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German Pages 1628 Year 2023
Dirk Ehlers und Claas Friedrich Germelmann (Hrsg.) Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten De Gruyter Studium
Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten 5., neu bearbeitete Auflage
Herausgegeben von Dirk Ehlers und Claas Friedrich Germelmann Bearbeitet von Ulrich Becker, Julius Buckler, Christian Calliess, Claus Dieter Classen, Andrea Edenharter, Dirk Ehlers, Astrid Epiney, Claas Friedrich Germelmann, Christoph Grabenwarter, Jörg Gundel, Magdalena Jaś-Nowopolska, Stefan Kadelbach, Thorsten Kingreen, Thilo Marauhn, Nikolaus Marsch, Eckhard Pache, Hermann Pünder, Matthias Ruffert, Frank Schorkopf, Katharina Struth, Christian Tietje, Christian Walter, Bernhard W. Wegener, Peter v. Wilmowsky
Zitiervorschlag: z. B. Calliess in: Ehlers/Germelmann, EuGR, 5. Aufl. 2023, § 6.2.2 Rn 6
ISBN 978-3-11-071673-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071674-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071851-5 Library of Congress Control Number: 2023940915 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung und Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort zur fünften Auflage Seit Erscheinen der vierten Auflage des Lehrbuchs sind zehn Jahre vergangen und seit der Publikation der ersten Auflage schon über zwanzig. In dieser Zeit hat sich insbesondere der EU-Grundrechtsschutz äußerst dynamisch fortentwickelt. So hat die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) mittlerweile einen Detaillierungsgrad erreicht, der es rechtfertigt, den Gerichtshof zugleich als Grundrechtegericht zu bezeichnen. Auch die deutschen Gerichte haben wegen der wachsenden sachlichen Ausdehnung des Unionsrechts in viel stärkerem Maße als früher die Unionsgrundrechte zu beachten. Selbst wenn das nationale Recht durch den Vorrang des Unionsrechts vollständig verdrängt wird, hält sich das Bundesverfassungsgericht seit 2019 für verpflichtet, dessen Anwendung durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte eigenständig zu kontrollieren. Nicht weniger reich an neueren Entwicklungen ist die historisch ältere Schicht des europäischen Grundrechtsschutzes, der durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert und die reichhaltige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) konkretisiert wird. Die präzise Erfassung der unterschiedlichen Grundrechtsgewährleistungen und der Zuordnung sowie Inbeziehungsetzung auch zu den nationalen Grundrechten verlangt mehr denn je nach einer aktuellen Aufarbeitung und wissenschaftlichen Begleitung. Im Bereich der europäischen Grundfreiheiten, dh der Binnenmarktfreiheiten des Unionsrechts, sind in den vergangenen Jahren zwar weniger grundstürzende Neuerungen zu verzeichnen gewesen, wohl aber dogmatische Verfeinerungen und auch neue Schwerpunktsetzungen in Folge neuer Herausforderungen. All dies erforderte eine Neuauflage des Lehrbuchs. Gliederungsmäßig und inhaltlich haben sich viele Änderungen ergeben. Um der gewachsenen Bedeutung der europäischen Grundrechte und den vielfältigen Parallelitäten der EMRK-Rechte und der Unionsgrundrechte noch besser Rechnung tragen zu können, werden diese – in elf Paragraphen und einzelne Sachbereiche untergliedert – zunächst abgehandelt. Dem schließen sich die sechs Paragraphen zu den Grundfreiheiten an. Einige Themenstellungen sind neu hinzugekommen. Die Grundkonzeption des Buches wurde beibehalten. Nach wie vor geht es um eine systematische Betrachtungsweise, die durch eingearbeitete Fälle und Lösungen ergänzt wird. Nicht zu vermeiden war, dass der Umfang erneut angewachsen ist. Die Neuauflage bildet im Allgemeinen den Sach- und Rechtsstand einschließlich Rechtsprechung und Literatur von März 2023 ab. Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren, dass sie die Neustrukturierung des Buches mitgetragen und umgesetzt haben. Neu hinzugetreten sind Andrea Edenharter und Magdalena Jaś-Nowopolska sowie Julius Buckler, Claus Dieter https://doi.org/10.1515/9783110716740-202
VI
Vorwort zur fünften Auflage
Classen und Nikolaus Marsch. Auch in der Herausgeberschaft ist eine Neuerung zu verzeichnen, weil Claas Friedrich Germelmann nicht nur als Autor in das Werk eingestiegen, sondern auch als Mitherausgeber an die Seite von Dirk Ehlers getreten ist, um einen Generationenwechsel für das Werk einzuleiten. Zu unserem Bedauern ist Robert Uerpmann-Wittzack auf eigenen Wunsch aus dem Bearbeiterkreis ausgeschieden. Im Übrigen sind die Beiträge in den bewährten Händen geblieben. Die umfangreichen redaktionellen Arbeiten sind unter großem Einsatz von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Hannover durchgeführt worden. Ihnen gebührt großer Dank für ihr beispielhaftes Engagement. Besonders zu nennen ist Herr Julian Tschech, der auch die Gesamtkoordination der Arbeiten verantwortet hat; zu danken haben wir des Weiteren (jeweils in alphabetischer Reihenfolge) Frau Clara Parusel, Frau Josefin Pfaff, Frau Julia Rathing, Frau Mehriban Saka und Frau Jasmin Wulf sowie Herrn Daniel Beider, Herrn René Schubert und Herrn Martin Suchrow-Köster. Für Stellungnahmen und kritische Hinweise sind Herausgeber und Autoren dankbar. Sie können auf elektronischem Wege übermittelt werden ([email protected] und [email protected]). Münster und Hannover, im Juli 2023
Dirk Ehlers Claas Friedrich Germelmann
Aus dem Vorwort zur ersten Auflage Die ständig zunehmende Bedeutung des europäischen Rechts und die damit einhergehende Verdrängung, Überlagerung oder Ergänzung des nationalen Rechts betrifft nicht nur die Staaten in Europa, sondern auch und gerade die Bürger. In der reichlich vorhandenen Lehrbuchliteratur zum Europarecht spiegelt sich dies bisher nicht hinreichend wider. Es handelt sich fast durchweg um Gesamtdarstellungen des europäischen Gemeinschaftsrechts, welche sich schwerpunktmäßig mit den Institutionen befassen und die grundsätzlichen Rechtspositionen der Bürger eher am Rande streifen. Demgegenüber ist das vorliegende Buch nur den europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten gewidmet. Es geht nicht nur um Ausdifferenzierung, sondern auch darum, der Perspektive von oben diejenige von unten an die Seite zu stellen und den Bürgern und ihren Rechten in Europa mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Eingegangen wird nicht nur auf das europäische Gemeinschaftsrecht, sondern auch auf die – immer wichtiger werdende – Europäische Menschenrechtskonvention. Ferner befasst sich ein Kapitel mit der Europäischen Charta der Grundrechte. Auch wenn dieser Charta bisher keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt, wird sie doch nachhaltig die europäische Grundrechtsentwicklung beeinflussen. Das Buch wendet sich in erster Linie an Studierende und Referendare. Gemäß ihrer großen Bedeutung sind die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten heute in allen Bundesländern Bestandteile der Pflichtfächer im ersten und zweiten juristischen Examen. Die Konzeption des Lehrbuches ist eine dreifache. Zum einen ist es das Bemühen der Autoren gewesen, die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten auf der Grundlage einer systematischen Durchdringung darzustellen. So sind den Einzeldarstellungen die allgemeinen Lehren vorangestellt worden. Auch wird einheitlich zwischen Schutzbereich, Beeinträchtigung und Rechtfertigung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten unterschieden, wobei die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Gemeinschaftsgrundrechte nach Sachbereichen zusammengefasst wurden. Des Weiteren wurde ungeachtet der Notwendigkeit, den komplexen Stoff zu reduzieren, die Absicht verfolgt, die wesentlichen Problemstellungen der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten zu behandeln. Hierbei haben sich gewisse Überschneidungen nicht vermeiden lassen. So versteht es sich von selbst, dass die im Rahmen der allgemeinen Lehren behandelten Fragestellungen bei der Darstellung der Einzelgrundrechte und Grundfreiheiten wieder auftauchen. Auch bestehen wegen der Bezugnahme des Gemeinschaftsrechts auf die Europäische Menschenrechtskonvention enge Verbindungen zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonvention. Herausgeber und Autoren haben versucht, dem Überlappen der Problemstellungen durch Vernetzung der Beiträge Rechnung zu tragen. Schließlich
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Aus dem Vorwort zur ersten Auflage
liegt dem Buch ein einheitliches didaktisches Konzept zu Grunde, weil abgesehen von der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Grundrechte und Grundfreiheiten die systematische Betrachtungsweise in allen Beiträgen durch eingearbeitete Fälle und Lösungen ergänzt wird. Die zumeist der Rechtsprechung entnommenen Fälle und Lösungen sollen nicht nur zur Veranschaulichung beitragen, sondern auch den Leser in die Lage versetzen, sich den Stoff selbstständig zu erarbeiten und auf einen Lebenssachverhalt anzuwenden. Sie dienen damit zugleich der Selbstkontrolle. Das Werk ist eine Gemeinschaftsarbeit von 17 Autoren. Der Herausgeber dankt den Verfassern, dass sie zur Verwirklichung des Unterfangens bereit waren, sich in eine von ihm entworfene Gesamtkonzeption einzufügen und auch terminlich einzubringen. Dass eine so große Zahl von Autoren ein Wagnis ist, war den Beteiligten von vornherein klar. Alle Mitwirkenden hoffen aber, dass trotz aller Unterschiede im Einzelnen ein Ganzes entstanden ist, das nicht nur für die Auszubildenden eine Hilfestellung darstellt, sondern auch allen sonstigen mit dem Europarecht befassten Institutionen und Personen und damit zugleich der Praxis Anregungen zu geben vermag. Münster, im Mai 2002
Dirk Ehlers
Autoren- und Inhaltsübersicht 1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee §1
Geschichte und Entwicklung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten 1 Dr. Christian Walter Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München
2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz §2
Allgemeine Lehren
§ 2.1 Europäische Menschenrechtskonvention 33 Dr. Dirk Ehlers / Dr. Claas Friedrich Germelmann Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster / Professor an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover § 2.2 Grundrechte der Europäischen Union 159 Dr. Dirk Ehlers / Dr. Claas Friedrich Germelmann Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster / Professor an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover §3 Menschenwürde 291 Dr. Frank Schorkopf Professor an der Georg-August-Universität Göttingen §4
Höchstpersönliche Rechte
§ 4.1
Schutz des Lebens, der Unversehrtheit sowie des Privat- und Familienlebens
§ 4.1.1 Schutz des Lebens, der Unversehrtheit sowie des Privat- und Familienlebens nach der EMRK 310 Dr. Claas Friedrich Germelmann Professor an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
X
Autoren- und Inhaltsübersicht
§ 4.1.2 Schutz des Lebens, der Unversehrtheit sowie des Privat- und Familienlebens nach der GRCh 361 Dr. Andrea Edenharter Professorin an der Fern-Universität Hagen § 4.2 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten § 4.2.1 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten nach der EMRK 406 Dr. Nikolaus Marsch Professor an der Universität des Saarlandes § 4.2.2 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten nach der GRCh 443 Dr. Nikolaus Marsch Professor an der Universität des Saarlandes § 4.3 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit § 4.3.1 Schutz der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach der EMRK 468 Dr. Claus Dieter Classen Professor an der Universität Greifswald § 4.3.2 Schutz der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach der GRCh 477 Dr. Claus Dieter Classen Professor an der Universität Greifswald § 4.4 Schutz des Aufenthalts und Asylrecht
481
§ 4.4.1 Schutz des Aufenthalts und Asylrecht nach der EMRK Dr. Frank Schorkopf Professor an der Georg-August-Universität Göttingen
483
§ 4.4.2 Schutz des Aufenthalts und Asylrecht nach der GRCh Dr. Frank Schorkopf Professor an der Georg-August-Universität Göttingen
493
Autoren- und Inhaltsübersicht
§5
Kommunikationsgrundrechte
§ 5.1 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der EMRK 502 Dr. Thilo Marauhn / Dr. Magdalena Jaś-Nowopolska Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen / Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität Gießen § 5.2 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der GRCh Dr. Hermann Pünder Professor an der Bucerius Law School, Hamburg §6
559
Wirtschaftsgrundrechte
§ 6.1 Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit Dr. Matthias Ruffert Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin
612
§ 6.2 Schutz des Eigentums § 6.2.1 Schutz des Eigentums nach der EMRK 639 Dr. Bernhard W. Wegener Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg § 6.2.2 Schutz des Eigentums nach der GRCh Dr. Christian Calliess Professor an der Freien Universität Berlin §7
677
Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Recht auf Bildung
§ 7.1
Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Recht auf Bildung nach der EMRK 711 Dr. Claas Friedrich Germelmann Professor an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover § 7.2
Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Recht auf Bildung nach der GRCh 745 Dr. Hermann Pünder Professor an der Bucerius Law School, Hamburg
XI
XII
§8
Autoren- und Inhaltsübersicht
Soziale Grundrechte und Solidarität
§ 8.1
Soziale Grundrechte und Solidarität in EMRK und Europäischer Sozialcharta 773 Dr. Thorsten Kingreen Professor an der Universität Regensburg § 8.2 Soziale Grundrechte und Solidarität in der GRCh Dr. Thorsten Kingreen Professor an der Universität Regensburg
785
§ 8.3 Solidarität – Ausgewählte Grundsätze der Grundrechtecharta § 8.3.1 Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 808 Dr. Christian Calliess Professor an der Freien Universität Berlin § 8.3.2 Umweltschutz 818 Dr. Christian Calliess Professor an der Freien Universität Berlin § 8.3.3 Verbraucherschutz 837 Dr. Christian Calliess Professor an der Freien Universität Berlin §9
Gleichheit
§ 9.1 Schutz der Gleichheit nach der EMRK Dr. Claus Dieter Classen Professor an der Universität Greifswald
844
§ 9.2 Schutz der Gleichheit nach der GRCh Dr. Claus Dieter Classen Professor an der Universität Greifswald
851
Autoren- und Inhaltsübersicht
§ 10
XIII
Bürgerrechte
§ 10.1 Gewährleistung von Bürgerrechten in der EMRK 880 Dr. Stefan Kadelbach Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main § 10.2 Unionsbürgerrechte 899 Dr. Stefan Kadelbach Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main § 10.3 Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot Dr. Julius Buckler Privatdozent an der Universität Bayreuth § 11
952
Recht auf Freiheit und Sicherheit, Justiz- und Verfahrensgrundrechte
§ 11.1 Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie Justiz- und Verfahrensgrundrechte nach der EMRK 974 Dr. Dr. Christoph Grabenwarter / Dr. Katharina Struth Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofes / Referentin in der Abteilung für Öffentliches Recht & Legistik der Parlamentsdirektion des österreichischen Parlaments § 11.2 Recht auf Freiheit und Sicherheit nach der GRCh Dr. Andrea Edenharter Professorin an der Fern-Universität Hagen § 11.3 Justiz- und Verfahrensgrundrechte nach der GRCh Dr. Jörg Gundel Professor an der Universität Bayreuth
1048
1061
3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union § 12 Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten 1109 Dr. Dirk Ehlers / Dr. Claas Friedrich Germelmann Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster / Professor an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
XIV
Autoren- und Inhaltsübersicht
§ 13 Freiheit des Warenverkehrs 1259 Dr. Astrid Epiney Professorin an der Universität Freiburg/Schweiz § 14 Arbeitnehmerfreizügigkeit 1313 Dr. Ulrich Becker Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik sowie Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München § 15 Niederlassungsfreiheit 1353 Dr. Christian Tietje Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg § 16 Dienstleistungsfreiheit 1397 Dr. Eckhard Pache Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg § 17 Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs 1493 Dr. Peter von Wilmowsky Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Inhaltsverzeichnis Vorwort V Autoren- und Inhaltsübersicht IX Abkürzungsverzeichnis XLIX Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
LXIII
1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee §1
Geschichte und Entwicklung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten 1
I. II.
Internationaler und Europäischer Grundrechtsschutz 1 Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats und insbesondere durch die EMRK 3 1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes durch die EMRK 3 a) Entstehungsgeschichte 4 b) Entwicklung der Konvention und der Rechtsprechung 5 2. Der Menschenrechtsschutz im Europarat im Allgemeinen 11 a) Vertragliche Menschenrechtsverbürgungen 11 b) Die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung nach 1989/ 1990 13 Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EU 13 1. Frühe Rechtsprechung 14 2. Entwicklung und dogmatische Begründung der Unionsgrundrechte in der Rechtsprechung des EuGH 14 3. Forderungen nach einem Grundrechtskatalog für das Unionsrecht und die Europäische Grundrechte-Charta 18 Verflechtungen beim Grundrechtsschutz zwischen EMRK und EU, sowie zwischen Grundrechtecharta und mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht 19 1. Das Verhältnis zwischen EMRK und EU, insbesondere Beitritt der EU zur EMRK 19 2. Wirkungen der Grundrechte-Charta im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten 22 Die Grundfreiheiten des Unionsrechts 24 1. Anerkennung als subjektiv-öffentliche Rechte 25 2. Auslegung der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote 26
III.
IV.
IV.
XVI
Inhaltsverzeichnis
3.
V.
Ergänzung der Personenverkehrsfreiheiten um Rechte aus der Unionsbürgerschaft 28 4. Drittwirkung und Schutzpflichten: Grundrechtsdogmatik in der Argumentation des EuGH zu den Grundfreiheiten 29 Zusammenfassung: Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in einem Europa mehrerer Ebenen 31
2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz §2
Allgemeine Lehren
§ 2.1
Europäische Menschenrechtskonvention
I.
Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts 1. Universeller und regionaler Menschenrechtsschutz 35 2. Grundlagen und Wirkungsweise der EMRK 40 3. Rang und Wirkungsweise der EMRK in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen 45 4. Rang und Wirkungsweise der EMRK im Europäischen Unionsrecht Funktionen der Konventionsrechte 59 1. Abwehrrechte 61 2. Gleichheitsrechte 62 3. Positive Handlungspflichten der Mitgliedstaaten und subjektive Leistungsrechte 64 a) Positive Handlungspflichten in Form von staatlichen Schutzpflichten 65 b) Originäre Leistungsrechte und derivative Teilhaberechte 67 4. Staatsbürgerliche Rechte 70 5. Verfahrensrechte 71 6. Objektive Funktionen der Konventionsrechte 76 Auslegung der Konventionsrechte 76 Berechtigte der Konventionsrechte 78 Verpflichtete der Konventionsrechte 83 1. Konventionsstaaten des Europarates 83 2. Handeln der Konventionsstaaten im Rahmen von internationalen und supranationalen Organisationen 85 3. Privatpersonen 95 Räumlicher Geltungsbereich der EMRK 96 Zeitliche Geltung der EMRK 101
II.
III. IV. V.
VI. VII.
33 34
55
Inhaltsverzeichnis
VIII.
IX.
XVII
Gewährleistungen und Beschränkungen der Konventionsrechte 102 1. Stufen der Konventionsrechtsprüfung 102 2. Anwendbarkeit der Konvention 103 3. Schutzbereich der Konventionsrechte 105 4. Eingriff 106 5. Rechtfertigung des Eingriffs 108 a) Einschränkbarkeit der Konventionsrechte 108 b) Allgemeine Schrankenregelungen 109 c) Spezielle Schrankenregelungen 111 aa) Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung 112 bb) Verfolgung zulässiger Ziele 115 cc) Verhältnismäßigkeit der Beschränkung / „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ 116 6. Schematische Zusammenfassung 119 Rechtsschutz 121 1. Rechtsschutz durch den EGMR 121 a) Staatenbeschwerde 124 b) Individualbeschwerde 124 aa) Zulässigkeit der Beschwerde 125 (1) Zuständigkeit ratione personae: Beteiligte 126 (a) Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit des Bf 126 (b) Tauglicher Beschwerdegegner 127 (2) Beschwerdegegenstand 127 (a) Handeln oder Unterlassen des Beschwerdegegners 127 (b) Zuständigkeit ratione loci: Räumliche Anwendbarkeit der EMRK 127 (3) Beschwerdebefugnis 127 (a) Zuständigkeit ratione materiae: Rüge einer Konventionsrechtsverletzung 128 (b) Zuständigkeit ratione temporis: Zeitliche Anwendbarkeit der EMRK 128 (c) Opfereigenschaft 128 (4) Rechtswegerschöpfung 130 (a) Vertikale Rechtswegerschöpfung 131 (b) Horizontale Rechtswegerschöpfung 132 (5) Beschwerdefrist 133 (6) Form und Sprache der Beschwerde 134
XVIII
Inhaltsverzeichnis
2.
(7) Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen 134 (a) Keine Anonymität 134 (b) Keine res judicata und Litispendenz 135 (c) Keine offensichtliche Unvereinbarkeit mit der EMRK oder den Protokollen, kein Missbrauch 136 (d) Keine offensichtliche Unbegründetheit 136 (e) Erheblicher Nachteil 137 (f) Rechtsschutzbedürfnis 137 (8) Schematische Zusammenfassung 137 bb) Verfahren 138 cc) Begründetheit der Beschwerde 141 dd) Wirkungen der Urteile des EGMR 145 (1) Rechtskraftwirkung, Befolgungspflicht, Präjudizwirkung 145 (2) Urteilswirkungen in Deutschland 148 (a) Wirkung in Bezug auf konventionswidrige Gesetze 149 (b) Wirkungen in Bezug auf konventionswidrige Gerichtsentscheidungen 149 (c) Wirkungen in Bezug auf konventionswidrige Verwaltungsentscheidungen 152 (3) Entschädigung 152 c) Anrufung des EGMR durch das Ministerkomitee 155 d) Anrufung des EGMR durch die Höchstgerichte der Konventionsstaaten 155 Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte 156
§ 2.2
Grundrechte der Europäischen Union
159
I.
Bedeutung und Stellung der Unionsgrundrechte in der Unionsrechtsordnung 159 1. Begriff der Unionsgrundrechte 159 2. Historischer Abriss, Notwendigkeit der Gewährleistung und Geltungsgrund der Unionsgrundrechte 161 a) Frühere Rechtslage 166 b) Heutige Rechtslage 168 aa) Charta der Grundrechte 168 bb) Fortbestehende Bedeutung der Unionsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts 171
Inhaltsverzeichnis
3.
II.
III. IV. V.
VI.
XIX
Überblick über die Struktur der Grundrechtecharta und einzelne unionsgrundrechtliche Gewährleistungen 174 4. Unmittelbare Geltung der Unionsgrundrechte 175 5. Subjektiv-rechtlicher und objektiv-rechtlicher Charakter der Rechte und Grundsätze 179 6. Die normenhierarchische Stellung der Unionsgrundrechte 183 a) Unionsgrundrechte als Unionsprimärrecht 184 aa) Verhältnis zu den Grundfreiheiten 184 bb) Verhältnis zu den sonstigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts 187 b) Verhältnis zum Sekundärrecht der EU 187 c) Verhältnis zur EMRK 189 d) Verhältnis zum internationalen Recht 191 e) Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht (insbesondere zu den nationalen Grundrechten) 195 Kategorisierung und Funktionen der Unionsgrundrechte 200 1. Freiheits- bzw Abwehrrechte 201 2. Gleichheitsrechte 203 3. Positive staatliche Pflichten sowie originäre und derivative Leistungsrechte 205 4. Verfahrensrechte 208 5. Unionsgrundrechte als Elemente objektiver Ordnung? 208 6. Rechtsfolgen von Grundrechtsverstößen 209 Funktionen der grundrechtlichen Grundsatznormen 211 Auslegung der Unionsgrundrechte 213 Berechtigte der Unionsgrundrechte 215 1. Natürliche Personen 215 2. Juristische Personen und Personenmehrheiten 217 Verpflichtete der Unionsgrundrechte 220 1. Europäische Union 220 2. Mitgliedstaaten der Europäischen Union 222 a) Vertraglich normierte Unionsgrundrechte 222 b) Charta-Grundrechte 222 aa) Der Begriff des „Rechts der Union“ 223 bb) Die Reichweite der „Durchführung des Rechts der Union“ 224 cc) Die Grenzen der Durchführung bzw des Anwendungsbereichs des Unionsrechts und Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz 231 c) Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV 240 3. Privatpersonen 241
XX
VII. VIII.
Inhaltsverzeichnis
Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich der Unionsgrundrechte 245 Gewährleistungen, Beeinträchtigungen und Schranken der Unionsgrundrechte 246 1. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte 249 2. Schutzbereich der Unionsgrundrechte 250 a) Sachlicher Schutzbereich der Charta-Rechte 250 aa) Grundrechtlich geschützer Lebensbereich oder geschütztes Rechtsgut 250 (1) Auslegungsvorgaben aus dem Verhältnis zu den in den Verträgen geregelten Grundrechten (Art 52 II GRCh) 250 (2) Auslegung im Lichte der EMRK-Rechte (Art 52 III GRCh) 251 (3) Auslegung im Lichte der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art 52 IV GRCh) 251 (4) Die Rolle des (sonstigen) Unionsrechts sowie der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh) 252 (5) Die Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents als Auslegungshilfe 254 (6) Das Schutzniveau im Verhältnis zu den sonstigen menschenrechtlichen Gewährleistungen als Auslegungsregel (Art 53 GRCh) 254 (7) Konkurrenzen und Kollisionen der Unionsgrundrechte 256 bb) Schutzbereich der ungeschriebenen Unionsgrundrechte 257 cc) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Unionsgrundrechte 258 b) Personeller Schutzbereich 259 3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der Unionsgrundrechte 259 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Unionsgrundrechte 262 a) Einschränkbarkeit der Grundrechte 262 b) Gesetzesvorbehalt 264 c) Verfolgung zulässiger Ziele 269 d) Schranken-Schranken 270 aa) Wesensgehaltsgarantie 271 bb) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 272 cc) Grundfreiheiten und sonstige Primärrechtsbestimmungen 279 5. Schematische Zusammenfassung 280
XXI
Inhaltsverzeichnis
IX.
Rechtsschutz und Kontrolle 282 1. Gerichtlicher Rechtsschutz 282 a) Rechtsschutz durch die Unionsgerichtsbarkeit 283 aa) Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen 283 bb) Rechtsschutzmöglichkeiten der Unionsorgane und Mitgliedstaaten 284 b) Rechtsschutz durch die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit 2. Weitere Formen des Schutzes der Unionsgrundrechte 289
§3
Menschenwürde
I.
II.
Menschenwürde im Unionsrecht 293 1. Schutzbereich 294 2. Beeinträchtigung 299 3. Rechtfertigung 300 Menschenwürde in der EMRK 303
§4
Höchstpersönliche Rechte
§ 4.1
Schutz des Lebens, der Unversehrtheit sowie des Privat- und Familienlebens
284
291
§ 4.1.1 Schutz des Lebens, der Unversehrtheit sowie des Privat- und Familienlebens nach der EMRK 310 I. II.
Überblick 310 Schutz des Lebens und der Integrität 313 1. Das Recht auf Leben (Art 2 EMRK) 313 a) Entsprechungen im globalen Menschenrechtsschutz und in der Grundrechtecharta der EU 315 a) Sachlicher Schutzbereich 316 b) Persönlicher Schutzbereich 318 c) Grundrechtsfunktionen 318 d) Eingriffe 321 e) Rechtfertigungsgründe 321 f) Das Verbot der Todesstrafe durch das 6. und das 13. Zusatzprotokoll zur EMRK 322
XXII
III.
Inhaltsverzeichnis
g) Eingriffe in das Recht auf Leben durch kriegerische Handlungen 326 2. Das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art 3 EMRK) 330 a) Schutzbereich 330 b) Grundrechtsfunktionen 335 c) Eingriffe 336 d) Rechtfertigung 339 3. Verbot von Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel (Art 4 EMRK) 341 Schutz des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) 343 1. Sachliche Schutzbereiche 345 a) Schutz des Privatlebens 345 aa) Physische und psychische Integrität 345 bb) Soziale Kontakte 347 cc) Beruf 348 dd) Umwelteinflüsse 349 b) Schutz des Familienlebens 350 c) Privatsphäre, Schutz der Wohnung und der Korrespondenz 352 2. Persönlicher Schutzbereich 354 3. Grundrechtsfunktionen 354 4. Eingriffe 356 5. Rechtfertigung 357
§ 4.1.2 Schutz des Lebens, der Unversehrtheit sowie des Privat- und Familienlebens nach der GRCh 361 I.
Recht auf Leben und Unversehrtheit 361 1. Recht auf Leben und Verbot der Todesstrafe (Art 2 GRCh) 361 a) Systematische Einordnung 361 b) Schutzbereich 364 aa) Sachlicher Schutzbereich 364 bb) Persönlicher Schutzbereich 365 c) Eingriffe 366 d) Rechtfertigung 367 e) Verbot der Todesstrafe 368 2. Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit (Art 3 GRCh) 369 a) Systematische Einordnung 369
Inhaltsverzeichnis
II.
III.
IV.
XXIII
b) Schutzbereich 370 aa) Sachlicher Schutzbereich 370 bb) Persönlicher Schutzbereich 371 c) Eingriffe 371 d) Rechtfertigung 373 Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art 4 GRCh) 374 1. Systematische Einordnung 376 2. Schutzbereich 379 a) Sachlicher Schutzbereich 379 b) Persönlicher Schutzbereich 384 3. Eingriff und fehlende Möglichkeit der Rechtfertigung 384 Verbot der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels (Art 5 GRCh) 386 1. Systematische Einordnung 386 2. Schutzbereich 388 a) Sachlicher Schutzbereich 388 b) Persönlicher Schutzbereich 391 3. Eingriffe und fehlende Möglichkeit einer Rechtfertigung 391 Schutz von Ehe und Familie, Schutz des Familien- und Berufslebens 392 1. Systematische Einordnung 393 2. Schutz von Ehe und Familie (Art 9 GRCh) 395 a) Schutzbereich 396 aa) Sachlicher Schutzbereich 396 (1) Ehe 396 (2) Familie 398 (3) Geschütztes Verhalten 398 bb) Persönlicher Schutzbereich 399 b) Beeinträchtigungen 399 c) Rechtfertigung 400 3. Schutz des Familien- und Berufslebens (Art 33 GRCh) 401 a) Schutz der Familie (Art 33 I GRCh) 402 b) Mutter- und Elternschutz (Art 33 II GRCh) 403
XXIV
§ 4.2
Inhaltsverzeichnis
Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten
§ 4.2.1 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten nach der EMRK 406 I. II.
III. IV.
Einführung: Thematische Eingrenzung 406 Schutzbereich 408 1. Allgemein: Lückenfüllende Funktion des Begriffs des Privatlebens – Kasuistisches Vorgehen des Gerichtshofs 408 2. Teilgehalte und Fallgruppen des Privatsphärenschutzes 411 a) Selbstbestimmung, Identitätsfindung und -bildung 411 b) Selbstdarstellung 415 c) Aspekte einer selbstbestimmten Lebensführung 417 d) Schutz der Privatsphäre im engeren Sinne 419 aa) Schutz der Wohnung 419 bb) Schutz der Privatheit in der Öffentlichkeit, insb Videoüberwachung 421 cc) Schutz der Korrespondenz 422 e) Datenschutz 423 Beeinträchtigung 426 Rechtfertigung 429 1. Gesetzliche Grundlage 429 2. Legitimes Ziel 431 3. Verhältnismäßigkeit 432 4. Schutz- und Gewährleistungspflichten (positive obligations) 436
§ 4.2.2 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten nach der GRCh 443 I. II.
III.
Einführung: Thematische Eingrenzung und Schwerpunkt der Darstellung 444 Art 7 GRCh: Recht auf Achtung des Privatlebens, der Wohnung und der Kommunikation 446 1. Schutzbereich 446 2. Eingriff 448 3. Rechtfertigung 448 (Art 7 iVm) Art 8 GRCh: Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten 450 1. Theoretische Konzeption: Historische Entwicklung und das ungeklärte Verhältnis von Art 8 GRCh zu Art 7 GRCh 451
Inhaltsverzeichnis
2. 3. 4.
§ 4.3
Sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich Gewährleistungsgehalte 457 Typische Kollisionslagen 462
456
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
§ 4.3.1 Schutz der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach der EMRK 468 I.
II. III.
Anwendungsbereich 468 1. Die geschützten Lebensbereiche 468 1. Der geschützte Personenkreis 469 2. Geschützte Verhaltensweisen 470 Beschränkungen und positive Verpflichtungen 472 Rechtfertigung von Beschränkungen 473 1. Allgemeines 474 2. Spezifische Konfliktsituationen 474 a) Gesellschaftlicher Friede 474 b) Allgemeine, religionsunspezifische Gesetze 475 c) Religion und Haft 475 d) Religionsgemeinschaftliches Arbeitsrecht 476
§ 4.3.2 Schutz der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach der GRCh 477 I. II. III.
Entwicklung und Normenbestand 477 Anwendungsbereich und Schutz vor Beschränkungen Rechtfertigung von Beschränkungen 479
§ 4.4
Schutz des Aufenthalts und Asylrecht
481
§ 4.4.1 Schutz des Aufenthalts und Asylrecht nach der EMRK I. II. III.
Schutzbereiche Beeinträchtigung Rechtfertigung
483 489 490
479
483
XXV
XXVI
Inhaltsverzeichnis
§ 4.4.2 Schutz des Aufenthalts und Asylrecht nach der GRCh
493
I. II. III.
Schutzbereiche Beeinträchtigung Rechtfertigung
§5
Kommunikationsgrundrechte
§ 5.1
Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der EMRK
I.
Die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK 502 Die Meinungs- und die Informationsfreiheit 503 1. Schutzbereiche 504 a) Die Meinungsfreiheit 504 b) Die Äußerungsfreiheit 505 c) Die Informationsfreiheit 507 d) Die Kunstfreiheit 510 e) Presse- und Medienfreiheit 511 f) Wissenschaftsfreiheit 516 2. Eingriff 516 3. Rechtfertigung 520 a) Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage 521 b) Die zulässigen Eingriffszwecke 522 c) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 527 d) Die Privilegierung politischer Kommunikation 530 e) Anforderungen an potentiell rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, insbesondere: Sorgfaltspflichten der Presse 532 f) Der staatliche Beurteilungsspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und zum Schutz religiöser Überzeugungen 535 g) Der Prüfungsmaßstab bei Eingriffen in die Rundfunk- und Fernsehfreiheit 536 Versammlungsfreiheit 538 1. Schutzbereich 539 2. Eingriff 541 3. Rechtfertigung 542 a) Zulässige Eingriffszwecke 542 b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 542 c) Besondere Einschränkungen für staatliche Bedienstete 544
II.
III.
493 499 500
502
XXVII
Inhaltsverzeichnis
IV.
VI.
Vereinigungsfreiheit 545 1. Schutzbereich 545 2. Eingriff 547 3. Rechtfertigung 547 Koalitionsfreiheit 549 1. Schutzbereich 550 a) Individuelle Koalitionsfreiheit 551 b) Kollektive Koalitionsfreiheit, insbesondere Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit 552 2. Eingriff 554 3. Rechtfertigung 554 Zusammenfassung 557
§ 5.2
Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der GRCh
I. II.
Bedeutung und Rechtsgrundlagen 559 Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit 562 1. Die Normierung des Art 11 GRCh im Überblick 564 2. Schutzbereich 566 a) Meinungs- und Informationsfreiheit 567 aa) Schutz in der Grundrechtecharta 567 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 570 b) Freiheit und Pluralität der Medien 575 aa) Schutz in der Grundrechtecharta 575 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 577 3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs 579 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 581 a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta 581 b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 584 aa) Gesetzliche Grundlage zur Verfolgung eines legitimen Ziels 584 bb) Abwägung 585 Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit 591 1. Die Normierung des Art 12 GRCh im Überblick 592 2. Schutzbereich 593 a) Versammlungsfreiheit 593 aa) Schutz in der Grundrechtecharta 593 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 595
V.
III.
559
XXVIII
Inhaltsverzeichnis
3. 4.
b) Vereinigungsfreiheit 596 aa) Schutz in der Grundrechtecharta 596 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 597 c) Koalitionsfreiheit 598 aa) Schutz in der Grundrechtecharta 598 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 599 d) Politische Parteien 601 aa) Schutz in der Grundrechtecharta 601 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 603 Beeinträchtigungen des Schutzbereichs 603 Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 605 a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta 605 b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 607
§6
Wirtschaftsgrundrechte
§ 6.1
Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit
I.
Schutzbereich 612 1. Funktion, Bedeutung und Quellen des Unionsgrundrechts der Berufsfreiheit 612 2. Sachlicher Schutzbereich 620 a) Inhalt und Einzelgewährleistungen 620 b) Abgrenzung zu anderen unionsrechtlichen Gewährleistungen aa) Eigentumsschutz 622 bb) Andere Grundrechte 623 cc) Vertrauensschutz 625 c) Konkurrenzverhältnis zu den Grundfreiheiten 626 3. Persönlicher Schutzbereich 627 a) Unionsbürger 627 b) Juristische Personen 628 c) Drittstaatsangehörige (einschließlich juristischer Personen) Beeinträchtigung 629 Rechtfertigung 631 1. Schranken der Berufsfreiheit 631 2. Anforderungen an eine unionsrechtskonforme Beschränkung der Berufsfreiheit 633 a) Rechtsgrundlage 633 b) Verwirklichung des Gemeinwohls 633
II. III.
612
622
628
Inhaltsverzeichnis
IV.
c) Wesensgehaltsgarantie 634 d) Verhältnismäßigkeitsprüfung 635 Exkurs: Von der berufsbezogenen Bildung zum Grundrecht auf Bildung
§ 6.2
Schutz des Eigentums
§ 6.2.1 Schutz des Eigentums nach der EMRK I. II.
III. IV.
Einführung 639 Schutz des Eigentums 641 1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie 643 a) Allgemeines 643 b) Schutz des Bestandes, nicht des Erwerbs 645 c) Goodwill 646 d) Öffentlich-rechtliche Ansprüche 648 e) Geistiges Eigentum 650 f) Erbrecht 651 2. Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts 651 a) Enteignungen 652 b) Nutzungsregelnde Maßnahmen 654 c) „Sonstige“ Beeinträchtigungen 657 3. Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen 658 a) Gesetzmäßigkeit der Beeinträchtigung 659 b) Schutz des öffentlichen Interesses 660 c) Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung 663 aa) Legitimer Zweck 663 bb) Erforderlichkeit 663 cc) Gerechter Ausgleich der Interessen 664 dd) Kompensationserfordernis 665 4. Eigentumsrecht und andere Garantien der EMRK 671 Sonstige wirtschaftsrechtliche Garantien 673 Einfluss der Europäischen Sozialcharta 674
§ 6.2.2 Schutz des Eigentums nach der GRCh I.
639
677
Einführung 677 1. Stellung und Bedeutung des Eigentumsgrundrechts im Unionsrecht 677
XXIX
637
XXX
Inhaltsverzeichnis
2.
IV.
Abgrenzung zwischen Eigentums(grund)recht und Eigentumsordnung 679 Die Herleitung und dogmatische Struktur des unionsrechtlichen Eigentumsgrundrechts 685 Das europäische Eigentumsgrundrecht im Einzelnen 689 1. Vorüberlegungen 689 2. Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts 690 a) Persönlicher Schutzbereich 690 b) Sachlicher Schutzbereich 691 3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs 694 a) Beschränkungen des Eigentums 696 b) Eigentumsentziehungen 697 aa) Negativabgrenzung 698 bb) Indirekte Aussagen des EuGH zur Abgrenzung 698 cc) Förmliche Enteignung / de-facto-Enteignung 699 dd) Zwischenergebnis 700 c) Kritik 700 4. Rechtfertigung 701 a) Rechtfertigung von Enteignungen 702 b) Rechtfertigung von bloßen Nutzungsbeschränkungen 703 c) Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte 707 Würdigung der Bonität des europäischen Eigentumsschutzes 709
§7
Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Recht auf Bildung
§ 7.1
Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Recht auf Bildung nach der EMRK 711
I. II. III.
Kunst, Wissenschaft und Bildung im Schutzsystem der EMRK Menschenrechtsgarantien auf globaler Ebene 713 Kunstfreiheit 715 1. Schutzbereich 715 2. Grundrechtsfunktionen 718 3. Eingriffe 719 4. Rechtfertigungsgründe 720 Wissenschaftsfreiheit 724 1. Schutzbereich 724 2. Grundrechtsfunktionen 727
II. III.
IV.
711
Inhaltsverzeichnis
V.
VI.
XXXI
3. Eingriffe 729 4. Rechtfertigungsgründe 730 Recht auf Bildung 732 1. Systematik 733 2. Sachlicher Schutzbereich 734 3. Personeller Schutzbereich 736 4. Grundrechtsfunktionen 736 5. Eingriffe 738 6. Rechtfertigung 739 7. Die Beziehung zwischen dem Recht auf Bildung und dem elterlichen Erziehungsrecht 741 Fazit 743
§ 7.2
Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Recht auf Bildung nach der GRCh 745
I. II.
Bedeutung und Rechtsgrundlagen 745 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art 13 GRCh) 748 1. Schutzbereiche 750 a) Kunstfreiheit 750 aa) Schutz in der Grundrechtecharta 750 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 751 b) Wissenschaftsfreiheit 752 aa) Schutz in der Grundrechtecharta 752 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 754 2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche 755 3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 757 Recht auf Bildung (Art 14 GRCh) 760 1. Schutzbereiche 761 a) Zugang zu Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen (Art 14 I und II GRCh) 761 aa) Schutz in der Grundrechtecharta 761 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 763 b) Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten 766 c) Erziehungs- und unterrichtsbezogenes Elternrecht 766 2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche 767 3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 769
III.
XXXII
Inhaltsverzeichnis
§8
Soziale Grundrechte und Solidarität
§ 8.1
Soziale Grundrechte und Solidarität in EMRK und Europäischer Sozialcharta 773
I. II.
III.
Einführung 773 Art 14 EMRK als soziales Teilhaberecht 776 1. Der Akzessorietätsgrundsatz 777 2. Lockerung der Akzessorietät 777 a) Einschlägigkeit nur des Lebensbereichs für die Auslösung der Akzessorietät 778 b) Ausweitung auf soziale Rechte 778 aa) Schutz des Familien- und Privatlebens, Art 8 EMRK bb) Eigentum, Art 1 1. ZP EMRK 780 cc) Einbeziehung von völkersozialrechtlichen Garantien Art 3 EMRK als soziale Schutzpflicht 784
§ 8.2
Soziale Grundrechte und Solidarität in der GRCh
I.
Allgemeiner Teil 785 1. Solidarität und soziale Rechte 785 2. Typologie und Dogmatik sozialer Rechte 787 a) Grundrechte und Grundsätze 787 b) Grundrechtsfunktionen 789 3. Die Achtung und grenzüberschreitende Erweiterung sozialer Rechte durch das Unionsrecht 793 Besonderer Teil: Die einzelnen sozialen Grundrechte 796 1. Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen, Art 27 GRCh 797 2. Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, Art 28 GRCh 798 3. Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst, Art 29 GRCh 800 4. Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung, Art 30 GRCh 801 5. Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Art 31 GRCh 803 6. Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz, Art 32 GRCh 804 7. Familien- und Berufsleben, Art 33 GRCh 805 8. Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Art 34 GRCh 805
II.
779 782
785
XXXIII
Inhaltsverzeichnis
§ 8.3
Solidarität – Ausgewählte Grundsätze nach der GRCh
§ 8.3.1 Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 808 I. II.
III.
Einführung 808 Die Gewährleistungen im Einzelnen 811 1. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse a) Dienstleistungen 811 b) Allgemeines wirtschaftliches Interesse 812 2. Zugang 814 3. Anerkennung und Achtung 815 4. Förderung des Zusammenhalts in der Union 815 Abschließende Würdigung 816
§ 8.3.2 Umweltschutz I. II.
III. IV.
811
818
Einführung 819 Die Vorgaben der Norm 821 1. Hohes Umweltschutzniveau 821 2. Vorgaben des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung Schlussfolgerungen 826 Klimaklagen 831
§ 8.3.3 Verbraucherschutz
837
I. II. III.
Einführung 837 Zum Begriff des Verbraucherschutzes 839 Verbraucherschutz in den Politiken der Union
§9
Gleichheit
§ 9.1
Schutz der Gleichheit nach der EMRK
I. II.
Grundlagen 844 Normative Grundstruktur 1. Anwendungsbereich
845 845
844
841
824
XXXIV
Inhaltsverzeichnis
III.
2. Ungleichbehandlung aus einem der aufgeführten Gründe 3. Rechtfertigung 848 Zu den einzelnen Kriterien 848
§ 9.2
Schutz der Gleichheit nach der GRCh
I. II. III.
Entwicklung und Normenbestand 851 Allgemeiner Gleichheitssatz 853 Spezielle Diskriminierungsverbote 855 1. Zur Bedeutung der Diskriminierungsverbote 855 2. Dogmatik der Diskriminierungsverbote 857 a) Vergleichbare Situation 858 b) Diskriminierung wegen eines verbotenen Merkmals 859 aa) Unmittelbare Diskriminierung: Voraussetzungen und Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen 859 bb) Mittelbare Diskriminierung: Voraussetzung und Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen 860 c) Berechtigte und Verpflichtete 863 d) Durchsetzung 864 e) Rechtsfolgen eines Verstoßes 865 3. Zu den einzelnen Kriterien 866 a) Geschlecht 866 b) Religion und Weltanschauung 868 c) Alter 870 d) Sexuelle Ausrichtung 871 e) Behinderung 872 f) Rasse und ethnische Herkunft 873 g) Sonstige Kriterien 873 Gleichstellungsgebote 875 1. Allgemeines 875 2. Gleichstellung der Geschlechter (Art 23 I und II GRCh, Art 157 IV AEUV) 875 3. Kinderrechte und Kindeswohl (Art 24 GRCh) 877 4. Rechte älterer Menschen (Art 25 GRCh) 878 5. Rechte von Menschen mit Behinderung (Art 26 GRCh) 878
IV.
846
851
Inhaltsverzeichnis
§ 10
Bürgerrechte
§ 10.1 Gewährleistung von Bürgerrechten in der EMRK I. II.
III.
IV.
III.
IV.
880
Bürgerrechte in der EMRK 880 Wahlrecht 881 1. Bedeutung 881 2. Anwendungsbereich 881 3. Beeinträchtigungen 885 4. Schranken 886 5. Verfahren und Rechtsschutz 888 Freizügigkeit 889 1. Bedeutung 889 2. Anwendungsbereich 890 3. Eingriffe 893 4. Schranken 894 5. Verfahren und Rechtsschutz 895 Der bürgerrechtliche Gehalt des Wahlrechts und der Freizügigkeit nach der EMRK 896
§ 10.2 Unionsbürgerrechte I. II.
XXXV
899
Einleitung 899 Bürgerschaft als Angelegenheit der Europäischen Union 900 1. Vom Marktbürger zum Unionsbürger 900 2. Die Regelungen zur Unionsbürgerschaft 903 Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft 906 1. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft 906 2. Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft 909 3. Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft 915 Die Unionsbürgerrechte 917 1. Freizügigkeit 917 a) Rechtliche Tragweite 918 b) Schutzbereich 919 c) Eingriffe und Schranken 923 2. Politische Rechte und Kontrollrechte 926 a) Wahlrecht 926 aa) Gemeinsame Grundsätze 926 bb) Das Kommunalwahlrecht (Art 22 I AEUV, 40 GRCh) 928
XXXVI
V.
Inhaltsverzeichnis
cc) Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art 22 II AEUV, 39 GRCh) 932 b) Petitionsrecht (Art 24 II, III iVm 227 bzw 228 AEUV, 43, 44 GRCh) 934 c) Informationsrecht (Art 24 IV AEUV, 41 IV GRCh) 936 d) Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 AEUV, 42 GRCh) 936 e) Recht auf eine gute Verwaltung (Art 41 GRCh) 938 3. Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 23 AEUV, 46 GRCh) 940 a) Normzweck und Wirkung 940 b) Schutzbereich 942 c) Eingriffe und Schranken 944 d) Rechtsschutz 945 4. Weitere mit der Unionsbürgerschaft verbundene Rechte 945 Gegenwärtiger Stand der Unionsbürgerschaft 947
§ 10.3 Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot I. II.
III.
IV. V.
952
Einführung 952 Abgrenzungsfragen 953 1. Allgemeines Diskriminierungsverbot und Grundfreiheiten 954 2. Das Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz und Art 21 II GRCh 954 Anwendungsbereich 955 1. Persönlicher Anwendungsbereich: Beschränkung auf Unionsbürger 955 2. Sachlicher Anwendungsbereich 957 a) Der Anwendungsbereich der Verträge 958 b) Grundfreiheiten 959 c) Insbesondere: Das allgemeine Freizügigkeitsrecht 962 d) Inländerdiskriminierung 965 3. Adressaten 966 Ungleichbehandlungen 968 Rechtfertigungsmöglichkeiten 970
Inhaltsverzeichnis
§ 11
XXXVII
Recht auf Freiheit und Sicherheit, Justiz- und Verfahrensgrundrechte
§ 11.1 Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie Justiz- und Verfahrensgrundrechte nach der EMRK 974 I.
II.
Der Schutz der persönlichen Freiheit (Art 5 EMRK) 975 1. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit und seine Beeinträchtigung 975 2. Die Rechtfertigung von Eingriffen in das Recht auf Freiheit und Sicherheit 980 a) Verurteilung 984 b) Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung (Beugehaft) 986 c) Untersuchungs- und Präventivhaft 987 d) Inhaftierung Minderjähriger 991 e) Unterbringung psychisch kranker Personen und ähnlicher Gruppen 992 f) Verhinderung der unberechtigten Einreise in das Staatsgebiet, Abschiebungs- und Auslieferungshaft 995 3. Rechte der festgenommenen Person 998 a) Informationsrecht 998 b) Angemessene Haftdauer und richterliche Vorführung gem Art 5 III EMRK 999 c) Recht auf richterliche Haftprüfung gem Art 5 IV EMRK 1001 d) Das Recht auf Haftentschädigung 1004 4. Gewährleistungspflichten 1005 Justizgrundrechte im Zusammenhang mit Verfahren vor Gerichten 1006 1. Das Recht des fair trial gem Art 6 I EMRK 1006 a) Der Anwendungsbereich des Art 6 I EMRK 1006 b) Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht 1011 c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens 1017 aa) Der Grundsatz der Waffengleichheit 1018 bb) Anspruch auf rechtliches Gehör 1019 cc) Besondere Rechte des Angeklagten 1020 d) Die Öffentlichkeit des Verfahrens 1025 e) Das Gebot angemessener Verfahrensdauer 1028 2. Nulla poena sine lege (Art 7 EMRK) 1031 3. Das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung 1038 4. Recht auf Nachprüfung einer gerichtlichen Verurteilung 1041 5. Das Recht auf Entschädigung für Fehlurteile (Art 3 7. ZP EMRK) 1041
XXXVIII
III. IV.
Inhaltsverzeichnis
Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Das Recht auf wirksame Beschwerde 1043
§ 11.2 Recht auf Freiheit und Sicherheit nach der GRCh I. II.
III. IV. V.
Systematische Einordnung 1049 Schutzbereich 1051 1. Sachlicher Schutzbereich 1051 2. Persönlicher Schutzbereich 1053 Eingriffe 1053 Rechtfertigung 1056 Verfahrensrechtliche Garantien und Schadensersatz
§ 11.3 Justiz- und Verfahrensgrundrechte nach der GRCh I.
II.
1042
1048
1057
1061
Überblick 1061 1. Bedeutung der Justiz- und Verfahrensgrundrechte im EU-Recht 1061 2. Quellen der Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts 1062 a) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als ursprünglicher Anknüpfungspunkt 1062 b) Die Kodifikation durch die Grundrechtecharta 1064 c) Die Bedeutung des Sekundärrechts 1066 3. Verpflichtete 1067 Justiz- und Verfahrensgrundrechte gegenüber den EU-Organen 1068 1. Verfahrensgrundrechte gegenüber den Verwaltungsorganen der EU 1068 a) Die einzelnen Rechte 1068 b) Insbesondere: Verfahrensrechte im Kartellverfahren 1071 2. Verfahrensgrundrechte vor den EU-Gerichten 1075 a) Zugang zu den EU-Gerichten 1075 aa) Direkter und indirekter Zugang zu den EU-Gerichten 1075 bb) Zulässige Nichtigkeitsklagen Einzelner gegen die an sie gerichteten Beschlüsse 1078 cc) Klagen Einzelner gegen allgemein geltende Regelungen 1078 b) Garantien im Verfahren vor den EU-Gerichten 1084 aa) Unabhängigkeit und Unparteilichkeit 1084 bb) Gesetzlicher Richter 1085
Inhaltsverzeichnis
III.
IV.
V.
XXXIX
cc) Rechtliches Gehör 1086 dd) Anspruch auf Entscheidung in angemessener Frist 1088 Anforderungen der Justiz- und Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts an die Mitgliedstaaten 1089 1. Anwendbarkeit der Verfahrensgrundrechte auf das Handeln der Mitgliedstaaten 1089 2. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch die Grundfreiheiten 1093 3. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch das Gebot gleichwertigen und effektiven Schutzes (Art 4 III EUV) 1095 a) Stärkung der Verfahrensrechte durch das Effektivitätsgebot 1095 b) Insbesondere: Anspruch auf Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte 1096 c) Konflikte zwischen Verfahrensgarantien und Effektivitätsgebot 1099 Besondere Probleme bei „gestuften“ Verfahren und „gemischten“ Entscheidungen zwischen nationalen Behörden und EU-Kommission 1102 1. Gestufte Verfahren 1102 a) Das Phänomen 1102 b) Gefährdung der Rechte im Verwaltungsverfahren 1103 c) Problematik des Rechtsschutzes 1104 2. Rechtsschutzprobleme bei „gemischten“ Entscheidungen 1105 Zusammenfassung 1107
3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union § 12
Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten
1109
I.
Eigenart und Stellung der Grundfreiheiten im Gefüge des Unionsrechts 1109 1. Bedeutung der Grundfreiheiten 1109 2. Die einzelnen Grundfreiheiten 1112 3. Unmittelbare Geltung der Grundfreiheiten 1119 4. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten 1124 5. Vorrang der Grundfreiheiten 1125 6. Abgrenzung zu anderen Rechten des primären Unionsrechts 1126 a) Unionsgrundrechte 1126 b) Allgemeines Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV 1130 c) Sonstige Gleichheitsrechte 1131
XL
II.
III.
IV.
V. VI. VII.
Inhaltsverzeichnis
d) Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft 1132 e) Ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts 1135 7. Dogmatik der Grundfreiheiten 1136 Zielsetzungen, Gewährleistungsgehalte und Funktionen der Grundfreiheiten 1136 1. Die Binnenmarktzielsetzung und der sachliche Anwendungsbereich der Grundfreiheiten 1137 2. Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote 1144 a) Das Diskriminierungsverbot im Text der Grundfreiheiten 1144 b) Der Vergleichsmaßstab 1145 c) Arten der Diskriminierung 1145 3. Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote 1147 a) Beschränkung der Grundfreiheiten und Marktzutrittsverbote 1148 b) Grundfreiheitliche Beschränkungsverbote und Grundrechte 1153 4. Funktionen der Grundfreiheiten als Abwehrrechte und als Grundlage positiver staatlicher Handlungspflichten 1156 a) Überblick über die Wirkungsweise des Diskriminierungs- und des Beschränkungsverbots 1157 b) Staatliche Schutzpflichten 1158 c) Rechte auf originäre Leistung, derivative Teilhaberechte sowie Verfahrensrechte 1161 Berechtigte der Grundfreiheiten 1164 1. Natürliche Personen: Staatsangehörige der Mitgliedstaaten (Unionsbürger) 1164 2. Juristische Personen und Personenmehrheiten innerhalb der Union 1167 3. Drittstaatsangehörige sowie juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Union 1170 Adressaten der Grundfreiheiten 1174 1. Mitgliedstaaten der EU 1174 2. Europäische Union 1175 3. Privatpersonen 1175 Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten 1187 Zeitlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten 1188 Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten 1190 1. Anwendungsbereich der Grundfreiheiten 1190 a) Anwendbarkeit der Grundfreiheiten: Kein vorrangiges Sekundärrecht 1191
Inhaltsverzeichnis
b) c) d) e)
VIII.
XLI
Grenzüberschreitender Bezug 1192 Personeller, räumlicher und zeitlicher Anwendungsbereich 1192 Einschlägige Grundfreiheit – Abgrenzungsfragen 1192 Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheiten 1196 f) Nichtvorliegen von Bereichsausnahmen 1199 2. Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts der Grundfreiheiten 1204 a) Handeln, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten 1204 b) Beschränkung oder Diskriminierung 1204 aa) Diskriminierungsbegriff 1205 bb) Beschränkungsbegriff 1207 cc) Begrenzungen des weiten Gewährleistungsgehalts und Erweiterung der Rechtfertigungsmöglichkeiten 1211 (1) Ungewisse, hypothetische Auswirkungen 1212 (2) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 1213 (3) Tatbestandseinschränkung durch die Keck-Formel bei der Warenverkehrsfreiheit (Art 34 AEUV) 1214 (4) Übertragbarkeit der Keck-Rspr auf die anderen Grundfreiheiten? 1220 dd) Zuordnungsschwierigkeiten 1222 3. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten 1224 a) Keine abschließende Regelung durch Sekundärrecht und Eingriffe auf gesetzlicher Grundlage 1224 b) Geschriebene Rechtfertigungsgründe 1227 c) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 1233 aa) Notwendigkeit der Entwicklung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe 1233 bb) Anwendbarkeit der ungeschriebenen Schranken auf Beschränkungen und faktische Diskriminierungen 1236 d) Rechtfertigungsgründe im Falle des Handelns Privater 1239 e) „Schranken-Schranken“ 1240 aa) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 1240 bb) Unionsgrundrechte und sonstige Primärrechtsbestimmungen 1248 4. Schematische Zusammenfassung 1251 Rechtsschutz 1254 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen 1254 2. Durchsetzung der Grundfreiheiten durch die EU-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten 1257
XLII
Inhaltsverzeichnis
§ 13
Freiheit des Warenverkehrs
I.
Schutzbereich 1261 1. Räumlicher Schutzbereich 1261 2. Sachlicher Schutzbereich 1261 a) Aus den Mitgliedstaaten stammende oder sich im freien Verkehr befindende Waren 1261 b) Zum Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs 1264 3. Persönlicher Schutzbereich 1266 a) Berechtigte 1266 b) Verpflichtete 1266 Beeinträchtigung 1271 1. Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 34 AEUV) 1271 a) Mengenmäßige Beschränkungen 1271 b) Maßnahmen gleicher Wirkung 1272 aa) Offene Diskriminierungen 1273 bb) Versteckte Diskriminierungen 1273 cc) Beschränkungen 1274 2. Mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung 1287 Rechtfertigung 1288 1. Bereichsübergreifende Aspekte 1289 a) Keine sekundärrechtlichen Regelungen 1289 b) Verhältnis des Art 36 AEUV zu den „zwingenden Erfordernissen“, Anwendungsbereich der Rechtfertigungsgründe und dogmatische Einordnung 1291 c) Nicht wirtschaftlicher Charakter 1294 d) Zur Frage der Notwendigkeit eines territorialen Bezugs 1297 e) Zur Bedeutung der (unionsrechtlichen oder nationalen) Grundrechte 1298 2. Geschriebene Rechtfertigungsgründe 1299 3. Ungeschriebene Schranken 1301 4. Verhältnismäßigkeit 1302 a) Zum Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten 1304 b) Die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen 1306
II.
III.
1259
Inhaltsverzeichnis
§ 14
Arbeitnehmerfreizügigkeit
I.
Schutzbereich 1315 1. Vorbemerkung 1315 2. Sachlicher Schutzbereich 1316 a) Arbeitnehmereigenschaft 1316 b) Zeitliche Erstreckung 1321 c) Geschützte Betätigungen und Rechte im Aufenthalt 1323 d) Bereichsausnahmen 1330 3. Persönlicher Schutzbereich 1331 a) Unionsbürger und ihre Familienangehörigen 1331 b) Drittstaatsangehörige 1334 4. Konkurrenzen 1337 Beeinträchtigung 1338 1. Diskriminierungen 1338 2. Beschränkungen 1342 3. Adressaten 1345 Rechtfertigung 1346 1. Geschriebene Schranken 1346 2. Ungeschriebene Schranken 1348 3. Schranken-Schranken 1350
II.
III.
XLIII
1313
§ 15
Niederlassungsfreiheit
I.
Einleitung 1353 1. Grundlegende Strukturen und Probleme der Niederlassungsfreiheit im System der Grundfreiheiten 1353 2. Das Zusammenspiel von unions- und völkerrechtlicher Niederlassungsfreiheit 1357 Schutzbereich 1360 1. Räumlicher Schutzbereich 1360 2. Personeller Schutzbereich 1361 3. Sachlicher Schutzbereich 1362 a) Erwerbstätigkeit 1363 b) Dauerhafte und stabile Eingliederung in die Volkswirtschaft 1365 c) Ergebnis 1366 d) Primäre und sekundäre Niederlassung als Erscheinungsformen der sachlichen Schutzbereichsgewährleistung 1371 e) Grenzüberschreitender Sachverhalt 1373
II.
1353
XLIV
III.
IV. V.
Inhaltsverzeichnis
4. Bereichsausnahmen 1375 Beeinträchtigung 1379 1. Diskriminierungen 1379 2. Beschränkungen 1381 3. Beeinträchtigungen durch Private 1385 Rechtfertigung 1385 Die Anwendung der Niederlassungsfreiheit auf juristische Personen gem Art 54 AEUV 1389
§ 16
Dienstleistungsfreiheit
1397
I.
Einleitung 1399 1. Die allgemeine Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit im Unionsrecht 1399 2. Struktur der Dienstleistungsfreiheit im Unionsrecht 1402 3. Dienstleistungsfreiheit außerhalb des AEU-Vertrages 1404 a) Die „Freiheit, Dienstleistungen zu erbringen“ der Grundrechtecharta 1404 aa) Kontrollbereich 1404 bb) Sachlicher Schutzbereich 1404 cc) Anwendungsverhältnis 1405 b) Sonstige Regelungen außerhalb des AEU-Vertrags 1406 4. Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs durch Sekundärrecht a) Die Sekundärrechtssetzung bis zum Jahr 2001 (erste und zweite Stufe) 1409 b) Die Binnenmarktstrategie der Kommission vom Januar 2001 (dritte Stufe) 1409 c) Die Dienstleistungsrichtlinie 1410 aa) Regelungsansatz 1410 bb) Entstehungsgeschichte 1411 cc) Materiell-rechtlicher Gehalt 1412 d) Dienstleistungspaket der Kommission von 2017 1415 aa) Elektronische Europäische Dienstleistungskarte 1415 bb) Verbessertes Meldeverfahren 1416 cc) Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Vorschriften betreffend reglementierte Berufe 1419 dd) Leitfaden zur Reformierung bei der Reglementierung freier Berufe 1420
1408
Inhaltsverzeichnis
II.
III.
IV.
V.
XLV
5. Weitere wichtige Sekundärrechtsakte 1421 6. Bewertung aktueller Maßnahmen 1424 Schutzbereich 1425 1. Räumlicher Schutzbereich 1425 2. Personeller Schutzbereich 1425 3. Sachlicher Schutzbereich 1428 a) Definition der Dienstleistung gem Art 57 AEUV 1429 b) Grenzüberschreitender Vorgang 1431 c) Bereichsausnahme 1434 d) Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten 1436 Beeinträchtigung des Schutzbereichs 1440 1. Adressaten 1441 2. Diskriminierung 1442 a) Offene Diskriminierung 1442 b) Versteckte Diskriminierung 1443 c) Ansässigkeitserfordernisse 1443 d) Abgrenzung zum allgem Diskriminierungsverbot 1444 3. Beschränkungen 1446 a) Umfassendes Beschränkungsverbot 1446 b) Modifikation 1447 Rechtfertigung 1449 1. Ausdrückliche (geschriebene) Schranke 1449 2. Ungeschriebene Schranken 1452 3. Schranken-Schranken 1454 a) Allgemeine Schranken-Schranken 1455 b) Insb: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 1455 aa) Legitimes Ziel 1456 bb) Geeignetheit 1456 cc) Erforderlichkeit 1458 dd) Angemessenheit 1460 ee) Darlegungs- und Nachweispflichten der Mitgliedstaaten 1460 Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit 1464 1. Sport im Lichte der Dienstleistungsfreiheit 1464 2. Die Kohärenz am Beispiel des Glücksspielrechts 1470 a) Einführung in die Problematik des Glücksspielrechts 1470 aa) Festlegung des Schutzniveaus 1470 bb) Bestimmung der legitimen Ziele im Glücksspielrecht 1471 b) Systematische Stellung des Kohärenzgebots 1472 c) Inhalt 1473 aa) Überblick 1473
XLVI
Inhaltsverzeichnis
3.
3.
bb) Materiellrechtlicher Gehalt 1473 (1) Staatlicher Entscheidungsspielraum 1473 (2) Vergleichsmaßstab 1474 (3) Bewertung der unterschiedlichen Maßnahmen im Hinblick auf ihre Kohärenz 1476 (4) Berücksichtigung der tatsächlichen Auswirkungen 1477 cc) Inkohärente Zielverfolgung 1478 d) Zusammenfassung 1478 Auswirkungen der Dienstleistungsfreiheit auf die öffentliche Auftragsvergabe 1479 a) Voraussetzungen der Anwendbarkeit der Grundfreiheiten nach EuGH-Judikatur 1481 aa) Bindung des handelnden Auftraggebers 1482 bb) Sachlicher Anwendungsbereich 1482 cc) Grenzüberschreitendes Element 1483 b) Vorgaben der Grundfreiheiten an die staatliche Auftragsvergabe 1484 aa) Diskriminierungsverbot und Gebot der Gleichbehandlung 1485 bb) Transparenzgebot und Nachprüfbarkeit 1486 cc) Verhältnismäßigkeit und Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung 1487 Weitere bedeutende Entscheidungen des EuGH 1488
§ 17
Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs
I.
Schutzbereich 1493 1. Kapitalverkehr 1493 2. Grenzübertritt 1497 3. Zahlungsverkehr 1498 Beschränkungsverbot 1499 Rechtfertigung von Beschränkungen innerhalb der Union 1502 1. Kodifizierte Rechtfertigungen 1502 2. Zwingende Erfordernisse 1504 Einzelne Regelungsfelder 1506 1. Steuerrecht: Besteuerung von Kapitalerträgen 1506 a) Gleichmäßig wirkende Steuerregelungen 1506
II. III.
IV.
1493
Inhaltsverzeichnis
V.
XLVII
b) Unterschiedlich wirkende (dh diskriminierende) Steuerregelungen 1507 aa) Der Steuervorbehalt des Art 65 I lit a AEUV 1508 bb) Rechtfertigungsgrund 1509 cc) Folgerungen 1510 2. Unternehmensrecht 1514 a) Privatisierungsrecht 1514 b) Erwerb von Gesellschaftsanteilen an Unternehmen mit Bedeutung für die nationale Sicherheit 1516 c) Gesellschaftsrecht 1518 3. Außenwirtschaftsrecht: Meldepflichten 1520 4. Währungsrecht 1521 a) Geldpolitik 1521 b) Wechselkurspolitik 1522 5. Recht des Grundstücksverkehrs 1522 a) Nebenwohnungen, Ferienwohnungen 1523 aa) Maßnahmen gegen nur zeitweilig genutzte Nebenwohnsitze (zugunsten von ganzjährig genutzten Hauptwohnsitzen) 1523 (1) Erhaltung eines lebendigen Ortsgebiets 1524 (2) Schutz der Interessenten an Hauptwohnsitzen 1526 (3) Weitere Belange des Allgemeinwohls? 1527 (4) Ergebnis zu Maßnahmen gegen nur zeitweilig genutzte Nebenwohnsitze 1528 bb) Maßnahmen gegen häufig wechselnde kurzzeitige Vermietungen (zugunsten längerfristiger Nutzung von Wohnraum) 1529 cc) Dänemark 1529 b) Einheimischenmodelle 1530 c) Landwirtschaftliche Grundstücke 1531 d) Grundstücke in Grenzgebieten und Gebieten von militärischer Bedeutung 1533 6. Kreditsicherungsrecht 1533 a) Grundsätze 1533 b) Beispiel: Sicherungsrechte in fremder Währung 1535 7. Erbrecht 1536 Zusätzliche Beschränkungen gegenüber Drittstaaten 1537 1. Begründungsfreie Beschränkungen nach Art 64 AEUV 1538 2. Befristete Beschränkungen nach Art 66 AEUV 1540 3. Wirtschaftssanktionen nach Art 215 AEUV 1541
XLVIII
Inhaltsverzeichnis
4. VI. VII.
Weiter reichende Auslegung des Art 65 AEUV und der zwingenden Erfordernisse 1542 Verhältnis zu den anderen Grundfreiheiten 1544 Schluss 1547
Sachregister
1549
Abkürzungsverzeichnis Hinweis: Die Abkürzungen werden immer nur in der Grundform verwendet (auch wenn im Text der Genitiv oder Plural gebraucht wird). A a aA aaO abgedr abl ABl Abs Abschn abw aE AEMR AEUV aF AfP AJCL AJIL AktG allgem allgM Alt aM amtl Begr and Änd ÄndG Anh Anl Anm Ans ao AöR ARB ArbR ArbuR arg Art AS AT AuA Aufl ausf
auch anderer Ansicht am angegebenen Ort abgedruckt ablehnend Amtsblatt Absatz Abschnitt abweichend am Ende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Archiv für Presserecht American Journal of Comparative Law American Journal of International Law Aktiengesetz allgemein allgemeine Meinung Alternative andere(r) Meinung amtliche Begründung anders Änderung Gesetz zur Änderung (von) Anhang Anlage Anmerkung Ansicht außerordentlich Archiv des öffentlichen Rechts Assoziationsratsbeschluss Arbeitsrecht Arbeit und Recht Argument Artikel Amtliche Sammlung Allgemeiner Teil Arbeit und Arbeitsrecht Auflage ausführlich
https://doi.org/10.1515/9783110716740-205
L
Abkürzungsverzeichnis
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Ausländergesetz Archiv des Völkerrechts Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschaftsverordnung Aktenzeichen
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bei Bund(es) Betriebs-Berater baden-württembergisch Landkreisordnung für Baden-Württemberg Gemeindeordnung für Baden-Württemberg Bundesarbeitsgericht Bundesanzeiger Bundesangestelltentarifvertrag Baugesetzbuch Bayerisches Ministerialblatt Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Gesetz über die Deutsche Bundesbank Band Landkreisordnung für das Land Brandenburg Bände Begründung begründet Beilage Bekanntmachung Beklagter belgisch Bemerkung berichtigt besonders, besondere Beschluss betreffend Betriebsverfassungsgesetz Beschwerdeführer Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundes-Immissionsschutzgesetz Bruttoinlandsprodukt bisher(ige) Bundeskindergeldgesetz Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht
Abkürzungsverzeichnis
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Boletín Oficial del Estado Bundesrats-Drucksache Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Beamtenstatut Bundessozialhilfegesetz Beispiel beispielsweise Bundestags-Drucksache Buchstabe Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bulletin der Europäischen Union Bundesverfassungsgericht amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerfG Bundesverfassungsgericht (Kammer) Bundesverwaltungsgericht amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerwG British Yearbook of International Law bezüglich beziehungsweise
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circa Council of Europe Treaty Series Collections of Decisions, Sammlung der Entscheidungen der EKMR Cahiers de droit européen Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft Common Market Law Reports Common Market Law Review Columbia Journal of Transnational Law Computer und Recht
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dagegen Der Betrieb Diritto comunitario e degli scambi internazionali Deutsche Demokratische Republik dementsprechend denselben derselbe dergleichen das heißt dieselben Dissertation Dokument Die Öffentliche Verwaltung
LI
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Abkürzungsverzeichnis
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Décisions et Rapports der Europäischen Kommission für Menschenrechte Deutsche Richterzeitung Drucksache Verordnung (EU) 2016/679 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) deutsch Datenschutz und Datensicherheit Die Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt
E E EA EAG EAGV ebd EC ECHR ECLR EConstLRev ECSR ed(s) EG EGB EGBGB EGKS EGKSV EGMR EGV EHRLR Einf Einl EJIL EKMR ELJ ELR ELRev EMRK endg engl entspr Entw EnWZ EP EPL ER
Entscheidung Europa-Archiv Europäische Atomgemeinschaft EAG-Vertrag ebenda European Community European Court Of Human Rights European Competition Law Revue European Constitutional Law Review Europäischer Ausschuss für Sozialrechte editor(s)/edition Europäische Gemeinschaft(en) Europäischer Gewerkschaftsbund Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuches Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Human Rights Law Review Einführung Einleitung European Journal of International Law Europäische Kommission für Menschenrechte European Law Journal European Law Reporter European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention endgültig englisch entsprechend Entwurf Zeitschrift für das gesamte Recht der Energiewirtschaft Europäisches Parlament European Public Law Europarecht
Abkürzungsverzeichnis
ErgBd Erl Erläuterungen
LIII
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Ergänzungsband Erläuterung(en) Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zur Charta der Grundrechte Entscheidungssammlung Europäische Sozialcharta Einkommensteuergesetz Europäisches System der Zentralbanken et cetera European Treaty Series Europäische Union Verordnung über die für Staatsangehörige eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz geltenden Voraussetzungen für die Ausübung eines zulassungspflichtigen Handwerks Gericht der Europäischen Union; Gericht Erster Instanz Europäischer Gerichtshof Verfahrensordnung des Gerichtshofs Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union Europäisches Gemeinschaftsrecht Europäische Grundrechte-Zeitschrift Verfahrensordnung des Gerichts Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.10.1968 (BGBl 1972 II 774) Europarecht (Zeitschrift) Europäische Atomgemeinschaft europäisch Europawahlgesetz Europawahlrichtlinie Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht Vertrag über die Europäische Union Eurpäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Entwurf zum Beitrittsübereinkommen der EU zur EMRK Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Europäische Zentralbank
F f ff FamRZ FAZ FG Fn
folgende fortfolgende Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung Finanzgericht Fußnote
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Abkürzungsverzeichnis
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Generalanwalt Gemeinsame Agrarpolitik Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Trade in Services General Agreement on Tariffs and Trade Gesetzblatt Grundbuchordnung geändert gemäß Gesetz Gewerbearchiv Gewerbesteuergesetz gegebenenfalls Große Kammer gleicher Ansicht Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH Rundschau Entscheidungen des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes Geschäftsordnung Zeitschrift für das Privatrecht der Europäischen Union Grundrechte Grundrechts-Charta grundsätzlich griechisch grundlegend Gewerblicher Rechtsschutz und Urherberrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urherberrecht, Praxis im Immaterialrechtsgüterund Wettbewerbsrecht Gedächtnisschrift Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeinehmer vom Dezember 1989 (Europarat) Gemeinsame Verfügung (mehrerer Ministerien) Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen German Yearbook of International Law
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herrschende Ansicht Halbsatz Handwerksordnung Handbuch Europarecht
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Abkürzungsverzeichnis
Hdb Hervorh hess GO Hinw hL hM HRLJ Hrsg Hs
Handbuch Hervorhebung Hessische Gemeindeordnung Hinweis herrschende Lehre herrschende Meinung Human Rights Law Journal Herausgeber Halbsatz
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Reports of the International Court of Justice inklusive International and Comparative Law Quarterly in der Fassung in der Regel in diesem Sinne im Ergebnis im engeren Sinne International Legal Materials im allgemeinen Informationsbrief Ausländerrecht insbesondere insgesamt Internationales Gesellschaftsrecht Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privatrechts Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Sinne (von) im Sinne des/der im Sinne einer/eines Internationales Steuerrecht in Verbindung mit im Verhältnis zu Internationaler Währungsfonds in weiterem Sinne im Zweifel
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Juristische Blätter Juris-Classeur périodique Jounal de droit européen Journal du Droit International Journal for European Environmental & Planning Law jeweils JURA – Karteikarte
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LVI
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Abkürzungsverzeichnis
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Journal des Tribunaux – Droit européen Juristische Ausbildung juris PraxisReport Arbeitsrecht Juristische Schulung Juristenzeitung
K Kap Kapitel KJ Kritische Justiz Kl Kläger KlimR Klima und Recht KOM Europäische Kommission Komm Kommentar KommunalwahlRL Kommunalwahlrichtlinie KonsG Konsulargesetz (BGBl 1974 I 2317) krit kritisch KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft KSZE Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa K&R Kommunikation und Recht KWahlG Kommunalwahlgesetz KWahlG NW Gesetz über die Kommunalwahlen im Lande Nordrhein-Westfalen L lfd LGBl LIEI lit Lit LKRZ LS lt lux LV
laufend Landesgesetzblatt Legal Issues of Economic Integration Buchstabe Literatur Zeitschrift für Landes- und Kommunalrecht Leitsatz laut luxemburgisch Literaturverzeichnis
M m Anm m Hinw m krit Anm m zust Anm maW mE MJ MLR MMR MRA
mit Anmerkung (von) mit Hinweis(en) mit kritischer Anmerkung (von) mit zustimmender Anmerkung mit anderen Worten meines Erachtens Maastricht Journal of European and Comparative Law Modern Law Review Multimedia und Recht Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen
Abkürzungsverzeichnis
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mit späteren Änderungen mit weiteren Nachweisen
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Nachweis(e) North Atlantic Treaty Organization Niedersächsische Verwaltungsblätter Netherlands International Law Review neue Fassung niederländisch Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Online Zeitschrift Newsletter Menschenrechte Novelle Nummer Nummern Neue Zeitschrift für Strafrecht Natur und Recht Netzwirtschaften und Recht Naamloze Vennootschap, niederländische Aktiengesellschaft Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungsreport Nordrhein-Westfalen Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für Kartellrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Neue Züricher Zeitung
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oben Ordnung oben angegeben oder ähnlich Organization for Economic Cooperation and Development oben genannt ohne Jahr Österreichische Jurist:innenzeitung österreichische Gewerbeordnung Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ohne Verfasser Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
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Abkürzungsverzeichnis
Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Plenum Protokoll
Rechtsanwalt Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revista de Administração de Empresas Rechtsausschuss Recht der Arbeit Recht der Energiewirtschaft Runderlass Recht der Jugend und des Bildungswesens Rundschreiben Revue du droit public Revue du droit de l'Union européenne Recueil Regierung Reports of Judgments and Decisions Revidierte Europäische Sozialcharta von 1996 (Europarat) Review Revue des affaires européennes Revue du Marché commun et de l'Union européenne Revue française de droit administratif Revue générale de droit international public Gemeindeordnung (Rheinland-Pfalz) Landesgesetz über die Wahlen zu den kommunalen Vertretungsorganen (Rheinland-Pfalz) Riv Ital Dir Pubbl Rivista Italiana di Diritto Pubblico Comunitario Comunitario Riv dir int Rivista di diritto internazionale Riv trim dir pubbl Rivista trimestrale di diritto pubblico RIW Recht der internationalen Wirtschaft RJD Reports of Judgements and Decisions RL Richtlinie RMC Revue du marché commun RMUE Revue du marché unique européen Rn Randnummer Rs Rechtssache RSC Revue de science criminelle et de droit pénal comparé Rspr Rechtsprechung Rspr-Nachw Rechtsprechungsnachweise RTDE Revue trimestrielle de droit européen RTDH Revue trimestrielle des droits de l'homme
Abkürzungsverzeichnis
RUE RUDH S s S sa so su sächs GO sachs-anh GO Sart SchlA SDSRV SGb SGB Slg Slg ÖD
LIX
Revue de l’Union européenne Revue universelle des droits de l’homme
sog Sp SRÜ st StGB StGB-DDR StPO StR str stRspr StuB StuW StV SZ SZIER
siehe Seite, Satz siehe auch siehe oben siehe unten Sächsische Gemeindeordnung Gemeindeordnung für das Land Sachsen-Anhalt Sartorius Schlussanträge Schriftenreihe des Deutschen Sozialverbandes Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgesetzbuch Amtliche Sammlung der Entscheidungen des EuGH Amtliche Sammlung der Entscheidungen des EuG und des EuGöD in Rechtssachen im öffentlichen Dienst sogenannt(e) Spalte Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen ständige Strafgesetzbuch Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik Strafprozessordnung Steuerrecht strittig, streitig ständige Rechtsprechung Steuern und Bilanzen Steuer und Wirtschaft Strafverteidiger Süddeutsche Zeitung Schweizerische Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht
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Textziffer
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unten ähnliche unter anderem, und andere Unterabsatz und anderes mehr Überblick Übereinkommen überwiegende Meinung
LX
Abkürzungsverzeichnis
umstr UN UN Doc UNICE unstr UNTS unv UPR Urt US usw UTR uU uVm UWG
umstritten United Nations United Nations Document Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas unstreitig/unstrittig United Nations Treaty Series unveröffentlicht Umwelt- und Planungsrecht Urteil United States Reports (Cases Adjudged in the Supreme Court) und so weiter Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts unter Umständen und Vieles mehr Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
V v Var VB VBlBW verb Rs Verf VerfBlog VerfGH VerfO EMRK VerR Vers VerwArch VfSlg VG VGH BW VGH vgl vH VK VN VO Vol Voraufl Vorbem VR VSSR VVDStRL VVE VwGO
vom/von Variante Verfassungsbeschwerde Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg verbundene Rechtssache Verfassung Verfassungsblog Verfassungsgerichtshof Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Versicherungsrecht Versicherung Verwaltungsarchiv Ausgewählte Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Verwaltungsgerichtshof vergleiche vom Hundert Vereinigtes Königreich Vereinte Nationen Verordnung Volume Vorauflage Vorbemerkung Völkerrecht Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrag über eine Verfassung für Europa Verwaltungsgerichtsordnung
Abkürzungsverzeichnis
W w Nachw b WissR Wistra WM WoGG WpÜG WTO WuB WuW WÜD WÜK WVK / WVRK WWU
weitere Nachweise bei Wissenschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Wertpapier-Mitteilungen – Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht Wohngeldgesetz Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz World Trade Organisation Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht Wirtschaft und Wettbewerb Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Wirtschafts- und Währungsunion
Y YB YEL
Yearbook of the European Convention on Human Rights Yearbook of European Law
Z z ZaöRV ZAP ZAR zB ZBR ZD ZESAR ZeuP ZEuS ZevKR ZfA ZfBR ZfPR ZfPW ZfRV ZfV ZfZ ZG ZGR ZHR ZIAS Ziff ZIÖ ZIP ZIS zit
zum Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Datenschutz Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Personalvertretungsrecht Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft Zeitschrit für Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Zeitschrift für Verwaltungsrecht Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Ziffer Zeitschrift für Immobilienökonomie Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik zitiert
LXI
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Abkürzungsverzeichnis
Zeitschrift für das juristische Studium Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen Zusatzprotokoll Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil Zeitschrift für Urheber und Medienrecht Zeitschrift für Umweltrecht zustimmend zutreffend Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Wettbewerbsrecht zur Zeit
Die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union sind idR nach der Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung zitiert worden. Soweit die Entscheidungen nicht in die Amtliche Sammlung aufgenommen wurden, wird ggf auf die Veröffentlichung in einer gängigen Zeitschrift, im Übrigen aber auf Datum und Aktenzeichen verwiesen (Internetfundstelle: https://curia.europa.eu/). Auf den Abdruck der ECLI-Nummer wurde verzichtet. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind, soweit möglich und ungeachtet des Umstandes, dass es sich nicht um amtliche Übersetzungen handelt, zumeist mit einer Fundstelle in der deutschsprachigen Literatur zitiert worden. Auch hier sind aber immer Datum und Aktenzeichen angegeben (Internetfundstelle: https://hudoc.echr.coe.int/). Nachrangig wird auch auf die Amtliche Rechtsprechungssammlung zurückgegriffen. Diese wurde mehrfach umbenannt. Vor 1996 wurde die Bezeichnung Publications de la Cour Européenne des Droits de l’Homme, Série A: Arrêts et décisions/Publications of the European Court of Human Rights, Series A: Judgments and Decisions, gewählt. Diese Reihe wird hier in der englischen Version „Series A“ zitiert. Ab 1996 wird von Recueil des Arrêts et Décisions/Reports of Judgments and Decisions gesprochen, wobei hier für den Zeitraum von 1996 bis 1998 die Abkürzung RJD Jahr-Band (römische Ziffer), ab dem 1.11.1998 die Abkürzung ECHR Jahr-Band (römische Ziffer) gewählt wurde. Die Entscheidungen der früheren Kommission sind von 1960 (Band 1) bis 1974 (Band 46) veröffentlicht in: Collection of Decisions of the European Commission of Human Rights (CD); fortgeführt seit 1975 (Band 1) bis 1998 (Band 94) als Decisions and Reports, seit Band 76 aufgeteilt in Series A und B. In Series A finden sich die Entscheidungen in der Originalfassung, in der Serie B in der jeweiligen französischen oder englischen Übersetzung (hier zitiert als: DR).
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur von Arnauld, Andreas: Völkerrecht, 5. Aufl, Heidelberg 2022 (zit: v Arnauld VR) Barnard, Catherine/Peers, Steve: European Union Law, 3. Aufl, Oxford 2020 (zit: Bearbeiter in: Barnard/ Peers EU) Bieber, Roland/Epiney, Astrid/Haag, Marcel/Kotzur, Markus: Die Europäische Union. Europarecht und Politik, 15. Aufl, Baden-Baden 2022 (zit: Bearbeiter in: Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, EU) Bleckmann, Albert: Europarecht, 6. Aufl, Köln/Berlin/Bonn/München 1997 (zit: Bleckmann ER) von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg): Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl, Heidelberg 2009 (zit: Bearbeiter in: v Bogdandy, Europ VfR) von Bogdandy, Armin/Huber, Peter M. ua (Hrsg): Ius Publicum Europaeum, 7 Bände, Heidelberg 2007 ff (zit: Bearbeiter in: IPE Bd) Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg): EUV/AEUV Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Grundrechtecharta. Kommentar, 6. Aufl, München 2022 (zit: Bearbeiter in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV) Craig, Paul/De Búrca, Gráinne: EU Law. Text, Cases, and Materials, 7. Aufl, Oxford 2020 (zit: Craig/de Búrca EU) Dauses, Manfred/Ludwigs, Markus (Hrsg): Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Loseblatt, München (zit: Bearbeiter in: HbEUWirtschR) Dörr, Oliver/Grote, Rainer/Marauhn, Thilo (Hrsg): EMRK/GG. Konkordanzkommentar, 3. Aufl, Tübingen 2022 (zit: Bearbeiter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG) Dörr, Oliver/ Lenz, Christofer: Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2. Aufl, Baden-Baden 2019 (zit: Dörr/Lenz Verwaltungsrechtsschutz) Dreier, Horst (Hrsg): Grundgesetz Kommentar, 3 Bände, 3. Aufl, München 2013 ff (zit: Bearbeiter in: Dreier, GG, Bd) Dürig, Günter/Herzog, Roman/Scholz, Rupert (Hrsg): Grundgesetz Kommentar, Loseblatt, München (zit: Bearbeiter in: Dürig/Herzog/Scholz, GG) Ehlermann, Claus-Dieter/Bieber, Roland/Haag, Marcel (Hrsg): Handbuch des Europäischen Rechts, Loseblatt, Baden-Baden (zit: Bearbeiter in Ehlermann ua, HbEuR) Ehlers, Dirk/Schoch, Friedrich (Hrsg): Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, München 2021 (zit: Bearbeiter in: Ehlers/Schoch, RS) Frenz, Walter: Handbuch Europarecht. Band 1, Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl, Berlin/Heidelberg 2012 (zit: Frenz GF) Frenz, Walter: Handbuch Europarecht. Band 4, Europäische Grundrechte, Berlin/Heidelberg 2009 (zit: Frenz GR) Friauf, Karl Heinrich (Begr)/Höfling, Wolfram/Augsberg, Steffen/Rixen, Stephan (Hrsg): Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, Berlin (zit: Bearbeiter in: BerlKommGG) Frowein, Jochen A/Peukert, Wolfgang: Europäische Menschenrechtskonvention. Kommentar, 3. Aufl, Kehl 2009 (zit: Bearbeiter in: Frowein/Peukert, EMRK) Gärditz, Klaus Ferdinand (Hrsg): Verwaltungsgerichtsordnung mit Nebengesetzen. Kommentar, 2. Aufl, Köln 2018 (zit: Bearbeiter in: Gärditz, VwGO) Geiger, Rudolf/Khan, Daniel-Erasmus/Kotzur, Markus/Kirchmair, Lando (Hrsg): EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union/Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 7. Aufl, München 2023 (zit: Bearbeiter in: Geiger/Khan/Kotzur/Kirchmair, EUV/AEUV) Gersdorf, Hubertus/Paal, Boris M: BeckOK Informations- und Medienrecht, Online-Kommentar, München (zit: Gersdorf/Paal BeckOK InfoMedienR)
https://doi.org/10.1515/9783110716740-206
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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
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1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee § 1 Geschichte und Entwicklung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten I. Internationaler und Europäischer Grundrechtsschutz Versteht man sie im Kontext internationaler und supranationaler Organisationen, 1 insbesondere des Europarats und der EU, so sind „europäische“ Grundrechte und Grundfreiheiten eine Entwicklung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und Teil eines in dieser Zeit entstehenden internationalen Menschenrechtsschutzes. Wichtige Meilensteine des internationalen Menschenrechtsschutzes waren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Oktober 1948, die Europäische Menschenrechtskonvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. September 1950 sowie die beiden ebenfalls im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeiteten Menschenrechtspakte aus dem Jahr 1966: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Diese internationale Rechtsentwicklung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg knüpft an die Tradition der großen Menschenrechtserklärungen der Aufklärung, insbesondere die Französische Menschenrechtserklärung von 1789, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die „bills of rights“ der Neuenglandstaaten an. Der internationale Menschenrechtsschutz ist so die völkerrechtliche Fortschreibung einer in den nationalen Verfassungen entstandenen Rechtskultur.1 Auf der regionalen Ebene Europas hat der Einigungsprozess der Nachkriegs- 2 zeit eine Vielzahl internationaler Organisationen mit unterschiedlicher Zielsetzung hervorgebracht.2 Für die Entwicklung der Grundrechte und Grundfreiheiten sind vor allem der Europarat, die OSZE und die EU von Bedeutung. Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der drei Organisationen unterscheidet sich in wichtigen Punkten. Der Europarat ist die älteste der drei Organisationen. Gegründet im Jahr 1949
1 Dazu H Hofmann, NJW 1989, 3177 ff; allgem zur Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, 2009; Oestreich Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 2. Aufl 1978. 2 S den Überblick bei Oppermann in: Oppermann/Classen/Nettesheim Europarecht, 4. Aufl 2009, § 3 (der Abschnitt wurde nicht mehr in der aktuellen Aufl fortgeführt) und Herdegen ER, § 1 Rn 6–11.
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1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee
hat er nach Art 1 seiner Satzung die Aufgabe, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze ihrer gemeinsamen Ideale und Grundsätze herzustellen. Er widmete sich vor allem der Ausarbeitung von völkerrechtlich verbindlichen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte und zur Behandlung sozialer Fragen.3 Dabei ist ihm eine besondere Rolle als „Hüter von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“4 zugewachsen. Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der OSZE zeichnete sich während der Entspannungspolitik der Siebziger Jahre vor allem durch seinen prozesshaften und völkerrechtlich unverbindlichen Charakter aus.5 Dieser kommt in der damaligen Bezeichnung der heutigen OSZE als „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)“ zum Ausdruck.6 Sowohl die im Rahmen des Europarats erarbeiteten Verträge als auch der Menschenrechtsschutz durch KSZE und OSZE sind darauf gerichtet, Menschenrechte gegenüber der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten zu schützen. 3 Auf einer anderen Ebene lag die ursprüngliche Diskussion um den Schutz von Grund- und Menschenrechten in der EG und später EU. In der EU waren seit dem 1. November 1993 die früheren drei Europäischen Gemeinschaften (EG, EGKS und EAG) zusammengefasst. Der EGKS-Vertrag ist zum 23. Juli 2002 nach 50jähriger Laufzeit außer Kraft getreten (Art 97 EGKS-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Amsterdam).7 Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurden die frühere EG und die EU in der EU verschmolzen (vgl Art 1 III 3 EUV).8 Die von der Union (und früher der EG) ausgeübte Hoheitsgewalt wirkt in vielfältiger Weise in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinein und ersetzt in nicht unerheblichem Umfang die staatliche Hoheitsgewalt. Dies rief schon in den späten 1960er eine Diskussion um den Grundrechtsschutz gegenüber Akten des Gemeinschaftsrechts hervor.9 In dieser Perspektive ging es zunächst nicht um den internationalen Schutz von Menschenrechten gegenüber staatlicher Hoheitsgewalt, sondern um die Beachtung und
3 S im Einzelnen die Nachweise bei Oppermann in: Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 2 Rn 9 ff. 4 So die Formulierung in der Erklärung des Deutschen Bundestags „50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer Menschenrechtsschutz“, BT-Drs 14/1568 v 9.9.1999, 2. 5 In der Schlussakte von Helsinki (Bulletin der Bundesregierung Nr 102 vom 15.8.1975, 965 f) wurde 1975 die Achtung der Menschenrechte als selbstständiger Grundsatz verankert (Ziff VII der Leitlinien) und Korb III enthielt ua Vereinbarungen über menschliche Kontakte, s dazu Hailbronner in: Graf Vitzthum, VR, 3. Abschn Rn 258. 6 Die Umbenennung in „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ erfolgte nach den politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa (vgl die Gipfelerklärung von Helsinki „Herausforderungen des Wandels“, Ziff 46, Bulletin der Bundesregierung Nr 82 v 23.7.1992, 777 (781)). 7 Dazu Obwexer, EuZW 2002, 517 ff. 8 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 1 EUV Rn 6 ff; die EAG besteht jedoch weiterhin fort, vgl ABl 2007 Nr C 306/199; s auch Streinz ER Rn 89. 9 Vgl. die Hinweise bei Bahlmann, EuR 1982, 1 (4 f, 9).
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Durchsetzung von Grundrechtsstandards gegenüber einer neu geschaffenen, supranationalen Hoheitsgewalt. Der EuGH hat den Grundrechtsschutz zunächst ganz in diesem Sinne als Schutz gegen europäische Rechtsakte entwickelt, den Anwendungsbereich später aber zunehmend auch auf das mitgliedstaatliche Recht erstreckt, soweit es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt.10 Die folgende Darstellung von Geschichte und Entwicklung der Menschenrechte 4 und Grundfreiheiten in Europa behandelt zunächst den Grundrechtsschutz im Rahmen des Europarats und insbesondere unter dem System der EMRK und anschließend die Entwicklung des Grundrechtsschutzes im Europäischen Unionsrecht. Daran schließt sich ein Überblick über die derzeit beim Grundrechtsschutz bestehenden, recht unübersichtlichen Verflechtungen zwischen EMRK, Grundrechtecharta der EU und mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht an. Er schließt mit einer Darstellung der Entwicklung der Grundfreiheiten im Europäischen Unionsrecht, die ursprünglich vor allem als Mittel zur Abwehr von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verstanden wurden, sich heute aber auch als wirtschaftliche Freiheitsrechte erweisen.
II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats und insbesondere durch die EMRK Der Europarat sieht seine Aufgabe in erster Linie in der Erarbeitung von völker- 5 rechtlich verbindlichen Verträgen zum Schutz von Menschenrechten. Von den über 216 im Rahmen des Europarats erarbeiteten Verträgen11 ist ein wichtiger Teil dem Schutz der Menschenrechte gewidmet, darunter an erster Stelle die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes durch die EMRK Die Europäische Menschenrechtskonvention, der zunächst nur 10 Mitgliedstaa- 6 ten angehörten, hat sich in den vergangenen 50 Jahren zu einem internationalen Rechtsschutzsystem entwickelt, dem inzwischen 47 Mitgliedstaaten angehören und das durchaus mit dem der Verfassungsgerichtsbarkeit in nationalen Rechtsordnun-
10 S unten Rn 23 ff und 40. 11 S den Nachweis unter http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeTraites.asp?CL=GER&CM= 8; s a Klein, ArchVR 39 (2001), 121 (123).
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1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee
gen verglichen werden kann.12 Manche sprechen sogar von einer „Europäischen Grundrechtsverfassung“13. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte selbst verwendet den Begriff „constitutional instrument of European Public Order“14.
a) Entstehungsgeschichte 7 Die Idee zur Schaffung einer europäischen Menschenrechtskonvention einschließ-
lich eines Gerichtshofs zu ihrer Durchsetzung wurde auf dem 1. Kongress der Europäischen Bewegung in Den Haag formuliert,15 steht aber im breiteren Zusammenhang der Entstehung des universellen internationalen Menschenrechtsschutzes und namentlich der Beratungen über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR).16 Während der Beratungen über den Konventionstext entfielen das im ursprünglichen Entwurf enthaltene Grundrecht auf Eigentum, das elterliche Erziehungsrecht und das Recht auf freie Wahlen.17 Letzteres war im Entwurf sogar als Grundrecht auf Demokratie ausgestaltet (Art 3).18 Außerdem wurde es zugelassen, Vorbehalte zu einzelnen Konventionsrechten zu formulieren.19 Dadurch konnten die Mitgliedstaaten den Umfang ihrer Verpflichtungen aus der EMRK selbst mitbestimmen. Die EMRK trat nach der Ratifikation durch zehn Staaten am 3. September 1953 in Kraft. Von den großen westeuropäischen Staaten hielt sich vor allem Frankreich sehr lange zurück. Frankreich ratifizierte die Konvention erst am 3. Mai 1974. 8 Als besonders schwierig erwies sich die Vereinbarung eines Individualbeschwerdeverfahrens, mit dem der einzelne Bürger Konventionsverletzungen unmittelbar vor von der Konvention geschaffenen europäischen Rechtsschutzorganen geltend machen konnte. Die Staaten waren nicht bereit, dem Einzelnen einen direk-
12 Frowein Collected Courses of the Academy of European Law, 1990, Vol I Book 2, 267 (278); Stone Sweet, On the Constitutionalisation of the Convention: The European Court of Human Rights as a Constitutional Court, 2009, verfügbar unter: https://digitalcommons.law.yale.edu/cgi/viewcontent. cgi?article=1070&context=fss_papers (zuletzt aufgerufen: 15.10.2021). 13 Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), 349 ff; s a Walter, ZaöRV 59 (1999), 961 ff. 14 EGMR, Urt v 23.3.1995, 15318/89, ZaöRV 56 (1996), 439, § 75 – Loizidou, mit Besprechung von Ress ebd 427 ff. 15 Partsch, ZaöRV 15 (1953/54), 631 (633 ff). 16 Umfassend zur Entstehungsgeschichte, E Bates The Evolution of the European Convention on Human Rights: From Its Inception to the Creation of a Permanent Court of Human Rights, 2010, 33 ff. 17 Ausf zur Entstehungsgeschichte Brinkmeier MenschenRechtsMagazin, Themenheft „50 Jahre EMRK“, 21, 26 ff; Partsch ZaöRV 15 (1953/54), 631 (633 ff). 18 E Bates The Evolution of the European Convention on Human Rights: From Its Inception to the Creation of a Permanent Court of Human Rights, 2010, S 64. 19 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), 713 ff.
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§ 1 Geschichte und Entwicklung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten
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ten Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verschaffen. Die schließlich gefundene Lösung bestand darin, die Individualbeschwerde vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte zuzulassen, und es dieser zu überlassen, ob sie den Gerichtshof anruft oder nicht.20 Demgegenüber hielt man eine Beschwerde durch einen anderen Mitgliedstaat für unproblematisch, verblieb diese doch im Rahmen der traditionellen Struktur der internationalen Gerichtsbarkeit und des internationalen Rechts als eines Rechts zwischen Staaten. Im Ergebnis sah die Konvention damit zwei verschiedene Verfahrensarten vor: die Staatenbeschwerde und die Individualbeschwerde. Während die Staatenbeschwerde automatisch mit dem Beitritt zur EMRK akzeptiert werden musste, bedurfte es für die Anerkennung des Individualbeschwerdeverfahrens vor der Kommission und die Unterwerfung unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs jeweils einer gesonderten Erklärung.21 Kommission und Gerichtshof nahmen ihre Arbeit noch in den fünfziger Jahren 9 auf. Die Europäische Kommission für Menschenrechte wurde 1954 gebildet, nachdem die nach dem damaligen Art 25 IV EMRK erforderlichen sechs Erklärungen eingegangen waren. Die Errichtung des Gerichtshofs verzögerte sich, da die Staaten bei der Anerkennung der Gerichtsbarkeit noch zurückhaltender waren als bei Anerkennung des Individualbeschwerdeverfahrens vor der Kommission. Erst 1958 lagen die nach dem früheren Art 56 erforderlichen acht Erklärungen vor.
b) Entwicklung der Konvention und der Rechtsprechung Die Konvention wurde im Laufe der Jahre um bisher 16 Zusatzprotokolle ergänzt, 10 die sowohl die materiellen Garantien als auch das Rechtsschutzverfahren vor Kommission und Gerichtshof betrafen. Die während der Entstehungsgeschichte umstrittenen Grundrechte auf Eigentum, Erziehung der Kinder und freie Wahlen wurden in das 1. ZP (Art 1 bis 3) aufgenommen. Als weitere wichtige Ergänzungen sind strafrechtliche Garantien wie das Verbot der Doppelbestrafung (Art 4 des 7. ZP), das Recht auf ein Rechtsmittel gegen strafrechtliche Verurteilungen (Art 2 des 7. ZP), die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten (Art 1 u 2 des 6. ZP) und neuerdings unter allen Umständen (also auch in Kriegszeiten, Art 1 des 13. ZP) zu nennen. Hinzugekommen sind auch das Verbot der Schuldnerhaft (Art 1 des 4. ZP), das Freizügigkeitsrecht (Art 2 des 4. ZP), das Verbot der kollektiven Ausweisung von Ausländern (Art 4 des 4. ZP) sowie das Recht auf Gleichberechtigung der Ehegatten
20 E Bates The Evolution of the European Convention on Human Rights: From Its Inception to the Creation of a Permanent Court of Human Rights, 2010, S 97; vgl auch die Liste der Antragsberechtigten in Art 48 EMRK aF. 21 Art 25 I u Art 46 I EMRK aF. Christian Walter
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während der Ehe und bei ihrer Auflösung (Art 5 des 7. ZP). Anders als in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen (Art 7) und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art 14 I) fehlte es in der EMRK lange Zeit an einem allgemeinen Gleichheitssatz. Die Regelung in Art 14 EMRK bezieht sich nur auf Gleichheit beim Genuss der durch die Konvention garantierten Rechte.22 Mit dem Inkrafttreten des 12. ZP am 1. April 2005 hat sich dieser Umstand geändert. 11 Die ZPe 9 und 11 haben das Rechtsschutzverfahren erheblich modifiziert und bringen damit eine veränderte Stellung des Individuums im Völkerrecht zum Ausdruck. Zugleich sind sie im Kontext der Beendigung des Ost-West-Konflikts und des Beitritts zahlreicher mittel- und osteuropäischer Staaten seit 1990 zu sehen.23 Mit dem 9. ZP erhielt der Beschwerdeführer, der das Verfahren vor der Kommission eingeleitet hatte, selbst das Recht, den Gerichtshof anzurufen.24 Das 11. ZP25 modifizierte schließlich das gesamte Verfahren, indem es die Kommission abschaffte und damit die Zweistufigkeit beseitigte. Seit dem 1. November 1998 gibt es nur noch den Gerichtshof, der allerdings anders als die beiden Vorgängerinstitutionen nun zu einer ständig tagenden Einrichtung wurde. Eine weitere Änderung durch das 11. ZP liegt in der Einführung einer obligatorischen Gerichtsbarkeit, sodass die Mitgliedschaft in der Konvention nun automatisch die Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über Individualbeschwerden nach sich zieht.26 Die zuvor erforderliche gesonderte Anerkennung durch die Mitgliedstaaten ist entfallen. Beibehalten wurde die Funktion des Ministerkomitees27 als Überwachungsorgan für die Ausführung der Urteile.28 Ähnlich wie das Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht drohte das Individualbeschwerdeverfahren in Straßburg an seinem eigenen Erfolg zu ersticken. Dies rief eine lebhafte Reformdiskussion hervor, die im Mai 2004 zur Annahme des 14. ZP führte. Wichtige Änderungen betreffen die Möglichkeit von Einzelrichterentscheidungen über die Zulässigkeit von Individualbeschwerden, eine neue Zulässigkeitshürde in Form eines „significant disadvantage“ und eine Stärkung des Durchsetzungsmechanismus durch das Ministerkomitee, das nach dem 14. ZP die Möglichkeit erhält, den Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob eine unterlegene Vertragspartei gegen ihre Verpflichtung zur Beachtung des gegen sie ergangenen Urteils verstoßen hat (Art 46 Abs. 4 EMRK).
