 – im Europäischen Arbeitsrecht 17, 49 – im Primärrecht 7, 56 ff. – Instrumente 13, 60 – Lücke 12, 3, 16, 28 ff., 46, 48, 51; 13, 56 ff. – Mittel der 8, 58 – primärrechtskonforme 8, 32 ff., 57 ff.; s. a. dort – Rückwirkung 16, 9 – richtlinienkonforme; s. richtlinienkonforme Rechtsfortbildung (nationalen) Rechts – Schranken 13, 61 f. – – durch Grundentscheidung des Gesetzgebers 13, 63 ff., 70 – – Gesetzesmaterialien 13, 66 ff. – – Wille des Gesetzgebers 13, 68 – teleologische Reduktion 8, 58; 12, 38 ff., 42 – Transparenzgebot 12, 28 – überlieferte Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EU 12, 8 – und Begründungserwägungen 6, 78 – und teleologische Auslegung 7, 57 – Unterscheidung von Auslegung 17, 2 – Wortlautgrenze/Wortsinngrenze 3, 79, 81; 10, 9, 18 f.; 12, 1 ff., 16 f., 27, 42, 45, 47; 13, 18, 49; 21, 71; 25, 9 ff. – Zulässigkeit 8, 33 f.; 13, 52 ff. Rechtsgrundsätze – allgemeine; s. dort – effet utile; s. dort – implied powers; s. dort – völkerrechtliche 7, 54 Rechtskultur des EuGH; s. Europäischer Gerichtshof (EuGH) Rechtsmissbrauchsverbot 9, 3; s. a. estoppelPrinzip Rechtsnatur – des Unionsrechts 7, 4 ff. – des intergouvernementalen Unionsrechts 7, 7 f. – von Begründungserwägungen; s. dort Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union 7, 3 Rechtsprechungsänderung 12, 24 ff.; 17, 8; 20, 66 f. – Rückwirkung 16, 10 – guter Glaube 16, 30
Rechtsquellen 6, 1 ff.; 12, 10; 17, 7; 22, 8; 25, 50 – Entscheidungen des EuGH 12, 10; 17, 7 – gemeineuropäische Rechtsprinzipien 6, 84 – Primärrecht 6, 27 ff. – Rangverhältnis 7, 31 – Richtlinien 6, 54 ff. – soft law 6, 86 ff.; s. a. soft law – Verordnungen 6, 79 f. Rechtsquellenlehre 6, 1 ff. – angelsächsische 6, 7 – europäische 6, 1, 7 – französische 6, 7 Rechtssicherheit 7, 35; 12, 10, 20 f., 25 f.; 13, 18, 72, 74; 16, 3 Rechtsstaatsprinzip 12, 4, 44, 50, 52; 17, 4 Rechtsunterricht 4, 40 Rechtsvereinheitlichung 4, 4; 6, 53, 58; 10, 40, 44 Rechtsvergleichung 4, 1 ff.; 7, 41, 54 f.; 17, 47 f.; 20, 7 f., 24 ff. – Aufwand 4, 21 – Bedeutung bei der Rechtssetzung 4, 6 ff. – Bedeutung bei der Rechtsanwendung 4, 22 ff.; 7, 35 ff., 53 f. – Einsatz in Forschung und Lehre 4, 36 ff. – im Europäischen Arbeitsrecht 17, 47 f. – principles, gemeineuropäische und Konkretisierung von Generalklauseln 11, 39; s. a. dort référé législatif 3, 21, 26, 77 Regelsetzung – dezentrale 9, 6 – zentrale 9, 6, 15 Relativität der Rechtsbegriffe 6, 12; 10, 20; 14, 35 Rezipiertes Unionsrecht 23, 25 f., 31 f., 42, 50 Richterrecht 12, 8, 15; s. a. Präjudizien Richtlinie 4, 10; 6, 54 ff.; 13, 1 ff. – Belastungsverbot 13, 14 f., 40 – fragmentarische Rechtssetzung 6, 58 ff. – grundrechtskonforme Auslegung 8, 41 – Horizontalwirkung/Direktwirkung 6, 68 ff.; 8, 41; 13, 12 ff.; 15, 20 ff.; 22, 27 – inhaltliche Übererfüllung; s. dort – mediatisierte Rechtssetzung 6, 55 ff. – mindestharmonisierte 6, 60 ff. – opt-out 14, 13 – Rechtsfolgen 6, 67 – richtlinienkonforme Auslegung; s. dort – Sanktionen 6, 67; 17, 35, 46