22 23 24 25 26 27 28
Dazu näher Weiß, MenschenRechtsMagazin 2000, Themenheft „50 Jahre EMRK“, 36 (43 ff). Nussberger The European Court of Human Rights, 2020, S 25 ff. BGBl II 1994, 491. BGBl II 1995, 579. Art 34 EMRK nF; allgem zu den Änderungen durch das 11. ZP Schlette, ZaöRV 56 (1996), 905 ff. Art 13 ff Satzung des Europarats. Art 46 II EMRK nF.
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Das 14. ZP ist mit einiger Verzögerung, die durch Vorbehalte in der russischen Duma hervorgerufen wurde, am 1. Juni 2010 in Kraft getreten. Seit dem Inkrafttreten haben sich die Erledigungszahlen vor allem durch die Einzelrichterentscheidungen nochmals deutlich erhöht. Dadurch ist es in den Jahren 2011 bis 2015 gelungen, den Verfahrensstand von einem Maximum von 151.600 im Jahr 2011 auf 64.850 im Jahr 2015 zu senken. Seither bewegt sich der Stand – mit einer nicht unerheblichen Schwankung 2016 – in etwa bei 60.000 anhängigen Verfahren.29 Entscheidend für die Entwicklung des gesamten Konventionssystems in den 12 vergangenen 50 Jahren war die sich erst langsam herausbildende Akzeptanz des Individualrechtsschutzes. Von den großen europäischen Staaten hatte allein Deutschland – aus historisch offensichtlichen Gründen – frühzeitig die Zuständigkeit der Kommission für Individualbeschwerden akzeptiert. Mit dem Vereinigten Königreich folgte erst 1966 ein zweiter großer europäischer Staat. Frankreich akzeptierte Individualbeschwerden erst 1981. Unter diesen Umständen offensichtlicher Zurückhaltung der Mitgliedstaaten gegenüber einem internationalen Individualrechtsschutz kann es nicht verwundern, dass Kommission und Gerichtshof vielfach „judicial self-restraint“ übten.30 Die Gründe für eine solche Zurückhaltung sind nach und nach entweder entfallen oder haben sich so verschoben, dass sie inzwischen weitgehend deckungsgleich sind mit Erwägungen, die auch innerstaatlich das Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu Exekutive und Legislative bestimmen. Der Gerichtshof versteht die Konvention zu Recht als „living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions“31. Dies bewirkt, dass die Straßburger Rechtsprechung zunehmend das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten beeinflusst.32 Besonders eindrücklich zeigt sich dies am Beispiel Frankreichs, das traditionell keine nachträgliche Verfassungskontrolle von bereits in Kraft getretenen Gesetzen kennt. Hier nehmen die Fachgerichte inzwischen eine sog „contrôle de conventionnalité“, also eine Überprüfung von Gesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK, vor, und es gibt Fälle, in denen (gültige) nationale Gesetze nicht angewendet wurden, weil die Gerichte bei ihrer Anwendung einen Verstoß gegen die EMRK für unvermeidlich hielten.33 Einen besonderen Schritt für die Wirkung der EMRK in den nationalen Rechts- 13 ordnungen der Mitgliedstaaten bedeutete die Inkorporierung in die britische
29 S die statistischen Angaben unter https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2020_ENG. pdf. 30 Zur Grundrechtsdogmatik in der EMRK → Ehlers/Germelmann § 2. 31 EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, EuGRZ 1979, 163, § 31 – Tyrer; dazu statt anderer Nussberger, The European Court of Human Rights, 2020, S 76 ff. 32 Nachw und bes Problemfälle mit Bezug zu Deutschland bei Frowein, NVwZ 2002, 29 ff. 33 S etwa die Entscheidung des französischen Conseil d’Etat v 30.10.1998, RDP 1999, 649 – Lorenzi.
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Rechtsordnung durch den Human Rights Act des Jahres 1998.34 Da ohne eine solche Inkorporierung nach britischem Verfassungsrecht ein völkerrechtlicher Vertrag nicht unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen begründen kann, gab es vor dem Human Rights Act statistisch gesehen relativ viele Konventionsverfahren gegen das Vereinigte Königreich.35 Seit dem Inkrafttreten des Human Rights Act zum 2.10.2000 hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung englischer Gerichte entwickelt, die den in der EMRK gewährleisteten Rechten eigene Bedeutung verleiht.36 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Position des Vereinigten Königreichs in den letzten Jahren zunehmend kritischer gegenüber der Rechtsprechung des Gerichtshofs geworden ist. 14 In der deutschen Rechtsordnung genießt die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist sie allerdings bei der Auslegung der deutschen Grundrechte zu berücksichtigen.37 Versuche in der Literatur, eine über diese bloße Auslegungshilfe hinausgehende Bindungswirkung zu begründen,38 wurden von der Rechtsprechung nicht aufgenommen.39 15 Das Verhältnis der Konventionsorgane zum Bundesverfassungsgericht war lange Zeit unproblematisch. Das mag auf den ersten Blick erstaunen, denn das Gebot der Rechtswegerschöpfung in Art 35 Abs. 1 EMRK, zu dem nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ungeachtet ihrer innerstaatlichen Qualifizierung als „außerordentlicher Rechtsbehelf“ auch die Erhebung der Verfassungsbeschwerde gehört, führt dazu, dass jede Individualbeschwerde gegen Deutschland vorher vom Bundesverfassungsgericht anhand der deutschen Grundrechte überprüft worden ist. Spannungsreich wurde das Verhältnis erst mit der Zunahme von Entscheidungen des EGMR in politisch brisanten Fällen. Hierzu zählen insbesondere Fälle aus dem Bereich der Wiedervereinigungsfolgen (Mauerschützen40 und Enteignungen zwischen 1946 und 194941), die Sicherungsverwahrung42 und zahlreiche Einzelfragen aus dem
34 Dazu Grote, ZaöRV 58 (1998), 309 ff; vgl auch die irische European Convention on Human Rights Bill (No 26 of 2001) v 10.4.2001. 35 Nachw bei Grote, ZaöRV 58 (1998), 309, 322 ff. 36 S die Übersicht von Raine/Walker in: Halliday/Schmidt (Hrsg) Human Rights Brought Home, 2004, S 123 ff. 37 BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (115). 38 Mit unterschiedlichen Ansätzen Bleckmann, EuGRZ 1994, S 149 ff; Frowein Der Europäische Grundrechtsschutz und die nationale Gerichtsbarkeit, 1983, S 26; Ress FS Zeidler, 1987, S 1775 (1790 ff); sowie die Nachw bei Hoffmeister, Der Staat 2001, 349 ff; Walter, ZaöRV 59 (1999), 961 ff. 39 S ausf zum Ganzen Grabenwarter VVDStRL 2000, 290 (299 ff). 40 EGMR, Urt v 22.3.2001, 34044/96, 35532/97 u 44801/98, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Kessler u Krenz. 41 EGMR (GK), Entsch v 2.3.2005, 71916/01, 71917/01 u 10260/02, NJW 2005, 2530 ff. – von Maltzan ua. 42 BVerfGE 128, 326 – Sicherungsverwahrung.
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Familienrecht.43 In der Praxis überwiegt inzwischen eine selbstverständlich gewordene Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR bereits im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Namentlich die Entscheidung zur Sicherungsverwahrung zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht auch bereit ist, von seiner eigenen Rechtsprechung abzurücken, wenn diese vom EGMR für konventionswidrig erachtet wird. Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass insbesondere der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts neben der grundsätzlichen Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes immer wieder auch den Vorrang der Verfassung vor völkerrechtlichen Verträgen (auch des internationalen Menschenrechtsschutzes) betont hat.44 So hat er namentlich in seiner Entscheidung zum Streikverbot für Beamte dessen Vereinbarkeit mit der EMRK ausführlich selbst geprüft und dem EGMR indirekt signalisiert, dass er eine abweichende Beurteilung der konventionsrechtlichen Vorgaben für verfassungsrechtlich problematisch hielte.45 Insgesamt bleibt das Verhältnis des Bundesverfassungsgericht zum EGMR damit ambivalent. Einerseits berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht selbst möglichst umfassend und weitgehend die Rechtsprechung des EGMR in Grundrechtsfragen und hält die übrige innerstaatliche Gerichtsbarkeit dazu an, dies auch bereits im fachgerichtlichen Verfahren so zu handhaben. Andererseits beansprucht es im Konfliktfall letztlich für sich selbst das Entscheidungsrecht.46 Zu einem echten Konflikt beider Gerichte ist es bisher nicht gekommen. Ausgeschlossen ist er aber nicht. Generell lässt sich sagen, dass die mit den ZPe 9 und 11 verbundene für alle 16 Mitgliedstaaten verpflichtende Anerkennung der Individualbeschwerde dazu geführt hat, dass der Gerichtshof inzwischen mit allen Fragen des Grundrechtsschutzes befasst wird. Dabei spielt eine nicht unwichtige Rolle, dass die politischen und sozialen Verhältnisse in den 47 Mitgliedstaaten des Europarats sehr unterschiedlich sind. Dementsprechend erreichen den Gerichtshof auch höchst unterschiedliche Fälle. Sie reichen von menschenrechtlich offensichtlich höchst prekären Situationen wie derjenigen von Flüchtlingen47 oder Betroffenen von innerstaatlicher oder zwischenstaatlicher militärischer Gewalt,48 über Haftfragen in Russland und
43 ZB EGMR, Urt v 15.1.2015, 62198/11, NJW 2015, 1433 – Kuppinger. 44 Vgl BVerfGE 141, 1 (15 ff), Rn 33 ff; 111, 307 (327 f). 45 BVerfGE 148, 296 (378 f und 355 f, Rn 172 und 133 ff). 46 Vgl hierzu die Darstellung der Grenzen der EMRK-Freundlichkeit bei Hering, ZaöRV 79 (2019), 241 (265 ff). 47 EGMR (GK), Entsch v 23.2.2013, 27765/09, NVwZ 2012, 809 – Hirsi Jamaa; EGMR, Urt v 13.2.2020, 8675/15 u 8697/15, NVwZ 2020, 697 – N.D. u N.T. 48 EGMR, Urt v 12.11.2013, 23502/06, NJOZ 2014, 1874 – Benzer; EGMR (GK), Urt v 21.1.2021, 38263/08, – Georgia v Russia (II).
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der Türkei49 bis zu ethisch und gesellschaftlich hochumstrittenen Fragen wie der Sterbehilfe50 oder dem Verbot religiöser Symbole in der Öffentlichkeit.51 Echte Schwerpunkte lassen sich dabei kaum ausmachen. Zusätzlich zeigt sich in den vergangenen Jahren eine Tendenz des Gerichtshofs, die Einhaltung der Konventionsbestimmungen auch in bewaffneten Auseinandersetzungen und gegebenenfalls extraterritorial zu überwachen.52 Dies führt dazu, dass der Gerichtshof zunehmend auch Abgrenzungsfragen zum humanitären Völkerrecht thematisiert und auch materiell zu den von diesem vorgegebenen Standards entscheidet; damit erschließt sich seiner Rechtsprechung ein Bereich, der in früheren Jahren keine Rolle gespielt hat. 17 In den vergangenen Jahren sind Konvention und Gerichtshof allerdings in ein etwas unruhiges Fahrwasser geraten. Nicht wenige Mitgliedstaaten empfinden offenbar die Rechtsprechung des Gerichtshofs als zu progressiv und in interne Organisationsfragen hineinreichend. So hat namentlich das polnische Verfassungsgericht dem EGMR in Bezug auf dessen Rechtsprechung zu Art 6 EMRK und einer daraus resultierenden Bindung auch der Verfassungsgerichte die Gefolgschaft verweigert.53 Ähnliche Tendenzen gibt es in Russland und in der Türkei.54 Auch lässt sich der auf einer Serie von Reformkonferenzen der letzten Jahre (Brighton 2012, Oslo 2014, Brüssel 2015, Kopenhagen 2018) in den Vordergrund gerückte Begriff der „shared responsibility“ als Versuch einer Stärkung der Mitgliedstaaten gegenüber dem Gerichtshof deuten.55 Das Gleiche gilt für den nun seit dem Inkrafttreten des 15. ZP stärker betonten Begriff der Subsidiarität. Umgekehrt bestehen in Teilen der Zivilgesellschaft gesteigerte Erwartungen bei wichtigen Zukunftsthemen wie etwa
49 Vgl für Haftbedingungen zB EGMR, Urt v 10.1.2012, 42525/07 ua – Ananyev and Others v Russia; oder den politisch äußerst heiklen Fall der Inhaftierung eines Abgeordneten nach Immunitätsaufhebung durch Verfassungsänderung EGMR (GK), Urt v 22.12.2020, 14305/17 – Selahattin Demirtaş v Turkey (no 2). 50 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, NJW 2002, 2851 – Pretty; Urt v 19.7.2012, 497/09, NJW 2013, 2953 – Koch. 51 EGMR, Urt v 1.7.2014, 43635/11, NJW 2014, 2925 – S.A.S. 52 EGMR (GK), Urt v 21.1.2021, 38263/08 – Georgia v Russia (II); Urt v 20.11.2014, 47708/08 – Jaloud. 53 Polnisches Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny), Urt v 24.11.2021, Az K 6/21; vgl hierzu Łętowska, VerfBlog, 2021/11/29, https://verfassungsblog.de/the-honest-though-embarrassing-comingout-of-the-polish-constitutional-tribunal/. 54 Verschiedene Tendenzen im Umgang mit EGMR-Urteilen in Russland fasst folgender Blogeintrag zusammen: D. Bartenev, VerfBlog, 2021/7/16, https://verfassungsblog.de/will-russia-yield-to-the-ecthr/ Vgl. zu Vermeidungsstrategien in der Türkei: B. Çalı, VerfBlog, 2020/2/19, https://verfassungsblog.de/ byzantine-manoeuvres/. 55 Vgl. zuletzt Copenhagen Declaration, April 2018, Rn 6 ff, verfügbar unter: https://www.echr.coe. int/Documents/Copenhagen_Declaration_ENG.pdf.
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dem Klimaschutz. Hier die richtige Balance zu wahren, dürfte eine der zentralen Herausforderungen der kommenden Jahre für den EGMR darstellen.56
2. Der Menschenrechtsschutz im Europarat im Allgemeinen a) Vertragliche Menschenrechtsverbürgungen Aus dem Bereich der vertraglichen Verbürgungen einzelner Menschenrechte 18 verdienen drei Einzelentwicklungen nähere Erwähnung. Bereits 1961 wurde die Europäische Sozialcharta angenommen, mit der die Unterzeichnerstaaten das Ziel verfolgen, „den Lebensstandard ihrer Bevölkerung in Stadt und Land zu verbessern“57. Die Charta gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, aus einem Katalog von sieben Rechten fünf als für sich verbindlich zu akzeptieren (Art 20) und sieht zur Überwachung vor, dass die Mitgliedstaaten zu den von ihnen angenommenen Artikeln im Abstand von zwei Jahren und zu den übrigen Artikeln in regelmäßigen Abständen Staatenberichte vorlegen (Art 21, 22), die von einem Sachverständigenausschuss geprüft werden (Art 24). Die Sozialcharta wurde durch mehrere Protokolle ergänzt, die 1999 in einer revidierten Sozialcharta zusammengefasst wurden. Diese trat am 1.7.1999 in Kraft, wurde aber von wichtigen europäischen Staaten bislang nicht ratifiziert. Auch die Bundesrepublik Deutschland gehörte zu den zurückhaltenden Staaten und unterzeichnete den revidierten Text zunächst noch nicht einmal.58 Diese Haltung hat sich aber gut 20 Jahre nach dem Inkrafttreten geändert. Zunächst erfolgte 2007 die Unterzeichnung und schließlich am 29.3.2021 die Ratifikation. Die revidierte Sozialcharta ist damit zum 1.5.2021 auch für Deutschland verbindlich geworden. Wegen seiner Präventivverfahren verdient das Europäische Übereinkommen 19 zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 besondere Erwähnung. Es errichtet einen Ausschuss, das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, der Besuche in den Haftanstalten59 der Mitgliedstaaten durchführen kann und über diese Besuche Berichte erstattet, die im Einverständnis mit der betreffenden Vertragspartei öffentlich gemacht werden können. Das Besondere an der Konvention liegt in der Möglichkeit des Ko-
56 Nussberger The European Court of Human Rights, 2020, S 36 f und 200 f. 57 So die Motivation nach der vierten Erwägung in der Präambel der Europäischen Sozialcharta; BGBl II 1964, 1262. 58 ETS Nr 163. 59 Einschließlich psychiatrischer und anderer geschlossener Anstalten, vgl Alleweldt, EuGRZ 1998, 245 (247) mit Giegerich, ZaöRV 50 (1990), 836 ff.
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mitees, Empfehlungen für die zukünftige Vorgehensweise des betreffenden Mitgliedstaates auszusprechen (Art 10 I der Konvention). Das Komitee nutzt diese Befugnis nicht nur, um Vorschläge für die Beseitigung tatsächlich festgestellter Missstände zu machen, sondern es hat allgemeine Vorschläge zur Verhinderung von Misshandlungen unterbreitet und damit den Weg zu einem präventiven Schutz vor Folter geebnet. 20 In den 1990er Jahren widmete sich die Kodifikationsarbeit des Europarats den besonderen Problemen des Minderheitenschutzes. Am 5.11.1992 wurde die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen angenommen, deren Einhaltung ebenfalls durch einen Sachverständigenausschuss überwacht wird. Die Charta trat für Deutschland zum 1.1.1999 in Kraft. Daneben besteht das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1.2.1995, das für die Bundesrepublik Deutschland zum 1.2.1998 in Kraft trat, und das gleichfalls mit einem eigenen Überwachungsmechanismus ausgestattet ist60 sowie einen umfassenden Katalog von Minderheitenrechten statuiert.61 Der Minderheitenschutz im Rahmen des Europarates bereitet Frankreich spezielle Probleme. Der französische Verfassungsrat entschied 1997, dass das verfassungsrechtliche Prinzip der „Einheit der Republik“ einer Beteiligung an der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen entgegenstehe.62 Das Rahmenübereinkommen wurde von Frankreich nicht einmal gezeichnet. 21 Ein weiterer Schwerpunkt der Kodifikationsarbeit betrifft medizinische und bioethische Fragen. Hierzu verdienen die Konvention über Menschenrechte und Biomedizin (Oviedo Konvention) vom 4.4.1997, sowie Zusatzprotokolle über das Verbot des Klonens von Menschen (vom 12.1.1998), über Transplantationen von Organen und Gewebe menschlichen Ursprungs (24.1.2002), über biomedizinische Forschung (25.1.2005) und über genetische Tests für Gesundheitszwecke (27.11.2008) Erwähnung. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Arbeiten des Europarats in diesem Bereich eher kritisch betrachtet, da man das Schutzniveau für nicht ausreichend erachtet. Weder die Konvention noch die Zusatzprotokolle wurden von der Bundesrepublik gezeichnet.
60 Zu diesem R Hofmann, ZEuS 1999, 379 ff. 61 S im Einzelnen R Hofmann, MenschenRechtsMagazin 2000, 63 ff. 62 Décision Nr 99–412 DC v 15.6.1999; verfügbar unter http://www.conseil-constitutionnel.fr/deci sion/1999/99412/index.htm.
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b) Die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung nach 1989/1990 Die Parlamentarische Versammlung ist neben dem Ministerkomitee das zweite 22 zentrale Organ des Europarats.63 Sie übernahm in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges eine wichtige Rolle bei der Grundrechtsdurchsetzung und Grundrechtsförderung. Bereits im Jahr 1949 verpflichtete sich das Ministerkomitee, das in Art 4 der Satzung des Europarats enthaltene Recht, neue Mitglieder zum Beitritt einzuladen, nur unter Beteiligung der Parlamentarischen Versammlung auszuüben. Die Parlamentarische Versammlung nutzte dieses Beteiligungsrecht, um nach dem Ende des Kalten Krieges bei den Beitrittsanwärtern aus Mittel- und Osteuropa die Einhaltung der Menschenrechte zu prüfen. Hierzu entsandte sie Berichterstatter in die betreffenden Staaten, deren Aufgabe es war, die nationalen Rechtsordnungen auf ihre Vereinbarkeit mit den Menschenrechtsstandards des Europarats zu untersuchen und darüber einen Bericht vorzulegen. Die Parlamentarische Versammlung ging auch dazu über, in ihren Stellungnahmen zu Beitrittsvorhaben die Absicht des Kandidaten festzuhalten, die EMRK einschließlich des damals noch gesondert zu akzeptierenden Individualbeschwerdeverfahrens zu ratifizieren. Die Parlamentarische Versammlung hat diese Aufnahmebedingungen später um ein Überwachungsverfahren ergänzt, mit dem die Einhaltung der Verpflichtungen nach einem erfolgten Beitritt sichergestellt werden soll. Diese Praxis führte beispielsweise dazu, dass Russland während des Tschetschenien-Krieges und in der Folge der Annexion der Krim das Stimmrecht in der Parlamentarischen Versammlung entzogen wurde.64 Die Parlamentarische Versammlung hat sich durch diese Vorgehensweise einen besonderen Ruf bei der Durchsetzung der Menschenrechtsstandards in Mittel- und Osteuropa erworben.
III. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EU Anders als die EMRK, die darauf gerichtet ist, einen grundrechtlichen Mindeststan- 23 dard in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchzusetzen, betrifft die Frage nach dem Grundrechtsschutz im Rahmen des Unionsrechts vor allem die Frage danach, wie Grundrechte gegenüber einer nicht-staatlichen Hoheitsgewalt gesichert werden können (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 1 ff).
63 Die Parlamentarische Versammlung setzt sich aus Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammen (vgl Art 25 der Satzung des Europarats); vgl das Diagramm bei Blackburn/Polakiewicz (Hrsg) Fundamental rights in Europe, 2001, S 23. 64 S Leach in: Breuer/Schmahl (Hrsg) The Council of Europe – Its Law and Policies, 2017, S 166 (193– 195). Christian Walter
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1. Frühe Rechtsprechung 24 Der Europäische Gerichtshof erweckte in seiner frühen Rechtsprechung den Ein-
druck mangelnder Grundrechtssensibilität.65 Der Eindruck entstand dadurch, dass der Gerichtshof Rügen, die sich auf eine Verletzung nationaler Grundrechte stützten, als unzulässig zurückwies, ohne auf das Grundrechtsproblem einzugehen.66 Dieses Vorgehen war zwar dogmatisch zwingend, denn der Gerichtshof kann nationale Vorschriften weder auslegen noch gegenüber dem Gemeinschafts-/Unionsrecht anwenden. Die Kombination der (richtigen) Entscheidung, Art 14 GG finde gegenüber dem Gemeinschaftsrecht keine Anwendung, mit der Aussage, das Gemeinschaftsrecht enthalte „weder einen geschriebenen noch einen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass ein erworbener Besitzstand nicht angetastet werden darf“67, musste allerdings Zweifel am Eigentumsschutz im Gemeinschaftsrecht wecken.
2. Entwicklung und dogmatische Begründung der Unionsgrundrechte in der Rechtsprechung des EuGH 25 Der Gerichtshof hat diese zurückhaltende Rechtsprechung ab dem Ende der
1960er Jahre korrigiert und die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht verankert angesehen.68 Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes beginnt mit der Entscheidung Stauder.69 Dieser Fall betraf die Abgabe von Butter an Sozialhilfeempfänger zu herabgesetzten Preisen. Um Missbrauch zu vermeiden, verpflichtete das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten in der deutschen Fassung der Regelung, Sorge dafür zu tragen, dass die Begünstigten „Butter nur gegen einen auf ihren Namen ausgestellten Gutschein“ erhalten können. Die anderen sprachlichen Fassungen sprachen dagegen nur von einem „individualisierten Gutschein“. Der Kläger des Ausgangsverfahrens war der Auffassung, dass es mit seinen Grundrechten unvereinbar sei, beim Erwerb seinen Namen und damit seine Identität gegenüber dem Verkäufer offen legen zu müssen. Der Gerichtshof legte die Rege-
65 S zum Folgenden auch Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657 (662 ff). 66 Vgl etwa EuGH, Rs 36/59, Slg 1960, 887 (920 f) – Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft; Rs 40/64, Slg 1965, 296 (312) – Sgarlata (Wortlaut des Vertragstextes geht einer grundrechtlichen Argumentation unbedingt vor). 67 EuGH, Rs C-36/59, Slg 1960, 885, 921 – Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft. 68 Ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung Edenharter Grundrechtsschutz in föderalen Mehrebenensystemen, 2018, S 619 ff. 69 EuGH, Rs 29/69, Slg 1969, 419 ff – Stauder.
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lung angesichts der verschiedenen sprachlichen Fassungen dahin aus, dass sie nur eine Individualisierung verlange, nicht aber eine Nennung des Namens. Im Anschluss an diese Auslegung erfolgt – gewissermaßen zusätzlich, aber für die Begründung eigentlich gar nicht mehr erforderlich – die äußerst knappe Grundlegung eines Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht: „Bei dieser Auslegung enthält die streitige Vorschrift nichts, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte.“
Für die dogmatische Begründung dieser Rechtsprechung sind die Ausführungen 26 des Generalanwalts Römer von Bedeutung, der sich in seinen Schlussanträgen einer damals im Schrifttum vertretenen Auffassung anschließt, „durch wertende Rechtsvergleichung seien gemeinsame Wertvorstellungen des nationalen Verfassungsrechts, insbesondere der nationalen Grundrechte zu ermitteln, die als ungeschriebener Bestandteil des Gemeinschaftsrechts beachtet werden müssten“70. Der Unterschied dieser dogmatischen Begründung gegenüber der vom Ge- 27 richtshof abgelehnten unmittelbaren Anwendung nationaler Grundrechte liegt darin, dass sie sich nicht allein auf die Grundrechte eines Mitgliedstaats stützt und auch die nationalen Grundrechte nicht selbst anwendet, sondern in ihnen nur eine Rechtserkenntnisquelle für die Ermittlung der ungeschriebenen Unionsgrundrechte sieht (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 7). Der Gerichtshof hat diese dogmatische Herleitung 1970 in der Entscheidung Internationale Handelsgesellschaft bestätigt. Dort wurde zunächst betont, dass der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auch das nationale Verfassungsrecht und dessen Grundrechtsgarantien betreffe. Im Anschluss stellt der Gerichtshof aber fest, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz durch den Gerichtshof erfolge, der von den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ getragen sei.71 Neben die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaa- 28 ten“ trat 1974 in der Entscheidung Nold eine weitere Rechtserkenntnisquelle: Der Gerichtshof hat in diesem Verfahren anerkannt, dass die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte „Hinweise geben [können], die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind“72. Diese noch sehr vorsichtig klingende Formulierung wurde in den Folgejahren hinsichtlich der EMRK verstärkt und dient inzwischen als Grundlage einer weitgehenden Berücksichtigung der Rechtsprechung des Straßburger Ge-
70 EuGH, Rs 29/69, Slg 1969, 419 (427 f) – Stauder. 71 EuGH, Rs. 11/70, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 72 EuGH, Rs 4/73, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold.
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richtshofs durch den EuGH. Der EuGH hat die „besondere Bedeutung“ der EMRK gegenüber anderen völkerrechtlichen Verträgen mehrfach hervorgehoben.73 Auch stützt er sich inzwischen ganz selbstverständlich auf Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte, wenn es um die Auslegung der EMRK geht. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für dieses Vorgehen betrifft die Garantie eines zügigen Verfahrens. In diesem Bereich gibt es eine umfassende Rechtsprechung der Straßburger Organe zu Art 6 I EMRK.74 Der EuGH hat in einer Entscheidung über die Dauer des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz ohne weiteres die Maßstäbe des Art 6 I EMRK angewandt und dabei zur Bestimmung des angemessenen Zeitrahmens die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs herangezogen. Die entsprechende Passage der Entscheidung erweckt geradezu den Eindruck, als fühle sich der EuGH an diese Rechtsprechung gebunden.75 Allerdings darf die Selbstverständlichkeit, mit der sich der EuGH auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stützt, nicht über die dogmatische Ableitung der Unionsgrundrechte hinwegtäuschen. Der EuGH hat es bislang trotz verschiedener Ansätze in der Literatur76 abgelehnt, eine förmliche Bindung der Unionsrechtsordnung an die EMRK anzunehmen. Beim gegenwärtigen Stand der Dogmatik bleibt es deshalb dabei, dass die EMRK nur als eine Rechtserkenntnisquelle dient. Sie ist keine eigene Rechtsquelle des Unionsrechts.77 Das Gericht erster Instanz hat dies sogar mehrfach ausdrücklich klargestellt.78 Bei dieser Form der vergleichenden Berücksichtigung lassen sich freilich Divergenzen in der Auslegung nicht ganz vermeiden. Dies gilt erst recht, wenn der Gerichtshof in Luxemburg mit einer Grundrechtsfrage befasst ist, bevor diese Gegenstand einer Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs war.79 73 Etwa EuGH, Rs C-309/96, Slg 1997, I-7493, Rn 12 – Annibaldi; der Gerichtshof selbst sieht für die besondere Betonung der EMRK die Entscheidung 222/84, Slg 1986, 1651, Rn 18 – Johnston als grundlegend an, s Rs 260/89, Slg 1991, I-2925, Rn 41 – ERT. 74 S im Einzelnen Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 6 Rn 235 ff. 75 S allerdings EuGH, Rs C-17/98, Slg 2000, I-665, Rn 4 ff – Emesa Sugar; dazu die krit Bemerkungen bei Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (98). 76 S etwa Hilf FS Bernhardt, 1995, S 1193 (1197 f); weitere Nachw bei Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 EUV Rn 6. 77 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 EUV Rn 5; → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 23. 78 EuG, Rs T-44/00, Slg 2001, II-729, Rn 59 – Mannesmann-Röhrenwerke AG; Rs T-347/94, Slg 1998, II1751, Rn 311 f – Mayr-Melnhof. 79 So dürfte sich wohl die bisher deutlichste Divergenz erklären, die sich in der Rspr der beiden Gerichtshöfe feststellen lässt: Der EuGH entschied 1989 unter ausdrücklicher Heranziehung von Art 8 EMRK, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung den Schutz von Geschäftsräumen nicht erfasse (verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 18 – Hoechst = JK 90, EWGV § 173/2). Der EGMR, der mit der gleichen Rechtsfrage erst 1992 befasst war, entschied genau umgekehrt (Urt v 16.12.1992, 13710/88, NJW 1993, 718, § 29 – Niemietz = JK 93, EMRK Art 8/1).
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Der Europäische Gerichtshof und das Gericht erster Instanz haben auf der 29 Grundlage der beiden genannten Rechtserkenntnisquellen (Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und völkerrechtliche Verträge, insbesondere EMRK) einen umfangreichen Katalog ungeschriebener Grundrechte entwickelt (→ ausf hierzu Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 6 f). Das Bundesverfassungsgericht, das dem Grundrechtsschutz durch den EuGH zunächst skeptisch gegenüber stand und eine Überprüfungsbefugnis für sich in Anspruch nahm (Solange I-Entscheidung),80 entschied 1986, dass der vom EuGH gewährte Grundrechtsschutz dem des Grundgesetzes generell im Wesentlichen vergleichbar ist (Solange II-Entscheidung).81 Seither sind Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollanträge, die sich gegen europäisches Unionsrecht richten, unzulässig. Zweifel an der Fortgeltung dieser Rechtsprechung, die in der Folge des Maastricht-Urteils82 zunächst entstanden waren, beseitigte das Bundesverfassungsgericht im April 2000 in seiner Entscheidung zur Bananenmarkt-Ordnung.83 Allerdings zeigt sich in der Rechtsprechung der vergangenen Jahre, dass die sog. ultra vires-Kontrolle und auch die sog. Identitätskontrolle nicht nur auf Fragen der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten beschränkt sind, sondern eine erhebliche Grundrechtsdimension aufweisen. So wird namentlich beim kirchlichen Arbeitsrecht argumentiert, dass die Rechtsprechung des EuGH ultra vires sei und die Verfassungsidentität des Grundgesetzes berühre.84 1993 fand die dogmatische Ableitung des Grundrechtsschutzes durch die Recht- 30 sprechung des EuGH eine teilweise Absicherung85 im primären Unionsrecht: Nach Art 6 II EUV achtete die Union „die Grundrechte, wie sie in der am 4.11.1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“
80 BVerfGE 37, 271 ff – Solange I. 81 BVerfGE 73, 339 ff – Solange II = JK 87, GG Art 24 I/1. 82 BVerfGE 89, 155 ff – Maastricht = JK 94, GG Art 23/1. 83 BVerfGE 102, 147 ff – Bananenmarktordnung; dazu die Bewertung bei Nicolaysen/Nowak, NJW 2001, 1233 (1235 f). 84 Unruh, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 2019, S 188 (213 ff). 85 Art 6 II EUV bezieht sich neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten nur auf die EMRK, während die Rspr des EuGH allgem Verträge zum Schutz der Menschenrechte als Rechtserkenntnisquelle nennt und die EMRK nur als einen besonders wichtigen solchen Vertrag hervorhebt.
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3. Forderungen nach einem Grundrechtskatalog für das Unionsrecht und die Europäische Grundrechte-Charta 31 Die rechtspolitischen Forderungen nach einem eigenen Katalog geschriebener Uni-
onsgrundrechte, die zur Proklamation der Europäischen Grundrechte-Charta auf dem Europäischen Rat von Nizza am 7.12.2000 führten,86 waren nicht neu. Schon im Jahr 1989 verabschiedete das Europäische Parlament mit der „Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten“ erstmals einen umfassenden Katalog.87 Die Erklärung enthält nicht nur die klassischen Freiheitsrechte, wie sie auch in der EMRK ihren Niederschlag gefunden haben, sondern außerdem einige soziale Grundrechte, wie ein Recht auf Bildung (Art 16) oder ein Recht auf sozialen Schutz (Art 15). Ein vergleichbarer Grundrechtskatalog, einschließlich der sozialen Grundrechte, findet sich auch in Titel VIII der vom Parlament am 10.02.1994 angenommenen Entschließung zur Verfassung der Europäischen Union.88 32 Der Text der in Nizza angenommenen Europäischen Grundrechte-Charta wurde nicht in der bislang üblichen Form einer Regierungskonferenz erarbeitet, sondern in der Form eines sog „Konvents“. Hierdurch wurden neue Wege der Beteiligung nationaler Parlamente und der Öffentlichkeit beschritten. Der durch den Europäischen Rat von Tampere (Finnland) geschaffene Konvent bestand aus 15 Vertretern der nationalen Regierungen, 16 Europaabgeordneten, 30 nationalen Parlamentariern und einem Vertreter der Kommission. Die hierin liegende Abkehr von einer rein intergouvernementalen Form der Erarbeitung ist Ausdruck eines Schritts von „konstitutioneller Bedeutung“89 und vermittelt der Charta eine bislang in dieser Form auf europäischer Ebene nicht erreichte (parlamentarische) Legitimation.90 Allerdings hat sich der Europäische Rat von Nizza auf eine feierliche Proklamation der Charta beschränkt und es abgelehnt, ihr rechtliche Verbindlichkeit zukommen zu lassen oder sie gar im Primärrecht zu verankern. Schon damals wäre es allerdings eine Unterschätzung gewesen, wenn man die Grundrechte-Charta wegen ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit als für die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes weitgehend irrelevant angesehen hätte.91 Die Charta enthält die modernste Systematisierung der Grundrechte und kann gerade wegen der Zusammensetzung des Konvents und des dort weitgehend verfolgten Konsensprinzips als repräsentativer Ausdruck des gegenwärtigen Grundrechtsstandards in der Uni-
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ABl 2000 Nr C 364/1. ABl 1989 Nr C 120/51. ABl 1994 Nr C 61/155. Vgl Leinen/Schönlau, Integration 24 (2001), 26. Bernsdorff, NdsVBl 2001, 177 (178). Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657 (666 ff).
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on angesehen werden. Ihre systematisierende Wirkung zeigte sich schnell daran, dass die Generalanwälte beim Europäischen Gerichtshof in ihren Stellungnahmen zu Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof die Charta umgehend heranzogen, um ein mit den damaligen Rechtserkenntnisquellen des europäischen Grundrechtsschutzes gewonnenes Ergebnis zu bestätigen. Im Januar 2002 hat dann auch erstmals das damalige Europäische Gericht erster Instanz die Charta in dieser Weise zur Bestätigung der von ihm aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ermittelten Unionsgrundrechte herangezogen.92 Der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung 33 für Europa hätte in seinem Teil II die verbindliche Geltung der Grundrechte-Charta vorgesehen. Zumindest insoweit war sein Scheitern allerdings folgenlos, denn der Vertrag von Lissabon erhebt in Art 6 I 1 EUV die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung93 ebenfalls in den Rang des Primärrechts. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass sich Polen und das Vereinigte Königreich durch ein Protokoll gegenüber einer Ausweitung der Befugnisse des EuGH oder ihrer eigenen nationalen Gerichte verwahren. Auch sollen durch die Charta keine für diese beiden Staaten geltenden subjektiven Rechte geschaffen werden, die nicht schon im nationalen Recht bestehen.94 Dieses Protokoll vermag allerdings nur die Wirkung der Charta im innerstaatlichen Recht dieser beiden Staaten zu begrenzen. Demgegenüber bleibt die Bindung an die Unionsgrundrechte im Übrigen unangetastet. Diesen Befund unterstreicht Art 6 III EUV, der bestimmt, dass die Unionsgrundrechte weiterhin als „allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“ bleiben.
IV. Verflechtungen beim Grundrechtsschutz zwischen EMRK und EU, sowie zwischen Grundrechtecharta und mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht 1. Das Verhältnis zwischen EMRK und EU, insbesondere Beitritt der EU zur EMRK In den vergangenen Jahren hat die EMRK zahlreiche mittelbare Wirkungen in ande- 34 re internationale Regime (etwa das Dienstrecht internationaler Organisationen oder das Recht der Staatenimmunität) erzeugt. Ein offensichtlicher und praktisch
92 EuG, Rs T-54/99, Slg 2002, II-313, Rn 48 – max.mobil. 93 ABl 2007 Nr C 303/1. 94 Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl 2007 Nr C 306/156; s a die Erklärungen Nr 60 und 61 Polens, ABl 2007 Nr C 306/270. Christian Walter
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besonders bedeutsamer Bereich ist das Recht der EU. Alle Mitgliedstaaten der EU sind zugleich Vertragsparteien der EMRK. Dementsprechend unterliegen sie beim Vollzug von Unionsrecht zugleich den konventionsrechtlichen Bindungen. Potentielle Rechtsprechungskonflikte sind durch die Praxis von EGMR und EuGH sowie die Regelung in Art 53 Abs. 3 GRCh reduziert. Der EGMR gesteht dem Unionsrecht eine – im Einzelfall widerlegbare – Vermutung zugunsten seiner Konventionskonformität zu95 und der EuGH berücksichtigt die Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung der Unionsgrundrechte.96 35 Allerdings wurde die fehlende Bindung der EU an die EMRK schon früh als unbefriedigend empfunden. Die Kommission hatte bereits 1979 in einem Memorandum den Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK erwogen.97 Das Parlament unterstützte ebenfalls die Beitrittsbestrebungen.98 Einem Beitritt standen allerdings mehrere Hindernisse entgegen. Auf der Seite der EMRK bestand das Problem, dass diese nur „für Mitglieder des Europarats“ zur Unterzeichnung auflag,99 die Satzung des Europarats aber ausschließlich den Beitritt von Staaten vorsieht.100 Um dies zu überwinden, wurde mit dem 14. ZP eine Änderung der EMRK vorgenommen, die nun ausdrücklich den Beitritt der Europäischen Union erlaubt. Für das Unionsrecht war fraglich, ob dieses einen Beitritt zu einem Menschenrechtsvertrag zulassen würde. In seinem auf Antrag des Rates erstatteten Gutachten 2/94 entschied der Europäische Gerichtshof, dass der Union die Zuständigkeit fehle, der EMRK förmlich beizutreten. Der Gerichtshof stützte diese Entscheidung maßgeblich darauf, dass der Union die Außenkompetenz zum Abschluss eines derartigen völkerrechtlichen Vertrages fehle.101 Die nach dieser Rechtsprechung für einen Beitritt erforderliche Änderung des primären Unionsrechts erfolgte zunächst weder in Amsterdam noch in Nizza. Die Mitgliedstaaten entschieden sich stattdessen dafür, mit der Europäischen Grundrechte-Charta einen eigenen Grundrechtskatalog für das Unionsrecht zu formulieren.102
95 EGMR, Urt v 23.5.2016, 17502/07, BeckRS 2016, 13748, §§ 101 ff – Avotiņš. 96 Beispielhaft EuGH, Urt v 15.10.2019, C-128/18, Rn 56 f, 58 ff, 71 ff– Dorobantu. 97 EuGRZ 1979, 330 ff; dazu die Bemerkungen von Bieber, EuGRZ 1979, 338 ff. 98 Entschließung v 27.4.1979, EuGRZ 1979, 257; s a die Entschließung v 18.1.1994 zum Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte, ABl 1994 Nr C 44/32. 99 Art 59 I 1 EMRK. 100 Art 4 S 1 Satzung des Europarats; Lösungsvorschläge für dieses Problem finden sich im Memorandum der Kommission EuGRZ 1979, 330 (337) (Ziff VII); s a Bernhardt in: FS Everling, 1995, S 103 ff; Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (102). 101 EuGH, Gutachten 2/94, Slg 1996, I-1759, Rn 34 – Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. 102 Grabenwarter FS Steinberger, 2002, S 1129 (1148 ff).
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Diese Zurückhaltung gegenüber einem Beitritt der EU zur EMRK änderte sich 36 dann im Rahmen der Beratungen über einen Vertrag für eine Verfassung für Europa. Nachdem in verschiedenen früheren Fassungen zunächst nur von der Möglichkeit eines Beitritts und später von einer politischen Absicht die Rede war („die Union strebt an“)103 sprach sich der am 29. Oktober 2004 in Rom unterschriebene Text jedenfalls in der deutschen und französischen Fassung für den Beitritt zur EMRK im Indikativ aus („die Union tritt bei“), während die englische Fassung einen Auftrag formulierte („the Union shall accede“).104 Der Vertrag von Lissabon übernimmt diese Formulierungen (Art 6 II EUV). Unabhängig von den sprachlichen Divergenzen wird man in den Formulierungen eine Zielvorgabe für einen Beitritt der EU zur EMRK sehen können. Im April 2013 wurde nach mehrjährigen Verhandlungen der Entwurf eines 37 Beitrittsabkommens angenommen, das von einer Gruppe von 14 Mitgliedern des Europarats mit der Kommission ausgehandelt worden war.105 Neben institutionellen Fragen der Beteiligung der EU im Europarat,106 dem sie weiterhin nicht förmlich angehören wird, beinhaltete der Entwurf vor allem einen sog. „Mitbeklagten-Mechanismus“, in dem die Union und ein Mitgliedstaat gleichberechtigt als Beklagtenpartei vor dem EGMR auftreten können. Hierdurch sollten potentielle Nachteile vermieden werden, die entstehen könnten, wenn die Verantwortlichkeit für eine behauptete EMRK-Verletzung zwischen Union und Mitgliedstaat unklar ist. Außerdem sollte auf diese Weise die Bindungswirkung auf beide Mitbeklagten erstreckt werden.107 Schließlich war die Möglichkeit einer Vorlage an den EuGH vorgesehen, wenn dieser während des nationalen Verfahrens nicht mit der Sache befasst war.108 Nachdem der EuGH den Abkommensentwurf in einem Aufsehen erregenden Gutachten für mit den Anforderungen an die Wahrung der Autonomie des Unionsrechts unvereinbar erklärt hatte,109 geriet der Prozess zunächst erheblich ins Stocken. Seit 2019 laufen wieder konkrete Verhandlungen. Es dürfte allerdings nicht ganz leicht werden, die Hindernisse zu überwinden, die der EuGH mit seinem Gutachten errichtet hat.
103 Dazu im Einzelnen Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (569). 104 Art I-9 VVE. 105 Final Report to the CDDH, 47+1 (2013) 008, 5 April 2013; zu den Verhandlungen und ihrer Struktur näher Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 (473 f); Streinz FS Klein, 2013, S 687 (690). 106 Dazu namentlich Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 (479 ff). 107 Näher Streinz FS Klein, 2013, S 687, (S 695 f); Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 (476 ff). 108 Näher Streinz FS Klein, 2013, S 687, (S 695 f); Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 (478 f). 109 EuGH, Gutachten 2/13, ABl 2013 Nr C 260/32 – Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
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Aus der Sicht des EGMR bleibt es hingegen bei dem – sehr einleuchtenden – Grundsatz, dass sich die Mitgliedstaaten ihrer konventionsrechtlichen Bindungen nicht dadurch entziehen können, dass sie bestimmte Entscheidungen auf selbstständige internationale Akteure übertragen.110 Daraus ergibt sich für das Verhältnis von EGMR und EuGH ein ähnliches Spannungspotential wie es oben für das Verhältnis von EGMR und Bundesverfassungsgericht festgestellt wurde. Realisiert hat es sich bislang nicht, aber aufgrund der normativen Positionen beider Gerichte ist es nicht ausgeschlossen, dass dies in Zukunft doch noch geschieht. Ob die wiederaufgenommenen Verhandlungen über einen Beitritt der EU zur EMRK hier Abhilfe schaffen können, bleibt abzuwarten. 39 Die gerade beschriebene Regel, dass die Vertragsparteien der EMRK ihre konventionsrechtlichen Bindungen auch bei der Gründung internationaler Organisationen und der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf diese beachten müssen, gilt grundsätzlich auch jenseits der EU. Der EGMR hat das etwa in Bezug auf das Dienstrecht internationaler Organisationen ausdrücklich entschieden.111 Für Maßnahmen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII UN-Charta soll das nach einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 nur eingeschränkt gelten.112 38
2. Wirkungen der Grundrechte-Charta im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten 40 Ihrem historischen Kontext entsprechend konnte man die Unionsgrundrechte zu-
nächst als ein Mittel verstehen, mit dem die Bindung der Unionsorgane an grundrechtliche Schutzstandards gewährleistet werden sollte. Art 6 I EUV bringt mit der Formulierung „die Union erkennt die Grundrechte …“113 die Bindung der Union deutlich zum Ausdruck. Allerdings konnte angesichts der durch den supranationalen Charakter des Unionsrechts bewirkten engen Verzahnung von Unionsrecht und nationalem Recht die Frage nach dem genauen Umfang der Bindungswirkung von Unionsgrundrechten, insbesondere die nach einer Erstreckung ihrer Bindungswirkung auf die Mitgliedstaaten, nicht ausbleiben.114 Vor dem Inkrafttreten der GrundrechteCharta hat der Gerichtshof in zwei Fallgruppen eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte anerkannt: 1) beim Vollzug von unmittelbar anwendbarem
110 EGMR, Urt v 23.5.2016, 17502/07, BeckRS 2016, 13748 – Avotiņš, Rn 101. 111 EGMR, Urt v 18.2.1999, 26083/94 – Waite and Kennedy, Rn 67. 112 EGMR (GK), Entsch v 2.5.2007, 71412/01 u 78166/01, NVwZ 2008, 645, Rn 145 ff – Behrami and Saramati. 113 Hervorhebung des Verf. 114 Dazu Ruffert, EuGRZ 1995, 518 ff; → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn. 73 ff.
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Unionsrecht durch Behörden der Mitgliedstaaten und 2) bei zulässigen Einschränkungen der durch das Unionsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten.115 Die Frage ist nun ausdrücklich in Art 51 GRCh geregelt, der eine Bindung der Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ annimmt. Der EuGH hat allerdings in Åkerberg Fransson entschieden, dass die Mitgliedstaaten immer dann Unionsrecht im Sinne dieser Vorschrift „durchführen“, wenn eine mitgliedstaatliche Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.116 Damit ist ein sehr weiter Anwendungsbereich für die Geltung der Unionsgrundrechte gegenüber mitgliedstaatlichen Maßnahmen eröffnet. Das Bundesverfassungsgericht hat auf diese Ausweitung des Anwendungs- 41 bereichs der Unionsgrundrechte zunächst abwehrend reagiert und die Rechtsprechung des EuGH in Zweifel gezogen.117 Inzwischen verfolgt es einen proaktiven Ansatz, indem es mit seiner Entscheidung im Verfahren „Vergessen II“ die EUGrundrechte-Charta zum Prüfungsmaßstab für Verfassungsbeschwerden erklärt hat. Darin liegt zwar materiell keine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta, aber durch ihre Einbeziehung in den Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei Verfassungsbeschwerden erlangt sie jedenfalls in Deutschland eine deutlich gesteigerte praktische Bedeutung.118 Ganz generell lässt sich sagen, dass das Inkrafttreten der Grundrechte-Charta 42 und ein gestiegenes Bewusstsein für die Bedeutung des unionalen Grundrechtsschutzes dazu geführt haben, dass inzwischen auch der EuGH immer öfter Grundsatzentscheidungen in Grundrechtsfragen fällt. Anders als der EGMR und die Verfassungsgerichtsbarkeit in den meisten Mitgliedstaaten der EU ist der EuGH immer zugleich auch ein Fachgericht für die Auslegung und Anwendung des sekundären Unionsrechts. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass seine Bedeutung auch als „Grundrechtegericht“ in den vergangenen Jahren zugenommen hat119 und in Zukunft weiter steigen wird. Wichtige Themenfelder sind der Datenschutz,120 Fragen der Unionsbürgerschaft und des Aufenthaltsrechts121 und der gesamte Bereich des Antidiskriminierungsrechts.122 115 EuGH, Rs 5/88, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; Rs 260/89, Slg 1991, I-2925, Rn 42 f – ERT; ausf dazu Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 7 ff; s auch Streinz ER, Rn 751. 116 EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10, NJW 2013, 1415, Rn 19 ff – Åklagare/Åkerberg Fransson = JK 2013, GrCh Art 51/1. 117 BVerfGE 133, 277 (316). 118 BVerfGE 152, 216 (236 ff). 119 Paradigmatisch Kühling, NVwZ 2014, 681. 120 Beispielhaft EuGH, Urt v 16.7.2020, Rs C-311/18 – Schrems II. 121 EuGH, Urt v 19.10.2004, Rs C-200/02 – Zhu und Chen; EuGH, Urt v 8.3.2011, Rs C-34/09 – Ruiz Zambrano; EuGH, Urt v 12.3.2019, Rs C-221/17 – Tjebbes; EuGH, Urt v 14.12.2021, Rs C‑490/20 – V.M. A. 122 EuGH, Urt v 17.4.2018, Rs C-414/16 – Egenberger.
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IV. Die Grundfreiheiten des Unionsrechts 43 Der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital kennzeichnet
nach Art 26 II AEUV den von der Union errichteten Binnenmarkt. Die hierdurch gewährleisteten sog Markt- oder Grundfreiheiten gehören zu den wichtigsten Eckpfeilern des Unionsrechts. Der Begriff der „Grundfreiheit“ wird zwar in den Verträgen nicht ausdrücklich verwendet. Er hat sich aber in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur eingebürgert.123 Seit Beginn der 1980er Jahre wird er auch vom EuGH verwendet.124 Außerdem fand er Eingang in die nicht-deutschsprachige Literatur.125 Hiermit ist eine gewisse Begriffsverengung und -verschiebung gegenüber dem früheren Sprachgebrauch verbunden. Im Jahr 1950 bezeichnete die EMRK noch die durch sie gewährleisteten Menschenrechte auch als „Grundfreiheiten“. Ungeachtet grundrechtlicher Gehalte, insbesondere der durch den AEUV garantierten Personenverkehrsfreiheiten,126 liegt es auf der Hand, dass ein jeweils unterschiedliches Begriffsverständnis vorliegt. Die EMRK verwendet den Begriff der Grundfreiheit für die in einem Katalog garantierten Menschenrechte, das Unionsrecht bezeichnet damit die für die Herstellung des Binnenmarktes notwendigen wirtschaftlichen Freiheiten im grenzüberschreitenden Verkehr. 44 Die Grundfreiheiten waren von Anfang an Bestandteil des EWG-Vertrages.127 Sie haben allerdings im Laufe der Zeit eine erhebliche Verdeutlichung und Konkretisierung durch die Rechtsprechung des EuGH erfahren. Sie entwickelten sich in dieser Rechtsprechung von zunächst auf Abbau von Benachteiligungen aufgrund der Staatsangehörigkeit gerichteten Diskriminierungsverboten zu weit reichenden Beschränkungsverboten, in denen schließlich auch dogmatisch die Konturen wirtschaftlicher Freiheitsrechte erkennbar werden. Hinzu kamen in den vergangenen Jahren auch ein Ausbau der Personenverkehrsfreiheiten und der Unionsbürgerschaft zu einem allgemeinen Freizügigkeitsrecht. Wichtige Meilensteine dieser Entwicklung sind: 1) die Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte mit der Folge ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit in den internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten;
123 Zum Begriff s Kingreen in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 705 ff. 124 EuGH, Rs 203/80, Slg 1981, 2595, Rn 8 – Casati; s näher Pfeil Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1998, S 4 ff. 125 Nachweise bei Pfeil Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S 6 ff. 126 Classen in: Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 22 Rn 1. 127 Zur Entstehung und Normierung Faig Genealogie der Grundfreiheiten: Tradition, Redaktion, Interaktion und Integration der Binnenmarktfreiheiten der Europäischen Union, 2020.
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der Ausbau des Schutzbereiches der Grundfreiheiten zu umfassenden Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten; die Ergänzung der Personenverkehrsfreiheiten um Gewährleistungen aus dem mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freizügigkeitsrecht (Art 21 AEUV) und schließlich die Verwendung von grundrechtsdogmatischen Argumentationsmustern in Form von „Drittwirkung“ und „Schutzpflichten“.
1. Anerkennung als subjektiv-öffentliche Rechte Für die gesamte weitere Entwicklung des Unionsrechts von zentraler Bedeutung ist 45 die Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte in der Entscheidung van Gend&Loos aus dem Jahr 1963. Heute ist der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit des primären Unionsrechts (→ vgl Ehlers/Germelmann § 12 Rn 10 und 14) so selbstverständlich geworden, dass die damalige Position der niederländischen und der belgischen Regierung, über die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts entscheide das jeweilige nationale Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, kaum noch nachvollziehbar erscheint. Vergleicht man die Haltung der beiden Regierungen mit der Entscheidung des EuGH, so zeigt sich, welchen erheblichen qualitativen Sprung die Unionsrechtsordnung mit der Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte gegenüber sonstigen völkerrechtlichen Verträgen machte.128 Nach der Entscheidung des EuGH in dem Verfahren van Gend&Loos schafft die Gemeinschaft eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen Bürger sind. Der Vertrag solle auch dem Einzelnen Rechte verleihen: „Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.“129 Die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten (und anderer Be- 46 stimmungen, die solche „eindeutigen Verpflichtungen“ begründen) führte in den Folgejahren dazu, dass das Gemeinschafts- und später Unionsrecht die internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in erheblichem Umfang beeinflusste. Die praktische Bedeutung dieser Rechtsprechung und ihre Wirkung auf die nationalen Rechtsordnungen zeigen sich daran, dass gerade die besonders umstrittenen Entscheidungen des EuGH nicht zu Fragen der Kompetenz der Union ergingen, son-
128 Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 24. 129 EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3, 12 – van Gend & Loos. Christian Walter
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dern zur Bedeutung der Grundfreiheiten und zur unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts.130
2. Auslegung der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote131 47 Zu dieser Entwicklung trug maßgeblich bei, dass der Gerichtshof die Grundfrei-
heiten nach und nach zu umfassenden Wirtschaftsfreiheiten ausbaute, die nicht nur offene und versteckte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbieten, sondern alle Maßnahmen untersagen, die zu einer Beschränkung des Waren- und Personenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten führen können. Nach dem Wortlaut im Vertragstext bestehen nicht unerhebliche Unterschiede im Schutzbereich der einzelnen Grundfreiheiten. Während die Warenverkehrsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs ausdrücklich Beschränkungen als unzulässig bezeichnen (vgl Art 34 u 56 I 1 AEUV), statuieren die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit zunächst einmal nur ein Verbot der Differenzierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art 45 II u 49 AEUV). Der EuGH hat allerdings im Laufe der Jahre alle Grundfreiheiten so ausgelegt, dass sie sowohl ein Diskriminierungs- als auch ein Beschränkungsverbot aufstellen. Insgesamt kann man sagen, dass sich die Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit als Schrittmacher für die Entwicklung bei den anderen Grundfreiheiten erwiesen hat. 48 Das umfassende Beschränkungsverbot für die Warenverkehrsfreiheit formulierte der EuGH in dem Verfahren Dassonville. Nach der seither so genannten Dassonville-Formel sind unter Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Sinne von Art 34 AEUV alle Handelsregelungen der Mitgliedstaaten zu verstehen, die geeignet sind, „den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.“132 Diese Formulierung macht deutlich, dass auch diskriminierungsfreie Beschränkungen des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich von Art 34 AEUV fallen. In letzter Konsequenz hätte diese weite Auslegung des Beschränkungsverbots dazu geführt, dass im Prinzip jedes Produkt, das in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und/oder in den Verkehr gebracht wurde, uneingeschränkt in die anderen Mitgliedstaaten hätte eingeführt und dort vertrieben 130 S etwa EuGH, Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931 ff – Kohll; Rs C-120/95, Slg 1998, I-1831 ff – Decker; Rs C-285/98, Slg 2000, I-69 ff – Kreil = JK 2000, EGV Art 141/2. 131 Dazu ausf → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 38 ff und 41 ff. 132 EuGH, Rs 8/74, Slg 1974, 837, Rn 5 – Dassonville.
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§ 1 Geschichte und Entwicklung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten
werden können.133 Aus dem Bestreben, eine so weitreichende Konsequenz zu vermeiden, erklärt sich die Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung, die zwingende Erfordernisse des Gesundheits- und Verbraucherschutzes sowie des Schutzes des Handelsverkehrs und der steuerlichen Kontrolle schon aus dem Tatbestand des Art 34 AEUV ausnimmt.134 Auch die Entscheidung in dem Verfahren Keck und Mithouard, mit der Beschränkungen von Verkaufsmodalitäten,135 also etwa Ladenöffnungszeiten136 oder eine Apothekenpflichtigkeit bestimmter Produkte137, gleichfalls schon aus dem Tatbestand des Art 34 AEUV ausgenommen wurden, verfolgt das Ziel, die Wirkungen der weiten Dassonville-Formel einzuschränken. Bei der Warenverkehrsfreiheit zeigt sich also eine zunächst den Tatbestand ausweitende, dann aber für bestimmte Fallgruppen wieder einschränkende Rechtsprechung. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich für die anderen Grundfreiheiten 49 nachweisen. Für die Dienstleistungsfreiheit, die schon nach dem Vertragstext kein bloßes Diskriminierungsverbot aufstellt, hat der EuGH dies bereits in seiner ersten Entscheidung zu erkennen gegeben.138 Die Entscheidung Alpine Investments deutet an, dass die einschränkende Auslegung durch die Keck-Entscheidung grundsätzlich auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen werden kann.139 Auch die Niederlassungsfreiheit wurde in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vom bloßen Diskriminierungsverbot zu einem Beschränkungsverbot ausgebaut.140 In der viel beachteten Bosman-Entscheidung hat der EuGH schließlich die genannten Grundsätze auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit angewandt. Dort hat er auch angedeutet, dass nicht nur der Grundgedanke des Beschränkungsverbots übertragen werden kann, sondern auch die einschränkende Auslegung nach der Keck-Formel.141 Insgesamt kann man
133 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 37. 134 EuGH, Rs 33/77, Slg 1979, 649, Rn 8 – Rewe-Zentral-AG (Cassis de Dijon). 135 EuGH, verb Rs C-267/91 u C-268/91, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck u Mithouard; fortentwickelt in EuGH, Rs C-110/05, Slg 2009, I-519, Rn 33 ff – Kommission/Italien. 136 EuGH, verb Rs C-69/93 u C-258/93, Slg 1994, I-2355, Rn 12 f – Punto Casa. 137 EuGH, Rs. C-322/01 Slg 2003, I-14887, Rn 72 – Deutscher Apothekerverband e.V. = JK 2004, EGV Art 28/4. 138 EuGH, Rs 33/74, Slg 1974, 1299, Rn 10 – van Binsbergen. 139 EuGH, Rs C-384/93, Slg 1995, I-1141, Rn 33 ff – Alpine Investment. 140 Vgl die zusammenfassende Darstellung der Grundsätze in EuGH, Rs C-55/94, Slg 1995, I-4165, Rn 37 ff – Gebhard, sowie die Beschreibung der Entwicklung der Rspr zur Niederlassungsfreiheit bei Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 49 AEUV Rn 23 ff; vgl aber auch dort Rn 32 f zur Kritik am Sprachgebrauch des Diskriminierungsbegriffs. 141 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 103 – Bosman; s deutlicher insoweit noch die Schlussanträge GA Lenz, ebd, Rn 206; s a die Erörterung des Problems und der verschiedenen vertretenen Positionen bei Ganten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, S 124–129; Schulte-Westenberg Zur Bedeutung der ‚Keck‘-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Arbeitnehmerfreizügigkeit gem Art 39 EG, 2009.
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1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee
in der Rechtsprechung der vergangenen Jahre somit eine Konvergenz zu einer gemeinsamen Dogmatik der Grundfreiheiten feststellen.142
3. Ergänzung der Personenverkehrsfreiheiten um Rechte aus der Unionsbürgerschaft 50 Das Freizügigkeitsrecht aus Art 21 AEUV bildet die Rechtsgrundlage für ein all-
gemeines, von den ökonomischen Freiheiten unabhängiges Freizügigkeitsrecht.143 Die Bestimmung ist nach der neueren Rechtsprechung des EuGH jedenfalls in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot144 und nach nahezu einhelliger Auffassung in der Literatur unmittelbar anwendbar.145 In Kombination mit dem Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV wirkt sie zunehmend als Katalysator für eine umfassende sozialrechtliche Gleichstellung der Unionsbürger. Ein deutliches Beispiel für diese Entwicklung ist die Entscheidung in der Rechtssache D’Hoop: Einer Belgierin wurde in Belgien ein bestimmter sozialrechtlicher Anspruch (ein Überbrückungsgeld beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf) mit der Begründung verweigert, dass sie ihre höhere Schulausbildung nicht in Belgien, sondern in Frankreich abgeschlossen habe. Der EuGH sah darin eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung aufgrund eines Gebrauchs des allgemeinen Freizügigkeitsrechts aus Art 18 EGV (jetzt Art 21 AEUV). Unabhängig davon, ob man diese Entwicklung eher negativ als „Einfallstor für einen fast grenzenlosen Anwendungsbereich des Art 12 EGV (jetzt Art 18 AEUV)“ versteht,146 oder in ihr eine zu begrüßende Stärkung der Rechte des Einzelnen sieht,147 macht sie das Freizügigkeitsrecht aus der Unionsbürgerschaft zu einem Auffanggrundrecht in allen Fällen, die mangels eines wirtschaftlichen Bezugs nicht unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder die Niederlassungsfreiheit fallen.
142 Hilf/Pache, NJW 1996, 1169 (1172); Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S 61 f; Strassburger Die Dogmatik der EU-Grundfreiheiten, 2012, S 83 ff; s a Klenk Die Grenzen der Grundfreiheiten, 2019. 143 Kadelbach in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 611 (625 f). 144 EuGH, Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193, Rn 30 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; Rs C-224/98, Slg 2002, I-6191, Rn 25 ff – D’Hoop; Rs C-413/99, Slg 2002, I-7091, Rn 84 ff – Baumbast; Rs C-456/02, Slg 2004, I-7573, Rn 31 ff – Trojani; vgl a die abweichende Meinung GA Geelhoed, EuGH, Rs C-456/02, Slg 2004, I-7573, Rn 66 ff – Trojani. 145 Kadelbach in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 611 (625); Streinz ER, Rn 981 ff; s a Scheuing, EuR 2003, 744 (759 ff); krit zur Methodik des EuGH Hailbronner, NJW 2004, 2185 (2186 ff). 146 Bode, EuZW 2002, 637 (639). 147 So die Tendenz bei Borchardt, NJW 2000, 2057 (2058).
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4. Drittwirkung und Schutzpflichten: Grundrechtsdogmatik in der Argumentation des EuGH zu den Grundfreiheiten148 Mit der Bosman-Entscheidung hat der EuGH zugleich auch seine schon früher ent- 51 wickelte Rechtsprechung bestätigt, nach der die Grundfreiheiten nicht nur staatliche Stellen in den Mitgliedstaaten binden, sondern auch Privatpersonen. Unklar blieb allerdings noch der Umfang dieser Drittwirkung. In den Entscheidungen Walrave149 und Bosman wurde sie für die Dienstleistungsfreiheit und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gegenüber Sportverbänden und anderen Vereinigungen angenommen, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit befugt sind. Aus diesem Grund wurde in der Literatur vielfach eine unmittelbare Drittwirkung nur dann angenommen, wenn die betreffenden Privatpersonen mit einer gewissen Regelungsbefugnis ausgestattet waren.150 Für die Warenverkehrsfreiheit lehnt der EuGH nach anfänglichen Unsicherheiten inzwischen generell in ständiger Rechtsprechung eine unmittelbare Drittwirkung ab.151 Im Sommer 2000 sprach der EuGH demgegenüber in dem Verfahren Angonese jedenfalls der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine unmittelbare Drittwirkung auch in Fällen zu, in denen es gerade an einer sozialen Machtausübung durch eine Vereinigung zur Wahrnehmung kollektiver Interessen fehlte.152 Es ist kaum anzunehmen, dass damit das letzte Wort in Sachen (unmittelbarer) Drittwirkung gesprochen ist.153 Die Entscheidung ist in der Literatur auf Kritik gestoßen.154 Außerdem betraf sie – anders als der Fall Bosman – eine Diskriminierungssituation und erlaubt deshalb nicht zwangsläufig Rückschlüsse darauf, wie in einem vergleichbaren Fall mit einer nicht diskriminierenden, sondern nur beschränkenden Maßnahme entschieden worden wäre. Schließlich bleibt das grundsätzliche Problem, eine Dogmatik zu entwickeln, mit der die Drittwirkungsproblematik für alle Grundfreiheiten gelöst werden kann.
148 Dazu ausf → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 98 f. 149 EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405, Rn 17 ff – Walrave. 150 Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff mwN. 151 Dazu im Einzelnen die ausf Analyse der Rspr bei Ganten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, S 34–45; Jaensch Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, S 45–64; s a Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 (460). 152 EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139, Rn 31, 36 – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1. 153 Vgl. die Entscheidungen EuGH, Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779, Rn 58 f – The International Transport Workers’ Federation und The Finnish Seamen’s Union; EuGH, Rs C-94/07, Slg 2008, I-5939, Rn 38 ff – Raccanelli; EuGH, Urt v 12.7.2012, Rs C-171/11, Rn 26 ff – Fra.bo. 154 Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 (464 ff); vgl ebenfalls – auch zu Raccanelli: Perner Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 2013, S 168–171.
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1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee
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Hinzu kommt, dass mit der für die Warenverkehrsfreiheit entwickelten dogmatischen Figur der Schutzpflicht155 ein Instrument zur Verfügung steht, das ähnliche Ziele verfolgt.156 Als französische Bauern immer wieder gewaltsam den Import von Agrarprodukten aus Spanien und anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft verhinderten und die Kommission deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einleitete, stand der EuGH vor einem der Drittwirkungsproblematik vergleichbaren Problem. Auch hier ging es darum, die Geltung der Grundfreiheiten gegenüber einer Beschränkung durch privates Handeln durchzusetzen. Anders als bei der Dienstleistungsfreiheit wählte der Gerichtshof aber nicht den Weg über eine unmittelbare Drittwirkung, sondern leitete aus der Warenverkehrsfreiheit eine staatliche Schutzpflicht ab, Behinderungen der Warenverkehrsfreiheit durch Private zu verhindern. Er entschied deshalb, dass Frankreich gegen seine Pflichten aus dem EG-Vertrag verstoßen habe, weil es gegenüber regelmäßig wiederkehrenden gewalttätigen Protesten untätig geblieben sei.157 Auf diesem Weg wird faktisch das gleiche Ergebnis erreicht: Die Geltung der Grundfreiheiten muss auch gegenüber Störungen durch Private durchgesetzt werden. Allerdings erfolgt dies nicht durch eine unmittelbare Anwendung der entsprechenden Vertragsbestimmungen gegen die störenden Privatpersonen, sondern nur mittelbar über die Ableitung einer Schutzpflicht des Staates, der dann gehalten ist, die Störung zu unterbinden. 53 Schon an der Begrifflichkeit und den nunmehr in Rechtsprechung und Literatur verwendeten dogmatischen Figuren zeigt sich, in welchem Umfang die Grundfreiheiten inzwischen Anleihe bei den allgemeinen Grundrechtslehren nehmen: Schutzpflicht und mittelbare oder unmittelbare Drittwirkung sind Begriffe, die der Grundrechtsdogmatik entlehnt sind und deutlich machen, dass die Grundfreiheiten sich von der ursprünglich vor allem auf der Beseitigung von Diskriminierungen liegenden Akzentsetzung158 weit entfernt und sich durch die Rechtsprechung des EuGH inzwischen in echte wirtschaftliche Freiheitsrechte verwandelt haben.159
155 Vgl Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH, Rs C-231/03, Slg 2005, I-7287, Rn 48 – Coname = JK 2006, EGV Art 43/7. 156 S vergleichend zur dogmatischen Begründung von Schutzpflichten Jaeckel Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, S 222 ff. 157 EuGH, Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959, Rn 30 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2; dazu Szczekalla, DVBl 1998, 219 ff. 158 Vgl etwa die Beschreibung des Zwecks eines Verbots von Maßnahmen mit gleicher Wirkung in Art 28 EGV bei Ipsen EuGR, S 588 f. 159 Gegen ein freiheitsrechtliches Verständnis und für einen materiellen Diskriminierungsbegriff argumentiert Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 72 u 118 ff.
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§ 1 Geschichte und Entwicklung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten
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V. Zusammenfassung: Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in einem Europa mehrerer Ebenen Die beschriebenen Einzelentwicklungen im Recht der Europäischen Union und der EMRK entfalten Wechselwirkungen untereinander, finden aber nicht in einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung, sondern auf unterschiedlichen Ebenen statt. Dies macht Verallgemeinerungen schwierig. Folgende Entwicklungslinien lassen sich aber zusammenfassend festhalten: 1) Der nationale Grundrechtsschutz wurde seit 1945 um einen zunehmend sich intensivierenden internationalen Menschenrechtsschutz ergänzt. Spätestens mit der Ausgestaltung, die das Rechtsschutzsystem der EMRK durch das 11. ZP seit dem 1.11.1998 erlangt hat, nimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte quasi-verfassungsgerichtliche Funktionen des Grundrechtsschutzes in Europa wahr. 2) Diese quasi-verfassungsgerichtliche Funktion des EGMR wird einerseits dadurch unterstrichen, dass inzwischen praktisch alle Fragen zwischenmenschlichen Zusammenlebens konventionsrechtlich überlagert sind und hierzu getroffenen Entscheidungen der Mitgliedstaaten damit der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegen. Im Zusammentreffen mit stärker polarisierten politischen Verhältnissen in den Mitgliedstaaten führt dies zu neuen Herausforderungen: Die Erwartungen an den Gerichtshof wachsen in Teilen der Zivilgesellschaft, zugleich zeigt sich aber auch eine deutlich größere Zurückhaltung oder gar offene Ablehnung bei den Staaten. 3) Für eine so intensiv in die nationalen Rechtsordnungen hineinreichende supranationale Rechtsordnung wie die des Unionsrechts hat sich ein eigener Grundrechtsschutz innerhalb der Organisation als unumgänglich erwiesen. Dieser wird durch die Rechtsprechung des EuGH anhand der Europäischen Grundrechte-Charta gewährleistet. Nicht zuletzt aufgrund seines weiten Verständnisses vom Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta wächst der EuGH zunehmend in die Rolle eines Grundrechte-Gerichtshofs hinein. Bislang ist die Union zwar der EMRK nicht förmlich beigetreten, aber in der praktischen Rechtsanwendung bemühen sich der Europäische Gerichtshof in Luxemburg und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg um eine möglichst einheitliche Handhabung der Prüfungsmaßstäbe. Eine noch stärkere Angleichung dürfte erst mit einem Beitritt der Union zur EMRK erreicht werden können. 4) Mit der stärker werdenden Akzentuierung der Grundrechte in der Rechtsprechung des EuGH gehen zugleich immer komplexer werdende Verflechtungen im europäischen Grund- und Menschenrechtsschutz einher, welche sowohl die materiellen Standards wie die Durchsetzungsebene betreffen und neben den Christian Walter
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beiden europäischen Gerichtshöfen insbesondere auch eine Abstimmung mit dem innerstaatlichen Grundrechtsschutz durch die (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten erfordern. Das Zusammenwirken der unterschiedlichen Ebenen ist hier gerade wegen der Verflechtungen keineswegs spannungsfrei. Die ursprünglich vor allem für den Abbau von Diskriminierungen im unionsinternen Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr entwickelten Grundfreiheiten des Unionsrechts haben durch die Ausformung als Beschränkungsverbote in der Rechtsprechung des EuGH zunehmend den Charakter wirtschaftlicher Grundrechte gewonnen. Sie werden im Bereich der Personenfreiheiten durch das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art 21 AEUV ergänzt, das im Zusammenwirken mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art 18 AEUV ein Auffanggrundrecht für diejenigen Fälle ist, in denen eine Anwendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit am mangelnden wirtschaftlichen Bezug scheitert.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz § 2 Allgemeine Lehren § 2.1 Europäische Menschenrechtskonvention Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, EuGRZ 1993, 65 ff – Niemietz/Deutschland = JK 93, EMRK Art 8/1; Urt v 27.3.1996, 17488/90 – Goodwin/Vereinigtes Königreich; Urt v 19.2.1998, 14967/89, NVwZ 1999, 57 ff – Guerra ua/Italien = JK 99, EMRK Art 8/3; Urt v 18.2.1999, 26083/94, NJW 1999, 1173 ff – Waite u Kennedy/Deutschland = JK 99, EMRK Art 6/2; Urt v 18.2.1999, 24833/94, NJW 1999, 3107 ff – Matthews/Vereinigtes Königreich = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2; Urt v 22.3.2001, 34044/96, 35532/97 u 44801/98, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Keßler u Krenz/Deutschland; Entsch v 12.12.2001, 52207/99, NJW 2003, 413 ff – Banković ua/Belgien ua; Urt v 13.2.2003, 41340/98 ua, NVwZ 2003, 1489 ff – Refah Partisi ua/Türkei; Urt v 22.6.2004, 31443/96, EuGRZ 2004, 472, §§ 36 ff– Broniowski/Polen; Urt v 24.6.2004, 59320/00, NJW 2004, 2647 ff – Caroline von Hannover/Deutschland = JK 2005, EMRK Art 8/4; 2.3.2005, 71916/01, 71917/01 u 10260/02, NJW 2005, 2530 ff – von Maltzan ua/Deutschland = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2; Urt v 12.5.2005, 46221/99, NVwZ 2006, 1267 – Öcalan/Türkei; Urt v 30.6.2005, 45036/98, NJW 2006, 197 ff – Bosphorus/Irland = JK 2006, EMRK Art 1/3; Urt v 8.6.2006, 75529/01, NJW 2006, 2389 – Sürmeli/Deutschland = JK 2007, EMRK Art 13/1; Urt v 17.12.2009, 19359/04, NJW 2010, 2495 ff – M/Deutschland (Sicherungsverwahrung) = JK 2010, EMRK Art 5 I/2; Urt v 1.6.2010, 22978/05, NJW 2010, 3145 ff – Gäfgen/Deutschland = JK 2009, EMRK Art 3/3; Urt v 18.3.2011, 30814/06, NVwZ 2011, 737 ff – Lautsi ua/Italien = JK 2011, EMRK Zusatzprotokoll Art 2/2; Urt v 7.7.2011, 27021/08 – Al-Jedda/ Vereinigtes Königreich; Urt v 21.6.2016, 5809/08 – Al-Dulimi u Montana Management Inc/Schweiz; Urt v 8.11.2016, 18030/11 – Magyar Helsinki Bizottság/Ungarn; Urt v 16.12.2020, 20958/14 u 38334/18 – Ukraine/Russland; Urt v 21.9.2021, 20914/07 – Carter/Russland; EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13 – Beitritt der Union zur EMRK; BVerfGE 111, 307 ff – Görgülü (Geltung EMRK und Bindungswirkung) = JK 2005, GG Art 20 III/39; 128, 326 ff – Sicherungsverwahrung; 148, 296 ff – Beamtenstreikverbot.
Schrifttum: Bantekas/Oette International Human Rights Law and Practice, 3. Aufl 2020; Frowein/ Peukert (Hrsg) Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl 2009; Gerards General Principles of the European Convention on Human Rights, 2019; Grabenwarter/Pabel Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl 2021; Grabenwarter European Convention on Human Rights, 2014; Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg) EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 3. Aufl 2022; Harris/O’Boyle/Warbrick Law of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl 2018; Janis/Kay/Bradley European Human Rights Law, 3. Aufl 2008; Pabel/Schmahl (Hrsg) Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Loseblatt; Kadelbach in: Ehlers/Schoch (Hrsg) Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2021, §§ 3, 6; Karpenstein/Mayer (Hrsg) EMRK, 3. Aufl 2022; Marguénaud La Cour européenne des droits de l’homme, 7. Aufl 2016; Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg) Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 4. Aufl 2017; Mowbray Cases and Materials on the European Convention on Human Rights, 3. Aufl 2012; Merten/Papier (Hrsg) HGR, Bd VI/1: Europäische Grundrechte I, 2010, Bd VI/2: Europäische Grundrechte II, Universelle Menschenrechte, 2009; Peters/Altwicker Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl 2012; Reid A Practitioner’s Guide to the European Convention on Human Rights, 6. Aufl 2019; Schabas The European Convention on Human Rights, 2017; Schilling Internationaler
Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann https://doi.org/10.1515/9783110716740-002
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Menschenrechtsschutz, 4. Aufl 2022; Sudre Droit européen et international des droits de l‘homme, 15. Aufl 2021; Villiger Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 3. Aufl 2020.
I. Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts 1 Die (Europäische) Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grund-
freiheiten von 4.11.19501 gehört heute zu den wichtigsten und wirkmächtigsten Instrumenten des internationalen Menschenrechtsschutzes. Zwar entfaltet sie in regionaler Hinsicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten des Europarats rechtliche Bindungswirkung und kann dementsprechend auch die Reduktion ihres territorialen Geltungsbereichs durch den Ausschluss oder Austritt von Mitgliedstaaten des Europarats nicht verhindern.2 Im Gegenteil sieht sie anders als manch andere Menschenrechtsverträge mit Art 58 EMRK selbst eine Kündigungsmöglichkeit vor.3 Gleichwohl hat der Menschenrechtsschutz der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Vorbildcharakter für viele Bereiche des internationalen Menschenrechtsschutzes wie auch im Verhältnis zum Grundrechtsschutz der Europäischen Union (vgl dazu → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 6). Hierzu trägt namentlich auch die Rspr des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bei.4 Auch wenn sich die Erkenntnisse und Lösungen des Menschenrechtsschutzes der EMRK nicht unverändert auf andere menschenrechtliche Gewährleistungen übertragen lassen, stellen sie doch zumindest einen wesentlichen Diskussionsbeitrag und oftmals einen Anstoß für Verbesserungen dar. Dies gilt auch für einige nationale Rechtsordnungen in Europa, die zum Teil vornehmlich oder gleichberechtigt neben nationalem Verfassungsrecht einen Schutz der Menschenrechte nach Maßgabe der EMRK gewährleisten.5 Insgesamt findet heute Menschenrechtsschutz nicht allein auf nationaler Ebene statt. Die Grundrechte bzw die (für alle gleichermaßen geltenden) Menschenrechte, die dem Einzelnen gegenüber den Trägern hoheitlicher Gewalt
1 BGBl II 1952, 685 = Sart II Nr 130. 2 Vgl jüngst für Russland Committee of Ministers, 16 March 2022, Doc CM/Del/Dec(2022)1428ter/2.3, Resolution CM/Res(2022)2 on the cessation of the membership of the Russian Federation to the Council of Europe. 3 Vgl Sudre EMRK, Rn 46; Schabas EMRK, S 942 f, jeweils mit Hinweis auf den – vor dem russischen Fall – einzigen Anwendungsfall Griechenlands 1969 (mit Wiedereintritt 1974). 4 Prägnanter Überblick bei Marguénaud La Cour européenne des droits de l’homme, 7. Aufl 2016. 5 Für Österreich vgl die Beiträge zu den Einzelgrundrechten in Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg) 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd II, 1992, S 149 ff; ferner Grabenwarter FS Machacek und Matscher, 2008, S 129 ff. Für die Geltung im internen französischen Recht Sudre EMRK, Rn 118 ff; de Gouttes in: Mélanges en l’honneur de Frédéric Sudre, 2018, S 305 ff.
Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
§ 2.1 Europäische Menschenrechtskonvention – Allgemeine Lehren
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zukommen,6 werden heute auf universeller, regionaler und nationaler Ebene anerkannt. Letzteres wird jedenfalls in der westlichen Welt mittlerweile als selbstverständlich erachtet und ist nach wie vor auch ein zentrales Ziel der globalen Rechtsund Werteordnung, wie nicht zuletzt Art 1 Ziff 3 der UN-Charta zeigt.
1. Universeller und regionaler Menschenrechtsschutz Auf der universellen Ebene ist als Ausgangspunkt der Menschenrechtsentwick- 2 lung vor allem die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)7 zu nennen, die zwar kein völkerrechtlicher Vertrag ist und als Generalversammlungsresolution auch keine rechtliche Verbindlichkeit besitzt,8 wohl aber in politischer Hinsicht von herausragender Bedeutung ist. Die AEMR enthält einen Katalog der wichtigsten bürgerlichen, sozialen und politischen Rechte wie das Recht auf Leben und Freiheit, das Verbot der Sklaverei und Folter, die Gleichheit vor dem Gesetz und den Anspruch auf Rechtsschutz. Zugleich formuliert sie die Basisvoraussetzungen für die Einschränkbarkeit von Menschenrechten. Sie verlangt ein Gesetzesvorbehalt, der „ausschließlich“ den Zwecken dienen muss, „die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten der anderen zu sichern und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen“ (Art 29 Ziff 2). Auch wenn die AEMR politisch weite Anerkennung in ihren Grundprinzipien genießt, ist ihr dennoch in ihrer Gesamtheit keine völkergewohnheitsrechtliche Bindungswirkung zuzugestehen;9 dies kann allenfalls für einzelne dort genannte Rechtspositionen angenommen werden.10 Noch geringer ist die Zahl der Menschenrechte, die zudem gewohnheitsrechtlich als zwingendes Völkerrecht (ius cogens) anerkannt sind.11 Allerdings kann die AEMR zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht beitragen, sofern neben einer entsprechenden Staatenpraxis ein auf sie gerichteter universeller Rechtsbin-
6 Historisch vgl etwa Kriele FS Scupin, 1973, S 187 ff. 7 Sart II Nr 15. 8 S v Arnauld VR, Rn 616; Bantekas/Oette International Human Rights Law and Practice, S 63 f. 9 Richtig Sudre EMRK, Rn 104, der zutr darauf hinweist, dass die AEMR gerade einen neuen Menschenrechtsschutz begründen und keine bestehenden Regeln normieren wollte und überdies die Praxis der Menschenrechtsverstöße eine gewohnheitsrechtliche Entstehung abseits belastbarer vertraglicher Grundlagen in Zweifel zieht. 10 Vgl Bantekas/Oette International Human Rights Law and Practice, S 63 f; Epping in: Ipsen, VR, § 9 Rn 11; Kau in: Graf Vitzthum/Proelß, VR, III Rn 235 mN zur Gegenansicht. 11 Gemeinhin werden hier vornehmlich nur das Folterverbot und das Sklavereiverbot genannt; s etwa Sudre EMRK, Rn 48.
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dungswille feststellbar sein sollte. Außerdem nehmen zahlreiche vertraglich normierte und damit rechtlich verbindlich gemachte Menschenrechtsgewährleistungen auf die AEMR Bezug. So wird sie auch in der Präambel der EMRK erwähnt, ohne damit in diese inkorporiert zu werden. Die AEMR statuiert einen Mindeststandard der Menschenrechte, an dem der Menschenrechtsschutz in den Staaten und Regionen gemessen werden kann. Politisch wird die Einhaltung des Standards durch einen der Generalversammlung der Vereinten Nationen zugeordneten (die vorherige Menschenrechtskommission ersetzenden) Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen überwacht.12 Der Menschenrechtsrat wird auf Beschwerden und speziellen Anlass hin tätig und überprüft regelmäßig die Erfüllung der eingegangenen Verpflichtungen auf dem Gebiet der Menschenrechte. Unterstützt wird er durch den UN-Hochkommissar für Menschenrechte.13 3 Auf universeller Ebene sind mittlerweile zahlreiche spezielle Menschenrechtskonventionen verabschiedet worden (zB gegen Völkermord, Folter, Sklaverei, Rassendiskriminierung, Diskriminierung von Frauen und zur Wahrung der Rechte von Kindern),14 die von unterschiedlich zahlreichen Staaten ratifiziert worden sind. Völkervertragsrechtlich abgesichert wird der allgemeine Menschenrechtsschutz durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) sowie den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), beide vom 19.12.1966;15 beide traten für Deutschland 1976 in Kraft. Die Pakte gelten heute in der großen Mehrzahl der existierenden Staaten,16 darunter in
12 GV-Resolution 60/251 v 3.4.2006; vgl dazu Bantekas/Oette International Human Rights Law and Practice, S 162 ff; Kadelbach in: Ehlers/Schoch RS, § 3 Rn 6; Karrenstein Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, 2011. 13 Dazu Kälin/Künzli Universeller Menschenrechtsschutz, 4. Aufl 2019, Rn 8.62 f; v Arnauld VR, Rn 629; Heintze in: Ipsen, VR, § 32 Rn 5. 14 Vgl die Übersicht bei Heintze in: Ipsen, VR, § 32 Rn 17 ff; Kälin/Künzli Universeller Menschenrechtsschutz, 4. Aufl. 2019, Rn 2.34 ff. 15 Vgl BGBl II 1973, 1534, 1570 = Sart II Nr 20 und Nr 21. 16 Der IPbpR ist von 173 Staaten ratifiziert worden (Stand: Januar 2023; nennenswerte Ausnahmen sind zB die VR China und Kuba, die den Vertrag nur unterzeichnet haben, sowie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Oman, die den Vertrag nicht einmal gezeichnet haben). Der IPwskR ist von 171 Staaten ratifiziert worden (Stand: Januar 2023; hier sind nennenswerte Ausnahmen die Vereinigten Staaten, die den Vertrag lediglich gezeichnet, nicht aber ratifiziert haben, sowie erneut Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die den Vertrag weder gezeichnet noch ratifiziert haben). Einige der speziellen Menschenrechtsverträge wie die Kinderrechtskonvention (196), die Konvention gegen Rassendiskriminierung (182) oder die Konvention gegen die Diskriminierung von Frauen (189) haben sogar noch höhere Ratifikationszahlen, was freilich keine Garantie gegen Verstöße darstellt. Andere Konventionen wie die Völkermordkonvention v 1948 liegen in den Ratifikationszahlen deutlich niedriger (153). Auch haben etliche Staaten teilweise weitgehende Vorbehalte zu den Menschenrechtsverträgen angebracht, denen wiederum andere Vertragspartner,
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allen Mitgliedstaaten des Europarates. Der IPbpR nimmt in der Sache die liberalen Verbürgungen der AEMR auf, wobei die Gewährleistungen zumeist detaillierter und differenzierter ausgestaltet sind und nur teilweise einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt kennen (vgl Art 9, 12 IPbpR). Es besteht dabei keine Deckungsgleichheit zu dem Vorbild der AEMR. So enthält der IPbpR im Gegensatz zur AEMR Bestimmungen über die Todesstrafe17, anders als Art 17 AEMR aber keine Garantie des Rechts auf Eigentum. Letzteres erklärt sich aus den in der Staatengemeinschaft der 1960er Jahre deutlich variierenden Vorstellungen über den Schutz von privatem Eigentum.18 Im Falle eines öffentlichen Notstands dürfen die Rechte teilweise suspendiert werden (Art 4 IPbpR). Neben Abwehrrechten verpflichtet der Pakt auch zu positiven Vorkehrungen (zB Art 2 II, 6 I 2 IPbpR). Im Gegensatz zum IPbpR enthält der auf die Initiative der damaligen sozialistischen Staaten zurückgehende19 IPwskR in der Mehrzahl seiner Bestimmungen keine klassischen unmittelbar anwendbaren subjektiven Rechte, sondern primär allgemeine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zielvorgaben mit objektiv-rechtlicher Bindungswirkung, aber weitergehenden staatlichen Ausgestaltungsspielräumen.20 Zur Durchsetzung der in den Pakten garantierten Rechte dient zunächst ein periodisches und obligatorisches Berichtssystem der Vertragsstaaten (Art 40 IPbpR; Art 16 IPwskR). Die auf der Grundlage des IPbpR erstatteten Berichte werden durch den aus gewählten unabhängigen Mitgliedern bestehenden Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee; Art 28 IPbpR),21 die Berichte iSd IPwskR durch den aus unabhängigen Experten bestehenden Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Committee on Economic, Social and Cultural Rights), der als Hilfsorgan des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) nach Art 68 der UN-Charta durch den Sicherheitsrat errichtet wurde, geprüft und ausgewertet.22 Sodann ist für den IPbpR sowohl
darunter auch Deutschland, widersprochen haben, da sie sie als mit dem Vertragsziel unvereinbar und damit unzulässig erachten. S allg zum Problem der Zulässigkeit von Vorbehalten bei Menschenrechtsverträgen und ihren Rechtsfolgen Kälin/Künzli Universeller Menschenrechtsschutz, 4. Aufl. 2019, Rn 4.16 ff. 17 Vgl Art 6 IPbpR sowie das Zweite Fakultativprotokoll zu dem IPbpR zur Abschaffung der Todesstrafe v 15.12.1989, BGBl II 1992, 391 = Sart II 20b. Dieses Fakultativprotokoll ist nur von 90 Staaten ratifiziert worden, 107 Staaten haben es weder gezeichnet noch ratifiziert (Stand: Januar 2023). 18 Insb die sozialistischen Länder legten den Schwerpunkt eher auf soziale Rechte wie ein Recht auf Arbeit; s Schabas EMRK, S 961 mwN. 19 Vgl Bantekas/Oette International Human Rights Law and Practice, S 413 ff; zum politischen Hintergrund vgl auch Sudre EMRK, Rn 85. 20 Vgl Heintze in: Ipsen, VR, § 32 Rn 15. 21 Näher zur Berichterstattung und deren Schwächen Schilling IMR, Rn 913 ff. 22 Vgl v Arnauld VR, Rn 640; zu seiner Rolle bei der Umsetzung der IPwskR-Rechte und insb deren Justiziabilität s De Schutter International Human Rights Law, 3. Aufl 2019, S 825 ff.
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eine fakultative Staatenbeschwerde (Art 41 IPbpR) als auch eine fakultative Individualbeschwerde vorgesehen. Letztere ist im (1.) Fakultativprotokoll vom 19.12.1966 verankert, welches für Deutschland erst 1992 in Kraft trat23 und bislang von 117 Staaten insgesamt ratifiziert worden ist. In beiden Fällen findet eine Überprüfung in einem gerichtsähnlichen Verfahren durch den UN-Menschenrechtsausschuss statt, der einen Bericht über den Sachverhalt abgibt (und nicht etwa Feststellungen über eine Vertragsverletzung trifft)24 oder auf eine Individualbeschwerde hin seine (die Vertragsstaaten nicht bindende, jedenfalls aber zu beachtende) Auffassung (nicht Entscheidung) mitteilt.25 Die Bundesrepublik Deutschland hat beide Beschwerdemöglichkeiten anerkannt, allerdings zum Individualbeschwerdeverfahren einen Vorbehalt erklärt, in der bestimmte Zuständigkeiten des Ausschusses ausgeschlossen werden.26 Das Staatenbeschwerdeverfahren wird in der Praxis kaum in Anspruch genommen.27 Die Möglichkeit, Individualbeschwerde zu erheben, setzt (regelmäßig) voraus, dass der innerstaatliche Rechtsschutz erschöpft wurde.28 Das Verfahren vor dem UN-Menschenrechtsausschuss (MRA) dürfte in Europa insgesamt nicht von großem Interesse sein, weil der Menschenrechtsausschuss nur tätig wird, wenn dieselbe Sache nicht bereits in einem anderen internationalen Streitbeilegungsverfahren geprüft wurde,29 die EMRK hier aber einen ungleich effektiveren Rechtsschutz zur Verfügung stellt (Rn 104 ff).30 Das heißt aber nicht, dass die Menschenrechtspakte in Europa vernachlässigt werden können. Sie wirken in mancherlei Hinsicht auf die EMRK ein. So garantiert der IPbpR beispielsweise Rechte, die in der (älteren) EMRK selbst nicht enthalten sind, sondern erst im 7. Zusatzprotokoll (ZP) zur EMRK garantiert wurden und so den Text des Menschenrechtsschutzes nach der EMRK auf den Stand des IPbpR brachten.31 Auch erscheint nicht ausgeschlossen, dass die Auslegungen des UN-MRA inhaltlich Einfluss auf die Rspr des EGMR nehmen können.32 Das deutlich jüngere Fakultativprotokoll zum IPwskR vom
23 Art 2 Fakultativprotokoll zum IPbpR v 19.12.1966, BGBl II 1992, 1247 = Sart II Nr 20a. 24 Art 41 I IPbpR. 25 Art 5 IV Fakultativprotokoll zum IPbpR v 19.12.1966. 26 BGBl II 1976, 1068; der deutsche Vorbehalt in Bezug auf die Individualbeschwerde ist im Sart II Nr 20a S 1, abgedruckt. 27 Vgl Sudre EMRK, Rn 67, auch für die Staatenbeschwerdeverfahren der regionalen Menschenrechtsverträge. 28 Art 5 II lit b Fakultativprotokoll zum IPbpR. 29 Art 5 II lit a Fakultativprotokoll zum IPbpR. 30 Näher zur Zulässigkeit und zur Begründetheit einer Beschwerde zum Menschenrechtsausschuss sowie zu dem Individualbeschwerdeverfahren vor dem Menschenrechtsausschuss Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 3 Rn 22 ff. 31 Vgl zB einerseits Art 14 V, VI, VII, 23 IV IPbpR, andererseits Art 2 I, 3, 4, 5 des 7. ZP EMRK. 32 Vgl zB EGMR (GK), Urt v 14.9.2022, 24384/19 u 44234/20, § 248 – HF ua/Frankreich.
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10.12.200833 sieht nach dem Muster des (1.) Fakultativprotokolls zum IPbpR ein Beschwerdeverfahren für Einzelpersonen und Personengruppen vor dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vor, der unverbindliche Empfehlungen abgeben kann, die der betroffene Mitgliedstaat dann „gebührend in Erwägung“ zu ziehen hat.34 Auch ein optionales zwischenstaatliches Verfahren35 und ein optionales Untersuchungsverfahren bei systematischen Vertragsverletzungen36 werden geschaffen.37 Im weiteren Sinne als ein menschenrechtsschützendes Instrument, kann 4 schließlich das Internationale Strafrecht betrachtet werden,38 dass eine zumindest gewisse Absicherung menschenrechtlicher Standards in den Vertragsstaaten gewährleistet, indem es individuelle strafrechtliche Sanktionsmöglichkeiten bei Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und (noch nicht in Kraft getreten) Verbrechen der Aggression durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) schafft.39 Regionale Menschenrechtsverbürgungen gibt es zB in Gestalt der Amerika- 5 nischen Menschenrechtskonvention, der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (Banjul-Charta) und der Arabischen Charta der Menschenrechte.40 Unter ihnen stellt die Europäische Menschenrechtskonvention (Rn 1) die älteste regionale Menschenrechtskonvention neuzeitiger Art dar. Sie soll zusammen mit der OSZE (→ Walter § 1 Rn 2) und dem Recht der Europäischen Union heute den Mindestgrundrechtsstandard in Europa gewährleisten. Gerade das Verhältnis zum Grundrechtsschutz in der Europäischen Union ist sowohl dogmatisch wie praktisch von hoher Relevanz, auch wenn die EMRK keine unionsrechtliche Geltung entfaltet (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 35). Die EMRK fügt sich zudem auch in den
33 Es ist seit dem 5.5.2013 in Kraft, allerdings erst von 26 Staaten ratifiziert worden (Stand: Januar 2023). Auch Deutschland hat das Fakutativprotokoll zum IPwskR mittlerweile ratifiziert; BGBl 2023 II Nr 4. 34 Art 9 Fakultativprotokoll zum IPwskR. 35 Art 10 Fakultativprotokoll zum IPwskR. 36 Art 11 Fakultativprotokoll zum IPwskR. 37 Deutschland will sich im Rahmen der Ratifikation diesen beiden Möglichkeiten nicht unterwerfen; s BT-Drs 20/3624 v 23.9.2022, S 19. 38 Vgl näher Bantekas/Oette International Human Rights Law and Practice, S 751 ff. 39 BGBl II 2000, 1294 = Sart II Nr 35. Für durch den UN-SR eingerichtete strafrechtliche Sondertribunale s auch das Internationale Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und das Internationale Tribunal für Ruanda (ICTR). Vgl allg zur Thematik des Internationalen Strafrechts Frau in: Ipsen, VR, § 35 Rn 11 ff. 40 Vgl für die außereuropäischen regionalen Menschenrechtsgewährleistungen den Überblick bei Heintze in: Ipsen, VR, § 33 Rn 19 ff; v Arnauld VR, Rn 767 ff; Bantekas/Oette International Human Rights Law and Practice, S 267 ff. Zum Einfluss der Rspr des EGMR vgl bspw für das afrikanische Menschenrechtssystem Olinga in: Mélanges en l’honneur de Frédéric Sudre, 2018, S 525 ff.
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Grundrechtsschutz im deutschen Verfassungsrecht ein, wobei auch hier ihre Rolle und die Bedeutung der Rspr des EGMR in jüngerer Zeit erheblich gewachsen ist; denn auch wenn sie im Rang weiterhin unterhalb der Grundrechte des Grundgesetzes angesiedelt ist, folgen aus ihr doch wichtige Anregungen sowohl für das deutsche wie für das europäische Verfassungsrecht (Rn 13).
2. Grundlagen und Wirkungsweise der EMRK Fall 1: (EGMR, Urt v 24.6.2004, 59320/00, NJW 2004, 2647 ff – Caroline von Hannover/Deutschland = JK 2005, EMRK Art 8/4) Die Bf (Caroline von Hannover) ist die Schwester des heutigen und die älteste Tochter des früheren Regierenden Fürsten von Monaco. Sie ist Vorsitzende verschiedener humanitärer und kultureller Stiftungen, übt jedoch keinerlei Amt im Fürstentum aus. Sie fühlt sich fortwährend von sog Paparazzi in ihrem Privatleben beobachtet und verfolgt und wendet sich gegen die Veröffentlichung von Fotos in deutschen Zeitschriften der „Yellow Press“. Ihre Klage hiergegen vor deutschen Gerichten sowie eine VB hatten nur teilweise Erfolg.41 Die Bf wendet sich mit einer Individualbeschwerde an den EGMR und rügt eine Verletzung des von Art 8 EMRK garantierten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
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Fall 2: (BVerfGE 111, 307 – Görgülü = JK 2005, GG Art 20 III/39) Der Bf hat sich als Vater eines nichtehelich geborenen, mittlerweile von einer anderen Familie adoptierten Sohnes vergeblich vor dem letztinstanzlich zuständigen deutschen OLG um eine Übertragung des Sorgerechts und die Einräumung eines Umgangsrechtes mit seinem Sohn bemüht. Auf seine Individualbeschwerde hin hat der EGMR festgestellt, dass die Sorgerechtsentscheidung und der Ausschluss des Umgangsrechts den Bf in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art 8 I EMRK verletzen. Einen erneuten Antrag, ihm die elterliche Sorge zu übertragen und ein Umgangsrecht einzuräumen, hat das OLG letztinstanzlich mit der Begründung abgewiesen, dass der Urteilsspruch des EGMR nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt, nicht aber deren Gerichte binde. Mit seiner dagegen vor dem BVerfG erhobenen VB rügt der Bf die Verletzung des Art 6 GG.
Fall 3: (BVerfGE 128, 326 – Sicherungsverwahrung) Die straffällig gewordenen Bf sind in Deutschland rechtskräftig zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Sie wenden sich nach erfolgloser Erschöpfung des Rechtswegs vor dem BVerfG dagegen, dass teilweise die zusätzlich angeordnete Sicherheitsverwahrung über die ursprünglich gesetzlich vorgesehene 10-Jahres-Frist hinaus verlängert, teilweise die Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet wurde.
41 BGHZ 131, 332 ff; BVerfGE 101, 361 ff.
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Bei der EMRK handelt es sich um einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag, 9 der anders als im klassischen Völkerrecht nicht nur die Beziehung zwischen Staaten untereinander oder Staaten und internationalen Organisationen, sondern zwischen Staaten und Individuen zum Gegenstand hat. Die Individuen sind damit nicht nur Objekt, sondern Subjekt der Regelungen und Inhaber von subjektiven Rechten, die die Vertragsstaaten ihnen verleihen. Sie können zudem mittels Erhebung einer Individualbeschwerde ihre Rechte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchsetzen. Inwieweit hierin die Anerkennung einer partiellen Völkerrechtssubjektivität von Individuen gesehen werden kann,42 ist eine primär theoretische Frage, die für die tatsächliche und rechtliche Wirkungsweise der EMRK keine zusätzliche Erkenntnis bringt. Sie ordnet dem Einzelnen als völkerrechtlicher Vertrag zwischen Staaten subjektive und justiziable Rechte zu, die auch vor einem internationalen Gerichtshof geltend gemacht werden können. Die EMRK ist im Rahmen des Europarats43 ausgearbeitet und verabschiedet worden. Dieser ist eine von den europäischen Staaten im Jahre 1949 gebildete völkerrechtliche Organisation zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, sowie zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts.44 Im Jahre 1950 ist die Bundesrepublik Deutschland assoziiertes Mitglied, 1951 Vollmitglied des Europarates geworden. Seit Mitte März des Jahres 2022 sind nurmehr 46 Staaten Europas (einschließlich aller 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie mehrerer am Rande bzw der Grenze Europas liegender Staaten wie der Türkei, Georgien, Armenien oder Aserbaidschan) Mitglied dieser Organisation. Die Russische Föderation, die dem Europarat im Jahr 1994 beigetreten war, ist zum 16.3.2022 in der Folge des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine als Mitglied ausgeschieden.45 Beobachterstatus bei dem Europarat haben die Vereinigten Staaten, Kanada, Japan, Mexiko und der Heilige Stuhl; Israel ist Beobachter bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. In Wahrnehmung seines Förderauftrags hat der Europarat deutlich über 200 Konventionen oder Übereinkommen verabschiedet. So wurde zB im Jahre 1961 als sozialrechtliches Pendant zur EMRK die bisher
42 Dazu mwN und zu Recht differenzierend v Arnauld VR, Rn 66 ff; Epping in: Ipsen, VR, § 9 Rn 1 ff; Sudre EMRK, Rn 51. 43 Vgl BGBl II 1964, 1262 = Sart II Nr 115. 44 Art 1 lit a der Satzung des Europarates, BGBl I 1950, 263 = Sart II Nr 110. 45 Infolge des Angriffskrieges gegen die Ukraine leitete das Ministerkomitee des Europarates unter Suspendierung der russischen Mitgliedschaftsrechte ein Ausschlussverfahren gegen Russland nach Art 8 Europarats-Satzung wegen Verstoßes gegen Art 3 Europarats-Satzung ein, woraufhin Russland nach Art 7 Europarats-Satzung seinen Austritt erklärte, der zur Jahresmitte wirksam geworden wäre. Das Ministerkomitee stellte daraufhin das Ausscheiden Russlands mit Wirkung vom 16.3.2022 fest. S Committee of Ministers, 16 March 2022, Doc CM/Del/Dec(2022)1428ter/2.3, Resolution CM/Res (2022)2 on the cessation of the membership of the Russian Federation to the Council of Europe.
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nicht von allen Mitgliedstaaten des Europarates in Kraft gesetzte Europäische Sozialcharta erlassen.46 Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, zehn der neunzehn rechtsgewährenden Artikel oder 45 Absätze der Sozialchartabestimmungen als bindend anzunehmen (Art 20) und Berichte über die angenommenen Bestimmungen zu verfassen (Art 21), die von einem Sachverständigenausschuss überprüft werden (Art 24 f)47. Die weitaus größte Bedeutung von allen Abkommen des Europarates kommt der EMRK zu. Schon nach Art 3 der Satzung des Europarates muss jedes Mitglied den „Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts sowie den Grundsatz an[erkennen], dass jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll“. Die EMRK ist dabei stark von der AEMR beeinflusst. Um diese Grundsätze zu bekräftigen und mit Leben zu füllen, ist die EMRK am 4.11.1950 in Rom unterzeichnet worden. Nach Ratifizierung durch zehn Staaten (darunter die Bundesrepublik Deutschland) ist die Konvention am 3.9.1953 in Kraft getreten.48 Maßgebend sind allein die englische und die französische Sprachfassung.49 Sie sind auch die authentischen Fassungen der Entscheidungen des EGMR. 10 Auch wenn die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag nur eine völkerrechtliche Bindung entfaltet und gerade nicht über die Durchsetzungsmittel des supranationalen EU-Grundrechtsschutzes verfügt (Rn 12), kann ihre Bedeutung besonders für Staaten, die keine rechtsstaatliche Vergangenheit haben, nicht hoch genug veranschlagt werden.50 Die Konvention enthält in ihrem ursprünglichen Text 14 Gewährleistungen (allgemeine Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte, Recht auf Leben, Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit, Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf ein faires Verfahren, keine Strafe ohne Gesetz, Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Recht auf Eheschließung, Recht auf wirksame Beschwerde sowie ein akzessorisches Diskriminierungsverbot) sowie Begrenzungsregelungen und Rechtsschutzbestimmungen. Die Konvention ist bis heute durch 16 Zusatzprotokolle ergänzt oder revidiert worden.51 Entsprechend dem Grundsatz der Relativität völkerrechtlicher Vertragsbeziehun
46 Sart II Nr 115. 47 Dazu Belorgey, RTDH 2011, 787 ff. 48 Vgl BGBl II 1954, 14. 49 Vgl die Schlusserklärung nach Art 59 IV EMRK. 50 Von den im Dezember 2022 beim EGMR anhängigen Verfahren stammten über 22 % aus der Russischen Föderation und über 26 % aus der Türkei. 51 Vgl die Übersicht bei Mayer in: ders/Karpenstein, EMRK, Einleitung Rn 14. Abgedruckt sind die noch relevanten ZP in Sart II Nr 131 ff.
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gen52 verpflichten die Zusatzprotokolle nur diejenigen Staaten, die sie ratifiziert haben. Manche der Protokolle verändern den Vertragstext selbst, während andere mit gesonderten materiellrechtlichen Garantien zu ihm hinzutreten. Da teilweise die EMRK geändert und teilweise frühere Protokolle durch neuere ersetzt wurden, sind eine Reihe von Zusatzprotokollen zwischenzeitlich gegenstandslos geworden. Dennoch sind einige der Zusatzprotokolle weiterhin von besonderer Bedeutung. Das 1. ZP EMRK schützt das Eigentum, das Recht auf Bildung und das Recht auf freie und geheime Wahlen. Das 4. ZP EMRK betrifft vor allem die Freizügigkeit von In- und Ausländern sowie Ausweisungsverbote. Das 6. ZP EMRK regelt die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten. Das 13. ZP EMRK dehnt dieses Verbot auch auf Kriegszeiten aus und enthält nunmehr ein vollständiges Verbot dieser Art der Strafe.53 Ergänzungen der Justiz- und Verfahrensgarantien, die bereits Art 6 EMRK enthält, trifft das 7. ZP EMRK. Im 12. ZP EMRK wird ein allgemeineres Diskriminierungsverbot garantiert, welches das rein akzessorische Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK erheblich erweitert.54 Besondere Bedeutung kommt dem am 1.11.1998 in Kraft getretenen 11. ZP EMRK zu, welches die Protokolle 2, 3, 5, 8, 9 und 10 ersetzt,55 indem es den Rechtsschutz vereinfacht und effektiviert hat (Rn 104). Seit diesem Zeitpunkt nehmen sich die Richter des Gerichtshofs hauptamtlich und direkt der eingehenden Beschwerden an (Rn 105); die zuvor als Eingangsinstanz vorgesehene Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR)56 wurde abgeschafft. Da der Gerichtshof mittlerweile für Beschwerden aus 46 Staaten zuständig ist, ist die Arbeitsbelastung seit Jahren erheblich. Ende Januar 2023 waren beim Gerichtshof rund 76.150 Beschwerden vor einem Spruchkörper („pending applications/requêtes pendantes“) und weitere rund 5.800 in der vorgerichtlichen Phase der Zuordnung zu einem Spruchkörper („pre-judicial applications/requêtes pré-judiciaires“) anhängig – insgesamt betrug die Zahl der Rechtssachen also knapp 82.000.57 Ein gewisser Rückgang kann möglicherweise in Folge des Ausscheidens Russlands eintreten. Im Mittel der Jahre 1959–2022 betrafen die meisten Verfahren (und Verurteilungen) – mit einigem Abstand – nämlich zum einen die Türkei (freilich über eine deutlich längere Vertragsmitgliedschaft, 1954 bis heute) und zum anderen die Russische Föderation (Mitgliedschaft 1998–2022), die nach dem Ende der Mitgliedschaft im Europarat nun auch nicht mehr Mitglied der EMRK ist; es folgt Italien (Mitgliedschaft 1955 bis heute)
52 Vgl Art 34 WVK und näher dazu Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 15 Rn 23 ff. 53 S dazu mwN Germelmann in: BK GG Art 102 Rn 49 ff. 54 Dazu de Beco, RTDH 2010, 591 ff. 55 BGBl II 1995, 579. 56 Zu ihr noch Frowein EuGRZ 2015, 269 ff. 57 Vgl European Court of Human Rights, Statistics 1/1-31/1/2023 (abrufbar unter https://www.echr. coe.int/Documents/Stats_month_2023_ENG.PDF).
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wegen seiner besonders hohen Zahl an Verurteilungen wegen überlanger Verfahrensdauern, die einen Verstoß gegen Art 6 EMRK begründen.58 Um der erheblichen Arbeitsbelastung besser gerecht zu werden, die nicht nur in der Bearbeitung der letztlich den formalen Anforderungen genügenden Beschwerden, sondern auch der Beantwortung sonstiger ersichtlich formal unzureichender Anträge liegt, hat das am 1. Juni 2010 in Kraft getretene 14. ZP EMRK den Versuch unternommen, das Kontrollsystem zu vereinfachen und zu effektivieren (Rn 104). Insbesondere in einfachen Fällen darf nunmehr ein Einzelrichter endgültige Entscheidungen treffen (Art 27 EMRK), die sich auf die Zulässigkeit von Anträgen beziehen. Gleichzeitig hat das 14. ZP EMRK die Möglichkeit geschaffen, dass die EU, der im Vertrag von Lissabon der EMRK-Beitritt als Ziel vorgegeben wurde, nun als Nicht-Staat (vgl Art 59 I EMRK iVm Art 2, 4 Europarats-Satzung) der Konvention beitreten kann (Art 59 II EMRK, eingefügt durch Art 17 Ziff 1 14. ZP EMRK, vgl Rn 23). Auch die beiden jüngsten Protokolle von 201359 (Nr 15 u 16) betreffen den Rechtsschutz (Rn 105 f). 11 Bei der Unterzeichnung der Konvention sind von den Mitgliedstaaten zT gem Art 57 EMRK Vorbehalte angemeldet worden (Rn 82). Auch wurden nicht alle Zusatzprotokolle von allen Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert. Deutschland hat beispielsweise das 7. Zusatzprotokoll (ua zu verfahrensrechtlichen Schutzvorschriften bei Ausweisungen und in Strafsachen), das 12. Zusatzprotokoll (über das Diskriminierungsverbot) und das 16. Zusatzprotokoll (über ein Gutachtenverfahren beim EGMR) bisher nicht ratifiziert. Daher variiert der Umfang der aus der EMRK resultierenden völkerrechtlichen Bindungen der Konventionsstaaten. Sofern ein Zusatzprotokoll die EMRK in ihrem Text ändert, wie dies zuletzt für das 15. ZP der Fall war, bedarf es zum Inkrafttreten der Ratifizierung durch sämtliche Vertragsparteien (vgl Art 7 15. ZP EMRK). Art 53 EMRK normiert, dass keine Bestimmung der EMRK als Minderung eines der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgelegt werden darf, die in nationalen Gesetzen oder in anderen internationalen Übereinkommen festgelegt sind.60 Dieses Günstigkeitsprinzip belässt den Konventionsstaaten somit einen Spielraum, im innerstaatlichen Recht ein höheres Schutzniveau als nach der EMRK zu garantieren. Allerdings ist dieser Spielraum insofern beschränkt, als in das Staat-Bürger-Verhältnis ein Dritter mit kollidierenden, durch die EMRK geschützten Grundrechts
58 Näher dazu → Grabenwarter/Struth § 11.1 Rn 55 ff. Zur Problematik auch Grabenwarter in: Colloquium in Honour of Georg Ress, 2012, S 123 ff. 59 15. ZP EMRK v 24.6.2013, BGBl 2014 II 1034, 1035; 16. ZP EMRK v 2.10.2013, SEV Nr 214. 60 Spiegelbildliche Günstigkeitsprinzipien enthalten Art 53 GRCh (für das Verhältnis von Unionsgrundrechten zu den internationalen Gewährleistungen und den Verfassungen der Mitgliedstaaten) sowie Art 142 GG (für das Verhältnis von Bundes- und Landesgrundrechten). Verschiedene Normierungen des GG (zB betreffend das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften) gehen über die EMRK hinaus.
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ansprüchen eindringt. Dann lässt sich der weitreichendere Schutz eines nationalen Grundrechts nur durchhalten, wenn der Schutz eines kollidierenden Grundrechts dadurch nicht das durch die EMRK verbürgte Niveau unterschreitet. Dies führt in der Regel dazu, dass der Grundrechtsschutz bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen an das Niveau der EMRK heranzuführen ist, wobei freilich die Besonderheiten des Einzelfalls ebenso wie der Gedanke der Subsidiarität (Rn 55) zu berücksichtigen sind.61 Vergleichbare Probleme stellen sich auch im Bereich des Grundrechtsschutzes durch die EU-GRCh (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 95).
3. Rang und Wirkungsweise der EMRK in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Die EMRK bindet als völkerrechtlicher Vertrag die Konventionsstaaten, überlässt es 12 ihnen aber, in welcher Weise sie im innerstaatlichen Recht ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen.62 Die Stellung der EMRK im Recht der Konventionsstaaten ist sehr unterschiedlich.63 In Betracht kommt ein Überverfassungsrang64, Verfassungsrang (wie zB in Österreich65), Übergesetzesrang66 bzw
61 Im Open Door-Fall wurde ein Ausgleich zwischen den unterschiedlichen grundrechtlichen Interessen auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen. Nach der irischen Verfassung genießt das ungeborene Leben einen weiter reichenden Schutz als nach der EMRK. Die Umsetzung des weiter reichenden Schutzes durch eine nur sehr restriktive Gestattung von Informationen über die Möglichkeit von Schwangerschaftsabbrüchen im Ausland hätte im konkreten Fall ein Absinken des Schutzes der Meinungsfreiheit einer Schwangerenberatungseinrichtung unter das Niveau der EMRK bedeutet, so dass der irische verfassungsrechtliche Schutz des ungeborenen Lebens iE in diesem Punkte zur Wahrung eines EMRK-konformen Schutzniveaus der Meinungsfreiheit zurücktreten musste; EGMR (Pl), 29.10.1992, 14234/88 u 14235/88, §§ 61 ff – Open Door und Dublin Well Woman/Irland. Vgl dazu Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001) 290 (298 f). Näher zu den mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen BVerfGE 111, 307 (317); 128, 326 (371); Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 ff; Calliess in: Merten/Papier, HGR, Bd II, 2006, § 44 Rn 18 ff. 62 Vgl. bspw EGMR, Urt v 6.2.1976, 5614/72, EuGRZ 1976, 62, § 50 – Schwedischer Lokomotivführerverband/Schweden; Urt v 21.2.1986, 8793/79, § 46 – James ua/Vereinigtes Königreich; allg für die Umsetzung völkerrechtlicher Verträge Schweitzer/Dederer StR III, Rn 787 ff. 63 Vgl Ress in: Maier (Hrsg) Europäischer Menschenrechtsschutz, 1982, S 260 ff; Frowein in: ders/ Peukert, EMRK, Einführung Rn 7; vgl hierzu Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (299 ff). 64 Vgl dazu Peters/Altwicker EMRK, § 1 Rn 6 (m Hinw ua auf die Niederlande, Rumänien und sie Slowakei). Für die Niederlande auch Sudre EMRK, Rn 118. 65 Vgl Art II Nr 7 des östBVerfG. Näher dazu Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 2 Rn 43. 66 Sudre EMRK, Rn 118 mit den Bsp Belgien, Bulgarien, Frankreich, Griechenland, Schweiz, Spanien und der Tschechischen Republik. Ferner Grabenwarter/Pabel EMRK, § 3 Rn 3.
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Zwischenrang und Gesetzesrang.67 Von Übergesetzesrang bzw Zwischenrang lässt sich sprechen, wenn die EMRK über den einfachen Gesetzen, aber unter dem Verfassungsrecht steht. Dies ist in vielen Konventionsstaaten der Fall. Zuweilen ist die Rangfrage auch nicht eindeutig geklärt.68 Besondere Aufmerksamkeit erregt in der jüngeren Vergangenheit immer wieder das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EMRK. Dies bezieht sich nicht nur auf die mit einer gewissen Regelmäßigkeit im politischen Raum stehende Drohung mit einer Kündigung der EMRK (Art 58 EMRK), an die sich wegen Art 3 S 1, 2. Hs und Art 8 Europarats-Satzung streng genommen auch die Folgefrage einer Mitgliedschaft im Europarat anschließen müsste und die typischerweise dann erhoben wird, wenn die Rspr des EGMR innerstaatliche Politiken für konventionswidrig erklärt.69 Auch in dogmatischer Hinsicht begründete die EMRK im englischen Recht eine erhebliche Neuerung. Während ihr früher nur völkerrechtliche Verbindlichkeit zukam, sie aber insbesondere in Ermangelung nationaler Umsetzungsgesetzgebung nicht durch die Gerichte direkt angewandt werden konnte,70 ist das Konventionsrecht durch den Human Rights Act 1998 in das innerstaatliche Recht inkorporiert worden und hat dadurch Gesetzesrang erlangt.71 Behörden und Gerichte sind zu konventionskonformer Auslegung und Anwendung der erlassenen Gesetze verpflichtet.72 Im Falle einer Kollision sind die Gerichte wegen des zentralen Verfassungsgrundsatzes der „sovereignty of Parliament“ zwar nicht befugt, die entgegenstehenden Parlamentsgesetze (provisions of primary legislation im Gegensatz zu der subordinate legislation) für nichtig oder unanwendbar zu erklären. Dies gilt auch für frühere Parlamentsgesetze. Doch dürfen sie eine Unvereinbarkeit förmlich feststellen (declaration of incompatibility73), so dass Druck auf das Parlament ausgeübt wird, den Verstoß zu beseiti-
67 Sudre EMRK, Rn 118 mit den Bsp Deutschland, Finnland, Italien, der Türkei und Ungarn. 68 Zu der nicht eindeutigen Rechtslage in der Schweiz vgl zB Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 2 Rn 44. 69 Vgl etwa die politische Kontroverse um das Wahlrecht für Strafgefangene nach der Entscheidung EGMR (GK), Urt v 6.10.2005, 74025/01 – Hirst/Vereinigtes Königreich (Nr. 2); EGMR, Urt v 23.11.2010, 60041/08 u 60054/08 – Greens u MT/Vereinigtes Königreich (Pilotverfahren); ferner Resolution CM/ResDH(2018)467, Execution of the judgments of the European Court of Human Rights: Five cases against the United Kingdom, adopted by the Committee of Ministers on 6 December 2018. 70 Vgl Malone v MPC [1979] Ch 344 per Megarry V-C; R v Staines and Morrissey [1997] 2 Cr App R 426 per Lord Bingham of Cornhill LCJ. 71 Abdruck zB in Janis/Kay/Bradley EMRK, S 934 ff. Vgl aus der Diskussion um die Einführung Bingham LQR 109 (1993), 390 ff. Zur Wirkung und Einordnung in das englische Recht etwa Feldman, Legal Studies 19 (1999), 165 ff; Palmer CYELS 1 (1998), 125 ff. 72 Vgl Section 2, 3, 6 HRA. 73 Section 4 HRA.
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gen.74 Die Konventionskonformität zu erlassender Parlamentsgesetze wird im Vereinigten Königreich im Gesetzgebungsverfahren überprüft.75 In Deutschland ist die Geltung der EMRK differenziert zu betrachten. Insofern 13 ist zunächst festzuhalten, dass eine klare dogmatische Aussage über die Einführung des Konventions-(Völker-)Rechts in die deutsche Rechtsordnung weder im Grundgesetz noch in der Rspr existiert. Gemeinhin wird das deutsche System als dualistisch gedeutet, was die Notwendigkeit der Überführung der Völkerrechtsnorm in die neben der Völkerrechtsordnung stehende innerstaatliche Rechtsordnung begründet. In welcher Weise das Völkerrecht in die innerstaatliche Rechtsordnung übernommen wird, wird in der deutschen Literatur (ähnlich wie in allen anderen Ländern, die von einer dualistischen Struktur von Völkerrecht und nationalem Recht ausgehen) im Wesentlichen nach Maßgabe zweier nahe beieinander liegender Auffassungen vertreten. Während nach der Transformationslehre das Völkerrecht in innerstaatliches Recht umgewandelt wird, kommt es nach der Vollzugslehre durch den innerstaatlichen Vollzugsbefehl als solches im Inland zur Anwendung. Die Rspr ist insofern nicht eindeutig.76 In der Sache ist der dogmatische Erklärungsansatz allerdings auch sekundär. Denn nach Maßgabe des positiven Verfassungsrechts gelten die EMRK und die von Deutschland ratifizierten Zusatzprotokolle als einfaches Bundesgesetz,77 soweit der Bundesgesetzgeber jeweils durch förmliches Gesetz gem Art 59 II GG zugestimmt hat.78 Versuche, über Art 1 II, 24 I, 25 GG oder das Rechtsstaatsprinzip einen allgemeinen Verfassungs- oder Übergesetzesrang der EMRK zu begründen79, haben sich zu Recht nicht durchsetzen können. Allerdings können bestimmte Gewährleistungen der EMRK (wie zB das Verbot der Folter und der Sklaverei, Art 3, 4 I EMRK) zugleich allgemeine Regeln des Völkerrechts verkörpern.80 Gemäß Art 25 S 2 GG gehen solche Regeln den Gesetzen vor. Dies hat in Be-
74 Vgl idS R v Secretary of State for the Home Department, ex parte Simms and Another [1999] 3 WLR 328 (HL) per Lord Hoffmann. 75 Vgl Ress in: Karl (Hrsg) Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung, 2005, S 39, 65 ff; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 3 Rn 6; Janis/Kay/Bradley EMRK, S 864 ff. 76 Vgl BVerfGE 46, 342 (363, 403 f); 75, 223 (244 f); 90, 286 (364); 104, 151 (209); 148, 296 (Rn 127) („Rechtsanwendungsbefehl“); ferner aber auch BVerfGE 111, 307 (316) („transformiert“) = JK 2005, GG Art 20 III/39. Näher zum Ganzen Schweitzer/Dederer StR III, Rn 787 ff. 77 Vgl BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (317) = JK 2005, GG Art 20 III/39; 128, 326 (367); Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, S 72 ff; Kadelbach, JURA 2005, 480 (484). 78 Eine Kompetenz des Bundes für die Zustimmung zur EMRK (Art 59 II GG) folgt zumindest aus der Natur der Sache, weil sich die EMRK an die (Gesamt-)Staaten wendet und die Gewährleistungen in Deutschland die Grundrechte des Grundgesetzes ergänzen sollen. 79 Zum Rechtsstaatsprinzip vgl Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 2 Rn 4 ff. 80 Ebenso Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (306).
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zug auf den Gesetzgeber zur Folge, dass dieser sich nicht darüber hinwegsetzen darf. Entgegenstehendes Bundesrecht ist zwar nicht nichtig, muss aber außer Anwendung bleiben und aufgehoben werden.81 Hat die EMRK grundsätzlich nur einfachen Gesetzesrang, dürfte der Bundesgesetzgeber an sich durch eine lex posterior von der EMRK abweichen. Jedoch gebietet die in den Art 23 ff, 59 II GG zum Ausdruck kommende Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes82, dass die Gesetze im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland ausgelegt und angewendet werden, selbst wenn sie später als ein völkerrechtlicher Vertrag erlassen worden sind. Es ist nämlich nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen wollte.83 Der Sache nach läuft dies auf eine objektivrechtliche Geltung der Konventionsrechte als Maßstab für die Auslegung und Gestaltung des einfachen Bundesrechts hinaus, in ähnlicher Weise, wie dies aus der Lüth-Rspr des BVerfG84 zur Drittwirkung der Grundrechte bekannt ist.85 Gegenüber dem Landesrecht geht die EMRK ohnedies gem Art 31 GG vor. 14 Abgesehen von der unmittelbaren Einwirkung auf das Gesetzesrecht sind Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK nach der zutreffenden Ansicht des BVerfG auch bei der Auslegung durch die Judikative zu berücksichtigen. Die deutschen Gerichte trifft damit eine verfassungsrechtliche Berücksichtigungspflicht nicht nur der EMRK, sondern auch der Rspr des EGMR.86 Dies bedeutet keine Konformitätsverpflichtung – gerade nicht, wenn die Berücksichtigung die Grenzen der Aus
81 Vgl in diese Richtung die Terminologie in BVerfGE 23, 288 (316). Zum bloßen Anwendungsvorrang vgl Streinz in: Sachs, GG, Art 25 Rn 93; s. auch Schweitzer/Dederer StR III, Rn 892. 82 BVerfGE 111, 307 (317 ff) = JK 2005, GG Art 20 III/39; BVerfGE 148, 296 (Rn 126). 83 Erstmalig zur Völkerrechtsfreundlichkeit des GG und zur völkerrechtskonformen Auslegung BVerfGE 6, 309 (367); grundlegend BVerfGE 74, 358 (370); vgl ferner BVerfGE 128, 326 (365) mwN; näher zur völkerrechtskonformen Auslegung Schweitzer/Dederer StR III, Rn 236 ff; ferner zur konventionskonformen Auslegung (mit weiteren Differenzierungen) Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, S 48 ff. 84 BVerfGE 7, 198 ff; vgl auch BVerfGE 103, 89 (100). 85 Vgl auch EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1, wonach ein innerstaatliches Verbot von Preisausschreiben in Zeitschriften nicht gegen die Freiheit des Warenverkehrs verstößt, weil das Verbot im Lichte des Art 10 EMRK ausgelegt werden müsse und diese Bestimmung zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäußerung zulässt. 86 BVerfGE 111, 307 (317) – Görgülü = JK 2005, GG Art 20 III/39; dazu zB Cremer, EuGRZ 2004, 683 ff; BVerfGE 128, 326 (367 ff) – Sicherungsverwahrung; 148, 296 (Rn 126 ff) – Beamtenstreikverbot; 151, 1 (Rn 63 f). Das BVerfG leitet dies aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG sowie Art 20 III, 19 IV und 59 II GG her.
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legung überschreiten würde87 –, wohl aber eine Auseinandersetzung mit den dort zugrunde gelegten Rechtsauffassungen und eine Befolgungspflicht, wenn nicht erhebliche Gründe dagegen sprechen.88 Die Berücksichtigungspflicht gilt nicht nur für Anlassfälle mit demselben Streitgegenstand, in denen die EGMR-Entscheidung Rechtskraftwirkung entfaltet, sondern auch für EGMR-Rspr in Parallelfällen.89 Die Regelungen und Wertungen der EMRK und die Rspr des EGMR sind nach der überzeugenden Meinung des BVerfG dabei sogar für die Auslegung des Grundgesetzes und die deutschen Grundrechte in Betracht zu ziehen. Dies gilt im Einklang mit der Normenhierarchie und dem Günstigkeitsgedanken jedenfalls, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt.90 Deshalb dient die Rspr des EGMR heute als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.91 So hat das BVerfG zB seine Ansichten über die Verfassungsmäßigkeit einer nur von Männern erhobenen Feuerwehrabgabe oder die Verfassungsmäßigkeit der in Deutschland üblichen Sicherungsverwahrung nach entgegenstehenden Entscheidungen des EGMR92 revidiert.93 Mittelbar bekommt die EMRK auf diese Weise im innerstaatlichen Recht trotz der Verankerung über Art 59 II GG doch einen quasi-verfassungsrechtlichen, zumindest aber übergesetzlichen Rang. Eine Verfassungsbeschwerde (VB) vor dem BVerfG kann zwar nicht unmittelbar auf die Verletzung eines in der EMRK enthaltenen Menschenrechts, wohl aber auf das einschlägige Grundrecht des Grundgesetzes mit der Begründung gestützt werden, die staatlichen Organe hätten wegen der Missachtung der EMRK und der dazu ergangenen Entscheidungen des EGMR die Bedeutung die-
87 BVerfGE 111, 307 (329); 128, 326 (371); 141, 1 (Rn 72); 148, 296 (Rn 133); 151, 1 (Rn 63). 88 Vgl auch Puttler in: in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, § 19 Rn 103 ff. 89 BVerfGE 111, 307 (320); 128, 326 (368); 148, 296 (Rn 129); 151, 1 (Rn 64). 90 Zur Unzulässigkeit einer EGMR-konformen Grundrechtsauslegung zu Lasten des nationalen Grundrechtsstandards vgl (am Beispiel der Pirateriebekämpfung vor Somalia) Walter/v UngernSternberg, DÖV 2012, 861 (865 f). 91 BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (317) = JK 2005, GG Art 20 III/39; 128, 326 (368); Voßkuhle, NJW 2013, 1329 f. 92 Vgl EGMR, Urt v 18.7.1994, 13580/88, NVwZ 1995, 365 f – Karlheinz Schmidt/Deutschland (Feuerwehrabgabe) = JK 95, EMRK Art 14/1; Urt v 17.12.2009, 19359/04, NJW 2010, 2495 ff – M/Deutschland (Sicherungsverwahrung) = JK 2010, EMRK Art 5 I/2. In der Folge auch EGMR, Urt v 19.1.2012, 21906/09, NJW 2013, 1791 ff – Kronfeldner/Deutschland. 93 Vgl zur Feuerwehrabgabe einerseits BVerfGE 13, 167 ff, andererseits BVerfGE 92, 91 ff. Das BVerfG hat sich zwar nicht ausdrücklich der Rspr des EGMR angeschlossen, kommt in Abweichung von einer früheren Entscheidung aber zu demselben Ergebnis. Zur Sicherungsverwahrung einerseits BVerfGE 109, 133 ff, andererseits BVerfGE 128, 326 ff; dazu etwa Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507 ff; ferner vgl Fall 3.
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ses Grundrechts verkannt.94 Die Anknüpfung an das parallele nationale Grundrecht ist der früher vertretenen Möglichkeit vorzuziehen, die Beachtung der EGMR-Urteile über Art 2 I iVm Art 25 GG oder Art 3 I GG durchzusetzen.95 Sind im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet, trifft deutsche Gerichte nach der Rspr des BVerfG die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben.96 Dies muss wegen der verfassungsrechtlichen Verankerung des Gebots der völkerrechtsfreundlichen Auslegung dann auch für das BVerfG selbst gelten. 15 Allerdings ändert die Einwirkung der EMRK auf das nationale Verfassungsrecht nichts daran, dass über die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes letztverbindlich das BVerfG entscheidet. Es besteht keine Parallelität der Gewährleistungen und auch keine zwingende Ergebnisgleichheit. Vielmehr berücksichtigt das Gericht die Umstände des Einzelfalls und auch die dogmatischen Unterschiede.97 Daher ist sowohl ein „distinguishing“ von Fällen möglich, als auch findet eine Einpassung in die deutsche Grundrechtsdogmatik statt. Bei übertragbaren Wertungen wie etwa im Rahmen von Abwägungsentscheidungen ist hingegen ein möglichst enger Gleichlauf nach dem Vorbild des EGMR zu suchen, wenn dieser nicht gerade auf die Entscheidungsfreiräume der Mitgliedstaaten verweist (Rn 143). Verfassungsgerichtlich nicht abgesichert sind allerdings die materiell-rechtliche Beachtlichkeit der EMRK und der Entscheidungen des EGMR, wenn entweder die EMRK über das Grundgesetz hinausgeht oder das Grundgesetz anderes gebietet. Dies lässt sich am Beispiel des in Deutschland den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums nach Art 33 V GG entsprechenden Streikverbots für Beamte illustrieren. Der EGMR stellt ein solch generelles Verbot in Frage, sofern die Beamten außerhalb der hoheitlichen Staatsverwaltung im engeren Sinne tätig sind.98 Das BVerwG ging hingegen davon aus, dass das deutsche verfassungsunmittelbare Streikverbot weiter gelte und der Bundesgesetzgeber dazu „berufen“ sei, die übergangsweise hinzunehmende Kollisionslage zwischen dem deutschen Verfassungs-
94 Vgl BVerfGE 111, 307 (317) = JK 2005, GG Art 20 III/39. 95 Klein, JZ 2004, 1176 (1178). Näher dazu Frowein FS Zeidler, Bd II, 1987, S 1763 (1770 f); Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (306 f); s auch zu Art 3 I GG Dreier in: ders, GG, Bd I, Vorb Rn 30. 96 BVerfGE 111, 307 (323 ff) = JK 2005, GG Art 20 III/39. 97 Vgl BVerfGE 148, 296, Rn 129 ff. Es spricht insofern etwas unscharf von „Kontextualisierung“ und einer „Orientierungs- und Leitfunktion“ der EGMR-Rspr. Einen höheren Erkenntnisgewinn im Vergleich zur „Berücksichtigungspflicht“ haben diese Schlagwörter wohl nicht. 98 Vgl EGMR, Urt v 21.4.2009, 68959/01, NZA 2010, 1423 ff – Enerji Yapı-Yol Sen/Türkei; Urt v 21.4.2015, 45892/09 – Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.)/Spanien. Aus der Lit vgl zB Greiner, DÖV 2013, 623 ff; Laubinger FS Eckart Klein, 2013, S 1141 ff; Niedobitek, ZBR 2010, 361 ff; Lindner, DÖV 2011, 305 ff; Hwang, VerwArch 108 (2017), 366 ff; Schubert, AöR 137 (2012), 92 ff; Traulsen, JZ 2013, 65 ff.
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recht und der EMRK durch eine konventionskonforme Fortentwicklung des Statusrechts der Beamten aufzulösen.99 Letztlich hat das BVerfG die Verankerung des beamtenrechtlichen Streikverbots in Art 33 V GG nochmals ausdrücklich bestätigt und die Bedenken des EGMR für die deutsche Rechtslage für nicht begründet erklärt.100 Ausgehend von der verfassungsrechtlichen Strukturentscheidung des deutschen demokratischen Staatswesens verneint es das Vorliegen einer pauschalen Beeinträchtigung des Art 11 EMRK und nimmt für die Frage der personellen Begrenzung auf die Gruppe der Beamten im statusrechtlichen Sinne und die Kernbereiche staatlicher Funktionen einen Definitionsspielraum iRd Art 11 II EMRK in Anspruch.101 Sofern zu einer Bestimmung der EMRK, die in einem deutschen Sachverhalt 16 einschlägig ist, keine Rspr des EGMR vorliegt, stellt sich die Frage, nach welchen Regeln sich die Auslegung des EMRK-Rechts in Deutschland bestimmt.102 Man könnte insofern die dogmatische Unterscheidung nach Transformationslehre (mit der Folge, dass sich die Interpretation des Völkerrechts als nunmehr nationalen Rechts nach innerstaatlichem Recht beurteilt) oder Vollzugslehre (wonach das Konventionsrecht dem Wesen nach Völkerrecht bleibt, ohne in nationales Recht umgewandelt zu werden und demzufolge nach völkerrechtlichen Maßstäben auszulegen wäre) heranziehen. Letztlich ist jedoch weniger die keineswegs zwingende Zuordnung maßgeblich, sondern die Beachtung des Zwecks und der Eigenarten der EMRK. Auch dies gebietet letztlich der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, dem eine rein innerstaatliche und von anderen Rechtsordnungen isolierte Betrachtung der EMRK-Garantien nicht gerecht würde.
Lösung Fall 1: Gegen die Zulässigkeit der Individualbeschwerde (Art 34, 35 EMRK; näher zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen unten Rn 108 ff) bestehen keine Bedenken; insb ist der Rechtsweg gem Art 35 I EMRK erschöpft. Begründet ist die Beschwerde, wenn die Entscheidungen der deutschen Gerichte die Bf in ihrem von Art 8 I EMRK garantierten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzen. Zum Begriff des Privatlebens und damit zum Schutzbereich des Art 8 I EMRK gehören Elemente der Identität einer Person wie das Recht am eigenen Bild. Die von der Bf gerügte Veröffentlichung von Fotos in unterschiedlichen Alltagssituationen unterfällt dem Bereich des Privatlebens. Eingriffe in
99 BVerwGE 149, 117; BVerwG, NVwZ 2015, 811. 100 BVerfGE 148, 296 (383 ff). 101 Nach den (in ihrem Verhältnis nicht ganz eindeutigen) Kriterien des EGMR ist aus Sicht des deutschen Beamtenrechts insb der kategorisch klingende Ausschluss von Bediensteten von Industrieunternehmen problematisch. Ansonsten sind durch die gegenseitige Treuepflicht und die übrigen prägenden hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums in verschiedener Hinsicht äquivalente Interessenssicherungen für die Beamten verankert, die mit einem Streikrecht unvereinbar wären. Näher auch Germelmann in: BerlKommGG, Art 33 Rn 126 mwN. 102 Zu den Regeln der Konventionsinterpretation vgl noch näher unten Rn 49 f.
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dieses Recht könnten darin zu sehen sein, dass die deutschen Gerichte keine hinreichenden Schutzmaßnahmen vorgenommen haben (zu den positiven Schutzverpflichtungen s Rn 33). Der Umfang der Handlungspflicht setzt eine Abwägung der Rechte der Bf aus Art 8 I EMRK mit der Pressefreiheit des Art 10 I EMRK voraus.103 In Auslegung der §§ 22, 33 KUG und zur Herstellung eines Ausgleichs zwischen dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit (Art 5 I 2 GG) und dem berechtigten Interesse der Bf am Schutz ihres Privatlebens (Art 2 I iVm 1 I GG) haben die deutschen Gerichte entschieden, dass die Bf als absolute Person der Zeitgeschichte auch außerhalb ihrer Wohnung den Schutz ihres Privatlebens genießt, vorausgesetzt, sie befinde sich in örtlicher Abgeschiedenheit. Ansonsten komme der Pressefreiheit und damit dem Recht auf Veröffentlichung der Fotos selbst dann stärkeres Gewicht zu, wenn es sich um Unterhaltungspresse handle. Diesem Ergebnis ist der EGMR nicht gefolgt, sondern er gewichtet die Interessen unterschiedlich. Für die Abwägung zwischen dem Schutz des Privatlebens und der Freiheit der Meinungsäußerung komme es entscheidend darauf an, ob die Fotoaufnahmen zur öffentlichen Diskussion über eine Frage allgemeinen Interesses beitragen. Da die umstrittenen Fotos die Bf bei Tätigkeiten rein privater Art zeigten, dienten sie nur dazu, die Neugier eines bestimmten Publikums zu befriedigen. Unter besonderen Umständen könne das Recht der Öffentlichkeit auf Information zwar auch Aspekte des Privatlebens von Personen des öffentlichen Lebens einbeziehen, doch handle es sich bei der Bf nicht um eine solche Person. Somit hat der EGMR eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens festgestellt und der Individualbeschwerde stattgegeben.104
18 Mittlerweile wird der EGMR nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe
(einschließlich der verfassungsrechtlichen105) immer häufiger angerufen. Zahlreiche Entscheidungen deutscher (und ausländischer) Fachgerichte hat der EGMR als Verstöße gegen die EMRK eingestuft.106 Auch die Rspr des BVerfG ist in vergleichbaren Rechtsfragen nicht immer deckungsgleich mit derjenigen des EGMR, wie die Fälle 1 bis 3 anschaulich zeigen; der EGMR behauptet hier durchaus konsequent sei-
103 In aufbautechnischer Hinsicht ist hier zu bemerken, dass in der Entscheidung der Verstoß gegen Art 8 I EMRK direkt nach der umfangreichen Abwägung, welche ihrerseits die staatliche Handlungspflicht bestimmt, angenommen wird. Es erscheint ebenfalls nicht unvertretbar, ähnlich der deutschen Dogmatik die gerichtlichen Entscheidungen als Eingriffe in die Abwehrfunktion des Grundrechts zu sehen und dann eine Rechtfertigungsprüfung unter den Voraussetzungen des Art 8 II EMRK vorzunehmen, wobei das KUG die erforderlich gesetzliche Grundlage bietet und die Abwägung zwischen Art 8 I und Art 10 I EMRK in die Verhältnismäßigkeitsprüfung eingestellt wird. 104 Vgl krit zu der Entscheidung des EGMR Heldrich, NJW 2004, 2634 ff, zust Tettinger, JZ 2004, 1144 ff. Zur späteren VB betreffend Caroline von Hannover vgl BVerfGE 120, 180 ff; Hoffmann-Riem, NJW 2009, 20 ff; Klaas, ZUM 2008, 432 ff. 105 Vgl zB EGMR (GK), Urt v 27.6.2000, 27417/95, ÖJZ 2001, 774 ff – Cha’are Shalom Ve Tsedek/Frankreich; Urt v 15.2.2001, 42393/98, NJW 2001, 2871 ff – Dahlab/Schweiz; Entsch v 15.12.2009, 43212/05, EuGRZ 2010, 285 ff – Kaplan/Deutschland; Urt v 6.11.2008, 58911/00, NVwZ 2010, 177 ff – Leela Förderkreis eV ua/Deutschland; Urt v 23.9.2010,1620/03, EuGRZ 2010, 560 ff – Schüth/Deutschland; Urt v 17.2.2011, 12884/03, NVwZ 2011, 1503 ff – Wasmuth/Deutschland; Urt v 18.3.2011, 30814/06, NVwZ 2011, 737 ff – Lautsi ua/Italien = JK 2011, EMRK Zusatzprotokoll Art 2/2. 106 Vgl etwa Dreier in: ders, GG, Bd I, Vorb Rn 29.
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ne eigene Sichtweise in Abweichung von den bundesverfassungsgerichtlichen Auslegungsergebnissen. Doch sind solche Abweichungen auf das Ganze gesehen bisher selten. So ist zB die sog Mauerschützen-Rspr des BVerfG107 vom EGMR als konventionsgemäß erachtet worden.108 Auch hat die Große Kammer des EGMR die im Gegensatz zum BVerfG109 von einer Kammer vertretene Ansicht, die entschädigungslose Enteignung vererbten Bodenreformlandes aus der DDR-Zeit sei mit der Eigentumsgarantie des Art 1 1. ZP EMRK unvereinbar110, nicht aufrechterhalten.111 Verfahrensrechtlich ist auch das BVerfG an die sich aus Art 6 I 1 EMRK ergebenden Anforderungen (angemessene Frist) gebunden (vgl Rn 43), hat in der Praxis gleichwohl vielfach dagegen verstoßen.112 Immerhin ist als Reaktion auf die Rspr des EGMR (Rn 45) eine Verzögerungsrüge in das BVerfGG (§§ 97a ff) eingefügt worden. Lösung Fall 2: Die zulässige VB ist begründet, wenn der Beschluss des OLG den Bf in seinem Grundrecht aus Art 6 GG verletzt. Die elterliche Sorge und der Umgang mit dem eigenen Kind werden vom Schutzbereich des Art 6 I, III GG umfasst. Der die Übertragung der elterlichen Sorge sowie die Einräumung eines Umgangsrechts ablehnende Beschluss des OLG stellt einen Grundrechtseingriff dar. Der Rechtfertigung des Eingriffs durch die einschlägigen familienrechtlichen Bestimmungen könnte ein Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht aus Art 20 III GG sowie die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes entgegenstehen, weil das OLG das Urteil des EGMR nicht hinreichend berücksichtigt hat. Dies ist der Fall, wenn die Gewährleistungen der EMRK bei der Auslegung des nationalen Rechts zu berücksichtigen sind (1), die Entscheidung des EGMR Beachtung finden muss (2) und die Nichtbeachtung Auswirkungen auf die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs hat (3). 1. Die EMRK-Rechte gelten im Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Auch wenn die EMRK somit selbst kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist, beeinflusst sie wegen der – in den Art 23, 24, 25 und 59 II GG zum Ausdruck kommenden – Völkerrechtsfreundlichkeit des GG als Auslegungshilfe auch die Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze. 2. Die Entscheidungen des EGMR erwachsen gem Art 42, 44 EMRK in Rechtskraft. Aus dem Feststellungsurteil des EGMR folgt nicht nur, dass die Vertragspartei nicht mehr die Ansicht vertreten kann, ihr Handeln sei konventionsgemäß gewesen, sondern auch die Verpflichtung derselben, den ohne die Konventionsverletzung bestehenden Zustand wieder herzustellen bzw die noch andauernde Verletzungen zu been-
107 BVerfGE 96, 130 ff. 108 Vgl EGMR (GK), Urt v 22.3.2001, 34044/96, 35532/97 u 44801/98, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Keßler u Krenz/Deutschland. Näher dazu Kadelbach, JURA 2002, 329 ff. 109 BVerfG (K), WM 2001, 775 ff. 110 EGMR, Urt v 22.1.2004, 46720/99, 72203/01 u 72552/01, NJW 2004, 923 ff – Jahn ua/Deutschland. 111 EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 46720/99, 72203/01 u 72552/01, NJW 2005, 2907 ff – Jahn ua/Deutschland. Vgl auch EGMR (GK), 2.3.2005, 71916/01, 71917/01 u 10260/02, NJW 2005, 2530 ff – von Maltzan ua/Deutschland. Zu beiden JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2. 112 Vgl das Beispiel EGMR, Urt v 6.11.2008, 58911/00, NVwZ 2010, 177 ff – Leela Förderkreis eV ua/ Deutschland = JK 2010, EMRK Art 6 I/3, wonach die Bundesrepublik Deutschland verurteilt wurde, weil das Verfahren vor dem BVerfG 11 Jahre und 3 Monate gedauert hat.
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den (restitutio in integrum).113 Innerstaatlich erstreckt sich diese Bindungswirkung gem Art 20 III, 59 II und 19 IV GG auf alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt. Auch die deutschen Gerichte sind damit über die Bindung an Gesetz und Recht und die verbindliche Auslegung der EMRK durch den EGMR zur Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR verpflichtet. Hierbei ist nach Ansicht des BVerfG allerdings zu berücksichtigen, dass die Wirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs nur auf die jeweilige res judicata bezogen ist, eine Berücksichtigung nur im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung erfolgen darf und sich bis zu einem erneuten nationalen Verfahren die Sach- und Rechtslage ändern kann. 3. Urteile nationaler Gerichte sind nach stRspr des BVerfG verfassungsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob sie willkürlich sind oder auf einer unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts oder anderer Verfassungsnormen beruhen. Das BVerfG ist jedoch dazu berufen, die fehlerhafte Anwendung völkerrechtlicher Bestimmungen durch deutsche Gerichte nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen. Aus Art 1 II GG (der dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten besonderen Schutz zuweist) und Art 59 II GG ergibt sich die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die EMRK in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen. Die Auffassung des OLG, durch das Urteil des EGMR nicht gebunden zu sein, hat damit Auswirkungen auf die Rechtfertigung des Eingriffs in Art 6 GG. Indem das Gericht sich aufgrund der Verkennung der Bindungswirkung nicht mit der Einwirkung des Art 8 EMRK in der Auslegung durch den EGMR auf Art 6 GG auseinandergesetzt hat, hat es den Gewährleistungsinhalt dieses Grundrechts übersehen bzw. unrichtig beurteilt. Daher hat das BVerfG den Beschluss des OLG wegen Verletzung des Art 6 GG aufgehoben und die Rechtssache zur erneuten Entscheidung an dieses zurückverwiesen.114
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Lösung Fall 3: Die VB haben Erfolg, wenn sie zulässig sind und die Anordnungen der Sicherungsverwahrung Art 2 II 2 iVm Art 104 I 1, 20 III GG verletzen. Der – im Übrigen gegebenen – Zulässigkeit der VB könnte die Rechtskraft einer früheren Entscheidung des BVerfG entgegenstehen. Die Sicherungsverwahrungen wurden auf der Grundlage gesetzlicher Vorschriften (des StGB) angeordnet. Das BVerfG hat diese Bestimmungen ursprünglich für verfassungskonform erachtet115, der EGMR aber später entschieden, dass die strafrechtlichen Bestimmungen konventionsrechtswidrig sind, weil sowohl die Verlängerung als auch die rückwirkende Anordnung der Sicherungsverwahrung eine zusätzliche Strafe darstellen, die nicht mit Art 5 I u 7 I EMRK vereinbar ist.116 Die Rechtskraft einer Vereinbarkeitserklärung im Tenor der Entscheidung des BVerfG stellt im Hinblick auf eine erneute Normkontrolle grundsätzlich ein Prozesshindernis dar117, das aber entfällt, wenn später rechtserhebliche Änderungen der Sachund Rechtslage eintreten118. Entscheidungen des EGMR stehen einer rechtserheblichen Änderung gleich.119 Daher hat das BVerfG die Beschwerden zu Recht für zulässig erachtet. Hinsichtlich der Begründetheit hat es sich nunmehr aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG an der von seiner
113 114 115 116 117 118 119
Vgl nur EGMR (GK), Urt v 8.4.2004, 71503/01, NJW 2005, 2207 – Assanidze/Georgien. Vgl näher dazu Papier, EuGRZ 2006, 1 ff; Ruffert, EuGRZ 2007, 245 ff; Esser, StV 2005, 348 ff. BVerfGE 109, 123. EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, NJW 2010, 2495 ff – M/Deutschland = JK 2010, EMRK Art 5 I/2. BVerfGE 69, 92 (102 f). BVerfGE 82, 198 (207 f). S näher noch Rn 149 ff.
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früheren Auffassung abweichenden Ansicht des EGMR orientiert und festgestellt, dass die deutschen Vorschriften zur Sicherungsverwahrung auch nicht mit den in konventionskonformer Weise interpretierten Grundrechten des GG vereinbar sind. Dementsprechend wurde den VB stattgegeben.120
4. Rang und Wirkungsweise der EMRK im Europäischen Unionsrecht Schon vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon121 hat die EMRK das Europäi- 21 sche Unions- bzw (früher) Gemeinschaftsrecht nachhaltig beeinflusst, weil die Union gem Art 6 II EUV aF an die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts gebunden war. Der EuGH entnahm in stRspr aus diesen Rechtserkenntnisquellen die grundrechtlichen Garantien auf EU-Ebene (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 6 f). Diese primärrechtliche Verankerung der Unionsgrundrechte begründete aber keine unmittelbare Bindungswirkung der EMRK im Unionsrecht. Die EMRK war (ebenso wie die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten) nur eine bloße Rechtserkenntnisquelle (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 7). (Völker-)Rechtlich an sie gebunden waren stets nur die Mitgliedstaaten des Europarats (Art 59 I EMRK); weder die EU noch die Europäischen Gemeinschaften konnten der EMRK beitreten. Aus Sicht des Rechts der EMRK fehlte ihnen die Fähigkeit zum Beitritt, weil dieser nach Art 59 EMRK aF nur Staaten offenstand; aus Sicht des Unionsrechts fehlte der Union und den Gemeinschaften die Zuständigkeit zum Beitritt nach Maßgabe des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung (heute Art 5 II EUV), weil die Mitgliedstaaten ihnen eine entsprechende Zuständigkeit zum EMRK-Beitritt nicht zugewiesen hatten.122 Ohne die Mitgliedschaft in der EMRK ließ sich aber auch aus Art 6 II EUV aF eine einseitige strikte Bindung an die EMRK nicht entnehmen, weil sich eine solche nicht mit der Verpflichtung zur „Achtung“ der Menschenrechte sowie der gleichzeitigen Bindung an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten vertragen hätte. Nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hat sich die Rechtslage in un- 22 terschiedlicher Weise geändert, was die Rahmenbedingungen für die Geltung der EMRK angeht. Von mittelbarer Bedeutung war die Integration der EU-Grundrechtecharta in das EU-Primärrecht durch Art 6 I EUV. Damit trat die rechtsvergleichende Methode in den Hintergrund, da die Union nun über einen geschriebenen Katalog
120 Vgl BVerfGE 128, 326; hierzu auch Volkmann, JZ 2011, 835 ff; Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507 ff; Payandeh/Sauer, JURA 2012, 289 ff. 121 ABl Nr C 306/1. 122 EuGH, GA 2/94, Slg 1996, I-1759 ff – EMRK-Gutachten (Nr 1).
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mit Rechten, Freiheiten und Grundsätzen verfügte (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 8 ff). Verloren hat die EMRK ihre Bedeutung für den Unionsgrundrechtsschutz indes nicht; denn nach Art 52 III 1 GRCh haben die in der Charta gewährten Rechte, die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite wie in der Konvention (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 36 ff, 109). Zudem darf gem Art 53 GRCh keine Bestimmung der Charta als Einschränkung oder Verletzung des durch die EMRK gewährleisteten Schutzniveaus ausgelegt werden (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 114). Dies kann sogar die Einwirkungen der EMRK auf das Unionsrecht verstärken. Hinzu tritt der Umstand, dass im Anwendungsbereich des Art 6 III EUV die Rolle der EMRK als Rechtserkenntnisquelle für die Schaffung von Unionsgrundrechten weiterhin erhalten bleibt (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 35 f). Der EU-Vertrag idF des Vertrages von Lissabon setzt also bewusst auf unterschiedliche rechtliche Grundlagen für den EU-Grundrechtsschutz. 23 Hierzu gehört nach Art 6 II EUV auch der vom Primärrecht vorgesehene Beitritt der Union zur EMRK.123 Doch bleibt es bis zu dem Beitritt dabei, dass die EMRK für das Unionsrecht nur eine Rechtserkenntnisquelle bildet. Zum Bestandteil des Unionsrechts wird die EMRK somit erst mit Vollzug des Beitritts. Die formalen Beitrittsvoraussetzungen, die noch vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon sowohl aus konventionsrechtlicher als auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht fehlten, sind mittlerweile geschaffen worden. Dies gilt hinsichtlich der ursprünglich fehlenden Kompetenz zum Beitritt durch die Schaffung des Art 6 II 1 EUV, der nicht nur eine ausdrückliche Rechtsgrundlage schafft, sondern die EU auch primärrechtlich zu einem Beitritt verpflichtet. Konventionsrechtlich sind für einen solchen Beitritt ebenfalls die Voraussetzungen geschaffen, nachdem Art 59 II EMRK idF des 14. ZP EMRK nun ausdrücklich auch der EU den Beitritt erlaubt. Für den Beitritt bedarf es eines Übereinkommens zwischen der Union und den Mitgliedstaaten der EMRK, wie es in unionsrechtlicher Sicht in dem Prot Nr 8 zu Art 6 II EUV124 vorgesehen und einzelnen inhaltlichen Voraussetzungen in Bezug auf das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten unterworfen ist. In verfahrensrechtlicher Hinsicht muss außerdem das in Art 218 AEUV (insbesondere VI UA 2 lit a ii, VIII UA 2 S 2) vorgesehene Verfahren eingehalten werden. 24 Das Beitrittsübereinkommen wird dogmatisch ein gemischtes Abkommen darstellen, das sowohl von der Zustimmung des Rates als auch von derjenigen der Mitgliedstaaten abhängig ist.125 Es steht dann im Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht der EU, bindet also die Organe der Union und die Mitgliedstaaten
123 Vgl dazu noch Grewe, EuR 2012, 285 ff; De Schutter, RTDH 2010, 535 ff; Lock, CMLRev 48 (2011), 1025 ff; Skouris in: Mélanges en l’honneur de/Essays in Honour of Christos L. Rozakis, 2011, S 555 ff. 124 Sart II Nr 147. 125 Näher zu gemischten Abkommen im Unionsrecht Streinz ER, Rn 537 ff.
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unmittelbar als Rechtsquelle (Art 216 II AEUV). Allerdings ist es dem Primärrecht normenhierarchisch nachgeordnet (Art 218 XI AEUV). Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten nimmt die EMRK mit dem Beitritt der EU am Anwendungsvorrang des Unionsrechts126 teil. Ähnlich wie dies bereits in manchen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen der Fall ist, wird unabhängig von der formalen normenhierarchischen Stellung des Beitrittsabkommens den inhaltlichen Gewährleistungen der EMRK im Vergleich zu anderen völkerrechtlichen Verträgen der Union eine besondere Stellung in der Unionsrechtsordnung zukommen. Dies beruht auf ihrer Funktion als Rechtserkenntnisquelle nach Art 6 III EUV, auf der Verankerung des Mindestniveaus in Art 53 GRCh und auf der Kohärenzklausel des Art 52 III GRCh. Dennoch erscheint es mit Blick auf Art 6 II EUV und Art 218 AEUV nicht angebracht, von einem quasi-primärrechtlichen Rang der EMRK nach einem Beitritt zu sprechen. Dies vermengt die dogmatisch verschiedenen Grundrechtsquellen und bildet auch die unionsrechtliche Einordnung der völkerrechtlichen Bindung der EU an die EMRK nicht richtig ab. Dies zeigt sich besonders deutlich in Bezug auf die erforderliche nähere Aus- 25 gestaltung des Beitrittsabkommens. In der Sache besteht hier ein erheblicher Regelungsbedarf.127 So ist die EU den Konventionsstaaten gleichzustellen (auch im Hinblick auf die Wahl eines EU-Richters) und am Ministerkomitee (Art 54 EMRK) und den Kosten zu beteiligen. Vor allem aber sind die Rechtsschutzfragen zu lösen. Dies gilt etwa für den Ausschluss der Staatenbeschwerde zwischen den EU-Mitgliedstaaten gem Art 344 AEUV, ferner im Falle von umsetzungsbedürftigem Unionsrecht insbesondere für die Beteiligung von EU und Mitgliedstaaten, da beide letztlich für eine Verletzung verantwortlich sind und sich die Frage nach einer Hauptverantwortlichkeit bzw Beschwerdegegnerschaft unter Beteiligung des jeweils anderen als Mit-Beschwerdegegner stellt.128 Im Zentrum steht aber das Verhältnis der Stellung des EGMR zum EuGH. Der Vorstellung, dass der EGMR auch im Hinblick auf den Unionsraum das oberste Grundrechtegericht in Europa werden könne, weil eine Individualbeschwerde bei ihm auch gegen Handlungen oder Unterlassungen der EU oder der im Anwendungsbereich des Unionsrechts handelnden Mitgliedstaaten erhoben werden kann129 und der EuGH bei der Vereinbarkeit einer unionsrechtlichen Bestimmung mit der EMRK nur im Wege einer Vorabbefassung beteiligt
126 Vgl dazu allg EuGH, Rs 6/64, Slg 1964, 1251 ff – Costa/ENEL; Ehlers, JURA 2011, 187 ff. 127 Näher dazu mit Blick auf den ersten Entwurf eines Beitrittsabkommens Uerpmann-Wittzack, EuR 2012, Beiheft 2, 167 ff; Obwexer, EuR 2012, 115 ff; Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 ff. 128 Vgl zur Regelung im ursprünglichen Entwurf des Beitrittsabkommens Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 (475 f). 129 Vgl Obwexer, EuR 2012, 115 (121).
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wird, ist durch das (zweite) EMRK-Gutachten des EuGH130 die Grundlage entzogen worden. In Überprüfung des Entwurfs für ein Beitrittsabkommen der EU zur EMRK von 2013131 gem Art 218 XI AEUV hat er die wesentlichen Bestimmungen für primärrechtswidrig erklärt. Nach seiner Ansicht verstoßen sie gegen die verfassungsrechtliche Struktur der Union und insbesondere die primärrechtlich verankerte Autonomie des Unionsrechts sowie das Rechtsschutzsystem der Verträge.132 Im Zentrum steht aus seiner Sicht die Bindung der Unionsorgane einschließlich des Gerichtshofs selbst an die EMRK und die Unterwerfung unter die Rspr des EGMR, die nicht nur zu einer (unionsrechtlich zulässigen) externen und rein völkerrechtlich verbindlichen Handlungskontrolle führen würde, sondern auch (unzulässigerweise) die Auslegung des Unionsrechts und die Zuständigkeitsverteilung in der Union mitbestimmen würde.133 Mit Blick auf Art 53 GRCh verlangt der EuGH eine Absicherung seiner Letztentscheidungsbefugnis über den Anwendungsbereich und die inhaltliche Bindung der Unionsgrundrechte gegenüber den Mitgliedstaaten ohne einen Einfluss des EGMR; insbesondere soll sichergestellt werden, dass der mitgliedstaatliche Grundrechtsschutz nicht mit anderem entgegenstehendem Unionsrecht kollidiert.134 Er rügt ferner das Vorlageverfahren der mitgliedstaatlichen Höchstgerichte nach dem 16. ZP EMRK, welches mit dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV in Konflikt geraten könne.135 Ebenso sieht er seine Letztentscheidungsbefugnis über die Auslegung des Unionsrechts verletzt, weil zwar für Fragen der Gültigkeit von Unionsrecht das Beitrittsabkommen ein Vorabbefassungsverfahren vorsah, welches im Rahmen des Verfahrens vor dem EGMR hätte eingeleitet werden können; nicht hingegen sah der EuGH sichergestellt, dass er in allen Fällen die Möglichkeit zur Auslegung des Unionsrechts erhalten würde, wie Art 267 AEUV dies vorsieht.136 In grundsätzlicher Weise sieht er zudem auch das spezielle durch das Unionsrecht gestaltete Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander gefährdet, da diese weiterhin in Bezug auf die EMRK untereinander wie Konventions(dritt)staaten behandelt würden; überdies widerspreche das Staatenbeschwerdeverfahren des Art 33 EMRK, welches sich im Falle eines Beitritts nun auf die zu Unionsrecht gewordene 130 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13 – Beitritt der Union zur EMRK. Dazu aus der Lit zB Benoît-Rohmer, RTDE 2015, 593 ff; Breuer, EuR 2015, 330 ff; Gaudin, AJDA 2015, 1079 ff; Jacqué, RTDE 2014, 823 ff; Labayle/Sudre, RFDA 2015, 3 ff; Spaventa, MJ 22 (2015), 35 ff; Tomuschat, EuGRZ 2015, 133 ff; De Witte/ Imamović, ELRev 40 (2015), 683 ff. 131 Final report to the CDDH, 47+1(2013)008 v 10.6.2013. 132 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 165 ff – Beitritt der Union zur EMRK. 133 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 183 ff – Beitritt der Union zur EMRK. 134 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 187 ff – Beitritt der Union zur EMRK. Zur Melloni-Rspr des EuGH s → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 88 (Fall 9). 135 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 196 ff – Beitritt der Union zur EMRK. 136 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 236 ff – Beitritt der Union zur EMRK.
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EMRK beziehen würde, Art 344 AEUV.137 Einen Verstoß gegen die Unberührtheit der unionsrechtlichen Zuständigkeitsverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten sah der EuGH überdies in dem durch das Beitrittsabkommen vorgesehenen Mitbeschwerdegegner-Mechanismus, der zB im Falle einer behaupteten gleichzeitigen Konventionsverletzung durch die Union und einen Mitgliedstaat, wie etwa bei der Umsetzung von Unionsrecht, eingreifen sollte; denn der Verfahrensbeitritt wie auch die Aufteilung der Haftung unterläge der Zuständigkeit des EGMR und nicht derjenigen des EuGH.138 Schließlich rügt er die Zuständigkeit des EGMR für den Bereich der GASP, für den ihm selbst nach Art 24 I UA 2 EUV weitgehend die Zuständigkeit fehlt.139 Auch wenn in Anbetracht der primärrechtlichen Pflicht zum Beitritt nach Art 6 26 II 1 EUV die Union weiterhin einen erneuten Beitrittsversuch unternimmt, stellen die Anforderungen des EuGH doch erhebliche Hürden dar, die gerade wegen der Notwendigkeit einer Zustimmung aller anderen EMRK-Mitglieder, die eine Sonderbehandlung der Union kaum mit Wohlwollen betrachten werden, schwer zu überwinden sein werden.140 Ein Dialog auch dieser Gerichte wird aber im europäischen Grundrechtsraum unumgänglich sein.141
II. Funktionen der Konventionsrechte Die Grundrechtsfunktionen der EMRK-Rechte unterscheidet sich von der Grundaus- 27 richtung nicht wesentlich von den Grundfunktionen anderer, zB nationaler oder unionsrechtlicher Grundrechtsgarantien. Hierbei ist aus der Terminologie der Konvention, die von „(Menschen-)Rechten und (Grund-)Freiheiten“ spricht, kein Hinweis auf eine sachliche Differenzierungsnotwendigkeit abzulesen. Die Rechte und Freiheiten sind im Gegenteil nur Kategorien, die rechtlich beide in gleicher Weise als klassische Grundrechte zu verstehen sind. Allerdings ist gerade gegenüber dem deutschen Recht in dogmatischer Hinsicht zu beachten, dass sich deutsche Vorverständnisse und Terminologien oftmals nicht ohne Weiteres übertragen lassen. Zuweilen bilden sie eher einen Erklärungsansatz für vergleichbare Phänomene als identische Lösungen. Bei Konventionsrechten handelt es sich in jedem Falle um subjektive Rechte, dh um normative Verhaltensbindungen, die (auch) der Befriedi-
137 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 191 ff, 201 ff – Beitritt der Union zur EMRK. 138 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 218 ff – Beitritt der Union zur EMRK. 139 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 249 ff – Beitritt der Union zur EMRK. 140 Vgl idS auch Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 6 EUV Rn 25. 141 Vgl dazu etwa Potvin-Solis in: Mélanges en l’honneur de Frédéric Sudre, 2018, S 591 ff. Zum Kooperationsverhältnis zwischen EGMR und BVerfG vgl Steiner FS Bethge, 2009, S 653 ff.
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gung von Individualinteressen dienen und den Geschützten die Rechtsmacht zur Durchsetzung ihrer Interessen auf dem Gerichtsweg einräumen. Das Entscheidende in Bezug auf die EMRK ist ihr völkerrechtlicher Charakter, also der Umstand, dass diese Rechtsmacht dem Einzelnen durch die Staaten vermittels eines völkerrechtlichen Vertrages eingeräumt worden ist, von diesen also theoretisch, wie etwa im Falle einer Kündigung, wieder entzogen werden kann; dies beschränkt Art 58 EMRK allerdings im Interesse des Individualschutzes auf die Zukunft. Die an Georg Jellinek142 angelehnte inhaltliche Kategorisierung der grundrechtlichen Gewährleistungen nach dem Status (Zustand) des Einzelnen, den sie schützen, lässt sich aus Übersichtlichkeitsgründen auch für die EMRK vornehmen, wenngleich diesem dogmatischen Erklärungsansatz natürlich keinerlei konventionsrechtliche Wirkungskraft zukommt. In der EMRK und ihren Zusatzprotokollen finden sich Abwehr- oder Freiheitsrechte (status negativus) sowie Leistungsrechte inclusive Schutzpflichten des Staates (status positivus). Nur vereinzelt sind staatsbürgerliche Rechte geregelt (status activus); eine größere Bedeutung nehmen Verfahrensrechte ein (status activus processualis143). Zu nennen sind schließlich die Gleichheitsrechte, die von ihrer Struktur her einer gesonderten Betrachtung bedürfen. Gleichheitsrechte werden typischerweise nicht in die einzelnen status eingeordnet, sondern garantieren allgemein die Rechtsgleichheit, die dann ihrerseits die Grundlage für die Abwehr von Eingriffen, Teilhabe an gewährten Begünstigungen oder Einräumung von Verfahrensrechten und staatsbürgerlichen Rechten bilden kann. Die objektiv-rechtliche Bedeutung der Konventionsrechte, wie sie in der deutschen Dogmatik für die Grundrechte des Grundgesetzes anerkannt ist,144 tritt in der EMRK deutlich zurück, was sich aus ihrem völkerrechtlichen Charakter erklärt; allerdings lassen sich auch hier heute einzelne Elemente feststellen. 28 Wegen der Gewährleistungsgehalte im Einzelnen wird auf die folgenden Paragraphen des Lehrbuchs verwiesen.145 Die einleitende Bestimmung des Art 1 EMRK enthält kein gesondertes Grundrecht, sondern normiert lediglich die überwölbende Verpflichtung der Staaten zum Schutz der in der Folge einzeln aufgeführten Ge-
142 Jellinek System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S 76 ff. Auf die Voraussetzungen und Schwächen der Statuslehre (vgl krit Cremer Freiheitsgrundrechte, 2003; s zusammenfassend Kersten in: ders (Hrsg), Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl 1905, 2011, Einleitung S *42 f mwN) kann hier nicht eingegangen werden. Trennt man nur zwischen staatlichen Eingriffen und Leistungen, müssen zB auch die Verfahrensrechte zu den Leistungsrechten gezählt werden. 143 Vgl zu dieser Begriffsbildung Häberle, VVDStRL 30 (1971), 43 (80 f). 144 Vgl nur Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 129 ff. 145 Überblicksdarstellungen aus neuerer Zeit finden sich auch bei Grabenwarter/Pabel EMRK, §§ 20 ff.
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währleistungen und enthält die zentralen Begrenzungen des Geltungsbereichs der EMRK.146
1. Abwehrrechte Die meisten Gewährleistungen der EMRK schützen die Freiheit des Einzelnen vor 29 dem Staat, indem sie dem Einzelnen eine bestimmte Freiheitssphäre garantieren und ihm Ansprüche auf Unterlassung rechtswidriger Eingriffe des Staates sowie auf Beseitigung bereits vollzogener, aber noch andauernder Eingriffe vermittelt. Inhaltlich geht es zunächst um den Schutz des Lebens147 (Art 2 EMRK) einschließlich des Verbots der Todesstrafe (Art 1 u 2 6. ZP EMRK, Art 1 13. ZP EMRK), der körperlichen Integrität in Hinblick auf die gravierendsten Formen ihrer Verletzung (Art 3 EMRK148), der persönlichen Freiheit (Art 4 u 5 EMRK, Art 1, 3 u 4 4. ZP EMRK) sowie der Freizügigkeit (Art 2 4. ZP EMRK149). Garantiert werden ferner das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens150 (Art 8 EMRK), auf Erziehung durch die Eltern (Art 2 1. ZP EMRK151), auf Eheschließung (Art 12 EMRK152), auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit153 (Art 9 EMRK), auf Meinungs-, Versammlungs- und Ver-
146 Vgl Schabas EMRK, S 83, 88. 147 Aus dem Umstand, dass es in der Frage, wann das Leben beginnt und welche Rechtsstellung dem Embryo zukommt, keinen Konsens in den Konventionsstaaten gibt, hat der EGMR gefolgert, dass diesen diesbezüglich ein Beurteilungsspielraum zusteht (EGMR, Urt v 8.7.2004, 53924/00, NJW 2005, 727, §§ 75 ff – Vo/Frankreich = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1). Auch ein Recht auf Sterbehilfe besteht nicht; vgl EGMR Urt v 29.4.2002, 2346/02, NJW 2002, 2851, §§ 39 ff – Pretty/Vereinigtes Königreich. Näher → Germelmann § 4.1.1 Rn 6 ff. 148 Zum Schutz vor „einfachen“ Verletzungshandlungen durch Art 8 EMRK s näher → Germelmann § 4.1.1 Rn 26 ff. 149 Anders als Art 11 GG (BVerfGE 6, 32 (35 f); 72, 200 (245) schützt Art 2 II 4. ZP EMRK auch das Recht auf Ausreise und Auswanderung. Die Engführung des Art 11 GG lässt sich mit der Verankerung der Ausreisefreiheit in der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art 2 I GG erklären; dazu Germelmann in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, § 114 Rn 18 mwN. Eine solche generelle Auffanggarantie enthält die EMRK nicht. 150 Die Vorschrift wird vom EGMR sehr weit verstanden. Sie hat daher zT Auffangcharakter, ohne in ihrer Reichweite Art 2 I GG zu gleichen. S näher → Germelmann § 4.1.1 Rn 42 ff. 151 Die Vorschrift schließt die Freiheit der Gründung von Privatschulen ein. Vgl EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71, 5920/72 u 5926/72, EuGRZ 1976, 478, § 50 – Kjeldsen, Busk Madsen u Pedersen/Dänemark. 152 Diese Bestimmung hat heute in der Konkurrenz zu Art 8 EMRK weitestgehend ihre Bedeutung verloren. S näher → Germelmann § 4.1.1 Rn 54. 153 Zu der dauerhaft umstrittenen Frage der Vereinbarkeit eines Verbots religiöser Zeichen oder Kleidungsstücke an staatlichen Schulen vgl aus jüngerer Zeit EGMR (GK), Urt v 1.7.2014, 43835/11 –
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einigungsfreiheit (Art 10 f EMRK) sowie auf Eigentum (Art 1 1. ZP EMRK154). Damit werden die meisten Grundrechtspositionen, die auch das Grundgesetz garantiert, von der EMRK anerkannt, wobei der Sinngehalt im Einzelnen differieren kann. Allerdings fehlt zB, von den Teilelementen des Verbotes der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art 4 EMRK) abgesehen, eine explizite Garantie des Schutzes der Berufsfreiheit sowie des Asylrechts. Indem der EGMR aber zB das Ergreifen eines Berufs und dessen Ausübung auch als Bestandteil des durch Art 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens ansieht155 und kommerzielle Informationen als Schutzgut von Art 10 EMRK anerkennt,156 wird das Fehlen des Grundrechts der Berufsfreiheit teilweise kompensiert. Dagegen garantiert die EMRK dem Einzelnen keine allgemeine Handlungsfreiheit iSd Art 2 I GG.
2. Gleichheitsrechte 30 Die EMRK als solche (dh unter Außerachtlassung des 12. ZP EMRK) enthält keinen
allgemeinen Gleichheitssatz, sondern verbietet gemäß Art 14 EMRK – als lediglich akzessorisches Recht – nur Diskriminierungen (dh eine ungleiche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte157) im Hinblick auf den Genuss der von der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten; dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des ersten Halbsatzes der Bestimmung (→ Classen § 9.1 Rn 2 ff).158 Ein Bezug zur Konvention besteht, wenn ein Konventionsrecht thematisch einschlägig ist. Die inhaltliche Weite des Katalogs von Konventionsrechten und der äußerst großzügige Maßstab des EGMR führt dazu, dass sich die Wirkung des Art 14 EMRK in vielen Fällen einem allgemeinen Gleichheitssatz annähert. So verlangt er nicht zwingend, dass der Schutzbereich eines anderen Konventionsrechts eröffnet ist oder gar ein Eingriff oder eine Verletzung vorliegt. So fällt zB der freiwillige Feuerwehrdienst nicht in den Schutzbereich des Art 4 IV 4 lit d EMRK. Gleichwohl hat der EGMR geprüft, ob die Differenzierung zwischen Männern und Frauen mit der Vorschrift vereinbar
S.A.S./Frankreich; EGMR, Urt v 11.7.2017, 37798/13 – Belcacemi u Oussar/Belgien; näher → Classen § 4.3.2 Rn 14, 23. 154 Auch das Erbrecht wird nach Auffassung des EGMR von Art 1 1. ZP EMRK geschützt, EGMR (Plenum) 13.6.1979, 6833/74, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx/Belgien; näher → Wegener § 6.2.1 Rn 20. 155 Eingehend Gundel, ZHR 180 (2016), 323 ff. 156 Vgl EGMR (Pl), Urt v 22.5.1990, 12726/87, EuGRZ 1990, 261, 262 – Autronic AG/Schweiz; Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 12 f. 157 Vgl EGMR, Urt v 12.1.2017, 74734/14 – Saumier/Frankreich. 158 Damit bleibt die EMRK zB gegenüber dem Wortlaut der Gleichheitsgewährleistungen in Art 7 AEMR oder Art 26 IPbpR zurück.
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ist.159 Neben direkten Diskriminierungen sind auch indirekte (faktische) Diskriminierungen erfasst.160 Art 14 EMRK zählt die Merkmale auf, nach denen eine Diskriminierung verboten ist. Doch ist die Aufzählung nicht abschließend.161 Diskriminierungen sind nach der Rspr des EGMR nicht schlechthin verboten, sondern nur dann, wenn sie sachlich nicht gerechtfertigt werden können.162 Ungleichbehandlungen müssen ein legitimes Ziel verfolgen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die Kontrolldichte ist unterschiedlich ausgeprägt, weil der EGMR den Konventionsstaaten teilweise einen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation/marge d’appréciation) zugesteht (Rn 100, 143).163 Wegen der Akzessorietät des Diskriminierungsverbotes gem Art 14 EMRK kommt es auf die Diskriminierung nicht an, wenn das Konventionsrecht schon aus anderen Gründen verletzt worden ist.164 Seine volle Wirkung entfaltet Art 14 EMRK damit erst, wenn die Verletzung gerade in der Diskriminierung besteht und, isoliert gesehen, keine Verletzung des Freiheitsaspekts vorliegt. So ist die Untersagung des Läutens von Kirchenglocken zu Ruhezeiten zwar durch Art 9 II EMRK gedeckt, darf sich aber gleichwohl nicht nur gegen bestimmte Religionsgemeinschaften richten.165 Neben dem akzessorischen Gleichheitssatz des Art 14 EMRK finden sich Gleich- 31 heitsrechte auch in den Zusatzprotokollen, die ebenfalls Rechte und Freiheiten iSd Konvention normieren. Etliche von ihnen finden allerdings in Deutschland keine Anwendung, weil die Bundesrepublik nicht alle Zusatzprotokolle ratifiziert hat. Einen besonderen Gleichheitssatz garantiert beispielsweise Art 5 7. ZP EMRK, wonach Ehegatten untereinander und in ihren Beziehungen zu ihren Kindern gleiche Rechte und Pflichten privatrechtlicher Art hinsichtlich der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe haben.166 Ein nichtakzessorisches (generelles) Diskriminierungsverbot findet sich in Art 1 des 12. ZP EMRK. Nach Abs 1 der Vorschrift ist der Genuss eines jeden „auf Gesetz beruhenden Rechtes“ („any right set forth by law/tout droit prévu par la loi“) ohne Diskriminierung iSd Merkmale des Art 14 EMRK zu gewährleisten. Die Norm zählt die gleichen, ebenfalls nicht abschließenden verbotenen Anknüpfungspunkte wie Art 14 EMRK auf. Abs 2 ergänzt,
159 EGMR, Urt v 18.7.1994, 13580/88, NVwZ 1995, 365, § 22 – Karlheinz Schmidt/Deutschland. 160 Vgl dazu Dubout, RTDH 2008, 821 ff. 161 Vgl zur Diskriminierung wegen Behinderungen zB EGMR Urt v 29.4.2002, 2346/02, NJW 2002, 2851, §§ 87 ff – Pretty/Vereinigtes Königreich. 162 Grdl EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62, EuGRZ 1975, 298 – Belgischer Sprachenfall. 163 Vgl Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 18. 164 Vgl EGMR (GK), Urt v 23.1.2023, 61435/19, §§ 219 ff – Macatė/Litauen. 165 Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 14 Rn 4. 166 Das 7. ZP EMRK ist in Deutschland, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich nicht in Kraft getreten.
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dass niemand durch die öffentliche Gewalt wegen eines der in Abs 1 genannten Gründe diskriminiert werden darf. Erfasst werden damit alle Ungleichbehandlungen in den genannten Fällen schlechthin, dh auch bezüglich solcher Rechtspositionen, die nicht in der Konvention enthalten sind. Das 12. ZP EMRK ist zwar in Kraft getreten, wurde bisher (Anfang 2023) aber nur von 20 Staaten ratifiziert (nicht zB von den großen Staaten wie Deutschland, Frankreich, der Türkei und dem Vereinigten Königreich und ebenfalls nicht von Österreich und der Schweiz).
3. Positive Handlungspflichten der Mitgliedstaaten und subjektive Leistungsrechte 32 Leistungsrechte zielen auf staatliches Handeln ab; sie korrespondieren mit staatli-
chen Handlungspflichten und sind insbesondere erforderlich, um die Verwirklichung realer Freiheiten abzusichern; denn oftmals genügt ein bloßes Abwehrrecht nicht, um dem Einzelnen die Ausübung seines Grundrechts zu ermöglichen. Leistungsrechte im Bereich der EMRK sind in unterschiedlichen Konstellationen denkbar. Eine abschließende Dogmatik besteht hier nicht; die Grundideen, nicht hingegen die Feinheiten im Detail sind mit der Rechtslage im deutschen Grundrechtsschutz, aber auch mit dem Grundrechtsschutz der Europäischen Union (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 55 f) vergleichbar. Im Zentrum der Rspr steht die Anerkennung positiver Handlungspflichten („positive obligations/obligations positives“) der Mitgliedstaaten durch den EGMR, die mit subjektiven Rechten insofern korrespondieren, als ihre Verletzung durch den Betroffenen gerügt werden kann. Dieser kann also letztlich in bestimmten Fällen ein konkretes staatliches Handeln verlangen.167 Der Hintergrund der Anerkennung dieser positiven Pflichten der Konventionsstaaten liegt in dem Bestreben, den Schutz der Rechte effektiv zu machen, und ist heute für die große Mehrzahl der Konventionsgarantien anerkannt.168 Zuweilen werden sie dementsprechend auch zu einer Art Feinsteuerung für Härtefälle genutzt, in denen spezifische positive Verpflichtungen für besondere Situationen entwickelt werden, während in der Normalsituation den Staaten weitergehende Spielräume verbleiben.169
167 Näher, auch zu den Grenzen Sudre EMRK, Rn 161 ff. 168 S näher im Rahmen der Auslegungsgrds (Rn 49 ff); ferner Sudre EMRK, Rn 160, 162. 169 Vgl für das Bsp der Repatriierung aus humanitären Gründen auf der Basis von Art 3 II 4. ZP EMRK EGMR (GK), Urt v 14.9.2022, 24384/19 u 44234/20, §§ 260 ff – H.F. ua/Frankreich, insb § 271: „with regard to the extraterritorial factors which contribute to the existence of a risk to the life and physical well-being of the applicants’ family members, in particular their grandchildren“.
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a) Positive Handlungspflichten in Form von staatlichen Schutzpflichten Fall 4: (EGMR (GK), Urt v 19.2.1998, 14967/89, NVwZ 1999, 57 ff – Guerra ua/Italien = JK 99, EMRK Art 8/3)
Die Bf wohnen in der Nähe einer durch eine private Gesellschaft betriebenen Chemiefabrik, in der es mehrfach zu Unfällen – bis hin zu schwerwiegenden Arsenvergiftungen – gekommen ist. Die örtlichen Behörden sind nach nationalem Recht dazu verpflichtet, die Bevölkerung über die Gefahren der Fabrik sowie die Sicherheitsvorkehrungen und das Vorgehen bei Unfällen zu informieren. Nachdem sich die Behörden mit Billigung der angerufenen nationalen Gerichte unter Hinweis auf die noch laufenden Untersuchungen geweigert haben, Informationen herauszugeben, möchten die Bf wissen, ob eine Individualbeschwerde beim EGMR begründet wäre.
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Abwandlung: (EGMR, Urt v 10.1.2012, 30765/08, NVwZ 2013, 415 ff – Di Sarno ua/Italien)
Verschiedene Bf aus der Provinz Neapel wenden sich mit einer auf Art 8 I EMRK gestützten Individualbeschwerde an den EGMR. Sie rügen, dass durch kontinuierlich wachsende Ansammlungen von Abfällen auf öffentlichen Straßen die Umwelt, in der sie leben müssten, belastet werde. Liegt eine Verletzung des Art 8 I EMRK vor?
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Wie das BVerfG170 und der EuGH (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 52 ff) leitet auch der 35 EGMR in ständiger Rspr aus den Konventionsrechten unter bestimmten Voraussetzungen Ansprüche des Einzelnen auf staatlichen Schutz – insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen Privater in die geschützte Rechtssphäre, aber auch in Bezug auf verfahrensrechtliche Absicherungen zum Schutz der Rechtspositionen – ab.171 So ist der Konventionsstaat nicht nur verpflichtet, Eingriffe in das Recht auf Leben (Art 2 EMRK) zu unterlassen, sondern wirksame strafrechtliche Vorschriften mit abschreckender Wirkung zu erlassen, überdies für amtliche und wirksame Untersuchungen zu sorgen, wenn ein Mensch durch Gewaltanwendung zu Tode gekommen ist, und eine Strafverfolgung mit dem Ziel der Prävention, Unterdrückung und Bestrafung bei Verstößen gegen die strafrechtlichen Normen zu organisieren.172 Im Falle einer Infizierung mit einer tödlichen Krankheit kann auch eine an
170 Vgl Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 150 ff. 171 Ausführlich dazu Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S 712 ff; Streuer Die positiven Verpflichtungen des Staates, 2003, S 191 ff; Gerards General Principles of the European Convention on Human Rights, 2019, S 144 ff; Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 24 ff; Sudre EMRK, Rn 165 ff. 172 Vgl EGMR (GK), Urt v 28.10.1998, 23452/94, § 115 – Osman/Vereinigtes Königreich; EGMR v 18.7.2000, 25625/94, §§ 77 ff – Ekinci/Türkei; Urt v 22.3.2001, 34044/96, 35532/97 u 44801/98, NJW 2001, 3035, § 86 – Streletz, Keßler u Krenz/Deutschland.
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gemessene zivilrechtliche Wiedergutmachung geboten sein.173 Das Verbot der Folter gebietet staatliche Maßnahmen, die auch sicherstellen müssen, dass die ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen nicht durch Privatpersonen gefoltert, unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden.174 Ferner verpflichtet Art 8 I EMRK den Staat nicht nur zu einer Achtung des Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz durch das Unterlassen rechtswidriger Eingriffe. Vielmehr muss der Staat diese Rechtsgüter durch positive Maßnahmen schützen.175 In vielen Entscheidungen entnimmt der EGMR auch der allgemeinen Pflicht der Konventionsstaaten zur Achtung der Menschenrechte positive Verpflichtungen (Art 1 EMRK).176 Zuweilen sind private Handlungen auch dem Staat zurechenbar; dann handelt es sich streng genommen nicht mehr um einen Fall positiver Schutzpflichten, sondern um eine Abwehrkonstellation.177 Die Schutzpflichten binden den Staat nicht nur objektiv-rechtlich, sondern korrespondieren mit einem subjektiven Recht der Betroffenen. Der Umfang der Schutzpflicht hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Insbesondere dürfen den Behörden keine unmöglichen oder unverhältnismäßigen Lasten auferlegt werden.178
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Lösung Fall 4: Eine auf die EMRK gestützte Individualbeschwerde (Art 34 EMRK) ist begründet, wenn der Bf in einem durch die EMRK geschützten Recht verletzt ist. Hier kommt eine Verletzung des Rechts auf Leben (Art 2 I EMRK), des Rechts auf Empfang von Informationen (Art 10 I 2 EMRK) und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 I EMRK) in Betracht. Da die Bf hier keinen Anspruch auf Abwehr staatlichen Handelns geltend machen können, da die emittierende Fabrik einer Privatperson gehört, kommt nur eine positive Verpflichtung des Staates zur Information in Betracht. Dies setzt voraus, dass sich aus den betroffenen Vorschriften der EMRK Leistungsrechte ableiten lassen. Nur dann kommt im vorliegenden Fall eine Rechtsverletzung der Bf in Betracht. Was das Recht angeht, Informationen zu empfangen (Art 10 I 2 EMRK), könnte die Konvention selbst ein Leistungsrecht normieren. Dementsprechend hat der EGMR im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Journalisten von einem Recht der Öffentlichkeit gesprochen, angemessen informiert zu werden.179 Ein Anspruch auf Informa-
173 EGMR, Urt v 5.3.2009, 77144/01 u 35493/05, NJW 2010, 1865, §§ 29 f – Colak u Tsakiridis/Deutschland. 174 EGMR, Urt v 10.5.2001, 29392/95, § 73 – Z ua/Vereinigtes Königreich. 175 EGMR, Urt v 8.7.2003, 36022/97, NVwZ 2004, 1465 ff – Hatton ua/Vereinigtes Königreich; → Germelmann § 4.1.1 Rn 53. Vgl ferner Wildhaber/Breitenmoser in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art 8 Rn 74 ff. 176 Vgl die Nachw bei Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S 727. 177 Vgl Sudre EMRK, Rn 167. 178 EGMR, Urt v 28.10.1998, 23452/94, § 116 – Osman/Vereinigtes Königreich. Vgl aber auch EGMR, Urt v 8.7.2003, 36022/97, NVwZ 2004, 1465 ff – Hatton ua/Vereinigtes Königreich. 179 Vgl zB EGMR (Pl), Urt v 26.11.1991, 13585/88, EuGRZ 1995, 16, § 59 – Observer u Guardian/Vereinigtes Königreich.
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tionserteilung durch den Staat steht im Ausgangspunkt in erster Linie Journalisten wegen ihres Informationsauftrags gegenüber der Öffentlichkeit zu. Eine Erweiterung ist möglich, wenn die Information für die Meinungsbildung des Einzelnen wesentlich ist und ihre Vorenthaltung einen Eingriff in seinen Rechtskreis bewirken würde; auch hier ist wieder das Informationsinteresse der Öffentlichkeit ein wichtiges Kriterium, das etwa bei Organisationen der Zivilgesellschaft gegeben sein kann.180 Im Übrigen bleibt es aber nach Ansicht des EGMR bei dem Grundsatz, dass Art 10 EMRK Abwehr- und nicht Leistungsrechte gewährt. Ein Informationsanspruch könnte sich aber auch aus den übrigen Konventionsgewährleistungen ergeben, wenn hierdurch ein effektiver Grundrechtsschutz erreicht wird. So verpflichtet Art 8 I EMRK nach stRspr des EGMR den Staat nicht nur dazu, sich eines Eingriffs in das Privat- und Familienleben zu enthalten, sondern gebietet ihm auch positiv einen wirkungsvollen Schutz des Privat- und Familienlebens. Hierzu gehören auch Informationspflichten bei drohenden Gefahren. Da der EGMR annimmt, dass schwerwiegende Umweltverschmutzungen das Privat- und Familienleben beeinträchtigen, habe der Staat die Bf über die Risiken informieren müssen, die sie und ihre Familien dadurch eingingen, dass sie in einer im Falle eines Unfalls den Gefahren der Chemiefabrik in besonderer Weise ausgesetzten Ortschaft wohnen blieben. Der Hinweis auf die noch laufenden Untersuchungen verfange nicht, weil den Bf ein weiteres Zuwarten nicht zumutbar gewesen sei. Somit habe der Staat durch das Vorenthalten von Umweltinformationen die Garantie des Art 8 I EMRK verletzt. Dies wird hinsichtlich des Konventionsrechts auf Leben (Art 2 I EMRK) entsprechend anzunehmen sein, wenngleich der EGMR hier in Anbetracht der Begründetheit der Beschwerde bezogen auf Art 8 I EMRK die Rüge der Verletzung des Art 2 I EMRK subsidiär zurücktreten ließ.181
Lösung Abwandlung: In Betracht kommt eine Verletzung der sich aus Art 8 I EMRK ergebenden (positiven) Schutzpflicht des Staates. Schwere Beeinträchtigungen der Umwelt können das Wohlbefinden von Personen belasten und die Nutzung ihrer Wohnung in einem Ausmaß beeinträchtigen, dass ihre in Art 8 I EMRK garantierten materiellen Rechte verletzt sind. Dies hat der EGMR wegen der „anhaltenden Unfähigkeit“ der italienischen Behörden, eine normale Abfuhr, Verarbeitung und Beseitigung von Müll zu gewährleisten, angenommen. Einen Verstoß gegen den prozeduralen Gehalt des Rechts aus Art 8 I EMRK auf angemessene Information (vgl Ausgangsfall 4) hat der Gerichtshof hingegen verneint, weil die Behörden über das Problem – trotz Untätigkeit in der Sache – ordnungsgemäß informiert hätten.
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b) Originäre Leistungsrechte und derivative Teilhaberechte Leistungsrechte lassen sich auch im Bereich der EMRK danach einteilen, ob sie auf 38 originäre Leistung oder auf derivative Teilhabe gerichtet sind.182 Im zuerst ge-
180 Vgl EGMR (GK), Urt v 8.11.2016, 18030/11, §§ 157 ff – Magyar Helsinki Bizottság/Ungarn. 181 EGMR (GK), Urt v 19.2.1998, 14967/89, NVwZ 1999, 57, § 62 – Guerra ua/Italien: „Having regard to its conclusion that there has been a violation of Article 8, the Court finds it unnecessary to consider the case under Article 2 also.“ 182 Vgl zu dieser Unterscheidung allgemein aus Sicht des deutschen Rechts Martens, VVDStRL 30 (1971), 7 (21 ff).
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nannten Fall geht es um das Ergreifen noch nicht vorhandener staatlicher Maßnahmen, im letzteren um den Zugang zu schon bestehenden staatlichen Einrichtungen oder Leistungen. Echte Leistungsrechte sind in der EMRK ähnlich wie im deutschen Grundrechtsschutz selten. Als Leistungsrecht, das allerdings von einer zusprechenden Entscheidung des EGMR abhängig ist, kann man den Anspruch auf gerechte Entschädigung im Falle einer Verletzung eines Konventionsrechts nach Art 41 EMRK ansehen. Entsprechendes gilt für den Schadensersatzanspruch nach Art 5 V EMRK.183 Ein originäres Leistungsrecht garantiert ebenfalls Art 3 7. ZP EMRK,184 wonach der Einzelne eine Entschädigung bei bestimmten Fehlurteilen beanspruchen kann. Im Übrigen finden sich in der EMRK keine ausdrücklichen Bestimmungen, die dem Einzelnen ausdrücklich originäre Leistungsrechte einräumen, sieht man von den Ansprüchen ab, die aus positiven staatlichen Handlungs- bzw Schutzpflichten (Rn 32 ff) korrespondieren und die dem Einzelnen ein subjektives Recht auf die Schaffung der entsprechenden Rahmenbedingungen, etwa in Form von Schutz- oder Verfahrensvorschriften gewähren. Solche normative, organisatorische oder verfahrensmäßige Ausgestaltung, die mit einem subjektiven Recht korrespondiert, ist zB aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) anerkannt worden. Hier leitet der EGMR aus dem Grundrecht ein Recht auf Akteneinsicht, auf Anhörung, auf Information über das Beweismaterial und auf Stellungnahme ab.185 Aus Art 10 I 2 Alt 2 EMRK, namentlich der passiven Informationsfreiheit („freedom to receive information/liberté de recevoir des informations“) und der ebenfalls in Art 10 I EMRK verorteten Pressefreiheit (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 17 ff) hat der EGMR einen Anspruch auf Zugang zu Informationen für die Presse und solche Nichtregierungsorganisationen, die eine demokratische Kontrollfunktion („public/social watchdog/chien de garde“) innehaben, gegenüber staatlichen Stellen hergeleitet.186 Der Anspruch setzt allerdings voraus, dass der Staat ein Informationsmonopol hat, sodass die Vorenthaltung der Information eine Zensurwirkung entfaltet. Entsprechendes kann gelten, wenn die Information zur Meinungsbildung unabdingbar ist und ein Eingriff in das (Abwehr-)Recht der Meinungsfreiheit nur durch ihre Bereitstellung vermieden werden kann; die Rspr zieht als Abwägungskriterium auch hier das Interesse der Öffentlichkeit an der Infor
183 Dazu BGHZ 198, 1. 184 Das 7. ZP EMRK gilt für Deutschland mangels Ratifkation nicht. 185 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 67 mit Rspr-Nachw. 186 EGMR, Urt v 14.4.2009, 37374/05, §§ 35 ff – Társaság a Szabadságjogokért/Ungarn (betreffend den Zugang zu Dokumenten über eine Verfassungsbeschwerde eines Parlamentspolitikers); Urt v 25.6.2013, 48135/06, § 20 – Youth Initiative for Human Rights/Serbien; Urt v 28.11.2013, 39534/07, §§ 34 ff – Österreichische Vereinigung/Österreich
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mation und die entsprechende Stellung und Aufgabe des Bf heran.187 Dagegen ist nicht in jedem Fall erforderlich, dass die Informationen „bereit und verfügbar“ („ready and available/déjà disponibles“) sind; vielmehr ist eine Gesamtabwägung für die Eingriffswirkung notwendig.188 Eine Informationsbeschaffungspflicht trifft den Staat jedoch nicht.189 In diesen Fällen stehen die organisatorischen und verfahrensmäßigen Sicherungen also in engem Zusammenhang mit den abwehrrechtlichen Garantien der Konventionsrechte (Rn 29) und den Schutzpflichten (Rn 35), so dass eine präzise Abgrenzung weder möglich noch sachgerecht erscheint. Überschneidungen finden sich auch mit der staatsbürgerlichen Gewährleistung des Art 3 1. ZP EMRK (Rn 40) und den Verfahrensrechten (Rn 43), denen ebenfalls Leistungselemente innewohnen. So setzen die Rechte auf freie Wahlen, ein faires gerichtliches Verfahren oder eine wirksame Beschwerde die Einrichtung von Wahlen, Gerichten und Beschwerdeinstanzen voraus. Ebenso lässt sich ein Recht auf unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher (Art 6 III lit e EMRK) nur verwirklichen, wenn der Staat einen Dolmetscherdienst organisiert. Daneben sind echte Rechte auf sozialen Schutz190 in Form originärer Leistungsrechte in der EMRK nicht verankert. Auch ist die Rspr hier zurückhaltend, wie sie generell positive Pflichten dort seltener anerkennt, wo in den Praktiken der Mitgliedstaaten erhebliche sachliche Unterschiede bestehen.191 So werden weder das wirtschaftliche Existenzminimum noch ein Recht auf Arbeit garantiert. Auch ergibt sich aus der Verpflichtung zur Achtung der Wohnung (Art 8 I EMRK) kein Recht auf eine Wohnung.192 Die Grundrechtecharta der Europäischen Union ist im Bereich der sozialen Grundrechte, insb in ihrem Titel IV (Solidarität), textlich aussagekräftiger, wenngleich auch hier in den seltensten Fällen echte subjektive Rechte anzunehmen sind (näher → Kingreen § 8.2 Rn 1 ff). Teilhaberechte finden sich in der EMRK ebenfalls an einzelnen Stellen. So 39 wird insb das in Art 2 des 1. ZP EMRK verankerte Recht auf Bildung dahingehend interpretiert, dass von den staatlicherseits bereits eingerichteten Ausbildungsgängen bei Vorliegen der Voraussetzungen Zugang zu den vorhandenen Einrichtungen ver
187 Vgl für das Bsp einer NGO EGMR (GK), Urt v 8.11.2016, 18030/11, §§ 157 ff – Magyar Helsinki Bizottság/Ungarn. 188 Vgl EGMR, Urt v 28.11.2013, 39534/07, §§ 44 ff – Österreichische Vereinigung/Österreich unter explizitem Bezug auf die „ready and available“-Beschränkung aus EGMR, Urt v 14.4.2009, 37374/05, § 36 – Társaság a Szabadságjogokért/Ungarn. 189 EGMR, Urt v 19.2.1998, 14967/89, NVwZ 1999, 57, § 53 – Guerra ua/Italien = JK 99, EMRK Art 8/3. 190 Vgl zu den sozialen Grundrechten Iliopoulos-Strangas (Hrsg) Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, 2009; ferner Marzo CDE 2010, 95 ff. 191 Krit Sudre EMRK, Rn 163. 192 Vgl EGMR, Urt v 18.1.2001, 27238/95, §§ 98 f – Chapman/Vereinigtes Königreich.
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langt werden kann. Dagegen kann auf seiner Grundlage nicht die Einrichtung neuer Ausbildungsgänge gefordert werden.193 Allenfalls kann man der Vorschrift entnehmen, dass der Staat überhaupt ein allgemein zugängliches Schulsystem zu organisieren und zur Verfügung zu stellen hat. Dieser objektiven staatlichen Handlungspflicht steht dann auch ein subjektives Leistungsrecht des Einzelnen zur Seite, wenngleich sich dieses seinem Inhalt nach aufgrund der weiten staatlichen Gestaltungsspielräume nur auf die groben Konturen der Organisation des Systems beziehen kann. Ferner ergeben sich derivative Teilhaberechte aus dem Diskriminierungsverbot (Rn 31), dem auch und gerade das Gebot gleicher Begünstigung innewohnt, sofern nach dem Konzept des Staates Begünstigungen generell eröffnet werden.
4. Staatsbürgerliche Rechte 40 Auf die Ausformung staatsbürgerlicher Grundrechte hat die EMRK weitgehend ver-
zichtet. Auch insofern besteht ein inhaltlicher Unterschied zur EU-GRCh (dort Titel V – Bürgerrechte), der sich aber aus den unterschiedlichen Integrationstiefen der beiden Rechtstexte erklärt. Als einziges staatsbürgerliches Recht ist Art 3 1. ZP EMRK zu nennen, der die Vertragsparteien verpflichtet, „in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.“ Durch die zu dieser Vorschrift ergangene Rspr des EGMR ist das aktive und passive Wahlrecht weiter ausgestaltet worden. So hat der Gerichtshof zB das Prinzip der Gleichheit der Staatsbürger aus Art 3 1. ZP EMRK abgeleitet, obwohl die Wahlrechtsgleichheit in dieser Bestimmung nicht genannt wird.194 Ein gleicher Erfolgswert der abgegebenen Stimmen wird nicht verlangt. Auch schreibt die EMRK kein bestimmtes Wahlsystem vor.
193 Vgl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 2 1. ZP Rn 2; Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer EMRK, Art 2 1. ZP Rn 10; Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 1. ZP Rn 1. Hat der Staat in der Elementarstufe eine Schulausbildung in einer bestimmten Sprache zur Verfügung gestellt, muss er dies auch für die Sekundarstufe tun, da er sonst das Recht auf Bildung aushöhlen würde; vgl EGMR (GK), Urt v 10.5.2001, 25781/94, §§ 277 f – Zypern/Türkei. 194 Vgl zB EGMR (Pl), Urt v 2.3.1987, 9267/81, § 54 – Mathieu-Mohin u Clerfayt/Belgien. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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5. Verfahrensrechte Fall 5: (EGMR (GK), Urt v 8.6.2006, 75529/01, NJW 2006, 2389 ff – Sürmeli/Deutschland = JK 2007, EMRK Art 13/1)
Der Bf hat auf dem Weg zur Schule in Deutschland einen Unfall erlitten. In der im Jahr 1989 vor dem LG erhobenen Klage verlangt er höheren Schadensersatz als von der Haftpflichtversicherung gezahlt. 1991 erging ein Grund- und Teilurteil, wonach dem Bf Ersatz in Höhe von 80 % des Schadens zusteht. Berufung und Revision wurden vom OLG und BGH zurückgewiesen. Seit dem Jahre 1994 wird der Rechtsstreit über die Höhe des Schadens vor dem LG weitergeführt. Eine VB des Bf hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Ebenso wurde ein Antrag auf Prozesskostenhilfe abgewiesen. Im Jahre 1999 hat sich der Bf an den EGMR gewandt. Er rügt, dass das Verfahren vor dem LG zu lange dauere und es im deutschen Recht keinen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer gebe. Eine Kammer hat die Beschwerde für zulässig erklärt (vgl Art 29 EMRK) und die Sache nach Art 30 EMRK an die Große Kammer abgegeben.
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Abwandlung: (EGMR, Entsch v 29.5.2012, 53126/07, NVwZ 2013, 47 ff – Taron/Deutschland = JK 2013, EMRK Art 35 I/1)
Der Bf hat im Jahre 2007 Beschwerde beim EGMR wegen der überlangen Dauer eines von ihm in Deutschland eingeleiteten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens eingelegt. Am 7.12.2011 teilte die deutsche Regierung dem EGMR mit, dass in Umsetzung des Piloturteils Rumpf (Rn 45, 48) das Gesetz über den Rechtsschutz vor überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (BGBl I 2011, 2302) in Kraft getreten sei, dass in Folge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens eine Entschädigung nach Verzögerungsrüge vorsieht (§ 198 GVG iVm § 173 S 2 VwGO). Daraufhin fragte der EGMR den Bf, ob er beabsichtige, innerhalb der gesetzlich festgelegten Frist von dem neuen Rechtsbehelf (Verzögerungsrüge) Gebrauch zu machen. Der Bf lehnte dies als unzumutbar ab, wobei er darauf verwies, dass sein Fall nun schon vier Jahre beim EGMR anhängig sei.
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Besonderes Gewicht legen die EMRK wie auch die Rspr des EGMR auf die Gewäh- 43 rung von Verfahrensgarantien (→ Grabenwarter/Struth § 11.1 Rn 3 ff).195 Die Anforderungen gehen zT erheblich über diejenigen des Grundgesetzes hinaus.196 Es zeigt sich darin zum einen erneut, dass andere Rechtsordnungen und Kodifikationen dem Verfahrensgedanken größere Bedeutung beimessen als das deutsche Recht.197 Zum anderen erweist sich das Verfahrensrecht als ein wirksames Hilfsmittel gerade bei der Herstellung von Kohärenz zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen und ihren inhaltlichen Anforderungen; es bildet damit gleichsam einen Ersatz für bzw eine Ergänzung zu den unausweichlichen materiellrechtlichen Kompromiss
195 Vgl zur herausragenden rechtsstaatlichen Bedeutung der Verfahrensgarantien des Art 6 I EMRK Sudre EMRK, Rn 357 mwN aus der Rspr. 196 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (312). 197 Vgl zB Ehlers DVBl 2004, 1441 (1446, 1449 f).