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Stichwortregister
– Transparenzgebot 13, 50; 14, 33, 35 – überschießende Umsetzung; s. dort – Umsetzung durch Rechtsprechung 15, 44 ff.; 21, 84 f. – Umsetzungstechniken in Spanien 24, 24 ff. – Umsetzungsverpflichtung 13, 1, 11, 43; 15, 3; 21, 64 ff.; 22, 30 – Umsetzungsfrist 13, 11; 15, 3 f. – unmittelbare Anwendbarkeit 6, 68 ff.; 13, 12 ff., 30; 15, 5, 20 ff.; 17, 51; 21, 61, 65; 24, 40 f.; 25, 52 – unmittelbare Wirkungen 6, 68 ff. – vollharmonisierende 6, 60 ff. – Vertikalverhältnis 13, 14 – Verfahrensrecht (nationales) 13, 15, 30 – Vorwirkung; s. Vorwirkung von Richtlinien – missbräuchliche Klauseln; s. Klauselrichtlinie Richtlinien und Lücken 12, 31; 13, 56 richtlinienkonforme Auslegung 4, 32; 13, 1 ff., 43 ff.; 21, 69 ff.; 24, 43 f. – Adressat; s. Verpflichtete – Anwendungsbereich 13, 45 – Begriff 13, 9, 17, 24 – bei quasi wörtlicher Umsetzung 13, 31 – Gegenstand – – nationales Recht der lex fori 13, 3 ff. – – Recht anderer Mitgliedstaaten 13, 6 ff. – Gesetzgeberwille 13, 44 – Grundentscheidung des Gesetzgebers 13, 53, 55, 66 f. – Grundlagen – – im Unionsrecht 13, 3 ff., 10 f. – – im nationalen Recht 13, 43 f. – interpretatorische Vorrangregel 13, 22, 25, 46 ff.; 14, 37 – im Vereinigten Königreich 23, 35 ff.; s. a. Vereinigtes Königreich – (methodische) Vorgaben aus dem Unionsrecht 13, 25 ff. – – Änderung der Rechtsprechung 13, 32 f. – – contra legem 8, 36 f.; 12, 27; 13, 29, 37 f.; 20, 39 ff.; 23, 35; 24, 38; 25, 55 ff. – – Äquivalenzgrundsatz 13, 26 f., 29 – – Effektivitätsgrundsatz 13, 28 ff. – – Vermutung richtlinienkonformer Umsetzung 13, 23 ff. – – interpretatorische Vorrangregel 13, 22, 25; 14, 37
– Schranken 13, 36 ff., 41 f., 61 ff. – – nationales Verfassungsrecht 13, 41 f. – Strafrecht 13, 38 f., 40, 49; 20, 37; 25, 2 – Subsidiarität 13, 14 – Umsetzung im nationalen Recht 13, 43 ff. – – Auslegungsmethoden 13, 45 – – interpretatorische Vorrangregel 13, 22, 25, 46 ff.; 14, 37 – – Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 13, 9 ff., 39 ff., 43 ff., 55 ff.; s. a. überschießende Umsetzung von Richtlinien – – Rechtsfortbildung; s. richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Recht – – Wille des Gesetzgebers 13, 44, 54 – – Zeitpunkt 13, 11, 40; 15, 27 f., 39 ff. – Umsetzungsfrist 13, 11, 40; 15, 3 f. – – bei Umsetzung vor Ablauf der Umsetzungsfrist 13, 44; 15, 27 f. – – im Rahmen der Vorwirkung von Richtlinien 15, 39 ff. – und grundrechtskonforme Auslegung 8, 40 f. – und nationale Auslegungsmethoden 13, 45 – und Rechtsfindung 13, 17 ff. – und Rechtsfortbildung 13, 51 – und Verfahrensrecht (nationales) 13, 15, 30 – Verhältnis zur unionsrechtskonformen Auslegung 13, 9 f. – Verhältnis zur unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung 13, 12 ff., 30 – Verpflichtete 13, 4 f. – Verpflichtungsumfang 13, 5, 24, 26 – Vertrauensschutz 13, 73 ff.; 16, 80 ff. – Zeitpunkt 13, 11, 44 – zu Lasten Einzelner 13, 40 richtlinienkonforme Rechtsfindung; s. richtlinienkonforme Auslegung, richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Rechts richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Rechts 13, 51 ff.; 20, 38 ff. – Grenzen 13, 61, 65 ff. – Grundlage 13, 51 ff. – Instrumente 13, 60 – Lücke als Voraussetzung 13, 56 ff. Römisches Recht – actiones – – actio directa 2, 32 – – actio de dolo 2, 34 – – actio empti 2, 11 – – actio in factum 2, 34
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– – actio utilis 2, 32, 34 – – actio venditi 2, 11 – argumentum a simili 3, 34 – außerrechtliche Wertungen 2, 5 – bona fides 2, 11, 21, 27 – Celsus 2, 3, 5, 8 f., 11 f. – condictio 2, 12 – – datio sine causa 2, 12 – – iniusta causa 2, 12 – Deduktion 2, 5, 9 ff., 35 – Edikt 3, 22 – Gleichheitssatz, allgemeiner 2, 4 – Julian 2, 27 – Justinian 2, 34 – Kauf 2, 8, 11 – – periculum emptoris 2, 8, 11 – lex Aquilia 2, 15 ff. – mens legis 3, 23 – Prokulianer 2, 9 – Sabinianer 2, 9 – sententia legis 3, 23 – stipulatio 2, 21 ff. – – stipulatio habere licere 2, 23 – Tausch 2, 11 – verba 3, 23 – voluntas 3, 23 – Zwölftafelgesetz 2, 14 f., 21 Rückwirkung von Rechtsprechung 12, 21, 24 ff.; 13,33, 73 ff.; 16, 1 ff.; 17, 69 – Auslegung 16, 8 – bei richtlinienkonformer Auslegung 13, 59; 16, 80 ff.; 20, 39 – Beschränkung; s. Rückwirkungsbeschränkung – Inzidenztrüge 16, 13 – Nichtigkeit 16, 13 – und Präjudizien des EuGH 16, 14 f. – Rechtsprechungsänderung 16, 10 – tatsächlicher Vergangenheitsbezug 16, 4 – Ungültigkeit 16, 13 – Unwirksamkeit 16, 12 f. Rückwirkungsbeschränkung – Antrag 16, 74 – Ausnahme für Rechtsbehelfsführer 16, 70 f. – Binnenmarkt 16, 55 – Dogmatik 16, 59 – geschützte Rechtsposition 16, 51 – guter Glaube 12, 25; 16, 25 ff. – Irrtum 16, 27 f.
– Kompetenz 16, 16 ff. – Konnexität; s. Rückwirkungsbeschränkung – Präklusion – und mitgliedstaatliches Recht 16, 77 ff. – Nachholung 16, 65 – öffentliche Interessen 16, 65 – Präklusion 16, 22 ff., 35, 61 – räumliche Reichweite 16, 72 – Regelungslücke 16, 53 ff. – und richtlinienkonforme Auslegung 16, 80 ff. – schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen 12, 25; 16, 40 ff. – Selbstbindung der Union 16, 29 – und Staatshaftung 16, 84 – Trittbrettfahrer 16, 39 – Übergangsfrist 16, 66 ff. – Vertragsverletzungsverfahren 16, 19, 31 – Vertrauensschutz 16, 50 – völkerrechtliche Verträge 16, 54, 56 – Voraussetzungen 16, 20 ff. – Zeitpunkt des guten Glaubens 16, 38 Rügeverkümmerungs-Beschluss des BVerfG 13, 56, 62