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lösungen. Die Verfahrensrechte der EMRK sind dabei unterschiedlich verankert. In Teilen folgen verfahrensrechtliche Komponenten bereits aus den positiven Verpflichtungen der Staaten, die sich aus den einzelnen materiellen Freiheitsrechten ergeben (Rn 33 ff).198 Sie können entweder in eigenständigen verfahrensrechtlichen Verpflichtungen oder in Anforderungen an die Mitgliedstaaten bestehen, aus ihnen Folgerungen für die Handhabung des nationalen Verfahrensrechts abzuleiten. ZB hat der EGMR aus Art 8 EMRK einen Anspruch auf ein angemessenes Verfahren zur Regulierung von Parkberechtigungen für Wohnwagen von nicht sesshaften Personengruppen hergeleitet.199 Auch können Anforderungen an die Ausgestaltung von Rechtsschutz gegen hoheitliche Entscheidungen direkt aus den einzelnen Freiheitsrechten folgen.200 44 Zu einem anderen Teil finden sie sich direkt im Text der EMRK bzw ihrer Zusatzprotokolle. So schützt Art 5 EMRK vor ungerechtfertigten Verhaftungen,201 Art 7 EMRK statuiert den Grundsatz „nulla poena sine lege“202, und Art 13 EMRK garantiert ein Recht auf eine wirksame innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit im Falle einer Rechtsverletzung durch hoheitliche Gewalt.203 Ausgeweitet wurden diese Bestimmungen durch das 7. ZP zur EMRK, das ua verfahrensrechtliche Schutzvorschriften in Bezug auf die Ausweisung ausländischer Personen, die Garantie von Rechtsmitteln in Strafsachen oder die Beachtung des Grundsatzes „ne bis in idem“ vorschreibt.204 Den praktisch bedeutsamsten Kern von Verfahrensrechten des Konventionsrechts enthält Art 6 EMRK mit seinen Garantien für gerichtliche Verfahren. Insgesamt ist es dem EGMR hier gelungen, einen gemeineuropäischen Standard des „fair trial“ zu etablieren, der fortlaufend weiterentwickelt wird.205 Dabei ergibt sich die Reichweite dieser Verfahrensgarantien, die nach der deutschen
198 Sudre EMRK, Rn 162. Derartiges ist auch im deutschen Verfassungsrecht anerkannt; vgl Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl 1995, Rn 358 ff. 199 EGMR, Urt v 25.9.1996, 20348/92, § 76 – Buckley/Vereinigtes Königreich. 200 Vgl EGMR (GK), Urt v 14.9.2022, 24384/19 u 44234/20, §§ 272 ff – H.F. ua/Frankreich. 201 Vgl dazu EGMR, Urt v 27.11.1997, 25629/94, NJW 1999, 775 ff – K.-F./Deutschland = JK 99, EMRK Art 5 I/1. Das in Art 5 I EMRK ebenfalls garantierte Recht auf Sicherheit ist nur eine Ausprägung des Rechts auf Freiheit und garantiert kein Recht auf Leistung oder Schutz. Vgl Elberling in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 5 Rn 5 mwN. 202 Vgl dazu EGMR (GK), Urt v 22.3.2001, 34044/96, 35532/97 u 44801/98, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Keßler u Krenz/Deutschland; → Grabenwarter/Struth § 11.1 Rn 103 ff. 203 Zur Abgrenzung zum Rechtsschutz nach Art 6 EMRK s EGMR (GK), Urt v 26.10.2000, 30210/96, § 152 – Kudła/Polen. Die Vorschrift tritt danach neben Art 6 I EMRK, nicht hinter diesen zurück, und verstärkt die Rechtsposition des Betroffenen. Ferner zur Norm auch Schabas EMRK, S 551. 204 Das 7. ZP zur EMRK ist von der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht ratifiziert worden. 205 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (312).
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Übersetzung auf zivilrechtliche und strafrechtliche206 Verfahren beschränkt ist, unter Berücksichtigung der authentischen englischen und französischen Sprachfassungen. So garantiert Art 6 I 1 EMRK jeder Person bestimmte Verfahrensrechte „in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“. Die „civil rights and obligations“ bzw „droits et obligations de caractère civil“ gehen weiter als „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ iSd deutschen Rechts und erfassen auch einen großen Teil der Streitigkeiten, die nach der deutschen Rechtsordnung in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit oder Verfassungsgerichtsbarkeit fallen.207 Hierzu zählen etwa auch die beamtenrechtlichen Streitigkeiten mit Ausnahme solcher, welche im konkreten Fall die – sehr restriktiv zu verstehenden – spezifischen Interessen des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften betreffen und die von diesem auch ausdrücklich vom Gerichtszugang ausgeschlossen worden sind.208 Damit können sich auch Richter im Interesse der Wahrung ihrer richterlichen Unabhängigkeit auf die Garantie des Art 6 I EMRK berufen.209 Nichts anderes gilt für Streitigkeiten vermögensrechtlicher Art, zB in Bezug auf die Erteilung einer Baugenehmigung.210 Das in Art 6 EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren hat sich damit als ein praktisch äußerst wirksames Grundrecht erwiesen und als diejenige Vorschrift, deren Verletzung am häufigsten geltend gemacht und bisher auch am häufigsten festgestellt wurde.211 Ein besonders kritischer Anwendungsfall des Art 6 I EMRK ist das Gebot, in an- 45 gemessener Frist zu verhandeln.212 Auch Deutschland hat in diesem Bereich mehrere Verfahren verloren, in denen eine überlange Dauer von Gerichtsverfahren festgestellt wurde. Dabei hat der EGMR unter Berufung auf diese Garantie in mehreren Fällen auch eine überlange Verfahrensdauer des BVerfG beanstandet.213 Die Große Kammer des EGMR hat in den 2000er Jahren ferner strukturelle Defizite des
206 Zum Steuerrecht vgl EGMR (GK), 3.11.2022, 49812/09 – Vegotex International S.A./Belgien. 207 Vgl zu den Abgrenzungsproblemen Gundel in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 146 Rn 17. 208 Vgl EGMR (GK), Urt v 8.12.1999, 28541/95, NVwZ 2000, 661, §§ 60 ff – Pellegrin/Frankreich; Urt v 19.4.2007, 63235/00, §§ 55 ff – Vilho Eskelinen ua/Finnland; Urt v 15.3.2022, 43572/18, §§ 261 ff – Grzęda/Polen; EGMR, Entsch v 22.11.2001, 39799/98, NJW 2002, 3087 (3089) – Volkmer/Deutschland. Dazu Schmidt-Aßmann FS Schmitt Glaeser, 2003, S 317 (328 f); da Cruz Vilaça in: Mélanges en hommage à Georges Vandersanden, 2008, S 845 ff. 209 EGMR (GK), Urt v 15.3.2022, 43572/18, §§ 261 ff – Grzęda/Polen für die vorzeitige Beendigung eines richterlichen Amtes durch ein Justizreformgesetz. 210 Vgl Peters/Altwicker EMRK, § 19 Rn 8 m Nachw. 211 Vgl auch Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 6 Rn 3; ferner zur Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit auch Schabas EMRK, S 265; Sudre EMRK, Rn 357. 212 Zur Frage, was angemessen ist, vgl → Grabenwarter/Struth § 11.1 Rn 94 ff. 213 Vgl EGMR, Urt v 1.7.1997, 20950/92, NJW 1997, 2809 ff – Probstmeier/Deutschland; Urt v 1.7.1997, 17820/91, EuGRZ 1997, 310 ff – Pammel/Deutschland.
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deutschen Prozessrechts im Hinblick auf den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer bemängelt214 und den deutschen Gesetzgeber „ermutigt“, eine Untätigkeitsbeschwerde in die Prozessordnungen aufzunehmen.215 Denn entscheiden die Fachgerichte nicht in angemessener Zeit, entnimmt der Gerichtshof Art 13 EMRK die Verpflichtung, eine innerstaatliche Beschwerde- bzw sonstige Abhilfemöglichkeit vorzusehen.216 Ob sich die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG217 hierzu eignet, ist zweifelhaft.218 Nachdem der deutsche Gesetzgeber zunächst nicht reagiert hatte, wurde die Bundesrepublik erstmals in einem Pilotverfahren219 verurteilt, ohne Verzögerung, spätestens binnen eines Jahres, einen oder mehrere Rechtsbehelfe gegen überlange Gerichtsverfahren zu schaffen. Daraufhin hat Deutschland im Jahr 2011 das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erlassen.220 Dieses fügte die §§ 198 ff in das GVG ein und sieht gerichtsbarkeitsübergreifend eine Entschädigung im Falle einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens nach Erhebung einer Verzögerungsrüge vor.221 Der EGMR geht bis auf weiteres davon aus, dass dies den Vorgaben seines Piloturteils gegen Deutschland genügt (Abwandlung Fall 5).
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Lösung Fall 5: Eine erneute Überprüfung der Zulässigkeit der Beschwerde durch die Große Kammer findet nicht statt. Allerdings kann die Große Kammer in jedem Verfahrensstadium weiterhin die Einrede der Unzulässigkeit berücksichtigen.222 Eine solche ist hier aber nicht ersichtlich. Begründet ist die Individualbeschwerde, wenn der Bf in einem Konventionsrecht verletzt ist. In Betracht kommt eine Verletzung der Art 13 und Art 6 I EGMR. 1. Verletzung des Art 13 EMRK: Die Vorschrift gewährt jeder Person, die in einem Konventionsrecht verletzt worden ist, das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben. Wirksam ist eine Beschwerde, wenn mit ihr die Verletzung oder ihre Fortdauer verhindert oder
214 Vgl insb EGMR, Urt v 2.9.2010, 46344/06, NJW 2010, 3355 – Rumpf/Deutschland; ferner für Familiensachen wegen der besonders gravierenden Auswirkungen EGMR, Urt v 15.1.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland. 215 EGMR (GK), Urt v 8.6.2006, 75529/01, NJW 2006, 2389, § 137 f – Sürmeli/Deutschland. 216 Vgl EGMR (GK), Urt v 26.10.2000, 30210/96, NJW 2001, 2694 – Kudła/Polen; Entsch v 11.9.2002, 57220/00 – Mifsud/Frankreich. Dazu Meyer-Ladewig, NJW 2001, 2679 f; Schmidt-Aßmann FS Schmitt Glaeser, 2003, S 331 ff; Gundel, DVBl 2004, 17 ff. 217 Vgl zB BVerfG (K), NJW 2008, 503. 218 Näher dazu Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2008, 1783 ff. Zur verfassungsrechtlichen Einordnung auch Degenhart in: Sachs, GG, Art 103 Rn 52. 219 EGMR, Urt v 2.9.2010, 46344/06, NJW 2010, 3355 – Rumpf/Deutschland. S dazu etwa Althammer, JZ 2011, 446 ff. 220 BGBl I 2011, 2302. 221 Vgl dazu statt vieler Schenke, NVwZ 2012, 257 ff; krit Ossenbühl, DVBl 2012, 857 ff. 222 Vgl zB EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 45036/98, NJW 2006, 197, § 103 – Bosphorus/Irland.
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angemessene Hilfe für schon eingetretene Verletzungen erlangt werden kann. Wird eine überlange Verfahrensdauer gerügt, muss es einen Rechtsbehelf geben, mit dem der Bf entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichts beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erlangen kann.223 Im deutschen Recht kommen (vor Erlass des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, welches hier zeitlich noch nicht einschlägig war; vgl Rn 45) eine VB, Dienstaufsichtsbeschwerde, Untätigkeitsbeschwerde und eine Klage auf Schadensersatz in Betracht. a) Verfassungsbeschwerde: Das BVerfG erkennt ein Recht auf ein zügiges Gerichtsverfahren aus Art 2 I GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip an. Bei übermäßig langem Verfahren stellt es die Verfassungswidrigkeit fest und fordert das zuständige Gericht auf, das Verfahren zu beschleunigen oder abzuschließen (vgl zB BVerfG (K), NJW 2005, 739). Doch kann das BVerfG weder eine Frist zum Abschluss des Verfahrens setzen (vgl aber auch BVerfG (K), NJW 2001, 214) noch andere Maßnahmen zur Beschleunigung anordnen oder eine Wiedergutmachung zusprechen. Daher ist die VB (jedenfalls bei Zugrundelegung der damaligen Rspr des BVerfG) nach Ansicht des EGMR kein wirksamer Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK. b) Dienstaufsichtsbeschwerde: Eine Dienstaufsichtsbeschwerde nach § 2, 26 DRiG ist schon deshalb kein wirksamer Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK, weil sie dem Bf keinen Anspruch darauf gibt, den Staat zur Ausübung seiner Aufsichtsbefugnisse zu zwingen. c) Außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde: Für eine außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde gibt es in Deutschland keine gesetzliche Grundlage. Einige Gerichte erkannten sie zwar trotzdem an. Wegen der Unsicherheit, ob und unter welchen Voraussetzungen sie zulässig ist und ob sie ggf verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet,224 kann sie aber nicht als wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden. d) Amtshaftungsklage: Selbst wenn die Gerichte zu dem Ergebnis kommen sollten, dass Verfahrensverzögerungen zu einer Amtshaftung nach § 839 BGB, Art 34 GG führen, können sie doch keinen Ersatz für Nichtvermögensschäden zusprechen. Somit gab es seinerzeit in Deutschland nach Auffassung des EGMR keinen wirksamen Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK gegen eine überlange Dauer eines gerichtlichen Verfahrens. 2. Verletzung des Art 6 I 1 EMRK: In Betracht kommt eine Verletzung auch dieses Konventionsrechts, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass über Streitigkeiten (hier in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Die Konventionsstaaten müssen ihre Gerichtsbarkeiten so organisieren, dass keine überlangen Verfahrensdauern entstehen, wobei die Angemessenheit der Dauer nach den jeweiligen Verfahren differieren kann. Hier war die Verfahrensdauer nicht mehr angemessen, so dass Art 6 I 1 EMRK verletzt wurde. Der EGMR hat dem Bf gem Art 41 EMRK eine Entschädigung in Höhe von 10.000 € zugesprochen.225
Lösung Abwandlung: Nach Art 35 I, IV EMRK ist eine Beschwerde unzulässig, wenn die innerstaatlichen Rechtsbehelfe (offensichtlich) nicht erschöpft wurden. Für die Prüfung, ob die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft wurden, ist normalerweise das Datum entscheidend, an dem der EGMR angerufen wurde. Von dieser Regel gibt es aber Ausnahmen, die durch die besonderen Umstände des Falles gerechtfertigt sein kön-
223 Vgl zB EGMR (GK), Entsch v 11.9.2002, 57220/00, § 17 – Mifsud/Frankreich. 224 Vgl ähnl für den außerordentlichen Rechtsbehelf wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs BVerfG (Pl), BVerfGE 107, 395. 225 Von der Einreichung der Beschwerde beim EGMR bis zur Entscheidung der Großen Kammer sind allerdings auch rund sieben Jahre vergangen. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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nen.226 Nach Erlass des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Rn 45) hat der Bf die Möglichkeit gehabt, eine Verzögerungsrüge vor den deutschen Gerichten zwecks Erlangung einer Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens zu erheben. Dies gilt nach der Übergangsvorschrift des Gesetzes auch für bereits anhängige Verfahren. Das deutsche Gesetz sieht als Rechtsfolge im Falle eines überlangen Gerichtsverfahrens zwar nur eine Entschädigung vor. Doch sah der EGMR „im Augenblick“ keinen Anlass anzunehmen, dass dies nicht ausreicht. Dementsprechend ist die Beschwerde wegen des Nichtgebrauchmachens von der Verzögerungsrüge als unzulässig zurückgewiesen worden.
6. Objektive Funktionen der Konventionsrechte 48 Eine ausdifferenzierte Dogmatik der objektiven Wertordnungsfunktionen der
EMRK existiert nicht. Auch wenn die Konventionsrechte einen Wertordnungskanon bilden und dies gerade auch im Grundrechtsschutz der Europäischen Union anerkannt ist (vgl Art 2 EUV iVm Art 6 III EUV, Art 52 III, 53 GRCh), lässt sich doch jedenfalls die Konstruktion des BVerfG für die deutschen Grundrechte227 auf sie nicht übertragen. Dies gilt jedenfalls für ihren völkerrechtlichen Wirkungsbereich. Allerdings kommt den Konventionsrechten in der deutschen Rechtsordnung mittelbar Anteil an dem Wertordnungsverständnis der deutschen Grundrechte zu. Denn da die EMRK in der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes gilt und von allen staatlichen Organen einschließlich der Gerichte und sogar dem BVerfG selbst berücksichtigt werden muss (Rn 13), muss das nationale Recht einschließlich der deutschen grundrechtlichen Gewährleistungen konventionskonform ausgelegt werden. Damit bestimmt auch die EMRK den objektiven Wertordnungsgehalt der deutschen Grundrechte mit.
III. Auslegung der Konventionsrechte folgt völkerrechtlichen Grundsätzen,229 hat aber gerade durch die Rspr des EGMR und dessen umfangreiche Präjudizbildung mittlerweile
49 Die Auslegung der EMRK
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226 EGMR, Entsch v 6.9.2001, 69789/01 – Brusco/Italien. 227 Vgl dazu Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 129 ff. 228 Näher dazu Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 4; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 5; Peters/Altwicker EMRK, § 2 Rn 40 ff; Villiger EMRK, Rn 251 ff. Ausführlich zu Auslegung und Auslegungsmethoden in der EMRK auch Gerards General Principles of the European Convention on Human Rights, 2019, S 46 ff, 78 ff. 229 Zu diesen zusammenfassend Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 14 Rn 1 ff.
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eine hohe Kohärenz erhalten, die bei klassischen völkerrechtlichen Verträgen in diesem Umfange unüblich ist. Ausgangspunkt bleiben aber die Grundsätze völkerrechtlicher Vertragsauslegung. Diese sind zT in der Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23.5.1969230 normiert, die freilich als deutlich jüngerer Vertrag auf die EMRK keine Anwendung findet; allerdings entsprechen die dort enthaltenen Auslegungsgrundsätze weitgehend dem Völkergewohnheitsrecht.231 Die Auslegung der EMRK hat sich ebenso wie die Ermittlung der Bindungswirkungen der EGMR-Entscheidung an den in gleicher Weise maßgeblichen (vgl Art 33 WVK) authentischen englischen und französischen Sprachfassungen (vgl die Schlussformel der EMRK) zu orientieren (Rn 9). Ausgangspunkt der Auslegung muss immer der Wortlaut in seiner „gewöhnlichen Bedeutung“ sein („ordinary meaning rule“, Art 31 I WVK). Allerdings ist ebenso der Zusammenhang zu berücksichtigen (Art 31 I, II WVK). Auch sonstige Verträge und relevante Übung zwischen den Vertragsparteien sind nach Art 31 III WVK ein Auslegungsmittel, wodurch etwa anderen im Rahmen des Europarats geschlossenen Abkommen eine Bedeutung für die Auslegung der EMRK zukommen kann. Systematisch muss also das Zusammenspiel von Konvention und Zusatzprotokollen mit der Satzung des Europarates und den in dessen Rahmen abgeschlossenen Abkommen, sofern sie eine hinreichende Zahl an Vertragsstaaten binden,232 beachtet werden. Gleiches gilt für die Einbettung in das allgemeine Völkerrecht, wobei der Rückgriff auf die völkervertragliche Praxis auch dann in Betracht kommt, wenn diese nicht von allen Konventionsstaaten geteilt wird, weil diese zB die in Bezug genommenen völkerrechtlichen Verträge nicht ratifiziert haben.233 Auch dem humanitären Völkerrecht ist Rechnung zu tragen.234 Der historischen Interpretation (vgl Art 32 WVK) kommt va dann eine größere Bedeutung zu, wenn es um die Auslegung von Vorbehalten der Konventionsstaaten geht.
230 BGBl 1985 II, 927. 231 Shaw International Law, 9. Aufl 2021, S 814 mwN. 232 Vgl etwa zur Europäischen Sozialcharta v 18.10.1961 (SEV Nr 35; 27 Ratifikationen) und der Europäischen Sozialcharta (revidiert) v 3.5.1996 (SEV Nr 163; 35 Ratifikationen) und zur diesbezüglichen Praxis des EGMR Sudre EMRK, Rn 90 mwN. S zum Vertrag auch Heintze in: Ipsen, VR, § 33 Rn 9 ff. Für das Recht auf Bildung vgl Gonzalez, RFDA 2010, 1003 (1005 f). Deutschland hat beide Versionen der Europäischen Sozialcharta ratifiziert, nicht aber die (verfahrensbezogenen) Zusatzprotokolle v 1991 u 1995 (SEV Nr 142 u 158). 233 Vgl EGMR (GK), Urt v 12.11.2008, 34503/97, § 89 – Demir u Baykara/Türkei. Näher zur sog Konsensmethode des EGMR v Ungern-Sternberg AVR 51 (2013), 312 ff. 234 Vgl EGMR (GK), Urt v 22.3.2001, 34044/96, 35532/97 u 44801/98, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Keßler u Krenz/Deutschland; Urt v 12.5.2005, 46221/99, NVwZ 2006, 1267, § 163 – Öcalan/Türkei. Zur Rolle des Menschenrechtsschutzes im humanitären Völkerrecht Bantekas/Oette International Human Rights Law and Practice, S 718 ff; Costa/O’Boyle in: Mélanges en l’honneur de/Essays in Honour of Christos L. Rozakis, 2011, S 107 ff.
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Von zentraler Bedeutung bei einem im völkerrechtlichen Vergleich derart weitreichend integrierten und mit einer effektiven und obligatorischen Gerichtsbarkeit ausgestatteten Vertrag ist seine Zwecksetzung. Insofern unterstreicht Art 53 EMRK das Ziel eines effektiven und möglichst weitreichenden Grundrechtsschutzes, wonach in Bezug auf die auf globaler Ebene anerkannten Menschenrechte wie auch den nationalen Grundrechtsschutz das Günstigkeitsprinzip zu beachten ist. Allerdings sind die Menschenrechteder EMRK von anderen grundrechtlichen Garantien unabhängig und autonom im Lichte ihres Zieles und Zweckes auszulegen. Wegen ihres auf dauerhafte Begrenzung der Staatsgewalt gerichteten Charakters ist ähnlich wie im Europäischen Unionsrecht eine dynamische (im Gegensatz zur statisch-historischen) Auslegung geboten, die dem Grundsatz der Effektivität (effet utile) verpflichtet ist. Insoweit ist auch eine Rechtsfortbildung nicht ausgeschlossen, die sich insbesondere auf eine Erweiterung des Grundrechtsschutzes bei der Entstehung neuer Schutzbedürfnisse beziehen wird. Dementsprechend betont die Rspr, dass die EMRK ein „living instrument/instrument vivant“ sei, welches im Lichte der jeweiligen gegenwärtigen Rahmenbedingungen auszulegen sei („which […] must be interpreted in the light of present-day conditions/à interpréter […] à la lumière des conditions de vie actuelles“); dabei sollen Rechte garantiert werden, die nicht theoretisch oder illusorisch seien („not theoretical and illusory/non pas théoriques et illusoires“), sondern praktisch und effektiv („practical and effective/concrètes et effectives“).235 Soweit auf das Recht der Konventionsstaaten verwiesen wird (zB Art 12 EMRK: „nach den innerstaatlichen Gesetzen“), darf dieses den Wesensgehalt des Konventionsrechts nicht antasten.236 Bestehen keine gemeinsamen Rechtsauffassungen zwischen den Konventionsstaaten, kann die Kontrolldichte gemindert und den Konventionsstaaten eine „margin of appreciation“ zuzugestehen sein (Rn 30, 143).
IV. Berechtigte der Konventionsrechte 51 Wie sich aus Art 1 EMRK ergibt, werden durch die EMRK (einschließlich der Zusatz-
protokolle) grundsätzlich alle der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten unterstehenden „Personen“ geschützt. Was die EMRK unter Personen versteht, lässt sich aus der das Recht der Individualbeschwerde garantierenden Bestimmung des Art 34 herleiten (Rn 108 ff). Danach sind natürliche Personen sowie nichtstaatliche Organisationen oder Personenvereinigungen gemeint. Die zentrale Norm des Art 1 EMRK prägt
235 Grundlegend EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, EuGRZ 1979, 162, § 31 – Tyrer/Vereinigtes Königreich; Urt v 9.10.1979, 6289/73, EuGRZ 1979, 626, § 24 – Airey/Irland; EGMR (GK), Urt v 14.9.2022, 24384/19 u 44234/20, § 252 – HF ua/Frankreich. 236 Vgl zB EGMR, Urt v 17.10.1986, 9532/81, § 50 – Rees/Vereinigtes Königreich. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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auf unterschiedlichen Ebenen die Reichweite der EMRK-Gewährleistungen. Das Abstellen auf Hoheitsgewalt bezieht sich im Kern auf die territoriale Anwendung der Konvention (Rn 72). Darüber hinaus unterscheidet sie aber nicht zwischen den Personen, die der Staatsgewalt unterworfen sind. Insbesondere kommt es bei den Konventionsrechten auf die Staatsangehörigkeit prinzipiell nicht an;237 es handelt sich um „Menschenrechte“. Dies unterscheidet die EMRK-Rechte von den deutschen Grundrechten, die zwischen Jedermanns- und Deutschen- (incl EU-Bürger-)Rechten differenzieren,238 aber auch von den Grundrechten der EU-GRCh, die bestimmte Rechte als Unionsbürgerrechte normieren (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 68). Eine Begrenzung der Grundrechtsberechtigung im Einzelfall kann sich allerdings aus dem Schutzgehalt der jeweiligen Verbürgung ergeben, sofern diese nur für bestimmte Personen von Bedeutung ist und daher auch nur diesen Personen zukommen kann. So steht das Recht auf Einreise allein den eigenen Staatsangehörigen des Vertragsstaates (Art 3 II 4. ZP EMRK) und bestimmte Verfahrensrechte in Bezug auf die Ausweisung allein ausländischen Personen (Art 1 7. ZP EMRK) zu.239 Das Recht auf Eheschließung, das Art 12 EMRK allein „Männern und Frauen im heiratsfähigen Alter“ zugesteht, wird heute durch den personell weiterreichenden Schutz des Art 8 EMRK ergänzt.240 In Bezug auf den Beginn des Lebens ist die Rspr des EGMR differenzierend, da 52 sich gerade in Bezug auf den nasciturus und seinen Schutz im Falle von Schwangerschaftsabbrüchen unterschiedliche Sichtweisen in den Rechtsordnungen der Konventionsstaaten finden.241 Hinsichtlich eines Rechts auf Leben, welches dem nasciturus zustehen könnte, hat sich der EGMR zurückhaltend geäußert und die Frage nach dem Lebensbeginn weitgehend der Defintion der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen überlassen, dabei aber anerkannt, dass ein Verbot der Abtrei-
237 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 1 Rn 3. 238 Vgl dazu Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 194 ff. 239 Das in Art 3 EMRK niedergelegte Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung und das in Art 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vermitteln Ansprüche, die dazu führen können, dass ein Ausländer nicht des Landes verwiesen werden darf. So kann aus Art 3 EMRK folgen, dass ein Ausländer nicht ausgeliefert werden darf, wenn dieser im Verfolgerstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt zu sein droht, die mit Art 3 EMRK nicht vereinbar ist. Vgl grdlg EGMR (Pl), Urt v 7.7.1989, 14038/88, EuGRZ 1989, 314 ff – Soering/Vereinigtes Königreich; ausf → Germelmann § 4.1.1 Rn 20. Zur Prüfung bei einer Abschiebung in einen Konventionsstaat vgl BVerwGE 122, 271 ff = JZ 2005, 784 m Anm Walter; BVerfG, Beschl v 19.5.2005 – 2 BvR 580/05 (Nichtannahmebeschluss). 240 Vgl für gleichgeschlechtliche Ehen, die die Konventionsstaaten allerdings nicht verpflichtet sind zuzulassen, wenngleich sie irgendeine rechtliche Form der Anerkennung für gleichgeschlechtliche Partnerschaften schaffen müssen, EGMR, Urt v 24.6.2010, 30141/04, EuGRZ 2010, 445, §§ 60 f – Schalk u Kopf/Österreich; weitergehend nun EGMR (GK), Urt v 17.1.2023, 40792/10, 30538/14 u 43439/ 14, §§ 190 ff – Fedotova ua/Russland; s auch Sudre EMRK, Rn 498. Näher → Germelmann § 4.1.1 Rn 54. 241 Näher zur Rspr → Germelmann § 4.1.1 Rn 11.
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bung mit Blick auf Art 2 EMRK legtime Interessen verfolgt und damit konventionskonform sein kann.242 Die Grundrechtsberechtigung endet mit dem Tod. Dies schließt einen postmortalen Konventionsschutz nicht aus. Eine diesbezügliche Rspr ist aber insofern mit Blick auf die unterschiedlichen Verfassungstraditionen zurückhaltend.243 Jedoch dürfen Erben bei berechtigtem Interesse das Verfahren des verstorbenen Beschwerdeführers vor dem EGMR fortführen.244 Auf das Alter oder die Geschäftsfähigkeit der natürlichen Personen kommt es für die Grundrechtsberechtigung nicht an. Kollidiert der Konventionsschutz der Minderjährigen mit dem ebenfalls geschützten Erziehungsrecht der Eltern (Art 2 S 2 1. ZP EMRK), muss der Staat eine verhältnismäßige Zuordnung und Ausgleichung vornehmen.245 Zur prozessualen Geltendmachung des Minderjährigenschutzes vgl Rn 111. 53 Zu den geschützten Organisationen und Personengruppen gehören juristische Personen und Personenvereinigungen jeglicher Art, sofern sie nichtstaatlicher Provenienz sind. Unerheblich ist, ob die Zusammenschlüsse mit Rechtsfähigkeit ausgestattet sind, nach welchem Recht sie organisiert wurden und wo sie ihren Sitz haben.246 Demgemäß können sich insbesondere die von Privaten getragenen juristischen Personen des Privatrechts auf die EMRK berufen. Eine Entsprechung zur deutschen Grundrechtsnorm des Art 19 III GG findet sich in der EMRK nicht, so dass sich auch eine Übertragung der deutschen Dogmatik247 verbietet. Allerdings werden die Unterschiede im Ergebnis gering sein.248 So schützen viele Konventionsrechte nur Freiheitssphären, die ihrem Inhalt und Zweck nach allein auf natürliche Personen anwendbar sind (zB das Recht auf Leben, der Schutz vor Folter und erniedrigender und unmenschlicher Behandlung, das Recht auf persönliche Freiheit oder das Recht auf Achtung des Familienlebens).249 Dagegen hat der EGMR250 im Gegen-
242 Vgl EGMR, Urt v 8.7.2004, 53924/00, NJW 2005, 727 – Vo/Frankreich, §§ 75 ff = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1. Zur Vereinbarkeit des Verbots eines Schwangerschaftsabbruchs mit Art 8 I EMRK vgl EGMR (GK), Urt v 16.12.2010, 25579/05, NJW 2011, 2107 ff – A, B u C/Irland. Näher → Germelmann § 4.1.1 Rn 11. 243 Näher Richter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 9 Rn 50 mwN. 244 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 15. Nach Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 4 soll die Fortführung eines Prozesses nur die Prozessfähigkeit betreffen. 245 Zu der Konfliktlage näher → Germelmann § 7.1 Rn 43. 246 Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988, S 284. Vgl auch Partsch in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg) Die Grundrechte, Bd I/1, 1966, S 235, 295; ferner mit Bsp auch Sudre EMRK, Rn 200 f. 247 Dazu Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 227 ff mwN. 248 So zu Recht Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 5. 249 Vgl auch Schabas EMRK, S 741. 250 EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, EuGRZ 1993, 65, §§ 29 ff – Niemietz/Deutschland = JK 93, EMRK Art 8/1; Urt v 28.4.2005, 41604/98, NJW 2006, 1495 ff – Buck/Deutschland; Urt v 9.4.2009, 19856/04, NJW 2010, 2109 ff – Kolesnichenko/Russland.
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satz zur früheren Rspr des EuGH251 zB das Recht auf Achtung der Wohnung (Art 8 I EMRK) so ausgelegt, dass auch Geschäftsräume geschützt werden (→ Germelmann § 4.1.1 Rn 57), so dass auch Personenvereinigungen wie Unternehmen Träger dieses Grundrechts sein können. Auch nach ihrer Auflösung können Organisationen oder Personengruppen sich unter bestimmten Voraussetzungen noch auf die Konventionsrechte berufen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Auflösung Folge der behaupteten Verletzung ist.252 Die Rechte der nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen sind allerdings von denen ihrer Mitglieder zu unterscheiden. Dementsprechend sind die Organisationen oder Personengruppen nicht befugt, Rechte ihrer Mitglieder geltend zu machen.253 Keinen Schutz durch die Konventionsrechte genießen staatliche Organisatio- 54 nen oder Personengruppen.254 Der Staat ist im Grundsatz Verpflichteter, nicht Berechtigter der Konventionsrechte. Dies gilt auch dann, wenn er sich privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsformen bedient (also zB „fiskalisch“ tätig wird).255 Deshalb wird zB das Eigentum von Gemeinden durch Art 1 1. ZP EMRK nicht geschützt; jedenfalls können sie sich nicht auf das Individualklageverfahren des Art 34 EMRK berufen.256 Auch Drittstaaten und die von ihnen kontrollierten Unternehmungen sind nicht Grundrechtsträger der EMRK.257 Bei staatlichen Einrichtungen sowohl der Mitgliedstaaten als auch von Drittstaaten kommt auch ein Schutz durch die Verfahrensrechte des Art 6 EMRK nicht in Betracht.258 Allerdings ist bei den sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts eine differenzierte Betrachtungsweise vorzunehmen. Ihnen ist jedenfalls dann nicht generell
251 EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 18 f – Hoechst = JK 93, EMRK Art 8/1. Vgl aber auch EuGH, Rs C-94/00, Slg 2002, I-9011, Rn 27 ff – Roquette Frères. 252 Vgl die Nachw bei Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 19. 253 Vgl die Nachw bei Rogge in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art 34 Rn 141; dems EuGRZ, 1996, 341 (343); Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 17 f. 254 Vgl auch Art 34 EMRK (nichtstaatliche Organisation); s auch Sudre EMRK, Rn 200 m Bsp. 255 Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 18. 256 Vgl EGMR, Entsch v 23.11.1999, 45129/98, Section de commune d’Antilly/Frankreich; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 5; Sudre EMRK, Rn 200, auch mit abweichender Rspr der französischen Gerichte, die die Rspr des EGMR restriktiv auslegen, eine materielle Berechtigung von Kommunen annehmen und nur das Klagerecht aus Art 34 EMRK verneinen; ferner hierzu auch Duprès de Boulois AJDA 2008, 1036 ff. AA Tettinger FS Börner, 1992, S 625, 633 ff, wonach sich alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts auf das Eigentumsrecht berufen können, weil nach Art 1 I 1. ZP EMRK „jede natürliche oder juristische Person“ das Recht auf Achtung ihres Eigentums hat. Für dieses weite Verständnis wegen des Wortlauts auch noch Stern Staatsrecht III/1, 1. A 1988, S 1103. Die Rspr des EGMR für juristische Personen des Privatrechts ist aber nicht auf solche des öffentlichen Rechts übertragbar. 257 Näher Gundel in: EnzEuR Bd 2, § 4 Rn. 29 f. 258 EGMR, Entsch v 23.11.1999, 45129/98 – Section de commune d’Antilly/Frankreich.
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die Konventionsrechtsfähigkeit abzusprechen, wenn sie dem gesellschaftlichen Bereich zuzuordnen sind und eine hinreichende Unabhängigkeit gegenüber der staatlichen Hoheitsgewalt aufweisen. So sind die korporierten Religionsgemeinschaften als nichtstaatliche Organisationen bzw Personengruppen anzusehen, da es sich um gesellschaftliche Einrichtungen handelt; dies gilt jedenfalls, wenn sie nicht als Staatskirchen organisiert sind.259 Entsprechendes ist für Rundfunkanstalten anzunehmen.260 Auch Universitäten können sich auf Konventionsrechte wie insbesondere die Meinungsfreiheit und die damit mitgeschützte Wissenschaftsfreiheit berufen.261 Im Übrigen sind noch viele Fragen ungeklärt. Hinsichtlich der Privatrechtssubjekte mit staatlichen und privaten Anteilseignern oder Mitgliedern (etwa gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen) stellen das Europäische Unionsrecht262 und das deutsche Verfassungsrecht263 auf die Beherrschungsverhältnisse ab. Für die EMRK muss Entsprechendes gelten.264 Mit Staatsgewalt beliehenen Personen muss eine Berufung auf die Konventionsrechte dagegen versagt bleiben, da sie als Träger von Staatsgewalt anzusehen sind, wenn und soweit sie Hoheitsrechte ausüben. Unberührt bleibt das Recht, eine Staatenbeschwerde wegen einer Verletzung der EMRK durch andere Staaten zu erheben (Rn 107), was freilich stets einen Konventionsverstoß gegenüber einem Grundrechtsberechtigten voraussetzt; die prozessuale Norm des Art 33 EMRK ändert nichts an den Grenzen der personellen Reichweite der materiellen Gewährleistungen.
259 Vgl Ehlers in: Sachs, GG, Art 140 GG/137 WRV Rn 25. Zur Einstufung der orthodoxen Kirche in Griechenland als nichtstaatliche Organisation vgl EGMR, Urt v 9.12.1994, 13092/87 u 13984/88 – Les saints monastères/Griechenland. 260 Vgl EGMR, Urt v 30.3.2004, 53984/00 – Radio France ua/Frankreich; Urt v 7.12.2006, 35841/02, ÖJZ 2007, 472 – Österreichischer Rundfunk/Österreich; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 5; Röben in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 5 Rn 33. 261 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 5. Vgl entsprechend für das deutsche Recht BVerfGE 31, 314 (322); 39, 302 (314). 262 Näher → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 70. 263 BVerfGE 128, 226 – Fraport; 143, 246 Rn 187 ff; BVerfG (K) NVwZ 2020, 1500; dazu Kamann/Ellemann/Weigand EuR 2021, 614 ff. 264 Vgl Gundel in: EnzEuR Bd 2, § 4 Rn. 29 f; s ferner auch Barden Grundrechtsfähigkeit gemischtwirtschaftlicher Unternehmen, 2002, S 185 ff. Anders wohl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 5, die eine Grundrechtsfähigkeit ohne Differenzierung nach dem Beherrschungsgrad zu bejahen scheinen.
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V. Verpflichtete der Konventionsrechte 1. Konventionsstaaten des Europarates Da Art 1 EMRK den Schutz der der Hoheitsgewalt einer Vertragspartei unterliegen- 55 den Personen bezweckt, folgt daraus, dass die Vertragsparteien durch die Konventionsrechte verpflichtet werden. Auf sie ist die EMRK ratione personae anwendbar. Unter Vertragsstaaten sind alle Staaten des Europarates zu verstehen, die die EMRK ratifiziert haben (Art 59 EMRK); für die Bindung an die einzelnen Zusatzprotokolle zählt deren Ratifikation. Die Bindung der Konventionsstaaten bezieht sich auf alle Staatsgewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) und alle Träger von Staatsgewalt (zB auch auf die Bundesländer und die kommunalen Gebietskörperschaften sowie die sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Hoheitsgewalt ausüben). Auf die Rechtsform des Handelns (öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich) kommt es nicht an. Der Begriff der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt ist im Interesse der Effektivität des Grundrechtsschutzes weit zu verstehen. Zu den Trägern von Staatsgewalt sind ebenso wie im deutschen Recht265 auch die Beliehenen und alle Privatrechtssubjekte zu zählen, hinter denen unmittelbar oder mittelbar allein der Staat steht (wie zB seine Eigengesellschaften). Entsprechendes muss für die vom Staat beherrschten gemischt zusammengesetzten Privatrechtsvereinigungen gelten (vgl Rn 54). Dagegen müssen die korporierten Religionsgemeinschaften und Rundfunkanstalten, soweit es sich nicht um Staatskirchen und staatliche Rundfunkbetreiber handelt, der Sphäre der Privaten zugeordnet werden (vgl Rn 54). Der Staat ist für jede Konventionsverletzung verantwortlich, auch wenn er keine Möglichkeit der Einflussnahme hatte (wie auf die Jurisdiktion der unabhängigen Gerichte) oder seine Amtsträger weisungswidrig gehandelt haben.266 Neben positiven Handlungen können auch Duldungen oder Unterlassungen des Staates (zB Verweigerung der Unterstützung durch einen Dolmetscher im Falle des Art 6 III lit e EMRK oder Unterlassen hinreichender Untersuchungsmaßnahmen im Falle von gewaltsamen Todesfällen267 oder Beschwerden wegen eines Verstoßes gegen Art 3
265 Vgl Ehlers/Pünder in: dies, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl 2022, § 1 Rn 2 ff, 21 ff. 266 EGMR, 18.1.1978, 5310/71, EuGRZ 1979, 149, Rn 150 ff – Irland/Vereinigtes Königreich. 267 Vgl dazu etwa EGMR, Urt v 27.9.1995, 18984/91, §§ 161 ff – McCann ua/Vereinigtes Königreich; Urt v 28.7.1998, 23818/94, §§ 77 ff – Ergi/Türkei; Urt v 20.5.1999, 21594/93, § 88 – Oğur/Türkei; Entsch v 5.10.1999, 33677/96 – Grams/Deutschland (Zulässigkeitsentscheidung); Urt v 21.9.2021, 20914/07 – Carter/Russland; w Nachw aus der Rspr bei Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK Art 2 Rn 40 ff; Schabas EMRK, S 134 ff. Eingehend Altermann Ermittlungspflichten der Staaten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2006, S 24 ff (zu Art 2 EMRK) und S 46 ff (zu Art 3, 5, 8, 14, 13 und 6 EMRK).
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EMRK268) eine Verletzung der Konvention herbeiführen.269 Ferner können Verstöße der Konventionsstaaten gegen supranationales Recht am Maßstab der EMRK gemessen werden. So soll eine willkürliche Nichtvorlage an den EuGH (Art 267 AEUV) gegen das in Art 6 I EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren verstoßen270 und die Nichtbeachtung einer unmittelbar anwendbaren EU-Richtlinie das in Art 1 1. ZP EMRK geschützte Eigentumsrecht verletzen können.271 Rechtsschutz vor dem EGMR kann wegen der Subsidiarität der Individualbeschwerde (Rn 120 ff) allerdings nur verlangt werden, wenn die unionsrechtlichen und innerstaatlichen Schutzmechanismen einschließlich der verfassungsrechtlichen Rechtsbehelfe nicht zum Tragen kommen.272 56 Da die Hoheitsgewalt iSd Art 1 EMRK grundsätzlich territorial begrenzt ist und nicht ohne weiteres mit der Staatenverantwortlichkeit nach allgemeinem Völkerrecht gleichgesetzt werden kann273, bindet die EMRK den Staat bei einem extraterritorialen Handeln nur ausnahmsweise; dies ist dann allerdings schwerpunktmäßig eine Frage des räumlichen Geltungsbereichs der Konvention (ratione loci; Rn 72). Nicht verantwortlich ist ein Staat für die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf seinem Territorium, wenn diese nicht von ihm selbst, sondern von einem anderen Staat ausgeht. In einem solchen Fall trifft die konventionsrechtliche Verantwortlichkeit in erster Linie den handelnden Staat, sofern es sich bei ihm um einen Konventionsstaat handelt. Allerdings können positive Handlungspflichten des territorial betroffenen Staates entstehen, denen er auf seinem Territorium nachzukommen hat. Eine solche Lage kann sich insbesondere bei einem transnationalen Verwaltungshandeln auf völkerrechtlicher oder unionsrechtlicher Grundlage ergeben. So darf die Polizei bspw nach dem Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen274 unter bestimmten Voraussetzungen grenzüberschreitend tätig werden.275 Auch nach Maßgabe der EMRK ist dann in erster Linie der
268 Vgl EGMR (GK), Urt v 13.12.2012, 39630, §§ 182 ff – El-Masri/EJR Mazedonien. 269 Vgl auch die Rechtsprechungsbeispiele bei Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 1 Rn 15 (Pflicht des Staates zum Einschreiten bei Untätigbleiben eines Pflichtverteidigers bzw der Durchsetzung des Rechts auf Trennung von Tisch und Bett). 270 Vgl EGMR, Urt v 23.3.1999, 41358/98 – Desmots/Frankreich; Entsch v 7.9.1999, 38399/97 – Dotta/ Italien. 271 Vgl EGMR, 16.4.2002, 36677/97, EuGRZ 2007, 671 ff – S.A. Dangeville/Frankreich; näher dazu Breuer, JZ 2003, 433 ff; Dufourq, RFDA 2003, 953 ff; krit Germelmann Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der EU, 2009, S 302 ff mwN. 272 Näher zur Bindung der Konventionsstaaten an die EMRK bei der Anwendung internationalen oder supranationalen Rechts Rn 57. 273 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 13; Peters/Altwicker EMRK, § 35 Rn 10. 274 BGBl II 1993, 1013 = Sart II Nr 280. 275 Vgl Art 40, 41 Schengener Durchführungsübereinkommen.
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Staat verantwortlich, der die Grenze überschritten hat, und nicht derjenige, auf dessen Territorium gehandelt worden ist. Entsprechendes ist in Ausweisungsfällen anzunehmen.276 Bei einem Zusammenwirken sind allerdings beide Staaten gleichermaßen verantwortlich.277 Im Falle einer Zurechenbarkeit des Handelns des handelnden Staates zu dem anderen kommt eine Verantwortlichkeit des Staates in Betracht, auf dessen Territorium der handelnde Staat die Maßnahme ergriffen hat.
2. Handeln der Konventionsstaaten im Rahmen von internationalen und supranationalen Organisationen Fall 6: (EGMR, Urt v 18.2.1999, 24833/94, NJW 1999, 3107 ff – Matthews/Vereinigtes Königreich = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2
Der Fall spielt zu einem Zeitpunkt während der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU. Die Bf ist britische Staatsbürgerin mit Wohnsitz in Gibraltar. Sie beantragte ihre Registrierung als Wählerin für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Unter Hinweis auf den Anhang II des Aktes zur Einführung allgemeiner und unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20.9.1976278 wurde dieser Antrag abgelehnt. Nach Anhang II in der damaligen Fassung wendete das Vereinigte Königreich die Vorschriften des Wahlaktes nur auf das Vereinigte Königreich an. Gibraltar ist ein vom Vereinigten Königreich abhängiges Territorium, stellt jedoch selbst keinen Teil des Vereinigten Königreiches dar. Der EGV fand gemäß Art 299 IV EGV (Art 355 III AEUV) auf Gibraltar Anwendung. Im Beitrittsvertrag von 1972 war jedoch festgelegt, dass nicht alle Bestimmungen des EGV in Gibraltar gelten. Insbesondere war Gibraltar nicht Teil der Zollunion und galt als Drittstaat im Sinne der gemeinsamen Handelspolitik. Obwohl Gibraltar nicht Teil des Vereinigten Königreichs ist, galten die dort lebenden britischen Bürger als Staatsangehörige und Unionsbürger im Sinne des EGV. Die Bf rügte mit einer gegen das Vereinigte Königreich gerichteten Individualbeschwerde die Verletzung des Art 3 1. ZP EMRK. Die Vorschrift garantiert, freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.
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Fall 7: (EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 45036/98, NJW 2006, 197 ff – Bosphorus/Irland = JK 2006, EMRK Art 1/3)
Ein von einer jugoslawischen Fluggesellschaft geleastes Flugzeug der türkischen Fluggesellschaft Bosphorus (Bf) ist während des Jugoslawien-Konfliks im Jahre 1993 in Dublin auf der Grundlage der eine Resolution des UN-Sicherheitsrats umsetzenden Embargo-VO Nr 990/93 der EG beschlagnahmt worden. Der irische Supreme Court hat das gegen die Beschlagnahme gerichtete Rechtsmittel der Bf letztinstanzlich zurückgewiesen, nachdem der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfah-
276 Vgl Schabas EMRK, S 95 f. 277 Zurückhaltend hier aber Schabas EMRK, S 96 f. 278 ABl 1976 Nr L 278/5. Die konsolidierte Fassung ist abgedruckt in Sart II Nr 262.
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rens entschieden hat, dass die EG-VO auf den vorliegenden Fall anwendbar ist. Die Bf wendet sich an den EGMR und rügt die Verletzung ihres Rechts auf Eigentum aus Art 1 des 1. ZP EMRK. Zu Recht?
59 Die EMRK verpflichtet nach ihrem klaren Wortlaut ihre Mitgliedstaaten. Nachdem
der Versuch eines Beitritts der Europäischen Union nach Art 59 II EMRK, Art 6 II EUV vorerst an dem Gutachten des EuGH, welches den Entwurf des Beitrittsabkommens von 2013 für primärrechtswidrig erklärte, gescheitert ist und neue Verhandlungen unter Beachtung der Maßgaben des EuGH geführt werden müssen (Rn 21 ff), ist die EU direkt nicht an die EMRK gebunden. Auch gibt es keine andere internationale Organisation, die Mitglied der EMRK wäre oder werden könnte. Denn nach Art 59 I EMRK können nur Mitglieder des Europarates, was wiederum nach Art 4 u 5 Europarats-Satzung nur Staaten sein können, auch Vertragsstaaten der EMRK werden. Die Ausnahme des Art 59 II EMRK ist nach ihrem klaren Wortlaut allein auf die EU begrenzt und einer analogen Anwendung auf andere Organisationen nicht zugänglich. Damit stellt sich derzeit eine Bindung der EMRK für andere Völkerrechtssubjekte als ihre Mitgliedstaaten nicht ein. Die Frage, ob wegen der systematischen Verknüpfung von Europarats-Satzung und EMRK sowie des Umstands, dass die Konvention im Rahmen des Europarats ausgearbeitet wurde, anzunehmen ist, dass auch die Organe des Europarates (Art 10 ff Europarats-Satzung) selbst an die Konvention und ihre Zusatzprotokolle gebunden sind,279 erscheint weitgehend akademisch. Zum einen sind dem Europarat keine Hoheitsbefugnisse übertragen worden;280 zum anderen ist auch die Verpflichtung gem Art 3 u 4 Europarats-Satzung, nur solche Mitglieder aufzunehmen, die vorbehaltlich der Anbringung von zulässigen Vorbehalten281 die in der EMRK positivierten Menschenrechte anerkennen, letztlich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die über die Aufnahme eines neuen Mitgliedstaats entscheiden und das Beitrittsabkommen ratifizieren müssen. In Anbetracht des klaren Wortlauts des Art 1 EMRK ist also eine Ausdehnung der Verpflichtungswirkung abzulehnen; eine prozessuale Geltendmachung nach Art 34 EMRK käme ebenfalls nicht in Betracht, da auch hier die Wortlautgrenze überschritten würde.
279 Vgl dazu Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, 1966, S 65 f. 280 Eine Ausnahme kann nur im Verhältnis zu den Beschäftigten des Europarates gelten; s hierzu EGMR, Entsch v 16.6.2009, 36099/06 – Beygo/46 Mitgliedstaaten des Europarats. Der EGMR lehnt eine Haftung der Europaratsmitgliedstaaten ratione personae ab, da nicht sie, sondern die Organe des Europarats Hoheitsgewalt ausgeübt hätten; dessen Bindung an die EMRK lässt der Gerichtshof allerdings offen. 281 Vgl Art 57 EMRK.
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Verpflichten damit die Konventionsrechte ratione personae nicht die interna- 60 tionalen bzw supranationalen Organisationen selbst, deren Mitglieder die Konventionsstaaten sind,282 fehlt es an einem verantwortlichen Zuordnungssubjekt für deren Handlungen. Denn auch die Konventionsstaaten, die diesen Organisationen beigetreten sind, können nicht direkt für deren Handlungen verantwortlich gemacht werden;283 dies gilt insbesondere bei höher integrierten Organisationen wie der EU, denen die Mitgliedstaaten weitreichende eigene Zuständigkeiten zugewiesen haben.284 Eine Bindung der Konventionsstaaten kann in diesen Fällen auch dann entfallen, wenn diese nur im Auftrag internationaler oder supranationaler Organisationen tätig werden und gewissermaßen als deren Werkzeuge zu einem entsprechenden Handeln verpflichtet sind. Allerdings ist aus Sicht der EMRK stets zu berücksichtigen, dass die Konventionsstaaten, auch wenn sie die Handlungen der internationalen oder supranationalen Organisation nicht selbst kontrollieren können, zumindest mit ihrer Mitwirkung an ihr eine Ursache für die Menschenrechtsverletzung gesetzt haben, also ihre Hoheitsgewalt iSd Art 1 EMRK ausgeübt haben. Die Problematik stellt sich also, wenn die tätig werdenden Konventionsstaaten 61 an das internationale oder supranationale Recht gebunden sind, diese Bindung aber der EMRK widerspricht. Dies ist sowohl in Bezug auf ein Handeln im Auftrag der Vereinten Nationen wie auch bei Durchführung von unionsrechtlichen Verpflichtungen relevant geworden.285 Der EGMR hat eine Überprüfung des Handelns der Konventionsstaaten, die im Auftrag der Vereinten Nationen, etwa aufgrund einer Sicherheitsrats-Resolution, tätig geworden sind, am Maßstab der EMRK unter Hinweis auf die Vorrangregel des Art 103 UN-Charta286 sowie die hierzu ergangene Rspr des IGH287 im Grundsatz abgelehnt (Rn 72 und Fall 9). Allerdings sind Differenzierungen zu beachten. Die Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten ratione personae bleibt natürlich in vollem Umfange bestehen, wenn das internationale Recht ihnen ausdrücklich oder implizit einen Umsetzungs- oder Vollzugsspielraum belässt.288 Handeln die Staaten im Auftrag der internationalen Organisation, aber
282 EGMR (GK), Entsch v 2.5.2007, 71412/01 u 78166/01 NVwZ 2008, 645 – Behrami u Behrami/Frankreich u Saramati/Deutschland, Frankreich u Norwegen; dazu Bodeau-Livinec/Buzzini/Villalpando, AJIL 102 (2008), 323 ff; Milanović/Papić, ICLQ 58 (2009), 267 ff. S allg auch Schabas EMRK, S 105 ff. 283 S näher mwN Sudre EMRK, Rn 207; Schabas EMRK, S 105 f. 284 Vgl auch EGMR, Entsch v 9.9.2008, 73250/01 – Boivin/34 Mitgliedstaaten des Europarats; Entsch v 9.12.2008, 73274/01 – Connolly/15 Mitgliedstaaten der EU. 285 Zusammenfassend etwa Lagrange in: Mélanges en l’honneur de Frédéric Sudre, 2018, S 373 ff. 286 Sart II Nr 1. 287 Vgl IGH, Urt v 26.11.1984, ICJ Rep 1984, 392 Rn 107 – Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua. 288 In der Entscheidung EGMR, Entsch v 20.1.2009, 13645/05, EuGRZ 2011, 11 – Nederlandse Kokkelvisserij/Niederlande, sah der EGMR als die der konventionsrechtlichen Verantwortung und Über
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innerhalb dieses Rahmens im eigenen Namen, so kommt ihr Handeln als Anknüpfungspunkt für eine Verantwortlichkeit nach der EMRK weiterhin in Betracht.289 Die Reichweite der Verantwortlichkeit bestimmt sich dann nach dem Grad der Determinierung des mitgliedstaatlichen Handelns durch die internationale Organisation. So setzt ein Ausschluss der Verantwortlichkeit klare und eindeutige völkerrechtliche Handlungsanweisungen voraus, an die der Konventionsstaat gebunden ist, weil er dann nur noch gleichsam als Werkzeug, nicht aber mit eigenem Handlungsspielraum agiert. Dies kann etwa wegen einer Bindung an die Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gem Art 25 UN-Charta in Betracht kommen. Nach der Rspr des EGMR wird aber auch hier die Gewährleistung eines gleichwertigen Schutzes von Menschenrechten290 und insbesondere die Möglichkeit der Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes vorausgesetzt, und die Rspr geht davon aus, dass die Mitgliedstaaten trotz des Vorrangs des Art 103 UN-Charta ihre konventionsrechtlichen Verpflichtungen weitestgehend im Sinne einer praktischen Konkordanz einhalten wollen. Dies führt dazu, dass der Konventionsstaat sich im Regelfall nicht allein auf die bindende Wirkung der Sicherheitsrats-Resolution berufen kann. Er muss in deren Rahmen Rechtsschutz gegen die belastenden Maßnahmen gewähren, was nach der Rspr des EGMR völkerrechtlich typischerweise nur dann ausgeschlossen ist, wenn die Resolution dies gerade explizit verbietet; anderenfalls besitzt der Mitgliedstaat Gestaltungsspielräume, die er konventionsrechtskonform zu nutzen hat und die im Extremfall zu einer Haftung des Konventionsstaates führen, wenn er keine zusätzlichen verhältnismäßigen Gründe für die Einschränkung der Konventionsrechte über das Argument der Bindung nach Art 25, 103 UN-Charta hinaus anführen kann.291 Im Ergebnis entspricht diese Rspr derjenigen des EuGH292 zur Kontrolle von Unionshandeln, das durch die Bindung der Mitgliedstaaten an eine Sicherheitsratsresolution determiniert wird, am Maßstab der EU-Grundrechte (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 39 ff mit Fall 3). Allerdings ist die Kollisionsproblematik im Bereich der EMRK insofern vergleichsweise entschärft, als die Rechtsfolge
prüfung unterliegende staatliche Maßnahme die Vorlage des nationalen Gerichts an den EuGH nach Art 267 AEUV (damals Art 234 EG) an. Vgl Mayer in: Karpenstein/ders, EMRK, Einleitung Rn 144; Bories, RevMC 2009, 408 ff. 289 Vgl EGMR (GK), Urt v 21.6.2016, 5809/08, §§ 132 ff – Al-Dulimi u Montana Management Inc/ Schweiz; Urt v 12.9.2012, 10593/08, NJOZ 2013, 1183, §§ 183 ff – Nada/Schweiz 290 Dieser Maßstab entstammt der auf das Unionsrecht bezogenen Bosphorus-Rspr, vgl EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 45036/98, NJW 2006, 197 ff – Bosphorus/Irland = JK 2006, EMRK Art 1/3 (Fall 7). 291 Ein Verstoß gegen Art 6 I EMRK wurde festgestellt in EGMR (GK), Urt v 21.6.2016, 5809/08, §§ 132 ff – Al-Dulimi u Montana Management Inc/Schweiz; vgl zu Art 8 EMRK auch EGMR (GK), Urt v 12.9.2012, 10593/08, NJOZ 2013, 1183, §§ 183 ff – Nada/Schweiz. 292 Grdl EuGH, verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351 ff – Kadi = JK 2009, EGV Art 301/1. Dazu etwa zusammenfassend Kasel in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, S 337 ff.
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eines Grundrechtsverstoßes hier (nur) die Entschädigungspflicht nach Art 41 EMRK ist, im Falle des europäischen Unionsrechts hingegen dessen Vorranganspruch eine Befolgung der Sicherheitsratsresolution verbietet und die Normenhierarchie grundrechts- und damit primärrechtswidriges Sekundärrecht nichtig macht. Schutzlücken bestehen nach der Konstruktion des EGMR dann, wenn eine vollständige Determinierung des Handelns des Mitgliedstaats ohne Spielräume gegeben ist und die internationale Organisation selbst keine hinreichenden Grundrechtsschutzmechanismen bereitstellt.293 Hier kann dann eine konventionsrechtliche Haftung wegen einer Übertragung von Hoheitsgewalt an die Organisation ohne hinreichenden Grundrechtsschutz in Betracht kommen.294 Eine vergleichbare, verschärfte Problematik stellt sich für Konflikte mit dem 62 Unionsrecht, welche die Mitgliedstaaten in eine echte, auch praktische Zwangslage bringen würden, weil der Union zu seiner Durchsetzung wirksame Mittel wie die unmittelbare Anwendbarkeit295, der Vorrangsanspruch296 und die gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten etwa über das Vertragsverletzungsverfahren (Art 258, 260 AEUV) zur Verfügung stehen; das Recht der Vereinten Nationen verfügt hierüber nicht. Die Union selbst ist an die EMRK (bislang) nicht gebunden. Eine Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten ratione personae für den Erlass von Unionsrechtsakten kommt ebenfalls nicht in Betracht.297 Wohl aber handeln sie eigenständig, wenn sie Unionsrecht, wie etwa Richtlinien, in das nationale Recht umsetzen. Haben sie hierbei Gestaltungsspielräume, bleiben sie voll verantwortlich und müssen diese konventionskonform nutzen;298 sind sie vollständig – wie zB im Falle einer EU-VO – determiniert, kann ein Konflikt mit der EMRK entstehen. Um eine Kollision zwischen dem vorrangig geltenden supranationalen Recht der Europäischen Union (früher Europäischen Gemeinschaften) einerseits und der EMRK andererseits nach Möglichkeit aufzulösen, hat die – inzwischen aufgelöste (Rn 10, 104) – Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) eine an die Solange II-Entscheidung des BVerfG299 angelehnte Auffassung vertreten. Danach soll eine Beschwerde auf der Grundlage der EMRK unzulässig sein, wenn im Recht der internationalen bzw
293 Ein weiteres Problem liegt darin, dass trotz einer eigenständigen Handlung eines Mitgliedstaats und der Verantwortlichkeit ratione personae das Handeln ratione loci nicht unter den Anwendungsbereich des Art 1 EMRK fällt, weil eine hinreichend effektive Kontrolle bei der Ausübung von Hoheitsgewalt abzulehnen ist (s näher sogleich Rn 69 ff). 294 Vgl Benoît-Rohmer, RTDH 2010, 19 (36). 295 EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3 ff – van Gend & Loos. 296 Vgl zu diesem Vorrang EuGH, Rs 6/64, Slg 1964, 1251, 1270 f – Costa/ENEL. 297 Sudre EMRK, Rn 208. 298 Vgl EGMR (GK), 23.5.2016, 17502/07, §§ 105 ff – Avotiņš/Lettland; 21.1.2011, 30696/09, §§ 338 ff – M.S.S./Belgien u Griechenland. 299 BVerfGE 73, 339 (375 f). Näher dazu → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 45.
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supranationalen Organisationen ein vergleichbarer Grundrechtsschutz angelegt ist.300 Dies treffe namentlich auf das Europäische Gemeinschaftsrecht (heute: Unionsrecht) zu. Damit hat die EKMR eine Verantwortung der Konventionsstaaten für EG-Akte (heute: EU-Akte) in weitem Umfange verneint.301 63 Der EGMR ist dieser Ansicht mittlerweile mit gewissen Modifikationen bzw Klarstellungen gefolgt. Bereits in einer Entscheidung von 1996 hat er festgestellt, dass ein Konventionsstaat nicht allein deswegen von seiner konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit für einen innerstaatlichen Rechtsakt befreit ist, weil dieser lediglich zwingende Vorgaben des europäischen Gemeinschaftsrechts (Unionsrecht) umsetzt.302 In neueren Entscheidungen hat der EGMR seinen Standpunkt verdeutlicht.303 Zwar schließe die EMRK die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale oder supranationale Organisationen nicht aus. Dies ändere aber nichts an der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Einhaltung der Konventionsrechte. Die Konventionsstaaten müssten sicherstellen, dass die internationale oder supranationale Rechtsordnung einen der Konvention vergleichbaren Standard gewährleistet. Tun sie dies nicht, verletzt das Unterlassen die Konvention. Die konventionsrechtliche Verantwortlichkeit bleibe auch im Verhältnis zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) bestehen. Da die von der EMRK garantierten Rechte nicht theoretisch oder illusorisch („not theoretical and illusory/non pas théoriques et illusoires“), sondern praktisch und effektiv („practical and effective/concrètes et effectives“) gelten sollen und da die Wirkungen des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) denjenigen des innerstaatlichen Rechts entsprächen, müsse ein Mitgliedstaat die Konventionsrechte auch gegenüber Gemeinschaftsakten (Unionsakten) in vollem Umfange sichern.304 Allerdings hat der EGMR in seiner grundlegenden Bosphorus-Entscheidung305 (Fall 7) festgestellt, dass die Staaten ihre Verpflichtungen aus der Konvention erfüllen, solange der Grundrechtsschutz in der
300 Vgl namentlich EKMR, Entsch v 9.2.1990, 13258/87, ZaöRV 1990, 865 (867) – Melchers & Co/ Deutschland. Näher dazu Giegerich, ZaöRV 1990, 836 ff. 301 Zutreffend Lenz, EuZW 1999, 311 ff. 302 EGMR, Urt v 15.11.1996, 17862/91, § 30 – Cantoni/Frankreich. 303 Näher dazu Michl Die Überprüfung des Unionsrechts am Maßstab der EMRK, 2013. 304 Vgl Urt v 18.2.1999, 26083/94, NJW 1999, 1173 ff – Waite u Kennedy/Deutschland = JK 99, EMRK Art 6/2; Urt v 18.2.1999, 24833/94, NJW 1999, 3107 ff – Matthews/Vereinigtes Königreich = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2 (Fall 6). 305 EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 45036/98, NJW 2006, 197 ff – Bosphorus/Irland = JK 2006, EMRK Art 1/ 3 = EuGRZ 2007, 262 m Anm Winkler S 641; s auch Potteau, RTDE 2009, 697 ff. Ferner EGMR, Urt v 6.12.2012, 12323/11 – Michaud/Frankreich; dazu Vondung, EuR 2013, 688 ff; EGMR (GK), 23.5.2016, 17502/07 – Avotiņš/Lettland = EuZW 2016, 800 (nur LS) m Anm Ress; dazu zB auch Ait-Ouyahia, CDE 2016, 957 ff; Benoît-Rohmer, RTDH 2017, 391 ff; Milano, JCP 2016, 1522 ff; Picheral, RevMC 2016, 426 ff; Reith, ZfRV 2016, 218 ff.
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internationalen Organisation dem durch die EMRK gewährleisteten zumindest gleichwertig ist.306 Dieser muss dann auch durch den Staat und seine Organe, etwa unter Inanspruchnahme des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267 AEUV, in vollem Umfang genutzt worden sein.307 Trifft beides zu, liegt eine Vermutung für die Einhaltung der Anforderungen der EMRK durch den Staat vor (Rn 67). Gleichwertigkeit bedeutet dabei nicht Identität, sondern Vergleichbarkeit. Widerlegt ist die Gleichwertigkeitsvermutung, wenn der Schutz der Konventionsrechte „offensichtlich“ unzureichend ist.308 Für das Europäische Unionsrecht wird eine solche Vergleichbarkeit des Grundrechtsschutzes prinzipiell bejaht (Rn 67). Allerdings ist hierfür auch erforderlich, dass das unionsrechtliche Rechtsschutzsystem weiterhin effektiv ist und die Unionsgrundrechte auch im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung die Mitwirkung von Mitgliedstaaten an grundrechtswidrigen Handlungen anderer Mitgliedstaaten sicher verhindern.309 Vergleicht man die Zurücknahme der Kontrolldichte des EGMR mit der (ua) das 64 Verhältnis des sekundären Unionsrechts mit den Grundrechten des Grundgesetzes betreffenden Solange-Rspr des BVerfG310, zeigen sich zwar augenfällige Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Das BVerfG erachtet den Grundrechtsschutz im Hoheitsbereich der EU als nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des GG im Wesentlichen gleich. Deshalb will es seine Gerichtsbarkeit im Hinblick auf das sekundäre Unionsrecht nur noch ausüben, wenn dargelegt wird, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz auf der Ebene des Unionsrechts „generell“ nicht mehr gewährleistet ist, also unter die unabdingbare Mindestschwelle abgesunken ist (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 45). Diese Voraussetzung dürfte gerade nach Inkrafttreten der GRCh kaum jemals gegeben sein. Dagegen stellt der EGMR nicht auf einen strukturellen (generellen) Vergleich der EMRK-Rechte und Unionsgrundrechte, sondern auf den Einzelfall ab. Allerdings wird die Vermutung eines vergleichbaren Grundrechtsschutzes nur widerlegt, wenn der Schutz der Konventionsrechte „offensichtlich“ unzureichend ist. Damit nähert sich der EGMR doch wieder der Betrachtungsweise des BVerfG an. Die
306 Sudre EMRK, Rn 211 f ordnet diesen Punkt der Anwendbarkeit der Konvention ratione materiae zu. Dies ist indes nicht zwingend. 307 EGMR, Urt v 6.12.2012, 12323/11, §§ 113 ff – Michaud/Frankreich; EGMR (GK), 23.5.2016, 17502/07, §§ 105 ff – Avotiņš/Lettland. 308 Näher dazu EGMR, Entsch v 20.1.2009, 13645/05, EuGRZ 2011, 11 – Nederlandse Kokkelvisserij/ Niederlande. 309 S Germelmann/Gundel, BayVBl 2017, 649 (652) zum Fall der Verweigerung der gegenseitigen Anerkennung beim Europäischen Haftbefehl wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen in EuGH, Urt v 5.4.2016, verb Rs C‑404/15 u C‑659/15 PPU, Rn 85 ff – Aranyosi und Căldăraru. 310 Vgl BVerfGE 73, 339 (387); 102, 147 (161 ff); 123, 267 ff = JK 2009, GG Art 38 I/18.
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Unterschiede erklären sich aus den divergierenden Funktionen der Gerichtsbarkeiten und ihrer Rahmenbedingungen. Eine grundrechtliche Einzelfallkontrolle kann das BVerfG richtigerweise nicht durchführen; denn es müsste wegen des Grundrechtsverstoßes dem Rechtsakt und damit auch seiner unionsrechtlichen Basis in der deutschen Rechtsordnung die Geltung entziehen. Dies aber würde signifikant die Gefahr für die Einheit der Unionsrechtsordnung erhöhen und entgegen dem Wortlaut des Art 23 I 1 GG die Integration Deutschlands in die Union grundsätzlich in Frage stellen. Solches rechtfertigt sich nur bei einem strukturellen, übergreifenden Problem, nicht aber bei Meinungsdivergenzen zwischen den Höchstgerichten im Einzelfall. Aus diesem Grunde begegnet auch die verfehlte Ultra-vires-Rspr des BVerfG so durchgreifenden Bedenken (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 45). Dem EGMR steht die Möglichkeit nicht offen, Rechtsakten der Union in den nationalen Rechtsordnungen ihre Wirksamkeit zu nehmen; er kann lediglich Entschädigungen nach Art 41 EMRK zusprechen. Das erscheint als mit einer Einzelfallkontrolle vertretbar und begründet aus Sicht des normenhierarchisch vorrangigen Unionsrechts auch keine ernstliche Gefahr für seine einheitliche Anwendung. Auch wenn natürlich das generelle Problem eines konventionswidrigen Unionsrechtsakts damit nicht abschließend beseitigt ist und die Konventions- und Unionsmitgliedstaaten auf seine Änderung hinwirken müssten, wird es doch heute durch die Kohärenzklausel des Art 52 III GRCh abgemildert, weil die Sichtweise der EMRK im Rahmen des Unionsgrundrechtsschutzes zu berücksichtigen ist. 65 Wird die Vermutung der Gleichwertigkeit der EMRK-Rechte und der Unionsgrundrechte ausnahmsweise widerlegt, überprüft der EGMR indirekt über die Verantwortung der Mitgliedstaaten der EU für die Wahrung der Rechte aus der EMRK auch die Akte der EU.311 Für Mitgliedstaaten der EU führt die Verantwortung für die Einhaltung des EMRK-Standards auch gegenüber dem Unionsrecht dann zu Problemen. Folgen sie dem (nach Ansicht des EGMR) konventionswidrigen Unionsrecht, verletzen sie die EMRK. Lassen sie dagegen das Unionsrecht unangewendet, missachten sie dessen Vorrang gegenüber dem nationalen Recht. Zu einer endgültigen Lösung des Rangverhältnisses von EMRK und Unionsgrundrechten kommt es erst, wenn die EU der EMRK beitritt (Rn 31 f).312 Dann sind sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts uneingeschränkt an die EMRK gebunden. Jedoch dürfte die konventionsrechtliche Kontrolldichte nach der ratio decidendi der Bosphorus-Rspr des EGMR gemindert bleiben, zumal mit Inkrafttreten des 15. ZP EMRK (Rn 10) eine Subsidiaritätsklausel in die Präambel der EMRK eingefügt worden ist (vgl auch Rn 143). Diese Idee würde auch greifen, wenn nach
311 Skeptisch insofern Sudre EMRK, Rn 208: „une ‘adhésion forcée‘ de l’Union à la Convention“. 312 Ebenso Sudre EMRK, Rn 214 (aE). Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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einem Beitritt der Union die Grundrechtsüberprüfung im Wege eines Vorabbefassungsverfahrens zunächst dem EuGH übertragen würde.313 Lösung Fall 6: Die zulässige Individualbeschwerde ist begründet, wenn die Bf in einem durch die EMRK geschützten Recht verletzt ist. Als verletztes Recht kommt das durch Art 3 1. ZP EMRK garantierte Recht auf Teilnahme an freien Wahlen zu einer gesetzgebenden Körperschaft in Betracht. Die Verletzung setzt voraus, dass der Schutzbereich des genannten Rechts betroffen ist, sich die Betroffenheit als Beeinträchtigung bzw Eingriff darstellt und einer Rechtfertigung entbehrt. Der Schutzbereich kann nur beeinträchtigt sein, wenn die Bf zum Kreis der Berechtigten gehört (Art 1 EMRK bzw Spezialregelung in der jeweils betroffenen Norm), das Vereinigte Königreich Verpflichtungsadressat des Konventionsrechts ist (Anwendungsbereich ratione personae) und der räumliche Geltungsbereich der EMRK (ratione loci) bzw des 1. ZP EMRK betroffen ist. Ferner müssen die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift gegeben sein. Da Art 3 1. ZP EMRK das Wahlrecht grundsätzlich allen (erwachsenen) Personen zuerkennt, die der Hoheitsgewalt der gesetzgebenden Körperschaft unterliegen, ist die Bf als Berechtigte des Konventionsrechts anzusehen. Eine Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs für die Nichtdurchführung von Wahlen zum Europäischen Parlament in Gibraltar könnte hier daran scheitern, dass der zum damaligen Gemeinschaftsrecht gehörende Anhang II des Wahlaktes eine Wahl in Gibraltar ausschließt. Da die EG (EU) nicht Mitglied des Europarats war (und ist), unterliegen Gemeinschafts-(Unions-)akte nicht der Kontrolle durch den EGMR. Die Konventionsstaaten können sich durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale oder supranationale Gemeinschaften aber nicht der Verantwortung entziehen. Sie sind daher auch nach Übertragung für die Einhaltung des Konventionsschutzes verantwortlich. Somit wurde das Vereinigte Königreich nach wie vor durch Art 3 1. ZP EMRK verpflichtet. In räumlicher Hinsicht hat das Vereinigte Königreich mittels der Abgabe von Erklärungen iSd Art 56 EMRK, Art 4 1. ZP EMRK den Geltungsbereich der EMRK und des 1. ZP auch auf Gibraltar erstreckt. Schließlich ist das Europäische Parlament als gesetzgebende Körperschaft anzusehen, da es sich nicht notwendigerweise um ein nationales Parlament handeln muss und das Europäische Parlament aus Sicht des EGMR das zentrale Organ für die demokratische und politische Verantwortlichkeit der Gemeinschaft repräsentiert. Damit ist die Garantie des Art 3 1. ZP EMRK anwendbar und ihr Schutzbereich betroffen. Allerdings wird das Recht auf freie Wahlen nicht absolut gewährleistet, sondern ist Beschränkungen bzw Ausgestaltungen unterworfen. Diese dürfen das Wahlrecht aber nicht in seinem Wesensgehalt antasten. Da hier den Bürgern von Gibraltar jede Einflussmöglichkeit auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments genommen war, sah der EGMR den Wesensgehalt des zentralen demokratischen Rechts auf freie Wahlen verletzt. Daher hatte die Individualbeschwerde der Bf Erfolg. In Reaktion auf die Entscheidung des EGMR gewährte das Vereinigte Königreich auch den Personen mit Wohnsitz in Gibraltar das aktive und passive Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Der EuGH hat dies für vereinbar mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht gehalten.314
313 Zu einem entsprechenden Vorhaben im ersten Entwurf eines Beitrittsabkommens, das allerdings nicht den primärrechtlichen Anforderungen an die Letztentscheidungsbefugnis des EuGH genügte, s Art 3 VI des Beitrittsübereinkommens-Entwurfs und dazu EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 90 ff, 236 ff – Beitritt der Union zur EMRK. 314 EuGH, Rs C-145/04, Slg 2006, I-7917, Rn 59 ff – Spanien/Vereinigtes Königreich.
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Lösung Fall 7: Die zulässige Beschwerde ist begründet, wenn die Bf durch die Beschlagnahme des Flugzeugs in ihrem Recht auf Eigentum aus Art 1 des 1. ZP EMRK verletzt worden ist. Diese Bestimmung ist im vorliegenden Fall ratione temporis, ratione personae, ratione materiae und ratione loci anwendbar. Insb lag mit der Beschlagnahme hier ein Handeln Irlands vor, welches zwar unionsrechtlich determiniert war (dazu sogleich), welches aber nach Art 1 EMRK als Ausübung von Hoheitsgewalt auf dem irischen Territorium der Bindung an die Konvention unterlag. Die Beschlagnahme des Flugzeugs greift in das konventionsrechtlich geschützte Eigentumsrecht der Bf ein. Der Eingriff ist nach Art 1 II 1. ZP EMRK nur gerechtfertigt, wenn eine gesetzliche Grundlage gegeben ist und ein gerechter Ausgleich zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses und den Eigentumsinteressen der Bf hergestellt wurde. Rechtsgrundlage für den Eingriff ist die VO Nr 990/93. Da eine VO nach Art 249 II EGV (heute Art 288 II AEUV) allgemeine Geltung hat und in allen ihren Teilen verbindlich unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, ist sie einerseits eine taugliche Rechtsgrundlage. Andererseits war durch sie Irland gemeinschaftsrechtlich (unionsrechtlich) verpflichtet, die VO anzuwenden. Dies ergab sich auch aus der Vorabentscheidung des EuGH. Das mit der Beschlagnahme verfolgte Allgemeininteresse lag für Irland somit in der Erfüllung der sich aus der Mitgliedschaft in der EG (EU) ergebenden rechtlichen Verpflichtungen. Hierbei handelt es sich um ein berechtigtes Interesse von erheblichem Gewicht. Die EMRK verbietet es den Konventionsstaaten nicht, Hoheitsbefugnisse auf eine internationale oder supranationale Organisation zu übertragen. Andererseits bleibt jeder Konventionsstaat nach Art 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen seiner Organe verantwortlich, unabhängig davon, ob ein solches Handeln oder Unterlassen auf innerstaatliches Recht oder auf völkerrechtliche Verpflichtungen zurückgeht. Deshalb bleibt jeder Konventionsstaat auch dann nach der Konvention verantwortlich, wenn er vertraglich Verpflichtungen gegenüber einer internationalen Organisation nachkommt, die er nach Inkrafttreten der Konvention eingegangen ist. Staatliches Handeln in Erfüllung solcher Verpflichtungen ist jedoch solange gerechtfertigt, wie die jeweilige Organisation die Grundrechte schützt – und das in einer Art, die wenigstens als gleichwertig zu dem von der Konvention gewährten Schutz anzusehen ist. Gleichwertig meint dabei vergleichbar, nicht identisch. Wenn sich zeigt, dass die internationale Organisation einen gleichwertigen Grundrechtsschutz bietet, gilt die Vermutung, dass sich ein Staat den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, wenn er lediglich den rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich für ihn aus seiner Mitgliedschaft in der Organisation ergeben (hat er einen eigenen Entscheidungsspielraum, ist er diesbezüglich vollständig an die EMRK gebunden; ein solcher Fall lag hier nicht vor). Diese Vermutung kann wiederlegt werden, wenn in einem bestimmten Fall anzunehmen ist, dass der Schutz von Konventionsrechten offensichtlich unzureichend ist. Dann muss das Interesse an internationaler Zusammenarbeit wegen der Rolle der Konvention als ein „Verfassungsinstrument des europäischen ordre public“ im Bereich der Menschenrechte zurückstehen. Die Gründungsverträge der EG (EU) enthielten ursprünglich keine ausdrücklichen Bestimmungen zum Schutz der Grundrechte. Später hat der EuGH allerdings anerkannt, dass diese Rechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung er zu sichern hat. Bei der Ausformung der ungeschriebenen Unionsgrundrechte hat sich der EuGH im besonderen Maße an der EMRK als Rechtserkenntnisquelle orientiert. Heute beruht der unionsrechtliche Grundrechtsschutz zusätzlich auf der Grundrechtecharta der Union, die auf ein der EMRK vergleichbares Schutzniveau ausgerichtet ist (Art 52 III, 53 GRCh; näher → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 36). Die Wirksamkeit materieller Menschenrechtsgarantien hängt allerdings von den zur Sicherstellung ihrer Einhaltung vorgesehenen Kontrollmechanismen ab. Zwar weist das EU-Recht bislang keine Grundrechtsbeschwerde für Individuen auf. Die Verklam-
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merung von innerstaatlichen Rechtsbehelfen, in denen wegen der Grundsätze der unmittelbaren Anwendbarkeit und des Anwendungsvorrangs die Charta-Grundrechte direkt von den nationalen Gerichten durchgesetzt werden müssen, und Rechtsschutz vor dem EuGH (va durch das Vorabentscheidungsverfahren, aber auch durch die Nichtigkeitsklage (näher → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 147)) ermöglicht es den Bürgern jedoch, ihren Grundrechtsschutz in effektiver Weise gerichtlich durchzusetzen. Deshalb ist der EGMR zu der Auffassung gelangt, dass der im EG-Recht (EU-Recht) vorgesehene Schutz der Grundrechte als dem der Konvention „gleichwertig“ angesehen werden kann. Folglich ist zu vermuten, dass sich Irland den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, da es die rechtlichen Verpflichtungen erfüllte, denen es als Mitglied der EG (EU) nachzukommen hatte. Auch in Anbetracht der vorliegenden Vorabentscheidung des EuGH ist es hinsichtlich der Einhaltung der Grundrechte zu keinem Versagen der beschriebenen Kontrollmechanismen gekommen. Da die Beschlagnahme somit nicht das Eigentumsgrundrecht des Bf aus Art 1 des 1. ZP EMRK verletzt hat, ist die Individualbeschwerde als unbegründet abgewiesen worden.
3. Privatpersonen Entgegen einer mitunter vertretenen Ansicht315 entfalten die Konventionsrechte 68 keine unmittelbare Wirkung gegenüber Privatpersonen.316 Dies folgt bereits aus Art 1 EMRK und wird durch die Bestimmungen der Art 33 und 34 EMRK bestätigt, weil diese nur Beschwerden wegen behaupteter Verletzungen einer „Hohen Vertragspartei“, also eines Konventionsstaats, nicht aber wegen Verletzungen von Individuen vorsehen. Allerdings wirken nicht wenige Konventionsrechte – wie etwa das Verbot der Leibeigenschaft (Art 4 I EMRK) sowie das Recht auf Eheschließung (Art 12 EMRK) oder die Gleichberechtigung der Ehegatten (Art 5 7. ZP EMRK) – auch und gerade auf das Privatrecht ein.317 Ferner lassen sich den Konventionsrechten Ansprüche auf Gewährung staatlichen Schutzes vor rechtswidrigen Eingriffen Privater entnehmen (Rn 35). In erster Linie ist also der Staat verpflichtet, Gesetze zu erlassen, die ein konventionswidriges Verhalten Dritter nicht zulassen.318 Jedenfalls in einem Fall ist der EGMR weiter gegangen und hat eine unmittelbare Verantwortung eines Konventionsstaates für eine körperliche Bestrafung durch den Direktor einer Privatschule angenommen, also nicht an ein staatliches, sondern privates Ver-
315 BGHZ 27, 284 (285 f). Vgl demgegenüber zB Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S 900 f, 906; Röben in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/ GG, Kap 5 Rn 146 ff. 316 Zutr v Arnauld VR, Rn 651 mwN. 317 Vgl zu den Einwirkungen der EMRK auf das Privatrecht Rebhahn, AcP 210 (2010), 489 ff; ferner Sudre EMRK, Rn 165 ff. 318 Vgl EGMR, Urt v 13.8.1981, 7601/76 u 7806/77, EuGRZ 1981, 559 – Young, James u Webster/Vereinigtes Königreich.
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halten angeknüpft, dieses aber dem Staat zugerechnet.319 Hinsichtlich der fehlenden unmittelbaren Drittwirkung unterscheidet sich die Konvention von der EUGRCh (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 98 f).
VI. Räumlicher Geltungsbereich der EMRK Fall 8: (EGMR (GK), Entsch v 12.12.2001, 52207/99, NJW 2003, 413 ff – Banković ua/Belgien ua) Mehrere Bf haben sich unter Berufung auf Art 2 EMRK und weiterer Vorschriften der EMRK mit einer gegen die der NATO angehörenden Konventionsstaaten gerichteten Individualbeschwerde an den EGMR gewandt, weil NATO-Luftverbände einen Fernsehsender der ehemaligen Republik Jugoslawien bombardiert haben und hierbei Angehörige der Bf zu Tode gekommen sind.
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Fall 9: (EGMR (GK), Entsch v 2.5.2007, 71412/01 u 78166/01 NVwZ 2008, 645 ff – Behrami u Behrami/Frankreich u Saramati/Deutschland, Frankreich u Norwegen) Bf A und B aus dem Kosovo haben sich an den EGMR gewandt. A rügt die Verletzung des Art 2 EMRK, weil ein französischer Offizier der (auf der Grundlage einer Sicherheitsrats-Resolution der Vereinten Nationen tätig gewordenen) Internationalen Schutztruppe (KFOR) eine nicht explodierte Bombe nicht entschärft habe und dadurch sein Sohn getötet worden ist. B macht geltend, dass er zu Unrecht auf Befehl eines norwegischen Offiziers der Schutztruppe festgenommen wurde und dies gegen Art 5 EMRK verstoßen habe.
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Abwandlung: (EGMR (GK), Urt v 7.7.2011, 27021/08 – Al-Jedda/Vereinigtes Königreich) Der Bf reiste nach dem Sturz Saddam Husseins in den Irak, wurde von US-Soldaten wegen des Verdachts terroristischer Aktivitäten verhaftet, in ein britisches Militärgefängnis überstellt und drei Jahre festgehalten, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben wurde. Nach Erschöpfung des Rechtswegs rügte er vor dem EGMR eine Verletzung seiner Rechte aus Art 5 EMRK. Das Vereinigte Königreich lehnte jede Verantwortlichkeit ab, weil die Vereinten Nationen mit den Resolutionen 1483 und 1511 die Letztverantwortlichkeit für das Verhalten der Truppen im Irak übernommen habe.
72 Der räumliche Geltungsbereich der EMRK hat gerade in jüngerer Zeit im Zusam-
menhang mit dem Tätigwerden der Konventionsstaaten außerhalb ihres Territoriums, wie etwa im Rahmen von Auslandseinsätzen ihrer Streitkräfte, grundlegende Fragen aufgeworfen. Anknüpfungspunkt ist Art 1 EMRK, der die Verpflichtung der
319 EGMR, Urt v 25.3.1993, 13134/87, §§ 27 f – Costello-Roberts/Vereinigtes Königreich. Zwar fehlte in England ein Gesetz, welches die körperliche Bestrafung von Schülern verbot, so dass der EGMR auf die Schutzpflicht des Staates hätte abstellen können. Er hat dies aber nicht getan. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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Konventionsstaaten zur Beachtung der EMRK an die Ausübung von Hoheitsgewalt („jurisdiction/juridiction“) knüpft. In der Regel übt ein Staat Hoheitsgewalt auf dem eigenen Territorium aus.320 Daher ist auch nach der Rspr des EGMR Hoheitsgewalt iSd Art 1 EMRK idR territorial zu verstehen, da extraterritoriales Handeln eines Staates typischerweise keine Ausübung von Hoheitsgewalt darstellt. Die EMRK sei nicht dazu gedacht, auf das Verhalten von Vertragsstaaten weltweit angewendet zu werden.321 Jedoch greift der räumliche Geltungsbereich der EMRK in Einzelfällen weiter, da er einen effektiven Schutz vor jeglicher staatlichen Hoheitsgewalt unabhängig von ihrem Wirkungsort sicherstellen muss. So unterstehen die diplomatischen und konsularischen Vertretungen oder die staatlichen Schiffe und Flugzeuge auch außerhalb des eigenen Territoriums der Hoheitsgewalt des Staates.322 Allein die Beantragung von Asyl in einer diplomatischen Vertretung des Zielstaates begründet aber keine Anwendbarkeit iSd Art 1 EMRK.323 Anderes hat der EGMR für das Recht auf Einreise nach Art 3 II 4. ZP EMRK angenommen, wenn der Betroffene sich fern der Landesgrenze im Ausland und ohne eigene Rückkehrmöglichkeit aufhält.324 Eine Bindung an die Konvention kommt auch in Betracht, wenn ein Staat die (effektive) Kontrolle über ein außerhalb seiner Grenzen gelegenes Gebiet ausübt, Befehlsgewalt wahrnimmt (durch militärische Besetzung325 oder kraft Zustimmung, Aufforderung oder Einwilligung der Regierung des betroffenen Staates326) oder extraterritoriale Gewalt anwendet.327
320 Vgl zur territorialen Souveränität allg Gornig in: ders/Horn (Hrsg), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, 2016, S 35 ff. 321 EGMR (GK), Entsch v 12.12.2001, 52207/99, NJW 2003, 413 (417), § 80 – Banković ua/Belgien ua (Fall 8). 322 Zu den Rspr-Nachw vgl Johann in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 Rn 21. 323 EGMR (GK), Entsch v 5.5.2020, 3599/18 – M.N. ua/Belgien. 324 EGMR (GK), Urt v 14.9.2022, 24384/19 u 44234/20, § 213 – H.F. ua/Frankreich. 325 EGMR, Urt v 23.3.1995, 15318/89, EuGRZ 1997, 555, § 52 – Loizidou/Türkei (Verantwortlichkeit der Türkei für das Verhalten in Nordzypern). Für den Sonderfall der (aus Sicht der EKMR nicht nach Verantwortungsbereichen aufspaltbaren) Vier-Mächte-Verwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg EKMR, Entsch v 28.5.1975, 6231/73, Ilse Heß/Vereinigtes Königreich. 326 Vgl EKMR (Pl), Entsch v 14.7.1977, 7349/76, DR 9, 57, § 2 – X u Y/Schweiz (Ausübung fremdenpolizeilicher Tätigkeit der Schweiz in Liechtenstein auf der Grundlage eines Abkommens). 327 Vgl zusammenfassend m Nachw zur Rspr Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 14 ff. Näher dazu insbes EGMR (GK), Entsch v 12.12.2001, 52207/99, NJW 2003, 413 ff – Banković ua/Belgien ua (Fall 8); Urt v 8.7.2004, 48787/99, NJW 2005, 1849 ff – Ilaşcu ua/Moldau u Russland (Verantwortlichkeit der Russischen Föderation für ein Gebiet von Moldawien); Urt v 16.11.2004, 31821/96, §§ 66 ff – Issa ua/ Türkei (behauptete Menschenrechtsverletzungen im Rahmen einer türlischen Militäraktion im Norden des Irak); EGMR, Entsch v 14.3.2006, 23276/04, NJW 2006, 2971 f – Saddam Hussein/Albanien ua; ferner den Fall 9. Tendenziell scheint der EGMR nach dem gemeinsamen Fokus geringere Anfor
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In jüngerer Zeit hat die Rspr zudem Fälle anerkannt, in denen der Konventionsstaat zwar keine effektive Kontrolle über ein Territorium innehatte, wohl aber tatsächliche Kontrolle über eine Einzelperson im Ausland ausübte, um diese zu schädigen; hiermit wurden insbesondere völkerrechtswidrige Handlungen von Staaten wie Mordanschläge im Ausland erfasst.328 Bei Festnahmen bzw Entführungen von Personen aus dem Ausland, die der Staat anschließend in seinen Einflussbereich bringt, wird dementsprechend die tatsächliche Gewalt über die festgenommene Person als ausreichend erachtet.329 Des Weiteren bleibt die Verantwortlichkeit eines Konventionsstaates auch dann bestehen, wenn er eine Person ausweist oder an einen anderen Staat ausliefert, die menschenrechtsverletzenden Maßnahmen jedoch allein in dem aufnehmenden Land erfolgen oder zu befürchten sind.330 Schließlich ermöglichen es die „Kolonialklausel“ des Art 56 EMRK und die entsprechenden Bestimmungen der Zusatzprotokolle (Art 4 1. ZP EMRK, Art 5 4. ZP EMRK, Art 5 6. ZP EMRK, Art 6 7. ZP EMRK) den Konventionsstaaten, die Konvention einschließlich ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten auf Gebiete auszudehnen, für deren internationale Beziehungen sie verantwortlich sind (zB Niederländische Antillen, Falklandinseln usw).331 Im Einzelnen lässt die Rspr nicht immer eine eindeutige Linie erkennen; oftmals erscheinen Wertungsgesichtspunkte maßgeblich, die allerdings in Richtung einer intensiveren Kontrolle auch extraterritorialen staatlichen Handelns zu deuten sind.332 74 Vor allem bei militärischen Einsätzen in internationalen oder nicht internationalen Konflikten hat der EGMR zunächst eine restriktive Haltung im Hinblick auf die Geltung der EMRK ratione personae eingenommen – sei es, dass eine effektive Kontrolle verneint wurde (Fall 8) oder die Anwendung der EMRK wegen des Handelns unter dem Dach internationaler Organisationen von vornherein ausgeschlossen wurde (Fall 9). Tendenziell scheint er davon in neuerer Zeit zu Recht abzurücken (Abwandlung Fall 9) und eine personelle Geltung der Konvention für
derungen an die Ausübung von Hoheitsgewalt zu stellen, wenn das Gebiet eines anderen Konventionsstaates betroffen ist; vgl mit Blick auf den Banković-Fall auch Sudre EMRK, Rn 210. 328 EGMR (GK), Urt v 7.7.2011, 55721/07, §§ 133 ff – Al-Skeini/Vereinigtes Königreich; Urt v 21.1.2021, 38263/08, § 115 – Georgien/Russland (Nr 2); Urt v 21.9.2021, 20914/07, §§ 125 ff – Carter/Russland. 329 Vgl EGMR, Urt v 12.3.2003, 46221/99, EuGRZ 2003, 472 – Öcalan/Türkei (Verhaftung durch türkische Beamte in Kenia); EGMR (GK), Urt v 12.5.2005, 46221/99, NVwZ 2006, 1267, § 210 – Öcalan/Türkei. 330 EGMR (Pl), Urt v 7.7.1989, 14038/88, EuGRZ 1989, 314, § 91 – Soering/Vereinigtes Königreich. 331 Andererseits ist das Individualbeschwerderecht im Hinblick auf das Hoheitsgebiet der Isle of Man zeitweilig nicht anerkannt worden. Vgl näher dazu Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 63 Rn 4 f. 332 Vgl auch Sudre EMRK, Rn 206. Vgl für Kampfeinsätze monographisch etwa Biehl Die Europäische Menschenrechtskonvention in internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten, 2020, S 47 ff.
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militärisches Handeln „out of area“ anzunehmen. Die Voraussetzungen für eine Derogation von den Konventionsverpflichtungen gem Art 15 EMRK (Rn 89 f) liegen hier idR nicht vor. Es greift dann die Frage nach der Reichweite der Anwendbarkeit ratione loci ein. Entscheidend ist stets das Kriterium effektiver Kontrolle und damit die Frage, wann eine solche anzunehmen ist. Die Zurückhaltung des EGMR im Falle bloßer Lufthoheit, die ausschließt, dass Bombardements an der EMRK gemessen werden können (Fall 8), ist jedenfalls fragwürdig und wird der auch ansonsten gebotenen dynamischen Auslegung der EMRK (Rn 49) nicht gerecht.333 Gerade in in jüngster Zeit haben sich Formen militärischer Auseinandersetzungen so stark gewandelt, dass klassische Landkriege mit Besetzungen nicht mehr die Regel darstellen. Dies erfordert eine Anpassung der menschenrechtlichen Schutzgarantien, die auch die temporäre und gemeinschaftliche Kontrolle von fremdem Territorium der mitgliedstaatlichen Verantwortlichkeit nach dem EMRK unterwerfen sollte.334 Der Kern der Beschränkung im Falle militärischer Auseinandersetzungen sollte heute durch die auf konkrete staatliche Sicherheitsinteressen abstellende Notstandsklausel des Art 15 EMRK bewirkt werden und nicht durch einen vollständigen Ausschluss des Anwendungsbereichs der Konvention. Auch eine Kontrolle des Luftraums mit jederzeitiger Eingriffsmöglichkeit stellt eine Form durchgreifender Kontrolle dar. Denn die effektive Kontrolle muss keineswegs eine ausschließliche sein. Auch die Fernsteuerung von Drohnen lässt sich so erfassen. Auch die Anwendbarkeit der Konvention bei dem Einsatz von Streitkräften im Namen der Vereinten Nationen sollte richtigerweise nicht a priori verneint werden, wobei hier sowohl die territoriale Geltung der EMRK (ratione loci) als auch das Vorliegen eines richtigen Adressaten (Anwendbarkeit ratione personae) fraglich sind (Fall 9). Für die territoriale Anwendbarkeit gilt bezüglich der effektiven Kontrolle das soeben Gesagte. Was die Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten als Adressaten angeht, ist nach den oben angeführten Maßstäben (Rn 57 ff) zu differenzieren. Ihre Verantwortlichkeit ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, wenn sich die Vorgaben aus den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und der EMRK nicht widersprechen, weil der Sicherheitsrat lediglich eine nicht nach Art 25 UN-Charta bindende Empfehlung abgegeben hat oder den Staaten eigenverantwortlich zu füllende Handlungsspielräume belassen worden sind (Abwandlung Fall 9).335 Bei ver
333 Vgl auch Surholt Amtshaftung für Handlungen in Auslandseinsätzen der Bundeswehr, 2014, S 265 ff. 334 Vgl auch EGMR (GK), Urt v 7.7.2011, 27021/08 – Al-Jedda/Vereinigtes Königreich; Urt v 7.7.2011, 55721/07 – Al-Skeini/Vereinigtes Königreich; dazu Zgonec-Rožej, AJIL 106 (2012), 131 ff; Panoussis, RTDH 2012, 647 ff; ferner EGMR, Entsch v 30.6.2009, 61498/08 – Al-Saadoon u Mufdhi/Vereinigtes Königreich. 335 Vgl auch Surholt Amtshaftung für Handlungen in Auslandseinsätzen der Bundeswehr, S 327 ff.
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bindlichen Resolutionen des Sicherheitsrats erscheint eine Orientierung an der Rspr des EuGH angemessen, die einen gleichwertigen Grundrechtsschutz auf UNEbene erfordert (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 41).
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Lösung Fall 8: Problematisch sind hier sowohl die Anwendbarkeit der EMRK ratione personae, da der Mitgliedstaat im Rahmen einer internationalen militärischen Aktion der NATO handelte, als auch die Anwendbarkeit ratione loci. Der EGMR stellte auf den letzteren Aspekt ab und hat die Beschwerden als unzulässig abgewiesen, weil für die angegriffenen Handlungen der beklagten Staaten eine Verantwortlichkeit nach der Konvention nicht bestehe. Extraterritoriale Handlungen unterfielen ratione loci nur dann dem Begriff der Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK, wenn über das fremde Gebiet eine effektive Kontrolle ausgeübt werde. Dies treffe auf eine bloße Luftherrschaft nicht zu. Dies erscheint indes nicht zwingend; zur gegenteiligen Auffassung vgl die Ausführungen oben im Text.
Lösung Fall 9: Fraglich ist die Anwendbarkeit der EMRK ratione personae. Der EGMR hat die Beschwerden aus diesem Grund (nicht ratione loci – vgl zu dieser Unterscheidung Rn 55 ff, 69 ff) als unzulässig angesehen. Das umstrittene Vorgehen der KFOR sei allein den Vereinten Nationen zuzurechnen, weil diese – nicht die Heimatstaaten der Soldaten, die der Konvention ratione personae unterlagen – die Kontrolle über die Handlung der Soldaten gehabt habe. Einen Spielraum habe es für diese als Amtswalter ihrer Heimatstaaten auch nicht gegeben. Auch der Umstand, dass sich die Konventionsstaaten nicht einfach durch Übertragung ihrer Hoheitsrechte auf eine internationale Organisation ihrer Verantwortung entziehen könnten (vgl Fall 7), soll hier zu keinem anderen Ergebnis führen. Zum einen komme dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine einzigartige Verantwortung zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu, was eine Kontrolle von Maßnahmen aufgrund von Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen ausschließe. Zum anderen ergebe sich aus Art 103 UN-Charta ein Vorrang der Charta vor anderen Verpflichtungen. Diese Argumentation des EGMR ist nicht zweifelsfrei. Zum einen ließe sich die Auffassung vertreten, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen Teil seiner „einzigartigen Verantwortung“ an die Staaten abgibt, wenn er zu Militäreinsätzen ermächtigt, so dass Raum für die Anwendbarkeit der Konvention ratione personae gegeben wäre. Aber auch wenn man dies ablehnt (und zugleich die effektive Kontrolle der Konventionsstaaten ratione loci zweifelhaft wäre), muss zum anderen doch auch im Falle eines Ausscheidens der Handlung der Soldaten als Anknüpfungspunkt für eine konventionsrechtliche Haftung der Herkunftsstaaten ihre Mitwirkung an den Vereinten Nationen an sich in den Blick genommen werden. Dieser Organisation haben die Mitgliedstaaten Hoheitsgewalt übertragen (vgl va Art 25 UN-Charta). Dennoch wird gegen Maßnahmen der Vereinten Nationen kein dem EMRK vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährt, weil es weder einen für den Sicherheitsrat verbindlichen Grundrechtskatalog noch eine dem EGMR vergleichbare Gerichtsinstanz gibt. Sodann werden die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Kapitel VII der Vereinten Nationen zu militärischen Maßnahmen ermächtigt, aber nicht verpflichtet, so dass hier ebenfalls Entscheidungsspielräume bestehen. Des Weiteren setzt Art 103 der UN-Charta einen Widerspruch voraus; eine konventionsfreundliche Anwendung ihrer Verpflichtungen aus der UNCharta verlangt die EMRK von den Mitgliedstaaten. Die besseren Gründe sprechen für eine Annahme der Anwendbarkeit der EMRK ratione personae. Folgt man dem EGMR, könnten Maßnahmen im Namen der Vereinten Nationen nämlich praktisch niemals an der EMRK gemessen werden.
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Lösung Abwandlung Fall 9: Fraglich sind hier sowohl die Geltung der EMRK ratione loci als auch ratione personae. Da der UN-Sicherheitsrat im Irak zwischen 2004 und 2007 weder effektive Kontrolle noch letzte Verantwortung und Kontrolle über das Verhalten britischer Truppen im Irak gehabt hat, hat der EGMR festgestellt, dass das Vereinigte Königreich, welche zumindest temporär eine effektive Kontrolle über das betreffende Gebiet ausübte, und nicht die Vereinten Nationen für die Inhaftierung ratione loci verantwortlich war. Untersucht wird sodann, ob sich ratione personae aus den Resolutionen 1483 und 1511 ein Dispens von Art 5 EMRK ergibt, da das Vereinigte Königreich durch den Sicherheitsrat zu seinem Handeln völkerrechtlich nach Art 25, 103 UN-Charta gezwungen war. Dies wird verneint, weil der Sicherheitsrat nicht beabsichtigt habe, die Staaten in irgendeiner Weise zu einem Bruch grundlegender Menschenrechte zu verpflichten und die Resolutionen den beteiligten Staaten Spielräume bei der Wahl der Mittel gelassen habe. Da das Vereinigte Königreich in der Sache (ratione materiae) im Anwendungsbereich der Konvention handelte, auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben waren und eine Rechtfertigung für den Eingriff in Art 5 EMRK nicht bestand, lag eine Verletzung dieses Konventionsrechts vor und war die Beschwerde erfolgreich.