Sachentscheidung des Gesetzgebers 14, 38 ff., 44, 52 Savigny 3, 30-78 Schiedsverfahren 20, 34 SE; s. Societas Europea SECOLA; s. Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht Sekundärrecht 4, 10 ff.; 6, 10, 53 ff.; 7, 13 – allgemeine Rechtsgrundsätze 12, 41; 20, 29 – Gültigkeitskontrolle 7, 8 – historische Auslegung 18, 35 – Materialien 10, 35 ff.; 12, 18 – Regelungsentwürfe 10, 27 f. – Relativität der Rechtsbegriffe 10, 20 – Rückwirkung 12, 21 – Sperrwirkung 12, 20 Selbstbestimmung 9, 43 Selbstverständnis des Richters 22, 39 sens clair 3, 38, 41; s. a. acte clair SEPA 6, 94 SIEC-Test 19, 9 Significant impediment of effective competition; s. SIEC-Test single rulebook für die Finanzmärkte 18, 5
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Stichwortregister
singularia non sunt extendenda 8, 23; 10, 62 ff.; 12, 35; 17, 28 Sitztheorie; s. Europäisches Gesellschaftsrecht Smart Regulation 20, 4 smart sanctions 16, 55 Societas Europea (SE) 6, 81 f.; 9, 17 soft law 6, 86 ff. – Aktionspläne 4, 12, 39; 6, 91 – Empfehlungen 6, 90 – Mitteilungen 6, 86 Souveränität 22, 14, 23, 31 Sozialpartner; s. Europäisches Arbeitsrecht Spaak-Bericht 5, 20 Spanien – Anwendungsvorrang des Unionsrechts 24, 7 f. – Beitritt zur EG 24, 2 – Covid19-Krise 24, 3 – Konkretisierung von Generalklauseln 24, 14, 16 f. – Rechtspluralismus 24, 11 ff. – spanisches Privatrechtssystem 24, 4 ff. – Subsidiaritätsprinzip 24, 11 – Umsetzungstechniken 24, 24 ff. – unionsrechtlicher Haftungsanspruch 24, 10 – Verbraucherrechterichtlinie 24, 29 ff. – Vorwirkung von Richtlinie 24, 42 – Wirtschafts- und Finanzkrise 24, 2 Spedition Welter-Urteil 13, 31 Sperrwirkung 12, 20; 15, 17 f.; s. a. Vorwirkung Spezialitätsgrundsatz 10, 31 Sprachfassungen; s. Auslegung Staatensouveränität 7, 10, 45, 50 Staatshaftungsanspruch; s. unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch stare decisis-Doktrin 12, 10; 20, 66; 23, 4 ff. Stichting-Urteil 15, 14 Strafrecht 21, 5 ff. Strukturentscheidung des Gesetzgebers 14, 38 ff., 52 Study Group on a European Civil Code 4, 37 Sturgeon-Urteil 12, 34; 13, 19; 20, 17 subjektive Theorie; s. Auslegung – Ziel Subsidiarität; s. Subsidiaritätsprinzip Subsidiaritätsprinzip 9, 20; 12, 15, 30, 40; 14, 2; 24, 11 supranationales Unionsrecht – Adressaten; s. Mehrdirektionalität
– Anwendbarkeit unter Privaten 6, 18 f., 35 ff., 48 ff., 68 ff. – Anwendungsvorrang 6, 12; 7, 5, 8, 15; 10, 29; 16, 79; 19, 32; 22, 32; 23, 24 ff.; 24, 7 ff.; 25, 44 f. – Auslegung; s. Auslegung – begrenzte Regelungskompetenz 12, 6; s. a. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – dynamische Entwicklung 7, 11, 45; 17, 30 – Mehrdirektionalität 6, 13 – Mehrstufigkeit 6, 10 ff. – Rechtsnatur 7, 4 ff. – Rechtsordnung 7, 9 – Vorrang vor nationalem Recht; s. Unterpunkt Anwendungsvorrang Synergieeffekte 5, 50 System der Europäischen Finanzmarktaufsicht 18, 5 systematische Auslegung; s. Auslegung – systematische Systembildung 3, 10, 69; 17, 18 ff.
Tabakwerberichtlinie 5, 24 Tarifautonomie 8, 54; 17, 22, 47 f., 58; s. a. Unionsgrundrechte teleologische Auslegung; s. Auslegung – teleologische teleologische Extension 6, 78; 13, 26, 60 teleologische Reduktion 6, 78; 8, 35, 58; 12, 38 ff., 42; 13, 26, 60, 66; 21, 71 Textgleichheit von Normen bei Richtlinienumsetzung 14, 14 theorie de la loi-écran 22, 19 Thibaut 3, 31 f. Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS); s. Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum Transparenz 3, 17; 12, 18, 28; 14, 33, 35; 20, 13 Travaux préparatoires 20, 13; s. a. Gesetzesmaterialien Treu und Glauben 6, 84; 11, 39; 20, 22
Übereinkünfte der EU 20, 23 überschießende Umsetzung von Richtlinien 14, 1 ff.; 19, 34; 21, 72 ff. – Abgrenzung 28, 17 – – fakultative Umsetzung 14, 13
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Stichwortregister
– – inhaltliche Übererfüllung 14, 11 f.; s. a. dort – – opt out 14, 13 – – textgleiche Normen 14, 14 – Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung 14, 37 – Beispiel: Fristsetzungserfordernis nach § 323 Abs. 1 BGB 14, 20, 38 f. – einheitliche Auslegung im Überschussbereich; s. dort, s. a. gespaltene Auslegung – europarechtliche Zulässigkeit 14, 15 ff. – Fallgruppen 14, 5 ff. – gespaltene Auslegung; s. dort, s. a. einheitliche Auslegung im Überschussbereich – und IPR 14, 53 – und Vollharmonisierung 14, 18 – Zuständigkeit des EuGH 14, 54 ff. – – Vorlagemöglichkeit 14, 57 f. Übersetzung von Unionsrecht 25, 49 UGP-Richtlinie 11, 1, 26, 41 Ultra-vires-Grenze 20, 54 24, 24 Umgehungsverbot 12, 42 Umkehrschluss 10, 34; 12, 31 Umsetzung von Richtlinien; s. Richtlinie Umsetzungsgesetz 22, 25 f., 30 ff. Umwelthaftungsrichtlinie 4, 13 UN-Kaufrecht 4, 18, 33; 10, 39 Unanwendbarkeit von nationalem Recht 13, 15 ungerechtfertigte Bereicherung 20, 27 UNIDROIT 4, 12, 37 Unionsbürger 6, 16; s. a. Marktbürger Unionsgrundrechte 6, 39 ff.; 7, 60; 12, 4, 44, 47, 50; 17, 56 ff.; 20, 21, 24, 29, 36, 42, 62, 67; – Analogieverbot 12, 17, 47 f. – Bindung der Mitgliedstaaten 6, 42 ff. – Bindung der Union 6, 40 ff. – Bindung von Privatpersonen 6, 48 ff. – Grundrechtecharta 6, 40, 42 ff.; 7, 60; 12, 4, 50 – Grundsätze 6, 72 – im Europäischen Arbeitsrecht 17, 56 ff.; s. a. dort – Rechtsfortbildung 4, 8; 7, 61 Unionsrecht; s. a. supranationales Unionsrecht, intergouvernementales Unionsrecht – Adressaten; s. Mehrdirektionalität – Anwendbarkeit unter Privaten 6, 18 f., 35 ff., 48 ff., 68 ff.
– Anwendungsvorrang 4, 32; 6, 12; 7, 5, 8, 15; 10, 29; 16, 79; 19, 32; 22, 32; 23, 24 ff.; 24, 7 ff.; 25, 44 f. – Auslegung; s. dort – Auslegungswirkung 22, 44, 47 – begrenzte Regelungskompetenz 12, 6; s. a. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – Durchführung 20, 42, 67 – dynamische Entwicklung 7, 11, 45; 17, 23, 30 – Entschädigungswirkung 22, 26, 45 – Ersetzungswirkung 22, 44 f., 47 – intergouvernementales; s. dort – Mehrdirektionalität 6, 12 – Mehrstufigkeit 6, 10 ff. – Rangverhältnis 7, 31 – Rechtsnatur 7, 4 ff. – Rechtsordnung 7, 9 – Stellung 22, 3 – supranationales; s. dort – Übersetzung 25, 49 – und französisches Verfassungsrecht 22, 29 ff. – und Völkerrecht 20, 22 f.; 22, 18 – unmittelbare Anwendbarkeit 22, 26 f., 44 – unmittelbare Geltung 22, 44 – Verdrängungswirkung 22, 46 – Vorrang vor nationalem Recht; siehe Anwendungsvorrang unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts 3, 19; 6, 56 f.; 8, 44 ff.; 13, 9 f. 20, 36 ff.; 21, 70; 25, 50 ff. – Grundlagen im Unionsrecht 13, 10 – interpretatorische Vorrangregel 8, 52; s. a. richtlinienkonforme Auslegung – nationales Recht anderer EG-Mitgliedstaaten 8, 54 f.; 13, 6 ff. – nationales Recht des forum 8, 54; 13, 3 ff. – Reichweite 8, 54 ff. – Schranken 13, 35 ff. – Stellung im System der juristischen Methodenlehre 8, 52 – Verhältnis zur richtlinienkonformen Auslegung 13, 9 f. – Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien 8, 52; 13, 45 unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch 4, 8; 7, 38, 61; 16, 84; 21, 77; 24, 10 UNIS-Urteil 16, 45 ff.