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VII. Zeitliche Geltung der EMRK Da die Konvention keine rückwirkende Kraft hat, werden die Konventionsstaaten 78 erst mit dem Beitritt zur Konvention und nur für die Dauer des Beitritts gebunden, sofern kein zulässiger Vorbehalt iSd Art 57 EMRK angebracht wurde. Für Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland, die vor dem Inkrafttreten der Konvention am 3.9.1953 erlassen worden sind, besteht somit keine Konventionsbindung.336 Allerdings müssen sich vor Inkrafttreten der Konvention erlassene Maßnahmen dann auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention hin überprüfen lassen, wenn sie fortdauernde Auswirkungen zeitigen.337 Nach dem Ausscheiden aus der der Konvention nach Art 58 EMRK besteht abseits von der zu beachtenden Kündigungsfrist des Abs 1 nach Maßgabe des Abs 2 eine fortbestehende Verantwortlichkeit aufgrund der Konvention für Handlungen, die während ihrer Geltung begangen worden sind.338 Die Nicht336 Vgl EGMR, Entsch v 3.7.2007, 45563/04, NJW 2009, 492 ff – Associazione Nazionale Reduci ua/ Deutschland (Entschädigung für Zwangsarbeit italienischer Kriegsgefangener); Entsch v 31.5.2011, 24120/06, EuGRZ 2011, 477 ff – Sfountouris ua/Deutschland (Entschädigung für Nachkommen der Opfer des Massakers der Waffen-SS in Distomo) = JK 2012, EMRK Art 1 1. ZP/4; zur Staatenimmunität in solchen Fällen vgl IGH, Urt v 3.2.2012, ICJ Rep 2012, 99 – Jurisdictional Immunities of the State (Germany v Italy) = JK 2012, IGH Germany v. Italy/1. 337 Vgl dazu und zu ggf eigenständigen, auch später noch erwachsenden Pflichten wie verfahrensrechtlichen Aufklärungs- und Dokumentationspflichten Bantekas/Oette International Human Rights Law and Practice, S 318 f. 338 Vgl Sudre EMRK, Rn 46 mit dem Hinweis, dass eine gesonderte Austrittsregel für die Gewährleistungen der Zusatzprotokolle fehlt.
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beachtung der diesbezüglichen Verurteilungen durch den EGMR, dessen Gerichtsbarkeit nach dem weiten Wortlaut des Art 58 II EMRK („Verpflichtungen aus dieser Konvention“) für diese Handlungen ebenfalls weiterbesteht, stellt damit weiterhin einen Völkerrechtsverstoß dar.
VIII. Gewährleistungen und Beschränkungen der Konventionsrechte 1. Stufen der Konventionsrechtsprüfung 79 In Deutschland wird eine Grundrechtsprüfung üblicherweise in drei Stufen vor-
genommen, indem zwischen Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung unterschieden wird.339 Dieser Prüfungsaufbau ist für die Abwehrfunktion der Freiheitsrechte entwickelt worden und hat sich in Rspr und Literatur durchgesetzt, auch wenn er gewisse Erklärungsschwächen in den Bereichen der Ausgestaltung von rechts- bzw normgeprägten Grundrechten (wie etwa der Vereinigungsfreiheit oder dem Eigentumsgrundrecht) aufweist.340 Auch wird das Prüfungsschema mit gewissen Modifikationen341 zumeist auch auf die anderen Grundrechtsgewährleistungen, also die Gleichheits-, Leistungs-, Staatsbürger- und Verfahrensrechte, angewandt. Letztlich handelt es sich bei dem Prüfungsaufbau um ein taugliches Instrument für eine im Regelfall logische und zweckmäßige Abfolge der Bewältigung von grundrechtlichen Problemstellungen. Ohnehin darf ein Prüfungsschema nicht schematisch angewendet werden. Für die Überprüfung von EMRK-Verletzungen fehlt es bislang an einem ausgefeilten, einheitlich zugrunde gelegten Raster. Daher erscheint der in Deutschland übliche Prüfungsaufbau jedenfalls im Grundsatz, wenn auch mit einigen konventionsspezifischen Modifikationen als übertragbar,342 da die meisten zu behandelnden Fragestellungen auch auf der EMRK-Ebene in vergleichbarer Weise auftreten. Jedenfalls widerspricht der Aufbau dem Normtext nicht (vgl Rn 85). Ebenfalls vertretbar ist es, zweistufig vorzugehen, dh zunächst danach zu fragen, ob der Gewährleistungsgehalt der Konventionsrechte beeinträchtigt wurde, und sodann zu prüfen, ob die Beeinträchtigung gerechtfertigt ist.343 Für EMRK-Fälle ist stets die Anwendbarkeit der Konvention gesondert zu prüfen. In sachlicher
339 Vgl etwa Jarass in: ders/Pieroth, GG, Vorb vor Art 1 Rn 14 ff; Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 285 ff. 340 Vgl für eine Kritik zB Krebs in: Merten/Papier, HGR, Bd II, 2006, § 31 Rn 123 ff. 341 Vgl Jarass in: ders/Pieroth, GG, Vorb vor Art 1 Rn 15 f. 342 Ebenso Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 1 ff; Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 1 ff. 343 IdS v Arnauld VR, Rn 657.
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Hinsicht sind tendenziell Schutzbereich und Eingriff weit zu fassen; dafür werden den Konventionsstaaten auf der Rechtfertigungsebene in bestimmten Konstellationen erhebliche Gestaltungsspielräume eingeräumt (vgl Rn 101). Für Gleichheitsrechte bietet sich wie in Deutschland ein abweichender Prüfungsaufbau an. Geht es zB nur um die Frage, ob gegen das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK verstoßen worden ist, reicht es aus (nach Feststellung der Anwendbarkeit der Konventionsrechte) zu prüfen, ob eine (akzessorische) Ungleichbehandlung bezogen auf ein EMRK-Recht vorliegt und ob sich diese rechtfertigen lässt. Bei Verfahrens- und Justizrechten kann man darauf abstellen, ob das Verfahrens- bzw Justizrecht anwendbar ist, um sodann den Inhalt seines Schutzgehalts zu definieren und zu prüfen, ob das hiernach gebotene Verfahren beachtet wurde; Rechtfertigungsgründe für Verstöße finden sich bei derart normgeprägten Grundrechten häufig nicht. Im Falle absolut geschützter Rechte wie dem Verbot der Folter344 (Art 3 EMRK) steht mit dem Eingriff in den Schutzbereich bereits die Verletzung fest.345
2. Anwendbarkeit der Konvention Ein staatliches Verhalten kann nur an den Verbürgungen der EMRK gemessen wer- 80 den, wenn diese auf den zu beurteilenden Sachverhalt anwendbar sind. Beides ist nicht selbstverständlich, da die EMRK keinen umfassenden Grundrechtsschutz gewährt und nicht alle EMRK-Bestimmungen in gleichem Maße Bindungswirkungen entfalten. Zunächst ist für die Einschlägigkeit der Konvention entscheidend, dass sie in zeitlicher sowie räumlicher Hinsicht anwendbar ist (Rn 72 ff, 78 ff) und sich an den richtigen Adressaten wendet (Rn 55 ff). Hier sind ua die soeben erörterten Fragen einer effektiven Kontrolle bei extraterritorialem Handeln zu beantworten. Sodann muss die jeweils geltend gemachte oder sachlich in Betracht kommende 81 Konventionsgewährleistung in dem betreffenden Konventionsstaat rechtliche Wirkung entfalten. Dabei gilt die EMRK selbst im Grundsatz für alle Konventionsstaaten in gleicher Weise. Die Zusatzprotokolle hingegen treten zum einen nur in Kraft, wenn sie von einer ausreichenden Zahl von Konventionsstaaten ratifiziert worden sind; welche Zahl hierfür jeweils erforderlich ist, bestimmt das Zusatzprotokoll selbst. Sie verpflichten zum anderen nach ihrem Inkrafttreten dann nur diejenigen Staaten, die sie ratifiziert haben. Dies folgt aus dem Grundsatz der Relativität völkerrechtlicher Vertragsbeziehungen.346 Bestimmt das Zusatzprotokoll, dass eine Ra
344 → Schorkopf § 3 Rn 25. 345 Vgl auch Marauhn/Mengeler in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 7 Rn 19. 346 Vgl Art 34 WVK; Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 15 Rn 23 ff.
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tifikation durch alle Konventionsstaaten erforderlich ist (etwa, weil es den Text der Konvention modifiziert), tritt es erst bei einer allseitigen Ratifikation, dann aber auch für alle Staaten gleichermaßen in Kraft. 82 Allerdings kann jeder Staat gem Art 57 EMRK bei Unterzeichnung der Konvention (bzw der Zusatzprotokolle) oder bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde durch einseitige Erklärungen (iSd Art 2 I lit d WVK) Vorbehalte anmelden.347 Die Vorbehalte müssen zulässig sein und schließen dann eine Konventionsbindung in ihrem Umfang aus, so dass darauf gestützte Beschwerden ratione materiae unzulässig sind (Rn 117). Hierzu bestimmt Art 57 I EMRK, dass ein Staat einen Vorbehalt erklären kann, soweit ein zu dieser Zeit in seinem Hoheitsgebiet geltendes Gesetz mit der betreffenden Bestimmung nicht übereinstimmt.348 Somit müssen die Vorbehalte auf einem bereits in Kraft befindlichen Gesetz zum Zeitpunkt der Ratifikation der EMRK oder eines Zusatzprotokolls (nicht später) beruhen. Der Vorbehalt muss mit einer kurzen Darstellung des betreffenden Gesetzes verbunden sein (Art 57 II EMRK). Erforderlich ist ferner, dass die Vorbehalte nicht allgemeiner Art sind (Art 57 I 2 EMRK); sie müssen sich vielmehr auf „einzelne Bestimmungen“ der EMRK beziehen und müssen dem Bestimmtheitsgebot genügen.349 Ferner dürfen sie nicht nur zB bloß auslegende Erklärungen der Konventionsstaaten darstellen und dürfen auch nicht mit dem Sinn und Zweck der EMRK oder ihren Zusatzprotokollen kollidieren. Keinesfalls statthaft sind Vorbehalte zu der Regelung, dass die Todesstrafe abgeschafft ist (Art 4 6. ZP EMRK; Art 3 13. ZP EMRK). Die Gültigkeit der (leider zahlreichen350) Vorbehalte unterliegt (jedenfalls mittelbar) der Überprüfung durch den EGMR, weil dieser über die Konventionspflichten der Staaten zu entscheiden hat.351 Wegen der gebotenen restriktiven Auslegung der Voraussetzungen des Art 57 EMRK für die Erklärung von Vorbehalten zu einzelnen Bestimmungen der EMRK erweisen sich viele von den Konventionsstaaten abgegebene Vorbehalte als ungültig oder in ihrer Wirkung als eingeschränkt.352 Die von Deutschland erklärten Vorbehalte sind entweder zurückgenommen worden,353
347 Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit von Vorbehalten vgl Art 19 WVK und dazu etwa Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 17 Rn 8, 14 ff. 348 Näher dazu Behnsen Das Vorbehaltsrecht völkerrechtlicher Verträge, 2007, S 207. 349 Die Rspr verlangt hier hinreichend klare, nicht unbestimmte und weitgefasste Formulierungen; vgl EGMR, 29.4.1988, 10328/83, EuGRZ 1989, 21, §§ 52 ff – Belilos/Schweiz. Dazu näher Schabas EMRK, S 935 350 Vgl die Zusammenstellung bei Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 57 Rn 1 ff. 351 Vgl zB EGMR (Pl), Urt v 29.4.1988, 10328/83, EuGRZ 1989, 21, § 50 – Belilos/Schweiz; Urt v 3.10.2000, 29477/95, ÖJZ 2001, 194, §§ 24 ff – Eisenstecken/Österreich. 352 Vgl zB EGMR, Urt v 23.10.1995, 15963/90, JBl 1995, 577, § 51– Gradinger/Österreich. S zu dieser Problematik auch Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (297 f). 353 So zB der deutsche Vorbehalt zu Art 7 II EMRK, nach dem in jedem Falle die Grenzen des Art 103 II GG gewahrt werden müssen; Bek v 15.12.1953, BGBl 1954 II, 14. Er ist 2001 zurückgenommen wor
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stellen in Wahrheit bloße Interpretationserklärungen dar oder sind nicht in Kraft getreten, so dass Art 57 EMRK derzeit in Deutschland nicht zum Zuge kommt.354 Die Notstandsklausel des Art 15 EMRK berührt nicht die Anwendbarkeit der 83 Regelungen, sondern ermächtigt nur dazu, von den Verpflichtungen abzuweichen (Rn 734).
3. Schutzbereich der Konventionsrechte Der Schutzbereich der Konventionsrechte kennzeichnet die grundrechtlich ge- 84 schützte Tätigkeit (zB Äußerung einer Meinung im Falle des Art 10 EMRK); zuweilen wird hiervon das Schutzgut als rechtliche Garantie selbst unterschieden (zB Recht auf freie Meinungsäußerung).355 Die Differenzierung führt wenig weiter. Ebenso wie im deutschen Recht356 wird idR auch die sog negative Freiheit von den Konventionsrechten geschützt (also zB die Freiheit, keine Religion zu haben).357 Berücksichtigt werden kann in Zweifelsfragen auch das Günstigkeitsprinzip des Art 53 GRCh (Rn 49). Nicht auf den Konventionsschutz berufen kann sich, wer auf die Konventionsrechte verbindlich verzichtet hat oder diese missbräuchlich in Anspruch nimmt (Art 17 EMRK; vgl a Rn 92, 131). Ein Verzicht ist nur wirksam, wenn nicht Rechte anderer oder öffentliche Interessen entgegenstehen.358 Ein Missbrauch liegt bei einer Berufung auf das Konventionsrecht zu der Konvention grundlegend widersprechenden Zwecken vor.359 Missbräuchlich in Anspruch genommen wird etwa das durch Art 10 EMRK garantierte Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung, wenn der Holocaust geleugnet wird.360
den; s Schabas EMRK, S 356. Auch in ihm konnte man wohl eher eine Interpretationserklärung sehen. 354 Vgl dazu Meyer-Ladewig/Renger in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 57 Rn 10 ff; Aichele in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 57 Rn 2, 13 (zu einem geplanten Vorbehalt zum nicht ratifizierten 7. ZP EMRK). 355 Vgl zum Sprachgebrauch Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 288 ff; Jarass/Kment GR, § 6 Rn 4 ff. 356 Krit Hellermann Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993. 357 Vgl zur Religionsfreiheit Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 9 Rn 2; → vgl auch Classen § 4.3 Rn 10. 358 Ebenso Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 37 f. 359 Vgl näher Andriantsimbazovina, Rec Dalloz 2015, 1854 ff. 360 EGMR, Entsch v 24.6.2003, 65831/01, NJW 2004, 3691 ff – Garaudy/Frankreich.
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4. Eingriff 85 Die Hoheitsrechte schützen in ihrem thematisch einschlägigen Bereich nicht vor
Nachteilszufügungen jeglicher Art, sondern nur vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen. Die EMRK spricht teils von Eingriffen („interferences/ingérences“; zB Art 8 II, 10 I 2), teils von Einschränkungen („restrictions/limitations“; zB Art 9 II, 10 II, 11 II 1, 2 III, IV 4. ZP EMRK) oder – im Falle des Eigentums – von den Sonderformen des Entzugs einschließlich von faktischen Enteignungen (Art 1 I 2 1. ZP EMRK) sowie Nutzungsregelungen (Art 1 II 1. ZP EMRK), die neben sonstige Eingriffe in das Recht treten.361 Die Begrifflichkeiten des Eingriffs und der Einschränkung können synonym verwendet werden, wobei auch der dritte Begriff der Beeinträchtigung vertretbar ist. Ein Eingriff in diesem Sinne ist nur gegeben, wenn ein ausreichend enger Zusammenhang zwischen den staatlichen Maßnahmen und der Belastung für den Berechtigten besteht. Eine systematische Eingriffsdogmatik zur EMRK wurde bislang nicht entwickelt. Vielmehr ist das Vorgehen kasuistisch geprägt.362 So stellt der EGMR vielfach nicht darauf ab, ob die Nachteilszufügung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich bzw mit oder ohne Befehl erfolgt ist.363 Grundsätzlich herrscht die Tendenz vor, keine besonderen Anforderungen an den Eingriff bzw die Beeinträchtigung zu stellen,364 um einen wirksamen Konventionsrechtsschutz zu gewährleisten. Im Einzelfall kann dies anders sein, wenn zB ein Rechtsakt365 oder im Falle bestimmter Gewährleistungen eine gewisse Intensität der Beeinträchtigung366 verlangt wird. Jedoch werden heute auch mittelbare Eingriffe, die sich nicht direkt gegen den geschützten Menschen-
361 Zur Abgrenzung vgl zB Schabas EMRK, S 972 ff. 362 Vgl Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), 57 (86). 363 Restriktiver (für die Art 8–11 EMRK) Villiger EMRK, Rn 639, der offenbar mittelbare Grundrechtsberührungen ausklammert, aber auch darauf hinweist, dass der EGMR oftmals keine präzise Feststellung des Eingriffs vornimmt. 364 Vgl auch Roth Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994, S 58 ff. 365 Nach der Menschenrechtskommission waren medizinische Untersuchungen oder Impfungen nur dann als Eingriff in Art 8 I EMRK anzusehen, wenn sie aufgrund einer obligatorischen Anordnung erfolgten (krit hierzu Wildhaber/Breitenmoser in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art 8 Rn 64). 366 So kann von Folter iSd Art 3 EMRK nur gesprochen werden, wenn ein gewisses Minimum an Schwere erreicht wird (EGMR (Pl), Urt v 18.1.1978, 5310/71, EuGRZ 1979, 149, § 162 – Irland/Vereinigtes Königreich; Urt v 1.6.2010, 22978/05, NJW 2010, 3145, § 101 – Gäfgen/Deutschland = JK 2009, EMRK Art 3/3). Näher → Germelmann § 4.1.1 Rn 28 ff). Auch sollen geringfügige staatliche Maßnahmen und Handlungen keine Eingriffe iSd Art 8 II EMRK darstellen (Wildhaber/Breitenmoser in: Pabel/ Schmahl, IntKommEMRK, Art 8 Rn 61). Beispielsweise beeinträchtigen nur schwere Umweltverschmutzungen und damit verbundene Emissionen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 I EMRK (vgl EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90, EuGRZ 1995, 530 ff – López Ostra/Spa
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rechtsträger richten (wie Warnungen vor Sekten367) oder tatsächliche Beeinträchtigungen (wie das Sammeln und Speichern personenbezogener Daten368) erfasst. Ferner kann auch die Mitwirkung an Fremdbeeinträchtigungen (Auslieferung einer Person an einen Staat, in dem der Person eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe droht) den Konventionsrechtsschutz auslösen.369 Die Nichterfüllung positiver Handlungspflichten (Schutzpflichten) wird einem Eingriff ebenso wie Ungleichbehandlungen gleichgestellt.370 Vom Eingriff bzw von der Beeinträchtigung zu trennen sind andere Formen 86 der rechtlichen Regulierung, wie insbesondere die Ausgestaltung der Konventionsrechte durch den Gesetzgeber. Wenn Art 12 EMRK das Recht auf Eheschließung „nach den innerstaatlichen Gesetzen“ garantiert, stellt der Erlass diesbezüglicher Gesetze keine Beschränkung dar, sondern ermöglicht erst die Konventionsrechtsausübung. Derartige Normprägungen kennzeichnen einige Konventionsrechte, auch wenn sie im Normtext nicht immer ausdrücklich anklingen (wie zB bei dem Recht auf Achtung des Eigentums und dem Recht auf freie Wahlen, Art 1 u 3 1. ZP EMRK). Die Ausgestaltungen der Konventionsrechte mutieren zum Eingriff bzw zur Beeinträchtigung, wenn das im Konventionsrecht mit enthaltene Untermaßverbot missachtet oder in eine nach bisherigem Recht bestehende Position eingegriffen wird.371
nien = JK 96, EMRK Art 8/2; Urt v 8.7.2003, 36022/97, NVwZ 2004, 1465, § 96 – Hatton ua/Vereinigtes Königreich). S auch → Germelmann § 4.1.1 Rn 53. 367 Vgl EGMR, Urt v 6.11.2008, 58911/00, NVwZ 2010, 177, § 84 – Leela Förderkreis eV ua/Deutschland = JK 2010, EMRK Art 6 I/3. 368 Vgl EGMR (GK), Urt v 4.12.2008, 30562/04, EuGRZ 2009, 299, §§ 66 ff – S u Marper/Vereinigtes Königreich; näher → Marsch § 4.2 Rn 26. 369 Vgl → Germelmann § 4.1.1 Rn 36. Im Falle einer Ausweisung liegt zudem oftmals ein Eingriff in das durch Art 8 I EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vor. Vgl etwa EGMR, Entsch v 4.10.2001, 43359/98, NJW 2003, 2595 ff – Adam/Deutschland sowie → Germelmann § 4.1.1 Rn 51. 370 Vgl EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90, EuGRZ 1995, 530, §§ 54 ff – López Ostra/Spanien = JK 96, EMRK Art 8/2; Urt v 16.11.2004, 4143/02, NJW 2005, 3767 ff, § 55 – Moreno Gómez/Spanien = JK 2006, EMRK Art 5/8; Entsch v 3.7.2007, 32015/02, NVwZ 2008, 1215 (1216) – Gaida/Deutschland. 371 Vgl zu dem hier zugrunde gelegten Grundrechtsverständnis für das deutsche Recht BVerfGE 57, 295 (320 ff); Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 211 (225); Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7 (29 f). Zum Untermaßverbot vgl BVerfGE 39, 1 (42 ff); Scherzberg Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität“, 1989, S 208 ff.
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5. Rechtfertigung des Eingriffs a) Einschränkbarkeit der Konventionsrechte 87 Beeinträchtigt ein staatliches Tun, Dulden oder Unterlassen den Schutzbereich
eines Konventionsrechts, folgt daraus noch keine Rechtsverletzung. Vielmehr kann wie im nationalen Grundrechtsschutz die Maßnahme gerechtfertigt sein, weil der Staat das Konventionsrecht beschränken darf. Wie das Grundgesetz unterscheidet auch die EMRK zwischen vorbehaltlos gewährleisteten Rechten und solchen mit einem Schrankenvorbehalt. Vorbehaltlos gewährleistete Rechte stellen eine Ausnahme dar. In Deutschland dürfen derartige Rechte gemäß dem Prinzip der Einheit der Verfassung durch kollidierendes Verfassungsrecht (insbesondere kollidierende Grundrechte) begrenzt werden372, wobei dieses teils als Schutzbereichsbegrenzung, im Wesentlichen aber als Grundrechtsschranke fungiert und dann einer konkretisierenden gesetzlichen Grundlage bedarf.373 Für die EMRK existiert eine einschlägige Rspr diesbezüglich – soweit ersichtlich – nicht. Die EMRK ist anders als das GG keine vollständige Verfassung, die jeden Regelungskonflikt lösen müsste, sondern kann (durchaus im Sinne der Subsidiarität; s Rn 146) einzelne Abwägungsfragen den nationalen Verfassungsordnungen überlassen.374 Auch dürfte sich das Problem wegen des seltenen vorbehaltslosen Schutzes von Rechten kaum stellen. So ist davon auszugehen, dass das Verbot der Folter oder Sklaverei (Art 3, Art 4 I EMRK) in der Tat keinerlei Beschränkungen zugänglich ist (→ Germelmann § 4.1.1 Rn 37). Verschiedentlich hat die Rspr immanente, implizite oder stillschweigende Grundrechtsschranken anerkannt, um Bagatellfälle auszuklammern375 oder den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, die Bedingungen der Rechtsausübung (zB des Wahlrechts376 oder des Rechts auf Zugang zu einem Gericht377) zu regeln378. In Wahrheit liegt in solchen Fällen in aller Regel aber bereits kein Eingriff vor, weil es um die Auslegung von Tatbestandsmerkmalen, die Anerkennung eines staatlichen
372 BVerfGE 28, 243 (261); 67, 213 (228); 93, 1 (21). 373 Vgl Sachs in: ders, GG, Vor Art 1 Rn 120 ff. 374 Gundel in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 147 Rn 55; s auch Marauhn/Merhof in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 7 Rn 19. Allein aus dem Umstand, dass die Abs 2 der Art 8–11 EMRK ausdrücklich eine Beschränkung „zum Schutz der Rechte (und Freiheiten) anderer“ zulassen, wird man nicht den Gegenschluss ziehen können, dass kollidierende Konventionsrechte im Übrigen stets unbeachtlich sind. Art 52 I GRCh normiert sogar eine allgemeine Schrankenregelung; s dazu → Ehlers/ Germelmann § 2.2 Rn 122. 375 Vgl hierzu Wildhaber/Breitenmoser in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art 8 Rn 579 f. 376 EGMR, Urt v 2.9.1998, 22954/93, § 75 – Ahmed ua/Vereinigtes Königreich; EGMR (Pl), Urt v 2.3.1987, 9267/81, § 54 – Mathieu-Mohin u Clerfayt/Belgien. 377 EGMR (GK), Urt v 21.11.2001, 37112/97, § 33 – Fogarty/Vereinigtes Königreich. 378 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 36.
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Gestaltungsauftrags oder die Bestimmung der für die Annahme eines Eingriffs notwendigen Beeinträchtigungsschwelle geht. ZB schließt das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art 3 EMRK) nicht jede Gewaltanwendung aus.379 Ist die Gewaltanwendung wegen des Verhaltens eines Gefangenen „unbedingt erforderlich“380, fehlt es an der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.381 Entsprechendes kann man für die Ausgestaltung der Verfahrensrechte nach Art 6 I EMRK und Art 13 EMRK annehmen können, wenngleich die Rspr hier in der Begrenzungs- und Rechtfertigungsdiktion bleibt, indem sie implizite Grenzen anerkennt, die sich aus dem Ausgestaltungsvorbehalt des nationalen Gesetzgebers ergeben und den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit genügen müssen.382 Der Sache nach bedeutet dies, dass die notwendigen Abwägungen in nicht wenigen Fällen auf der Tatbestands- oder Eingriffs-, statt auf der Rechtfertigungsebene vorgenommen werden können. Im Übrigen dürfen die Konventionsrechte nur nach Maßgabe der vorgesehe- 88 nen Schranken eingeschränkt werden. Zu unterscheiden ist zwischen allgemeinen und speziellen Schrankenregelungen.
b) Allgemeine Schrankenregelungen Allgemeine Schrankenregelungen enthalten die Art 15–17 EMRK. Sie haben in der 89 Praxis geringere Bedeutung als die speziellen und sind auch nicht mit der allgemeinen Schrankenregelung des Art 52 I GRCh im Rahmen des EU-Grundrechtsschutzes (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 122) zu vergleichen. Nach Art 15 I EMRK darf von den Konventionsrechten im Falle des Krieges 90 oder eines anderen öffentlichen Notstandes abgewichen werden, soweit die Maßnahmen unbedingt erforderlich sind („to the extent strictly required by the exigencies of the situation/dans la stricte mesure où la situation l’exige“) und nicht im Widerspruch zu sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen. Es handelt sich um eine auch ansonsten in internationalen Menschenrechtsabkommen geläufige383 379 Näher → Germelmann § 4.1.1 Rn 30 f. 380 Vgl EGMR, Urt v 9.6.1998, 22496/93, §§ 52 f – Tekin/Türkei. 381 Vgl auch EGMR (GK), Urt v 1.6.2010, 22978/05, NJW 2010, 3145 ff – Gäfgen/Deutschland = JK 2009, EMRK Art 3/3, wonach Art 3 EMRK zwar ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung enthält, eine Misshandlung aber ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um in den Anwendungsbereich des Art 3 EMRK zu fallen. Näher → Germelmann § 4.1.1 Rn 28 ff. 382 S dazu näher und mwN Gundel in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 146 Rn 76 ff, 186. Für eine Anerkennung impliziter Schranken (zB der Staatenimmunität als impliziter Schranke des Rechts auf Zugang zum gerichtlichen Rechtsschutz nach Art 6 I EMRK) auch Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 20. 383 Vgl Art 4 IPbpR.
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Derogationsklausel, die als Schrankenregelung im weiteren Sinne angesehen werden kann, weil sie Rechtseingriffe unter Überschreibung der in den speziellen Schrankenregelungen gezogenen Grenzen erlaubt.384 Das Vorliegen eines Notstandes setzt voraus, dass dieser besteht oder unmittelbar bevorsteht, die Krisen- oder Gefahrensituation die Gesamtheit der Bevölkerung berührt und das Zusammenleben der Gemeinschaft bedroht sowie durch normale Maßnahmen oder Einschränkungen nicht bekämpft werden kann.385 Den nationalen Organen wird ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zugestanden,386 allerdings gewährt der EGMR den Mitgliedstaaten keine völlig kontrollfreien Räume, sondern überwacht deren Handeln.387 Das Abweichen von den Konventionsverpflichtungen muss dennoch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen.388 Dies ergibt sich schon aus dem Hinweis auf die Erforderlichkeit der Abweichung. Im Sinne des Günstigkeitsprinzips des Art 53 EMRK (Rn 11) ermächtigt die Bestimmung nicht dazu, das Verfassungsrecht des Konventionsstaates zu verletzen. Ebenfalls nicht gestattet ist ein Eingriff in die in Art 15 II EMRK genannten Rechte; diese sind notstandsfest. Nach Abs 3 der Vorschrift muss zudem der Generalsekretär des Europarats umfassend unterrichtet werden. Außerdem bedarf es einer amtlichen Verlautbarung.389 Dies sind formale Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen. Die Klausel des Art 15 EMRK hat in einer beachtlichen Anzahl von (nicht die Bundesrepublik Deutschland betreffenden) Fällen eine Rolle gespielt und ist beispielsweise von Griechenland, Zypern, der Türkei, Albanien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich in Anspruch genommen worden.390 Im Falle der Inhaftierung terrorverdächtiger, nicht in ihr Heimatland abschiebbarer Ausländer durch das Vereinigte Königreich nach dem 11.9.2001, hat
384 Näher dazu Gundel in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 147 Rn 60 ff; Johann in: Karpenstein/ Mayer, EMRK, Art 15 Rn 1. Gegen die Einordnung des Art 15 EMRK als Grundrechtsschranke Marauhn/Merhof in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 7 Rn 20. 385 Vgl EGMR (GK), Urt v 19.2.2009, 3455/05, NJOZ 2010, 1903, § 176 – A ua/Vereinigtes Königreich; Meyer-Ladewig/Schmaltz in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v Raumer, EMRK, Art 15 Rn 7 mw RsprNachw. 386 EGMR (Pl), Urt v 18.1.1978, 5310/71, EuGRZ 1979, 149, § 207 – Irland/Vereinigtes Königreich; EGMR (GK), Urt v 19.2.2009, 3455/05, NJOZ 2010, 1903, § 173 – A ua/Vereinigtes Königreich. Zum Problem im Rahmen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus s Decaux in: Mélanges en l’honneur de Frédéric Sudre, 2018, S 139 ff. 387 Vgl etwa EGMR, Urt v 20.3.2018, 13237/17 – Altan/Türkei; Urt v 20.3.2018, 16538/17 – Alpay/Türkei; dazu Burgorgue-Larsen AJDA 2018, 1770 (1774 ff). 388 Vgl EGMR (Pl), Urt v 26.5.1993, 14553/89 u 14554/89, ÖJZ 1994, 64, §§ 54 f – Brannigan u McBride/ Vereinigtes Königreich; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 2 Rn 11. 389 Vgl dazu Johann in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 15 Rn 7. 390 Vgl Vollner Geltung der Menschenrechte im Staatsnotstand, 2010, S 33 ff.
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der EGMR das Bestehen einer Notstandslage bejaht, die sich über Art 5 EMRK hinwegsetzenden Maßnahmen aber als unverhältnismäßig angesehen.391 Art 16 EMRK erlaubt den Konventionsstaaten, die politische Tätigkeit von Aus- 91 ländern in Bezug auf die Freiheit der Meinungsäußerung sowie die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit ohne Rücksicht auf das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK einzuschränken. Die „antiquierte, in den sonstigen Menschenrechtspakten nicht enthaltene und eng auszulegende“392 Vorschrift ist auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU nicht anwendbar.393 Art 17 EMRK will dem Missbrauch von Rechtspositionen vorbeugen (vgl auch 92 Rn 131) und stellt sich nicht im eigentlichen Sinne als klassische Schrankenregelung dar, wenngleich die Bestimmung in diesem systematischen Zusammenhang normiert ist. Sie lässt einerseits die Berufung auf die Konventionsrechte bei der Ausübung von Tätigkeiten oder der Vornahme von Handlungen nicht zu, sofern diese sich gegen die Konvention und die darin gewährleisteten Rechte und Freiheiten richten.394 Dies bedeutet, dass der Staat diese Arten der Grundrechtsausübung verbieten und bestrafen darf. Gleichzeitig werden andererseits aber auch dem Staat weitergehende Beschränkungen der Rechte und Freiheiten als in der Konvention vorgesehen untersagt. Soweit sich das Missbrauchsverbot an Gruppen oder Einzelpersonen richtet, kommt es idR bereits als Schutzbereichsbegrenzung und nicht erst als Abwägungsbelang bei der Rechtfertigungsprüfung zum Zuge (Rn 84). Sofern es gegen den Staat gerichtet ist, stellt es sich der Sache nach als „SchrankenSchranke“ dar, der allerdings neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Rn 100) keine große eigenständige Bedeutung zukommt.
c) Spezielle Schrankenregelungen Daneben gibt es spezielle Schrankenregelungen, die jeweils nur die Einschränkung 93 desjenigen Konventionsrechts erlauben, für das sie formuliert sind. Auch diese spe-
391 EGMR (GK), Urt v 19.2.2009, 3455/05, NJOZ 2010, 1903, §§ 181, 190 – A ua/Vereinigtes Königreich. 392 Vgl Walter, VVDStRL 72 (2013), 7 (mit Hinweis darauf, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates schon 1977 die Abschaffung der Vorschrift verlangt hat), zugleich mit der Feststellung einer „Entbündelung“ des Bürgerstatus durch die nationale und internationale Menschenrechtsentwicklung (18). 393 Vgl EGMR, Urt v 27.4.1995, 15773/89 u 15774/89, § 64 – Piermont/Frankreich; Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 16 Rn 1; Mensching in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 16 Rn 4 f; Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (333). 394 Vgl bspw für die Verwendung von negativen Gruppenstereotypen im Rahmen der politischen Meinungsäußerung EGMR, Urt v 20.12.2022, 63539/19, § 61 – Zemmour/Frankreich.
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ziellen Regelungen weisen indes gewisse Gemeinsamkeiten auf, die in der Rspr näher konturiert worden sind.
aa) Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung
Fall 10: (EGMR, Urt v 6.11.2008, 58911/00, NVwZ 2010, 177 ff – Leela Förderkreis eV ua/Deutschland = JK 2010, EMRK Art 6 I/3) Die Bf sind religiöse Vereine, die sich nach Erschöpfung des Rechtsweges (BVerfGE 105, 279 – Osho = JK 2002, GG Art 4 I, II/23a, b) vor dem EGMR dagegen wehren, dass die deutsche Bundesregierung vor ihnen gewarnt hat. Liegt ein Verstoß gegen Konventionsrechte vor?
94
95 Anders als die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art 52 I 1 GRCh;
→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 122) enthält die EMRK keinen allgemeinen Gesetzesvorbehalt, sondern spezifische Vorbehalte. Die erste Gemeinsamkeit dieser speziellen Schrankenregelungen liegt darin, dass die Beeinträchtigung nicht vorbehaltlos gewährleisteter Konventionsrechte eine gesetzliche Grundlage voraussetzt. Sie ist nur also nur durch oder aufgrund Gesetzes („law/loi“) zulässig. Dies ist teilweise ausdrücklich im Text der Schrankenregelung normiert („in accordance with (the) law/prescribed by law/provided/for by law – prévue(s) par la loi/définies par la loi“; vgl zB Art 8–11 EMRK, Art 1 1. ZP EMRK, Art 2 III 4. ZP EMRK, Art 2 7. ZP EMRK). Teilweise ergeben sie sich systematisch oder teleologisch aus den jeweiligen Normzusammenhängen, wie dies etwa für die schwerpunktmäßig verfahrens- und strafrechtlichen Garantien der Fall ist, die eine sachliche Regelung durch Gesetz erfordern (zB Art 5 I395, 6 I,396 7397 EMRK). All diesen Regelungen liegt kein unterschiedliches Gesetzesverständnis zugrunde. Welche Anforderungen die EMRK allerdings an ein Gesetz stellt, ist nicht abschließend geklärt398 und muss auch in Anbetracht der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen eine gewisse Vielfalt zulassen. Natürlich sind Parlamentsgesetze im Regelfall taugliche Gesetze iSd Schrankenregelung.399 Wie der EGMR festgestellt hat, kann auch ungeschriebenes Recht (Richterrecht, Gewohnheitsrecht) als Gesetz iSd Konvention angesehen werden, weil nicht angenommen werden könne, dass die Grundrechtsvorbehalte
395 „in accordance with a procedure prescribed by law/selon les voies légales“. 396 „tribunal established by law/tribunal […] établi par la loi“. 397 „under national or international law/d’après le droit national ou international“. 398 Vgl auch Weiß Das Gesetz im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1996, S 69 f; Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, S 144 ff. 399 Vgl etwa EGMR (Pl), Urt v 6.9.1978, 5029/71, § 43 – Klass ua/Deutschland.
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§ 2.1 Europäische Menschenrechtskonvention – Allgemeine Lehren
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der EMRK eine Grundlage der Rechtsordnung der Staaten des common law verändern wollten.400 Hieraus ergibt sich zugleich, dass nur ein Gesetz im materiellen Sinne (also eine – regelmäßig – abstrakt-generelle Regelung401 mit Außenrechtswirkung), nicht dagegen zwingend ein Gesetz im formellen Sinne (dh iS eines Parlamentsgesetzes) erforderlich ist.402 Die Abgrenzung der Gewaltenteilung von Legislative und Exekutive ist somit nicht Aufgabe der Gesetzesvorbehalte iSd EMRK.403 Allerdings wird vielfach die Auffassung vertreten, dass auch die EMRK die demokratische Dimension des Gesetzesvorbehalts anerkennt und deshalb erforderlich ist, dass ein Eingriff in ein Konventionsrecht auf ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zurückgeführt werden kann.404 Dieser Ansicht ist indes nicht zu folgen; denn sie würde auf einen – mit dem System des common law und auch den Rechtstraditionen in Frankreich nicht zu vereinbarenden – Vorbehalt des formellen Gesetzes hinauslaufen, mag die geforderte Regelungsdichte des Parlamentsgesetzes auch gering zu veranschlagen sein. Zutreffender ist die inhaltliche Bewertung des Gesetzeserfordernisses, die sich in der Rspr des EGMR findet. Hiernach verlangt der Gesetzesvorbehalt der EMRK zwingend nur, dass das geschriebene oder ungeschriebene materielle Recht zugänglich405 und so bestimmt ist, dass die Konsequenzen – notfalls mit sachkundiger Hilfe – für den Rechtsunterworfenen vorhersehbar sind, so dass dieser sein Verhalten darauf ausrichten kann.406 Zugänglichkeit bedeutet, dass
400 Grundlegend EGMR, Urt v 26.4.1979, 6538/74, EuGRZ 1979, 386, §§ 47 ff – Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr 1); vgl auch EGMR, Urt v 25.3.1983, 5947/72 ua, EuGRZ 1984, 147, § 85 – Silver ua/ Vereinigtes Königreich; Urt v 2.8.1984, 8691/79, EuGRZ 1985, 17, § 66 – Malone/Vereinigtes Königreich; ferner EGMR, Urt v 24.2.1994, 15450/89, ÖJZ 1994, 636, § 43 – Casado Coca. 401 Ausnahmsweise kann es sich auch um ein Einzelfallgesetz handeln. Vgl Fassbender in: Klein (Hrsg) Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2006, S 73 (86). 402 EGMR, Urt v 6.11.2008, 58911/00, NVwZ 2010, 177, § 84 – Leela Förderkreis eV ua/Deutschland = JK 2010, EMRK Art 6 I/3 (→ Fall 10); EGMR (GK), Urt v 5.4.2022, 28470/12, §§ 157 ff – NIT S.R.L./Moldau. 403 In diesem Sinne auch Fassbender in: Klein (Hrsg) Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2006, S 106. 404 Vgl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Vorb zu Art 8–11 Rn 2; Weiß Das Gesetz im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1996, S 153 f; Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S 144, 147. 405 EGMR, Urt v 26.4.1979, 6538/74, EuGRZ 1979, 386, §§ 47 ff – Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr 1); Urt v 15.11.1996, 17862/91, EuGRZ 1999, 193, § 35 – Cantoni/Frankreich. 406 Vgl EGMR, Urt v 26.4.1979, 6538/74, EuGRZ 1979, 386, §§ 46 ff – Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr 1); Urt v 25.5.1993, 14307/88, § 40 – Kokkinakis/Griechenland; Urt v 24.4.1990, 11801/85, ÖJZ 1990, 564, § 30 – Kruslin/Frankreich; Urt v 24.9.1992, 10533/83, EuGRZ 1992, 535, §§ 88, 91 – Herczegfalvy/Österreich; Urt v 20.5.1999, 25390/94, NVwZ 2000, 421, §§ 34 ff – Rekvényi/Ungarn; Urt v 6.11.2008, 58911/00, NVwZ 2010, 177, § 86 – Leela Förderkreis eV ua/Deutschland = JK 2010, EMRK Art 6 I/3 (Fall 10); Urt v 5.4.2022, 28470/12, §§ 157 ff – NIT S.R.L./Moldau. Zusammenfassend Gundel in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 147 Rn 19 f; Sudre EMRK, Rn 134 f.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
der Betroffene die Möglichkeit haben muss, Kenntnis von dem Gesetz zu erlangen. Die Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit hängt vom Inhalt der fraglichen Vorschrift, dem Anwendungsbereich sowie der Zahl und Rechtsstellung der Adressaten ab.407 Auslegungsspielräume sind dem (Gesetzes-)Recht immanent und dementsprechend hinzunehmen, so dass auch unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln und Ermessensspielräume zulässig sind. Jedoch muss das Gesetz einen Schutz gegen willkürliche Eingriffe gewährleisten.408 So kann das Erfordernis eines Verstoßes gegen die „guten Sitten“ gegebenenfalls als Eingriffsgrundlage nicht ausreichen.409 In besonders „grundrechtssensiblen Bereichen“ sind überdies strengere Anforderungen zu stellen.410 Umgekehrt kann es bei einem weiten Eingriffsbegriff im Einzelfall angezeigt sein, an faktische Eingriffe geringere Anforderungen zu stellen.411 96 Des Weiteren hängt es von den Rechtsordnungen der Konventionsstaaten ab, welche Anforderungen an die gesetzlichen Grundlagen zu stellen sind.412 Dies bedeutet, dass durch das nationale Recht auch Verschärfungen möglich sind. In Deutschland bedürfen Grundrechtseingriffe (oder ein staatliches Handeln in grundrechtssensiblen Bereichen) nach der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG413 der Grundlage in einem Parlamentsgesetz.414 Dementsprechend ist es der Verwaltung aus Gründen des deutschen Verfassungsrechts nicht gestattet, ohne ein solches Gesetz die Konventionsrechte einzuschränken. Eine derartige Einschränkung wäre zudem ohnehin nicht mit den konventionskonform auszulegenden deutschen Grundrechten vereinbar. Somit muss bei der Anwendung der Konvention im deutschen Recht die Abgrenzung der legislativen und exekutiven Rechtsetzung beachtet werden.
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Lösung Fall 10: Der Schutzbereich des Art 9 I EMRK ist eröffnet (Religionsfreiheit). Obwohl die Maßnahmen der Bundesregierung keinem Verbot gleichkommen, haben sie sich negativ auf die Tätigkeit der Bf ausgewirkt und greifen daher in deren Recht aus Art 9 I EMRK ein. Gem Art 9 II EMRK müssen Einschränkungen der Religionsfreiheit gesetzlich vorgesehen sein. Der Begriff „Gesetz“ erfasst sowohl Gesetzes- als auch Richterrecht. Das BVerfG hat – in wenig überzeugender Weise – zwischen (aus sei-
407 EGMR, Urt v 6.11.2008, 58911/00, NVwZ 2010, 177, § 88 – Leela Förderkreis eV ua/Deutschland = JK 2010, EMRK Art 6 I/3 (Fall 10). 408 Vgl auch Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 10. 409 Vgl EGMR, Urt v 17.1.2006, 51431/99, § 79 – Aristimuño Mendizabal/Frankreich. 410 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 11. 411 Mensching in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 10 Rn 46; → Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 32. 412 Vgl auch EGMR Urt v 25.5.1993, 14307/88, §§ 37 ff – Kokkinakis/Griechenland. Ferner Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S 146, 148; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 8. 413 Vgl BVerfGE 40, 237 (249); 49, 89 (126); 108, 282 (311). 414 Vgl statt vieler Ehlers/Pünder in: dies, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl 2022, § 2 Rn 43 ff.
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ner Sicht neutralen) Äußerungen der Bundesregierung, die schon den Schutzbereich des Art 4 GG nicht berührten, und solchen unterschieden, die einen echten Grundrechtseingriff darstellten; ferner hat es festgestellt, dass sich die rechtliche Grundlage des Eingriffs in Form der Aufgabe zur Information und Öffentlichkeitsarbeit direkt aus dem Grundgesetz ergibt.415 Die Pflicht zur Information über Fragen des öffentlichen Interesses sei eine Aufgabe der Staatsleitungsfunktion, die der Regierung durch das Grundgesetz unmittelbar zugewiesen werde. Angesichts der durch technischen Wandel bedingten Schwierigkeiten, Gesetze über Informationspflichten bestimmt zu fassen, erkennt der EGMR an, dass die Aufgabe der Bundesregierung zu informieren, keiner weiteren gesetzlichen Konkretisierung bedurfte, auch weil das Grundgesetz durch seine eigenen grundrechtlichen Gewährleistungen der Bundesregierung kein uneingeschränktes Ermessen einräumt. Der Eingriff war somit „gesetzlich vorgesehen“. Ferner hat er nach Auffassung des EGMR ein berechtigtes Ziel verfolgt und war auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Dementsprechend ist Art 9 I EMRK nicht als verletzt angesehen worden.
bb) Verfolgung zulässiger Ziele Die Schrankenbestimmungen der EMRK enthalten eine Aufzählung von bestimmten 98 Eingriffs- und Beeinträchtigungszielen. Wie Art 18 EMRK ausdrücklich klarstellt, dürfen die Rechte und Freiheiten nur zu den vorgesehenen Zwecken eingeschränkt werden. Nimmt der Mitgliedstaat einen Eingriff zu einem anderen Zweck als dem von der Konvention gestatteten vor, indem er bspw seine wahren Motive verschleiert, so stellt der EGMR zusätzlich zur der – idR mangels Eignung zu dem vorgeschobenen Zweck ohnedies gegebenen Verletzung des Konventionsrecht dessen Verletzung in Verbindung mit dem akzessorisch verstandenen Art 18 EMRK fest.416 So muss eine Einschränkung der Religionsfreiheit dem Schutz der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder Moral oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dienen (Art 9 II EMRK). Die Garantie der freien Meinungsäußerung lässt in Art 10 II EMRK weitere Zielsetzungen zu (zB Schutz der territorialen Unversehrtheit, Schutz des guten Rufes, Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen usw). Von besonderer Bedeutung sind die Freiheitsentziehungsgründe in Art 5 I EMRK. Art 1 I 2 1. ZP EMRK erlaubt zwar eine Entziehung des Eigentums zu den durch Gesetz vorgesehenen Bedingungen, nennt diese aber nicht.417 Notwendig
415 BVerfGE 105, 279 (295 ff, 301 ff); krit dazu Sachs, JuS 2003, 186 ff; Murswiek, NVwZ 2003, 1 ff; Bethge, Jura 2003, 327 ff; Cremer, JuS 2003, 747 ff. 416 Vgl zur Wirkung des Art 18 EMRK EGMR (GK), Urt v 28.11.2017, 72508/13, §§ 287 ff – Merabishvili/ Georgien; Urt v 15.11.2018, 29580/12 ua, §§ 164 f – Navalnyy/Russland; Urt v 22.12.2020, 14305/17, §§ 421 ff – Demirtaş/Türkei (Nr 2). S a Burgorgue-Larsen AJDA 2019, 169 (172 f). 417 Die Bedeutung der Verweisung auf das internationale Recht, das nur für fremde Staatsangehörige gewohnheitsrechtliche Mindeststandards festlegt, ist nicht eindeutig klar; s dazu Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 877 f.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
sind hinreichende Gemeinwohlerfordernisse, da nur öffentliche, nicht privatnützige Interessen nach dem Wortlaut der Norm zulässige Enteignungsgründe darstellen. Diese hat dann aber das Gesetz zu definieren;418 das folgt letztlich auch aus dem systematischen Zusammenspiel mit Art 1 II 1. ZP EMRK. Damit kommt vornehmlich der Verhältnismäßigkeitsabwägung begrenzende Bedeutung zu. Die zulässigen Ziele für einen Eingriff werden in der Rspr allgemein weit interpretiert, und zudem findet oftmals keine präzise Zuordnung zu einzelnen der genannten Ziele statt, was die Handlungsspielräume der Konventionsstaaten erweitert und so ihren Regelungsinteressen Rechnung trägt.419 Dies kann man durchaus im Einklang mit der stärkeren Betonung des Subsidiaritätsprinzips in der Präambel seit dem 15. Zusatzprotokoll (Rn 146) sehen. Eine gänzlich freie Hand lässt der EGMR den Mitgliedstaaten freilich nicht, da er missbräuchliche vorgeschobene oder angewandte Zielsetzungen als eigenständigen Verstoß gegen das betroffene Konventionsrecht iVm Art 18 EMRK durchaus sanktioniert.420
cc) Verhältnismäßigkeit der Beschränkung / „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“
Fall 11: (EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/06, NVwZ 2011, 737 ff – Lautsi ua/Italien = JK 2011, EMRK Zusatzprotokoll Art 2/2) Die italienische Staatsangehörige L, die eine streng laizistische Weltanschauung vertritt, wendet sich vor dem EGMR dagegen, dass ihre minderjährigen Söhne in Klassenzimmern der staatlichen Schule unterrichtet werden, an denen ein Kruzifix an der Wand hängt. Liegt ein Verstoß gegen Konventionsrechte vor?
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100 Viele Einschränkungsklauseln der Konvention enthalten die Formel, dass die be-
treffende Beschränkung für die verfolgten Ziele „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein muss (Abs 2 der Art 8–11 EMRK; „necessary in a democratic society/nécessaire(s), dans une société démocratique“). In anderen Bestimmungen ist von unbedingter Erforderlichkeit die Rede (Art 2 II, 6 I 2 EMRK421). Nach und nach
418 Vgl EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 62 – Handyside/Vereinigtes Königreich; Urt v 21.2.1986, 8793/79, § 46 – James ua/Vereinigtes Königreich. Näher Schabas EMRK, S 975. 419 So zutreffend v Arnauld VR, Rn 662. 420 Vgl EGMR (GK), Urt v 22.12.2020, 14305/17, §§ 421 ff – Demirtaş/Türkei (Nr 2). Näher ferner Schmaltz in: Schiedermair/Schwarz/Steiger, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 2022, S 35 ff; v Arnauld VR, Rn 663. 421 „Absolutely necessary/strictly necessary – absolument nécessaire/strictement nécessaire“.
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hat der EGMR in seiner Rspr herausgearbeitet, dass diese Termini nicht eng zu verstehen, sondern mit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung gleichzusetzen sind.422 Die Formulierungen der Konvention verdeutlichen gleichwohl in besonders deutlicher Weise die inhaltlichen Anforderungen, denen Eingriffsmaßnahmen genügen müssen und die gerade auch eine demokratieschützende Funktion haben. Überdies wird hierdurch auf die allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen sowie die Ziele der Pluralität, Toleranz und Offenheit hingewiesen, die zentrale Werte der EMRK kennzeichnen.423 Die Verhältnismäßigkeit wirkt aber auch dann als „SchrankenSchranke“, wenn die EMRK und die Zusatzprotokolle nicht auf die „Notwendigkeit“ der Einschränkung verweisen. Denn in der Praxis greift der EGMR auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch dann zurück, wenn sich aus dem Normtext kein ausdrücklicher Anhaltspunkt dafür ergibt.424 Die Verhältnismäßigkeit wird dabei entsprechend wie im deutschen Recht verstanden.425 Ebenso wie die deutschen Gerichte und seit längerem auch der EuGH (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 135) unterscheidet der EGMR in Bezug auf die staatlichen Maßnahmen der Sache nach zwischen der Geeignetheit,426 dh der Möglichkeit der Zielerreichung, der Erforderlichkeit, welche nicht als Unabdingbarkeit der Maßnahme zu verstehen ist, aber mehr als eine bloße Nützlichkeit bedeutet427 und somit letztlich wie im deutschen Recht dem Gebot des mildesten, am wenigsten belastenden, gleich effektiven Mittels entspricht,428 sowie schließlich der Angemessenheit429 iSd Verbots einer Nachteilzufügung, die zu dem erstrebten Erfolg außer Verhältnis steht (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Allerdings werden die verschiedenen Stufen oftmals nicht strikt auseinander gehalten.430 Anders als im europäischen Unionsrecht, welches im Binnenmarktrecht traditionell durch eine ausführlichere Erforderlichkeits422 Vgl EGMR (Pl), Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 48 – Handyside/Vereinigtes Königreich; Urt v 25.2.1993, 10828/84, §§ 55 ff – Funke/Frankreich. 423 Vgl zB EGMR (GK), Urt v 23.1.2023, 61435/19, §§ 202, 214 f – Macatė/Litauen; ferner Gundel in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 147 Rn 28 mwN; Sudre EMRK, Rn 138. Zum Rechtsstaatsprinzip jüngst vor dem Hintergrund der konventionswidrigen polnischen Justizgesetzgebung EGMR (GK), Urt v 15.3.2022, 43572/18, §§ 339 ff – Grzęda/Polen. 424 Vgl zu Art 3 EMRK zB EGMR, Urt v 4.12.1995, 18896/91, EuGRZ 1996, 504, § 38 – Ribitsch/Österreich; zu Art 6 EMRK zB EGMR, Urt v 28.5.1985, 8225/78, EuGRZ 1986, 8, § 57 – Ashingdane/Vereinigtes Königreich. 425 Vgl Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (308). Näher dazu → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 135. 426 Vgl EGMR (Pl), Urt v 28.3.1990, 10890/84, EuGRZ 1990, 255, §§ 70 ff – Groppera Radio AG ua/ Schweiz. 427 Vgl EGMR, Urt v 25.3.1985, 8734/79, EuGRZ 1985, 170, §§ 52 ff – Barthold/Deutschland. Vgl auch EGMR (Pl), Urt v 22.10.1981, 7525/76, EuGRZ 1983, 488, § 58 – Dudgeon/Vereinigtes Königreich. 428 Vgl etwa EGMR (GK), Urt v 12.9.2012, 10593/08, NJOZ 2013, 1183 ff, § 183 – Nada/Schweiz. 429 Vgl EGMR, Urt v 18.2.1991, 12313/86, EuGRZ 1993, 552, § 46 – Moustaquim/Belgien. 430 Vgl EGMR (Pl), Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38 – Handyside/Vereinigtes Königreich.
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prüfung geprägt ist (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 137), kommt es idR gerade auch auf die Angemessenheitsprüfung an, in der die Belange der Konventionsstaaten einerseits und die durch die Konventionsrechte geschützten Interessen der Berechtigten andererseits gegenübergestellt und bewertet werden. In diesem Verhältnismäßigkeitsverständnis dürfte ein wesentlicher Beitrag der jüngeren deutschen Rechtskultur für die europäische Rechtsordnung liegen. Auf eine Wesensgehaltsgarantie iSd Art 52 I 1 GRCh oder des Art 19 II GG hat die EMRK zu Recht verzichtet, weil die Unterschiede zur Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hier jedenfalls idR nicht erheblich sein dürften. 101 Allerdings wird den Konventionsstaaten vielfach ein relativ weiter Beurteilungsspielraum („margin of appreciation/marge d’appréciation“) eingeräumt, so dass die Kontrolldichte im Ergebnis tendenziell niedriger als in der deutschen verfassungsrechtlichen Prüfung liegen kann (näher dazu Rn 146). Dies ist nun auch durch das am 1.8.2021 in Kraft getretene 15. Zusatzprotokoll nochmals bestätigt worden, welches durchaus auch den politischen Zweck verfolgte, die zentrale Kontrollinstanz des EGMR zugunsten der mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutzinstanzen zurückzunehmen und so eine im politischen Diskurs zuweilen wahrgenommene, zuweilen instrumentalisierte Legitimationsfrage hinsichtlich der Stellung des Gerichtshofs zu entschärfen.431 Eine vollständige Freistellung der Mitgliedstaaten und ihrer Gerichte kann es freilich im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes nicht geben.432 So bleibt für die Intensität der Kontrolldichte des EGMR vielfach die konkrete Fallgestaltung maßgeblich. Einen Beurteilungsspielraum erkennt der EGMR insbesondere dann an, wenn es in einem bestimmten sachlichen Feld keine gemeineuropäischen Wertvorstellungen gibt, wie dies nicht selten zB in Bezug auf Leben, Tod oder Religion der Fall ist.433 Teilweise ähnelt die Überprüfung dem sehr restriktiven Test des (früheren) englischen Rechts („Wednesbury unreasonableness test“).434 Im Einzelfall können bei besonders persönlichkeitsrelevanten Eingriffen andere Maßstäbe gelten.435 Auch legt sich der Gerichtshof nicht darauf fest, nur die von den nationalen Gerichten angeführten Gründe zu überprüfen, sondern stellt bei Bedarf selbstständige (weitere) Erwägungen an.436
431 Vgl die knappe Nachzeichnung bei v Arnauld VR, Rn 645. 432 Zur Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen effektiver Kontrolle und Subsidiarität vgl Sauvé in: Mélanges en l’honneur de Frédéric Sudre, 2018, S 711 ff. 433 Vgl näher → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 140. 434 Vgl Associated Provincial Picture Houses Ltd v Wednesbury Corporation [1948] 1 KB 223 (CA), 228–230 per Lord Greene MR. Vgl dazu etwa Craig Administrative Law, 9. Aufl 2021, 21-004 ff. 435 EGMR (GK), Urt v 4.12.2007, 44362/04, NJW 2009, 971, § 77 – Dickson/Vereinigtes Königreich: „where a particularly important facet of an individual’s existence or identity is at stake“. 436 EGMR (GK), Urt v 10.12.2007, 69698/01, NJW-RR 2008, 1141, § 101 – Stoll/Schweiz.
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Lösung Fall 11: 102
Die Präsenz des Kruzifixes in den Klassen staatlicher Schulen könnte hinsichtlich der Eltern das Erziehungsrecht (Art 2 S 2 1. ZP EMRK) sowie bezogen auf die Kinder deren korrespondierendes Recht auf weltanschauliche Neutralität im Unterricht (Art 2 S 2 1. ZP EMRK) und ihre negative Religionsfreiheit (Art 9 I EMRK) verletzen. Der EGMR sieht im Bereich der Schule Art 2 S 2 1. ZP EMRK als vorrangig an; das Recht müsse jedoch im Lichte des Art 9 EMRK ausgelegt werden. Der Schutzbereich des Grundrechts ist betroffen, da sich die Kinder durch die Präsenz des Kruzifixes notwendigerweise mit bestimmten Inhalten der christlichen Glaubenslehre auseinandersetzen müssen, auch wenn dies ihrem bzw dem Wunsch ihrer Mutter nicht entspricht. Die L kann für sich eine den Anforderungen des Art 2 S 2 1. ZP EMRK genügende, hinreichend fundierte „weltanschauliche Überzeugung“ geltend machen. Allerdings ist das Vorliegen eines Eingriffs fraglich. Nachdem der EGMR in einer Kammerentscheidung einen solchen angenommen und eine Rechtfertigung verneint hatte, kam die Große Kammer (mit 15:2 Stimmen) zu dem Ergebnis, dass eine solche Verletzung nicht gegeben ist. Er verneint hierbei schon das Vorliegen einer Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 2 S 2 1. ZP EMRK, da dieses Recht im Lichte des Art 9 EMRK nur verlange, dass „die im Lehrplan vorgesehenen Informationen und Kenntnisse auf objektive, kritische und pluralistische Weise vermittelt werden, die es den Schülern ermöglicht, in einer ruhigen Atmosphäre eine kritische Einstellung insbesondere gegenüber Religionen zu entwickeln,“ und insbesondere „keine Indoktrinierung“ durch den Staat erfolge.437 Eine Verletzung dieser Grundsätze sei hier nicht erkennbar; eine rein subjektive Empfindung der Beeinträchtigung lässt er nicht genügen. Vielmehr verweist die Große Kammer darauf, dass das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern in Italien einer Tradition entspricht, deren Beibehaltung dem Ermessensspielraum der Konventionsstaaten unterfällt. Der EGMR sei verpflichtet, dies zu respektieren, solange keine Indoktrination ausgeübt wird.438 Hier zeige sich die staatliche Schulpolitik im Gegenteil offen für alle Religionen und gebe ihnen in gleichem Maße Raum in der Schule. Damit entfällt mangels Eingriffs die Notwendigkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.
6. Schematische Zusammenfassung Zusammenfassend kann die Verletzung von Konventionsrechten (jedenfalls im Fal- 103 le des Vorliegens von Freiheitsrechten) wie folgt geprüft werden: I. Anwendbarkeit der Konvention 1. Anwendbarkeit ratione temporis: Handlung/Unterlassung des Staates während der Zeit der Geltung der Konventionsbestimmung: Inkrafttreten der Konventionsbestimmung (Rn 78 ff)
437 EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/06, NVwZ 2011, 737 (739, § 62) – Lautsi ua/Italien. 438 Näher zum Ganzen de Wall, JURA 2012, 69 ff; Bachelet, Rec Dalloz 2011, 949 ff; Gonzalez, JCP G 2011 no 601 (S 988); s auch Grabenwarter, EuGRZ 2011, 229 ff; Streinz, BayVBl 2014, 421 ff; Chieregato, Riv Ital Dir Pubbl Comunitario 2013, 401 ff; Germelmann Kultur und staatliches Handeln, 2013, S 206 f mwN. Ferner auch Tomuschat, EuGRZ 2016, 6 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
2.
Anwendbarkeit ratione personae: Mitgliedstaat des Europarats Mitgliedschaft in der EMRK (ab Beitritt und vor Kündigung) (Rn 55 ff) Keine Anwendbarkeit auf Handlungen internationaler Organisationen (Bindung der EU erst nach Beitritt gem Art 59 II EMRK); Problem mitgliedstaatlicher Durchführungsakte (Rn 59 ff) 3. Anwendbarkeit ratione materiae: a) Ratifizierung der Konventionsbestimmung durch den Konventionsstaat (Unterschiede bei einigen Zusatzprotokollen) (Rn 80 f) b) Nichteingreifen eines Vorbehalts (Art 57 EMRK) (Rn 82) 4. Anwendbarkeit ratione loci: a) Ausübung von Hoheitsgewalt (Art 1 EMRK) grds auf das Territorium des Staates begrenzt b) ggf extraterritoriale Wirkung: effektive Kontrolle über das betreffende Gebiet (Rn 7 ff) II. Schutzbereich des Konventionsrechts 1. Persönlicher Schutzbereich: Konventionsberechtigung: jede Person (Rn 51 ff) 2. Sachlicher Schutzbereich 3. Kein Missbrauch (Art 17 EMRK) (Rn 84, 92) III. Eingriff in das Konventionsrecht 1. grds jede Art von Eingriff erfasst (Rn 85) 2. uU Ausklammerung von entfernten oder geringen Beeinträchtigungen, wenn die Nachteilszufügung nicht final, rechtlich und/oder unmittelbar erfolgt ist 3. uU besondere Eingriffsanforderungen bei bestimmten Konventionsrechten (Rn 86) IV. Rechtfertigung des Eingriffs 1. Einschränkbarkeit des Konventionsrechts: kein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht (Rn 87 f) 2. Spezielle Schrankenregelungen (Rn 93 ff) a) Notwendigkeit einer materiell-gesetzlichen Regelung: weiter Gesetzesbegriff, nicht notwendigerweise Parlamentsgesetz, aber: Zugänglichkeit, Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit ggf Erfüllung der weiteren Anforderungen des jeweiligen konventionsstaatlichen Gesetzesvorbehalts b) Vorliegen zulässiger Zwecke c) Verhältnismäßigkeit der Einschränkung („in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“) Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit
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Allgemeine Schrankenregelungen (Rn 89) a) Art 15 EMRK (Rn 90) aa) Formale Voraussetzungen (Art 15 III EMRK) bb) Krieg oder Notstand cc) Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit dd) Kein Widerspruch zu sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen b) Art 16 EMRK: nur für bestimmte Konventionsrechte; keine Anwendung auf EU-Ausländer Kein staatlicher Missbrauch (Art 17 EMRK) (Rn 92)
IX. Rechtsschutz 1. Rechtsschutz durch den EGMR Zu den großen Errungenschaften der EMRK gehört nicht zuletzt ihr Rechtsschutz- 104 system mit der obligatorischen Gerichtsbarkeit des EGMR, seiner intensiven Rechtsprechungstätigkeit und der Sanktionsmöglichkeit im Falle von Konventionsrechtsverletzungen. Echte Wirkkraft können Grundrechte erst dann entfalten, wenn ihre Einhaltung von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden kann.439 Ansonsten bleiben sie bloße Verheißungen. Dies zeigt das Beispiel des deutlich weniger effektiven Grundrechtsschutzes auf der globalen Ebene nach Maßgabe des IPbpR und des IPwskR (Rn 3). Geht es um die Einhaltung völkerrechtlicher Grundrechtsgewährleistungen, bedarf es daher einer internationalen Gerichtsbarkeit. Nicht nur das Beispiel des EGMR, sondern auch des EuGH, der seine Grundrechtsrechtsprechung deutlich später gestartet hat und sich heute dennoch zu einer maßgeblichen Prägekraft des europäischen Grundrechtsschutzes entwickelt hat. Seine heutige Form erhielt das Rechtsschutzsystem der EMRK durch das am 1.11.1998 in Kraft getretene 11. ZP EMRK v 11.5.1994.440 Durch dieses ist der – zuvor sehr kompliziert gestaltete und bei Individualbeschwerden eine gesonderte Unterwerfungserklärung des verklagten Staates voraussetzende – Menschenrechtsschutz der EMRK grundlegend reformiert und vereinfacht worden.441 Während früher die Europäische Kommission für Menschenrechte, das Ministerkomitee und der EGMR zusammenwirken mussten, wird heute im Wesentlichen nur noch der EGMR als Kon-
439 Vgl zur Wirksamkeit der Rspr des EGMR im Kontext der übrigen (politischen) Durchsetzungsmechanismen zugunsten des Grundrechtsschutzes auf der Ebene des Europarats Flauss, RTDH 2009, 27 ff. 440 BGBl II 1995, 578. 441 Vgl dazu Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 1999, 1165 f; Schlette, JZ 1999, 219 ff; → Walter § 1 Rn 11.
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trollinstanz tätig. Die Europäische Kommission für Menschenrechte wurde aufgelöst, das Ministerkomitee442 überwacht nur noch die Durchführung der Urteile des EGMR (Art 46 II–IV EMRK) oder holt Gutachten ein (Art 47 EMRK). Um die langfristige Wirksamkeit des Kontrollsystems in Anbetracht der stetigen Zunahme der Arbeitslast des EGMR und des Ministerkomitees zu wahren und zu verbessern (und überdies den Beitritt der EU zu ermöglichen, Rn 23 ff), sind durch das am 1.6.2010 in Kraft getretene 14. ZP EMRK v 13.5.2004 weitere bedeutsame Änderungen des Rechtsschutzes vorgenommen worden.443 Weitere kleinere Anpassungen sowie die Betonung des Subsidiaritätsprinzips (Rn 146) sind durch das 15. ZP EMRK v 24.6.2013 eingefügt worden, welches am 1.8.2021 in Kraft trat. 105 Der EGMR nimmt seine Aufgaben als „ständiger Gerichtshof“ wahr (Art 19 S 2 EMRK) und verfügt über hauptamtlich tätige (Art 21 IV EMRK), für die Dauer von neun Jahren444 von der Parlamentarischen Versammlung (Art 22 EMRK) auf der Grundlage eines Listenvorschlags des jeweiligen Konventionsstaates gewählte, nicht wieder wählbare Richter (Art 23 I EMRK). Der Entwurf des Beitrittsabkommens der EU zur EMRK sah für den Fall eines Beitritts vor, dass eine Delegation des Europäischen Parlaments berechtigt ist, sich an der Wahl der Richter zu beteiligen. Die Richter müssen hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein (Art 21 I EMRK). Das 15. ZP EMRK hat Altershöchstgrenzen eingeführt (Art 21 II, 23 II EMRK). Die Anzahl der Richter entspricht derjenigen der Mitglieder der Konvention (Art 20 EMRK). Der EGMR gliedert sich in vier Besetzungskonstellationen der Spruchkörper, nämlich in Einzelrichter, Ausschüsse mit drei Richtern, Kammern mit sieben Richtern und eine Große Kammer mit 17 Richtern (Art 26 I EMRK).445 Dabei findet eine gerichtsorganisatorische Unterteilung des Gerichtshofs in mindestens vier Sektionen446 statt, denen die Rich
442 Art 13 ff Satzung des Europarates = Sart II Nr 110. 443 Dazu im Überblick Sudre EMRK, Rn 181. 444 Die Amtszeit von 9 Jahren wurde durch das 14. ZP EMRK eingeführt. Zuvor betrug die Amtszeit nur 6 Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl. 445 Näher zur Bildung dieser Spruchkörper Art 24 ff VerfO EGMR. Vgl dazu auch Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 17 ff. Die Anzahl der Richter je Kammer kann auf fünf herabgesetzt werden (Art 26 II EMRK). 446 Vgl Art 25 I VerfO EGMR: Die Verfahrensordnung verwendet die Begrifflichkeit „Sektion“, während in Art 25 lit b EMRK von „Kammern“ die Rede ist. Hierdurch wird eine terminologische Differenzierung zwischen der verwaltungsorganisatorischen Einheit „Sektion“ (Art 25 lit b EMRK) und der Besetzung des Spruchkörpers mit sieben Richtern („Kammer“, Art 26 I EMRK) vorgenommen. Der Gerichtshof hat derzeit fünf Sektionen, denen die beiden Vizepräsidenten sowie drei weitere Sektionspräsidenten vorsitzen. Die Kammerentscheidungen benennen im Rubrum sowohl die Verwaltungseinheit Sektion als auch den Spruchkörper Kammer: „In the case of […], The European
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ter nach Kriterien der geographischen Zugehörigkeit, der Rechtstradition und des Geschlechts zugeordnet werden und aus denen sodann die Kammern und die Ausschüsse beschickt werden (Art 25 ff VerfO EGMR). In Bezug auf die Kammern und die Große Kammer enthält die EMRK Besetzungsvorgaben. So muss der Kammer bzw der Großen Kammer, vor der eine Beschwerde verhandelt wird, immer auch derjenige Richter angehören, der von dem im Beschwerdeverfahren beteiligten Staat benannt worden ist (Art 26 IV 1 EMRK); dies soll die Akzeptanz des Urteils stärken. Der Großen Kammer müssen zudem der Präsident des EGMR, die Vizepräsidenten und die Sektionspräsidenten (Kammerpräsidenten447) angehören (Art 26 V 1 EMRK).448 Das Plenum, dem alle Richter angehören, nimmt nur Aufgaben der Gerichtsorganisation wahr (Art 25 EMRK). Zum Beispiel wählt es den Präsidenten des EGMR, die Vizepräsidenten, die Präsidenten der Sektionen (Kammern), den Kanzler und die stellvertretenden Kanzler. Unterstützt wird der Gerichtshof von der Kanzlei (Art 24 EMRK). Die Kanzlei besteht derzeit aus etwa 640 Mitarbeitern einschließlich Juristen.449 Der Kanzlei gehören auch die nicht richterlichen Berichterstatter an, welche die Einzelrichter zu unterstützen haben (Art 24 II EMRK, Art 18a VerfO EGMR450). Die Organisation und das Verfahren im Einzelnen richten sich nach der vom EGMR erlassenen Verfahrensordnung in der Fassung vom 10.2.2023.451 Die Gerichtsbarkeit ist für alle Konventionsstaaten obligatorisch und daher auch einem Vorbehalt nicht zugänglich.452 Anders als im europäischen Uni
Court of Human Rights (Fifth Section), sitting as a Chamber composed of: […] Delivers the following judgment, […] / En l’affaire […], La Cour européenne des droits de l’homme (cinquième section), siégeant en une Chambre composée de : […] Rend l’arrêt que voici, […]“. 447 Die Sektionspräsidenten sind immer zugleich auch die Präsidenten der in der Besetzung mit sieben Richtern entscheidenden Kammern; der Präsident benennt nach einem Rotationssystem die übrigen Kammerbeisitzer (Art 26 I VerfO EGMR). 448 Die übrigen Richter der Großen Kammer werden durch Los bestimmt, wobei mit Ausnahme der durch die Konvention vorgegebenen Mitglieder (Kammerpräsident, nationaler Richter) die vorbefassten Mitglieder der Kammer ausgespart werden (Art 24 II lit c, d VerfO EGMR). 449 Vgl die Angaben der ECHR Registry, abrufbar unter https://www.echr.coe.int/Documents/ Registry_ENG.pdf; ferner Schaffrin in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 24 Rn 1. Zur Einstellung vgl Art 18 III VerfO EGMR; ferner Resolution CM/Res(2021)6 on the Council of Europe Staff Regulations, adopted by the Committee of Ministers on 22 September 2021, and Staff Rules, as adopted by the Secretary General on 30 December 2022, abrufbar unter https://www.coe.int/en/web/tribunal/staffregulations-of-the-council-of-europe. 450 Ferner gibt es einen „Rechtsgelehrten“, der durch Gutachten und Auskünfte die Einheitlichkeit der Rspr befördern soll (Art 18b VerfO EGMR). 451 Sart II Nr 137. Die aktuelle Fassung ist abrufbar unter https://www.echr.coe.int/Documents/ Rules_Court_ENG.pdf. Die VerfO EGMR ist vom Gerichtshof gem Art 25 lit d EMRK erlassen worden. 452 Die früheren Fakultativklauseln sind weggefallen. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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onsrecht (Art 252 AEUV) wird die Arbeit des Gerichtshofs nicht durch Generalanwälte unterstützt. 106 Die EMRK sieht vier Formen des Rechtsschutzes vor. In der Hauptsache geht es um Staatenbeschwerden (Art 33 EMRK) und Individualbeschwerden (Art 34 EMRK). Daneben kann das Ministerkomitee den Gerichtshof anrufen (Art 46, 47 EMRK); dies schließt ein Gutachtenverfahren ein (Rn 158). Nach dem 16. ZP EMRK v 2.10.2013, in Kraft getreten am 1.8.2018,453 können auch die innerstaatlichen Höchstgerichte die Möglichkeit erhalten, sich an den EGMR zwecks Erstattung eines Gutachtens zu wenden (Rn 159). Bislang haben allerdings erst 18 Staaten das 16. ZP EMRK ratifiziert; Deutschland ist nicht unter ihnen.
a) Staatenbeschwerde 107 Die Staatenbeschwerde gem Art 33 EMRK ermöglicht es jedem Konventionsstaat,
den EGMR wegen jeder behaupteten Verletzung der Konvention und der jeweils einschlägigen Protokolle durch einen anderen Konventionsstaat anzurufen.454 Der beschwerdeführende Staat macht hierbei keine eigenen Rechte geltend und braucht auch kein irgendwie geartetes Interesse am Ausgang des Verfahrens deutlich zu machen; es handelt sich um ein objektives Aufsichtsverfahren.455 Die Zahl der Staatenbeschwerden ist gering456, dennoch wird die Staatenbeschwerde als ein wirksames Mittel zur Sicherung eines Mindeststandards des Menschenrechtsschutzes in allen Konventionsstaaten angesehen.457 Im Falle eines Beitritts der EU zur EMRK ist nach der Ansicht des EuGH diese Möglichkeit wegen Art 344 AEUV im Verhältnis der EU-Staaten untereinander und im Verhältnis zur Union selbst ausgeschlossen.458
b) Individualbeschwerde 108 In der Praxis sehr viel bedeutsamer ist die Individualbeschwerde (Art 34 EMRK),
die als ein der Verfassungsbeschwerde vergleichbarer Rechtsbehelf anzusehen
453 S dazu Burgorgue-Larsen AJDA 2018, 1770 (1771 ff). 454 Zum Inhalt des Verfahrens vgl Art 46 VerfO EGMR. 455 Sudre EMRK, Rn 193. 456 Vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 23 mit Fn 50; Villiger EMRK, Rn 203 f mit einer (vollständigen) Liste von 24 Staatenbeschwerden (Stand 2020); darunter sind alleine sechs Staatenbeschwerden der Ukraine gegen Russland, vier Staatenbeschwerden Georgiens gegen Russland sowie vier Staatenbeschwerden Zyperns gegen die Türkei. 457 Vgl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 33 Rn 4. 458 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 213 – Beitritt der Union zur EMRK.
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ist.459 Sie hat dem EGMR seine überragende Bedeutung als in vielen Bereichen letztverbindlich entscheidendes Grundrechtegericht in Europa verschafft. Die Individualbeschwerde hat keine aufschiebende Wirkung, jedoch kann der EGMR den Parteien vorläufige Maßnahmen empfehlen (Art 39 VerfO EGMR). Nach der Rspr des EGMR sind diese Empfehlungen verbindlich. Ihre Nichtbeachtung zieht eine Verletzung des Art 34 S 2 EMRK (Verbot der Behinderung der wirksamen Ausübung des Beschwerderechts) nach sich.460 Vorläufige Maßnahmen werden aber idR nur ergriffen, wenn irreparable Schäden zu befürchten sind, insbesondere Verletzungen der Art 2 oder 3 EMRK drohen.461
aa) Zulässigkeit der Beschwerde462 Mit den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Beschwerde werden die Grenzen um- 109 schrieben, innerhalb derer der Gerichtshof tätig werden darf. Erforderlich sind im Kern vier Sachentscheidungsvoraussetzungen, die die Zuständigkeit des EGMR begründen und sich auf die Personen (ratione personae) sowie den räumlichen (ratione loci), zeitlichen (ratione temporis) und sachlichen (ratione materiae) Geltungsbereich der Konvention und ihrer ZP beziehen. Von einer Beschwerdebefugnis wie im deutschen Recht spricht Art 35 EMRK nicht. Der Prüfungspunkt ist indes zweckmäßig. Es ist auch vertretbar, alle genannten zentralen Anforderungen innerhalb dieser Beschwerdebefugnis anzuordnen.
459 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 6; Rogge in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art 34 Rn 82. 460 EGMR (GK), Urt v 4.2.2005, 46827/99 u 46951/99, EuGRZ 2005, 357 ff – Mamatkulov u Askarov/Türkei; EGMR, Urt v 15.1.2008, 16348/05 – Mostafa ua/Türkei; Urt v 10.8.2006, 24668/03 – Olaechea Cahuas/Spanien; vgl zurückhaltender noch in Bezug auf einstweilige Maßnahmen der EKMR EGMR (Pl), Urt v 20.3.1991, 15576/89, EuGRZ 1991, 203, §§ 94 ff – Cruz Varas ua/Schweden. Vgl auch Keller/Marti, ZaöRV 2013, 325 ff; Droin, AJDA 2010, 2089 ff. 461 Vgl EGMR (Pl), Urt v 20.3.1991, EuGRZ 1991, 203, § 53 – Cruz Varas ua/Schweden. Vgl auch den Fall EGMR (GK), Urt v 12.5.2005, 46221/99 – Öcalan/Türkei. Auch im Rahmen einer Staatenbeschwerde können vorläufige Maßnahmen getroffen werden, vgl EGMR (GK), Urt v 16.12.2020, 20958/14 u 38334/18 – Ukraine/Russland. 462 Vgl hier auch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 26 ff; Peters/Altwicker EMRK, § 35; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 36 ff.
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(1) Zuständigkeit ratione personae: Beteiligte Fall 12: (EGMR, Entsch v 23.10.2010, 50108/06, NVwZ 2011, 479 ff – Dösemealti Belediyesi/Türkei = JK 2011, EMRK Art 34/1) Die Bf, eine türkische Gemeinde, wandte sich nach langwierigen Streitigkeiten mit dem zuständigen türkischen Ministerium und nach Erschöpfung des Rechtswegs an den EGMR und rügte die Verletzung ihres Rechts auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist (Art 6 I EMRK).
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(a) Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit des Bf 111 Zunächst ist erforderlich, dass der Bf parteifähig ist. Gem Art 34 S 1 EMRK darf die
Individualbeschwerde nur von natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen (auch nichtrechtsfähiger Art) eingelegt werden. Die Parteifähigkeit korrespondiert damit mit der Grundrechtsfähigkeit nach Art 1 EMRK. Zur Abgrenzung des Personenkreises kann auf die Rn 51 ff verwiesen werden.463 Die Prozessfähigkeit ist nicht näher geregelt. Es ist daher davon auszugehen, dass die EMRK und die VerfO EGMR keine besonderen Anforderungen stellen, so dass jeder zugelassen wird, der faktisch in der Lage ist, Prozesshandlungen vorzunehmen.464 Dies kann auch ein Minderjähriger oder uU sogar ein Geschäftsunfähiger sein. Eine Vertretung (zB minderjähriger Bf durch die Eltern) ist zulässig. Verstirbt der Bf, dürfen bei berechtigtem Interesse (etwa wenn es um die Wahrung höchstpersönlicher Rechte geht) die Erben oder sonstigen Verwandten das Verfahren fortsetzen.465 Ab Zustellung der Beschwerde besteht grundsätzlich Postulationszwang, dh die Notwendigkeit, sich durch einen Anwalt oder eine andere vom Kammerpräsidenten zugelassene Person vertreten zu lassen (Art 36 II, IV VerfO EGMR). Ab diesem Zeitpunkt müssen auch die schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen grundsätzlich in einer der Amtssprachen des Gerichtshofs (also englisch oder französisch) abgefasst werden (Art 34 III VerfO EGMR).
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Lösung Fall 12: Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn die Bf parteifähig ist, dh das Recht hat, eine Individualbeschwerde nach Art 34 EMRK zu erheben. Dazu müsste es sich bei der Bf um eine nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe handeln. Die beurteilt sich unabhängig von der Rechtsstellung, wel-
463 Zur Opfereigenschaft vgl noch Rn 119. 464 Vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 41. 465 Vgl EKMR, Entsch v 8.7.1978, 7572/76, EuGRZ 1978, 314, § 1 – Ensslin, Baader u Raspe/Deutschland; EGMR, Urt v 31.7.2000, 34578/97, § 41– Jecius/Litauen. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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che das staatliche Recht der jeweiligen Organisation einräumt. So können öffentlich-rechtlich organisierte Religionsgemeinschaften und Rundfunkanstalten als nichtstaatliche Organisationen einzustufen sein. Dagegen üben Gemeinden als dezentralisierte Träger von Staatsgewalt öffentliche Gewalt aus. Daher war die Beschwerde ratione personae mit der Konvention unvereinbar und ist demgemäß vom EGMR nach Art 35 III, IV EMRK als unzulässig zurückgewiesen worden.
(b) Tauglicher Beschwerdegegner Beschwerdegegner muss ein Konventionsstaat sein. Die EU ist mangels EMRK-Mit- 113 gliedschaft bislang kein tauglicher Beschwerdegegner. Gem Art 35 VerfO EGMR werden die Vertragsparteien durch Prozessbevollmächtigte vertreten, die zu ihrer Unterstützung Rechtsbeistände oder Berater hinzuziehen können.
(2) Beschwerdegegenstand (a) Handeln oder Unterlassen des Beschwerdegegners Gegenstand der Beschwerde muss ein Verhalten des Verpflichtungsadressaten 114 der Konventionsrechte sein. Er kann in gleicher Weise ein Handeln oder Unterlassen sein. Tauglicher Beschwerdegegenstand ist auch ein Verhalten, das dem Konventionsstaat zuzurechnen ist (vgl im Einzelnen Rn 55 ff). Handlungen Dritter können den Vertragsparteien nur ausnahmsweise zuzurechnen sein.466
(b) Zuständigkeit ratione loci: Räumliche Anwendbarkeit der EMRK Das Verhalten muss der Hoheitsgewalt des Beschwerdegegners zuzurechnen sein. 115 Hinsichtlich des räumlichen Anwendungsbereichs der EMRK einschließlich der Problematik des Erfordernisses effektiver Kontrolle im Falle extraterritorialen Handelns kann auf Rn 72 ff verwiesen werden.
(3) Beschwerdebefugnis Nach Art 34 EMRK muss der Bf ferner behaupten, durch eine der Hohen Vertrags- 116 parteien in einem in der Konvention oder den Protokollen anerkannten Recht verletzt zu sein. Wie sich aus der englischen und französischen Sprachfassung („claiming to be the victim of a violation/qui se prétend victime d’une violation“) ergibt, muss der Bf nachweisen, Opfer einer Konventionsrechtsverletzung zu sein. Fehlt
466 Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 97. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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eine Opfereigenschaft, ist die Beschwerde ratione personae unzulässig und zurückzuweisen.467 Dies empfiehlt es sich, in der Beschwerdebefugnis zu prüfen.
(a) Zuständigkeit ratione materiae: Rüge einer Konventionsrechtsverletzung 117 In sachlicher Hinsicht muss ein Recht betroffen sein, das die EMRK oder die Zusatz-
protokolle garantieren.
(b) Zuständigkeit ratione temporis: Zeitliche Anwendbarkeit der EMRK 118 Das Verhalten muss innerhalb der zeitlichen Geltung der Konvention bzw der im konkreten Falle betroffenen Zusatzprotokolle liegen. Dies richtet sich nach den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen (Rn 78).
(c) Opfereigenschaft 119 Es besteht Einigkeit darüber, dass die Opfereigenschaft des Bf voraussetzt, dass er
die Verletzung eigener Rechte geltend machen muss.468 Eine Popularklage ist nach der Konvention unzulässig.469 Man hat hierin neben der Beteiligtenfähigkeit einen weiteren Bestandteil der Zuständigkeit des EGMR ratione personae zu sehen.470 Eine Verletzung der Konventionsrechte anderer, kann zugleich eigene Rechte verletzen (wie dies insbesondere auf die Tötung oder schwere Misshandlung von Angehörigen iSv Art 2 u 3 EMRK zutrifft).471 Für die Geltendmachung wird in der Regel ein substantiierter und schlüssiger Vortrag verlangt, aus dem sich ergibt, dass der Bf durch den angegriffenen Hoheitsakt oder das unterlassene Hoheitshandeln in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt und dadurch direkt betroffen ist.472 Eine Übertragung der für die §§ 90 BVerfGG, 42 II VwGO entwickelten sog Möglich-
467 Meyer-Ladewig/Kulick in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 34 Rn 18; Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 93. 468 Unter „victim/victime“ wird eine direkt betroffene Person verstanden, EGMR (Pl), Urt v 28.3.1990, 10890/84, EuGRZ 1990, 255, § 47 – Groppera Radio AG ua/Schweiz. 469 EGMR, Urt v 12.2.2004, 47287/99, § 70 – Perez/Frankreich; Urt v 16.12.2008, 55185/08 ua – Ada Rossi ua; Urt v 10.1.2012, 30765/08, NVwZ 2013, 415, § 80 – Di Sarno ua/Italien. 470 Vgl idS Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 83, 87; Meyer-Ladewig/Kulick in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 34 Rn 18; Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 93. 471 Vgl EGMR (GK), Urt v 18.9.2009, 16064/90, NVwZ-RR 2011, 251, §§ 111 f – Varnava ua/Türkei; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 45. 472 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 22. Vgl auch Rogge in: Pabel/Schmahl, IntKomm EMRK, Art 34 Rn 262 ff.
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keitstheorie473 im deutschen Recht scheidet aus, wenngleich in Ermangelung einer ausgefeilten Dogmatik zur EMRK hieraus Anregungen gezogen sein können. Dies gilt etwa für den Offensichtlichkeitsmaßstab, der im deutschen Recht für die Annahme der Möglichkeit einer Rechtsverletzung herangezogen wird.474 Denn auch im Bereich der Opfereigenschaft ist eine relativ geringe Substantiierungslast anzunehmen. Der EGMR darf eine Beschwerde nur für unzulässig erklären, wenn sie „offensichtlich“ unbegründet ist (Art 35 III lit a EMRK). Erforderlich ist grundsätzlich eine bereits eingetretene, unmittelbare Betroffenheit in einem Konventionsrecht. Dies ist etwa der Fall, wenn der Bf Verpflichtungsadressat eines Verwaltungsaktes oder einer Sachentscheidung eines Gerichts ist, mögen die Entscheidungen auch noch nicht vollstreckt worden sein.475 Die Maßnahme muss Rechtswirkungen entfalten.476 Der Eintritt eines Schadens ist nicht erforderlich.477 Sind schwerwiegende und irreparable Konventionsverletzungen zu befürchten (wie im Falle einer bevorstehenden Auslieferung an einen Staat, in dem die Todesstrafe droht), reicht eine bevorstehende Verletzung aus.478 Richtet sich die Beschwerde gegen gesetzliche Bestimmungen, ohne dass der Vollziehungsakt angegriffen wird, muss der Bf unmittelbar (dh selbst und gegenwärtig) durch das Gesetz (und nicht erst die Vollziehung des Gesetzes) beeinträchtigt werden.479 Dies trifft etwa auf Strafrechtsnormen zu.480 Entfällt die Beschwer nachträglich, steht dies der Sachprüfung nicht entgegen, es sei denn, der Konventionsstaat hat die Konventionsverletzung anerkannt und ggf Entschädigung geleistet.481 Vgl zur Verfahrensbeendigung auch Rn 136.
473 Vgl zB Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 1480; Gärditz in: ders, VwGO, 2. Aufl 2018, § 42 Rn 107 mwN. 474 Die Möglichkeit einer Verletzung scheidet aus, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die behaupteten Rechte bestehen, ihm zustehen oder verletzt sein können. S zB im Verwaltungsprozess BVerwGE 44, 1 (3); 98, 118 (120); 114, 356 (360). 475 Vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 43. 476 EGMR (GK), Urt v 15.1.2007, 60654/00, NVwZ 2008, 979, § 92 – Sisojeva ua/Lettland. 477 Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 34 Rn 65. 478 Vgl EGMR (Pl), Urt v 7.7.1989, 14038/88, EuGRZ 1989, 314 ff – Soering/Vereinigtes Königreich; EGMR (GK), Entsch v 10.3.2004, 56672/00, NJW 2004, 3617, 3618 – Senator Lines GmbH/Österreich ua. 479 Näher mwN zur differenzierenden Rspr des EGMR Schabas EMRK, S 742 f. 480 Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 43. 481 Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 32; vgl auch Villiger EMRK, Rn 103.
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(4) Rechtswegerschöpfung
Fall 13 (EGMR, Urt v 27.11.1997, 25629/94, NJW 1999, 775 ff – K.-F./Deutschland = JK 99, EMRK Art 5 I/1) Der Bf (ein deutscher Staatsangehöriger) war von deutschen Polizeibeamten wegen des dringenden Tatverdachts eines Einmietbetruges und wegen Fluchtgefahr zur Identitätsfeststellung auf eine Polizeidienststelle verbracht und dort bis zum nächsten Morgen festgehalten worden. Die Zeitspanne betrug 12 Stunden und 45 Minuten. Das anschließende Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft ein, weil dem Bf ein Mietbetrug nicht nachgewiesen werden konnte. Daraufhin erstattete der Bf Strafanzeige gegen die an den Geschehnissen beteiligten Polizeibeamten wegen Verdachts der Freiheitsberaubung, der versuchten Nötigung und der Beleidigung. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt. In dem vom Bf angestrengten Klageerzwingungsverfahren stellte das OLG fest, dass die Einstellung gerechtfertigt sei. Das BVerfG nahm eine gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Daraufhin erhob der Bf eine Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem EGMR. Ist die Beschwerde zulässig und begründet?
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121 Art 35 I EMRK verlangt, dass der EGMR erst „nach Erschöpfung aller innerstaatli-
chen Rechtsbehelfe“ angerufen wird. Damit wird bezweckt, den Vertragsparteien Gelegenheit zu geben, die behaupteten Verstöße gegen die Konvention mit den Mitteln ihrer eigenen Rechtsordnung abzuhelfen oder sie wiedergutzumachen, bevor der EGMR angerufen wird.482 Dies führt auch zu einer Entlastung des Gerichtshofs. Unterschieden wird zwischen vertikaler Rechtswegerschöpfung (Ausnutzung der innerstaatlich gegebenen Rechtsbehelfsmöglichkeiten vor den in Betracht kommenden Instanzen) und horizontaler Rechtswegerschöpfung (Bezug der Rechtsbehelfe auf die geltend gemachte Konventionsverletzung).483 Die Beweislast für die Rechtswegerschöpfung liegt zunächst beim Bf (Art 47 I 2 lit g, II lit a VerfO EGMR), die Beweislast für die Zugänglichkeit des innerstaatlichen Rechtsschutzes beim verklagten Staat. Beruft sich der Konventionsstaat nicht auf die fehlende Erschöpfung des Rechtswegs, verstößt er gegen die verfahrensrechtliche Obliegenheit nach Art 55 VerfO EGMR, nach der er grundsätzlich jedes Zulässigkeitshindernis zu rügen hat. Tut er dies nicht, ist er an seiner späteren Geltendmachung gehindert; das Unterlassen wirkt sich wie beim Estoppel-Prinzip des common law wie ein Verzicht aus.484
482 EGMR, Entsch v 29.5.2012, 53126/07, NVwZ 2013, 47, § 34 – Taron/Deutschland = JK 2013, EMRK Art 35 I/1 (vgl Abwandlung Fall 5). 483 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 23 ff; Kadelbach in Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 47 ff. 484 Vgl Villiger EMRK, Rn 74; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 24. Zum Estoppel-Prinzip im Völkerrecht allg auch v Arnauld VR, Rn 269.
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(a) Vertikale Rechtswegerschöpfung Zu den nationalen Rechtsbehelfen, die vor der Erhebung einer Beschwerde beim 122 EGMR einzulegen sind, sind sowohl förmliche, in den nationalen Verfahrensgesetzen und Prozessordnungen vorgesehene, als auch formlose zu zählen, sofern letztere hinreichend zur Abhilfe geeignet sind.485 Rügt der Bf eine überlange Verfahrensdauer (Art 6 I 1 EMRK), kommt es darauf an, ob er das Verfahren beschleunigen oder ggf auch Entschädigung wegen der überlangen Verfahrensdauer erlangen konnte.486 In Deutschland muss von den durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geschaffenen §§ 198 ff GVG (Rn 45) Gebrauch gemacht werden. Der Geltendmachung von Staatshaftungsansprüchen bedarf es nicht, wenn dem Rechtsschutzziel des Bf damit nicht Genüge getan wird.487 Nicht zu den Rechtsbehelfen gehört (wegen seines außerordentlichen Charakters) das Wiederaufnahmeverfahren.488 Der Bf muss vor Anrufung des EGMR alle innerstaatlichen Gerichtsbehelfe tatsächlich ausgeschöpft haben, die im konkreten Fall zur Verfügung standen. UU reicht es dabei aus, dass die Entscheidung der letzten innerstaatlichen Instanz erst nach Anrufung (aber vor Entscheidung des EGMR über die Zulässigkeit) ergeht.489 Falls der Bf die Möglichkeit dazu hatte, ist der Rechtsweg erst erschöpft, wenn das höchste zuständige Gericht erfolglos angerufen wurde. Auch eine nach innerstaatlichem Recht zulässige Verfassungsbeschwerde soll grundsätzlich zur Erschöpfung des Rechtsweges gehören, sofern die Konventionsverletzung damit beseitigt werden kann.490 Auf die Entscheidungsform kommt es hingegen nicht an. Eine Erschöpfung des Rechtsweges hat der EGMR verschiedentlich auch dann angenommen, wenn das BVerfG eine VB mangels Substantiierung nicht zur Entscheidung angenommen hat.491 Nach der Rspr des EGMR sind ferner die aus den von den Konventionsstaaten geschlossenen internationalen Verträgen resultierenden Änderungen in den nationalen Rechtsschutzsystemen bei der Auslegung der Konvention zu berücksichtigen.492 Daher können auch Rechtsbehelfe nach Maßgabe des europäischen Uni
485 Schmidt-Aßmann/Schenk in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 43. EL 2022, Einl Rn 148. 486 EGMR, Entsch v 2.12.1999, 32082/96, NJW 2001, 2692, 2693 – Tomé Mota/Portugal. 487 EGMR, Urt v 19.3.1997, 18357/91, § 37 – Hornsby/Griechenland; Urt v 25.3.1999, 31107/96, EuGRZ 1999, 317, § 47 – Iatridis/Griechenland. 488 Peters/Altwicker EMRK, § 35 Rn 38. 489 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 29. 490 Vgl EGMR, Urt v 12.6.2003, 44672/98, NJW 2004, 2209 ff – Herz/Deutschland; Peukert in: Frowein/ ders, EMRK, Art 35 Rn 24; Wittinger NJW 2001, 1238 (1239). Die meisten Konventionsstaaten kennen keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die mittels einer Urteilsverfassungsbeschwerde angerufen werden kann. 491 Papier, VVDStRL 66 (2007), 425 (426). 492 Urt v 18.2.1999, 24833/94, NJW 1999, 3107, § 39 – Matthews/Vereinigtes Königreich.
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onsrechts als „innerstaatlich“ iSd Art 35 I EMRK anzusehen sein.493 Tritt die EU der EMRK bei (Rn 23 ff), versteht sich von selbst, dass der unionsrechtliche Rechtsschutz vor Beschwerdeerhebung ausgeschöpft worden sein muss. 123 Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung wird von der Rspr zu Recht mit einem gewissen Grad an Flexibilität und ohne übertriebene Förmlichkeit angewandt.494 So können besondere Umstände eine Ausnahme von dem Grundsatz gebieten, dass das Datum der Einlegung der Beschwerde beim Gerichtshof entscheidend für die Rechtswegerschöpfung ist (Rn 47). Stets müssen die innerstaatlichen Rechtsbehelfe für den Bf zugänglich und geeignet gewesen sein, der behaupteten Rechtsverletzung abzuhelfen. Hieran fehlt es, wenn das Rechtsmittel für den Bf faktisch unerreichbar ist, etwa weil ihm die notwendigen finanziellen Mittel fehlen und eine Prozess- bzw Beratungskostenhilfe nicht zur Verfügung steht.495 Die Zugänglichkeit bedarf insbesondere bei Strafgefangenen oder Mittellosen und Bf, die nicht der Sprache des betreffenden Konventionsstaates mächtig sind, besonderer Prüfung. Nicht erforderlich ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs des Weiteren, wenn dieser zwar formal möglich, aber ohne jede Erfolgschance war (zB wegen einer feststehenden entgegenstehenden Rspr).496 Bloße Zweifel an den Erfolgsaussichten eines bestimmten Rechtsbehelfs reichen aber nicht aus.497 Führt der innerstaatliche Rechtsschutz deshalb nicht zum Ziel, weil der Bf die Formerfordernisse, Kostenvorschriften oder Fristen missachtet hat, muss er sich dies zurechnen lassen.498 Unterbleibt die Einlegung eines Rechtsbehelfs, der nur eine rechtliche Überprüfung, nicht aber eine Sachverhaltsermittlung ermöglicht hätte, ist maßgebend, ob es einer Tatsachenüberprüfung zwingend bedurfte.499
(b) Horizontale Rechtswegerschöpfung 124 Da dem Staat die Möglichkeit gegeben werden soll, Konventionsverletzungen zu be-
heben, und der EMRK-Rechtsschutz nur subsidiär ist, verlangt das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung in horizontaler Hinsicht, dass die geltend gemachte Men-
493 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (335). 494 EGMR, Urt v 9.6.2011, 31047/04 u 43386/08, NJW 2012, 2093, § 36 – Mork/Deutschland. 495 EGMR, Urt v 9.10.1979, 6289/73, EuGRZ 1979, 626 – Airey/Irland; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 48. 496 Vgl Peters/Altwicker EMRK, § 35 Rn 44. 497 EGMR, Entsch v 29.5.2012, 53126/07, NVwZ 2013, 47, § 35 – Taron/Deutschland = JK 2013, EMRK Art 35 I/1 (vgl Abwandlung Fall 5). 498 Vgl EGMR, Urt v 8.4.2004, 11057/02, NJW 2004, 3401 ff – Haase/Deutschland; Urt v 9.6.2011, 31047/ 04 u 43386/08, NJW 2012, 2093, §§ 38 ff – Mork/Deutschland. 499 Vgl EGMR (GK), Urt v 28.9.1999, 29340/95, NJW 2001, 54, §§ 43 ff – Civet/Frankreich.
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schenrechtsverletzung der Sache nach („in substance“) vor den innerstaatlichen Instanzen vorgebracht worden ist, freilich ohne dass es einer ausdrücklichen Berufung auf die EMRK bedarf.500 In Zweifelsfällen neigt der EGMR zu einer rechtsschutzfreundlichen Betrachtungsweise.
(5) Beschwerdefrist Die Beschwerde kann nur innerhalb einer Frist von vier Monaten nach der end- 125 gültigen innerstaatlichen Entscheidung eingelegt werden (Art 35 I EMRK). Das 15. ZP EMRK hat insofern eine Verkürzung der ehemals sechs Monate betragenden Beschwerdefrist bewirkt (Art 4 15. ZP EMRK). Die Frist beginnt mit der Kenntnisnahme von der Entscheidung. Muss sie zugestellt werden (wie bei gerichtlichen Urteilen), beginnt die Frist erst mit der Zustellung und nicht bereits mit der Verkündung zu laufen.501 Hat der Bf einen Prozessvertreter, kommt es auf die Zustellung an diesen an.502 Der Eingangsstempel des Anwalts ist zur Glaubhaftmachung grundsätzlich ausreichend.503 Als Datum der Beschwerdeerhebung dient idR das Datum der ersten Mitteilung des Bf, idR belegt durch den Poststempel, nicht der Zugang bei Gericht (Art 47 VI VerfO EGMR). Der EGMR kann aber ein anderes Datum für maßgeblich erklären (zB wenn das Beschwerdeschreiben offensichtlich zurückdatiert worden ist). Handelt es sich um eine fortdauernde Verletzung und ist ein effektiver Rechtsbehelf nicht vorhanden, beginnt die Frist an jedem Tag erneut, und erst, wenn die zugrunde liegende Verletzung beendet ist.504 Doch kann hier eine Verwirkung eingreifen. Vor Ablauf der Frist muss mindestens der wesentliche Gegenstand der Be- 126 schwerde mitgeteilt worden sein (vgl Art 47 I 2 lit f VerfO EGMR). Eine Hemmung der Frist kommt grundsätzlich nicht in Betracht, es sei denn, der Bf war tatsächlich (zB wegen einer Isolierhaft) verhindert, die Frist einzuhalten.505 Die Frist endet an dem Tag des vierten Monats, der durch seine Zahl dem Anfangstag der Frist entspricht. Handelt es sich um einen Feiertag, ist der folgende Werktag ausschlag-
500 Vgl Villiger EMRK, Rn 81 f; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 36 ff. 501 Vgl EGMR, Urt v 29.8.1997, 22714/93, §§ 31 f – Worm/Österreich; Meyer-Ladewig in: ders/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 35 Rn 26 f. 502 EGMR, Entsch v 12.9.2006, 25694/03 u 28338/03, § 12 – Andorka u Vavra/Ungarn. 503 EGMR, Urt v 17.2.2011, 12884/03, NVwZ 2011, 1503, §§ 38 f – Wasmuth/Deutschland. 504 EGMR (GK), Urt v 18.9.2009, 16064/90, NVwZ-RR 2011, 251, § 159 – Varnava ua/Türkei. In dem Fall haben die Bf in zulässiger Weise ihre Beschwerden, mit der sie Aufklärung über das Schicksal verschwundener Personen nach der türkischen Invasion Zyperns 1974 verlangten, 15 Jahre nach der türkischen Invasion Zyperns erhoben. 505 Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 60.
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gebend.506 Ist sich der Bf unsicher, ob der Rechtsweg bereits erschöpft wurde, empfiehlt es sich, sowohl den möglicherweise geeigneten innerstaatlichen Rechtsbehelf als auch die Beschwerde beim EGMR einzulegen.507
(6) Form und Sprache der Beschwerde 127 Die Beschwerde ist schriftlich zu erheben und vom Beschwerdeführer (Bf) oder des-
sen Vertreter zu unterzeichnen (Art 45 VerfO EGMR). Die Beschwerdeschrift muss nicht in einer offiziellen Sprache (Englisch oder Französisch), sondern kann auch in einer anderen Amtssprache der Konventionsstaaten (bei Beschwerden aus Deutschland also in Deutsch) eingereicht werden (Art 34 II VerfO EGMR).508 Hierbei hat sich der Bf des von der Kanzlei zur Verfügung gestellten (und auch auf der Internetseite des Gerichtshofs herunterzuladenden) Beschwerdeformulars zu bedienen (Art 47 VerfO EGMR). Um eine Vorprüfung zu ermöglichen ist neben den persönlichen Angaben ua eine kurze Darstellung des Sachverhalts, der behaupteten Verletzung der Konvention mit Begründung sowie des Gegenstands der Beschwerde erforderlich. Außerdem sind die einschlägigen Unterlagen beizufügen. Gerichtskosten werden mangels einer von Art 50 EMRK abweichenden Rechtsvorschrift nicht erhoben.509
(7) Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen 128 Art 34 u 35 EMRK statuieren eine Reihe weiterer Sachentscheidungsvoraussetzun-
gen, die zT Berührungspunkte mit den bereits genannten aufweisen und nur im Bedarfsfall zu prüfen sind.
(a) Keine Anonymität 129 So darf die Beschwerde nicht anonym eingelegt werden (Art 35 II lit a EMRK);
anonyme Beschwerden sind a limine als unzulässig abzuweisen. In solchen Fällen wird es zudem zumeist an einem vollständigen ausgefüllten Beschwerdeformular (Rn 127) fehlen.510 Anonymität schließt bei berechtigtem Interesse Vertraulichkeit
506 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 40. 507 Vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 53. 508 Zur weiteren Kommunikation vgl Art 34 III-VI VerfO EGMR. 509 Vgl zu den Kosten für Übersetzungen und für Heranziehung von Dolmetschern aber auch Art 34 III lit c, IV lit b VerfO EGMR. 510 Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 67. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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nicht aus (Art 40 EMRK; 33 II, III, 47 IV VerfO EGMR). In der Praxis spielt das Kriterium der Anonymität kaum eine Rolle.
(b) Keine res judicata und Litispendenz Ferner darf die Beschwerde gem Art 35 II lit b EMRK nicht im Wesentlichen mit 130 einer schon vorher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmen (res judicata) oder schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden sein (Litispendenz). Beides setzt voraus, dass die Beschwerde keine neuen Tatsachen enthält. Unzulässig ist die Beschwerde, wenn der Bf, der Beschwerdegegner, der Beschwerdegegenstand und der Klagegrund identisch sind.511 Für die Bf reicht materielle Identität aus.512 Zulässig ist eine Beschwerde, wenn sie neue Tatsachen enthält. Keine neuen Tatsachen sind solche, die zwar erstmalig erwähnt werden, aber schon im Rahmen einer früheren Beschwerde hätten vorgebracht werden können. War eine Tatsache zum Zeitpunkt des früheren Urteils des EGMR unbekannt und konnte sie der Partei nach menschlichem Ermessen nicht bekannt sein, kann Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt werden (Art 80 VerfO EGMR). Internationale Rechtshängigkeit ist vor allem anzunehmen, wenn die Streitsache dem UN-Menschenrechtsrat oder einem Kontrollorgan des IPbpR unterbreitet worden ist (Rn 3).513 Gleiches soll für die Kontrollorgane der internationalen Arbeitsorganisation gelten.514 Sofern allerdings der Streitgegenstand oder die Parteien nicht identisch sind515 oder neue Tatsachen nach der Entscheidung dieses Organs auftreten,516 ist die Beschwerde zum EGMR nicht gesperrt.
511 Näher allg zu Rechtskraftvoraussetzungen im Rechtsvergleich Germelmann Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der EU, 2009. 512 Vgl EKMR, Entsch v 10.7.1981, 8766/79, EuGRZ 1982, 15, § 2 – Rudolf Heß/Frankreich u Vereinigtes Königreich (Wiederholung der durch die Ehefrau erhobenen unzulässigen Beschwerde durch den Betroffenen selbst); EKMR, Entsch v 12.10.1992, 16358/90, DR 73, 120 – Cereceda Martín ua/Spanien (Beschwerde von Mitgliedern in einer Vereinigung, die als Bf vor der ILO in einem anderen Verfahren aufgetreten war). In beiden Fällen sind die Beschwerden als unzulässig erachtet worden. 513 Krit Grabenwarter/Pabel EMRK, § 13 Rn 50. 514 EKMR, Entsch v 20.1.1987, 11603/85, DR 50, 228, 237 – Council of Civil Service Unions ua/Vereinigtes Königreich; krit Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 59. 515 Vgl EGMR, Entsch v 3.10.2002, 46133/99 u 48183/99 – Smirnova/Russland; Entsch v 14.2.2006, 15472/02 – Folgerø ua/Norwegen. 516 Vgl EGMR, Entsch v 10.1.2006, 25326/03 – Patera/Tschechien. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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(c) Keine offensichtliche Unvereinbarkeit mit der EMRK oder den Protokollen, kein Missbrauch 131 Gem Art 35 III lit a EMRK erklärt der Gerichtshof Individualbeschwerden für unzulässig, wenn er sie für offensichtlich unvereinbar mit der Konvention517 oder den Protokollen oder für missbräuchlich hält. Der Missbrauch des Beschwerderechts kann mit dem Missbrauch der materiellen Gewährleistung einhergehen (vgl Art 17 EMRK; Rn 92).518 Ein Rechtsmissbrauch des Beschwerderechts liegt überdies dann vor, wenn der Bf von der Beschwerde in rechtwidriger und schädigender Weise Gebrauch gemacht hat.519 Als Missbrauch wird es zB angesehen, wenn bewusst falsche Tatsachen vorgetragen werden520 oder gefälschte Unterlagen vorgelegt werden. Ebenso begründen anstößige und beleidigende Eingaben sowie die Verletzung der Vertraulichkeit von Vergleichsverhandlungen (Art 39 II EMRK, 62 II VerfO EGMR) einen Missbrauch.521 Weitere Fälle des Missbrauchs regeln die Art 44 A ff VerfO EGMR (insbesondere Nichtbefolgung einer Anordnung des Gerichtshofs, fehlende Mitwirkung, unangemessene Stellungnahmen).
(d) Keine offensichtliche Unbegründetheit 132 Als Fall der Unzulässigkeit einer Beschwerde sieht die EMRK auch die offensicht-
liche Unbegründetheit an (Art 35 III lit a EMRK). In solchen Fällen dürfte aber bereits die Beschwerdebefugnis (Rn 116 ff) fehlen. Eine Beschwerde ist offensichtlich unbegründet, wenn evident keine Verletzung der Konvention vorliegt, es an einer ausreichenden Begründung oder Substantiierung fehlt, vorgetragene Sachverhalte offensichtlich unzutreffend oder nicht beweisbar sind, der EGMR nur als Superrevisionsinstanz („Vierte-Instanz-Formel“522) in Anspruch genommen wird, die Opfereigenschaft des Bf nachträglich weggefallen ist oder die Beschwerde als konfus oder völlig abwegig anzusehen ist.523
517 Für ein Bsp (behauptete Rechtsverletzung wegen mangelnder Strafverfolgungsbemühungen des Konventionsstaates gegenüber einem Dritten) vgl EGMR, Entsch v 10.1.2006, 25326/03 – Patera/ Tschechien. 518 Die Frage des Missbrauchs kann so eng mit derjenigen des Gewährleistungsgehalts der jeweiligen Konventionsnorm verbunden sein, dass der Gerichtshof sie erst in der Begründetheit prüft. Vgl EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 45036/98, NJW 2006, 197 ff – Bosphorus/Irland = JK 2006, EMRK Art 1/3. 519 EGMR, Urt v 15.9.2009, 798/05, NVwZ 2010, 1541, § 62 – Mirolubovs ua/Lettland. 520 Vgl EGMR, Entsch v 19.6.2006, 23130/04, NJW 2007, 2097 – Hüttner/Deutschland. 521 Vgl Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 136 ff. 522 Villiger EMRK, Rn 107. Eine Zulässigkeit ist hier nur gegeben, wenn zugleich ein Verstoß gegen Art 6 EMRK geltend gemacht werden kann. 523 So die Zusammenfassung der Gründe bei Schäfer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 35 Rn 114 mwN.
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(e) Erheblicher Nachteil Mit dem 14. ZP EMRK wurde in Art 35 III lit b EMRK ferner das Zulässigkeitskriteri- 133 um eines erheblichen Nachteils eingeführt. Danach kann der EGMR die Individualbeschwerde für unzulässig erklären, wenn er der Ansicht ist, dass dem Bf kein erheblicher Nachteil entstanden ist. Als Gegenkontrolle hat er festzustellen, ob die Menschenrechte der EMRK und der Zusatzprotokolle eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde trotz des geringen persönlichen Nachteils des Bf erfordern. Mit dem 15. ZP EMRK ist die zusätzliche Ausnahme, dass die Rechtssache noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist, fortgefallen. Damit soll erreicht werden, dass der Gerichtshof mehr Zeit auf Fälle verwendet, die eine Prüfung in der Sache verlangen. In der Sache handelt es sich bei Art 35 III lit b EMRK um eine Bagatellschwelle gem dem Grundsatz „de minimis non curat praetor“.524 Die Verletzung des Rechts muss ein Minimum an Schwere erreichen, um die gerichtliche Prüfung zu rechtfertigen. Ob eine Verletzung schwerwiegend ist, muss unter Berücksichtigung sowohl der subjektiven Auffassung des Bf als auch dessen geprüft werden, was objektiv in seinem Fall auf dem Spiel stand.525 So hat der EGMR eine Beschwerde, in der es um eine Beitreibung von mehr als einem Euro ging, als unerheblichen Nachteil eingestuft.526
(f) Rechtsschutzbedürfnis Schließlich muss der Bf wie jeder Rechtsschutzsuchende ein Rechtsschutzbedürfnis 134 besitzen.527 Dies wird aber idR in Anbetracht der zuvor erwähnten Sachentscheidungsvoraussetzungen nicht mehr gesondert zu prüfen sein. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt jedenfalls nicht deshalb, weil bereits eine Staatenbeschwerde erhoben worden ist.528
(8) Schematische Zusammenfassung Zusammenfassend kann die Zulässigkeit von Individualbeschwerden zweckmäßi- 135 gerweise wie folgt geprüft werden, wobei wie immer auch andere Schemata529 und
524 Vgl Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 77. 525 EGMR, Entsch v 1.7.2010, 25551/05, NJW 2010, 3081 – Korolev/Russland. S auch Vogiatzis, ICLQ 65 (2016), 185 ff. 526 Vgl die zuvor genannte Entscheidung. 527 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 34 Rn 43 ff. 528 Vgl EGMR (GK), Urt v 18.9.2009, 16064/90 ua, NVwZ-RR 2011, 251, § 118 – Varnava ua/Türkei. 529 Ein Alternativschema findet sich etwa bei v Arnauld VR, Rn 745.
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Prüfungsabläufe vertretbar sind, da die entscheidenden Elemente der Art 1, 34 und 35 EMRK auch alternativ angeordnet werden können: 1. Beteiligte (Zuständigkeit des EGMR ratione personae) a) Bf: Parteifähigkeit, Prozessfähigkeit, Postulationsfähigkeit b) Tauglicher Beschwerdegegner 2. Beschwerdegegenstand a) Handeln oder Unterlassen eines Konventionsstaates, ggf Zurechenbarkeit (Zuständigkeit ratione materiae) b) Zuständigkeit ratione loci 3. Beschwerdebefugnis a) Zeitliche Anwendbarkeit der EMRK (Zuständigkeit ratione temporis) b) Konventionsverletzung (Zuständigkeit ratione materiae) c) Opfereigenschaft (Zuständigkeit ratione personae) 4. Rechtswegerschöpfung a) Vertikale Rechtswegerschöpfung b) Horizontale Rechtswegerschöpfung 5. Beschwerdefrist 6. Form und Sprache der Beschwerde 7. Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen a) Keine Anonymität b) Keine res judicata und keine Litispendenz c) Kein Missbrauch d) Keine offensichtliche Unbegründetheit e) Erheblicher Nachteil f) Rechtsschutzbedürfnis
bb) Verfahren 136 Das Verfahren des EGMR nach Einlegung einer Individualbeschwerde ist mehrstu-
fig ausgestaltet. Wird schon bei der Einlegung der Beschwerde aus den beigebrachten Unterlagen deutlich, dass sie unzulässig ist oder aus dem Register zu streichen (Art 37 EMRK) ist, wird sie grundsätzlich in Einzelrichterbesetzung geprüft (Art 49 I VerfO EMRK). Ansonsten bestimmt der Präsident der Sektion,530 der die Beschwerde zugewiesen wird, einen berichterstattenden Richter (§ 49 II VerfO EGMR), der ua darüber entscheidet, ob die Beschwerde in Einzelrichterbesetzung, einem Ausschuss oder einer Kammer geprüft wird (sofern der Präsident nichts anderes angeordnet hat, Art 49 III lit b VerfO EGMR). Kommt der Einzelrichter zu der Entschei-
530 Vgl Art 25 lit b EMRK, Art 25 I VerfO EGMR. S auch Rn 105. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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dung, dass die Beschwerde unzulässig oder aus dem Register zu streichen ist (Art 37 EMRK), trifft er eine endgültige Entscheidung (Art 52 A I VerfO EGMR). Ansonsten übermittelt er die Beschwerde zur weiteren Prüfung an den Ausschuss oder die Kammer (Art 52 A II VerfO EGMR). Auch diese können endgültig über die Unzulässigkeit oder Streichung im Register entscheiden (Art 53 I, 54 I VerfO EGMR). Rund 90 % aller Beschwerden finden so ihren Abschluss.531 Ergeht keine negative Entscheidung, ist über die Zulässigkeit und Begründetheit 137 zu entscheiden (Art 28 I lit b, 29 I EMRK). Der Ausschuss kann zugleich über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerde entscheiden, „sofern die der Rechtssache zugrunde liegende Frage der Auslegung und Anwendung dieser Konvention oder der Protokolle dazu Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist“ (Art 28 I lit b EMRK). Dies entspricht in der Grundidee dem acte clair-Prinzip des EuGH.532 Trifft der Ausschuss keine Entscheidung oder erlässt er kein Urteil, übermittelt er die Beschwerde der Kammer (Art 53 VI VerfO EMRK). Nach Art 29 II 2 EMRK kann die Entscheidung der Kammer über die Zulässigkeit gesondert vorab ergehen. In der Praxis werden Zulässigkeit und Begründetheit aber oftmals gleichzeitig geprüft (Art 54 A I VerfO EGMR). Ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine sofortige Unzulässigkeit oder Streichung, über die im Falle eines Verfahrens vor der Kammer deren Präsident entscheidet (Art 54 III VerfO EGMR), bringt die Kammer (respektive ihr Präsident) die Beschwerde dem Beschwerdegegner zur Kenntnis (Art 54 II lit b VerfO EGMR), setzt die Prüfung fort, nimmt die erforderlichen Ermittlungen auf, regt die Beibringung weiterer Unterlagen an und bemüht sich um eine gütliche Einigung (Art 39 EMRK). Nach Zustellung gilt grundsätzlich Anwaltszwang (Art 36 II VerfO EGMR) sowie die Verpflichtung, die englische oder französische Sprache zu verwenden (Rn 127). Die jederzeit möglichen Verhandlungen (Art 59 III VerfO EGMR) sind grundsätzlich öffentlich (Art 40 I EMRK). Dem Bemühen des EGMR, eine gütliche Einigung zu erzielen („friendly sett- 138 lement/règlement amiable“), kommt heute eine ganz erhebliche Rolle zu. Erkennt die Regierung im Laufe des Verfahrens an, dass eine Konventionsverletzung erfolgte, und gibt sie eine einseitige rechtsverbindliche Erklärung ab, in welcher Form sie deshalb Wiedergutmachung leisten will, kann dies auch dann zu einer Streichung der Beschwerde aus der Liste gem Art 37 I lit c EMRK führen, wenn der Bf die Fortführung des Verfahrens wünscht.533 Die Streichung einer für zulässig erklärten Beschwerde ergeht durch gerichtliche Entscheidung mit einer Kostenregelung und unterliegt wegen der völkerrechtlichen Bindungswirkung der Überwachung durch
531 Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 6 Rn 19. 532 Dazu → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 151. 533 Vgl Keller, EuGRZ 2008, 359 (365). Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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das Ministerkomitee (Art 43 III VerfO EGMR). Wird eine Rechtssache in dem Register gestrichen, unterbleibt eine Feststellung über die Konventionsverletzung. 139 Im Interesse der Rechtspflege können von Amts wegen oder auf Antrag Dritte an dem Verfahren beteiligt werden. Als Dritte sind jedenfalls die anderen Konventionsstaaten, internationale Organisationen, der Kommissar für Menschenrechte des Europarats534, Nichtregierungsorganisationen535 sowie Private und Verbände anzusehen. Bei den Dritten kann es sich um direkt betroffene Personen bzw Organisationen oder nicht direkt Betroffene (welche die Rolle eines amicus curiae annehmen) handeln. So sind an den Gerichtsverfahren vor dem EGMR im Falle von Streitigkeiten, die auf nationaler Ebene zwischen Privatpersonen geführt wurden, grundsätzlich nur der unterlegene Bf sowie der Konventionsstaat beteiligt, obwohl die Entscheidung des EGMR sich zu Lasten der im Ausgangsprozess obsiegenden privaten Partei auswirken kann.536 Daher ist gerade in solchen Fällen eine Drittbeteiligung dringend angezeigt.537 140 Damit die EU der EMRK beitreten kann, muss sichergestellt werden, dass die primärrechtlichen Anforderungen des EuGH erfüllt werden (Rn 25 f). In Bezug auf die Verfahrensbeteiligten hat der EuGH sowohl das Staatenbeschwerdeverfahren unter den Mitgliedstaaten als auch auf der Beschwerdegegnerseite den Mitbeschwerdegegner-Mechanismus beanstandet, nach dem sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten an Verfahren vor dem EGMR beteiligt werden sollten, wenn die beiderseitigen unionsrechtlich geschützten Interessen berührt waren, etwa weil die behauptete Konventionsverletzung auf Unionsrecht beruht und der Mitgliedstaat keinen Umsetzungsspielraum hatte oder die EMRK-Verpflichtung mit einer unionsprimärrechtlichen Rechtsposition in Konflikt geraten würde.538 Auch das Vorabbefassungsverfahren, mit dem der EuGH vor Entscheidung des EGMR die Möglichkeit erhalten sollte, die Vereinbarkeit einer Handlung der Union mit der EMRK zu prüfen,539 ist als primärrechtswidrig angesehen worden (Rn 25). Ein neuer, primärrechtskonformer Beitrittsübereinkommens-Entwurf ist bislang nicht absehbar, auch wenn die Beitrittsverhandlungen wiederaufgenommen worden sind.540
534 Vgl Art 36 III EMRK. 535 Wie zB Amnesty international oder die OSZE (vgl dazu EGMR (GK), Urt v 8.3.2006, 59532/00, NJW 2007, 347, § 10 – Blečić/Kroatien). 536 Vgl Meyer-Ladewig/Ebert in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer EMRK, Art 36 Rn 6 ff. 537 Vgl zu der Problemstellung auch BVerfGE 111, 307 ff – Görgülü. 538 Vgl Art 3 II-V Beitrittsübereinkommens-Entwurf. Näher dazu Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 (475 f). 539 Art 3 VI Beitrittsübereinkommens-Entwurf. 540 Vgl die gemeinsame Pressemitteilung der EU-Kommission und des Generalsekretärs des Europarats v 29.9.2020, Réf. DC 123(2020), verfügbar unter www.coe.int; ferner Germelmann/Gundel, BayVBl 2021, 583.
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Nur in den Fällen, in denen die Sache besondere Schwierigkeiten aufweist oder 141 die Kammer von einer früheren Entscheidung einer anderen Kammer abweichen will, legt die Kammer – bevor sie selbst eine Entscheidung getroffen hat – die Rechtssache von Amts wegen der Großen Kammer vor (Art 30 EMRK). Ein Widerspruchsrecht der Parteien gibt es zu Recht seit dem 15. ZP EMRK nicht mehr. Eine Befassung der Großen Kammer mit einer Beschwerde kommt ferner dann in Betracht, wenn eine Partei – ebenfalls „in Ausnahmefällen“ – innerhalb von drei Monaten nach Erlass des Urteils der Kammer die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragt (Art 43 I EMRK, Art 72 VerfO EGMR). In diesem Falle bedarf es zunächst einer Annahme des Antrags durch einen Fünferausschuss der Großen Kammer (Art 24 V VerfO EGMR), wobei dieser zu prüfen hat, ob sich es um eine „schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung“ der Konvention oder der Zusatzprotokolle handelt oder sonst eine „schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung“ vorliegt („serious question/issue – question grave“; Art 43 II EMRK, Art 73 VerfO EGMR). Nur sofern der Ausschuss den Antrag annimmt, wird der Fall an die Große Kammer verwiesen, die die Sache dann endgültig durch Urteil entscheidet (Art 43 III EMRK). Im Verfahren des Art 43 EMRK fungiert die Große Kammer also also gerichtsinterne (letztzuständige) Rechtsmittelinstanz.
cc) Begründetheit der Beschwerde Begründet ist eine Individualbeschwerde, wenn der Bf in einem Konventionsrecht 142 verletzt worden ist. Der Spruch ergeht – anders als „Entscheidungen“ („decisions/ décisions“) über die Zulässigkeit einer Beschwerde – in Form eines Urteils („judgment/jugement“). Die Abfassung des Urteils folgt den Vorgaben des Art 74 VerfO EGMR. Insbesondere wird zwischen der Darstellung des Prozessverlaufs, dem Sachverhalt, der Zusammenfassung des Vorbringens der Parteien, den Entscheidungsgründen und dem Urteilstenor unterschieden. Sondervoten sind zulässig und sehr häufig üblich (Art 45 II EMRK; 74 VerfO EGMR); es unterscheiden sich zustimmende Sondervoten, die – ggf auch nur zum Teil („partly/en partie“) – lediglich in der Begründung („concurring opinion/opinion concordante“) oder auch im Ergebnis („dissenting opinion/opinion dissidente“) abweichen. Sie werden idR begründet,541 müssen dies aber nicht sein (Art 74 II VerfO EGMR). Die Urteile werden nur in englischer oder französischer Sprache respektive – insb bei Urteilen der Großen Kammer – in beiden Sprachen erlassen (Art 76 VerfO EGMR). Übersetzungen haben keinen amtlichen Charakter. Eine Kostenentscheidung ergeht nur, wenn Kosten
541 Zu ihrem Beitrag zur Rechtsfortbildung Kovler in: Mélanges en l’honneur de Frédéric Sudre, 2018, S 357 ff.
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auferlegt werden. Das Verfahren vor dem EGMR ist grundsätzlich542 kostenfrei (Rn 127). Die Kosten – insbesondere für die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistands – können aber gegebenenfalls bei der Zusprechung einer gerechten Entschädigung (Art 41 EMRK) berücksichtigt werden. 143 Die gerichtliche Kontrolldichte ist im Durchschnitt geringer als in Deutschland, weil der EGMR den Konventionsstaaten in etlichen Bereichen gerade im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Beurteilungs- respektive Ermessens- oder Einschätzungs- und Gestaltungsspielräume („margins of appreciation/marges d’appréciation“) zugesteht (Rn 100).543 Anders als im deutschen Recht wird dabei nicht kategorisch zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen mit Beurteilungsspielräumen, Rechtsfolgen mit Ermessensspielräumen und sonstigen Rechtsbindungen unterschieden, selbst wenn die Begriffe gelegentlich genannt werden. Für die Anerkennung der Spielräume sind keine festen dogmatischen Regeln anerkannt; auch der Wortlaut der Konventionsbestimmungen ist insofern idR unergiebig. Oftmals spielen unterschiedliche Kriterien eine Rolle. Für die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle ist zunächst zu unterscheiden, ob sich die Freiräume auf die Tatsachenfeststellung, die Tatsachenwürdigung, die Auswahl der Maßnahmen zur Einschränkung der Konventionsrechte oder auf die positiven Pflichten beziehen sollen. Bei der Erfüllung ihrer positiven Pflichten wird den Konventionsstaaten typischerweise ein weiter Spielraum zugestanden. Dies gilt insbesondere da, wo die staatliche Organisations- und Ressourcenhoheit betroffen ist, weniger hingegen im Falle der Absicherung staatlicher Ermittlungs- und Dokumentationspflichten zur Effektivierung materieller Abwehrrechtsgarantien.544 In diesen Fällen, in denen der Staat in der Lage ist, die Sachverhaltsaufklärung gleichsam zu unterminieren, erkennt der
542 Zu den Kosten für das Erscheinen von Zeugen, Sachverständigen oder sonstigen Personen auf Antrag oder auf Seiten einer der Parteien vgl Art A5 VI Anhang zur VerfO EGMR. 543 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 48 – Handyside/Vereinigtes Königreich; Urt v 27.9.1999, 33985/96 u 33986/96, NJW 2000, 2089 – Smith u Grady/Vereinigtes Königreich; Urt v 4.12.2007, 44362/04, NJW 2009, 971, § 77 – Dickson/Vereinigtes Königreich. Näher zum Ganzen Gerards General Principles of the European Convention on Human Rights, 2019, S 160 ff; Yourow The Margin of Appreciation Doctrin in the Dynamics of the European Human Rights Jurisprudence, 1996; Rupp-Swienty Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1999; Arai-Takahashi The Margin of Appreciation Doctrin and the Principle of Proportionality in the Jurisprudence of the ECHR, 2002; Rubel Die Gewährung von Entscheidungsfreiräumen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs, 2005; Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 234 ff. 544 Vgl dazu bspw → Germelmann § 4.1.1 Rn 14 (Recht auf Leben). Allgemein näher Altermann Ermittlungspflichten der Staaten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2006, S 146 ff.
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Gerichtshof sogar in prozessualer Hinsicht Beweislastumkehrungen an.545 Ferner kommt es für die Annahme von Entscheidungsspielräumen ua darauf an, wie gewichtig die verfolgten staatlichen Zielsetzungen sind und welche Eindringtiefe einem Eingriff zukommt546. Eine weitere Fallgruppe ist von praktisch hoher Bedeutung in gesellschaftlich 144 und politisch kontroversen Themen. Gibt es keinen gemeineuropäischen Standard, dh keinen Konsens zwischen den Konventionsstaaten in der Behandlung einer bestimmten Frage, wird diesen zumeist ein Beurteilungsspielraum zugestanden.547 Dies ist nicht in allen Fällen unbedenklich, weil hier zuweilen grundlegende Konventionsrechte wie das Recht auf Leben betroffen sind und die Konventionsrechte gerade auch Minderheitenpositionen schützen sollen.548 Die diesbezügliche Rspr erscheint allerdings als gefestigt und trägt dem Umstand Rechnung, dass auf der Ebene der Europarats keine umfassende politische und wertebezogene Integration existiert. Hier wird der Unterschied zwischen völkerrechtlichem und nationalverfassungsrechtlichem Grundrechtsschutz einmal mehr deutlich. Für eine Abschwächung der Kontrolldichte im Einzelfall können ferner auch länderspezifische Besonderheiten549, die Komplexität einer Materie550, die Berührung von (einem starken gesellschaftlichen Wandel unterliegenden) Moralvorstellungen551 oder die grundlegenden staatlichen Souveränitätsinteressen (etwa im Hinblick auf die Sicherheitsinteressen552) sprechen.553 Umgekehrt nimmt der EGMR etwa an, dass im Falle einer Beeinträchtigung der Pressefreiheit immer eine besonders sorgfältige Überprüfung stattfinden muss („call for the most careful scrutiny by the court/appellent de la part de la Cour l’examen le plus scrupuleux“), wenn die Maßnahme dazu führen könnte, dass die Presse davon abgehalten wird, an der öffentlichen Debatte
545 Vgl dazu zB EGMR (GK), Urt v 13.12.2012, 39630, §§ 151 ff – El-Masri/EJR Mazedonien. 546 Vgl auch EGMR (GK), Urt v 10.4.2007, 6339/05, NJW 2008, 2013, § 77 – Evans/Vereinigtes Königreich; Urt v 17.1.2023, 40792/10, 30538/14 u 43439/14, §§ 190 ff – Fedotova ua/Russland. 547 Vgl zB EGMR, Urt v 8.7.2004, 53924/00, NJW 2005, 727 ff – Vo/Frankreich, §§ 82 ff = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1; Urt v 13.9.2005, 42571/98, NJW 2006, 3263, § 25 – I.A./Türkei. 548 Vgl Letsas A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, S 120 ff; Mayer in: Karpenstein/ders, EMRK, Einleitung Rn 67. Vgl zB jüngst EGMR (GK), Urt v 14.9.2022, 24384/19 u 44234/20, §§ 251 ff – H.F. ua/Frankreich für den Anspruch auf Repatriierung aus einem kurdischen Lager in Syrien nach Art 3 II 4. ZP EMRK. 549 Vgl zB EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87, HRLJ 1994, 371, § 56 – Otto-Preminger-Institut/Österreich. 550 Vgl Grabenwarter, EuGRZ 2009, 487 (489); Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 (498). 551 Vgl EGMR, Urt v 10.4.2007, 6339/05, NJW 2008, 2013, § 77 – Evans/Vereinigtes Königreich. 552 Vgl Gerards Judicial Review in equal treatment cases, 2005, S 182 ff. 553 Vgl auch EGMR (GK), Urt v 13.2.2003, 41340/98 ua, NVwZ 2003, 1489, § 40 f – Refah Partisi ua/Türkei; Peters/Altwicker EMRK, § 3 Rn 18; Altwicker Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2011, S 240 ff; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 20 ff.
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zu Themen von legitimen öffentlichem Interesse teilzunehmen.554 Dies korrespondiert mit dem Schrankenvorbehalt des Art 10 II EMRK, der gerade erfordert, dass eine Maßnahme „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist. Überprüft wird unter anderem auch, ob ein Risiko falsch abgeschätzt wurde, historische Umstände unzutreffend berücksichtigt worden sind, der maßgeblichen Regelung die Konsistenz fehlt oder eine Beschränkung zu undifferenziert ist.555 145 Die Gewährung materiell-rechtlicher Entscheidungsspielräume zu Lasten der Konventionsberechtigten wird eher hingenommen, wenn es verfahrensrechtliche oder organisatorische Vorkehrungen zum Schutz der Rechte der Einzelnen gibt,556 so dass hier gleichsam eine Schutzverlagerung auf die verfahrensrechtliche Ebene der Grundrechtsgarantien stattfindet. Schließlich ist die gerichtliche Kontrolldichte gemindert, wenn die Konventionsstaaten in eine internationale oder supranationale Organisation eingebunden und in Erfüllung diesbezüglicher Verpflichtungen tätig geworden sind, die ihrerseits durch einen hinreichenden Grundrechtsschutz abgesichert werden (Rn 61). Hier findet indes die Kontrollreduktion schon bei der Frage der staatlichen Maßnahme bzw bei der Schutzbereichsbeeinträchtigung, nicht hingegen erst bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs statt. 146 Die geminderte Kontrolldichte, die in der Rspr zu den Einschätzungs- und Gestaltungsspielräumen besonders deutlich zutage tritt, aber letztlich auch in anderen Bereichen der Grundrechtsbeschränkung wie der Definitionsfreiheit bezüglich der legitimen Gemeininteressen oder der Ausgestaltung der gesetzlichen Eingriffsgrundlagen (Rn 98) erkennbar ist,557 trägt einerseits der Vielfältigkeit der europäischen Rechtstraditionen und andererseits den gleichfalls verfügbaren nationalen Grundrechtsschutzmechanismen Rechnung. Diese einem verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz nur bedingt vergleichbare Wirkungsweise der Konventionsrechte wird nun durch die allgemeine Betonung der Subsidiarität und der Ermessensspielräume der Mitgliedstaaten im letzten Absatz der durch das 15. ZP EMRK insofern erweiter-
554 Vgl EGMR (GK), Urt v 27.3.1996, 17488/90, §§ 39 f – Goodwin/Vereinigtes Königreich; s auch EGMR (GK), Urt v 20.5.1999, 21980/93, EuGRZ 1999, 453, § 64 – Bladet Tromsø u Stensaas/Norwegen; Urt v 23.9.1994, 15890/89, § 35 – Jersild/Dänemark; Urt v 14.4.2009, 37374/05, § 26 – Társaság a Szabadságjogokért/Ungarn; Urt v 16.7.2013, 73469/10, § 95 – Nagla/Lettland; Urt v 28.11.2013, 39534/07, § 33 – Österreichische Vereinigung/Österreich. Für die Vergabe von Fernsehlizenzen s EGMR (GK), Urt v 5.4.2022, 28470/12, §§ 177 ff – NIT S.R.L./Moldau. 555 Nußberger NVwZ – Beilage 2013, 36 (43) (mit Rechtsprechungshinweisen). Vgl für die Medienpluralität und ihren regulatorischen Rahmen EGMR (GK), Urt v 5.4.2022, 28470/12, §§ 193 ff – NIT S.R.L./Moldau. 556 Vgl beispielhaft EGMR, Urt v 26.2.2002, 29271/95, §§ 38 ff – Dichand ua/Österreich. 557 Vgl dazu Sudre EMRK, Rn 124 ff, 132 ff, 140 ff.
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ten Präambel auch textlich anerkannt,558 wobei diese vornehmlich iRd Auslegung der Vertragsvorschriften Bedeutung erlangen kann.559 In Bezug auf die Rspr des EGMR dürfte sich praktisch wenig ändern, da die Präambel im Wesentlichen die bestehende Rechtslage nachzeichnet. Eine generelle Reduktion des Grundrechtsschutzes kann durch sie nicht begründet werden und stünde auch mit den Zielsetzungen des Art 1 EMRK nicht in Einklang. Der neue Subsidiaritätsgrundsatz bildet vornehmlich einen Auslegungsanhaltspunkt, der eine Einfügung der Konvention in den allgemeinen europäischen Grundrechtsschutz gestatten und befördern möchte.
dd) Wirkungen der Urteile des EGMR (1) Rechtskraftwirkung, Befolgungspflicht, Präjudizwirkung Die endgültigen Urteile des EGMR sind für die am Verfahren beteiligten Personen 147 einschließlich des beklagten Mitgliedstaates (inter partes) in Bezug auf den entschiedenen Einzelfall verbindlich. Verbindlichkeit bedeutet, dass das Urteil sowohl formell als auch materiell rechtskräftig (res judicata) wird.560 Zum einen sind die Urteile dann nicht mehr angreifbar, zum anderen erzeugen sie inhaltliche Bindungswirkungen.561 Sie haben allerdings keine Rechtskraftwirkungen erga omnes, da sich die Feststellung nur auch den konkreten Einzelfall der jeweiligen Konventionsverletzung bezieht. Der verurteilte Mitgliedstaat ist nach Art 46 I EMRK verpflichtet, das Urteil zu befolgen, wobei die Einzelheiten in der EMRK nicht näher umschrieben werden. Nach den gewohnheitsrechtlich geltenden allgemeinen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit, die in ihrem Kern hier übertragbar sind,562 müssen die (fortdauernden) Rechtsverletzungen beendet werden. Außerdem ist Wiedergutmachung zu leisten,563 und gleichartige Verletzungen sind in Zu-
558 Präambel, letzter Abs: „[…] in Bekräftigung dessen, dass es nach dem Grundsatz der Subsidiarität in erster Linie Aufgabe der Hohen Vertragsparteien ist, die Achtung der in dieser Konvention und den Protokollen dazu bestimmten Rechte und Freiheiten zu gewährleisten, und dass sie dabei über einen Ermessensspielraum verfügen, welcher der Kontrolle des durch diese Konvention errichteten Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte untersteht […]“. 559 Vgl Art 31 II WVK. Weitergehend Schabas EMRK, S 54 f mit der Annahme eigener Rechtsbindungswirkung der Präambel, allerdings auch mit dem Hinweis auf eine geringe Nutzung durch den EGMR. 560 Vgl differenzierend Schabas EMRK, S 866. 561 Vgl Germelmann Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der EU, 2009, S 299 mwN; Sudre EMRK, Rn 244. Zum Wiederaufgreifen des Verfahrens und zur Berichtigung von Fehlern vgl die Art 80 f VerfO EGMR. 562 Vgl EGMR (GK), Urt v 30.6.2009, 32772/02, § 86 – Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/ Schweiz (Nr 2); dazu Cremer, EuGRZ 2012, 493 ff; ferner Breuer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 46 Rn 2.
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kunft zu unterbinden.564 Bei Unklarheiten können die Parteien die Auslegung des Urteils beantragen (Art 79 VerfO EGMR). Die Überwachung der Durchführung des Urteils erfolgt durch das Ministerkomitee nach Art 46 II-V EMRK (Rn 104, 138, 158).565 Wegen der begrenzten Rechtskraftwirkung wirken sich die Urteile auf Parallelfälle, die etwa andere Konventionsstaaten betreffen, nur im Rahmen der Präjudizwirkung der Entscheidung aus; dies kann etwa bei vergleichbaren Gesetzesbestimmungen der Fall sein, die einen gleichen Konventionsverstoß begründen. Die Präjudizwirkung ist nicht im strengen Sinne einer dem common law vergleichbaren stare decisis-Doktrin zu verstehen;566 die Urteile entfalten für die am Verfahren nicht beteiligten Vertragsparteien eher eine inhaltliche Orientierungswirkung, von der der Gerichtshof in anderen Fällen durchaus auch abweichen kann.567 Inhaltlich handelt es sich bei den Urteilen des EGMR um (deklaratorische) Feststellungsurteile, wie sich ua aus Wortlaut und Systematik des Art 41 EMRK ergibt.568 Dagegen hat das Urteil keine Gestaltungs- oder Verpflichtungswirkung, die es dem Gerichtshof ermöglichte, selbst die konventionsverletzenden Maßnahmen (zB die nationalen Gerichtsentscheidungen) aufzuheben oder die Konventionsstaaten – abgesehen von der Auferlegung einer Entschädigung nach Art 41 EMRK – zu Leistungen zu verurteilen.569 Ungeachtet dessen ist der EGMR gestützt auf die Art 41 und 46 EMRK verstärkt dazu übergegangen, den Konventionsstaaten im Rahmen ihrer konventionsrechtlichen Pflicht, den Verstoß und seine Folgen zu beseitigen, konkrete positive Maßnahmen aufzuerlegen.570 So hat er die Rückgabe konventionswidrig erlangter Grundstücke571, die Freilassung konventionswidrig inhaftierter Beschwerdefüh-
563 Vgl auch Art 41 EMRK sowie Rn 157. 564 Vgl zu dieser Pflicht zur restitutio in integrum EGMR (GK), Urt v 8.4.2004, 71503/01, NJW 2005, 2207, § 198 – Assanidze/Georgien; Urt v 30.6.2009, 32772/02, § 85 – Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/Schweiz (Nr 2); Schabas EMRK, S 868 mwN; Cremer, EuGRZ 2012, 493 (496). 565 Näher Zastrow Die Rolle des Ministerkomitees bei der Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2018. 566 Schabas EMRK, S 866, 711, der indes eine der stare decisis-Doktrin vergleichbare Bindungswirkung im Verhältnis der Kammern zur Großen Kammer (Art 30 EMRK) annimmt. 567 Vgl Peters/Altwicker EMRK, § 37 Rn 18; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 16 Rn 8 f. S auch Payandeh, JÖR nF 68 (2020), 1 ff. 568 Vgl EGMR (Pl) Urt v 13.6.1979, 6833/74, EuGRZ 1979, 454, § 58 – Marckx/Belgien; EGMR (GK), Urt v 30.6.2009, 32772/02, § 61 – Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/Schweiz (Nr 2). 569 Ganz hM, vgl BVerfGE 111, 307 (320 f) = JK 2005, GG Art 20 III/39 (Fall 2); 148, 296 (Rn 127, 132); BVerfG (K), NJW 1986, 1425 ff; Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, S 172 ff. 570 Vgl etwa EGMR (GK), Urt v 30.6.2009, 32772/02, §§ 89 ff – Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/Schweiz (Nr 2). Zusammenfassend Flauss, RTDH 2009, 27, 59 ff. 571 EGMR, Urt v 31.10.1995, 14556/98, § 40 – Papamichalopoulos ua/Griechenland (Art 50).
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rer572 und die Einführung eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs gegen eine überlange gerichtliche Verfahrensdauer573 verlangt. In dem Urteil Assanidze574 (Freilassung eines konventionswidrig inhaftierten Bf) vertrat der EGMR die Auffassung, dass es angesichts der Art der festgestellten Verletzung keine echte Wahl unter verschiedenen Abhilfemaßnahmen geben könne. In anderen Urteilen hat der Gerichtshof keine vergleichbare Festlegung getroffen, wohl aber sind Abhilfemaßnahmen in den Gründen bezeichnet575 oder empfohlen576 worden. Ferner hatte der Gerichtshof beginnend mit der Rechtssache Broniowski den 148 Konventionsstaaten unter Hinweis auf seine Arbeitsbelastung in sog Piloturteilen zwecks Vermeidung massenhafter Parallelverfahren mehr oder weniger klar bestimmte Handlungspflichten auferlegt, sofern in dem betreffenden Staat strukturelle oder systemische Mängel feststellbar sind.577 Das Verfahren betraf unzureichende Enteignungsentschädigungen des polnischen Staates. Zum Zeitpunkt der Entscheidung waren bereits 167 gleichartige Fälle beim EGMR anhängig und nahezu 80.000 polnische Staatsangehörige nicht angemessen entschädigt worden.578 Gegen Deutschland hat es ebenfalls ein Piloturteil gegeben (Rs Rumpf, Rn 45 f). Mittlerweile ist das Piloturteil-Verfahren in der Verfahrensordnung geregelt worden. Danach kann der Gerichtshof von Amts wegen oder auf Antrag einer Partei oder beider Parteien ein Piloturteil-Verfahren beschließen (Art 61 II 2 VerfO EGMR), wenn sich aus dem Sachverhalt, der einer vor dem Gerichtshof erhobenen Beschwerde zugrunde liegt, ergibt, dass in dem betroffenen Vertragsstaat ein strukturelles oder systembe
572 EGMR (GK), Urt v 8.4.2004, 71503/01, NJW 2005, 2207 – Assanidze/Georgien; Urt v 11.7.2022, 28749/ 18, §§ 140 ff – Kavala/Türkei. 573 EGMR (GK), Urt v 26.10.2000, 30210/96, §§ 152 ff – Kudła/Polen. 574 EGMR (GK), Urt v 8.4.2004, 71503/01, NJW 2005, 2207, § 202 – Assanidze/Georgien. S auch Schabas EMRK, S 868. 575 Vgl EGMR, Urt v 26.2.2004, 74969/01, NJW 2004, 3397, § 64 – Görgülü/Deutschland; v 20.11.2007, 39462/03, §§ 27 ff – Karanović/Bosnien-Herzegowina; Urt v 25.6.2013, 48135/06, § 31 – Youth Initiative for Human Rights/Serbien. 576 Vgl EGMR (GK), Urt v 12.5.2005, 46221/99, NVwZ 2006, 1267, § 210 – Öcalan/Türkei. Ferner Schabas EMRK, S 869 f mwN. 577 Vgl EGMR (GK), Urt v 22.6.2004, 31443/96, EuGRZ 2004, 472, §§ 36 ff – Broniowski/Polen. Vgl allg auch Breuer, EuGRZ 2012, 1 ff; Schmahl EuGRZ 2008, 369 ff; Villiger EMRK, Rn 192 ff (mir weiteren Bsp); Matscher in: Liber amicorum Wolfram Karl, 2012, S 136 (143 ff). Monographisch Haider The Pilot-Judgment Procedure of the European Court of Human Rights, 2013; Baumann Das Piloturteilsverfahren als Reaktion auf massenhafte Parallelverfahren, 2016. 578 Zu den Auswirkungen der Entscheidung und dem auf seiner Grundlage ergangenen „friendly settlement“ vgl EGMR, Entsch v 4.12.2007, 50003/99, EuGRZ 2008, 126 – Wolkenberg ua/Polen. Näher zu dieser und auch der folgenden Rspr Schmahl, EuGRZ 2008, 369 ff.
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dingtes Problem oder ein vergleichbarer sonstiger Mangel besteht, das bzw der zu entsprechenden Beschwerden weiteren Anlass gegeben hat oder zu geben geeignet ist (Art 61 I VerfO EGMR). Der Gerichtshof kann dann in dem Piloturteil die Art des von ihm festgestellten strukturellen oder systembedingten Problems oder sonstigen Missbrauchs sowie die Art der Abhilfemaßnahmen treffen, die der betroffene Vertragsstaat aufgrund des Urteilstenors auf innerstaatlicher Ebene zu treffen hat (Art 61 III VerfO EGMR). Die Prüfung vergleichbarer Beschwerden darf dann ggf zurückgestellt werden, bis die im Tenor des Piloturteils bezeichneten Abhilfemaßnahmen getroffen worden sind (Art 61 VI VerfO EGMR). Die Anordnung eindeutiger Maßnahmen dürfte nur dann zulässig sein, wenn der Sachverhalt nicht abgeschlossen ist und eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt.579
(2) Urteilswirkungen in Deutschland 149 Der verurteilte Konventionsstaat ist also als solcher völkerrechtlich verpflichtet, das Urteil zu befolgen (Art 46 EMRK), dh sicherzustellen, dass die innerstaatliche Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt. Damit ist es Sache des beklagten Staates, jedes Hindernis im innerstaatlichen Recht zu beseitigen, das einer Beendigung der Rechtsverletzung, Wiedergutmachung und Unterbindung des Verstoßes für die Zukunft entgegensteht.580 Keine Aussage trifft die EMRK darüber, welche Rechtswirkungen den Entscheidungen des EGMR in der innerstaatlichen Rechtsordnung581 zukommen. Dies bestimmt sich nach nationalem Recht. In Deutschland ist in erster Linie das Zustimmungsgesetz maßgeblich, durch welches der deutsche Gesetzgeber die EMRK und ihre Zusatzprotokolle in das deutsche Recht überführt hat. Hinzu tritt die verfassungsrechtliche Verankerung der Völkerrechtsfreundlichkeit mit dem daraus resultierenden Berücksichtigungsgebot (Rn 13 f). Infolgedessen entfalten die Deutschland betreffenden Entscheidungen des EGMR grundsätzlich Bindungswirkungen gegenüber allen Trägern von Staatsgewalt.582 Grenzen folgen aus der Bindung der Staatsorgane an Recht und Gesetz (Art 20 III GG), da der EMRK keine gesetzesverdrängende Wirkung zukommt und die Berücksichtigung ihrer Gewährleistungen sowie der zu ihrer Auslegung ergangenen Urteile des EGMR die allgemeinen Auslegungsgrenzen nicht überschreiten darf. Für die Wirkung der EGMR
579 Näher dazu Rohleder Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, 2009, S 122 ff. 580 Vgl auch EGMR (GK), Urt v 8.4.2004, 71503/01, NJW 2005, 2207 – Assanidze/Georgien; BVerfGE 111, 307 (316, 321) = JK 2005, GG Art 20 III/39 (Fall 2). 581 Zusammenfassend zur innerstaatlichen Bindungswirkung der Urteile des EGMR s Rohleder Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S 459 ff, 461 ff. 582 BVerfGE 111, 307 (316) = JK 2005, GG Art 20 III/39 (Fall 2).
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§ 2.1 Europäische Menschenrechtskonvention – Allgemeine Lehren
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Entscheidungen in der deutschen Rechtsordnung ist danach zu unterscheiden, welche Staatsgewalt betroffen ist.583
(a) Wirkung in Bezug auf konventionswidrige Gesetze Konventionswidrige untergesetzliche Bestimmungen (Verordnungen oder Satzun- 150 gen) und Landesgesetze sind nichtig; konventionswidrige Bundesgesetze trifft die Nichtigkeitsfolge nicht, sie sind aber zu ändern respektive aufzuheben (zu dem Beispielsfall der Sicherungsverwahrung vgl Fall 3). Ist dies noch nicht geschehen, ist ein angerufenes Fachgericht wegen der Ausstrahlung der Konventionsrechte auf die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes zur Vorlage nach Art 100 I GG zum BVerfG verpflichtet, wobei der formale Anknüpfungspunkt weiterhin das deutsche Verfassungsrecht bleibt. Ferner kann nach demselben Maßstab Verfassungsbeschwerde erhoben werden.584 Hat der EGMR die Konventionsrechtswidrigkeit festgestellt, gilt dies auch dann, wenn das BVerfG zuvor das Gesetz für verfassungskonform erklärt hatte, weil die neuere Entscheidung des EGMR als rechtserhebliche Änderung anzusehen ist (vgl auch Rn 20). Ebenso obliegt die Feststellung der Nichtigkeit von Landesgesetzen gem Art 100 I 2 GG der Kompetenz des BVerfG. Dagegen haben die Verwaltungsbehörden keine Normaussetzungs- bzw -verwerfungskompetenz, sondern haben wie im Falle verfassungswidriger Gesetze eine Remonstrationspflicht;585 insofern ist die Rechtslage eine andere als im Falle des Anwendungsvorrangs des europäischen Unionsrechts, welches auch bei entgegenstehendem nationalen Recht direkt anzuwenden ist (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 1 ff).
(b) Wirkungen in Bezug auf konventionswidrige Gerichtsentscheidungen Mehr Probleme bereiten konventionswidrige nationale Gerichtsentscheidungen. 151 Da zur Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 III GG) sowie zum verfassungsrechtlichen Gebot der Völkerrechtsfreundlichkeit die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR gehört, trifft die deutschen Gerichte, wenn das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, die Pflicht, im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben (vgl Fall 2). Relativierend hat das BVerfG darauf hingewiesen,
583 Näher dazu Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, EGMR, Kap 32 Rn 109 ff. Für Gerichtsentscheidungen s näher auch Germelmann Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der EU, 2009, S 298 ff. 584 Vgl zum Ganzen auch Payandeh, DÖV 2011, 382 ff. 585 Näher zum Ganzen Schmalz Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention für die Bundesrepublik Deutschland, 2007, S 41 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
dass sich im Falle mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse586 (wenn nur der Bf, nicht aber der andere Grundrechtsträger an dem Verfahren vor dem EGMR beteiligt wird587) oder bei geändertem Sachverhalt anderes ergeben könnte.588 Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass der EGMR auch Dritte beteiligen kann oder gegebenenfalls sogar muss (Art 36 EMRK, Art 44 VerfO EGMR, Rn 139). 152 Ob die nationalen Gesetzgeber verpflichtet sind, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Gerichtsverfahrens zuzulassen, wenn der EGMR festgestellt hat, dass die betroffene Gerichtsentscheidung die Konvention verletzt, ist umstritten. Die hM lehnt dies ab.589 Für die gegenteilige Auffassung590 sprechen gute Gründe. Sie ergeben sich nicht nur aus der völkerrechtlichen Haftung Deutschlands, sondern auch aus der verfassungsrechtlichen Pflicht zur (völkerrechtsfreundlichen) Befolgung internationaler Verpflichtungen.591 Für den EGMR stellt bei einer konventionswidrigen Gerichtsentscheidung in Erfüllung des Erfordernisses der restitutio in integrum im Prinzip die Durchführung eines neuen Verfahrens oder eine Wiederaufnahme auf Antrag des Betroffenen die angemessene Art der Wiedergutmachung dar.592 Auch die Organe des Europarats wie das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung haben die Einführung eines Wieder-
586 Zur Kontrolldichte bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen auch Grabenwarter FS Tomuschat, 2006, S 193 ff. 587 ZB im Falle eines Verfahrens über das elterliche Sorgerecht nur der Vater, nicht aber die Mutter (vgl Fall 2). 588 BVerfGE 111, 307 (329) (Fall 2). Krit Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 17. Vgl auch Kadelbach, JURA 2005, 480 ff. 589 Vgl BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NJW 1986, 1425 ff; BVerfGE 111, 307 (325 ff) = JK 2005, GG Art 20 III/39 (Fall 2); BVerfG (K), Beschl v 10.6.2005, 1 BvR 2790/04, EuGRZ 2005, 426 (429) – Görgülü; BVerfG (K), NZA 2016, 1163; EuGRZ 2019, 147; BVerwG, Beschl v 4.6.1998, 2 DW 3/97, NJW 1999, 1649, 1651; Polakiewicz Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S 128 ff; Pache, EuR 2004, 393, 404; Breuer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 46 Rn 40. Vgl auch EGMR, Entsch v 8.7.2003, 15227/03, EuGRZ 2004, 777 – Lyons ua/Vereinigtes Königreich. 590 Vgl Ress, EuGRZ 1996, 350, 351 f; Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 31 Rn 56 ff; Schmalz Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention für die Bundesrepublik Deutschland, S 62 ff; Csaki Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der deutschen Rechtsordnung, 2007, S 48 ff. 591 Damit ist nicht die Frage nach einem Verbot des „treaty overriding“ verknüpft; s dazu BVerfGE 141, 1 (20 ff); Schweitzer/Dederer StR III, Rn 837 ff. Denn im Falle des Grundrechtsschutzes nach der EMRK handelt es sich um grundlegende verfassungsrechtliche Prinzipien; vgl insofern BVerfGE 111, 307 (318 f); 112, 1 (25 f). 592 Vgl EGMR (GK), Urt v 12.5.2005, 46221/99, NVwZ 2006, 1267, § 210 – Öcalan/Türkei, wonach zwar eine grds freie Mittelwahl beim bekl Staat besteht, um auf eine Konventionsverletzung zu reagieren, als angemessenste Form einer Wiedergutmachung aber ein neues Verfahren vorgeschlagen wird. Krit zum zweiten Öcalan-Urteil Kühne JZ 2005, 653 (654 f).
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§ 2.1 Europäische Menschenrechtskonvention – Allgemeine Lehren
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aufnahmeverfahrens empfohlen.593 Nachdem Deutschland einen entsprechenden Wiederaufnahmetatbestand schon seit dem Jahre 1998 in das Strafverfahrensrecht eingeführt hatte (§ 359 Nr 6 StPO594), ist ein solcher mit Wirkung zum 1.1.2007 auch in das Zivilprozessrecht aufgenommen worden (§ 580 Nr 8 ZPO).595 Kraft Verweisung gilt die zivilprozessuale Norm auch für die anderen gerichtlichen Verfahrensordnungen (§§ 79 ArbGG, 153 VwGO, 176 SGG, 134 FGO). Ist die Entscheidung eines nationalen Gerichts noch nicht vollstreckt worden, 153 steht die Feststellung der Konventionswidrigkeit durch den EGMR Art 46 EMRK einer Vollstreckung zugunsten des Konventionsstaates entgegen.596 Hat der EGMR in Parallelverfahren entschieden, kommt eine Rechtskraftdurchbrechung über die Wiederaufnahmevorschriften nicht in Betracht.597 Allerdings sind die innerstaatlichen Gerichte und Verwaltungen598 im Falle einer gefestigten Rspr vorbehaltlich eindeutiger entgegenstehender nationaler Gesetze oder Verfassungsbestimmungen verfassungsrechtlich gehalten, diese zu berücksichtigen (Rn 149), bei Fehlen einer gefestigten Rechtsprechung müssen sie sich an dieser gleichwohl orientieren.599 Von einer gefestigten Rspr ist insbesondere auszugehen, wenn die Entscheidung des EGMR im Piloturteil-Verfahren (Rn 148) ergangen ist. Die verfassungsrechtliche Wertung spricht dafür, jedenfalls eine derartige grundlegende neue Rspr des EGMR ähnlich wie den Fall des § 31 I BVerfGG als Änderung der Rechtslage iSd Rechtskraftgrenzen zu begreifen.600
593 Vgl die Nachw bei Germelmann Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der EU, 2009, S 300 f m Fn 177. 594 Die Vorschrift bestimmt, dass die Wiederaufnahme eines durch rechtskräfiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zu Gunsten des Verurteilten zulässig ist, wenn der EGMR „eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht“. 595 Vgl näher dazu Cremer FS Schenke, 2011, S 649 (654 ff); Schumann FS Machacek und Matscher, 2008, S 902 ff. 596 Vgl auch Frowein JuS 1986, 845 (850). In Betracht kommt auch eine analoge Anwendung des § 79 II 2 BVerfGG. 597 Vgl BVerwGE 135, 137 (144); BVerfG (K), EuGRZ 2019, 147; Germelmann in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl 2018, § 153 Rn 33. 598 Zu Verhaltenspflichten der Verwaltung, die sich an den Anforderungen der EMRK im Lichte der EGMR-Rspr ausrichten, Wachsmann, AJDA 2010, 2138 ff. 599 Vgl Rohleder Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, S 230 ff, 461 f. 600 S dazu Germelmann in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl 2018, § 121 Rn 140 mwN.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
(c) Wirkungen in Bezug auf konventionswidrige Verwaltungsentscheidungen 154 Konventionswidrige Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig oder ggf nichtig. Ist ein belastender Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig, kann er von der Behörde nach § 48 VwVfG zurückgenommen werden. IdR ist im Interesse der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung von einer Ermessensreduzierung auszugehen. Falls Bestandskraft eingetreten ist, erlaubt § 48 VwVfG ebenfalls eine Rücknahme; zudem hat der Betroffene im Hinblick auf den konkret enschiedenen Fall gem § 51 I Nr 3 VwVfG iVm § 580 Nr 8 ZPO den Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens601. Die Entscheidung bestimmt sich dann nach der materiellen (konventionskonformen) Rechtslage.602 Wird kein Antrag iSd § 51 I VwVfG gestellt, ist die Behörde im Falle des Eintritts der Bestandskraft durch Ablauf der Anfechtungsfrist mit Kenntniserlangung der EGMR-Entscheidung wegen ihrer Ermessensreduzierung von Amts wegen verpflichtet, das Verfahren nach § 51 V VwVfG wieder aufzugreifen und eine Entscheidung nach § 48 VwVfG zu treffen. Der Vertrauensschutz eines Dritten kann dann aber der Rücknahme des Verwaltungsaktes entgegenstehen. Ist der VA gerichtlich angefochten, aber durch rechtskräftiges Urteil bestätigt worden, wird die Ablehnung eines Wiederaufgreifens durch die Rspr erst dann als ermessensfehlerhaft angesehen, wenn die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes schlechthin unerträglich wäre.603 Das ist freilich kein besonders vorhersehbares Kriterium; es spricht mehr dafür, auch hier der völker- und verfassungsrechtlichen Wertung eine stärkere ermessenslenkende Wirkung beizumessen. In Betracht kommt in solchen Fällen aber auch die Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens (Rn 152). Ist ein (öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher) Verwaltungsvertrag abgeschlossen worden, bleibt dieser auch im Falle der Konventionswidrigkeit grundsätzlich bestehen, es sei denn, es liegt ein Nichtigkeitsgrund (§ 59 VwVfG, § 134 BGB) vor. Für die Vollstreckung konventionswidriger Verwaltungsentscheidungen dürften dieselben Grundsätze wie für das gerichtliche Verfahren gelten (Rn 153).
(3) Entschädigung 155 Gestattet das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Konventionsverletzung, spricht der EGMR der verletzten Partei604
601 Vgl auch Empfehlung des Ministerkomitees Nr R (2000) 2 v 19.1.2000. 602 Vgl Ehlers, Die Verwaltung 37 (2004), 255 (283 f). 603 Vgl BVerwGE 135, 137 (146); zust Breuer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 46 Rn 68. 604 Verstirbt der Bf und wird das Verfahren fortgeführt, kann dessen Rechtsnachfolgern eine Entschädigung zugesprochen werden, vgl EGMR, Urt v 12.2.1985, 9024/80, EuGRZ 1985, 631, § 38 – Colozza/Italien.
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eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies zum Ausgleich notwendig ist (Art 41 EMRK).605 Der Anspruch muss ausdrücklich geltend gemacht werden (Art 60 VerfO EGMR). Der EGMR sieht eine Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht auch dann als unvollkommen an, wenn zwar ein Schadensersatzanspruch besteht, der Bf aber zu dessen Realisierung auf das erneute Beschreiten des innerstaatlichen Rechtsweges angewiesen ist.606 Zur Geltendmachung des Anspruchs ist der Bf gehalten, seinen Schaden und die Kausalität der Konventionsverletzung darzulegen.607 Neben materiellen sind auch immaterielle Schäden ersatzfähig;608 dies gilt auch, wenn es sich um juristische Personen handelt.609 Anträge auf Strafschadensersatz (punitive damages) lehnt der Gerichtshof ab.610 Die Bemessung der Entschädigung erfolgt nach billigem Ermessen. Berücksichtigungsfähig sind dabei auch die Kosten und Auslagen im EMRK-Verfahren. Bei der Bemessung des Schadensersatzes sind unionsrechtliche Schadensersatzansprüche anzurechnen.611 Die Kompensation nach Art 41 EMRK ist eine reine Entschädigung und kein Schadensersatz iS eines vollständigen Ausgleichs. Die Höhe der Entschädigung ist im Allgemeinen moderat.612 Die innerstaatliche Schadensverteilung bestimmt sich in Deutschland nach 156 dem auf der Grundlage des Art 104a VI 1 GG erlassenen Lastentragungsgesetz (LastG) des Bundes, das auch auf finanzwirksame Verpflichtungen im Bereich des europäischen Unionsrechts, etwa in Folge von Vertragsverletzungen nach Art 258, 260 AEUV Anwendung findet (§§ 1, 3 LastG).613 Entsprechendes gilt für die Verpflichtung zur Entschädigungsleistung nach Art 41 EMRK. Nach § 1 LastG kommt es darauf an, ob und in welchem Umfang eine staatliche Stelle des Bundes oder eines
605 Vgl dazu Dannemann Schadensersatz bei Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1994; Dörr in: ders/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 33 Rn 44 ff; zur Höhe der Entschädigung bei verbundenen Beschwerden EGMR (GK), Urt v 15.2.2008, 38311/02, NJW 2009, 655 (656) – Kakamoukas ua/Griechenland. 606 EGMR, Urt v 31.10.1995, 14556/98, § 40 – Papamichalopoulos ua/Griechenland (Art 50); Urt v 28.9.1995, 19133/91, § 50 – Scollo/Italien; EGMR (Pl), Urt v 13.6.1994, Series A 285-C, § 17 – Barberà ua/ Spanien (Art 50). 607 Vgl dazu EGMR, Urt v 10.11.2005, 65745/01, NVwZ-RR 2006, 513 (517), § 112 – Dzelili/Deutschland. 608 Vgl zB EGMR, Urt v 27.9.1999, 33985/96 u 33986/96, NJW 2000, 2089, §§ 140 ff – Smith u Grady/Vereinigtes Königreich; Urt v 25.7.2000, 33985/96 u 33986/96, NJW 2001, 809, §§ 12 ff – Smith u Grady/Vereinigtes Königreich (gerechte Entschädigung). 609 Vgl EGMR, Urt v 6.4.2000, 35382/97, § 35 – Comingersoll SA/Portugal. 610 EGMR (GK), Urt v 18.9.2009, 16064/90 ua, NVwZ-RR 2011, 251, § 223 – Varnava ua/Türkei. 611 EGMR, Urt v 1.4.1998, 18357/91, § 18 – Hornsby/Griechenland (Art 50); Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (335 f). 612 Vgl Wenzel in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 41 Rn 52, ferner die Auflistung der gewährten Entschädigungen in Rn 30 ff. 613 Vgl Art 15 des Föderalismus-Begleitgesetzes v 5.9.2006 (BGBl I 2089).
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Landes für die Konventionsverletzung verantwortlich ist. Nach § 4 LastG ist für die Lastenzuordnung bei Konventionsverletzungen durch Gerichte das Gericht der Instanz maßgeblich, das die beanstandete Entscheidung getroffen hat. Hat ein Gericht des Bundes die Entscheidung des Gerichts eines Landes bestätigt, tragen der Bund und das betroffene Land die Lasten je zur Hälfte. Bei Verurteilungen wegen überlanger Verfahrensdauer findet eine anteilsmaßige Aufteilung statt (§ 4 II LastG). Für Klagen auf Gewährung der zugesprochenen Entschädigung ist in Deutschland der Rechtsweg nach § 40 II 1 3. Alt VwGO gegeben.614
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Lösung Fall 13: Die Voraussetzungen einer Individualbeschwerde ratione personae, ratione temporis, ratione loci und ratione materiae liegen vor; insb sind ein tauglicher Beschwerdegegenstand und eine Beschwerdebefugnis gegeben. Bedenken gegen die Zulässigkeit der Individualbeschwerde zum EGMR könnten nur deshalb bestehen, weil der Bf nicht alle Möglichkeiten des innerstaatlichen Rechtsweges ausgeschöpft hat. So ist er weder gegen seine Festnahme noch das Festhalten vorgegangen, sondern hat vielmehr nur ein Klageerzwingungsverfahren im Hinblick darauf angestrengt, ob sich die Polizeibeamten strafbar gemacht haben. Nach der Rspr des EGMR dient das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (Art 34 EMRK) dem Zweck, den Vertragsstaaten Gelegenheit zu geben, die ihnen vorgeworfenen Konventionsverletzungen zu verhindern oder ihnen abzuhelfen. Es müssten aber nur die Rechtsbehelfe erschöpft werden, die effektiv und geeignet sind, der behaupteten Verletzung abzuhelfen615 (Rn 123). Zudem sei das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung mit einem gewissen Maß an Flexibilität anzuwenden. Nach der Entscheidung des EGMR hat der Bf diesen Anforderungen hier genügt, indem er Anzeige gegen die an der Festnahme und dem Festhalten beteiligten Polizeibeamten erstattet und anschließend ein Klageerzwingungsverfahren unter Berufung darauf betrieben habe, dass seine Festnahme und die Entziehung seiner Freiheit rechtswidrig gewesen seien. Das Klageerzwingungsverfahren stelle einen effektiven und geeigneten Rechtsbehelf dar, da das OLG die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zumindest teilweise geprüft habe. Vom Bf kann nach Ansicht des EGMR nicht verlangt werden, weitere Rechtsbehelfe in Anspruch zu nehmen. Begründet ist die Beschwerde, wenn Art 5 I 2 lit c EMRK verletzt worden ist. Ein hinreichender Tatverdacht bestand. Die Festnahme oder das Festhalten müsste aber rechtmäßig gewesen sein. Die Eingriffsvoraussetzungen des Art 5 I 2 lit c EMRK sind im Grundsatz gegeben. Allerdings darf die Freiheitsentziehung entsprechend dem Chapeau des Art 5 I 2 EMRK „nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgen. Gem § 163c II StPO darf eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Feststellung der Identität die Dauer von insgesamt 12 Stunden nicht überschreiten. Hier lag eine Überschreitung um 45 Minuten vor. Mögliche Ermessensabweichungen sehen weder das deutsche Gesetz noch die restriktiv auszulegenden Eingriffsrechtfertigungen in Art 5 I 2 EMRK vor. Daher hat der EGMR eine Verletzung des Art 5 I EMRK angenommen und dem Bf eine Entschädigung in Höhe von 10.000,– DM zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland zugebilligt.
614 BGHZ 189, 65, Rn 17. 615 Vgl EGMR, Urt v 23.4.1996, 16839/90, § 33 – Remli/Frankreich. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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c) Anrufung des EGMR durch das Ministerkomitee Neben den Konventionsstaaten (Rn 107) und den natürlichen Personen, nichtstaatli- 158 chen Organisationen oder Personengruppen (Rn 111) kann auch das Ministerkomitee (Art 13 Europarats-Satzung) den EGMR anrufen. Zum einen kann sich das Ministerkomitee an den Gerichtshof wenden, um Gutachten über Rechtsfragen erstatten zu lassen, welche die Auslegung der Konvention und der Protokolle betreffen (Art 47 I EMRK). Da die Anfragen keine gutachterlichen Stellungnahmen zum materiellen Recht der Konventionsrechte zum Gegenstand haben dürfen (Art 47 II, 48 EMRK), spielt dieses Verfahren in der Praxis eine sehr geringe Rolle.616 Wichtiger ist, dass zum anderen das Ministerkomitee, dem die Kontrolle der mitgliedstaatlichen Pflicht zur Durchführung der Urteile des EGMR obliegt (Art 46 II EMRK), mit Zweidrittelmehrheit den EGMR anrufen kann, um die Überwachung des Vollzugs des endgültigen Urteils des Gerichtshofs sowie dessen ordnungsgemäße Befolgung durch Auslegungsfragen zum Urteil klären zu lassen (Art 46 III EMRK, Art 96 ff VerfO EGMR) und feststellen zu lassen, ob ein Mitgliedstaat seiner Befolgungspflicht nachgekommen ist (Art 46 IV EMRK, Art 99 ff VerfO EGMR).617 Der Gerichtshof behält im letzteren Fall aber nicht wie der EuGH nach Art 260 AEUV eigenständige Befugnisse zur Sanktionierung einer Nichtbefolgung, sondern muss die Sache dann erneut an das Ministerkomitee zurückverweisen (Art 46 V EMRK); dies entspricht dem völkerrechtlichen, nicht supranationalen Charakter des Sanktionsverfahrens.
d) Anrufung des EGMR durch die Höchstgerichte der Konventionsstaaten Schließlich sieht das 16. ZP-EMRK (Rn 10) vor, dass die „obersten Gerichte“ 159 („Highest courts and tribunals/Les plus hautes juridictions“; Art 1 I 16. ZP EMRK) der Konventionsstaaten, die dem Generalsekretär des Europarats zu notifizieren sind,618 die Möglichkeit erhalten, in konkreten Verfahren das Risiko einer späteren Verurteilung durch den EGMR zu vermeiden, indem sie relevante Grundsatzfragen zur Auslegung der EMRK und ihrer Protokolle in einem Zwischenverfahren an den
616 Vgl Villiger EMRK, Rn 197. S auch Renucci, Rec Dalloz 2008, 1176 ff. 617 Vgl etwa EGMR (GK), Urt v 11.7.2022, 28749/18 – Kavala/Türkei; dazu Burgorgue-Larsen, AJDA 2022, 1892 (1894 f); dies, AJDA 2019, 1803 ff. 618 Art 10 16. ZP EMRK. Welche Gerichte notifiziert werden, hängt vom Gerichtssystem des jeweiligen Staates und der Zuständigkeitsverteilung ab. Typischerweise kommen die Verfassungsgerichte des Staates sowie die höchsten ordentlichen und Verwaltungsgerichte in Betracht. Für Frankreich sind nach der Notifikation vorlageberechtigt der Conseil constitutionnel, der Conseil d’État und die Cour de cassation. Ggf kommen auch höchste spezialisierte Gerichte etwa aus der Arbeitsgerichtsbarkeit (zB Finnland) oder auch dem Finanzwesen (zB der mit Rechtsprechungsbefugnissen ausgestattete Rechnungshof Griechenlands) in Betracht. Rumänien hat auch etliche Berufungsgerichte benannt; skeptisch dazu Burgorgue-Larsen, AJDA 2018, 1770 (1771 f).
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EGMR richten.619 Die Große Kammer des EGMR entscheidet hierüber in einem ausführlich zu begründenden Gutachten, wobei die Annahme der Gutachtenfrage einem mit fünf Richtern besetzten Ausschuss obliegt. Das vorlegende innerstaatliche Gericht ist an das Gutachten des EGMR nicht gebunden (Art 5 16. ZP EMRK). Dieses Vorlageverfahren unterscheidet sich in zahlreichen Punkten von dem Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH nach Art 267 AEUV, so etwa in der begrenzten Vorlageberechtigung, der bloßen Auslegungsvorlage, der fehlenden Bindungswirkung und dem vorgeschalteten Annahmeverfahren. Alle diese Unterschiede erklären sich jedoch durchaus sachgerecht aus den Unterschieden in den Aufgaben des EGMR einerseits und des EuGH andererseits und den rechtlichen Charakteristika der EMRK im Vergleich zum Unionsrecht. Gleichwohl betont der EGMR ähnlich wie der EuGH den Charakter des Verfahrens als Dialog und Kooperation; er hat durch sein Plenum eine Handreichung mit Leitlinien zu dem Protokoll Nr 16-Verfahren herausgegeben.620 Das 16. Zusatzprotokoll ist derzeit durch 18 EMRK-Vertragsstaaten ratifiziert; auch sind von deren Höchstgerichten schon Vorlagen an den EGMR gerichtet worden.621 Deutschland hat von der Möglichkeit der Ratifikation bislang noch keinen Gebrauch gemacht.
2. Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte
Fall 14: (BVerfG (K), DVBl 2007, 248 = JK 2007, GG Art 14 I, 20a/50; EGMR (GK), Urt v 26.6.2012, 9300/07, NJW 2012, 3629 ff – Herrmann/Deutschland = JK 2013, EMRK Art 1 1. ZP/5) Der die Jagd aus Gewissensgründen ablehnende Bf ist Eigentümer von Grundflächen, die zu einem gemeinschaftlichen Jagdbezirk gehören, und gem §§ 8 I, 9 I BJagdG Zwangsmitglied in einer Jagdgenossenschaft. Der Genossenschaft ist kraft Gesetzes das Jagdausübungsrecht übertragen worden. Nachdem eine verwaltungsgerichtliche Klage auf Feststellung des Nichtbestehens der Mitgliedschaft
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619 Dazu zB Villiger EMRK, Rn 195 f; Runavot, RGDIP 2014, 71 ff; Gundel, EuR 2015, 609 ff; Zimmermann, EuGRZ 2015, 153. 620 Guidelines on the implementation of the advisory-opinion procedure introduced by Protocol No 16 to the Convention (approved by the Plenary Court on 18 September 2017). 621 Vgl zB EGMR (GK), 8.4.2022, P16-2020-002, Advisory opinion on the assessment, under Article 3 of Protocol No. 1 to the Convention, of the proportionality of a general prohibition on standing for election after removal from office in impeachment proceedings, (requested by the Lithuanian Supreme Administrative Court); 13.7.2022, P16-2021-002, Advisory opinion on the difference in treatment between landowners’ associations “having a recognised existence on the date of the creation of an approved municipal hunters’ association” and landowners’ associations set up after that date (requested by the French Conseil d’État). S auch die w Nachw bei Burgorgue-Larsen, AJDA 2022, 1892 (1900 ff).
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in der Jagdgenossenschaft in allen Instanzen erfolglos blieb622, hat der Bf VB beim BVerfG eingelegt und sich unter anderem darauf berufen, dass die Verwaltungsgerichte die Rspr des EGMR nicht berücksichtigt hätten.
Weil die EMRK und ihre Zusatzprotokolle in Deutschland im Rang eines einfachen 161 Bundesgesetzes gelten (vgl Rn 13) und den geschützten Personen subjektive Rechte vermittelt werden, können und müssen diese vorrangig auch vor deutschen Gerichten eingeklagt werden. Da es sich bei EMRK-Bestimmungen wegen der hoheitlichen Inpflichtnahme der Staaten um Vorschriften des öffentlichen Rechts oder gleichgeartete Normierungen handelt, ist vorbehaltlich abweichender Rechtswegzuweisungen der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Die nationalen Gerichte sind im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung einschließlich der Auslegung der deutschen Grundrechte zur Berücksichtigung der Konventionsrechte und der Entscheidungen des EGMR verpflichtet (vgl Rn 14 und Fall 2). Lösung Fall 14: Die zulässige VB ist begründet, wenn die gesetzlich angeordnete und von den VGen bestätigte Zwangsmitgliedschaft in Jagdgenossenschaften oder die Übertragung des Jagdausübungsrechts auf die Genossenschaften ein Grundrecht des Bf aus Art 2, 3, 4, 9 oder 14 GG verletzt. Das BVerfG hat eine Verletzung der Grundrechte aus der Sicht der nationalen Rechtsordnung verneint. Soweit der Bf eine Verletzung der EMRK direkt rügt, sieht das BVerfG dies als unzulässig an, weil die EMRK kein unmittelbar verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab nach Art 93 I Nr 4 lit a GG ist. Allerdings könne der Bf gestützt auf ein nationales Grundrecht mit der VB rügen, dass ein staatliches Organ eine Konventionsbestimmung oder eine Entscheidung des EGMR missachtet oder nicht berücksichtigt hat. Der EGMR hat es als eine Verletzung von Art 1 1. ZP EMRK angesehen, wenn Eigentümer kleinerer Grundstücke in Frankreich, welche die Jagd ablehnen, das Jagdrecht auf ihrem Land auf einen kommunalen Verband übertragen müssen, damit Dritte davon Gebrauch machen können. Zudem verstoße es gegen Art 1 1. ZP EMRK (Schutz des Eigentums) und gegen Art 11 EMRK (Vereinigungsfreiheit) iVm Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), wenn nur Eigentümer größerer Grundstücke (vgl § 7 BJagdG – Eigenjagdbezirke) das Recht gegeben werde, ihr Land in Übereinstimmung mit ihren Gewissensüberzeugungen zu nutzen. Schließlich werde Art 11 EMRK verletzt, wenn ein Grundstückseigentümer dazu gezwungen wird, einem Jagdverband beizutreten und ihm sein Jagdrecht zu übertragen, obwohl er die Jagd aus ethischen Gründen ablehnt.623 Die Entscheidung hat allerdings nur Wirkung inter partes. Gleichwohl muss die ratio decidendi auch in anderen gerichtlichen Verfahren mit anderen Beteiligten beachtet werden. Da die Fachgerichte, insbesondere das BVerwG, die Entscheidung des EGMR in den Blick genommen und hierbei die Unterschiede der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse nach deutschem Jagdrecht gegenüber denjenigen nach französischem Recht herausgearbeitet haben, sind die angegriffenen Gerichtsentscheidungen nach Auffassung des BVerfG dem verfassungsrechtlich maßgeblichen Berücksichtigungsgebot aufgrund der Völkerrechtsfreund-
622 Vgl BVerwG, NVwZ 2006, 92 ff. 623 EGMR (GK), Urt v 29.4.1999, 25088/94 ua, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou ua/Frankreich.
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lichkeit des Grundgesetzes gerecht geworden. Demgemäß wurde die VB nicht zur Entscheidung angenommen. Die Handhabung der Berücksichtigungspflicht durch die Kammer des BVerfG überzeugt indes nicht. Richtigerweise hätte ihm eine konventionskonforme Neuausrichtung seiner eigenen Auslegung der Verhältnismäßigkeit der Inhalts- und Schrankenbestimmungen iSd Art 14 I 2 GG (in Bezug auf die Grundstücksnutzung) und des Art 2 I GG (in Bezug auf die Zwangsmitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft) in dem vorliegenden Fall oblegen. Unzureichend war die bloße Feststellung, dass überhaupt eine Auseinandersetzung mit der EGMR-Rspr durch die Fachgerichte erfolgt sei, auch wenn diese eher auf Abgrenzung als auf Einbeziehung gerichtet war. Nach Einlegung einer Individualbeschwerde bei dem EGMR hat die Große Kammer dementsprechend entschieden, dass sich die Rechtslage in Deutschland nicht wesentlich von derjenigen in Frankreich und Luxemburg624 unterscheidet. Die Verpflichtung, die Jagd auf ihren Grundstücken zu erlauben, stelle für Eigentümer, welche die Jagd aus ethischen Gründen ablehnen, eine unverhältnismäßige Belastung dar und verstoße gegen Art 1 1. ZP EMRK. Gem Art 41 EMRK wurde Deutschland verurteilt, 5000 € als Ersatz für Nichtvermögensschäden und 3861,91 € als Ersatz für Kosten und Auslagen zu zahlen.
624 Zu Frankreich s die soeben zitierte Entscheidung. Vgl zu Luxemburg EGMR, Urt v 10.7.2007, 2113/04, NuR 2008, 849, §§ 41 ff – Schneider/Luxemburg.
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§ 2.2 Grundrechte der Europäischen Union Leitentscheidungen: EuGH, Rs 29/69, Slg 1969, 419 ff – Stauder; Rs 11/70, Slg 1970, 1125 ff – Internationale Handelsgesellschaft; Rs 4/73, Slg 1974, 491 ff – Nold; Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1; Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1; Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13; verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351 – Kadi = JK 2009, EGV Art 301/1; verb Rs C-92/09 u C-93/09, Slg 2010, I-11063 – Schecke u Eifert; Urt v 22.1.2013, Rs C‑283/11 – Sky Österreich = JK 2014, AEUV 267/1; Urt v 26.2.2013, Rs C-399/11 – Melloni; Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson = JK 2013, GRCh Art 51/1; Urt v 15.1.2014, Rs C-176/12 – Association de médiation sociale; GA v 18.12.2014, GA 2/13 – Beitritt der Union zur EMRK; Urt v 6.10.2015, Rs C-362/14 – Schrems I; Urt v 5.4.2016, verb Rs C‑404/15 u C‑659/15 PPU – Aranyosi und Căldăraru; Urt v 21.12.2016, verb Rs C‑203/15 u C‑698/15 – Tele2 Sverige; Urt v 5.12.2017, Rs C-42/17 – M.A.S., M.B.; Urt v 17.4.2018, Rs C‑414/16 – Egenberger; Urt v 15.6.2021, Rs C-645/19 – Facebook Ireland Ltd ua; BVerfGE 73, 339 ff – Solange II = JK 87, GG Art 24 I/1; 102, 147 ff – Bananenmarktordnung; 152, 152 ff – Recht auf Vergessen I; 152, 216 ff – Recht auf Vergessen II.
Schrifttum: Bühler Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005; Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016; Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht Bd 2: Europäischer Grundrechteschutz, 2. Aufl 2022; Herdegen in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts Bd X, 2012, § 211 Grundrechte der Europäischen Union, S 195 ff; Heselhaus/Nowak GR, 2. Aufl 2020; Jarass GRCh, 4. Aufl 2021; Kingreen Ne bis in idem: Zum Gerichtswettbewerb um die Deutungshoheit über die Grundrechte, EuR 2013, 446 ff; ders Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus JZ 2013, 801 ff; ders Die Unionsgrundrechte, JURA 2014, 295 ff; Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657 ff; Meyer, ChGr, 5. Aufl 2019; Peers/Hervey/Kenner/Ward The EU Charter of Fundamental Rights, 2. Aufl 2021; Picod/Van Drooghenbroeck Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, 2018; Rengeling/Szczekalla GR, 2004; Schmittmann Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2007; Skouris in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd VI/1, 2010, § 157 Methoden der Grundrechtsgewinnung in der Europäischen Union, S 859 ff; Streinz in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd VI/1, 2010, § 151 Grundrechte und Grundfreiheiten, S 663 ff; Tridimas The general principles of EC law, 2. Aufl 2007. Vgl ferner die Kommentierung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den unterschiedlichen Kommentaren zum Unionsrecht.
I. Bedeutung und Stellung der Unionsgrundrechte in der Unionsrechtsordnung 1. Begriff der Unionsgrundrechte Die Unionsgrundrechte weisen in der europäischen Integration eine lange ge- 1 schichtliche Entwicklung auf, die man mit einigem Recht als wechselvoll bezeichnen kann. Sie steht im Einklang mit der Wandlung der Europäischen Gemeinschaften und später der Union von einem Forum wirtschaftlicher Integration hin zu Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann https://doi.org/10.1515/9783110716740-003
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einer auch politischen Gemeinschaft, die wesentliche ehemals staatliche Kompetenzen ihrer Mitglieder wahrnimmt und deren Rechtsakte weit in die Rechtssphären des Einzelnen eindringen. Die Entwicklung der Unionsgrundrechte hängt eng mit der Integrationstiefe der europäischen Zusammenarbeit zusammen. Anders als bei der Schaffung des Grundgesetzes1 stand die Gewährleistung von Grundrechtsschutz nicht an der ersten Stelle der Bestrebungen der Vertragsschöpfer. Im Gegenteil ist der Grundrechtsschutz eine Konsequenz des Erfolges der Integration des Europarechts, und es bedurfte auch äußerer Anstöße, um den Grundrechtsschutz als Thema des Europarechts zu verankern (Rn 3). Mit der Grundrechtecharta der Europäischen Union sollte dann eine weitere Integrationsstufe erreicht werden,2 die dann gerade auch den Blick stärker auf die Rolle des Individuums in der Union wenden sollte.3 Dabei steht abseits hiervon die Notwendigkeit und Bedeutung eines europäischen Grundrechtsschutzes heute völlig außer Frage. Auch für internationale Organisationen gilt, dass es grundsätzlicher Rechtsverbürgungen für den Einzelnen bedarf, um seine Rechtsstellung im Rahmen von Zusammenschlüssen zu gewährleisten, die mit der Ausübung von Hoheitsgewalt betraut sind. Die Aufgabe der Absicherung der Basisrechtsstellung des Einzelnen kommt den Grundrechten auf der jeweiligen rechtlichen Ebene zu. Dies verlangt heute auch der Europäische Gerichtshof sogar im Verhältnis zu verbindlichen Rechtsakten des UN-Sicherheitsrats auf globaler Ebene, wobei er den Mangel eines internationalen Menschenrechtsschutzssystems anerkennt und gleichsam eine Substitution verlangt.4 Auf der Ebene des Unionsrechts wird die Schutzfunktion durch die Unionsgrundrechte erfüllt. Eine abschließende, allgemein verbindliche oder auch nur gebräuchliche Definition von Grundrechten gibt es dabei nicht. Im Folgenden werden unter den Unionsgrundrechten persönliche Rechte des Individuums (und anderer Personen) gegen die im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätigen Hoheitsträger verstanden, die kraft des europäischen Primärrechts gelten, dem Einzelnen grundlegende Rechtspositionen einräumen und dem jeweiligen Hoheitsträger im Falle einer Beschränkung eine Rechtfertigung abverlangen. Heute sind die Unionsgrundrechte im We-
1 Vgl Art 1 I Chiemseer Entwurf, Grundgesetz für einen Bund deutscher Länder, 1948: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ 2 Vgl Holoubek FS Schwarze, 2014, S 109 (117 f). 3 Insofern nähert sich der Blickwinkel durchaus dem soeben zitierten aus der Entstehungsgeschichte des GG an, nur eben mit erheblicher Verzögerung: Abs 2 S 3 der Präambel der GRCh v 2000/2007 bestimmt: „Sie (scil. die Union) stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“ 4 Grdl EuGH, verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351 ff – Kadi = JK 2009, EGV Art 301/1. Dazu etwa zusammenfassend Kasel in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, S 337 ff.
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sentlichen in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) normiert, die seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon5 gemäß Art 6 I EUV mit Primärrechtsrang gilt (Rn 7, 26). Nach Art 6 III EUV bleibt sie aber auch weiterhin nicht die ausschließliche Quelle für Grundrechte in der Union.6 Überdies verbürgt die Grundrechtecharta nicht nur (unmittelbar einklagbare) Rechte im Sinne von Freiheits- und Gleichheitsrechten, sondern enthält auch (objektiv wirkende) Grundsätze (Rn 19 ff, 63). Bei ihnen handelt es sich nur im weiteren Sinne um Grundrechte, da ihnen das Merkmal der subjektiven Berechtigung und Einklagbarkeit fehlt. Sie weisen insofern allerdings auch ein Entwicklungspotenzial auf.
2. Historischer Abriss, Notwendigkeit der Gewährleistung und Geltungsgrund der Unionsgrundrechte Bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon kannten die Gemeinschaftsver- 2 träge (zunächst die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, sodann auch die der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft, später der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl) keinen geschriebenen Grundrechtskatalog, der darüber hinaus Verbindlichkeit besessen hätte. Es fanden sich lediglich vereinzelte grundrechtliche Garantien wie die Entgeltgleichheitsvorschrift des Art 119 EWGV (heute Art 157 AEUV). Dies erklärt sich zum einen aus der Tradition völkerrechtlicher Verträge, die die Basis internationaler Organisationen bilden; als solche traditionellen Abkommen wurden auch die Gemeinschaftsverträge eingestuft. Sofern es sich bei derartigen Verträgen nicht dezidiert um Menschenrechtsverträge handelt, verfügen im Völkerrecht Abkommen aus anderen Sachbereichen (wie hier solche der wirtschaftlichen Kooperation) nicht über Grundrechtskataloge. Zum anderen erschien eine Grundrechtsbindung auch aus sachlichen Gründen nicht erforderlich, weil nach der klassischen völkerrechtlichen Wirkungsweise das Vertragsrecht eines innerstaatlichen Transformationsaktes bzw Rechtsanwendungsbefehls bedarf, der es erst gegenüber dem Einzelnen rechtlich verbindlich macht und welcher als nationales Recht seinerseits an den höherrangigen nationalen Grundrechten gemessen werden kann.7 Überdies bewegten sich die Verträge im Wesentlichen im Bereich des Wirtschaftsrechts, was ebenfalls grundrechtliche Bindungen jedenfalls hinsichtlich der höchstpersönlichen und politischen Rechte nicht
5 Vertrag v 13.12.2007, ABl Nr C 306/1 v 17.12.2007. 6 Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, 511 ff. 7 Dazu und zu den verschiedenen Theorien ausführl Schweitzer/Dederer StR III, Rn 787 ff, 831 ff.
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prioritär erscheinen ließ.8 Allerdings zeigte sich alsbald, dass diese Wertung nicht zutraf. Letztlich machten die grundlegenden Weichenstellungen durch den EuGH, der in den 1960er Jahren die Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts etablierte und die Gemeinschaftsrechtsordnung zu einer besonderen „neuen Rechtsordnung des Völkerrechts“ machte,9 den Schutz der Grundrechte Privater gegenüber dem Gemeinschaftsrecht erforderlich. Zum einen wandten sich die Gemeinschaftsverträge damit nicht mehr nur an die Mitgliedstaaten, sondern auch unmittelbar an Privatpersonen. Zum anderen war den Gemeinschaften in einem sehr weiten und sich sukzessive stark erweiternden Umfang die Kompetenz eingeräumt worden, für und gegen jedermann verbindliches Recht zu setzen und teilweise auch selbst zu vollziehen. Dies machte eine Begrenzung der Gemeinschaftsgewalt durch die die Freiheit und Gleichheit des Einzelnen schützenden Grundrechte erforderlich, weil die nationalen grundrechtlichen Garantien gerade wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts und seiner unmittelbaren Geltung gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakten keine Schutzwirkung mehr zu entfalten vermochten. Keinen äquivalenten Schutz boten die Grundfreiheiten des Vertrages, die nicht als grundrechtliche Garantien im eigentlichen Sinne aufgefasst werden können, weil sich ihre primäre Schutzrichtung auf den Binnenmarkt bezieht, sie also Marktfreiheiten und keine über diese wirtschaftliche Zielsetzung hinausgehende individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechte gewährleisten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 1ff). Auch spezifische Gleichheitsrechte wie das allgemeine Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art 7 EWGV, heute Art 18 AEUV) oder die bereits erwähnte Verpflichtung zur Sicherstellung der Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen (Art 119 EWGV, heute Art 157 AEUV)10 beinhalteten keine hinreichend flächendeckende Schutzgewähr.11 Entsprechendes gilt für die Unionsbürgerrechte der heutigen Art 20 ff AEUV, die freilich auch erst später in den Vertrag eingefügt wurden und ebenfalls nur einen Ausschnitt von (bürger-)rechtlichen Garantien absichern.12 3 Erforderlich war damit die Schaffung eines umfassenden und effektiven Grundrechtsschutzes auf der Ebene der Gemeinschaften (bzw heute der Union), die
8 Vgl HP Ipsen EuGR, S 721, 731, der eine Schutzbedürftigkeit vornehmlich der wirtschaftlichen Grundrechte und des effektiven Rechtsschutzes postulierte und im Übrigen auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung abstellte. 9 EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3 ff – van Gend & Loos; EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 157 – Beitritt der Union zur EMRK; Urt v 10.12.2018, Rs C-621/18, Rn 44 – Wightman ua. 10 Vgl dazu EuGH, Rs 43/75, Slg 1976, 455, Rn 4 ff – Defrenne II. 11 Vgl auch Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, 81 ff. 12 Zur Aufnahme von Unionsbürgerrechten vgl → Kadelbach § 10.2.
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sich sukzessive in der Rspr des EuGH entwickelte.13 Dabei setzten mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte wesentliche Anstöße, indem sie für sich in Anspruch nahmen, gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen unter Missachtung des Vorrangprinzips am Maßstab der nationalen Grundrechte zu messen, um ein hinreichendes Grundrechtsschutzniveau sicherzustellen. Insbesondere das BVerfG14 und die italienische Corte costituzionale15 haben sich aus Sicht ihres jeweiligen nationalen Verfassungsrechts für zuständig erklärt, sekundäres Gemeinschaftsrecht im Inland für unanwendbar zu erklären, wenn und soweit es (in qualifizierter Weise) mit den nationalen Grundrechten kollidiert (Rn 44). In der Folge, wenn auch bereits nach der Etablierung der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH, haben auch weitere Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten teils in Grundsatzentscheidungen teils eher implizit dieses Recht für sich beansprucht.16 Mit dem Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts als dem grundlegen- 4 den Verfassungsprinzip der Gemeinschaft17 war und ist diese dezentrale Kontrolle am Maßstab der nationalen Grundrechte nicht vereinbar. Das Gemeinschaftsrecht (heute Unionsrecht) ist als supranationale Rechtsordnung konzipiert, die auf eine einheitliche Anwendung in den Mitgliedstaaten angewiesen ist und daher die Entscheidung über die Anwendbarkeit auch einzelner Rechtsakte nicht den mitgliedstaatlichen (Verfassungs-)Gerichten überlassen kann. Das Gemeinschafts- bzw Unionsrecht muss daher auch Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht beanspruchen, da ansonsten angesichts der Vielfalt der mitgliedstaatlichen Grundrechtsord-
13 Anschauliche Nachzeichnung bei Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, 95 ff. 14 BVerfGE 37, 271 (277 ff) – Solange I. 15 Zu den sog „controlimiti“, die als grundlegende italienische Verfassungsprinzipien den Vorranganspruch des Unionsrecht begrenzen können sollen, vgl grdl Corte costituzionale, 27.12.1973, n. 183 – Frontini = EuR 1974, 255, 262 (§§ 9 cons. diritto: „i principi fondamentali del nostro ordinamento costituzionale, o i diritti inalienabili della persona umana“); 21.4.1989, n. 232 – FRAGD (§ 3 cons. diritto); 28.12.2006, n. 454. Aus der Literatur zB Gaja, CMLRev 27 (1990), 83, 94 ff; Celotto/Groppi, Riv Ital Dir Pubbl Comunitario 2004, 1309, 1343 f; Tizzano in: Diritto comunitario e diritto interno, 2008, 479 ff; Villani, ebd, 493 ff; Germelmann, EuR 2010, 538 (543 ff); Bernardi (Hrsg), I controlimiti – primato delle norme europee e difesa dei principi costituzionali, 2017. S auch noch zur Taricco-Kontroverse Rn 44. 16 Vgl das spanische Tribunal Constitucional v 13.2.2014, BOE v 11.3.2014, Nr 2650; für Frankreich Conseil constitutionnel v 10.6.2004, décision no 2004-496 DC = JZ 2004, 969 m Anm Classen; dazu auch Mayer, EuR 2004, 925; zur Rspr des tschechischen Verfassungsgerichtshofs vgl Ley, JZ 2010, 165 ff; Vincze, EuR 2013, 194 ff; Malenovský in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, S 427 (440 ff); vgl ferner Pernice Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, 2006; Grabenwarter in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 121 (124 ff); Ehlers in: Schulze ua, ER, § 11 Rn 39. 17 Grundl EuGH, Rs 6/64, Slg 1964, 1251, 1270 f – Costa/ENEL. Näher dazu Craig/de Búrca EU, S 303 ff; Ehlers in: Schulze ua ER, § 11 Rn 8, 11 f.
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nung eine Zersplitterung drohen würde. Die Lösung des Konflikts mit dem freilich gleichermaßen zentralen Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes gegen gemeinschaftsrechtliches hoheitliches Handeln, der heute primärrechtlich auch in Art 47 GRCh verankert ist, wurde durch den Weg des BVerfG gewiesen, eine dem nationalen Grundrechtsschutz im Wesentlichen vergleichbaren gemeinschaftsrechtlichen Schutz als adäquat anzuerkennen und die eigene nationalverfassungsrechtlich verlangte Prüfungskompetenz unter Achtung des Vorrangprinzips auszusetzen, solange der EuGH einen solchen Schutz gewährleistet.18 Diese Kollisionsregel ist heute in Art 23 I 1 aE GG kodifiziert und um die sogar noch weitergehende Konsequenz verschärft, dass im Falle eines strukturellen Absinkens des Grundrechtsstandards der Union eine Mitwirkung Deutschlands an ihr verfassungswidrig würde.19 Hierfür besteht freilich gerade nach Schaffung der Grundrechtecharta keinerlei Anhalt.20 Auch der EuGH erkannte die Notwendigkeit der Entwicklung eines Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene als notwendige Folge des Vorrangprinzips an. Im Wege richterlicher Rechtsfortbildung und im Einklang mit seiner Kompetenz zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertragsrechts (Art 164 EWGV, heute Art 19 I 2 EUV) entwickelte er grundrechtliche Verbürgungen in Gestalt ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsätze, die von Beginn an eine ungeschriebene Quelle des Unionsprimärrechts dargestellt hatten und auch weiterhin darstellen21 (→ Walter § 1 Rn 25 ff). Die Rechtssache van Gend & Loos (1963) gehört zwar nicht zu den Grundrechtsentscheidungen des Gerichtshofs; sie begründet aber mit dem Prinzip der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts die für die Geltendmachung von Grundrechten unabdingbare Voraussetzung einer unmittelbaren Geltung auch der Grundrechte.22 Im Fall Stauder23 (1969) sprach der Gerichtshof erstmals von „Grundrechte(n) der Person“. Zum Durchbruch gelangte die Anerkennung von Grundrechten des Gemeinschaftsrechts
18 BVerfGE 73, 339 (376, 387) – Solange II, 89, 155 (174 f) – Maastricht; 102, 147 (164) – Bananenmarktordnung; 152, 216, Rn 47 f – Recht auf Vergessen II. 19 Schweitzer/Dederer StR III, Rn 148 unter Verweis auf BVerfGE 149, 346 (362). 20 Vgl BVerfGE 152, 216, Rn 48 – Recht auf Vergessen II. Etwas missverständlich ist das Abstellen auf „eine auf das jeweilige Grundrecht des Grundgesetzes bezogene generelle Betrachtung“ der Gleichwertigkeit in der genannten Entscheidung (Rn 47 aE). Mit dem dort angeführten Argument des unabdingbaren Menschenwürdekerns der Grundrechte kann auch nur hierauf Bezug genommen werden, nicht auf einen für ein bestimmtes Grundrecht als unspezifisch allgemein unzureichend angenommenen Grundrechtsstandard. Bloße unterschiedliche Interessengewichtungen erfasst der Vorbehalt nicht. Hierfür schafft der Vertrag das Vorabentscheidungsverfahren des Art 267 AEUV. 21 S zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nur Lecheler ER, S 114 ff. 22 EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3(25) – van Gend & Loos. 23 EuGH, Rs 29/69, Slg 1969, 419 (425) – Stauder.
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in den Entscheidungen Internationale Handelsgesellschaft24 (1970) und Nold25 (1974). Auf der Basis dieser Rspr sind in der Folgezeit die Gemeinschafts- und später Unionsgrundrechte bereichsspezifisch ausgeformt und gefestigt worden. Die Intensivierung der grundrechtlichen Rspr des EuGH erfolgte nach der Inkraftsetzung der GRCh der EU vom 7.12.2000 in der am 12.12.2007 in Straßburg angepassten Fassung als Primärrecht durch Art 6 I EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon, welche die Rechte, Freiheiten und Grundsätze ausdrücklich in einem geschriebenen Katalog zusammenstellt. Dabei spielen die Grundrechte in der Rspr des EuGH in jüngerer Zeit eine immer wichtigere Rolle,26 die zum Teil, wie etwa im Bereich des Datenschutzes, neue Schutzschwerpunkte etablieren und ausformen27 und dabei auch Maßnahmen des Unionsgesetzgebers wie auch Vollzugsakte der Kommission einer strikten Kontrolle unterziehen. Dies führt gerade in jüngerer Zeit nicht selten dazu, dass der Gerichtshof Sekundärrechtsakte wegen Verstoßes gegen die Grundrechte für nichtig bzw für ungültig erklärt.28 Dabei wird der Geltungsgrund der Unionsgrundrechte weiterhin durch Art 6 5 EUV bestimmt, der trotz des heute erkennbar auf der Charta liegenden Schwerpunkts nicht nur diese benennt, sondern in seinem Abs 3 auch die traditionelle Grundrechtsverankerung als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts weiterhin fortführt. Eine Sonderstellung nimmt in Art 6 II EUV das Ziel des Beitritts der Union zur EMRK ein. Dieses ist freilich nach dem (zweiten) EMRK-Gutachten des Gerichtshofs29 auf absehbare Zeit wohl nicht erreichbar,30 so dass die in der EMRK garantierten Grundrechte heute weiterhin keine eigenständige Rechtsquelle des uni-
24 EuGH, Rs 11/70, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 25 EuGH, Rs 4/73, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold. 26 Vgl Schwarze in: Die Entwicklung einer europäischen Grundrechtsarchitektur – Symposium Everling, 2005, 35, 37 ff. S in jüngerer Zeit für eine chronikartige Betrachtung auch die jeweiligen Abschnitte III in der regelmäßigen jährlichen Rechtsprechungsübersicht Germelmann/Gundel, BayVBl 2017, 649 ff; BayVBl 2018, 689 ff; BayVBl 2019, 583 ff; BayVBl 2020, 586 ff; BayVBl 2021, 583 ff, BayVBl 2022, 505 ff; BayVBl 2023, 469 ff. 27 Näher dazu → Marsch § 4.2.2 Rn 16 ff. 28 S zB EuGH, Urt v 25.1.2022, Rs C-181/20 – YSOČINA WIND as; dazu Simon, Europe 3/2022, 14 f; Gundel, GewArch 2022, 261 ff; Spangenberg, JDE 2022, 220 ff; Urt v 22.11.2022, verb Rs C-37/20 u C-601/20 – WM u Sovim SA/Luxembourg Business Registers; Urt v 8.12.2022, Rs C-694/20 – Ordre van Vlaamse Balies ua; dazu Berlin, JCP 2022, 2325. Zuvor war der Gerichtshof zuweilen zurückhaltender oder legte den Fokus seiner Prüfung gesondert auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; s idS EuGH, Rs C453/03, Slg 2005, I-10423, Rn 85 ff – ABNA Ltd. S allerdings auch (Nichtigerklärung wegen Grundrechtsverstoßes) EuGH, verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351 ff – Kadi (Fall 3). 29 EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13 – Beitritt der Union zur EMRK. 30 Zu den letzten Entwicklungen in diesem Bereich vgl die gemeinsame Pressemitteilung der EUKommission und des Generalsekretärs des Europarats v 29.9.2020, Réf. DC 123(2020), verfügbar unter www.coe.int; ferner Germelmann/Gundel, BayVBl 2021, 583.
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onsrechtlichen Grundrechtsschutzes darstellen und damit im Unionsrecht nicht direkt gelten.
a) Frühere Rechtslage 6 Bis die Charta der Grundrechte Bestandteil des Primärrechts wurde, basierte die An-
erkennung der Unionsgrundrechte – von den punktuellen ausdrücklichen Gewährleistungen im herkömmlichen Vertragsrecht abgesehen (Rn 3) – auf ihrer Verankerung als ungeschriebene primärrechtliche allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts. Ihre Anerkennung folgt damit aus dem Richterrecht des EuGH (und des EuG). Der Gerichtshof nutze dabei für die Herleitung der Unionsgrundrechte im Wesentlichen zwei Rechtserkenntnisquellen: Er stützte sich zum einen auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten31 sowie zum anderen auf die von den Mitgliedstaaten als Vertragsparteien für bindend anerkannten völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte.32 In letzterer Hinsicht stützte er sich maßgeblich auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die zu ihrer Auslegung ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).33 Zur EMRK sind neben den Gewährleistungen der Art 1 bis 14 EMRK auch die Garantien der Zusatzprotokolle zu rechnen, jedenfalls soweit diese von allen (oder den meisten)34 Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind.35 Diese Vorgehensweise einer wertenden Rechtsvergleichung36 und ihre Quellen sind in der Folge durch den Vertrag von Maastricht37 im Wege der Vertragsergänzung in Art 5 II EUV aF (heute Art 6 III EUV) ausdrücklich anerkannt worden.38 Diese Vorgehensweise wurde in den Verträgen von Amsterdam39 und Nizza40
31 Erstmalig EuGH, Rs 11/70, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. Vgl Craig/de Búrca EU, S 414 ff; Tridimas EU, S 301 ff. 32 Erstmalig EuGH, Rs 4/73, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold; ferner EuGH, C-274/99 P, Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = JK 2001, EGV Art 220/1. 33 Vgl Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 6 EUV Rn 29 mit Liste der in der EuGH-Rspr anerkannten Grundrechte in Rn 32 ff. 34 Für die Geltung unabhängig vom Ratifikationsstand aber Niedobitek in: Merten/PapierHGR, Bd VI/1, § 159 Rn 96 mwN. 35 Näher dazu Grabenwarter VVDStRL 60 (2000), 290 (328 f). 36 Vgl EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727, 3745, Rn 17 – Liselotte Hauer; GA 2/94, Slg 1996, I-1759, 1782, Rn 3 – EMRK; Pernice NJW 1990, 2409 (2414). 37 Vertrag v 7.2.1992, ABl EG Nr C 191/1 v 29.7.1992. 38 Vgl Art F II EUV idF des Vertrages von Maastricht. 39 Vertrag v 2.10.1997, ABl EG Nr C 340/1 v 10.11.1997. 40 Vertrag v 26.2.2001, ABl EG Nr C 80/1 v 10.3.2001.