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Stichwortregister
unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien; s. Richtlinie – unmittelbare Anwendbarkeit unmittelbare Wirkung von Richtlinien; s. Richtlinie – unmittelbare Wirkung Unternehmensaußenrecht 9, 43 Unternehmensbegriff 19, 16 Utilitarismus 5, 3 ff.
Van Gend en Loos-Urteil 6, 17 Verbot des contra-legem-Judizierens 8, 36; 12, 3, 27, 49; 13, 36 ff.; s. a. contra legem, primärrechtskonforme Rechtsfortbildung Verbraucherleitbild 5, 45; 10, 47 f. Verbraucherrecht 6, 23, 61, 64; 9, 32; 10, 20, 57 ff.; 19, 22; s. a. Verbraucherrechterichtlinie Verbraucherkreditrichtlinie 6, 45, 52, 58, 61; 10, 30, 46 Verbraucherrechterichtlinie 6, 61, 66; 5, 54 ff.; 9, 42; 10, 24, 30; 11, 23, 27; 24, 29 ff.; Verbraucherwohlfahrt 19, 22 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 4, 13; 6, 66; 9, 26; 10, 4, 39, 66; 11, 15; 14, 1, 7, 20 ff.; 24, 12, 30 Vereinigtes Königreich – Auslegung europäischen Rechts 23, 27 ff. – Auslegung des Rechts des Vereinigtes Königreichs – – Wortlaut 23, 14 ff. – – literal rule 23, 15 f. – – Sinn und Zweck 23, 18 ff. – doctrine of binding precedent 23, 4 ff. – doctrine of implied repeal 23, 24 – doctrine of parliamentary souvereignty 23, 14 – Gerichtssystem 23, 4 – Methodik des Fallrechts 23, 7 ff. – Präjudizienbindung 23, 5 f. – – und Auslegung 23, 21 f. – ratio decendi 23, 7 ff., 11 f. – richtlinienkonforme Auslegung 23, 35 ff. – – Auswirkungen auf das Verständnis des Common Law 25, 50 – – des zur Umsetzung erlassenen Rechts 23, 38 ff. – – sonstigen Rechts im Anwendungsbereich der Richtlinie 23, 43 ff. – Rechtsschöpfung durch Gerichte 23, 11 f. – Rechtssysteme 23, 1
– überschießende Umsetzung von Richtlinien 21, 72 – Vorlagepraxis 23, 34 ff. – Vorrang des europäischen Rechts 23, 25 f.; s. a. Unionsrecht – Anwendungsvorrang Vereinigungsfreiheit; s. Unionsgrundrechte Vereinigungstheorie; s. Auslegung, Ziel Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten 16, 78 Verfahrensordnung des EuGH 20, 44, 55, 67 Verfassungsrecht – als Schranke richtlinienkonformer Auslegung 13, 41 f., 61 ff. Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 7, 55, 61 Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite 6, 93 Verhaltensökonomik s. Behavioural Law and Economics Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 12, 20, 44; 17, 68; 20, 24, 49, 54 ff., 61 ff. Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlage 20, 43 Verordnung 6, 79 ff. – Bedeutung für das Europäische Privatrecht 6, 79 – Abgrenzung des Anwendungsbereichs 6, 80 ff. verspätete Umsetzung, Haftung bei 21, 82 ff. Vertrag von Lissabon 7, 3, 7, 14 Vertrauensschutz 6, 84; 11, 43; 12, 17, 21, 24 ff., 53; 13, 73 ff.; 16, 1 ff.; 17, 69 Verweisung auf das nationale Recht 10, 4, 6 f., 13; 20, 35 Verwerfungsmonopol des EuGH 22, 36 ff., 42 VG Wort-Urteil 15, 35 VO 1/2003 19, 7 Völkerrecht – Monismus 22, 19 – Ratifizierung 22, 3 – und französisches Recht 22, 18 ff. – und Unionsrecht 20, 19 22, 18 – völkerrechtlicher Vertrag 22, 3, 18 ff. völkerrechtliche Verträge 20, 22 völkerrechtskonforme Auslegung 20, 22 Vollharmonisierung 6, 60 ff.; 11, 23, 27; 13, 31; 14, 17; s. a. Mindestharmonisierung – und Konkretisierung von Generalklauseln 11, 23 ff.; s. a. dort