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unverändert gelassen,41 bis der letztlich gescheiterte Verfassungsvertrag42 die Grundrechtecharta als Teil II mit Primärrechtsrang ausstatten wollte und schließlich im Vertrag von Lissabon sowohl für die Charta als auch für die Grundrechte nach Maßgabe der allgemeinen Rechtsgrundsätze in Art 6 I und III EUV der Primärrechtsrang verankert wurde. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die im EUV enthaltene Anerken- 7 nung der Achtung der Grundrechte „wie sie in der [EMRK] gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“ nichts daran änderte, dass sowohl die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als auch die EMRK niemals eigene Rechtsquellen (Geltungsgründe) des Gemeinschaftsbzw Unionsrechts darstellten, sondern stets nur als Rechtserkenntnisquellen (Entstehungsgründe für das Recht43) fungierten, aus denen der EuGH (und auch das EuG) auf der Grundlage die Unionsgrundrechte materiell herleiten konnte. Dies ließ insbesondere dem Gerichtshof einen erheblichen Gestaltungsspielraum im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung. So kam es für die Feststellung gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen weder darauf an, ob die Gesamtheit oder die Mehrheit der Mitgliedstaaten übereinstimmend eine bestimmte Grundrechtsgewährleistung anordnete noch ob ein „kleinster gemeinsamer Nenner“ feststellbar war. Somit war weder der maximale44 noch der minimale Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten entscheidend.45 Vielmehr konnte der EuGH gemeinschaftseigene, differenzierende Lösungen finden; es sollte gelten, „was sich bei einer kritischen Analyse der Lösungen, die sich nach der rechtsvergleichenden Umschau ergeben, als die beste Lösung darstellt“46 und den Bedürfnissen des Gemeinschaftsrechts in der konkreten Situation am besten gerecht wurde. Dabei orientierte sich der EuGH oft an der EMRK,47 weil sie die gemeinsamen Grundrechtsüberzeugungen der Mitgliedstaaten abbildete, indem sie einen einheitlichen Normtext zur Verfügung stellte, den alle
41 Art 6 II EUV idF des Vertrages von Amsterdam bzw von Nizza. 42 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl EU C Nr 310/1 v 16.12.2004. 43 Zur Abgrenzung von Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen vgl Ehlers/Pünder in: dies (Hrsg), Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl 2022, § 2 Rn 6. 44 Vgl aus der Frühzeit noch EuGH, Rs 4/73, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold, wonach der Gerichtshof „keine Maßnahmen als rechtens anerkennen (kann), die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten“. S später dann EuGH, Rs 155/79, Slg 1982, 1575, Rn 18 – AM & S Europe; verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst = JK 93, EMRK Art 8/1 (Fall 10). 45 Vgl hierzu Tridimas EU, S 311 ff. 46 So bereits Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601 (611). 47 Vgl zB EuGH, Rs C-305/05, Slg 2007, I-5305, Rn 29 – Ordre des barreaux francophones; verb Rs C402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 283 – Kadi (Fall 3).
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Mitgliedstaaten der EU unterzeichnet und ratifiziert hatten. Zudem konnte der EuGH an die Rspr des EGMR anknüpfen (und überdies die schwierige Aufgabe vermeiden, die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der zahlreichen Mitgliedstaaten gesondert zu ermitteln48). Allerdings orientierte er sich nicht stets strikt an dem immerhin einige Jahrzehnte alten völkerrechtlichen Grundrechtskatalog der EMRK oder an der Rspr des EGMR, so dass die – eine Verzahnung von Unionsgrundrechten und nationalen Grundrechten zum Ausdruck bringende – Rechtserkenntnisquelle der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen etwa dann eine Rolle spielte, wenn die EMRK ein bestimmtes Grundrecht – zB die Berufsfreiheit49 – textlich nicht garantiert.50 Auch hat der EuGH eigene Grundrechte wie das Verbot einer Diskriminierung wegen des Alters kreiert, obwohl dieses nur von wenigen Mitgliedstaaten ausdrücklich anerkannt war.51 Es hat allerdings heute Eingang in Art 21 GRCh gefunden.
b) Heutige Rechtslage aa) Charta der Grundrechte 8 Die Schaffung eines geschriebenen Grundrechtskatalogs war danach für die Absicherung des Grundrechtsstandards in der Europäischen Union keineswegs zwingende Voraussetzung. Im Gegenteil akzeptierte auch das BVerfG wiederholt den Ansatz des EuGH als dem grundgesetzlichen Schutzstandard im Wesentlichen gleichwertig.52 Dies galt auch, obgleich der Gerichtshof längere Zeit eine zwar dezidierte, aber keineswegs höchst aktive Grundrechtsrechtsprechung entfaltete, sondern den unionsrechtlichen Grundrechtsschutz gleichsam als Bestandteil der europäischen Grundrechtsordnung zusammen mit den nationalen Garantien und den Gewährleistungen der EMRK in seinem Anwendungsbereich umsetzte. Dennoch wurde gerade auch auf politischer Ebene die Schaffung eines Grundrechtskatalogs
48 Vgl aber auch zum großen Aufwand, den Generalanwälte und wiss Dienst des EuGH betreiben v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 6 Rn 7 Fn 19; dens, ZESAR 2008, 57, 59. 49 Zu einer Teilgewährleistung – Verbot der Zwangsarbeit – vgl Art 4 II EMRK. S auch noch → Germelmann § 4.1.1 Rn 39 ff. 50 Vgl EuGH, Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, passim. 51 Vgl EuGH, Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981, Rn 74 f – Mangold. Dazu aus der Vielzahl der Literatur Dubos, JCP 2006 II 10106 (S 1293); Preis, NZA 2006, 401 ff; Hailbronner, NZA 2006, 811 ff; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165 ff. Allerdings hatte die EG nach Art 13 EGV (heute Art 19 AEUV) die Aufgabe, eigene Vorkehrungen gegen eine Diskriminierung aus Gründen des Alters zu treffen. Dies war in der RL 2000/78/EG konkretisiert worden. 52 BVerfGE 73, 339 (376, 387) – Solange II, 89, 155 (174 f) – Maastricht; 102, 147 (164) – Bananenmarktordnung.
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gefordert, um dem Grundrechtsschutz auch eine deutlichere Außenwirkung in der Union zu verleihen. Der Europäische Rat53 hat deshalb im Jahre 1999 einen Konvent aus Repräsentanten der Staats- und Regierungschefs, des Kommissionspräsidenten, des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente (unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundesverfassungsgerichts- und Bundespräsidenten Herzog) damit beauftragt, einen entsprechenden Katalog auszuarbeiten.54 Anlässlich des Treffens des Europäischen Rats in Nizza haben am 7.12.2000 das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission die vom Grundrechtekonvent vorgelegte Charta der Grundrechte der Europäischen Union proklamiert.55 Rechtliche Verbindlichkeit kam der Proklamation nicht zu. Der Gerichtshof verwendete daher – anders als das Gericht56 und manche Generalanwälte57 – die Charta daher auch nicht einmal als Rechtserkenntnisquelle58 für die Entwicklung von Grundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze. Politisch entfaltete die Charta freilich erhebliche Wirkung. Eine rechtliche Verbindlichkeit der Charta wurde erstmals im Verfassungsver- 9 trag in Erwägung gezogen. Mit der Erklärung von Laeken vom 15.12.2001 wurde unter erneuter Verwendung der Konventsmethode59 ein Verfassungskonvent unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing eingesetzt und mit dem Entwurf eines Vertrages über die Verfassung von Europa beauftragt. Der Verfassungsvertrag, der die GRCh in seinem Teil II nahezu unverändert übernommen hat, ist zwar von den Regierungen der Mitgliedstaaten unterzeichnet worden, aber nach Misserfolgen in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden nicht in Kraft getreten. Am 12.12.2007 wurde in Straßburg eine angepasste Fassung der Charta unterzeichnet. Mit Art 6 I UA 1 EUV idF des Vertrages von Lissabon (Rn 2) sind die (wesentlichen) Grundrechte der EU kraft der Verweisung auf die GRCh mit Wirkung ab dem 1.12.2009 in das Primärrecht der EU übernommen worden, gelten also rechtsverbindlich und nicht nur als Rechtserkenntnisquellen. Wenn zuweilen aus dem Wortlaut der Norm, die im Gegensatz zu Art 6 II EUV idF des Amsterdamer Vertrages davon spricht, dass die EU die Grundrechte
53 Vgl heute Art 15 EUV. 54 Zur Entwicklung im Überblick Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, 127 ff. 55 ABl Nr C 364/1 v 18.12.2000. Zur Entstehungsgeschichte s auch Niedobitek in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 159 Rn 1 ff. 56 Vgl zB EuG, T-54/99, Slg 2002, II-313, Rn 57 – max.mobil. 57 Vgl zB Schlussanträge GA Alber, Rs C-340/99, Slg 2001 I-4109, Rn 94 – TNT; GA Mischo, Rs C-122/99 P u C-125/99 P, Slg 2001, I-4319, Rn 97 – Schweden/Rat; GA Jakobs, Rs C-377/98, Slg 2001, I-7079, Rn 197, 210 – Niederlande/Parlament u Rat. 58 Vgl noch Szczekalla, NVwZ 2006, 1019 (1020); Calliess, JZ 2009, 113. 59 Sie hat mittlerweile auch Eingang in das Primärrecht der Vertragsänderung (Art 48 III EUV) gefunden.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
nicht nur „achtet“, sondern „anerkennt“, darauf geschlossen wird, dass die Grundrechte als dem EU-Recht vorausliegend angesehen werden60, so ist jedenfalls in dogmatischer Hinsicht hierin kein Unterschied festzustellen. Die Grundrechte bleiben in jedem Falle unverändert Bestandteile des Primärrechts. Dies bringt Art 6 I UA 1 Hs 2 EUV (wonach die Charta und die Verträge gleichrangig sind) unmissverständlich zum Ausdruck. Die Verweisungslösung des EUV auf die GRCh, die etwas verwirrend geraten ist, da statt auf die Charta insgesamt „auf die Rechte, Freiheiten und Grundsätze“, die in der Charta niedergelegt sind, Bezug genommen wird (zu den Unterschieden vgl Rn 49 ff), ist in systematischer Hinsicht unbefriedigend. Wenn in ihr die Präambel der GRCh ausgeklammert bleibt, ist dies allerdings unerheblich, weil die Präambel ohnedies keine rechtlich verbindlichen Normen enthält und als Teil der Charta für deren Auslegung maßgeblich bleibt.61 Die Verweisungslösung ergab sich als politische Kompromisslösung aus der ebenso ausgeprägten wie unbegründeten Sorge einiger (damaliger) Mitgliedstaaten, die Charta werde wie Unionskompetenzen erweitern und über das Richterrecht des EuGH die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten verkürzen.62 Die Verweisungslösung bewirkt aber keinen rechtlichen Unterschied zum sonstigen Primärrecht. Wie die meisten primärrechtlichen Bestimmungen können auch die in der GRCh kodifizierten Unionsgrundrechte nur im ordentlichen Änderungsverfahren nach Art 48 II-V EUV geändert werden. 10 Aus der Gleichrangigkeit der GRCh mit dem sonstigen Vertragsrecht ergibt sich, dass die Unionsgrundrechte weder dem sonstigen Vertragsrecht vorgehen noch dahinter zurückbleiben. Dies gilt auch im Verhältnis zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts (Rn 10). Im Kollisionsfall müssen die Normen des Primärrechts unter Zugrundelegung der Widerspruchsfreiheit der Unionsrechtsordnung (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 12) entsprechend dem Prinzip der praktischen Konkordanz bzw des „gerechten Gleichgewichts“ miteinander in Einklang gebracht werden.63 Keine Veränderung nehmen die Unionsgrundrechte an den Kompetenzen des Vertragsrechts vor; insofern bleibt die Klausel, dass die im Vertrag geregelten Zuständigkeiten unberührt bleiben (Art 6 I UA 2 EUV, 51 II GRCh), dh keine Begründung, Erweiterung oder Änderung von Zuständigkeiten durch sie erfolgt, rein deklaratorisch. Die Grundrechte sind also von ihrer Konzeption her reaktiv; sie
60 Skouris in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 157 Rn 4. 61 Vgl Streinz in: ders, EUV/AEUV, Präam GRCh Rn 6; Jarass GRCh, Präam Rn 1. Anders Schorkopf in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 6 EUV Rn 21, wonach die Präambel der Charta nicht für die Anwendung und Auslegung der Charta herangezogen werden kann. 62 Diese Sorge kulminierte in dem rechtlich weitgehend wirkungslosen Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich. Tschechien trat dem Protokoll dann gar nicht mehr bei. 63 EuGH, Urt v 15.7.2021, verb Rs C-804/18 u C-341/18, Rn 88 – WABE und MH Müller Handel. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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stellen nur den unionsrechtlichen Individualrechtsschutz in den Bereichen sicher, die das übrige Unionsrecht eröffnet hat. Eine signifikante Verschiebung im Verfassungsgefüge der Union ist, was die Kompetenzlage angeht, daher durch die Grundrechtecharta nicht herbeigeführt worden.64 Dies gilt unabhängig davon, dass durch sie der Grundrechtsschutzdimension des Unionsrechts auch in der Rspr des EuGH eine verstärkte Bedeutung zugewachsen ist, die zum Teil in ein Konkurrenzverhältnis zu mitgliedstaatlicher Grundrechtsrechtsprechung tritt (näher Rn 44 ff). Dabei ist das Verhältnis von parallelen Gewährleistungen in den Verträgen und in der Charta – nicht zuletzt auch wegen der Genese und der Verweistechnik – dogmatisch nicht klar bestimmt. Soweit die Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte in den Verträgen näher geregelt ist, hat sie im Rahmen der dort festgelegten Bedingungen und Grenzen zu erfolgen (Art 52 II GRCh). Insofern stellen die Grundrechte mit ihren allgemeineren Regelungen also nur Wiederholungen oder (im Falle abweichender Formulierungen) Auffangregelungen für die im Vertrag enthaltenen Garantien dar; dies gilt etwa für die Unionsbürgerrechte in den Art 39 ff GRCh, soweit sie ihre Entsprechung in den Art 20 ff AEUV finden.65 Anders ist dies in Bezug auf den Datenschutz, dessen grundrechtliche Gewährleistung in Art 8 I GRCh wegen seiner systematischen Nähe zu Art 7 GRCh66 typischerweise vorrangig gegenüber der ebenfalls wortgleich gefassten Vorschrift des Art 15 I AEUV verwendet wird. In Bezug auf das kompetenzgemäß erlassene Sekundärrecht kommt den Unionsgrundrechten bei der Harmonisierung besonderes Gewicht zu; sie treten hier als zusätzlicher Prüfungsmaßstab neben die übrigen Primärrechtsnormen wie die Kompetenzgrundlagen und die Grundfreiheiten.
bb) Fortbestehende Bedeutung der Unionsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Neben den in der GRCh ausdrücklich kodifizierten Unionsgrundrechten bestehen 11 die Grundrechte als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts gem Art 6 III EUV (Rn 6) fort.67 Die Vorschrift übernimmt die Vorgängernorm des Art 6 II EUV aF mit
64 Vgl näher Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, 913 ff. 65 Vgl bspw zu Art 21 AEUV (den der EuGH in Bezug auf das Verbot der Doppelverfolgung sogar iVm Art 50 GRCh prüft) EuGH, Urt v 12.5.2021, Rs C-505/19, Rn 85 ff – WS/Deutschland = NJW 2021, 2348 m Anm Exner-Kuhn; dazu Gazin, Europe 7/2021, 24 f. Zuweilen wird hierin ein „Auslegungsvorrang“ der sonstigen Primärrechtsnormen gesehen; s Jarass GRCh, Einl Rn 13. Man kann das aber auch als einen normalen Spezialitätsvorrang begreifen. 66 Vgl EuGH, Urt v 13.5.2014, C-131/12, Rn 68 ff – Google Spain. 67 Beutler in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 6 EUV Rn 8.
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lediglich sprachlichen, nicht jedoch inhaltlichen Änderungen. Dies bedeutet in rechtlicher Hinsicht keine Veränderung. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze – die nicht mit den Grundsätzen der GRCh verwechselt werden dürfen (Rn 19 ff, 63) – sind weiterhin ungeschriebene Rechtsquellen des Primärrechts. Zwischen ihnen und der GRCh besteht kein wechselseitiges Ausschlussverhältnis und keine Hierarchiebeziehung. Dennoch greift der EuGH in seiner Rspr heute vornehmlich auf den geschriebenen Katalog der Charta zurück. Dies hängt mit der höheren Rechtsklarheit des geschriebenen Katalogs sowie mit dem Umstand zusammen, dass der vor Inkrafttreten der GRCh anerkannte acquis communautaire weitestgehend in die Charta eingeflossen ist und gleichsam in ihr aufgeht.68 Auch Neuerungen im Wege der flexibleren ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze erscheinen zwar weiterhin möglich, derzeit aber nicht erforderlich. Eine parallele (doppelte) Anwendung der beiden Kategorien als (identischer) Prüfungsmaßstab ist jedenfalls in keinem Falle angezeigt. 12 Dies wirft freilich die Frage nach der fortbestehenden Bedeutung der Grundrechte nach Art 6 III EUV auf. Sie besteht in doppelter Hinsicht. Die größere Bedeutung kommt ihr im Bereich der Auslegung zu. Denn auch wenn die Charta heute die zentrale Rechtsquelle der Unionsgrundrechte ist, steht sie doch in systematischem Zusammenhang mit der Grundrechtsgewährleistung nach Art 6 III EUV. Es ist also möglich, deren Basis zur Auslegung der geschriebenen Grundrechte heranzuziehen. Insofern behalten die Gewährleistungen der EMRK und die Grundrechte, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, ebenso ihre Bedeutung wie indirekt auch der Fortentwicklungsauftrag der Auslegungszuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit. Die Charta selbst nimmt diese Wechselbeziehung auf und unterstreicht sie. So sind die Rechtserkenntnisquellen, die den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nach Art 6 III EUV zugrundeliegen, gem Art 52 III, IV GRCh bei der Auslegung der Charta-Rechte heranzuziehen; insbesondere mit den Garantien der EMRK soll ein inhaltlicher Gleichklang im Wege der Auslegung erreicht werden (Rn 109 f). Einen Primärrechtsrang kann die EMRK allerdings nicht erreichen. Selbst wenn die EU der EMRK nach Art 6 II EUV beitritt, wird diese zwar integrierender Bestandteil des Unionsrechts, gehört aber weiterhin nicht zum Vertragsrecht. Im Hinblick auf die Begründung eigenständiger (von der Charta unabhängiger) Unionsgrundrechte mit Primärrechtsrang wird der EMRK somit auch dann weiterhin nur der Charakter als Rechtserkenntnisquelle zukommen. Hinsichtlich der Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hat wegen Art 6 III
68 Weitergehend wohl v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 27 Rn 19, wonach Art 6 III EUV nur noch als Residualkategorie verstanden werden sollte. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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EUV und Art 52 IV GRCh die alte rechtsvergleichende Methode des EuGH weiterhin auch im Rahmen der Chartaauslegung ihre Bedeutung.69 Neben ihrer Funktion im Rahmen der Auslegung folgt aus der Eigenständigkeit 13 der Gewährleistung durch Art 6 III EUV eine Lückenfüllungsfunktion der ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze. So können diese zwar keine Reduktion des Schutzniveaus der geschriebenen Grundrechte der Charta bewirken. Wohl aber ist es nicht ausgeschlossen, aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen einen weitergehenden Schutz abzuleiten. Sie können unabhängig von der GRCh wie in der Vergangenheit zur Gewinnung von Grundrechten beitragen.70 Dies gilt insbesondere für Bereiche, in denen die GRCh keine spezifischen Gewährleistungen enthält. Dies ist etwa für eine allgemeine Handlungsfreiheit (iSd Art 2 I GG) relevant, die in der Charta nicht normiert ist. Der EuGH hat in seiner Rspr gleichsam als Äquivalent hier einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts anerkannt, nach dem der Einzelne in seiner Privatsphäre gegen „willkürliche[…] oder unverhältnismäßige[…] Eingriffe[…]“ geschützt ist.71 Eine exakte Entsprechung zu Art 2 I GG wird man indes nicht annehmen können, wohl aber die vergleichbare Funktion als Auffangschutz.72 Ein weiteres Beispiel findet sich dort, wo unterschiedliche Ausdifferenzierungen und Präzisierungen allgemeiner grundrechtlicher Schutzstandards erforderlich werden;73 hier stellt Art 6 III EUV klar, dass dem EuGH in gleicher Weise wie nationalen Verfassungsgerichten aufgrund der Auslegungskompetenz auch ein Fortentwicklungsauftrag erteilt worden ist und er anders als im klassischen Völkerrecht keinen engen Restriktionen aufgrund der Textbindung unterliegt. Entsprechende Situationen können schließlich auch auftreten, wenn aufgrund tatsächlicher Entwicklungen neue Schutzbedürfnisse in grundrechtlicher Hinsicht erforderlich werden. In Bezug auf die „alten“ Grundrechtskataloge der EMRK und des GG ist dies et-
69 Vgl idS auch EuGH, Urt v 29.7.2019, Rs C-469/17, Rn 59 – Funke Medien NRW; Urt v 29.7.2019, Rs C516/17, Rn 44 – Spiegel Online/Beck; Urt v 29.7.2019, Rs C-476/17, Rn 61 – Pelham ua/Hütter ua. 70 Vgl auch Beutler in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 6 EUV Rn 23 f. 71 EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst = JK 93, EMRK Art 8/1 (Fall 10); Rs C94/00, Slg 2002, I-9011, Rn 27 – Roquette Frères; EuGH, Urt v 16.5.2017, Rs C-682/15, Rn 51 – Berlioz Investment Fund. Erwähnung findet eine „allgemeine Handlungsfreiheit“ („liberté générale d’agir“ / „libertà generale d‘agire“ / „general freedom to pursue any lawful activity“), allerdings ohne Annahme ihrer Verletzung in EuGH, verb Rs 133 bis 136/85, Slg 1987, 2289, Rn 15, 19 – Rau. 72 Für die Anerkennung als „allgemeine Handlungsfreiheit Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 6 EUV Rn 33. Zu Bedenken gegen eine grundrechtliche Geltung vgl Jarass GRCh, Einl Rn 41. 73 Vgl im Bereich der verfahrensrechtlichen Grundrechtsstandards im europäischen Verwaltungsrecht anschaulich Nowak in: Terhechte, Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2. Aufl 2021, § 12 Rn 35 ff mit zahlreichen Bsp für grundrechtliche Garantien, die nicht in der GRCh normiert sind, gleichwohl aber als allgemeine Rechtsgrundsätze fortgelten (zB Verteidigungsrechte, Vertrauensschutz etc).
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wa im Bereich des Datenschutzes deutlich geworden, den die Charta freilich schon als Schutzgut berücksichtigen konnte.74 Neben ihrer schwindenden Relevanz für Altfälle (vor Inkrafttreten der GRCh)75 sind die als allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden Unionsgrundrechte ferner für diejenigen Mitgliedstaaten relevant, die zur Anwendung der GRCh Vorbehalte in Gestalt von Protokollen oder Erklärungen abgegeben haben (Rn 17).
3. Überblick über die Struktur der Grundrechtecharta und einzelne unionsgrundrechtliche Gewährleistungen 14 Wie sich Art 6 I UA 1 EUV entnehmen lässt, verbürgt die GRCh „Rechte, Freiheiten
und Grundsätze“76. Hierbei ist die Unterscheidung zwischen den Grundrechten (Rechten und Freiheiten) einerseits und den Grundsätzen andererseits rechtlich wegen ihrer unterschiedlichen Wirkungen relevant (Rn 19ff). Sie bildet sich in der Struktur der Charta allerdings nicht streng ab. Vielmehr ist die Charta thematisch gegliedert und beinhaltet in sieben Titel mit sachlichen Schutzthemen. Sie beginnt mit der Würde des Menschen und den damit zusammenhängenden Gewährleistungen (Art 1–5 GRCh). Es folgen spezifische Freiheiten (Art 6–19 GRCh), sodann mehrere Gleichheitsrechte und dazugehörige Garantien (Art 20–26 GRCh), der Titel Solidarität (Art 27–38 GRCh), der inhaltlich wohl am disparatesten ist und auch etliche Grundsätze enthält, sodann die Bürgerrechte (Art 39–46 GRCh) und die justiziellen Rechte (Art 47–50 GRCh), die sich teilweise mit Gewährleistungen der Verträge decken bzw überschneiden (Art 20 ff AEUV bzw Art 19 I UA 2 EUV) und schließlich Allgemeine Bestimmungen (Art 51–54 GRCh) mit insbesondere dem Anwendungsbereich, der allgemeinen Schrankenregelung und dem Verhältnis zu anderen Grundrechtskatalogen. Viele Gewährleistungen lehnen sich an die Garantien an, welche sich aus der EMRK, den sonstigen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, der vom Europarat beschlossenen Sozialcharta sowie den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, wobei die GRCh maßgeblich an der Rspr des EuGH und des EGMR anknüpft. Für die Grundrechte macht die GRCh diese insoweit sichtbar und systematisiert sie.77 Vergleicht man allerdings die Gewährleistungen mit den Verbürgungen der einzelnen Rechts
74 Näher → Marsch § 4.2.2 Rn 12 ff. 75 Zur Vorwirkung vgl Rn 100. 76 Zur Abgrenzung vgl Rn 23. 77 Vgl etwa zum Auslieferungsverbot bei einer in einem Drittstaat drohenden Todesstrafe Art 19 II GRCh sowie die entsprechende EGMR-Rspr, die diese Rechtsposition etabliert hat, in → Schorkopf § 4.4.2 Rn 26.
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quellen (zB nur der EMRK oder nur des GG), gehen sie zu einem nicht unerheblichen Teil darüber hinaus. Beispielsweise enthält die GRCh ein Verbot des reproduktiven Klonens (Art 3 II lit d),78 ein Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst (Art 29) sowie einen Anspruch auf Elternurlaub (Art 33 II). Vergleichbare Verbürgungen finden sich in den zuvor erwähnten Rechtsquellen nicht. Die Charta bringt zahlreiche Parallelitäten, Verdoppelungen oder ggf sogar 15 Verdreifachungen der Normierungen der grundrechtlichen Gewährleistungen mit sich. Dies bedeutet richtigerweise allerdings im Falle wortidentischer Wiederholungen keine Vervielfachung des materiellen Grundrechtsbestandes, sondern nur Mehrfachregelungen an unterschiedlichen Stellen des Primärrechts. Das ist in Anbetracht der Entstehungsgeschichte der Grundrechtecharta durchaus nachvollziehbar. So wird die Freizügigkeit der Unionsbürger (Art 45 I GRCh) bereits in Art 20 I UA 1 S 2 lit a AEUV und Art 21 AEUV, der Schutz personenbezogener Daten (Art 8 I GRCh) in Art 16 I AEUV,79 der Zugang zu Dokumenten (Art 42 GRCh) in Art 15 III AEUV oder das aktive und passive Wahlrecht (Art 40 GRCh) in Art 22 I AEUV garantiert. In solchen Fällen ist Art 52 II GRCh zu beachten (Rn 10, 108); zuweilen enthalten aber auch die Grundrechtsbestimmungen konkretere Schrankenvorgaben. Teilweise gewährleistet die Charta Rechtspositionen, die jedenfalls von der EU mangels Zuständigkeit typischerweise nicht beeinträchtigt werden können – wie zB das Verbot der Todesstrafe (Art 2 II GRCh) oder das Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh) – und die daher derzeit vornehmlich Symbolwirkung entfalten80 bzw die Wertentscheidungen der Union nach Art 2 EUV konkretisieren.
4. Unmittelbare Geltung der Unionsgrundrechte Die Grundrechte der Union nehmen als Primärrecht an den allgemeinen Prinzipien 16 des Vorrangs des Unionsrechts und seiner unmittelbaren Geltung teil. Sie verleihen anders als die rein objektiv wirkenden Grundsätze dem Einzelnen individuelle, subjektive Rechte, auf die er sich im Rahmen des unionsrechtlichen Rechtsschutzsystems gegenüber den nationalen Gerichten und den Unionsgerichten direkt berufen kann. Dies gilt in gleicher Weise für die Grundrechte als ungeschriebene allgemeine
78 Vgl Vanneste in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 3 Anm 25, der gleichwohl auf die weiter offenen Fragen der Debatte hinweist. 79 Die Rechtsgrundlage für Harmonisierungsrechtsakte in Art 16 II AEUV ist dann aber in der GRCh nicht gespiegelt; Gleiches gilt umgekehrt für die besonderen Schrankenregelungen in Art 8 II, III GRCh. 80 Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 51 Rn 74. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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Rechtsgrundsätze wie für die geschriebenen Charta-Rechte. Letztere sind mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon kraft der Verweisung des Art 6 I UA 1 EUV unmittelbar anwendbares (dh keine Umsetzung erforderndes) Recht geworden.81 Dies gilt gem Art 51 I GRCh uneingeschränkt im Verhältnis zu den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, für die Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten des Unionsrechts dagegen „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ (näher dazu Rn 77 ff). 17 Einschränkungen der Bindung ergeben sich dabei auch nicht aus anderen Bestimmungen des Unionsprimärrechts. Dies gilt in gleicher Weise für die Union als Verpflichtungsadressatin wie für die Mitgliedstaaten. Ohne Frage folgte dies aus der langjährigen Rspr des Gerichtshofs zu den Unionsgrundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Hier hatte er seit jeher anerkannt, dass die Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte gebunden sind, wenn sie im Anwendungsbereich der Verträge tätig sind.82 In Anbetracht der Bedeutung des effektiven Grundrechtsschutzes im Unionsrecht (Art 2, 3 EUV), der unzureichenden Kontrollmöglichkeit durch die nationalen Grundrechte wegen des Anwendungsvorrangs (Rn 2) und der Fortführung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Grundrechtsquelle (Art 6 III EUV) sprach bei der Einführung der Grundrechtecharta in das Primärrecht praktisch nichts dafür, dass sich an dieser Geltung etwas ändern könnte. Dennoch war die Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta im Grundrechtskonvent83 (Rn 8) und auch in den Jahren nach der Proklamierung der Charta84 Gegenstand erheblicher Auseinandersetzungen und (untauglicher) Versuche, die Grundrechtsbindung zurückzudrängen. Diese äußerten sich auf zwei Ebenen, nämlich zum einen im politischen Bereich durch unterschiedlich motivierte Ansätze in einzelnen Mitgliedstaaten, zumeist innenpolitische Vorteile aus einer Ablehnung der Charta zu ziehen, zumal sogar in der rechtlichen Praxis nicht selten die bereits bestehende Grundrechtsbindung über Art 6 EUV nicht hinreichend durchschaut wurde.85 Zum anderen fanden sich in der rechtwissenschaftlichen Literatur Stimmen, die den deutschen Wortlaut des Art 51 I 1 GRCh („bei der Durchführung des Rechts der Union“) für eine neue Engführung der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nutzen wollten, was aber wegen Art 6 III EUV und der stRspr zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen von vorneherein keine Aussicht auf Erfolg haben konnte (näher Rn 77 ff). Aus Gründen des politischen Kompromisses – aber dementsprechend auch mit im Wesentlichen politischer Wirkung –
81 Zur wenig weiterführenden Unterscheidung von Geltung und Anwendung in der deutschen Terminologie → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 10. 82 EuGH, Rs 36/75, Slg 1975, 1219 – Rutili; Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925 – ERT, Lecheler ER, S 124 f. 83 Vgl Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 51 Rn 9 ff. 84 Vgl Mayer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim EUV/AEUV, nach Art 6 EUV, Rn 54. 85 Vgl für das Vereinigte Königreich etwa Birkinshaw, EuR 2015, 267 (276 f).
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wurde dem Vertrag von Lissabon das Protokoll Nr 30 über die Anwendung der Charta auf Polen und das (damals noch EU-Mitglied) Vereinigte Königreich beigefügt. Nach dessen Wortlaut bewirkt die Charta keine Ausweitung der Befugnisse des EuGH oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder Maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundfreiheiten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen (Art 1 I). Insbesondere werden mit Titel IV der Charta (Solidarität) keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweit Polen bzw das Vereinigte Königreich solche Rechte nicht in seinem nationalen Recht vorgesehen hat (Art 1 II). Wird in einer Bestimmung der Charta auf das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis Bezug genommen, findet diese Bestimmung nach dem Protokoll auf Polen und das Vereinigte Königreich nur in dem Maße Anwendung, in dem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze durch das Recht oder die Praxis Polens bzw des Vereinigten Königreichs anerkannt sind (Art 2). Mit dem Protokoll sollte Bedenken Rechnung getragen werden, die sich damals im Vereinigten Königreich vor allem gegen die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte richteten, während Polen in erster Linie einen grundrechtlichen Schutz von Abtreibungsregelungen, homosexuellen Partnerschaften und Gebietsansprüchen deutscher Staatsbürger abwehren wollte.86 Um eine Ratifizierung des Lissaboner Vertrags durch die Tschechische Republik sicherzustellen, hat der Europäische Rat (Art 15 EUV) im Jahre 2009 zugesagt, das Zusatzprotokoll bei der nächsten Vertragsreform auf Tschechien auszudehnen. Davon versprach sich Tschechien eine Abwehr von Klagen ehemaliger Vertriebener (Sudetendeutscher) auf Eigentumsrückgabe (Aufrechterhaltung der sog Benesch-Dekrete). Das Europäische Parlament (Art 14 EUV) sprach sich auf seiner Sitzung am 22.5.2013 mit großer Mehrheit gegen die Ausdehnung aus. Tschechien hat von der Beitrittsmöglichkeit zum Protokoll schließlich auch keinen Gebrauch gemacht.87 Überdies wurden dem Lissaboner Vertrag verschiedene, die GRCh betreffende Erklärungen von Polen und dem Vereinigten Königreich beigefügt.88 Für Irland gab der Europäische Rat eine ua auf die GRCh und insb ihre Rechte auf Leben, Bildung und Familie bezogene Erklärung ab.89 Alle diese Bestimmungen führen indes
86 Vgl Mehde, EuGRZ 2008, 269 (271). 87 Dazu Streinz Rechtliche Verankerung der Garantien für Irland und der „Fußnote“ für Tschechien, in: Eilmansberger/Griller/Obwexer (Hrsg), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon, 2011, S 23 (35 ff). 88 Vgl die Erklärung Nr 61–65 (Sart II Nr 152). 89 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 18./19.6.2009, Dok 11225/1/09 REV 1, Rn 3 mit Anl I (Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten
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zu keinerlei Veränderung der Geltung der Charta. Für das Vereinigte Königreich ist die Angelegenheit durch den Austritt aus der Union ohnedies obsolet geworden (Art 50 III EUV).90 Den Erklärungen (einschl der Schlusserklärungen zum Vertrag von Lissabon) kommt überdies ohnehin keine Rechtsverbindlichkeit zu. Sie können nach Art 31 II WVRK nur für die Auslegung der Verträge und Protokolle herangezogen werden. Obgleich dagegen Protokolle gem Art 51 EUV Bestandteile der Verträge und damit Primärrecht sind, hat das Protokoll Nr 30 im Wesentlichen nur eine symbolische (innenpolitische) Bedeutung und schränkt die Charta-Rechte nicht ein.91 Abgesehen davon, dass die Charta ohnehin nur die in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze bekräftigen und diese Rechte besser sichtbar machen, aber keine neuen Rechte oder Grundsätze schaffen will92, ergeben sich aus dem Protokoll keine zusätzlichen Anwendungsbeschränkungen, so dass es unzutreffend ist, von einem „Opt-out“ zu sprechen. Die Grundrechte, die als allgemeine Rechtsgrundsätze Teil des Unionsrechts sind (Rn 11), bleiben ohne jede Begrenzung bestehen.93 Auch eine Veränderung der Rspr des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ist nicht Gegenstand des Protokolls und wird durch dieses nicht eingeschränkt. Das Gleiche gilt für die Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes durch die Auslegungsbefugnis der Rspr, da auch diese durch die Charta nicht verändert wird und das Protokoll sie damit nicht erfasst. Da sich aber die einzigen Weiterungen im Grundrechtsbereich aus der Auslegungs-Rspr des EuGH ergeben können, die zugleich geschriebene wie ungeschriebene Grundrechte umfassen, beruhen auch sie nicht nur auf der Charta und werden durch das Protokoll daher nicht gehindert.94 Fragen können sich allenfalls mit Blick auf Titel IV der Charta ergeben,95 der einige neue soziale Grundsätze enthält. Aber auch diesbezüglich ist der Weg für eine Auslegung der allgemeinen Rechtsgrundsätze durch den EuGH nach Maßgabe der in Art 6 III EUV erwähnten Rechtsquellen durch das Protokoll nicht versperrt, so dass es möglich bleibt, entsprechende Verfassungsentwicklungen in den Mitgliedstaaten im Wege der Verfassungsvergleichung auf die unionsgrundrechtliche Ebene zu überführen.
der Europäischen Union zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrages von Lissabon): keine Berührung der diesbezüglichen irischen Verfassungsbestimmungen. 90 Vgl ausführl zum jetzigen Stand Tulasne, RDUE 2022, 113 ff. Für noch anhängige Rechtssachen nach Maßgabe der Übergangsregelungen vgl Germelmann in: Baldus/Kramme/Schmidt-Kessel, Brexit, 2. Aufl 2020, § 5. 91 S auch EuGH, verb Rs C‑411/10 u C‑493/10, Slg 2011 I-13905, Rn 116 ff – NS ua. 92 So die 6. Erwägung des Protokolls Nr 30. 93 AA wohl Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 6 EUV Rn 28, Art 51 GRCh Rn 21 aus Gründen einer Spezialität. 94 Vgl v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 27 Rn 18 (mit Hinweisen darauf, dass die vom Gerichtshof gepflegte Methode während der Rechtsvergleichung vor neue Aufgaben gestellt werden könnte). 95 Vgl Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 51 GRCh, Rn 25; Jarass GRCh, Art 51, Rn 45.
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5. Subjektiv-rechtlicher und objektiv-rechtlicher Charakter der Rechte und Grundsätze
Fall 1: (EuGH, Urt v 15.1.2014, Rs C-176/12 – Association de médiation sociale) Die französische Cour de cassation hat sich nach Art 267 AEUV an den EuGH mit der Frage gewandt, ob das in Art 27 GRCh anerkannte und durch die RL 2002/1496 konkretisierte Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um die Rechtmäßigkeit einer nationalen Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie überprüfen zu lassen und diese bei einem Verstoß ggf unangewendet zu lassen.
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Sowohl der EUV (Art 6 I UA 1 u 3) als auch die GRCh (Abs 7 der Präambel, Art 47 S 1, 51 I 19 2, 52 I, V) unterscheiden zwischen Rechten oder Freiheiten einerseits sowie Grundsätzen andererseits. Die Differenzierung zwischen Rechten und Freiheiten (freiheitlichen Grundrechten, nicht Grundfreiheiten iSd Art 26 II AEUV97) geht auf die französische Tradition zurück. Im Sinne der Charta stellen Freiheiten nur einen Unterfall der Rechte dar.98 Der Begriff des Rechts entspricht dem in Deutschland auch gebräuchlichen Terminus „subjektives Recht“.99 Dies bestimmt sich nach dem Schutzzweck der Norm. Dieser wiederum ist nach unionalen, nicht nationalen Maßstäben zu ermitteln.100 Zu den in Betracht kommenden Rechtsschutzmöglichkeiten vgl Rn 144 ff. Auch die Grundsätze sind zwar verbindliches Recht und nicht nur politische 20 Programmsätze, vermitteln aber keine subjektiven Rechte und insbesondere keine Ansprüche auf Erlass positiver Maßnahmen.101 Sie enthalten lediglich objektivrechtliche Berücksichtigungspflichten, die allerdings die Ermessens- und Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung nicht beseitigen.102 Mehrere Funktionen und Wirkungen der Grundsätze sind zu unterscheiden. So können sie gem Art 52 V 2 GRCh bei der Auslegung der Unionsakte103 oder mitgliedstaatli
96 RL 2002/14/EG v 11.3.2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft, ABl Nr 80/29 v 23.3.2002. 97 → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 14. 98 Jarass/Kment GR, § 7 Rn 1, § 40 Rn 6. 99 Vgl zum deutschen Recht statt vieler Siegel Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl 2022, Rn 233 ff mwN. 100 Zum Unterschied vgl Ehlers Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999, S 56 ff. 101 Erläuterungen GRCh zu Art 52 V; EuGH, Urt v 22.5.2014, Rs C-356/12, Rn 78 – Glatzel. 102 Näher zum Ganzen Schmittmann Recht und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2007, S 44 ff; Sagmeister Grundsatznormen, 2010, S 265 ff; Schmidt Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, 2010, S 35 ff. 103 Insoweit muss es nicht zwangsläufig um Durchführungsmaßnahmen gehen. Vgl Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 72 ff.
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chen Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden.104 Sie unterfallen dabei dem allgemeinen Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung, so dass ihre Berücksichtigung anders, als der Wortlaut der Norm es nahelegt, nicht fakultativ ist. Allerdings entfalten sie wegen ihrer Unbestimmtheit in der Regel keine direkte objektive Wirkung.105 Dies kann man nur dann annehmen, wenn sich dies aus dem Wortlaut und Sinn der Norm ergibt.106 Denkbar ist das etwa für den Berücksichtigungsauftrag des Art 24 II GRCh,107 wenn man die Norm als objektiven Grundsatz versteht. Mitgliedstaatliche Normen, die ihnen oder ihrer Verwirklichung entgegenstehen, sind von den nationalen Gerichten nicht zu beachten oder aufzuheben. Dies folgt bei direkter Kollision aus dem Vorranggrundsatz oder – im Falle der Verwirklichungsvereitelung – aus der allgemeinen Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten nach Art 4 III EUV, die ein Frustrationsverbot enthält,108 sowie der Förderpflicht nach Art 51 I 2 GRCh. Auch Unionssekundärrecht muss konsequenterweise bei Verstoß gegen eine unmittelbar anwendbare Grundsatznorm für ungültig oder nichtig erklärt werden können. Nach Art 51 I 2 GRCh müssen die Grundrechtsadressaten (Rn 72 ff) sich schließlich an die Grundsätze „halten“ und diese „fördern“. 21 Dies beinhaltet auch eine begrenzte positive Handlungspflicht, weil Ermessens- und Gestaltungsspielräume fortbestehen. Nur selten kann die Berücksichtigungspflicht ausnahmsweise in eine Pflicht zum Erlass solcher Akte umschlagen.109 In welcher Art die Umsetzung geschieht, legt die GRCh nur in weitgespannter Weise fest. Sie kann durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten erfolgen (Art 52 V 1 GRCh). Umsetzungsakte sind dabei alle Maßnahmen, die den normativen Gehalt eines Grundsatzes berühren, auch wenn sie nicht als solche bezeichnet worden sind.110 22 Die Grundsätze können darüber hinaus als Ausdruck legitimer und unionsprimärrechtlich verankerter Ziele Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in andere
104 Vgl Jarass GRCh, Art 51 Rn 69 f, 75. 105 EuGH, Urt v 22.5.2014, Rs C-356/12, Rn 78 – Glatzel; Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, 493 ff. Vgl auch Bailleux in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-2 Anm 43 ff. 106 Vgl ebenfalls idS Picod in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 51 Anm 50. 107 Vgl dazu EuGH, Urt v 26.3.2019, Rs C-129/18 – SM, Rn 67. 108 Zum Inhalt des Art 4 III EUV zusammenfassend Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 4 EUV Rn 36 ff. Vgl für Richtlinien auch EuGH, Rs C-129/96, Slg 1997, I-7411, Rn 45 – Inter-Environnement Wallonie. 109 Jarass/Kment GR, § 7 Rn 32; Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 81 f. 110 Vgl Schmittmann Recht und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2010, S 45 ff.
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Rechtspositionen wie die Grundfreiheiten darstellen.111 Die fehlende subjektive Funktion der Grundsätze hat ihre für den Einzelnen reduzierte Justiziabilität zur Folge. Setzt eine Klagebefugnis ein subjektives Recht voraus (wie dies etwa im deutschen Verwaltungsprozessrecht, nicht aber zB bei Klagen iSd Art 258, 259, 263 UA II, III, 265 UA I AEUV der Fall ist), reicht die Berufung auf einen Grundsatz nicht aus. Falls der Rechtsweg aus anderen Gründen eröffnet ist – namentlich weil in (Grund-)Rechte oder Grundfreiheiten eingegriffen wurde –, sind die Grundsätze dagegen ggf justiziabel. Welche Bestimmungen der Charta nur Grundsätze verkörpern, ist nicht ab- 23 schließend geregelt worden. Die Differenzierung zwischen Grundrechten („Rechte und Freiheiten“) und Grundsätzen bestimmt sich nach der Auslegung der Rechtsnormen. Entscheidend ist das Gesamtbild, welches sich aus unterschiedlichen Kriterien zusammensetzen kann. Maßgeblich ist, ob einer Bestimmung nach Wortlaut, Systematik und Zweck eine subjektivrechtliche Komponente beigegeben werden kann. Hierbei können ua die Bezugspersonen, die Bestimmtheit oder Unbestimmtheit der Norm112 sowie die möglichen finanziellen Belastungen in Bezug auf etwa erforderliche Umsetzungsmaßnahmen eine Rolle spielen.113 Recht eindeutig ist die Situation bei den im internationalen Menschenrechtsschutz wie in den nationalen Grundrechtsdogmatiken klassisch anerkannten grundrechtlichen Gewährleistungen. Soweit sich aus der EMRK oder den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Rn 11) Rechte ergeben, müssen die Gewährleistungen der Charta entsprechend interpretiert werden, dürfen also nicht dahinter zurückbleiben (Art 52 III, IV GRCh). Dementsprechend kann es auch auf die Rspr der Unionsgerichtsbarkeit vor Inkrafttreten der GRCh sowie als Rechtserkenntnisquelle auf die Rspr des EGMR ankommen. Bloßen Grundsatzcharakter haben insbesondere viele Vorschriften des Titels IV der Charta (Solidarität), denen im Sinne der deutschen Grundrechtsdogmatik die Qualität sog sozialer Grundrechte114 zukommt. Die Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zur Charta (Art 52 VII GRCh) nennen als Grundsätze „beispielsweise“ die Art 25 (Rechte älterer Menschen), 26 (Integration von Menschen mit Behinderungen) und 37 GRCh (Umweltschutz). Wenn in Art 25 GRCh von einem Recht und in Art 26 GRCh von einem An-
111 Vgl EuGH, Urt v 6.9.2012, Rs C-544/10, Rn 42 ff – Deutsches Weintor; Urt v 5.12.2013, verb Rs C-159/ 12 bis C-161/12, Rn 41 – Venturini. 112 Hierauf abstellend Pache in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Komm, Art 52 GRCh Rn 35. 113 Vgl dazu auch Schmittmann Recht und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2010, S 90 ff, 156 mw Kriterien. 114 Vgl dazu etwa Dröge/Marauhn in: BMAS/MPI Sozialrecht/Akademie der Diözese Rottenburg Stuttgart, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, 2000/2001, S 77 ff; Eichenhofer, Soziale Menschenrechte im Völker-, europäischen und deutschen Recht, 2012.
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spruch die Rede ist, besagt dies noch nicht, dass die Charta selbst diese als echte subjektive Rechte gewährt, vielmehr ergibt sich aus der Systematik, dass die EU hier die entsprechenden Verbürgungen in den Mitgliedstaaten anerkennt und achtet.115 Auch ansonsten bedeuten Achtungsklauseln – wie zB Art 22 GRCh (Achtung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen) – oftmals nur, dass dem Rechtsgut in der Umsetzung der Politiken von Union und Mitgliedstaaten eine angemessen hohe Bedeutung beizumessen und ihm im Konfliktsfall in Abwägung mit anderen Zielsetzungen der gebührende Platz einzuräumen ist.116 Ein bloßer Grundsatzcharakter dürfte auch den Art 24, 27, 30, 31 I, 35, 36, 38 und 45 II GRCh zukommen. Nicht ausgeschlossen ist es, dass die Gewährleistungen der Charta gleichermaßen (nebeneinander) Rechte vermitteln und Grundsatzcharakter haben. Dies soll nach den Erläuterungen zur Charta „beispielsweise“ auf die Art 23 (Gleichheit von Männern und Frauen), 33 (Familien- und Berufsleben) und 34 GRCh (soziale Sicherheit und soziale Unterstützung) zutreffen. Denkbar ist es auch bei Art 24 GRCh, der im Kontext des Art 7 GRCh steht.117 Das Recht auf Kollektivverhandlungen und kollektive Maßnahmen wie Arbeitskämpfe nach Art 28 GRCh hat der EuGH mittlerweile118 als Grundrecht anerkannt,119 so dass hier das sonstige Unionsrecht und die mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten iSd Norm im Wesentlichen auf der Rechtfertigungsebene in Betracht kommen werden. Für Art 31 II GRCh hat der EuGH jüngst eine differenzierende Sichtweise eingenommen, nach der die Bestimmung zwar ein unmittelbar anwendbares Grundrecht enthält, dieses aber nicht konkret beziffert ist und damit ohne Anerkennung eines im Primärrecht verankerten „Rückschrittsverbots“ der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber obliegt;120 dabei sind natürlich die Wertungen und Ziele des Grundrechts zu berücksichtigen.121
115 Vgl auch Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 26 GRCh Rn 5, 8. Zum Grundsatzcharakter des Art 26 GRCh EuGH, Urt v 21.10.2021, Rs C-824/19, Rn 58 – TC ua. 116 Vgl Foblets/Velaers in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 22 Anm 22 ff mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte. 117 Vgl für Art 24 II GRCh EuGH, Urt v 26.3.2019, Rs C-129/18 – SM, Rn 67. 118 Zur früheren Einordnung Rodière in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 28 Anm 4 mwN. 119 EuGH, Urt v 23.3.2021, Rs C-28/20, Rn 27 – Airhelp Ltd = EuZA 2021, 450 (nur LS) m Anm Pötters/ Hansen; dazu auch Grard, JDE 2021, 344 ff; Michel, Europe 5/2021, 29 f; Siguoirt, Rec Dalloz 2021, 1171. Ebenso EuG, Urt v 29.1.2020, Rs T-402/18 – Robert Aquino ua/Parlament. 120 Für die Berechnung des Urlaubsgelds bleibt das Richtlinienrecht und im Rechtsstreit unter Privaten damit die richtlinienkonforme Auslegung maßgeblich, s EuGH, Urt v 13.12.2018, Rs C-385/17, Rn 48 ff – Hein. S aber zuvor auch noch unentschlossen EuGH, Urt v 24.1.2012, Rs C-282/10 – Dominguez. 121 Vgl EuGH, Urt v 6.11.2018, verb Rs C-569/16 u C-570/16 – Stadt Wuppertal/Bauer und Willmeroth/ Broßonn; dazu Driguez, Europe 1/2019, 40 f; Urt v 6.11.2018, Rs C-684/16 – Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften/Shimizu; Urt v 8.9.2020, verb Rs C-119/19 P u C-126/19 P Kommission
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Wenn und soweit ein Recht vorliegt, scheidet ein reiner Grundsatzcharakter aus,122 kann aber die objektive Funktion neben die subjektive treten. Im Zweifelsfall ist davon auszugehen, dass die Charta Grundrechte (und nicht bloße Grundsätze) garantiert.123
Lösung Fall 1: Da die nationale Regelung die RL 2002/14 umsetzt, ist der Anwendungsbereich der GRCh gem Art 51 I GRCh eröffnet. Damit findet Art 27 GRCh Anwendung. Aus dem Wortlaut der Vorschrift geht jedoch hervor, dass es sich nicht um ein unmittelbar anwendbares subjektives Recht, sondern (nur) um einen Grundsatz handelt, der erst dann seine Wirksamkeit entfalten kann, wenn er „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ konkretisiert wird. Daher kann die Vorschrift für sich genommen in einem Rechtsstreit (zwischen Privaten) nicht unmittelbar geltend gemacht werden. Die Vorschrift stellt allerdings bindendes Recht insofern dar, als sie eine Ziel- und Auslegungsvorgabe enthält. Daher stellt sich die Anschlussfrage, ob sich aus Art 27 GRCh in Zusammenhang mit den Bestimmungen der RL 2002/14 eine unmittelbar geltende Rechtsvorschrift ergibt. Auch dies ist jedoch zu verneinen. Reicht Art 27 GRCh für sich allein nicht aus, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das dieser als solches geltend machen kann, kann bei einer solchen Zusammenschau nichts Anderes gelten. Denn auch die RL kann wegen des Verbots der horizontalen Direktwirkung124 in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht unmittelbar geltend gemacht werden. Damit begründet keine der beiden Normen eine unmittelbare Geltung. Das nationale Recht kann an ihrem Maßstab nur im Rahmen der unionsrechtskonformen Auslegung125 geprüft werden, die jedoch der Wortlautgrenze unterliegt und keine Unanwendbarkeit der nationalen Norm begründen kann.
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6. Die normenhierarchische Stellung der Unionsgrundrechte Normwidersprüche zwischen den Unionsgrundrechten und Grundsätzen sowie 25 anderweitigen rechtlichen Regelungen sind nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen zu lösen. Entscheidend ist insofern der Rang der Unionsgrundrechte.
und Rat/Francisco Carreras Sequeros ua; dazu Driguez, Europe 11/2020, 10. Zweifelnd zur grundrechtlichen Verankerung des Urlaubsanspruchs Mehrens/Witschen EuZA 2019, 326 ff. 122 Vgl auch Jarass/Kment GR, § 7 Rn 28. 123 IdS Borowsky in: Meyer, Charta der Grundrechte, 4. Aufl 2014, Art 52 Rn 45d. Zur Konkretisierung der Grundsätze vgl Rn 63. 124 Vgl nur EuGH, Rs C-91/92, Slg 1994, I-3325, Rn 20 – Faccini Dori. 125 Vgl für die richtlinienkonforme Auslegung etwa EuGH, Rs C-397/01 bis C-403/01, Slg 2004, I-8835 – Pfeiffer ua.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
a) Unionsgrundrechte als Unionsprimärrecht 26 Wie bereits verschiedentlich betont, sind die Unionsgrundrechte Teil des Unionsprimärrechts. Dies bedeutet, dass ihnen in der Normenhierarchie des Unionsrechts der höchste Rang zukommt. Innerhalb des Unionsprimärrechts nehmen sie hingegen keine herausgehobene Stellung ein, da eine solche Differenzierung im Vertragsrecht nicht angelegt ist.
aa) Verhältnis zu den Grundfreiheiten 27 Die primärrechtlich garantierten Grundfreiheiten des Unionsrechts stellen sowohl
Diskriminierungs- als auch Beschränkungsverbote dar (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 38 ff, 41 ff). Auch wenn sie subjektive Rechtspositionen einräumen, sind sie als funktionale Garantien des Binnenmarktes von den grundrechtlichen Gleichbehandlungsgeboten und den grundrechtlichen Freiheitsrechten zu unterscheiden (→ näher dazu Ehlers/Germelmann § 12 Rn 40, 45).126 Insbesondere kommen die Grundfreiheiten wegen des Binnenmarktziels nur bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts zur Anwendung (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 17 f), während für die Unionsgrundrechte der Anwendungsbereich durch Art 51 I 1 GRCh bestimmt wird. Dies bewirkt, dass anders als im Falle der EMRK (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 6ff, 55ff) nicht alle Maßnahmen der Mitgliedstaaten an den Unionsgrundrechten zu messen sind, sondern nur solche, die sich im Anwendungsbereich des Unionsrechts bewegen, was dem nationalen Grundrechtsschutz weiterhin Raum lässt. Die Anwendungsbereiche der einzelnen subjektivrechtlichen Kategorien sind also präzise zu unterscheiden. Auch in der Rspr bestehen keinerlei Anhaltspunkte für eine Vermischung der beiden Kategorien; eine Angleichung im Wege der Vertragsänderung ist abseits eines fehlenden sachlichen Grundes auch unrealistisch. 28 Die Unionsgrundrechte und die Grundfreiheiten haben als primärrechtliche Verbürgungen gleichen Rang. Sie können dabei miteinander konkurrieren (also gleichgerichtete Schutzwirkungen entfalten) oder kollidieren. Selbst wenn Art 52 II GRCh zum Zuge kommt, verdrängen sich Unionsgrundrechte und Grundfreiheiten in keinem Falle vollständig. Soweit eine Dopplung vorhanden ist, ist differenziert vorzugehen (Rn 108). Soweit die Binnenmarktrelevanz des Rechts oder die Freizügigkeit im Fokus stehen, wie es bei den in Art 15 II GRCh geschützten Rechten oder bei Art 39 ff GRCh der Fall ist, die zum Teil zugleich vom Vertrag gewährleistet werden, sind die Grundfreiheiten bzw die Unionsbürgerrechte gem Art 52 II GRCh primär heranzuziehen. Sofern der persönliche Freiheitsaspekt in den Vordergrund
126 Für eine klare Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten auch Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S 346 ff.
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tritt, wie dies im Datenschutzrecht der Fall ist, besteht der Vorrang der grundrechtlichen Gewährleistung. Dies gilt auch für die gem Art 6 III EUV als allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden gleichgerichteten Unionsgrundrechte.127 In anderen Fällen kann es zwar zu Überschneidungen zwischen den Unionsgrundrechten (namentlich des Art 15 I, 16 und 17 GRCh) und den Grundfreiheiten (zB Art 63 AEUV) kommen, doch werden insoweit nicht die gleichen Rechte im Vertragsrecht geregelt, so dass die Vorschriften von vornherein nebeneinander zur Anwendung gelangen.128 Da die Grundfreiheiten in Binnenmarktfällen idR konkreteren Gehalt haben und auch die längerjährige Basis für sekundärrechtliche Ausformungen gebildet haben, dürfte es sich empfehlen, im Normalfall zunächst von diesen auszugehen (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 17). Fällt ein Verhalten in den Schutzbereich der Grundfreiheiten, müssen sich die 29 Beeinträchtigungen an den (geschriebenen oder ungeschriebenen) Rechtfertigungsgründen sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und ggf „SchrankenSchranken“ messen lassen (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 144 f, 162). Insoweit bestehen zwar Gestaltungsspielräume (vor allem der Mitgliedstaaten). Bei der Grenzziehung ist jedoch das gesamte Unionsrecht einschließlich der Unionsgrundrechte zu beachten. Da somit auch die Schranken der Grundfreiheiten „im Lichte der (Unions-)Grundrechte auszulegen“129 sind, verstärken die Unionsgrundrechte dann in ihrer Funktion als Schranken-Schranke bzw als Auslegungsregeln für die Interpretation der Schrankenregelungen die durch die Grundfreiheiten selbst gewährten Garantien und können im Falle des Gleichlaufs der Gewährleistungen eine den Binnenmarkt fördernde integrationsfreundliche Wirkung entfalten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 170).130 Umgekehrt sind die Einschränkungen der Unionsgrundrechte auch am Maßstab der Grundfreiheiten zu beurteilen. Unionsgrundrechte und Grundfreiheiten können miteinander kollidieren, 30 wenn und soweit sie unterschiedliche Rechtsgüter schützen. Eine solche Konstellation ist ua gegeben, wenn eine durch die Grundfreiheiten geschützte Betätigung im
127 AA Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 21 ff. Allerdings kann sich auch beim Freizügigkeitsrecht ein Kläger dezidiert auf die grundrechtliche Garantie berufen, so dass die Gerichte dann diese anstelle von Art 21 AEUV prüfen; s etwa EuG, Urt v 21.12.2022, Rs T-187/21, Rn 150 ff – Firearms United Network. 128 Vgl EuGH, Urt v 21.12.2016, Rs C‑201/15, Rn 65, 102 f – AGET Iraklis; Urt v 21.5.2019, Rs C-235/17, Rn 66 – Kommission/Ungarn. Zuweilen sieht der EuGH aber auch die grundrechtliche Gewährleistung durch die grundfreiheitliche im konkreten Fall als mitabgedeckt an; s EuGH, Urt v 7.9.2022, Rs C-391/20, Rn 56 – Boriss Cilevičs ua = EuZW 2022, 906 m Anm Wienbracke; Bonneville/Gänser/Iljic, AJDA 2022, 2343 (2348 f); Rigaux, Europe 11/2022, 33 f. 129 Vgl EuGH, Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT; Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1 = Fall 8 (Rn 87). 130 Vgl auch Nowak in: Heselhaus/ders, GR, § 6 Rn 43; v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 27 Rn 55.
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Einzelfall dem Gewährleistungsgehalt eines Unionsgrundrechts nicht gerecht wird. So kann zB die Freiheit des Warenverkehrs dazu benutzt werden, persönlichkeitsverletzende Schriften über die Grenze zu verbringen. Es bedarf dann einer verhältnismäßigen Zuordnung der freiheitsrechtlich geschützten unterschiedlichen Rechtsgüter im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung, wobei die Grundrechte als „Schranken-Schranke“ wirken. Da sich aus den Unionsgrundrechten eine Schutzpflicht ergeben kann (Rn 56), ist ein Mitgliedstaat zur Wahrnehmung dieser Schutzpflicht uU sogar gehalten, die Ausübung einer Grundfreiheit zu beschränken.131 In der Rspr des EuGH ist diese Dimension nur zögerlich entfaltet worden.132 Nicht immer findet sich gerade in älteren Entscheidungen eine umfassende Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten, wenn der EuGH bereits im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung ein für ihn zufriedenstellendes Ergebnis erreicht hat. So hat er in seiner Bosman-Entscheidung133, in der es um die Zulässigkeit des europäischen Transfer-Systems im Profi-Fußball ging, der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV) unmittelbare Drittwirkung gegenüber den (privaten) FußballVerbänden zuerkannt (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 78), ohne sich zu einer Abwägung mit der in Art 11 EMRK sowie heute auch in Art 12 GRCh geschützten Vereinigungsfreiheit zu äußern. In jüngeren Entscheidungen hat sich dies zuweilen geändert. Beispielsweise hat der EuGH in der Schmidberger-Entscheidung das staatliche Nichteinschreiten gegen eine Blockade der Brenner-Autobahn trotz der damit verbundenen Einschränkung der Freiheit des Warenverkehrs für zulässig erachtet, weil die Demonstranten von der durch Art 10 und 11 EMRK (sowie durch die österreichische Verfassung134) gewährleisteten Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht haben.135 Ebenso hat der EuGH in seiner Omega-Entscheidung das die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigende Verbot von sog Laserdromes wegen der (von den deutschen Gerichten angenommenen) Verletzung der Menschenwürde als gerechtfertigt eingestuft.136 Schließlich kann das durch Art 7 und 8 GRCh geschützte Recht auf „Vergessenwerden“ das durch die Grundfreiheiten geschützte wirtschaftliche Interesse eines Suchmaschinenbetreibers überwiegen.137
131 Vgl EuGH, Rs C-288/89, Slg 1991, I-4007, Rn 23 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda. 132 Schindler Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, 2001, S 125 ff. 133 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 92 ff – Bosman. 134 Zum Verhältnis von Unionsgrundrechten und nationalen Grundrechten in diesem Falle vgl Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, 213 ff; Schorkopf, ZaöRV 2004, 125 (133 ff). 135 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 77 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3 (→ Epiney § 13 Rn 17). 136 Vgl EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 40 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 160). 137 EuGH, Urt v 13.5.2014, C-131/12, Rn 68 ff – Google Spain.
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bb) Verhältnis zu den sonstigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts Neben den als Grundrechte geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen iSd Art 6 III 31 EUV (Rn 11), kennt das Unionsrecht auch sonstige allgemeine Rechtsgrundsätze, die von der Rspr der Unionsgerichtsbarkeit gestützt auf Art 19 I UA 1 S 2 EUV (Wahrung des Rechts) entwickelt worden und ebenfalls Teil des Primärrechts sind. Teilweise sind sie heute im Vertragsrecht auch ausdrücklich kodifiziert worden. Dies gilt etwa für die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit (Art 52 I 1 GRCh), der Verhältnismäßigkeit (Art 52 I 2 GRCh) oder einer guten Verwaltung (Art 41 GRCh)138; sie sind teilweise als Rechte ausgestaltet. Andere haben nur eine objektive Wirkung. Mit den Unionsgrundrechten teilen sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze den Primärrechtsrang und müssen daher im Interesse der Widerspruchsfreiheit der Unionsrechtsordnung aufeinander abgestimmt interpretiert werden. Bedeutung können die objektiv geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze vor allem bei der Prüfung der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen erlangen. So müssen beispielsweise die Grundrechtsbeeinträchtigungen auch den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes genügen, die ihrerseits als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts Teil des Primärrechts sind.139
b) Verhältnis zum Sekundärrecht der EU Fall 2: (EuGH, verb Rs C-92/09 u C-93/09, Slg 2010, I-11063 – Schecke u Eifert) Ein deutscher Landwirt hat aus Landwirtschaftsfonds der EU Agrarbeihilfen erhalten. Nach den Vorschriften der einschlägigen EU-VO sind die Beträge, die jeder Begünstigte erhalten hat, zu veröffentlichen. Das angerufene nationale Gericht hat sich in einem Vorabentscheidungsersuchen (Art 267 AEUV) an den EuGH mit der Frage gewandt, ob die Veröffentlichungspflicht mit den Unionsgrundrechten vereinbar ist.
138 Das Recht auf gute Verwaltung nach Art 41 GRCh bindet hierbei angesichts des klaren Wortlauts nur die Union; für die Mitgliedstaaten kommt nur ein (entsprechender) allgemeiner Rechtsgrundsatz in Betracht; s EuGH, Urt v 17.7.2014, verb Rs C-141/12 u C-372/12, Rn 67 f – YS u M u S = EuR 2015, 80 (nur LS) m Anm Gundel; dazu auch Dupont-Lassalle, Europe 10/2014, 15 f; Urt v 9.11.2017, Rs C298/16 – Ispas; dazu Gazin, Europe 1/2018, 11. S auch Tulkens in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 41 Anm 10 f. 139 Vgl dazu zB EuGH, verb Rs C-143/88 u C-92/89, Slg 1991, I-415, Rn 49 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Rs C-201/02, Slg. 2004, I-723, Rn 56 – Delena Wells; verb Rs C-37/02 u C-38/02, Slg 2004 I-6911, Rn 70 – Dilexport; Urt v 20.12.2017, Rs C-322/16, Rn 46 – Global Starnet; s auch schon Lecheler Der EuGH und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, 1971, 83 ff; ders in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 158 Rn 28, 32 ff; Nowak in: Terhechte, Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2. Aufl 2021, § 12 Rn 68 mwN.
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33 Nach der Normenhierarchie des Unionsrechts geht das Primärrecht, zu dem auch
die Unionsgrundrechte gehören, dem Sekundärrecht (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse140) wie auch dem Durchführungsrecht141 (sog Tertiärrecht) vor. Das niederrangige Recht ist – selbst wenn wie im Fall von Richtlinien eine Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist142 – grundrechtskonform auszulegen.143 Lässt sich eine Normenkollision nicht beheben, ist es unwirksam; das Primärrecht genießt Geltungsvorrang innerhalb der Normenhierarchie. Ist das niederrangige Recht mit dem höherrangigen Recht vereinbar und ergeben sich aus beiden Rechtsquellen gleiche Rechtsfolgen, muss das niederrangige Recht angewendet werden, weil es idR konkreter als das höherrangige ist und damit eine speziellere Regelung enthält.144
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Lösung Fall 2: Die Vorlage ist zulässig (Art 267 I lit a AEUV). Die GRCh ist anwendbar, weil hier mit der VO eine Handlung der Unionsorgane in Rede steht (Art 51 I GRCh). Die Pflicht zur Veröffentlichung personenbezogener Daten greift in das (in einem engen systematischen Zusammenhang mit Art 7 GRCh, Achtung des Privat- und Familienlebens, stehende) Unionsgrundrecht auf Schutz personenbezogener Daten ein (Art 8 I GRCh). Der Eingriff ist gesetzlich durch die VO vorgesehen. Er verletzt nicht den Wesensgehalt des Rechts, da nur bestimmte Informationen mitgeteilt werden müssen. Dies dient dem Gemeinwohl (Wahrung der Transparenz bei der Beihilfenvergabe). Fraglich ist, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art 52 I 2 GRCh) gewahrt wurde. Der EuGH betont, dass sich die Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten auf das absolut Notwendige beschränken müssen. Darauf aufbauend differenziert er zwischen den Daten natürlicher und juristischer Personen. Im Verhältnis zu den juristischen Personen hält er die Veröffentlichungspflicht für gerechtfertigt. Hinsichtlich der Daten natürlicher Personen kommt er zu einem anderen Ergebnis. Die diesbezüglichen VO-Bestimmungen seien insoweit ungültig, als die Bestimmungen bei natürlichen Personen, die Empfänger der Mittel sind, die Veröffentlichung personenbezogener Daten hinsichtlich aller Empfänger vorschreiben, ohne nach einschlägigen Kriterien wie den Zeiträumen, wäh-
140 Art 288 II–IV AEUV. 141 Vgl Art 290, 291 AEUV. 142 EuGH, Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981 Rn 76 – Mangold. 143 Vgl EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 37 – Connolly/Kommission; Rs C-465/00, Slg 2003, I4989, Rn 68 – Rechnungshof/Österreichischer Rundfunk; Urt v 13.5.2014, C-131/12, Rn 68 – Google Spain; Urt v 14.6.2017, Rs C-75/16 – Menini u Rampanelli = EuZW 2017, 736 m Anm Ulrici; dazu Simon, Europe 8/2017, 13 f; Urt v 9.3.2017, Rs C-398/15 – Manni; dazu Rigaux/Simon, Europe 5/2017, 11 f; van den Bulck, JDE 2018, 269 f; Urt v 2.3.2021, Rs C-746/18 – HK/Prokuratuur; Urt v 15.6.2021, Rs C-645/19 – Facebook Ireland Ltd ua = NVwZ 2021, 1125 m Anm Gerhold = NJW 2021, 2495 m Anm Piltz = JDI 2022, 187 m Anm Pailler; dazu auch Bruyas, Europe 8/2021, 11 f; Urt v 21.6.2022, Rs C-817/19 – Ligue des droits humains = EuZW 2022, 706 m Anm Sandhu; dazu Eisele, NJW 2022, 2886 ff; Simon, Europe 8/2022, 11 f; Bonneville/Gänser/Iljic, AJDA 2022, 1675, 1677 ff. 144 Ehlers/Pünder in: dies (Hrsg), Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl 2022, § 2 Rn 93; s auch → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 12.
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rend derer sie solche Beihilfen erhalten haben, der Häufigkeit oder auch Art und Umfang dieser Beihilfen zu unterscheiden.
c) Verhältnis zur EMRK Die EMRK ist nach wie vor keine Rechtsquelle, sondern nur eine Rechtserkenntnis- 35 quelle des Unionsrechts (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 22). Erst im Falle eines durch Art 6 II EUV vorgesehenen, aber durch den EuGH in seinem (zweiten) EMRK-Gutachten zunächst blockierten Beitritts der Union zur EMRK würde sie kraft des Beitrittsübereinkommens als völkerrechtlicher Vertrag der Union Bestandteil des Unionsrechts im Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht (→ Ehlers/ Germelmann § 2.1 Rn 24) werden. Nach dem Beitritt der EU würde die EMRK im Anwendungsbereich des Unionsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten Anwendungsvorrang genießen. Derzeit ist dies nicht der Fall.145 Sofern mit Blick auf einen Beitritt die Frage erwogen wird, ob aufgrund der Anordnung der Art 6 II, III EUV und Art 52 III 1 GRCh der EMRK ein quasi primärrechtlicher Rang zukommen kann,146 so erscheint diese Erwägung derzeit verfrüht. Gleiches gilt auch für die genaue Bestimmung der Reichweite der Auslegungsbefugnis des EGMR; hier wird der Ausgestaltung des Beitrittsabkommens maßgebliche Bedeutung zukommen.147 Es steht jedoch fest, dass in jedem Falle eine Autonomie der Unionsgrundrechtsordnung weiterhin beibehalten werden muss.148 Als Rechtserkenntnisquelle wirkt die EMRK derzeit in zweifacher Hinsicht auf 36 die Unionsgrundrechte ein. Erstens spielt sie weiterhin bei der Auslegung bzw Gewinnung primärrechtlich geltender Unionsgrundrechte nach Maßgabe des Art 6 III EUV eine Rolle; die allgemeinen Rechtsgrundsätze haben sich außer an den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten an der EMRK zu orientieren. Diese Funktion tritt allerdings heute unter der Geltung der Charta zurück. Deutlich wichtiger ist zweitens, dass die Rechte der Charta, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, gem Art 52 III 1 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden.149 Liegt in die-
145 Deutlich EuGH, Urt v 24.4.2012 – C-571/10, Rn 59 ff – Kamberaj. 146 Vgl auch Jarass, EuR 2013, 29 (44). 147 Vgl EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13 – Beitritt der Union zur EMRK; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 6 EUV Rn 12 ff. 148 Vgl ausführlich Potvin-Solis in: dies (Hrsg), Politiques de l’Union européenne et droits fondamentaux, 2017, 123 ff. 149 Vgl zB zu Art 4 GRCh EuGH, Urt v 13.11.2019, Rs C-540/17 u C-541/17, Rn 39 – Adel Hamed ua = NVwZ 2020, 137 m Anm Vogt; zu Art 9 EMRK EuGH, Urt v 18.12.2020, Rs C-336/19 – Centraal Israëli
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
sem Fällen eine Rspr des EGMR vor, ist auch die Unionsgerichtsbarkeit gehalten, diese maßgeblich zu berücksichtigen.150 Eine strikte Bindung ergibt sich daraus freilich nicht und ist vom EuGH auch bei der Schöpfung der allgemeinen Rechtsgrundsätze nie als solche ausdrücklich anerkannt worden.151 Insbesondere schließt Art 52 III 2 GRCh einen weitergehenden Schutz der GRCh nicht aus. In gleicher Weise können die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten über die EMRK hinausgehen. Somit bildet der Standard der EMRK nur, zugleich aber auch immer, die Untergrenze,152 wobei aber zu berücksichtigen ist, ob das Schutzniveau durch vergleichbare alternative Grundrechtskonstruktionen erreicht wird. Umgekehrt sieht der EGMR den im Unionsrecht vorgesehenen Schutz der Grundrechte als prinzipiell gleichwertig mit der EMRK an und leitet daraus die (im Einzelfall widerlegbare) Vermutung ab, dass sich ein Konventionsstaat seiner Bindung an die EMRK nicht entzieht, wenn er lediglich den rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich aus seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben (näher dazu → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 59 ff). 37 Welche Rechte der Charta dieselbe Bedeutung und Tragweite wie die EMRKRechte haben, ist in den Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents (Rn 64) zu Art 52 GRCh aufgelistet worden. Danach entsprechen sich die Unionsgrundrechte der Art 2/Art 2 EMRK, Art 4/Art 3 EMRK, Art 5 I, II/Art 4 EMRK,
tisch Consistorie van België = NVwZ 2021, 219 m Anm Gerhold/Hahn = JCP 2021, 346 m Anm Gonzalez; dazu Rigaux, Europe 2/2021, 17 f; ferner Vordermayer-Riemer, DÖV 2019, 693 ff; zu Art 11 GRCh EuGH, Urt v 29.7.2019, Rs C-469/17, Rn 73 – Funke Medien NRW = MMR 2019, 660 m Anm Hoeren/Düwel = ZUM 2019, 751 m Bespr Leistner S 720 ff.; dazu auch Dreier, GRUR 2019, 1003 ff; Simon, Europe 10/2019, 38 f. 150 Vgl beispielhaft für Art 4 GRCh EuGH, Urt v 15.10.2019, Rs C-128/18 – Dorobantu; ausführl und differenzierend Oepen-Mathey Internationaler Schutz im Falle extremer Armut, 2021, S 195 ff; zu Art 7 GRCh (Begriff des Familienangehörigen) EuGH, Urt v 26.3.2019, Rs C-129/18 – SM, Rn 65 ff = RCDIP 2019, 768 m Anm Hammje; dazu Rigaux, Europe 5/2019, 14 f; zu Art 11 GRCh EuGH, Urt v 17.12.2015, Rs C-157/14, Rn 65 – Neptune Distribution; dazu Roset Europe 2/2016, 26 f; zu Art 47, 48 GRCh EuGH, Urt v 26.3.2020, verb Rs C-542/18 RX-II u C-543/18 RX-II – Erik Simpson/Rat u HG/Kommission; Urt v 2.2.2021, Rs C-481/19 – DB/Consob, Rn 34 ff; zu Art 50 GRCh (ne bis in idem) EuGH, Urt v 20.3.2018, Rs C-524/15 – Menci Luca; Urt v 20.3.2018, Rs C-537/16 – Garlsson Real Estate; Urt v 20.3.2018, Rs C-596/16 – Di Puma. Für den Eigentumsbegriff des EGMR und Art 17 GRCh s EuGH, Urt v 21.5.2019, Rs C-235/17, Rn 72 – Kommission/Ungarn; Urt v 15.4.2021, verb Rs C-798/18 u 799/18, Rn 35 ff – Anie ua. Zum Datenschutz vgl Tinière in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 7 Anm 20 ff mwN. 151 Vgl etwa EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859 – Hoechst; Rs C-94/00, Slg 2002, I-9011 – Roquette Frères = EuZW 2003, 14 m Anm Feddersen; ferner auch EuGH, Urt v 18.6.2015, Rs C-583/13 P – Deutsche Bahn AG/Kommission; dazu Idot, Europe 8/2015, 34 f. S auch Schwarze in: Die Entwicklung einer europäischen Grundrechtsarchitektur – Symposium Everling, 2005, S 35 (44). 152 Craig/de Búrca EU, S 367; v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 27 Rn 46.
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Art 6/Art 5 EMRK, Art 7/Art 8 EMRK, Art 10 I/Art 9 EMRK, Art 11/Art 10 EMRK153, Art 17/Art 1. ZP EMRK, Art 19 I/Art 4 4. ZP EMRK, Art 19 II/Art 3 EMRK, Art 48/Art 6 II, III EMRK und Art 49 I154, II/Art 7 EMRK. Andere Rechte der Charta entsprechen zum Teil der EMRK. Die Erläuterungen nennen die Art 9/Art 12 EMRK, Art 12 I/Art 11 EMRK, Art 14 I, III/Art 2 1. ZP EMRK, Art 47 II, III/Art 6 I EMRK und Art 50/Art 4 7. ZP EMRK. Der Verweis der GRCh und des Art 6 III EUV auf die EMRK ist dabei allerdings 38 nicht statisch auf das EMRK-Recht zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Lissaboner Vertrages und damit auch auf den Zeitpunkt der genannten Erläuterungen bezogen, sondern ist dynamisch zu verstehen; es müssen auch künftige Veränderungen und Entwicklungen in der Grundrechtsrechtsprechung berücksichtigt werden.155 So spricht Art 52 III 1 GRCh davon, dass die der EMRK entsprechenden Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention „verliehen wird“ (nicht verliehen worden sind). Zwar können dynamische Verweisungen im Völkerrecht auf Bedenken stoßen, weil die Bindungswirkungen nicht vorhersehbar sind.156 Für die Unionsgrundrechte ist Entsprechendes aber nicht anzunehmen, da es hier typischerweise um eine den Zielen der Union entsprechende (Art 2 EUV) und damit im Integrationsprogramm mitgedachte Schutzerweiterung geht. Zudem bleibt es bei einem dynamischen Verweis auf eine Rechtserkenntnisquelle, die keine strikte Verpflichtung zur Auslegung des Primärrechts an ihrem Maßstab enthält.
d) Verhältnis zum internationalen Recht Fall 3: (EuGH, verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351 ff – Kadi = JK 2009, EGV Art 301/1)
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mehrere Resolutionen auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta verabschiedet. Darin ist ua vorgesehen, dass die Staaten verpflichtet sind, Gelder und andere wirtschaftliche Ressourcen von Unterstützern des Terrorismus „einzufrieren“. Der Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen hat die natürlichen und juristischen Personen sowie Einrichtungen, die als Unterstützer gelten, namentlich benannt. Daraufhin hat der Europäische Rat (Art 15 EUV) eine VO erlassen, welche die Einfrierung der Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen unter Nennung der als Unterstützer angesehenen Personen und Organisationen anordnet. Der in der Liste aufgeführte K hat Nichtigkeitsklage gegen die VO erhoben und sich ua auf eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie seines Ei-
153 Unbeschadet der Einschränkungen, mit denen das Unionsrecht das Recht der Mitgliedstaaten auf Einführung der in Art 10 I 3 EMRK genannten Genehmigungsverfahren eingrenzen kann. 154 Mit Ausnahme des letzten Satzes. 155 Vgl auch zur GRCh Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 57. 156 Zum innerstaatlichen Recht vgl BVerfGE 47, 285 (311 ff); Clemens, AöR 111 (1986), 63 (100 ff).
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
gentumsgrundrechts berufen. Nach Abweisung der Klage durch das EuG (Rs T-315/01, Slg 2005, II3649) wandte sich K mit einer Rechtsmittelbeschwerde an den EuGH.
40 In Hinblick auf das Verhältnis von Unionsgrundrechten und internationalem Recht
sind drei Konstellationen zu unterscheiden. So sind erstens internationale Organisationen und Drittstaaten an die Unionsgrundrechte natürlich ebenso wenig gebunden wie an das übrigen Unionsrecht; für die Unionsgrundrechte ergibt sich dies bereits aus Art 51 I 1 GRCh, der den Grundsatz der völkerrechtlichen pacta-tertiisRegel spiegelt.157 Anders ist die Lage zweitens für völkerrechtliche Verträge der Europäischen Union (oder der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht) zu beurteilen. Hierbei handelt es sich um Handlungen der Union (oder der Mitgliedstaaten), die an den Unionsgrundrechten zu messen sind.158 Die von der Union geschlossenen Verträge binden diese und die Mitgliedstaaten völkerrechtlich sowie unionsrechtlich nach Maßgabe der Art 216 II AEUV.159 Die völkerrechtlichen Verträge der Union gehen dem Sekundärrecht, ungeachtet des Grundsatzes der völkerrechtsfreundlichen Auslegung nicht aber dem Primärrecht160 und damit auch nicht den Unionsgrundrechten vor.161 Über die Vereinbarkeit der von der Union geschlossenen Verträge mit dem Unionsrecht entscheidet der EuGH.162 Im Vorfeld einer geplanten Übereinkunft kann ein Gutachten des EuGH eingeholt werden (Art 218 XI AEUV). Dies kann im Falle eines negativen Votums dazu führen, dass ein Vertrag von der Union nicht ratifiziert werden kann, sofern nicht Änderungen ausverhandelt werden können, da eine Anpassung des Primärrechts als Alternative typischerweise nicht in Betracht kommt.163 Auch die völkerrechtlichen Verträge der Mitgliedstaaten unterliegen der Kontrolle des EuGH auf ihre Unionsrechtskonformität (vgl Art 267 I lit a, 258 AEUV). Im Falle einer Unionsrechtswidrigkeit eines be-
157 Art 34 WVK; s auch Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 15 Rn 23. 158 Vgl nur (in Bezug auf Art 7, 8 u 21 GRCh) EuGH, GA v 26.7.2017, GA 1/15, Rn 121 ff – PNR-Abkommen mit Kanada, dazu Docksey 24 MJ (2017), 768 ff; Forget, JDE 2018, 87 ff; Priebe, EuZW 2017, 762 ff; Simon, Europe 10/2017, 17 f. 159 Vgl Mögele in: Streinz, EUV/AEUV, Art 216 AEUV Rn 49. Zum Sonderfall des WTO-Rechts, bei dem der EuGH keine unmittelbare Geltung der GATT-Bestimmungen annimmt, vgl bspw EuGH, Rs C-149/ 96, Slg 1999, I-8395, Rn 36 – Portugal/Rat = JK 2000, EGV Art 300/1. An der unionsrechtlichen Normenhierarchie ändert das nichts. 160 Dies folgt aus Art 218 XI 2 AEUV. 161 EuGH, Rs C-286/90, Slg 1992, I-6019, Rn 9 – Poulsen u Diva Navigation; Rs C-162/96, Slg 1998, I-3655, Rn 45 – Racke; verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 291 – Kadi (Fall 3). 162 Vgl EuGH, Rs 181/73, Slg 1974, 449, Rn 2, 6 – Haegeman. 163 Vgl für den Fall der EMRK die beiden EMRK-Gutachten des EuGH; GA 2/94, Slg 1996, I-1759, 17823 – EMRK; GA v 18.12.2014, GA 2/13 – Beitritt der Union zur EMRK.
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§ 2.2 Grundrechte der Europäischen Union – Allgemeine Lehren
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reits in Kraft getretenen Abkommens steht der Mitgliedstaat vor dem Dilemma, entweder eine Unionsrechtsverletzung zu begehen oder sich gegenüber seinem Vertragspartner völkerrechtlich haftbar zu machen. Dies erkennt auch das Unionsrecht an. Widersprechen frühere Übereinkommen der Mitgliedstaaten den Unionsgrundrechten, haben diese daher gem Art 351 II AEUV alle geeigneten Mittel anzuwenden, um die Unvereinbarkeit zu beheben.164 Im Bereich der Grundrechte dürften solche Konflikte aber eher selten sein. Soweit das Völkerrecht selbst die Menschenrechte schützt, ist dies gem Art 53 GRCh bei der Auslegung der GRCh zu beachten. Einen Sonderfall stellt drittens die Frage nach der Bindung der Mitgliedstaaten 41 an die Unionsgrundrechte bei der Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (zB zur Verhängung eines Embargos oder zum Einfrieren von Geldern und sonstigen finanziellen Vermögenswerten zwecks Bekämpfung des Terrorismus165) dar. Beschränkungen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben, und damit auch solche grundrechtlicher Art laufen der bindenden Wirkung der Beschlüsse (vgl Art 25 sowie Kap VII UN-Charta) sowie dem Vorrang der Charta vor anderen Verpflichtungen der UN-Mitgliedstaaten (Art 103 UN-Charta) zuwider, führen zu uneinheitlichen Anwendungen und bergen die Gefahr weiterer Beschränkungen anderer Mitglieder (namentlich im Bereich des Peacebuilding) in sich.166 Auf der anderen Seite verfügt das Sanktionssystem der UN über keinerlei eigene grundrechtliche Absicherung, da der Sicherheitsrat etwa nicht an die UN-Menschenrechtspakte167 gebunden ist; das System der UN-Charta hatte bei seiner Entwicklung Individualsanktionen und damit Grundrechtsprobleme in keiner Weise im Blick. Das EuG hat daher angenommen, dass eine EU-VO zur Einfrierung von Finanzmitteln betreffend die Taliban von Afghanistan, die ua auf der Basis des Art 60 EGV (heute Art 75 AEUV) erlassen wurde und für die Mitgliedstaaten verbindlich war, dann nicht von der Unionsgerichtsbarkeit am Maßstab der Unionsgrundrechte überprüft werden durfte, wenn die VO eine Resolution des Sicherheitsrates umsetzte und diese eine Liste der betroffenen Personen und Organisationen enthielt. Zu-
164 Dazu bspw EuGH, Rs C-249/06, Slg 2009, I-1335 – Kommission/Schweden; Rs C-205/06, Slg 2009, I1301 – Kommission/Österreich; Rs C-118/07, Slg 2009, I-10889 – Kommission/Finnland; dazu Eilmansberger, CMLRev 46 (2009), 383 (409 ff); Poulain, RGDIP 2009, 874 (875 ff). 165 Sog „smart sanctions“ oder „targeted sanctions“ vgl Fall 3; ferner Streinz ER, Rn 978 ff; zu Embargomaßnahmen der EU gegen Drittstaaten Streinz ER, Rn 1330. 166 Näher zur Frage zu den rechtlichen Grenzen der Sicherheitsratsbefugnisse Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 57 Rn 7 ff; v Arnauld VR, Rn 158 ff; vgl auch IGH, 14.4.1992, ICJ Reports 1992, 3 (15), § 39 – Case Concerning Questions of Interpretation and Application of the 1971 Montreal Convention Arising fromt the Aerial Incident from Lockerbie. 167 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v 19.12.1966 (BGBl 1973 II S 1533, 1534) u Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v 19.12.1966 (BGBl 1973 II S 1569, 1570). Im Überblick hierzu v Arnauld VR, Rn 756 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
lässig sei nur die Überprüfung zwingenden Völkerrechts (ius cogens), an welches auch der Sicherheitsrat selbst gebunden sei.168 Der EuGH ist dieser Betrachtungsweise zu Recht nicht gefolgt, weil ein effektiver Rechtsschutz gegenüber dem Sicherheitsrat auf UN-Ebene fehlt und die Unionsgrundrechte eine „grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit sämtlicher Handlungen der Gemeinschaft [Union] im Hinblick auf die Grundrechte als Bestandteil der allgem Grundsätze des Gemeinschaftsrechts [heute auch der GRCh] gewährleisten müssen“169 (Fall 3). Damit übernimmt der EU-Grundrechtsschutz insofern eine Auffangfunktion, die die Mitgliedstaaten im Konflikt zwischen inter- und supranationaler Verpflichtung primär an letztere bindet.
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Lösung Fall 3: Die Nichtigkeitsklage ist zulässig, weil die angegriffene VO der EG (heute: EU) K unmittelbar und individuell betrifft (Art 263 IV, 2. Var. AEUV). Der Anwendungsbereich der GRCh ist gem Art 51 I GRCh eröffnet, weil es sich hier um eine VO iSd Art 288 AEUV handelt. Der Ansicht des EuG, dass Unionsrechtsakte, die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mit Namenslisten170 umsetzen, wegen der völkerrechtlichen Bindungswirkung einer gerichtlichen Kontrolle der Unionsgerichte nur insoweit unterliegen, als es um die Vereinbarkeit mit den völkerrechtlichen Normen des ius cogens geht, ist der EuGH zu Recht nicht gefolgt. Grundrechte sind sowohl als allgem Rechtsgrundsätze gem Art 6 III EUV wie auch heute als geschriebenes Recht gem Art 6 I EUV iVm der GRCh integrale Bestandteile der Unionsrechtsordnung, deren Wahrung die Unionsgerichte zu sichern haben. Sie zählen zu den Grundwerten der Union nach Art 2 EUV. Das Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Unionsrechts schließt Rechtsschutz nicht aus, zumal dem UN-Recht dieses Erfordernis nicht entnommen werden kann. Die Möglichkeit, vom Unionsrecht zugunsten völkerrechtlicher Verpflichtungen abzuweichen (Art 215, 347 AEUV) entbindet nicht von der Beachtung der Unionsgrundrechte. Würde man die Verpflichtungen aus der UN-Charta in die Normenhierarchie der Unionsrechtsordnung einfügen, hätten sie zwar Vorrang vor dem Sekundär-, nicht aber vor dem Primärrecht (Art 216 II, 218 XI AEUV). Der Rechtsschutz durch die Vereinten Nationen selbst genügt nicht den Garantien eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Er ist im Wesentlichen diplomatischer Natur. Da K nicht in der Lage war, sich gegen die Aufnahme in die Liste der VO zu wehren, verletzt diese sowohl seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz als auch das Recht auf Achtung des Eigentums (heute Art 41 II lit a, 47 S 1, 17 GRCh). Ob auch zwingende Grundsätze des Völkerrechts Prüfungsmaßstab sein können, hat der EuGH offen gelassen.171
168 Vgl EuG, Rs T-315/01, Slg 2005, II-3649, Rn 221 ff – Kadi; Rs T-306/01, Slg 2005, II-3533, Rn 272 ff – Yusuf u Al Barakaat. Vgl dazu v Danwitz, DVBl 2008, 537 ff. Allgem zum ius cogens Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 18 Rn 36 ff. 169 EuGH, verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 326 – Kadi. 170 Anders dürfte das EuG entschieden haben, falls die Resolution den Gemeinschaftsorganen einen Umsetzungsspielraum gäbe, vgl EuG, Rs T-315/01, Slg 2005, II‑3649, Rn 258 – Kadi; Rs T-306/01, Slg 2005, II‑3533, Rn 328 – Yusuf u Al Barakaat. 171 Vgl auch Skouris in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 157 Rn 41.
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e) Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht (insbesondere zu den nationalen Grundrechten) Fall 4: (BVerfGE 102, 142 – Bananenmarktordnung) Auf der Grundlage einer Bananenmarkt-VO der EG (heute: EU) ist die Einfuhr von Bananen aus Drittstaaten in die Gemeinschaft (heute: Union) drastisch reduziert worden. Ein deutscher Importeur von Bananen aus solchen Staaten erhob gegen einen auf der Grundlage dieser VO erlassenen Kontingentierungsbescheid Klage vor einem deutschen VG. Der vom VG im Wege einer Vorabentscheidung angerufene EuGH hat entschieden, dass keine Bedenken gegen die Gültigkeit der VO bestehen (EuGH, Rs C-466/93, Slg 1995, I-3799 ff – Atlanta). Daraufhin hat das VG dem BVerfG gemäß Art 100 I GG die Frage vorgelegt, ob die VO mit Art 14 I, 12 I und 3 I GG vereinbar ist.
43
Eine in (verfassungs-)politischer Hinsicht besonders umstrittene und gleichzeitig in 44 verfassungsrechtlicher Hinsicht hochrelevante Frage ist das Verhältnis des europäischen Grundrechtsschutzes zum nationalen Verfassungsrecht und den darin verankerten Grundrechten. Gerade in der Deutschland betreffenden Diskussion spitzt sich die Problematik oftmals auf einen wahrgenommenen Konflikt zwischen EuGH und BVerfG über die Auslegungshoheit im und die Letztverantwortung für den Grundrechtsschutz zu. Allerdings hat nicht zuletzt der Taricco-Konflikt über die Auslegung des Grundsatzes des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots im Unionsrecht und im italienischen Verfassungsrechts bewiesen, dass auch in anderen Mitgliedstaaten vergleichbare Kontroversen entstehen können.172 Deren Bedeutung wird durch den Umstand erhöht, dass hier neben Fragen des grundrechtlichen Schutzniveaus auch das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen grundlegenden Unionsrechtsgrundsätzen und nationalem Verfassungsprinzipien betroffen ist und zudem die politische Sichtbarkeit solcher Fälle typischerweise erhöht ist. Aus Sicht des Unionsrechts ist klar, dass es grds in keiner seiner Erscheinungsformen (Primär- oder Sekundärrecht) am Maßstab des nationalen Rechts gemessen werden kann. Dem Unionsrecht kommt nach stRspr des EuGH ein Vorrang vor dem gesamten nationalen Recht der Mitgliedstaaten zu, weil ansonsten die Geltung und Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung in Frage gestellt wäre (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 15). Damit liegt es nicht in der Kompetenz der deutschen Gerichtsgewalt, über die Gültigkeit von Handlungen der EU-Organe zu befinden. Unionsakte können nur an den Unionsgrundrechten, nicht aber an den nationalen Grundrech-
172 EuGH, Urt v 5.12.2017, Rs C-42/17 – M. A.S., M. B. = NJW 2018, 217 m Anm Pilz = JZ 2018, 300 m Anm Meyer = EuR 2018, 248 (nur LS) m Anm Burchardt; dazu Arlettaz, AJDA 2018, 615 ff; Lazzerini, Riv dir int 2018, 234 ff; zuvor EuGH, Urt v 8.9.2015, Rs C-105/14 – Taricco ua = wistra 2016, 65 m Bespr Weidemann S 49 ff. = StV 2017, 65 m Anm Kubiciel; zusammenfassend Germelmann/Gundel, BayVBl 2016, 725, 732 und BayVBl 2018, 689, 701 f mwN.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
ten gemessen werden. Dies ist im deutschen Verfassungsrecht nach Art 23 I GG und auch mit Billigung des BVerfG grundsätzlich anerkannt.173 45 Allerdings sind aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts zwei Präzisierungen dieser Grundannahme nötig. Erstens gestattet Art 23 I 1 GG es dem deutschen Staat nur innerhalb bestimmter Grenzen, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen. Diese Anforderung ist in der Solange-Rspr des BVerfG174 entwickelt worden, sodann in den Text des GG übernommen worden und dann insbesondere anlässlich der letzten Vertragsänderung in der Lissabon-Entscheidung nochmals bestätigt und mit dem Versuch einer verfassungstheoretischen Vertiefung im Sinne einer sog „Verfassungsidentität“ unterlegt worden.175 Zum unabdingbaren, die „Identität“ der geltenden Verfassungsordnung ausmachenden Standard des Grundgesetzes gehört ein ausreichender Grundrechtsschutz. Während das BVerfG in seiner Solange I-Entscheidung einen solchen Grundrechtsschutz auf Unionsebene noch vermisst hat, anerkennt es seit seiner Solange II-Entscheidung, dass im Hoheitsbereich der Europäischen Union ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen ist, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten ist. Deshalb werde das Gericht erst und nur dann im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit wieder tätig werden, wenn der als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz im Unionsrecht generell nicht mehr gewährleistet sei.176 Auch Art 23 I 1 GG verlangt nur einen „im Wesentlichen vergleichbaren“ Grundrechtsschutz. Diese Hürde ist so hoch angesetzt, dass mit einer Überprüfung des (sekundären oder gar primären) Unionsrechts am Maßstab der deutschen Grundrechte kaum noch gerechnet werden kann. Dies gilt erst recht nach
173 Vgl BVerfGE 22, 293 (295 ff); 37, 271 (281 f), wonach Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen (damaliges) Gemeinschaftsrecht unzulässig sind. Zu der durch die Maastricht-Entscheidung (BVerfGE 89, 155 (175) = JK 94, GG Art 23/1; s ferner für Art 24 GG auch BVerfGE 149, 346 (361 ff); BVerfG (K), DVBl 2001, 1130 f) begründeten Ansicht, nach der das BVerfG nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen, sondern Grundrechtsschutz in Deutschland generell zu gewährleisten hat (dh wenn ein Akt Rechtswirkungen in Deutschland entfaltet), s sogleich. Näher Dörr Der europäische Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, 176 ff; Walter, AöR 129 (2004), 39 ff; Gundel in: Stern/Sodan/ Möstl, Staatsrecht, § 18 Rn 16 ff. 174 Vgl BVerfGE 37, 271 (277 ff) – Solange I; 73, 339, 375 f, 387 – Solange II = JK 87, GG Art 24 I/1. 175 BVerfGE 123, 267 (335) = JK 2010, GG Art 38 I/18. Krit dazu mit guten Gründen etwa Lecheler, JZ 2009, 1156 ff. Zu der Entscheidung auch zB Ruffert, DVBl 2009, 1197 ff; Gärditz/Hillgruber, JZ 2009, 872 ff; Classen, JZ 2009, 881 ff; Ohler, AöR 135 (2010), 153 ff; Tomuschat, ZaöRV 70 (2010), 251 ff. Prägnant zusammenfassend Gundel in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, § 18 Rn 63 f. 176 Vgl auch BVerfGE 89, 155 (174 f) – Maastricht = JK 94, GG Art 23/1; 102, 147 (162 ff) – Bananenmarktordnung; 118 (79, 95) – Treibhausgas-Immissionsberechtigungen = JK 2008, ZuG § 12/1; 152, 216, Rn 47 ff – Recht auf Vergessen II. Näher zu der Rspr Gundel in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, § 18 Rn 35 ff; Schweitzer/Dederer StR III, Rn 170 ff. Krit zur generellen Betrachtungsweise statt zur Einzelfallkontrolle Dederer, JZ 2014, 313 ff.