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Stichwortregister
– und überschießende Umsetzung von Richtlinien 14, 17; s. a. dort Vorabentscheidungsverfahren 7, 15; 20, 44 ff., 55 ff.; 22, 32, 36 f.; 25, 46 ff., 50 ff. – Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen 21, 51 – bei europarechtsorientierter Auslegung 19, 37 f. – bei überschießender Umsetzung von Richtlinien 14, 54 ff. – Entscheidungserheblichkeit 20, 43, 52, 55; 21, 14 – grundsätzliche Bedeutung 21, 20 – Funktionsteilung EuGH/nationale Gerichte 20, 43 ff.; 21, 49 – Kammervorlage 21, 20 – Kosten 21, 46 – mündliche Verhandlung beim EuGH 21, 44 – Parallelverfahren 21, 37 – Rückwirkung 16, 1 ff. – schriftliche Vorverfahren bei EuGH 21, 42 – Verfahren vor den obersten Gerichtshöfen 21, 33 ff. – Verfahren vor dem EuGH 21, 42 ff. – und Konkretisierung von Generalklauseln 11, 10 – Verfahrensakten 21, 41 – Vorlageberechtigung 21, 14 ff., 19 f. – Vorlagebeschluss 20, 55, 61; 21, 35 ff. – Vorlageermessen 21, 21 – Vorlagepflicht 12, 10; 21, 22 – – Ausnahmen 21, 23 ff. – – Folgen einer Verletzung 21, 31 ff. – Vorlagepraxis in Polen 25, 50 ff. – Vorlagepraxis im Vereinigten Königreich 23, 34 ff. – Vorlagerecht 21, 14 f. – Vorlagezeitpunkt 21, 16 ff. Vorrang vor nationalem Recht; s. supranationales Unionsrecht – Anwendungsvorrang Vorratsdatenspeicherung 20, 21 Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht 4, 20; 5, 31; 6, 20, 81 f.; 9, 37 ff.; 11, 14, 39, 47 Vorwirkung von Richtlinien 12, 20; 13, 11; 14, 5; 15, 1 ff. – auf Verwaltungshandeln 15, 59 ff. – Bindungswirkung von Richtlinienvorschlägen 15, 6
– Frustrationsverbot 12, 20; 13, 11; 15, 7 ff., 18 ff. – Rechtsfortbildung 12, 20 – richtlinienkonforme Auslegung 13, 11; 15, 27 f., 39 ff. – Spanien 24, 43 f. – Wirkungen unter Privaten 15, 20 ff.
Walt Wilhelm-Urteil 19, 32 Weber/Putz-Urteil 13, 49, 64; 14, 23; 21, 71 Weiss-Urteil 20, 54 ff. Wells-Urteil 6, 73 Wettbewerb der Rechtsordnungen 9, 5 – Europäisches Gesellschaftsrecht 9, 56 – Europäisches Vertragsrecht 9, 37 Wettbewerb der Regelungsgeber; s. Wettbewerb der Rechtsordnungen Widerrufsrecht(e) 5, 43, 54 ff.; 9, 42 f.; 10, 42 f.; 14, 24, 49 ff. Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) 7, 44, 52, 56, 64; 12, 6, 20; 15, 9; 20, 22 Willenserklärung – Gesetz als 3, 95 Wirtschaftsordnung 5, 17 Wirtschaftsverfassung 5, 18 Wohlverhaltensregeln; s. Europäisches Kapitalmarktrecht Wortlautauslegung; s. Auslegung – grammatikalische Wortlautgrenze; s. Rechtsfortbildung – Wortlautgrenze/Wortsinngrenze Wortsinngrenze; s. Rechtsfortbildung – Wortlautgrenze/Wortsinngrenze WVK; s. Wiener Vertragsrechtskonvention
Zahlungsdiensterichtlinie 6, 58, 61 Zivilrechtskodifikationen 4, 43 Zollkodex 14, 27 Zusammenarbeit in Justizsachen; s. a. Dialog der Gerichte Zusammensetzung des EuGH; s. Europäischer Gerichtshof Zweck; s. Auslegung – teleologische Zweiebenensystem 9, 2; s. a. Mehrebenensystem Zweifelsregeln 10, 56 ff.; 17, 19 f. – zugunsten Arbeitnehmer 17, 19 f. – zugunsten Verbraucher 10, 57 ff.; 11, 43 zwingende Gründe des Allgemeininteresses 17, 53; s. a. Grundfreiheiten