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Inkorporation der GRCh in das (primäre) Unionsrecht. Sobald die EU der EMRK beitritt (Rn 35), kommt eine zusätzliche Sicherung hinzu. Nicht zu Unrecht ist davon gesprochen worden, dass das BVerfG – im Hinblick auf die Gewährleistung eines unionsrechtlichen Grundrechtsstandards – die Rolle eines „Reservisten“ ohne ernsthafte Aussicht auf Spieleintritt spielt.177 Dies entspricht auch der in diesen Fällen richtigen dogmatischen Hintergrund-Konstruktion: Bei einem Absinken des EUGrundrechtsstandards unter das absolute Minimum würde nach Art 23 I 1 GG das Gesetz zur Übertragung von Hoheitsgewalt an die Union verfassungswidrig und nichtig werden, so dass eine Mitgliedschaft in der Union als solche beendet werden müsste. Entsprechendes gilt, wenn das Unionsrecht den übrigen Voraussetzungen des Art 23 I 1 GG nicht mehr genügt (zB Demokratieprinzip oder Rechtsstaatlichkeit) oder das Vertragsgesetz einer neuen Integrationsstufe unter Verstoß gegen Art 23 I 3 GG iVm Art 79 II und III GG den unabdingbaren Ewigkeitsstandard des Grundgesetzes verletzt (Grenze des Nichtübertragbaren). Vielfach wird hierfür das Bild einer Brücke bemüht. Die neben dieser Rspr vom BVerfG in Anspruch genommene weitere Fallgruppe der ultra-vires-Handlung der Union (auch als „ausbrechender Rechtsakt“ bezeichnet178), die eine Überprüfung eines Unionsrechtsaktes ermöglichen soll, sofern die Union Kompetenzen wahrnimmt, die ihr nicht übertragen worden sind (Grenze des Nichtübertragenen),179 soll hier nicht vertieft werden, da sie nicht grundrechtsspezifisch ist. Nach dieser in höchstem Maße nicht nur europarechtlich, sondern auch verfassungsrechtlich zweifelhaften und angreifbaren Rspr180 wäre der betroffene Unionsrechtsakt in der Bundesrepublik Deutschland nicht anwendbar, ohne dass es auf eine Grundrechtsprüfung ankäme. Auf der Ebene der Zulässigkeit eines verfassungsgerichtlichen Rechtsbehelfs im Rahmen der Beschwerdebefugnis erlangt typischerweise Art 38 I 1 GG wegen der Auswirkung auf die Zuständigkeit des deutschen Gesetzgebers Bedeutung.181 Zweitens ist die sachliche Reichweite des Grundrechtsschutzes nach der GRCh 46 präzise zu bestimmen, sofern die Mitgliedstaaten der EU tätig werden. Ist das Unionsrecht in einem Sachbereich überhaupt nicht einschlägig, ist der Fall unproble-
177 So der (frühere) Bundesverfassungsrichter Steiner FS Maurer, 2001, S 1005, 1013 mit Fn 43. IdS auch Dederer, JZ 2014, 313, 314. 178 S zB BVerfGE 89, 155 (188); dazu zB Lecheler ER, S 59. 179 BVerfGE 89, 155 (188); 123, 267 (353 ff); 126 (286, 302 ff); 134, 366 (Rn 22 ff); 142, 123 (Rn 143 ff); 151, 202 (Rn 140 ff); 154, 17 (Rn 110 ff). 180 Näher Gundel in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, § 18 Rn 65 ff, 78 ff. Aus unionsrechtlicher Sicht auch Malenovský in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, 427 (440 ff) (unter Hinweis auch auf die Rspr des tschechischen Verfassungsgerichtshofs). 181 Vgl BVerfGE 89, 155 (171 ff); 123, 267 (328 ff, 339 ff); 154, 17 (Rn 90). Für den Fall einer alternativen Begründung über materielle (deutsche) Grundrechte BVerfGE 126, 286 – Honeywell.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
matisch: Hier obliegt die Wahrung der Grundrechte allein dem nationalen Recht (sowie der EMRK).182 Im Übrigen bestimmt sich das Verhältnis von nationalem und unionalem Grundrechtsschutz aus unionsrechtlicher Sicht nach Art 51 I 1 GRCh sowie der zu dessen Auslegung ergangenen Rspr des EuGH, der hierfür nach Art 19 I EUV die Letztentscheidungsbefugnis besitzt. Die Mitgliedstaaten sind an die Unionsgrundrechte nach Art 51 I 1 GRCh „ausschließlich“ bei der Durchführung des Rechts der Union gebunden. Für die als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannten Grundrechte (Art 6 III EUV) gilt im Ergebnis nichts Anderes. Die Reichweite der Unionsgrundrechte ist mittlerweile in einer recht ausdifferenzierten Rspr des EuGH fallweise näher bestimmt worden (näher dazu Rn 90). Bewegt sich das Handeln der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrecht (wird es mit anderen Worten durch dieses determiniert), greift der Vorrang des Unionsrechts mit der Folge ein, dass kollidierendes nationales Recht, einschließlich der Grundrechte, nicht angewendet werden darf.183 Das deutsche Verfassungsrecht fügt dieser eindeutigen unionsrechtlichen Vorgabe den Vorbehalt hinzu, dass es diesen Vorrang jedenfalls in den Grenzen des Art 23 I 1 GG und der Solange-Rspr des BVerfG akzeptiert, was eine Ersatzprüfungskompetenz des deutschen BVerfG heute weitestgehend als eine rein theoretische Option erscheinen lässt (s oben Rn 45). 47 Die Sicht des deutschen Verfassungsrechts ist komplexer, soweit die Unionsgrundrechte den Sachverhalt nicht alleine und abschließend abdecken. Denn es verbleiben Bereiche, in denen den Mitgliedstaaten ein Spielraum für die Anwendung nationaler Grundrechte verbleibt, weil das Unionsrecht hier keine vollständige Angleichung vorsieht. Dabei können auch aus Sicht des EuGH (näher Rn 90) in bestimmten Situationen Unionsgrundrechte und nationale Grundrechte nebeneinander zur Anwendung gelangen, wobei die nationalen Grundrechte natürlich nur für die unionsrechtsfreien Bereiche fortgelten können. Denn im Konfliktfall würden sie nach dem Vorrangprinzip zurücktreten müssen. Die Sichtweise des deutschen Verfassungsrechts hat das BVerfG in jüngerer Zeit in zwei Entscheidungen zusammengefasst und präzisiert.184 Dabei stellt es sich – wohl nicht zuletzt aus Sorge um die fortbestehende Bedeutung des nationalen deutschen Grundrechtsschutzes – auf den Standpunkt, mitgliedstaatliche Maßnahmen, die „unionsrechtlich nicht vollständig determiniert“ sind, vorrangig weiterhin am Maßstab der deut-
182 Näher zum Ganzen Rn 72 ff. 183 BVerfGE 118, 79 (95 f). Zur Nichtanwendbarkeit (statt Ungültigkeit) des mit (damaligem) Gemeinschaftsrecht kollidierenden nationalen Rechts vgl EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 19 – Nimz; BVerfGE 75, 223 (244); 85, 191 (204) = JK 92, GG Art 3 II, Art 3 III/6. 184 BVerfGE 152, 152 ff – Recht auf Vergessen I; 152, 216 ff – Recht auf Vergessen II; dazu zB Aust, EuGRZ 2020, 410 ff; Edenharter, DÖV 2020, 349 ff; Kämmerer/Kotzur, NVwZ 2020, 177 ff; Klein, DÖV 2020, 341 ff; Wendel, JZ 2020, 157 ff; Wendt, DVBl 2020, 549 ff.
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schen Grundrechte zu prüfen und hierdurch das unionsrechtlich geforderte Schutzniveau, vermittelt über als allgemeine Subsidiaritätsprinzip und das neue Schlagwort der „Grundrechtsvielfalt“, als mitabgedeckt bzw „mitgewährleistet“ zu sehen.185 Dieser Ansatz ist sicherlich sachgerechter als die etwas erregte frühere Reaktion auf die Auslegung des Art 51 I GRCh durch den EuGH186 und muss mit den europarechtlichen Anforderungen auch nicht a priori unvereinbar sein. Er enthebt das Gericht allerdings nicht einer präzisen unionsrechtlichen Prüfung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts und ggf einer Vorlage an den EuGH nach Art 267 III AEUV, inwieweit gerade im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung entgegenstehendes Unionsrecht oder unionsrechtlich geschützte Interessen die deutschen Grundrechte verdrängen und einen Rückgriff auf die Unionsgrundrechte erforderlich machen würden. Das gilt insbesondere auch für die Frage, inwieweit im Rahmen einer Interessenabwägung die Unionsgrundrechte im Einzelfall tatsächlich nur einen äußeren Rahmen stecken, in dem gleichsam auf einer zweiten Ebene der nationale Grundrechtsschutz Präzisierungen vornehmen darf. Eine solche Frage wird selten allein aus der Lektüre des „Fachrechts“ ersichtlich sein,187 sondern typischerweise eine Vorlage an den EuGH erfordern. Denn die Reichweite der zulässigen Anwendung der nationalen Grundrechte bemisst sich weiterhin nach dem Unionsrecht (näher Rn 90). Dass das BVerfG dies im Grundsatz erkannt hat, zeigt sich in der zweiten Weichenstellung, mit der es sich – in unionsrechtlich ohne Weiteres zulässiger, aber verfassungsrechtlich wegen der Grenzen des Art 93 I Nr 4a GG nicht zweifelsfreien Weise – neuerdings im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Zuständigkeit zuerkennt, auch die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab heranzuziehen.188 Es begründet dies mit dem Schlagwort der „Integrationsverantwortung“, die es in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon als verfassungsrechtliche Kategorie geschaffen hatte,189 sowie einer Ausweitung des Verständnis der „Grundrechte“, die nach der grundgesetzlichen Kompetenzzuweisung Prüfungsmaßstab seiner Entscheidungen sein können, über Art 23 I GG.190 Es unter-
185 BVerfGE 152, 152, Rn 42 ff – Recht auf Vergessen I. 186 Vgl BVerfGE 133, 277 – Antiterrordatei (Fall 7): Hier hatte das BVerfG gedroht, eine aus seiner Sicht vorliegende Überdehnung des Anwendungsbereichs der GRCh durch den EuGH als Ultra vires-Akt zu deuten, was vor dem Hintergrund der Anforderungen an den Grundrechtsschutz in Art 23 I 1 GG und die Solange-Rspr des Gerichts eher unerwartet wirkte. 187 Vgl in diese Richtung wohl die Vermutungslösung, die das BVerfGE 152, 152 (Rn 51 ff) – Recht auf Vergessen I präferiert. 188 BVerfGE 152, 216 (Rn 50 ff) – Recht auf Vergessen II. Prägnant krit zu dieser mit Blick auf klassische Auslegungsmethoden kaum haltbaren Annahme Wolff, BayVBl 2020, 119 (123). 189 BVerfGE 123, 267 (LS 2, 351). 190 BVerfGE 152, 216 (Rn 53 ff) – Recht auf Vergessen II. Das ist systematisch nicht zweifelsfrei, zumal die behauptete Schutzlücke (Rn 60 ff) wegen der Zuständigkeit des EuGH nach Art 267 AEUV an
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wirft sich insoweit zu Recht der Vorlagepflicht nach Art 267 III AEUV, da es die Letztentscheidungsbefugnis des EuGH anerkennt, wenngleich der Vorbehalt einer Annahme eines „acte clair“ (dazu Rn 152) bei Vorliegen hinreichender EGMR-Entscheidungen191 wegen des nicht identischen Gleichlaufs der Texte und der auf bloße Kohärenz abstellenden Norm des Art 52 III GRCh nicht überzeugt (s noch Rn 95). In der Praxis dürfte er aber wenig Unterschied machen. Den Hintergrund dieser Weichenstellung bildet der Wunsch, ähnlich wie die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten192 weiterhin iSd Art 53 IV GRCh einen Beitrag zur Grundrechtsentwicklung und -auslegung auch der Chartagrundrechte zu leisten.
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Lösung Fall 4: Das BVerfG ist gem Art 100 I GG, §§ 13 Nr 11, 80 ff BVerfGG für konkrete Normenkontrollen zuständig. Tauglicher Gegenstand einer Vorlage nach Art 100 I GG können grundsätzlich nur deutsche Gesetze sein. Doch sind Vorlagen zur Prüfung, ob sekundäres Unionsrecht in Deutschland angewendet werden darf, nach der Rspr des BVerfG dann „entsprechend Art 100 I GG“ zulässig, wenn ihre Begründung im Einzelnen darlegt, dass die gegenwärtige Rechtsentwicklung zum Grundrechtsschutz im Unionsrecht (insb die Rspr des EuGH) den jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet (vgl Art 23 I 1 (aE) GG). Das BVerfG verweist hierbei auf seine Solange II-Entscheidung.193 Art 23 I 1 GG verlangt aber keinen deckungsgleichen Schutz in den einzelnen Grundrechtsbereichen des GG durch das Unionsrecht, sondern begnügt sich mit einem dem GG im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz. Dem VG ist es nach Ansicht des BVerfG im konkreten Fall nicht gelungen darzulegen, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rspr des EuGH nach Ergehen der Solange II-Entscheidung generell unter den als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz abgesunken sei. Daher ist die Vorlage als unzulässig zurückgewiesen worden.
II. Kategorisierung und Funktionen der Unionsgrundrechte 49 Ebenso wie die Grundrechte der EMRK (→ vgl Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 27) erfül-
len auch die Unionsgrundrechte unterschiedliche Funktionen. Hierbei sollen zunächst die Grundrechte ieS betrachtet werden, dh die unmittelbar einklagbaren subjektiven Rechte (Rn 1; zu den Grundsätzen s sogleich Rn 51). In der Charta selbst sind diese Funktionen nicht im Detail geregelt; auch hat der EuGH keine abschließende diesbezügliche Dogmatik entwickelt. Es bietet sich aber an, ähnliche Unter-
sich gerade nicht besteht. Das BVerfG sieht aber einen „verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutz“ offenbar als etwas qualitativ Anderes an als einen solchen durch andere Gerichte. Wie sich das mit der Prämisse der Solange-Rspr verträgt, wird allerdings nicht beantwortet. 191 Vgl BVerfGE 152, 216 (Rn 68 ff) – Recht auf Vergessen II. 192 Hierauf verweist ausdrücklich BVerfGE 152, 216 (Rn 50) – Recht auf Vergessen II. 193 BVerfGE 73, 339 ff – Solange II.
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scheidungen wie im Falle der EMRK und auch den deutschen Grundrechten zwecks einer Kategorisierung vorzunehmen. Art 51 I 2 GRCh bestimmt in Hinblick auf die Grundrechte ieS, dass die Adressaten diese zu „achten“ haben. Dies kann als Oberbegriff für die verschiedenen Grundrechtsfunktionen verstanden werden. Erfasst sind sowohl das Unterlassen ungerechtfertigter Eingriffe wie auch die Erfüllung von durch die Grundrechte verlangten positiven Pflichten, die für den Einzelnen im gegebenen Fall mit einem korrespondierenden Anspruch verknüpft sind. Soweit die Unionsgrundrechte Solidaritätsverpflichtungen enthalten oder 50 Bürgerrechte und justizielle Rechte gewähren (so die Titel IV–VI), können auch deren Grundrechtsfunktionen in die Kategorien der Freiheits- (Abwehr-), Gleichheits-, Leistungs- bzw Verfahrensrechte oder Grundsatznormen (Rn 23) eingeordnet werden.
1. Freiheits- bzw Abwehrrechte Die Mehrzahl der Unionsgrundrechte ist ähnlich wie die Grundrechte der EMRK als 51 Freiheitsrechte konzipiert; sie sollen also dem Einzelnen eine bestimmte Freiheitssphäre garantieren und ihm einen Anspruch auf Unterlassung nicht gerechtfertigter hoheitlicher Eingriffe in diese und einen Anspruch auf Beseitigung bereits vollzogener, aber noch rückgängig zu machender rechtswidriger Eingriffe vermitteln. Freiheitsrechte stellen somit in erster Linie Abwehrrechte dar, was nach der deutschen Dogmatik mit dem sog status negativus gekennzeichnet wird.194 Kommt eine Unterlassung oder Beseitigung nicht gerechtfertigter Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht mehr in Betracht, entspricht es grundsätzlich dem Wertgehalt der grundrechtlichen Verbürgung, dass die Berechtigten einen Anspruch auf Schadensersatz haben. Insofern unterscheiden sich die Grundrechte nicht von den übrigen subjektiven Rechten des Unionsrechts, die ebenfalls aus Gründen des effet utile im Falle einer Verletzung auf der Sekundärebene mit Schadensersatzansprüchen bewehrt sind,195 sofern der Schutz privater Vermögensinteressen auch von ihrem Zweck gedeckt wird.196 Der Schadensersatzanspruch hat dabei seine Anspruchsgrundlage
194 Zum deutschen Recht vgl nur Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 116, 136 ff. 195 Vgl für die Grundfreiheiten etwa → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 174 mwN aus der Rspr. 196 Vgl für das Richtlinienrecht im Bereich des Umweltschutzes differenzierend jüngst EuGH, Urt v 22.12.2022, Rs C-61/21– JP/Ministre de la Transition énergétique, Premier ministre = NVwZ 2023, 321 m Anm Ruttloff = NJW 2023, 827 m Anm Worms = EuZW 2023, 236 m Anm Kaufmann; Simon, Europe 2/ 2023, 11 f; Moliner-Dubost, énergie-environnement-infrastructures 3/2023, 31 ff.
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nicht in den Unionsgrundrechten selbst;197 sie folgt vielmehr für Ansprüche gegen die Union aus den Art 340 II–III AEUV, die ihrerseits in Art 41 III GRCh nochmals grundrechtlich abgesichert sind, und gegenüber den Mitgliedstaaten aus den Grundsätzen der mitgliedstaatlichen Staatshaftung für Unionsrechtsverstöße, die die Rspr des EuGH entwickelt hat.198 52 Geschützt wird von den Freiheitsrechten zumeist sowohl die positive als auch negative Freiheit (also zB im Falle des Art 10 GRCh die Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben).199 Unter Freiheitsrechten sind allerdings nicht nur die Gewährleistungen des Titels II der Charta zu verstehen. Vielmehr verkörpern weitere Bestimmungen (wie zB die Art 1 ff GRCh) Freiheitsrechte. Die vom EuGH als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannten Freiheitsrechte sind heute weitestgehend in der GRCh der EU positiviert worden. Die Verbürgungen reichen über diejenigen der EMRK hinaus. So enthält die Charta weitere Gewährleistungen und Präzisierungen, was nicht zuletzt auf ihr jüngeres Alter zurückzuführen ist, welches ihr die Möglichkeit gab, auf moderne Problemstellungen zu reagieren. Zu nennen sind hier etwa Regelungen, welche die Einschränkbarkeit des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit im Hinblick auf medizinische und biologische Maßnahmen ausformen (Art 3 II GRCh) oder das Recht auf Wehrdienstverweigerung beinhalten (Art 10 II GRCh). ZT wird auch bewusst vom Text der EMRK abgewichen. So wird das Recht auf Eingehung einer Ehe und Gründung einer Familie (Art 9 GRCh) anders als nach dem – freilich heute nur noch bedingt bedeutsamen200 – Wortlaut des Art 12 EMRK nicht nur auf Männer und Frauen (Personen verschiedenen Geschlechts) bezogen. Neben Garantien wie zB nach Art der Art 8 GRCh (Schutz personenbezogener Daten) oder Art 13 GRCh (Freiheit der Kunst und Wissenschaft201) wird über die EMRK hinausgehend auch die Berufsfreiheit202 (Art 15 GRCh) und unternehmerische Frei-
197 Es kann dahinstehen, ob Art 6 GRCh iVm Art 52 III GRCh u Art 5 V EMRK selbst eine Anspruchsgrundlage für den Sonderfall der Freiheitsentziehung darstellt, da auch dieser Anspruch über die im Text genannten Anspruchsgrundlagen abgesichert ist. Richtigerweise wird man in der Chartagarantie im Einklang mit der EMRK-Bestimmung nur eine grundrechtliche Absicherung des Anspruchs sehen, da es für die Gleichwertigkeit des Schutzes unerheblich ist, aus welcher primärrechtlichen Bestimmung der Anspruch folgt. 198 Grdl EuGH, verb Rs C-6/90 u C-9/90, Slg 1991, I-5357, Rn 35 – Francovich; verb Rs C-46/98 u C-48/ 98, Slg 1996, I-1029, Rn 31 – Brasserie du Pêcheur. 199 Zur Frage, ob der negative Freiheitsschutz auch für das Recht auf Leben (Art 2 GRCh) gilt und ob sich aus diesem Recht auch ein Recht auf Sterbehilfe ergibt, vgl → Germelmann § 4.1.1 Rn 12 sowie → Edenharter § 4.2.1 Rn 4. 200 Zur Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften nach der EMRK vgl → Germelmann § 4.1.1 Rn 54. 201 S für die EMRK → Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 14 ff, 23 ff. 202 Vgl für die Berufsfreiheit nach der EMRK etwa Gundel, ZHR 180 (2016), 323 ff.
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heit (Art 16 GRCh)203 geschützt. Der Kanon der Freiheitsrechte entspricht im Großen und Ganzen demjenigen des Grundgesetzes im nationalen Rechtskreis, ist allerdings in manchen Konkretisierungen auch moderner als dieses. Doch gibt es auch insoweit keine vollständige Deckung. So kennt das Grundgesetz kein ausdrückliches Recht auf Sicherheit (Art 6 GRCh). Andererseits enthält die Charta anders als das Grundgesetz kein Auffanggrundrecht iSd Gewährleistung einer allgem Handlungsfreiheit.204 Doch hat der EuGH der Sache nach ein funktionsähnliches Grundrecht des Schutzes gegen willkürliche und unverhältnismäßige Eingriffe in die Privatsphäre als allgem Rechtsgrundsatz anerkannt.205 Näher zu den Einzelheiten vgl auch die folgenden Abschnitte.
2. Gleichheitsrechte Eine weitere wesentliche Kategorie der Unionsgrundrechte stellen die Gleichheits- 53 rechte dar. Sie treten neben die in den Verträgen enthaltenen Diskriminierungsverbote, wobei sich die Gewährleistungsgehalte teilweise überschneiden. Sofern die Inhalte identisch sind, handelt es sich um doppelte textliche Gewährleistungen desselben Rechts. Entsprechendes ist für die Gleichheitsrechte anzunehmen, die als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze im Primärrecht verankert sind. Das gilt etwa für den allgemeinen Gleichheitssatz, der schon vor dem Inkrafttreten des Art 20 GRCh als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt war,206 oder für das Verbot der Altersdiskriminierung (heute auch in Art 21 I GRCh enthalten).207 Auch hierbei handelt es sich um inhaltsgleiche Ausprägungen derselben Rechte, wie sie in der Grundrechtecharta normiert sind. Sofern hingegen inhaltliche Abweichungen bestehen, gelten die einzelnen Diskriminierungsverbote in ihren jeweiligen An-
203 Zur Abgrenzung (Art 15 GRCh eher Berufswahl, Art 16 GRCh eher Ausübungsmodalitäten) s EuGH, Urt v 30.6.2016, Rs C-134/15 – Lidl/Freistaat Sachsen = EuR 2016, 691 (nur LS) m Anm Drechsler; dazu auch Roset, Europe 8/2016, 35 f 204 S schon oben Rn 13 zu EuGH, verb Rs 133 bis 136/85, Slg 1987, 2289, Rn 15, 19 – Rau. Zur Frage, ob Art 6 I GRCh (Recht auf Freiheit) in diesem Sinne interpretiert werden kann, vgl → Edenharter § 11.2 Rn 5 f. 205 Vgl EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst = JK 93, EMRK Art 8/1 (Fall 10); Rs C-94/00, Slg 2002, I-9011, Rn 27 – Roquette Frères; EuGH, Urt v 16.5.2017, Rs C-682/15, Rn 51 – Berlioz Investment Fund. Anders wird die Rspr eingestuft von Jarass/Kment GR, § 2 Rn 16. Vgl auch Rengeling/Szczekalla GR, Rn 632 ff. 206 EuGH, Rs 117/76 u 16/77, Slg 1977, 1753, Rn 7 – Ruckdeschel; Rs 245/81, Slg 1982, 2745, Rn 11 – Edeka; Rs C-292/97, Slg 2000, I-2737, Rn 39 – Karlsson. 207 EuGH, Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981 – Mangold. Ausführl auch Van Raepenbusch in: Potvin-Solis, Politiques de l’Union européenne et droits fondamentaux, 2017, S 237 ff.
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wendungsbereichen nebeneinander. Gleichheitssätze bzw Diskriminierungsverbote außerhalb der Charta finden sich in den Art 2 und 9 EUV, wobei diese Bestimmungen eher als allgemeine Zielvorgaben konzipiert sind, die durch das übrigen Unionsrecht konkretisiert werden,208 ferner im allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV, das ggf iVm Art 21 AEUV (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 21), aber auch iVm anderen Bestimmungen, die den Anwendungsbereich des Vertrages eröffnen,209 zur Anwendung kommt, überdies in den verschiedenen Diskriminierungsverboten der Grundfreiheiten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 38 ff) und weiteren im AEUV geregelten speziellen Gleichheitssätzen, wie etwa Art 157 AEUV (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 22 f). 54 Die Grundrechtecharta enthält sowohl die Garantie des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art 20 GRCh) als auch besondere Diskriminierungsverbote (Art 21, 23 GRCh). Da auf Gleichheitsverstöße auf unterschiedliche Weise, nämlich mit einer Beseitigung der Benachteiligung, einer Ausweitung der Vergünstigung oder einer völligen Neuregelung reagiert werden kann,210 können sich aus einem Anspruch auf Gleichbehandlung sowohl Abwehr- als auch Leistungsrechte in Gestalt derivativer Teilhaberechte ergeben. Der EuGH erklärt bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz die rechtswidrige Maßnahme typischerweise nicht für unwirksam, sondern lässt sie fortbestehen, bis eine der Gleichbehandlung entsprechende neue Regelung getroffen wurde.211 Solange diese Neuregelung nicht ergeht, erstreckt er – bei Bestehen eines wirksamen Bezugssystems – die Vorteile, die in diskriminierender Weise einer Personengruppe vorenthalten worden sind, auch auf diese, so dass insofern ein subjektives Leistungsrecht entsteht, welches im Rahmen der unmittelbaren Drittwirkung (Rn 98) auch gegenüber Privaten geltend gemacht werden kann.212 Der Titel III der GRCh verbürgt neben den genannten Gleichheitssätzen auch die Garantie der kulturellen Vielfalt der Union (Art 22 GRCh) sowie soziale Rechte (Art 24–26 GRCh), die ebenso auch dem Titel Solidarität (Rn 14, 61) hätten zugeordnet werden können. Sie sind in ihren rechtlichen Wirkungen den echten Gleichheitsrechten nicht vergleichbar, was sich im Regelfall schon aus dem Wort
208 Schwarze/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 EUV Rn 2; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 9 EUV Anm. 209 S für die Bildungspolitik der Art 165, 166 AEUV etwa EuGH, Rs 293/83, Slg 1985, 593 – Gravier; Rs 24/86, Slg 1988, 379 – Blaizot. 210 Vgl zur deutschen Dogmatik Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 687 ff, 700 ff. 211 Vgl EuGH, Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 26 – Schräder; Rs C-442/00, Slg 2002, I-11915, Rn 42 – Rodríguez Caballero; Rs C-81/05 Slg 2006, I-7569, Rn 45 – Cordero Alonso; C-246/06, Slg 2008, I-105, Rn 38 – Velasco Navarro; Jarass GRCh, Art 20 Rn 5. 212 Vgl EuGH, Urt v 9.3.2017, Rs C-406/15, Rn 66 ff – Milkova; Urt v 22.1.2019, Rs C-193/17, Rn 79 ff – Cresco Investigation = EuZW 2019, 242 m Anm Wienbracke = EuZA 2019, 482 (nur LS) m Anm Hentzschel; dazu auch Rigaux/Simon, Europe 3/2019, 18 f; Wattier, JDE 2019, 164 f,
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laut der Bestimmungen ergibt. Zuweilen sind sie wie Art 24–26 GRCh lediglich als Grundsätze einzustufen (Rn 63). Näher zu den Gleichheitsrechten → Kingreen § 8.2; Classen § 9.2.
3. Positive staatliche Pflichten sowie originäre und derivative Leistungsrechte Die positive, leistungsrechtliche Komponente der Unionsgrundrechte ist bislang in 55 der Rspr noch wenig ausgeleuchtet. Doch dürfte sich dies in dem Ausmaße ändern, in dem die Unionsgrundrechte immer weiter praktische Relevanz erlangen. Es ist jedenfalls sowohl aus dem Vergleich mit den Grundrechtsgewährleistungen der EMRK wie auch den nationalen Verfassungstraditionen davon auszugehen, dass auch die Grundrechte der Charta entsprechende Wirkungen entfalten. Auch im Bereich der europäischen Grundfreiheiten finden sich entsprechende Garantien (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 57ff), was gleichermaßen für eine Übertragbarkeit auf die Chartagrundrechte spricht. Der Wortlaut des Art 51 I 2 GRCh deutet ebenfalls auf diese positive Grundrechtsfunktion hin, nachdem die Unionsgrundrechte nicht nur zu achten, sondern auch zu „fördern“ sind.213 Bei den positiven Rechten kann es sich um Rechte auf Gewährung von Schutz, um Teilhaberechte oder um originäre Leistungsrechte handeln. Freilich ist der rechtliche Gehalt einer Norm im jeweiligen konkreten Einzelfall gesondert zu bestimmen. Wie aus den EMRK-Rechten (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 35) und den Grund- 56 freiheiten des Binnenmarktes (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 52) – sowie auch den deutschen Grundrechten214 – können sich aus den Unionsgrundrechten positive Handlungspflichten der Union bzw der Mitgliedstaaten ergeben, die mit Ansprüchen auf Gewährung hoheitlichen Schutzes einher gehen. Diese können unterschiedliche Ziele haben. Zum einen geht es um Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater. Einige Entscheidungen des EuGH aus den Bereichen der Grundfreiheiten lassen sich iSe grundsätzlichen Möglichkeit der Begründung von (jedenfalls mitgliedstaatlichen) Schutzverpflichtungen zugunsten der Grundrechte deuten.215 Auch wenn dies typischerweise die Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten betref-
213 Vgl Ladenburger/Vondung in: Stern/Sachs, GRCh, Art 51 Rn 22 ff. 214 Vgl die Rspr-Nachw bei Sachs in: ders, GG, vor Art 1 Rn 35. 215 Vgl EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 74 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3 (Schutz der Demonstrationsfreiheit; → Epiney § 13 Rn 17); Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 35 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (Schutz der Menschenwürdegarantie; → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 160); ausf dazu Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, 459 ff. Krit noch Ruffert Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, S 59.
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fen sollte, differenziert Art 51 I GRCh nicht zwischen den Bindungswirkungen gegenüber den unterschiedlichen Adressaten, so dass auch die Union im Rahmen ihrer Kompetenzen zu positiven Maßnahmen verpflichtet sein kann. Auch hoheitliche Bereitstellungs- und Förderpflichten können zum anderen Inhalt der positiven Grundrechtsfunktion sein. Sie haben aber vielfach nur einen objektiven, dh Grundsatzcharakter (Rn 11) und korrespondieren nicht mit einem unmittelbar einklagbaren subjektiven Recht. So kann sich bspw eine positive Ermöglichungs- und Förderpflicht aus Art 22 GRCh ergeben.216 Auch wenn die GRCh teilweise ausdrückliche Schutzpflichten (zB Art 1 S 2, 24 I 1) normiert, wird es sich hier idR um rein objektiv-rechtliche Grundsätze handeln. Das ist insbesondere der Fall, wenn auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen wird (so etwa Art 27, 30, 34, 35, 36 GRCh). Überdies ist gerade in Bezug auf diese Pflichten zu beachten, dass grundrechtliche Schutzpflichten keinen eigenen Kompetenztitel für die Europäische Union begründen, sondern einen solchen voraussetzen. Dieser Grundsatz, nach dem der Grundrechtsschutz den Kompetenzen folgt, ergibt sich ausdrücklich aus der Klarstellung in Art 51 I 2, II GRCh.217 Damit kommt eine positive Handlungspflicht der Union nur in Betracht, wenn sich eine entsprechende unionsrechtliche Kompetenz in den Verträgen finden lässt. Das Handeln der EU muss zudem das Subsidiaritätsprinzip (Art 5 III EUV, 51 I 1 GRCh) sowie den Grundsatz der kompetenziellen Verhältnismäßigkeit (Art 5 IV EUV) beachten, was gerade im Bereich von Fördermaßnahmen relevant werden kann. Inhaltlich verpflichten die positiven Pflichten zur Ergreifung effektiver Maßnahmen, nicht aber zur Durchführung bestimmter Handlungen.218 Die Union und die Mitgliedstaaten haben somit bei der Umsetzung weiterhin erhebliche Gestaltungsspielräume, die auch durch die Anspruchskonstellation nicht beeinträchtigt werden, sofern sich nicht alleine eine Handlungsmöglichkeit als einzig sinnvolle erweist.219 57 Teilhaberechte zielen auf Beteiligungen auf bestehenden Einrichtungen oder ähnlichen Vergünstigungen ab. Sie können sich insbesondere aus den verschiedenen Gleichheitssätzen ergeben (Rn 53). Ferner kommt eine Teilhabe in Betracht, wenn die Unionsgrundrechte selbst einen Zugang gewähren, wie dies etwa auf die Art 14 I (Recht auf Bildung), 34 I (Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung), 35 (Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge) und 36 GRCh (Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse) zutrifft. Sind entspre-
216 Allg zu Förderungen der EU im kulturellen Bereich Germelmann Kultur und staatliches Handeln, 2013, 350 ff. 217 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 31; Lindner, DÖV 2000, 543 (549); Pernice, DVBl 2000, 847 (852). 218 Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657, 676 f. 219 Vgl auch Jarass, AöR 110 (1985), 363 (395) – „Wesentlichkeitsschutz“.
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chende Vorkehrungen oder Maßnahmen getroffen worden, haben die Grundrechtsberechtigten einen Anspruch auf Beteiligung. Auch hier gelten jedoch gleichermaßen wie bei den Schutzpflichten sowohl die Prinzipien der Kompetenzbindung und Subsidiarität als auch die Gestaltungsspielräume von Union und Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der Teilhabe. Schließlich haben viele Bürger- und Verfahrensrechte (Rn 59 f) Teilhabecharakter. So lässt sich etwa das Wahlrecht bei den Kommunalwahlen (Art 40 GRCh) als Teilhaberecht ansehen. Ein Anspruch auf originäre Leistungen – dh auf Schaffung noch nicht vorhan- 58 dener Einrichtungen oder erstmaliger Leistungen – lässt sich aus der GRCh in aller Regel nicht herleiten.220 Dies gilt jedenfalls, wenn sie im sozialen Bereich mit finanziellen Belastungen des Staates verknüpft sind. IdR werden hier also keine Leistungsansprüche, sondern nur objektiv-rechtliche Grundsätze bestehen. Aber auch in diesem Falle muss nicht zwangsläufig jegliche subjektive Berechtigung ausgeschlossen sein, wenngleich hier aus kompetenziellen Gründen ein vorsichtigerer Ansatz als bei nationalen Grundrechten zu wählen ist.221 In der Rspr finden sich bisher keine diesbezüglichen klaren Hinweise. Generell kommt ein Anspruch auf originäre Leistung nur in Betracht, wenn die Vorenthaltung der Leistung dieselbe Wirkung wie eine Grundrechtsbeeinträchtigung hat. So ist es vorstellbar, dass die Grundrechtsberechtigten bei Verletzung des Untermaßverbots einen Anspruch auf Verschaffung haben. Allerdings erfasst dies nicht alle von der GRCh vorgesehenen Zielvorgaben. So wird sich zB aus Art 29 GRCh, der jedem Menschen das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst garantiert, schwerlich ein subjektives Recht herleiten lassen, das Vorhandensein eines Dienstes (unabhängig von der Ausgestaltung im Einzelnen) verlangen zu können. Anders ist dies im Bereich der Bürgerrechte bzw der justiziellen oder Verfahrensrechte (Rn 59). Hier stellt die Vorenthaltung typischerweise einen Grundrechtseingriff dar, den nur die Bereitstellung bzw Ermöglichung beseitigen kann. Damit sind hier Grundrechte mit subjektiver und justiziabler Wirkung anzunehmen, auch wenn sie der Sache nach originäre Leistungsrechte sind. Dies gilt etwa für das Recht auf Akteneinsicht (Art 41 II lit b GRCh), auf eine Korrespondenz in derselben Sprache (Art 41 IV GRCh), auf Zugang zu Dokumenten der Union (Art 42 GRCh), auf Zugang zu den Gerichten (Art 47 S 1 GRCh) oder auf Prozesskostenhilfe (Art 47 S 4 GRCh).222
220 Vgl Erläuterungen zu Art 52 V GRCh. 221 Zur deutschen Rechtslage vgl zusammenfassend Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 183 ff. 222 Nach Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 8 Rn 30, handelt es sich bei der Prozesskostenhilfe um die Kompensation eines Grundrechtseingriffs.
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4. Verfahrensrechte 59 Verfahrensrechte (→ ausf hierzu Gundel § 11.3) haben in der Unionsrechtsord-
nung eine große Bedeutung. Vielfach handelt es sich bei den Verfahrensrechten um eigenständig normierte Bürgerrechte und justizielle Rechte iSd Titel V und VI GRCh. Doch können sich auch aus sonstigen Unionsgrundrechten verfahrensrechtliche Konsequenzen ergeben (vgl für die Grundfreiheiten auch → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 60 ff). Dienen die Verfahrensrechte nur der Abmilderung von Grundrechtseingriffen – wie dies zB auf Eingriffe in das Recht auf Freiheit (Art 6 GRCh) oder Privatsphäre und Datenschutz (Art 7, 8 GRCh) zutreffen kann, weil solche Eingriffe nur rechtmäßig sind, wenn bestimmte verfahrensrechtliche Anforderungen eingehalten werden223 (→ Marsch § 4.2 Rn 23 ff), richten sie sich nicht auf positive Leistungen, sondern dienen der grundrechtlichen Abwehrfunktion.224 Inhaltlich gehen die Verfahrensrechte des Unionsrechts über die Verfahrensrechte der EMRK hinaus. So gilt das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art 47 S 1 GRCh) anders als Art 6 I 1 EMRK (→ Grabenwarter/Struth § 11.1 Rn 56 ff) nicht nur für Streitigkeiten im Zusammenhang mit zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen oder strafrechtlichen Anklagen.225
5. Unionsgrundrechte als Elemente objektiver Ordnung? 60 Die in der deutschen Grundrechtslehre fest verankerte Funktion der Grundrechte
als Elemente einer objektiven Wertordnung226 ist im Unionsrecht nicht in vergleichbarer Weise durch die Rspr dogmatisch herausgearbeitet worden. Dennoch wird man annehmen können, dass die Unionsgrundrechte ebenso wie die EMRK-Rechte (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 48) und in begrenztem Umfang auch die binnenmarktbezogenen Grundfreiheiten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 33) eine objektiv-
223 Vgl zum EU-US-„Datenschutzschild“ EuGH, Urt v 16.7.2020, Rs C-311/18 – Schrems und Facebook Ireland = EuZW 2020, 941 m Bespr Brauneck S 933 ff = K&R 2020, 588 m Anm Kociok/Hofmann = MMR 2020, 587 m Anm Hoeren = JCP 2020, 1763 m Anm Martial-Braz; dazu D’Ath, JDE 2020, 442 ff; Deroudille, RUE 2021, 144 ff; Simon, Europe 8/2020, 5 ff; Tambou, RTDH 2021, 153 ff; Germelmann/Gundel, BayVBl 2021, 583, 593. Zuvor EuGH, Urt v 6.10.2015, Rs C-362/14 – Schrems I = EuZW 2015, 881 m Bespr Schwartmann S 864 ff = JZ 2016, 360 m Anm Jotzo = BayVBl 2016, 193 (nur LS) m Bespr Wolff/Stemmer S 181 ff; dazu Eichenhofer, EuR 2016, 76 ff. 224 Vgl auch Jarass/Kment GR, § 5 Rn 3. 225 Vgl EuGH, Rs 294/83, Slg 1986, 1339, Rn 23 – Les Verts. 226 S nur Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 129 ff.
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rechtliche Bedeutung besitzen.227 Für die Grundsätze folgt dies bereits direkt aus ihrer Funktion (Rn 19 ff). Für die unmittelbar einklagbaren subjektiven Unionsgrundrechte ieS ist Entsprechendes anzunehmen. Dies ergibt sich bereits aus der zentralen Wertenorm des Art 2 EUV, der die Grundrechte in die Festlegung des Wertordnungsrahmens des Unionsrechts einbezieht. So muss der Gehalt der Unionsgrundrechte bei der Setzung und dem Vollzug von sekundärem Unionsrecht beachtet werden. Ferner ist das Unionsrecht und das nationale Recht unionsgrundrechtskonform auszulegen.228 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Unionsgrundrechte die Kompetenzen der Union nicht zu erweitern vermögen (vgl auch Art 51 II GRCh). Inwieweit darüber hinaus eine unmittelbare Drittwirkung der Unionsgrundrechte anzunehmen ist, wird an späterer Stelle erörtert (vgl Rn 98 f).
6. Rechtsfolgen von Grundrechtsverstößen Die Rechtsfolgen von Verstößen durch Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen 61 der EU (Art 51 I 1 GRCh) gegen die Unionsgrundrechte unterscheiden sich nicht von denjenigen bei Verstößen gegen sonstiges Unionsprimärrecht. Gleiches gilt für Verstöße durch mitgliedstaatliches Recht. Dies bedeutet im Falle von Unionssekundärrecht, dass dieses rechtswidrig und ungültig ist, was die Unionsgerichtsbarkeit im Rahmen der Nichtigkeitsklage oder der Gültigkeitsvorlage festzustellen hat. Bei offensichtlichen und schwerwiegenden Rechtsverstößen kann auch eine rechtliche Inexistenz gegeben sein, die keine Nichtigkeitserklärung oder Ungültigkeitserklärung der Unionsgerichtsbarkeit voraussetzt, aber in Anbetracht der hohen Anforderungen an die Offensichtlichkeit nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“ in Be-
227 Vgl auch Rengeling Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, S 205 ff; Gersdorf, AöR 119 (1994), 400 (402 ff). 228 Nach BGHZ 179, 27, soll eine unionsrechtskonforme (richtlinienkonforme) Auslegung auch über die Wortlautgrenze hinaus zulässig sein. Das nationale Recht müsse, wo dies nötig und möglich ist, unionsrechtskonform (richtlinienkonform) fortgebildet werden. Die Rspr des EuGH verlangt aus europarechtlicher Sicht nur eine Auslegung bis zur Wortlautgrenze. Vgl EuGH, Rs C268/06, Slg 2008, I-2483, Rn 100 – Impact; Urt v 24.1.2012, Rs C-282/10, Rn 25 – Dominguez; Urt v 15.1.2014, Rs C-176/12, Rn 39 – Association de médiation sociale. Das kann ggf als Sekundärrechtsschutz Schadensersatzansprüche gegen den Mitgliedstaat begründen; vgl EuGH, Urt v 24.1.2012, Rs C-282/10, Rn 42 – Dominguez. Wie weit das nationale Recht darüber hinaus die Verpflichtung zur Rechtsfortbildung zieht, ist unionsrechtlich nicht einheitlich vorgegeben; verboten ist diese Erweiterung, sofern damit der europarechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit beeinträchtigt wird.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
tracht kommt.229 Da das Unionsrecht von der Vermutung der Rechtmäßigkeit der Unionsrechtsakte ausgeht230, entfalten auch rechtswidrige Akte Rechtswirkungen, solange sie nicht aufgehoben, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art 263 AEUV) für nichtig erklärt oder in Folge eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art 267 I lit b AEUV) für ungültig erklärt worden sind.231 Somit entscheidet grundsätzlich allein die Unionsgerichtsbarkeit über die Aufrechterhaltung der Unionshandlungen. Bis zur Entscheidung der Unionsgerichte sind die Maßnahmen auch von den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten als wirksam zu behandeln.232 Ausnahmen gelten für den einstweiligen Rechtsschutz, sofern gleichzeitig ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht worden ist.233 Auch insofern besteht aber kein Unterschied zu sonstigen Primärrechtsverstößen. Stellen die Unionsgerichte eine Nichtigkeit oder Ungültigkeit wegen des Verstoßes der Norm gegen die GRCh fest, hat dies ex tunc-Wirkung,234 sofern die Gerichte gem Art 264 II AEUV nicht anderes bestimmen.235 Die Unionsgerichte (nicht hingegen die mitgliedstaatlichen Gerichte) können die Entscheidungswirkungen aufschieben.236 Die Nichtigerklärung wirkt nach allgemeinen Grundsätzen erga omnes, die Ungültigerklärung, rechtlich gesehen, nur inter partes.237 Ist ein Schaden entstanden, muss die EU gem Art 340 II, III AEUV Schadensersatz leisten.238 Dies setzt allerdings einen qualifizierten Rechtsverstoß voraus, der bei Grundrechtsver-
229 Vgl EuGH, Rs C-137/92 P, Slg 1994, I-2555, Rn 50 – Kommission/BASF. Näher zur Unterscheidung des Unionsrechts zwischen Rechtswidrigkeit, Nichtigkeit und Nichtakten Ehlers in: ders/Schoch, RS, § 9 Rn 14. 230 EuGH, C-137/92 P, Slg 1994, I-2555, Rn 48 – Kommission/BASF; Rs C-245/92 P, Slg 1999, I-4643, Rn 93 – Chemie Linz; Rs C-475/01, Slg 2004, I-8923, Rn 18 – Kommission/Griechenland = JK 2005, EGV Art 90 I/1. 231 Zum Vorabentscheidungsverfahren vgl bspw EuGH, verb Rs C-92/09 u C-93/09, Slg 2010, I-11063, Rn 45 f – Schecke u Eifert (Fall 2) = MMR 2011, 122 m Anm Hornung; Urt v 29.5.2018, Rs C-426/16 – Liga van Moskeeёn en Islamische Organisaties; dazu Simon, Europe 7/2018, 11 f; Wattier JDE 2018, 385 ff. 232 Vgl EuGH, Rs 314/85, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost. 233 Vgl EuGH, Rs C-143/88 und C-92/89, Slg 1991, I-415, Rn 19 f – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Rs C-465/93, Slg 1995, I-3761, Rn 40 ff – Atlanta. 234 EuGH, Rs 22/70, Slg 1971, 263, Rn 59 – Kommission/Rat; EuGH, Rs 61/79, Slg 1980, 1205, Rn 16 – Denkavit; verb Rs 66, 127 u 128/79, Slg 1980, 1237, Rn 9 ff – Salumi. 235 Dies gilt auch für den Fall einer Vorabentscheidung, vgl EuGH, verb Rs C-92/09 u C-93/09, Slg 2010, I-11063, Rn 93 – Schecke u Eifert. 236 Zu engen Ausnahmen im Bereich der Auslegungsvorlage EuGH, Urt v 28.2.2012, Rs C-41/11 – Inter-Environnement Wallonie; Urt v 28.7.2016, Rs C-379/15 – France Nature Environnement; dazu Simon, Europe 10/2016, 13 f. 237 Vgl Germelmann Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der EU, 2009, S 408 f mwN. 238 Für eine Haftung direkt aus Art 17 GRCh und die damit verknüpften offenen Fragen s EuGH, Urt v 9.6.2016, verb Rs C-78/16 ua – Giovanni Pesce ua und dazu näher Germelmann/Gundel, BayVBl 2017, 649 (653 f) mwN.
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stößen angesichts der offenen Formulierung der Grundrechte und ihrer Ausrichtung auf Abwägung im Rahmen möglicher Rechtfertigungen vielfach fehlen dürfte.239 Widerspricht das mitgliedstaatliche Recht den Unionsgrundrechten, ist jenes 62 im Sinne des Vorrangprinzips insoweit unanwendbar (Rn 44 ff), selbst wenn die Kollision das nationale Verfassungsrecht betrifft.240 Alle staatlichen Stellen (einschl der Gerichte und der Verwaltungsbehörden241) haben dies zu berücksichtigen. Verletzungen können ebenso wie im Falle von Verstößen der Union gegen die Unionsgrundrechte eine Schadensersatzpflicht nach den allgemeinen unionsrechtlichen Maßstäben auslösen.242
III. Funktionen der grundrechtlichen Grundsatznormen Soweit die (geschriebenen oder ungeschriebenen) Unionsgrundrechte nicht unmit- 63 telbar einklagbare subjektive Rechte enthalten, sondern nur Grundsatzcharakter haben (Rn 19 ff), ergeben sich aus ihnen leitende Prinzipien243 für die Gesetzgebung, Beurteilungsmaßstäbe für die Rechtsanwendung einschließlich der Rechtsprechung sowie Vollzugsgebote oder -schranken. Bei der Umsetzung der Prinzipien kommt den Gesetzgebungsorganen allerdings ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu, der sich erst dann zu einer bestimmten Handlungspflicht verdichtet, wenn nur eine Lösung die Erfüllung der Anforderung des Grundsatzes erreicht oder andern
239 Jarass GRCh, Einl Rn 65. S allerdings für einen (weitgehend) erfolgreichen Schadensersatzanspruch wegen überlanger Verfahrensdauer EuGH, Urt v 13.12.2018, verb Rs C-138/17 P ua – Gascogne Sack ua/EU; dazu Simon, Europe 2/2019, 17 f; ferner Urt v 13.12.2018, verb Rs C-174/17 P ua – EU/ASPLA ua; Urt v 13.12.2018, Rs C-150/17 P – EU/Kendrion. Dagegen EuGH, Urt v 5.9.2019, verb Rs C-447/17 P u C-479/17 P – Guardian Europe. 240 Vgl BVerfGE 128, 226 – Fraport = JK 2011, GG Art 1 III/8. 241 Vgl EuGH, Rs 103/88, Slg 1989, 1839, Rn 32 – Fratelli Costanzo; Rs C-224/97, Slg 1999, I-2517, Rn 30 – Ciola; Rs C-341/08, Slg 2010, I-47, Rn 80 – Petersen; Rs C-243/09, Slg 2010, I-9849, Rn 61 – Fuß. 242 S namentlich EuGH, verb Rs C-6/90 u C-9/90, Slg 1991, I-5357, Rn 33 ff – Francovich; verb Rs C-46/ 98 u C-48/98, Slg 1996, I-1029 – Brasserie du Pêcheur. S ferner EuGH, Urt v 10.3.2022, Rs C-177/20 – Grossmania = EuZW 2022, 482 m Anm Gundel; dazu Berlin, JCP 2022, 625; Bonneville/Gänser/Iljic, AJDA 2022, 1080, 1081 f; Simon, Europe 5/2022, 13 f. Für die Abgrenzung der entschädigungspflichtigen Enteignung nach Art 17 I 2 GRCh zu nicht ausgleichspflichtigen Ausgestaltungsregeln nach Art 17 I 3 GRCh ferner EuGH, Urt v 27.1.2022, verb Rs C-234/20 u C-238/20 – Sātiņi-S ua; dazu Bassani-Winckler, Europe 3/2022, 35 f; Urt v 5.5.2022, Rs C-83/20 – BPC Lux 2 Sàrl ua = EuZW 2022, 760 m Anm Witte; dazu Simon, Europe 7/2022, 29 f. 243 Zur Wirkungsweise von Prinzipien vgl Alexy Theorie der Grundrechte, 3. Aufl 1996, S 71 ff; Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold in: Voßkuhle/Eifert/Möllers, Grundlagen des Verwaltungsrechts, 3. Aufl 2022, § 5 Rn 7 ff; Schmidt Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, 2010, S 55 ff.
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falls das sich aus den Grundsätzen ergebende Untermaßverbot244 verletzt wird. Dies ist nur in seltenen Ausnahmefällen denkbar. Da die Grundsatznormen gleichen Rang wie die Unionsgrundrechte (ieS) oder die sonstigen Normen des Primärrechts haben, müssen sie mit diesen abgewogen werden, dürfen also nicht ihrerseits primärrechtlich anderweitig geschützte Rechte oder Rechtsgüter unverhältnismäßig zurückdrängen. Hinzu kommt die Offenheit vieler Formulierungen in den Grundsätzen. So ist es nach der Konstruktion der primärrechtlichen Grundlagen nicht zulässig, dass der Arbeitnehmerschutz vor Entlassung zu weitgehend die Rechte der Arbeitgeber beeinträchtigt. Vielmehr ist eine Abwägung erforderlich. Demgemäß kann Art 30 GRCh nur einen Schutz vor „ungerechtfertigter“ Entlassung garantieren, was sich indes aus der Norm selbst allein nicht bestimmen lässt. Auch einen Normbestandschutz iSe Rückschrittsverbots vermitteln die Grundfreiheiten nicht.245 Die Grundsätze sind dennoch unmittelbar verbindliches Recht (Rn 16, 20)246 und damit justiziabel, sofern ein Rechtsweg eröffnet ist (Rn 145 ff) und sie hinreichend konkretisierte Zielvorgaben enthalten. In vielen Fällen werden die Grundsätze daher in erster Linie als Ziele an den Gesetzgeber gerichtet sein, der ihre Schutzwertungen umzusetzen hat und dabei durch den primärrechtlichen Rang der Grundsätze in Abwägungsfragen unterstützt wird. Auch können die Grundsätze, wenngleich sie keine kompetenziellen Verschiebungen begründen (Art 52 V 1 GRCh), Anregungen für gesetzgeberische Entwicklungsaufgaben mit sich bringen. Die Beurteilungsmaßstäbe sind auch bei der Auslegung des anwendbaren Rechts zum Tragen zu bringen. Gem Art 52 V 2 GRCh können (und müssen) sie vor Gericht „nur“ bei der Auslegung der Umsetzungsakte (der EU oder Mitgliedstaaten) und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden. Was die Grundsätze im Einzelfall für die Auslegung hergeben, hängt dabei von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung (insbes ihrer Bestimmtheit) ab. Ein Vollzugsgebot enthalten die Grundsätze, wenn sie zu einem Handeln verpflichten, eine Vollzugsschranke, wenn das geplante Handeln die Grundsätze verletzen würde. Eine Missachtung der Grundsatznormen kann ebenso wie bei den Unionsgrundrechten ieS (Rn 51) eine Unions- oder Staatshaftung nach sich ziehen; es wird hier indes wegen ihrer Ausgestaltungsbedürftigkeit deutlich schwieriger sein, einen „hinreichend qualifizierten“ Verstoß anzunehmen.
244 Vgl auch Schmidt Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, 2010, S 155 ff. 245 Schmidt Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, 2010, S 195 ff; Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 77. AA noch Borowski in: Meyer, ChGr, 4. Aufl 2014, Art 52 Rn 45c. 246 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 14.
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IV. Auslegung der Unionsgrundrechte Für die Auslegung der Unionsgrundrechte einschließlich der Grundsätze gelten 64 prinzipiell keine anderen Maßstäbe als für das Unionsrecht überhaupt. Aus den Grundsätzen der Eigenständigkeit und der Einheit der Unionsrechtsordnung ergibt sich, dass eine einheitliche, autonome Auslegung unter der Kontrolle des EuGH geboten ist, was der Gerichtshof ausdrücklich auch für den Grundrechtsbereich klargestellt hat.247 Dabei sind die allgemeinen Interpretationsregeln (ausgehend vom Wortlaut über die Heranziehung der Genese bis zum systematischen Zusammenhang) zu berücksichtigen. Bei der Wortlautauslegung sind grds alle Amtssprachen (Art 55 EUV) zu berücksichtigen, was aber auch gleichzeitig zur Folge hat, dass nationale dogmatische Konzepte, die mit einer bestimmten Begrifflichkeit verbunden sind, nicht unverändert in die Unionsrechtsordnung übertragen werden können, sondern die jeweilige Begrifflichkeit unter Berücksichtigung der nationalen Grundlagen autonom zu interpretieren ist.248 Auch die allgemeine Auslegungsregel des „effet utile“249 ist im Bereich der Grundrechte anwendbar. Danach ist nach der stRspr des EuGH bei unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten diejenige zu bevorzugen, die die Wirksamkeit der betreffenden Unionsrechtsvorschrift am effektivsten zur Geltung bringt, was im Bereich der Unionsgrundrechte dafür spricht, eine möglichst weitgehende Schutzwirkung anzunehmen. Auch ist für die Auslegung der Chartarechte die Präambel heranzuziehen, der insofern nicht nur politisch-programmatische, sondern rechtliche Bedeutung zukommt.250 Eine übergreifende Bedeutung im Rahmen der Auslegung aller Charta-Grundrechte kommt der Würde des Menschen (Art 1 GRCh) zu; ihr ist stets Rechnung zu tragen, weil sie „das eigentliche Fundament der Grundrechte“251 bildet. Spezifische Auslegungsregeln enthält Art 52 II–VII GRCh (Rn 108 ff). Sie betreffen zum einen das Verhältnis zwischen Charta und Verträgen. Dabei ist spezifischeren Regelungen der Verträge Vorrang vor den in der Charta anerkannten Rechten zu gewähren (Art 52 II GRCh). Dies ist allerdings in dem Sinne zu verstehen, dass vertragliche Bestimmungen nicht generell Vorrang besitzen, sondern nur, wenn sie von ihrem Wortlaut oder ihrer Sys
247 Vgl EuGH, GA v 18.12.2014, GA 2/13, Rn 157 – Beitritt der Union zur EMRK; zu diesen Grundsätzen allg auch EuGH, Urt v 6.3.2018, Rs C-284/16 – Achmea, GA v 30.4.2019, GA 1/17 – CETA. 248 Vgl zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit etwa Tridimas EU, S 141 f; Koch Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003; v Danwitz, EWS 2003, 393 ff. 249 EuGH, Rs C-434/97, Slg 2000, I-1129, Rn 21 – Kommission/Frankreich; Rs C-437/97, Slg 2000, I-1157, Rn 41 – EKW u Wein. Ausführlich Tomasic Effet utile, 2013. 250 Streinz in: ders, EUV/AEUV, Präambel GrCh Rn 9; vgl aber auch Rn 8. 251 Erläuterungen zu Art 1 der Charta.
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tematik präzisere Regelungen eines Sachbereichs beinhalten, den das betreffende Charta-Grundrecht nur generell absichert (vgl auch Rn 108). Zudem sind die primärrechtlichen Normen im Lichte der Unionsgrundrechte auszulegen, wobei es nicht darauf ankommt, ob deren Anwendungsbereich iSd Art 51 I GRCh eröffnet ist.252 Soweit die Charta Rechte enthält, die der EMRK oder den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten entsprechen, dürfen sie keine geringeren Schutzwirkungen entfalten (Art 52 III–IV, 53 GRCh). Hiermit wird insbesondere ein Gleichklang mit den Rechten nach der EMRK gewährleistet, was für eine Einbeziehung und Berücksichtigung auch der EGMR-Rspr spricht, aber keine exakte Identität der Gewährleistungen verlangt, sondern der Unions-Rspr weiterhin eigene Spielräume belässt (vgl auch Rn 36 ff, 109). Gleiches gilt für die internationalen Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art 53 GRCh), wobei sich hier angesichts der nur geringen Spruchpraxis und der größeren textlichen Unterschiede keine vergleichbaren Fragen des Gleichklangs stellen dürften. Verweist die Charta auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (wie dies in weitem Umfange bei den Grundsätzen der Fall ist), ist dem in vollem Umfang Rechnung zu tragen (Art 52 VI GRCh). Diese Bestimmung soll die mitgliedstaatlichen Kompetenzen absichern, ist aber in ihrer konkreten rechtlichen Reichweite bislang nicht abschließend ausgeleuchtet;253 eine zwingende Bindung an die mitgliedstaatlichen Grundsätze oder ihre unionsrechtliche Aufwertung ist damit aber nicht verbunden.254 Schließlich sind die (vom Präsidium des Grundrechtekonvents verfassten) „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ gebührend zu berücksichtigen (Art 6 I UA 3 EUV, 52 VII GRCh).255 Sie stellen, wie sich aus dem Vorspann der Erläuterungen ergibt, „eine nützliche Interpretationshilfe dar, die dazu dient, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen“, haben aber „keinen rechtlichen Status“ und sind also nicht rechtsverbindlich.256 Zur Präzisierung der Grundrechte der Charta können zudem die gem Art 6 III EUV als allgemeine Grundsätze einen Teil des Unionsrechts darstellenden und im Wege der Rechtsvergleichung gewonnenen Grundrechte herangezogen werden, da zwischen beiden Kategorien ein inhaltlicher Gleichlauf anzunehmen ist.257
252 Vgl für Art 19 EUV mit Art 47 GRCh als Auslegungshilfe, obgleich Art 51 I 1 GRCh nicht erfüllt war, EuGH, Urt v 2.7.2020, Rs C-256/19 – S.A.D. Maler und Anstreicher OG; dazu Michel, Europe 10/ 2020, 17 f; EuGH, Urt v 20.4.2021, Rs C-896/19 – Repubblika/Il-Prim Ministru; dazu Simon, Europe 6/ 2021, 13 f. 253 Bailleux in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-2 Anm 57 bezweifelt ihren Mehrwert. 254 Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 GRCh Rn 19 spricht von einer „Erinnerung[s]“-Funktion. 255 ABl EU 2007 C 303/17. 256 Vgl auch Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 GRCh Rn 20. 257 Zu den Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen sowie der rechtsvergleichenden Methode vgl bereits Rn 11 f.
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V. Berechtigte der Unionsgrundrechte Fall 5: (EuGH, Rs C-470/03, Slg 2007, I-2749 ff – A.G.M.-COS.MET = JK 2008, EGV Art 28/8)
Das italienische Unternehmen A stellt Fahrzeug-Hebebühnen her und vertreibt sie innerhalb des Binnenmarktes. Im Zusammenhang mit einer Überprüfung durch das finnische Sozial- und Gesundheitsministerium erklärte der eingeschaltete verbeamtete Sachverständige L während des noch laufenden Verfahrens bei mehreren Gelegenheiten öffentlich und in den Medien, dass von den Hebebühnen Gefahren ausgehen. A verklagte den finnischen Staat und L wegen der eingetretenen Umsatzeinbußen zur gesamtschuldnerischen Zahlung von Schadensersatz. Das angerufene finnische Gericht möchte wissen, ob die Äußerung von L eine Behinderung des freien Warenverkehrs darstellt und ggf die Behinderung durch die Freiheit der Meinungsäußerung gerechtfertigt werden kann.
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Die Unionsgrundrechte ieS beinhalten echte subjektive Berechtigungen (Rn 18 ff). 66 Als Inhaber dieser Rechte kommen natürliche sowie juristische Personen und Personenmehrheiten in Betracht. Soweit die GRCh Grundsätze festgelegt hat, gibt es keine Berechtigten im eigentlichen Sinne, sondern allenfalls Begünstigte.258
1. Natürliche Personen Träger der unmittelbar einklagbaren Unionsgrundrechte sind in erster Linie natür- 67 liche Personen. Dabei berechtigen die Grundrechte in ihrer Mehrzahl nicht nur die Unionsbürger (Art 9 EUV, 20 AEUV), sondern alle Menschen einschl der Drittstaatsangehörigen, Staatenlosen sowie uU auch der nascituri sowie der Verstorbenen259 unabhängig von Alter und Geschäftsfähigkeit.260 Dies folgt nicht nur aus aus Art 1 GRCh sowie als Rechtserkenntnisquelle aus Art 1 EMRK, sondern auch aus den allgemeinen menschenrechtlichen Wurzeln der Unionsgrundrechte und der Notwendigkeit, bei der Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Union keine grundrechtsfreien Zonen entstehen zu lassen. Im Wortlaut der GRCh lässt sich dies durch Wendungen wie „jeder Mensch“ (Art 2 I GRCh) oder „niemand darf“ (Art 2 II GRCh) erkennen. Es gibt indes einzelne Bestimmungen, die nur Rechte bestimmter Personengruppen schützen, wie dies zB für Rechte des Kindes (Art 24 GRCh), Rechte älterer Menschen (Art 25 GRCh) oder Menschen mit Behinderung (Art 26 GRCh) gilt. Auch sie unterscheiden in dieser Gruppe dann aber nicht zwischen Unionsbürgern und Nichtunionsbürgern, sondern bleiben in der deutschen Terminologie „Jeder-
258 Vgl Jarass/Kment GR, § 7 Rn 23. 259 Str, vgl zur EMRK-Diskussion → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 52. 260 Vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 344. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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mannsrechte“;261 die Eingrenzung bezieht sich nur auf den personellen Gewährleistungsgehalt der betreffenden Grundrechte, nicht auf die Grundrechtsträgerschaft als solche. Auch das Alter und die Geschäftsfähigkeit sind nur für die Frage bedeutsam, wer berechtigt ist, die Unionsgrundrechte geltend zu machen. Die Fähigkeit, Grundrechtsverstöße prozessual geltend zu machen, beurteilt sich nach Maßgabe der allgemeinen Prozessrechtsbestimmungen. 68 Nur von einzelnen Grundrechten wird der Kreis der Berechtigten eingeschränkt. Dies lässt sich aus dem Wortlaut der Bestimmungen erkennen und gilt für die (Unions-)Bürgerrechte (Art 39 ff GRCh), die konsequenterweise nur den Unionsbürgerinnen und -bürgern zugutekommen. Andere Rechte, die in Titel V der GRCh normiert worden sind – wie das Recht auf eine gute Verwaltung (Art 41 GRCh), auf Zugang zu Dokumenten (Art 42 GRCh), auf Anrufung des Europäischen Bürgerbeauftragten (Art 43 GRCh), auf Einreichung von Petitionen (Art 44 GRCh) und auf Freizügigkeit sowie auf Aufenthalt (Art 45 II GRCh) –, berechtigen hingegen alle Personen (Art 41 GRCh)262 oder auch nur bestimmte Drittstaatsangehörige (Art 42–44 GRCh). Hier werden den Unionsbürgern diejenigen Drittstaatsangehörigen gleichgestellt, die einen (rechtmäßigen263) Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der EU haben. Personelle Anknüpfungspunkte können sich auch aus der Bezugnahme auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ergeben. So wird die unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) nicht jedermann zugestanden, und die besondere Arbeitnehmerfreizügigkeit wird durch Art 15 II EUV im Einklang mit Art 45 AEUV auf Unionsbürger begrenzt. Dies steht im Einklang mit dem in der EU notwendigen Binnenmarktbezug wirtschaftlicher Tätigkeit (vgl Art 52 II GRCh). Allerdings spricht allein der Umstand, dass die EMRK keinen spezifischen und detaillierten Grundrechtsschutz gewährt und mitgliedstaatliches Verfassungsrecht etwa nur die eigenen Bürger sowie Unionsbürger berechtigt,264 nicht dagegen, dass die Grundrechtecharta im Rahmen der Logik der Verträge einen weitergehenden Schutz auch in personeller Hinsicht gewähren kann (vgl auch Art 52 III 2 GRCh). Dementsprechend gesteht Art 15 I, III GRCh die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten in differenzierender Ausgestaltung auch den Staatsangehörigen dritter Länder und damit allen Personen zu.
261 Vgl Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 194. 262 Vgl dazu Tulkens in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 41 Anm 6. 263 Jarass GRCh, Art 51 Rn 48. 264 Zur Berufsfreiheit in Deutschland vgl etwa BVerfGE 128, 226, Rn 49 – Fraport = JK 2011, GG Art 1 III/8. Zur Erstreckung der Deutschengrundrechte auf EU-Bürger bzw EU-Unternehmen BVerfGE 129, 78 (94 ff).
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2. Juristische Personen und Personenmehrheiten Auch die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen (und nicht rechtsfähiger 69 oder teilrechtsfähiger) Personenmehrheiten (respektive Organisationen wie zB Stiftungen) ist im Unionsrecht zu bejahen. Der Text der GRCh erwähnt die juristischen Personen zwar nur gelegentlich (Art 42, 43, 44 GRCh), wobei auf den satzungsmäßigen Sitz265 in einem Mitgliedstaat abgestellt wird. Hierin zeigt sich aber, dass die Charta die Grundrechtsträgerschaft von Personenvereinigungen anerkennt, weil sie im Falle der Begrenzung auf eine Ansässigkeit im Unionsgebiet die Notwendigkeit der Regelung auch für sie erkennt. Es kann im Gegenteil gerade nicht gefolgert werden, dass den juristischen Personen in anderen Fällen als den erwähnten die Grundrechtsberechtigung abzusprechen ist.266 Auch vor Inkrafttreten der GRCh hat der EuGH in vielen Entscheidungen eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen anerkannt, ohne freilich hier eine abschließende Dogmatik zu entwickeln.267 Im Falle der EMRK ist die Anwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen gegeben (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 53); im deutschen Verfassungsrecht liegt sie nach Art 19 III GG für Vereinigungen des Privatrechts vor, wenn die Grundrechte ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind. Die deutsche Konzeption mit ihrer sachlichen Einschränkung ist auf die Unionsgrundrechte nicht übertragbar und findet sich auch in der Rspr des Gerichtshofs nicht wieder. Allerdings wird man aus Sachgründen eine gewisse Einschränkung des Kreises der EU-Grundrechte vornehmen müssen, auf die sich Personenvereinigungen berufen können. Dies gilt etwa für Gewährleistungen, die an die Menschenwürde oder an sonstige höchstpersönliche Verbürgungen anknüpfen,268 so dass der Unterschied zur deutschen Formel in der Sache nicht groß sein wird.269 Schwerlich vorstellbar ist daher etwa für private Organisationen und Personengruppen eine Berufung auf die Garantie der Menschenwürde (Art 1 GRCh), das Recht auf Leben (Art 2 GRCh), auf körperliche Unversehrtheit (Art 3 GRCh) und auf Eingehung einer Ehe (Art 9 GRCh) oder das Verbot der Folter (Art 4 GRCh). Im deutschen Wortlaut der Charta
265 In Anlehnung an Art 54 I AEUV ist eine Gleichstellung anzunehmen, wenn die juristische Person ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union hat. 266 Ebenso Kober Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2009, S 146; aA Knecht Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2005, S 213. 267 Vgl etwa EuGH, Rs 11/70, Slg 1970, 1125, Rn 4 ff – Internationale Handelsgesellschaft; Rs 136/79, Slg 1980, 2033, Rn 17 ff – National Panasonic; Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder. 268 Hier kann aber auch die zulässige Eingriffstiefe höher sein; vgl für den Schutz von Privat- und Geschäftsräumen EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859 – Hoechst; Rs C-94/00, Slg 2002, I-9011, Rn 29 – Roquette Frères. 269 Für eine Übertragung Rengeling/Szczekalla GR, Rn 390; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 20.
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mag sich ein Indiz für die Anwendbarkeit der Grundrechte aus der terminologischen Unterscheidung von „Mensch“ und „Person“ ergeben,270 der sich freilich in anderen Sprachfassungen (etwa der französischen271) nicht wiederfindet. Aber auch in der deutschen Fassung bedeutet die Anknüpfung an eine Person nicht zwangsläufig, dass auch juristische Personen und Personenmehrheiten einbezogen sind. So steht das jeder „Person“ zugestandene Recht auf Achtung des Familienlebens (Art 7 GRCh) naturgemäß nicht juristischen Personen zu. Zweifelhaft ist die Ansicht, wonach sich juristische Personen auf den Schutz personenbezogener Daten (Art 8 I GRCh) idR nicht berufen können, sondern dies nur denkbar ist, soweit der Name der juristischen Person eine oder mehrere natürliche Personen bestimmt.272 Vor allem können sich juristische Personen (und gleichgestellte Vereinigungen bzw Organisationen) auf die Wirtschafts-273, Verfahrens- und Rechtsschutzgarantien berufen. Allerdings hat der EuGH auch hier Differenzierungen im Bereich der aus Art 47 und 48 GRCh folgenden Selbstbelastungsfreiheit je nachdem, ob es sich um natürliche oder juristische Personen handelt, anerkannt,274 da insofern der Menschenwürdegehalt höhere Schutzwirkungen als die allgemeine Verfahrensfairness begründet. Anders als im Falle der Grundfreiheiten nach Art 54 II iVm Art 62 AEUV muss kein Erwerbszweck verfolgt werden, weil der Grundrechtsschutz nicht von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängt. Aus der Kohärenz- bzw Konkurrenzklausel des Art 52 III GRCh (Rn 109) folgt, dass idR dann von Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen oder Personenmehrheiten auszugehen ist, wenn die EMRK eine solche anerkennt (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 54), sofern kein äquivalenter Grundrechtsschutz auf andere Weise für jene abgesichert ist. 70 Grundsätzlich keinen grundrechtlichen Schutz genießen die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU (einschließlich der verselbständigten Rechtsträger) sowie staatliche Organisationen und Einrichtungen275, selbst wenn sich die Stellen oder Rechtsträger privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsformen bedienen (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 54). Sie werden durch die Unionsgrundrechte in die Pflicht genommen, nicht aber berechtigt. Der EuGH hat hier bis-
270 Vgl auch Jarass/Kment GR, § 4 Rn 39; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 51, 53. 271 Hier wird stets von „toute personne“ gesprochen. 272 EuGH, verb Rs C-92/09 u C-93/09, Slg 2010, I-11063, Rn 53 – Schecke u Eifert (Fall 2); in diese Richtung auch EuG, Urt v 22.11.2017, Rs T-670/16, Rn 25 ff – Digital Rights Ireland/Kommission; krit Gundel in: EnzEuR Bd 2, § 2 Rn 22; Kühling/Klar, JURA 2011, 771, 774; ähnl Heißl, EuR 2017, 561 ff. 273 Vgl auch Streinz ER, Rn 786. 274 Vgl EuGH, Urt v 2.2.2021, Rs C-481/19 – DB/Consob; dazu Bonneure, JDE 2021, 387 ff; Hardy, RAE 2021, 205 ff; Simon, Europe 4/2021, 9; näher auch Gundel in: EnzEuR Bd 2, § 4 Rn 23 275 Ebenso Rengeling/Szczekalla GR, Rn 392; Winkler Die Grundrechte der Europäischen Union, 2010, S 106 ff.
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lang keine endgültige Entscheidung getroffen; die Rspr des EuG ist wenig problemorientiert und erscheint deutlich zu großzügig.276 Dagegen können die Grundfreiheiten auch staatlichen Rechtsträgern zugute kommen, wie Art 54 II AEUV zeigt (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 66). In Betracht kommt allenfalls die Berufung auf die Verfahrens- und Prozessgrundrechte.277 Handelt es sich um gemischt zusammengesetzte Organisationen, erscheint es denkbar, auf die Beherrschungsverhältnisse abzustellen.278 Das spricht für die auch im deutschen Verfassungsrecht anerkannte279 Annahme, dass staatlich beherrschte Gesellschaften mit privater Beteiligung an die Grundrechte gebunden sind, nicht aber durch diese geschützt werden.280 Eine Ausnahme gilt erneut für die Verfahrensgrundrechte.281 Daneben kann freilich ein individueller Schutz der privaten Anteilseigner bestehen. Staatlichen Rechtssubjekten (wie Universitäten oder Hochschulinstituten282), die einem unmittelbar durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zugeordnet werden können, wird man ähnlich wie im deutschen Recht eine Berufung auf deren Schutz zugestehen müssen.283 Auch in der Gesellschaft wurzelnde Verbände nach Art der
276 Vgl für eine Grundrechtsberechtigung EuG, Urt v 29.1.2013, Rs T-496/10, Rn 35 ff – Bank Mellat/ Rat; Urt v 5.2.2013, Rs T-494/10, Rn 33 ff – Bank Saderat Iran/Rat; Urt v 18.9.2014, Rs T-262/12, Rn 67 ff – Central Bank of Iran/Rat; Urt v 25.3.2015, Rs T-563/12, Rn 49 – Central Bank of Iran/Rat; Urt v 8.9.2015, Rs T-564/12 – Ministry of Energy of Iran/Rat. 277 Vgl auch EuGH, verb Rs C-48/90 u C-66/90, Slg 1992, I-565, Rn 40 ff – Niederlande/Kommission; Nowak in: Terhechte, Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2. Aufl 2021, § 12 Rn 84 mwN. 278 Vgl auch die verallgemeinerungsfähige Regelung des Art 2 RL 2006/111/EG (Transparenz-RL). 279 Vgl für das deutsche Recht entsprechend BVerfGE 128, 226 – Fraport = JK 2011, GG Art 1 III/8; 143, 246 Rn 187 ff; BVerfG (K), NVwZ 2020, 1500; dazu Kamann/Ellemann/Weigand, EuR 2021, 614 ff. Das BVerfG hat angenommen, dass die von der öffentlichen Hand beherrschten gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen (in der Form des Privatrechts) einer unmittelbaren Grundrechtsbindung unterliegen. Im Gegenschluss folgt daraus, dass eine Grundrechtsberechtigung ausscheidet. Vgl auch bereits BVerfG (K), NJW 1990, 1783 = JZ 1990, 335 m krit Anm Kühne; JZ 2009, 1069 m krit Anm Kühne. S krit auch Höfling in: Sachs, GG, Art 1 Rn 108 f. 280 Eingehend Gundel in: EnzEuR Bd 2, § 2 Rn 31 ff mwN; ferner auch Pache in: Frankfurter Komm, Art 51 GRCh Rn 9. Dafür hingegen Kamann/Ellemann/Weigand, EuR 2021, 614 ff. Für einen Gleichlauf mit der EMRK Rauber Zur Grundrechtsberechtigung fremdstaatlich beherrschter juristischer Personen, 2019, S 77. 281 Nowak in: Terhechte, Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2. Aufl 2021, § 12 Rn 85. 282 Zum Europäischen Hochschulinstitut in Florenz vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 395. 283 Vgl etwa für Hochschulen EuGH, Urt v 6.10.2020, Rs C-66/18, Rn 224 ff, 231 ff – Kommission/Ungarn; dazu Simon, Europe 12/2020, 25 f; Barbirad, ECLR 42 (2021), 276 ff; allgemein Nowak in: Terhechte, Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2. Aufl 2021, § 12 Rn 87 mwN; Hatje in: Schwarze, EUKomm, Art 51 GRCh Rn 7. AA Fink, EuGRZ 2001, 193 (199 f), unter Hinweis auf die Entscheidung des EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 17 – Hoechst = JK 93, EMRK Art 8/1, die aber nicht verallgemeinert werden kann.
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öffentlich-rechtlich korporierten Religionsgemeinschaften284 oder der Rundfunkanstalten285 kann der Grundrechtschutz nicht vorenthalten werden, insoweit sie nicht oder nicht primär dem staatlichen Bereich zuzuordnen sind.
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Lösung Fall 5: Nach den Vorgaben der hier einschlägigen, Art 34 AEUV als speziellere Harmonisierungsregelung verdrängenden RL286 dürfen Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Maschinen, die den Bestimmungen dieser RL entsprechen, nicht verbieten, beschränken oder behindern. Eine Behinderung des Warenverkehrs durch den finnischen Staat setzt voraus, dass diesem die Äußerungen von L zuzurechnen sind. Um Äußerungen eines Beamten dem Staat zurechnen zu können, kommt es entscheidend darauf an, ob die Empfänger der Äußerung den Umständen nach annehmen dürfen, dass der Beamte die Äußerungen mit Amtsautorität macht oder ob es sich um eine private Meinung des Beamten handelt. Dies bestimmt sich nach den Umständen des Streitfalls. Nimmt man Ersteres an, was hier angesichts der Aufgabe des L und der Foren, auf denen er die Äußerungen tätigte, naheliegt, handelte er in amtlicher Eigenschaft. Damit können sich weder der finnische Staat noch L auf die auch im Unionsrecht garantierte Meinungsfreiheit (Art 11 GRCh) berufen, weil diese die Freiheit von Privaten, nicht die des Staates oder die der Repräsentanten des Staates schützt (Rn 70). Eine Rechtfertigung scheidet damit aus.
VI. Verpflichtete der Unionsgrundrechte 1. Europäische Union 72 Da die Hauptfunktion der Unionsgrundrechte die Begrenzung der Unionsgewalt ist,
sind deren Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen, auch wenn sie rechtlich verselbständigt wurden, primäre Verpflichtungsadressaten der Unionsgrundrechte (Art 51 I 1 GRCh). Der Begriff „Organe“ ist in den Verträgen durch Art 13 I UA 2 EUV definiert.287 Der Ausdruck „Einrichtungen und sonstige Stellen“ (zB Art 15 I, 16 II AEUV) erfasst auch die durch die Verträge oder durch Sekundärrechtsakte geschaf-
284 Vgl Ehlers in: Sachs, GG, Art 140 GG/Art 137 WRV Rn 22. 285 Vgl Gundel in: EnzEuR Bd 2, § 2 Rn 25 ff; Nowak in: Heselhaus/ders, GR, § 9 Rn 20; Pache in: Frankfurter Komm, Art 51 GRCh Rn 9. Undifferenziert und ohne Begründung für einen erkennbar nicht staatsfernen drittstaatlichen Propagandasender bejahend EuG, Urt v 27.7.2022, Rs T-125/22 – RT France/Rat = EuR 2023, 110 (nur LS) m Anm Gundel; dazu Simon, Europe 5/2022, 35 f; s auch Ferreau, ZUM 2022, 505 ff. 286 Vgl zum Verhältnis von harmonisierendem Sekundärrecht und Grundfreiheiten noch → Ehlers/ Germelmann § 12 Rn 93 f. Die im Beispielsfall einschlägige RL 98/37/EG zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen ist zwischenzeitlich ersetzt worden. 287 Vgl auch Art 223 ff AEUV.
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fenen Einrichtungen.288 Darunter fallen die Ämter der EU, die vertraglich verankerten Einrichtungen wie die EZB289 und die Ausschüsse sowie die zahlreichen Agenturen der EU.290 Die Bindung betrifft sämtliches Handeln der EU und ihrer Untergliederungen unabhängig vom Rechtscharakter der Handlung, so dass ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet wird.291 Erfasst werden auch das privatrechtliche292 und das völkerrechtliche Handeln der Union (Rn 40).293 Verschiedentlich wurde das Sekundärrecht der EU vom EuGH an den Unionsgrundrechten gemessen.294 Weil die Union an die Grundrechte gebunden ist, darf sie, wie etwa im Bereich der Rechtfertigung für Eingriffe in Grundfreiheiten, für die Mitgliedstaaten die Einhaltung der Grundrechte nicht behindern,295 was sich in dem Abwägungserfordernis auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit und der „Schranken-Schranken“ äußert (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 170 f). Neue Zuständigkeiten der EU ergeben sich aus der Bindung an die Unionsgrundrechte nicht; dies stellt der Vertrag verschiedentlich klar (Art 6 I UA 2 EUV, 51 I 2, II GRCh), und es entspräche auch nicht seinem systematischen Aufbau, der Unionskompetenzen klar als solche kennzeichnet. Gleiches gilt auch für die in der Charta normierten Grundsätze (Rn 19 ff). Für die als allgemeine Rechtsgrundsätze entwickelten Unionsgrundrechte (Art 6 III EUV) trifft nichts Anderes zu. Trotz fehlender Verweisung auf Art 6 EUV und die GRCh in Art 106a I EAGV ist auch die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) an die Unionsgrundrechte gebunden, weil das Handeln von den Unionsorganen ausgeht und die primärrechtlichen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze auch ohne die besondere Anordnung des Art 6 III EUV Geltung in der gesamten Unionssowie Gemeinschaftsrechtsordnung beanspruchen.
288 Erläuterungen zu Art 51 GRCh. 289 Art 127 ff AEUV. 290 Näher zum Organisationsrecht der EU auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts Gundel in: Schulze ua, ER, § 3 Rn 35 ff. 291 Vgl Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 51 Rn 32; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 51 GRCh Rn 12. 292 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 5. 293 Vgl auch EuGH, Rs C-122/95, Slg 1998, I-973 Rn 62 ff – Deutschland/Rat. 294 Vgl beispielhaft EuGH, verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351 ff – Kadi (Fall 3); Urt v 25.1.2022, Rs C-181/20 – YSOČINA WIND as; dazu Simon, Europe 3/2022, 14 f; Gundel, GewArch 2022, 261 ff; Spangenberg, JDE 2022, 220 ff; Urt v 22.11.2022, verb Rs C-37/20 u C-601/20 – WM u Sovim SA/Luxembourg Business Registers; Urt v 8.12.2022, Rs C-694/20 – Ordre van Vlaamse Balies ua; dazu Berlin, JCP 2022, 2325. Zuweilen legte der EuGH den Fokus seiner Prüfung gesondert auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; s idS EuGH, Rs C-453/03, Slg 2005, I-10423, Rn 85 ff – ABNA Ltd. 295 Pache in: Heselhaus/Nowak, GR, § 7 Rn 64; Jarass GRCh, Art 51 Rn 10.
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2. Mitgliedstaaten der Europäischen Union a) Vertraglich normierte Unionsgrundrechte 73 Soweit EUV und AEUV grundrechtliche Gewährleistungen enthalten, richtet sich die
Bindung der Mitgliedstaaten an diese Grundrechte nach den jeweiligen Regelungen (vgl Art 52 II GRCh). Abseits von den Grundfreiheiten, die nicht als Grundrechte einzuordnen sind (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 17 ff), binden die im Vertrag enthaltenen und in der Charta weitgehend gespiegelten Unionsbürgerrechte (Art 20 II, 21 ff AEUV) und der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (Art 157 AEUV296) die Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten. Das allgemeine Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit nach Art 18 AEUV gilt im Anwendungsbereich297 der Verträge mit verpflichtender Wirkung für die Mitgliedstaaten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 21).298 Als Verpflichtungsadressaten sind sowohl in Bezug auf diese vertraglich vorgesehenen Rechtspositionen als auch im Hinblick auf die Charta-Rechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze iSd Art 6 III EUV alle staatlichen Rechtsträger und Stellen der Mitgliedstaaten unabhängig von ihrer Zuordnung innerhalb der Kategorien der Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive oder Judikative) und ihrer Rechtsform (öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich) zu begreifen; hierzu rechnen auch Vereinigungen wie Unternehmen mit privater Beteiligung, die von den Mitgliedstaaten beherrscht werden.299
b) Charta-Grundrechte 74 Nach Art 51 I 1 bindet die GRCh die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durch-
führung des Rechts der Union“. Diese Bestimmung regelt daher den Umfang der Bindungswirkung der Unionsgrundrechte für die Mitgliedstaaten. Während der Begriff des Rechts der Union weitestgehend unproblematisch ist, sind die Fallgruppen der „Durchführung“ doch im Einzelnen umstritten gewesen.300
296 Dazu in jüngerer Zeit EuGH, Urt v 3.6.2021, Rs C-624/19 – K ua/Tesco Stores; dazu Driguez, Europe 8/2021, 34 f. 297 Vgl zum Begriff des Anwendungsbereichs Rn 80 ff. 298 Es unterscheidet sich auch inhaltlich von dem Verbot der Diskriminierung aus ethnischen Gründen nach Art 21 I GRCh; s EuGH, Urt v 10.6.2021, Rs C-94/20 – Land Oberösterreich/KV; dazu Driguez, Europe 8/2021, 28. Ferner EuGH, Urt v 6.4.2017, Rs C-668/15, Rn 26 ff – Jyske Finans A/S; Urt v 15.11.2018, Rs C-457/17, Rn 45 ff – Maniero. 299 Insoweit gilt nichts anderes als für die Grundrechtsberechtigung (Rn 70). 300 Vgl aus jüngerer Zeit Laurent in: Tinière/Vial, Les dix ans de la Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, 2020, S 285 ff; Bailleux in Iliopoulou-Penot/Xenou, La Charte des droits fondamentaux, source de renouveau constitutionnel européen ?, 2020, S 201 ff.
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aa) Der Begriff des „Rechts der Union“ Zum Unionsrecht ist das gesamte Primärrecht sowie das Sekundärrecht (VOen, 75 Richtlinien und Beschlüsse301) und das sog Tertiärrecht (Rn 33) der Union zu zählen. Dazu gehören auch die Rechtsakte der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik302, des Abschlusses von Abkommen mit Drittländern oder internationalen Organisationen (Rn 40), nicht aber Maßnahmen außerhalb des unionsrechtlichen Rahmens wie die Regelungen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), weil die EU insoweit keine Zuständigkeit besitzt und die Mitgliedstaaten daher nicht das Recht der Union durchführen.303 Im Bereich des Sekundär- oder Tertiärrechts der EU muss von der Regelungskompetenz wirksam Gebrauch gemacht worden sein und ein tatsächlicher Rechtsakt vorliegen; es ist nicht ausreichend, dass ein Sachverhalt unionsrechtlich geregelt werden könnte.304 Erforderlich sind die Gültigkeit sowie die Anwendbarkeit des Unionsrechts in 76 den Mitgliedstaaten. Für das Handeln der EU gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 I EUV). Über die Gültigkeit des Unionsrechts entscheidet ausschließlich die Unionsgerichtsbarkeit (Rn 145 ff). Der Vollständigkeit halber ist hier ein extremer Ausnahmefall zu nennen, der auf einem verfassungsrechtlichen, aber seinerseits unionsrechtswidrigen Vorbehalt des BVerfG beruht: Der sowohl in verfassungsrechtlicher als auch in unionsrechtlicher Hinsicht hochproblematische Anwendungsfall einer sog ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG (Rn 45) kommt nach der Rspr des Gerichts nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führt.305 Vor Annahme eines ultra-vires-Akts ist dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267 AEUV die Gelegenheit zur Entscheidung über die Gültigkeit (und Auslegung) der fraglichen Handlung zu geben.306 Nimmt das BVerfG einen ultra-vires-Fall an, so behält es sich vor, die Unanwendbarkeit der betreffenden sekundärrechtlichen Regelung in der deutschen
301 Art 288 II–IV AEUV. 302 Vgl Rau in: Heselhaus/Nowak, GR, § 5 Rn 25 ff. 303 EuGH, Urt v 27.11.2012, Rs C-370/12, Rn 105, 180 – Pringle = JK 4/13 AEUV Art 136/1. 304 EuGH, Rs C-299/95, Slg 1997, I-2629, Rn 16 – Kremzow; Winkler Die Grundrechte der Europäischen Union, 2010, S 127 f. 305 BVerfGE 126, 286 (304) = JK 12/10, GG Art 12/16; 134, 366 – Vorlagebeschluss OMT; 146, 216 – Vorlagebeschluss PSPP; 154, 17 – PSPP. 306 Vgl dazu BVerfGE 126, 286 – Honeywell; dazu Classen, JZ 2010, 1186; Karpenstein, NJW 2010, 3405; Proelß, EuR 2011, 241; BVerfGE 134, 366 – Vorlagebeschluss OMT; 146, 216 – Vorlagebeschluss PSPP.
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Rechtsordnung anzunehmen.307 Dann wäre aus verfassungsrechtlicher Sicht insoweit auch der Unionsgrundrechtsschutz gegenstandslos, was angesichts der Kompetenzverteilung in den Verträgen das EU-Recht jedoch richtigerweise nicht akzeptieren kann. Es kann einem nationalen Verfassungsgericht nicht offenstehen, im Einzelfall die Reichweite des EU-Grundrechtsschutzes zu beschneiden. Die ultravires-Rspr, die dogmatisch nicht überzeugen kann (Rn 45), gleichwohl vom BVerfG aber aufrechterhalten wird, kann wegen ihrer massiven Auswirkungen auf die Einheit des Unionsrechts jedenfalls nur in den seltensten Ausnahmefällen Anwendung finden308 und muss auch weiterhin trotz seiner einmaligen Anwendung eher als permanentes Drohpotenzial in einem allgemeinen Jurisdiktionskonflikt über die Letztentscheidungsbefugnis im Unionsrecht verstanden werden.
bb) Die Reichweite der „Durchführung des Rechts der Union“
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Fall 6: (EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10 – Åkerberg Fransson = JK 8/13, GRCh Art 51/1) Der schwedische Staatsbürger F wurde wegen Hinterziehung der Mehrwertsteuer mit bestandskräftigem Bescheid zur Zahlung von Steuerzuschlägen verpflichtet. Später ist er vor einem schwedischen Gericht wegen Steuerhinterziehung angeklagt worden. Das Gericht hält die Anklage für unzulässig, weil er in dem zuvor genannten Verfahren bereits wegen derselben Tat „bestraft“ wurde und das Strafverfahren somit gegen das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) aus Art 4 ZP Nr 7 zur EMRK und Art 50 GRCh verstößt. Da in Schweden eine Gerichtspraxis existiert, wonach die schwedischen Gerichte Vorschriften, die gegen ein durch die EMRK oder die GRCh garantiertes Grundrecht verstoßen, nur unangewendet lassen dürfen, wenn sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rspr ergibt, hat das Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art 267 AEUV angerufen.
Abwandlung: (nach EuGH, Urt v 24.10.2019, verb Rs C-469/18 u C-470/18 – IN u JM) Bei der Ermittlung wegen der Mehrwertsteuerhinterziehung werden Hinweise auf die Hinterziehung von Einkommenssteuer entdeckt. Es wird deswegen ein Strafverfahren eingeleitet. Ist die Beweisverwertung auch in diesem Strafverfahren am Maßstab der Unionsgrundrechte zu messen?
Fall 7: (BVerfGE 133, 277 – Antiterrordatei) Bf B hat beim BVerfG eine zulässige VB gegen das deutsche Antiterrordateigesetz (BGBl I 2006, 3409) eingelegt, das eine Verbunddatei verschiedener Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung des interna-
307 Vgl insb BVerfGE 134, 366 – Vorlagebeschluss OMT; 146, 216 – Vorlagebeschluss PSPP; 154, 17 – PSPP. 308 Vgl den begrenzten Ertrag der Anwendung der Formel in BVerfGE 154, 17 (Rn 235) – PSPP. Ferner Gundel in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, § 18 Rn 65 ff, 78 ff.
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tionalen Terrorismus eingeführt hat. Muss das BVerfG den EuGH ím Wege eines Vorabentscheidungsersuchens (Art 267 AEUV) anrufen, weil Anknüpfungspunkte zum Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten gem Art 16 AEUV, 8 GRCh bestehen?
Das Merkmal der „Durchführung des Rechts der Union“ als Voraussetzung für die 80 Bindung der Mitgliedstaaten, welches in anderen Sprachfassungen eine deutlich weniger enge Formulierung wählt (engl „when they are implementing Union law“, franz „lorsqu’ils mettent en œuvre le droit de l’Union“, ital „nell’attuazione del diritto dell’Unione“, span „cuando apliquen el Derecho de la Unión“, port „quando apliquem o direito da União“) wird typischerweise in zwei Fallgruppen aufgespalten. Bei der einen handelt es sich um Fälle, in denen die Mitgliedstaaten wie bei der Richtlinienumsetzung309 oder der Durchführung von Verordnungen310 oder von beihilferechtlichen Entscheidungen der Kommission311 gleichsam als verlängerte Arm der Union handeln, bei der anderen handelt es sich um den Bereich, in dem die Mitgliedstaaten wie bei der Beschränkung von Grundfreiheiten eigene Entscheidungsspielräume haben, das Feld, auf dem sie agieren, aber durch Unionsrecht bestimmt wird. Die Reichweite der Bindungswirkung der Mitgliedstaaten war unter Geltung der allgemeinen Rechtsgrundsätze weitgehend unbestritten und in der Rspr des EuGH anerkannt. Als Leitlinie ist der Zweck der Unionsgrundrechte festzuhalten, einen wirksamen Schutz in den Bereichen zu gewähren, in denen wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts durch mitgliedstaatliche Grundrechte kein hinreichender Schutz gewährt werden kann, die Mitgliedstaaten aber durch das Unionsrecht in ihrem Handeln determiniert sind und dieses gleichsam so vor der nationalen Grundrechtskontrolle abgeschirmt wird. Richtigerweise geht es hier also von der Grundidee gar nicht um eine Konkurrenz zwischen dem ohnehin nicht durchgreifenden nationalen Grundrechtsschutz und den europäischen Grundrechten. Deswegen war eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte auch ohne Weiteres in den beiden genannten Fallgruppen anerkannt. So hat vor Inkrafttreten der GRCh der EuGH eine Bindung an die Unionsgrundrechte in sachgerechter Weise angenommen, wenn eine Regelung in den „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ (heute Unionsrechts) fiel.312 Teilweise hat er dabei auch von
309 ZB EuGH, Urt v 6.10.2020, verb Rs C-245/19 u C-246/19, Rn 44 ff – Etat du Grand-duché de Luxembourg; Urt v 9.9.2021, Rs C-546/18, Rn 42 ff – FN ua/Übernahmekommission. 310 Vgl EuGH, Urt v 12.7.2018, Rs C-540/16 – Spika ua; dazu Roset, Europe 10/2018, 40. 311 AA wohl v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 6 Rn 41. 312 Vgl EuGH, Rs 5/88, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; verb Rs 60 u 61/84, Slg 1985, 2605, Rn 26 – Cinéthèque; Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT; Rs C-299/95, Slg 1997, I-2629, Rn 15 – Kremzow; C276/01, Slg 2003, I-3735, Rn 70 – Steffensen.
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„Durchführung“ des Gemeinschafts- bzw Unionsrechts gesprochen313, ohne dass daraus ein Unterschied abzuleiten gewesen wäre. Dementsprechend sind insbesondere auch die Beschränkungen der Grundfreiheiten an den Unionsgrundrechten gemessen worden (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 17 ff, 45 ff). Hier handeln die Mitgliedstaaten zwar zum Schutz eigener Interessen und nicht ieS im Auftrag der EU, wohl aber nehmen sie die ihnen vom Vertrag eröffnete Rechtfertigungsmöglichkeit und damit eine unionsrechtliche Ermächtigung in Anspruch.314 Allerdings ist stets notwendiger Voraussetzung für die Anwendung der GRCh, dass der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten selbst eröffnet ist, also ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt.315 81 In der deutschen Literatur ist das Tatbestandsmerkmal der „Durchführung“ unter Berufung auf die Beratung im Grundrechtekonvent teilweise als bewusste Beschränkung einer Bindung an die Unionsgrundrechte im Vergleich zur früheren Rspr des EuGH interpretiert worden.316 Gedacht sei nur an die erste Fallgruppe, in der die Mitgliedstaaten Unionsrecht umsetzen oder vollziehen und insoweit gewissermaßen als Agenten317 oder Treuhänder318 der Union handelten. Dagegen seien beispielsweise Beschränkungen der Grundfreiheiten nicht als Durchführung des Unionsrechts anzusehen.319 Mache ein Mitgliedstaat in berechtigter Weise von den Ausnahmeklauseln der Grundfreiheiten Gebrauch, sei er aus dem Anwendungsbereich des Unionsrechts entlassen. Für ein restriktives Verständnis der Bindung an die Unionsgrundrechte wurde auch die restriktive Formulierung „ausschließlich“
313 EuGH, Rs 5/88, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; C-292/97, Slg 2000, I-2737, Rn 37 – Karlsson; Rs C540/03, Slg 2006, I-5769, Rn 105 – Parlament/Rat; Rs C-117/06, Slg 2007, I-8361, Rn 78 – Möllendorf. 314 Vgl nach Inkrafttreten der GRCh etwa EuGH, Urt v 30.4.2014, Rs C-390/12 – Pfleger = EuZW 2014, 597 m Bespr Wollenschläger S 577 ff; Urt v. 14.6.2017, Rs C-685/15, Rn 55 ff – Online Games Handels GmbH; dazu Simon, Europe 8/2017, 13; Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15, Rn 65 – AGET Iraklis; Urt v 21.5.2019, Rs C-235/17, Rn 66 – Kommission/Ungarn; dazu Péraldi-Leneuf, Europe 7/2019, 22 f. 315 Vgl für das Vergaberecht verneint im reinen Inlandssachverhalt der Entscheidung EuGH, Urt v 25.2.2021, Rs C-378/20 – Stadtapotheke E/Bezirkshauptmannschaft Linz-Land. In der unionsrechtlich nicht harmonisierten Unterschwellenvergabe ist ein grenzüberschreitendes Interesse erforderlich; s etwa EuGH, Urt v 14.7.2016, Rs. C-458/14 – Promoimpresa Srl = EuZW 2016, 657 m Anm Stickler; Urt v 19.12.2019, Rs C-465/18 – AV ua/Comune di Bernareggio. 316 Huber, NJW 2011, 2385 (2387); Cremer, EuGRZ 2011, 545 (551 f). 317 Zur sog Agency-Situation, oftmals in Anknüpfung an EuGH, Rs 5/88, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; vgl Ladenburger/Vondung in: Stern/Sachs, GRCh, Art 51 Rn 34; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (527 f); Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657 (680 ff). 318 Huber, NJW 2011, 2385 (2386). 319 Vgl Cremer, NVwZ 2003, 1452 ff; EuGRZ 2011, 545 (551 f); Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (576); ders in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV Art 51 GRCh Rn 22 f; Schwertfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 51 Rn 50.
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herangezogen.320 Das BVerfG hat es – freilich weniger weitgehend als die geschilderte Literaturmeinung – ebenfalls für notwendig erachtet, dass die Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht determiniert werden.321 Für eine Bindung an die Unionsgrundrechte reiche nicht „jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses“ aus (Fall 7). Diese im Vergleich zu früheren Rspr des EuGH restriktive Auslegung der mit- 82 gliedstaatlichen Grundrechtsbindung durch Teile der deutschen Literatur ist freilich nicht überzeugend und hat sich letztlich auch nicht durchsetzen können.322 Sie kann heute weitgehend als erledigt angesehen werden. in der Sache weist sie zahlreiche Schwächen auf. So erklärt sie sich zum ersten allein aus der deutschen Sprachfassung, die für die Auslegung europäischer Rechtstexte wegen Art 55 I EUV nur einen von zahlreichen Anknüpfungspunkten bildet. Wie gesehen, sind die anderen Sprachfassungen als weiterreichend zu verstehen (Rn 80). Auch hat der EuGH bei seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten die Bezeichnungen Durchführung und Anwendung eher als Synonyma verwendet (sogleich Rn 83), und der auch ansonsten im Unionsrecht verwendete Begriff der Durchführung323 ist nicht eindeutig iSe Einengung (etwa als Werkzeug oder „Agent“ der EU) festgelegt. Die Entstehungsgeschichte der Norm erlaubt keine klaren Rückschlüsse.324 83 Die gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zur Charta (Art 6 I UA III EUV, 52 VII GRCh) verweisen auf die herkömmliche Rspr des EuGH und sprechen sowohl von „Anwendungsbereich“ als auch von „Durchführung“ des Unionsrechts, ohne zwischen diesen Formen zu differenzieren. Nach Satz 4 der Präambel der GRCh soll der Schutz der Grundrechte gestärkt (nicht aber geschwächt) werden. Zudem würde sich eine „Korrektur“325 der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung kaum auswirken, weil sich die Gültigkeit des (sekundären und tertiären) Unionsrechts sowie die Auslegung des Unionsrechts stets (auch) nach den Unionsgrundrechten bestimmt, es im Falle einer Pflicht der Mitgliedstaaten zur Berücksichtigung des vorrangig geltenden Unionsrechts also
320 Huber, NJW 2011, 2385 (2387). 321 Vgl zum Kriterium der Determination BVerfGE 121, 1 (15); 125, 260 (307); 129, 78 (90 f); 133, 277 (313) (Fall 7). Nachdrücklich zustimmend unter Verweis auf eine (freilich wenig überzeugend behauptete) sonst drohende Verfassungswidrigkeit Scholz, DVBl 2014, 197 (202). 322 So auch der EuGH (Fall 6) u die hL: vgl statt vieler Jarass GRCh, Art 51 Rn 18 ff mwN; Craig/de Búrca EU, S 446 ff; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 51 GRCh Rn 18. 323 Näher dazu Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1434) (insbes mHinw auf Art 291 I AEUV). 324 Näher zur Diskussion im Grundrechtekonvent v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 27 Rn 35 ff. Für eine Einschränkung des bisherigen acquis zB die Konventmitglieder Braeband (Frankreich), Goldsmith (VK) und Gnauck (Deutschland), anders aber zB Einem u Holoubek (Österreich). 325 Huber, NJW 2011, 2385 (2387).
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bei einer mittelbaren Bindung der Mitgliedstaaten bleiben würde.326 Schließlich ist nicht ersichtlich, welchen Sinn es haben sollte, den Anwendungsbereich der GRCh einzuschränken und damit die Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV mit ihrem gerade nicht restriktiven Anwendungsbereich wieder stärker aufleben zu lassen. Es lässt sich weder aus dem Vertrag noch aus der Charta ablesen, dass diese eine begrenzende Wirkung auf die gleichberechtigte andere Grundrechtsquelle haben sollte. In Übereinstimmung mit den Erläuterungen zur GRCh hat daher der EuGH in seiner grundlegenden Åkerberg-Fransson-Entscheidung327 festgestellt, dass die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Einhaltung der GRCh gem Art 51 I gilt, „wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“ (Fall 6). Das Unionsrecht wird somit iSd Art 51 I 1 GRCh durchgeführt, wenn es von den Mitgliedstaaten angewendet wird respektive angewendet werden muss. Wichtig ist insofern etwa die Verpflichtung zur effektiven Verfolgung von Straftaten gegen die Interessen der Union gem Art 325 I AEUV, so dass hier Strafverfahren und Sanktionen durch die Unionsgrundrechte determiniert werden.328 Dasselbe gilt neben dem gesamten Binnenrecht329 auch für völkerrechtliche Verträge der Union.330 Auch über das EWRAbkommen kann zu einer Eröffnung des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte führen, was für Drittstaatsfälle von Bedeutung ist.331 Die offene Frage, die streitig behandelt werden kann und bei der auch die Sichtweise des BVerfG (Rn 81 aE) Berücksichtigung finden muss, verlagert sich also darauf, ob ein bestimmter Sachbereich vom Unionsrecht in hinreichendem Umfang determiniert ist oder ob noch autonome Entscheidungslücken für die Mitgliedstaaten bestehen, in denen sie ohne jeden Einfluss des Unionsrechts Entscheidungen treffen, die durch die natio-
326 Näher zum Gebot unionsrechtskonformer Auslegung auch für die Mitgliedstaaten Ehlers in: Schulze ua, ER, § 11 Rn 36 ff. Zur Differenzierung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Grundrechtsbindung vgl auch Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2000, S 237 f. 327 EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C‑617/10 – Åkerberg Fransson = NVwZ 2013, 561 m Anm Gooren = EuR 2013, 446 m Anm Kingreen. 328 Vgl zB EuGH, Urt v 17.1.2019, Rs C-310/16 – Petar Dzivev ua; dazu Gazin, Europe 3/2019, 19; Urt v 20.3.2018, Rs C-524/15 – Menci Luca; Urt v 20.3.2018, Rs C-537/16 – Garlsson Real Estate; Urt v 20.3.2018, Rs C-596/16 – Di Puma. 329 Vgl etwa für Auswirkungen auf das (Europa-)Wahlrecht EuGH, Urt v 6.10.2015, Rs C-650/13 – Delvigne = EuR 2016, 175 m Anm Gundel. 330 Vgl EuGH, Urt v 24.2.2022, Rs C-452/20 – PJ/Agenzia delle dogane e dei monopoli = EuZW 2022, 380 m Anm Wienbracke. 331 Vgl für das Auslieferungsrecht bei Drittstaatsangehörigen, die sich nicht auf Art 18, 21 AEUV berufen können, EuGH, Urt v 2.4.2020, Rs C-897/19 PPU – I.N./Ruska Federacija; dazu Bonneville/Gänser/ Markarian, AJDA 2020, 1652 (1654 f;) Fredriksen/Hillion, CMLRev 58 (2021), 851 ff; Gazin, Europe 6/ 2020, 17 f; Kumin FS Isak, 2020, S 423 ff; Réveillière, RTDE 2020, 721 (728 ff).
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nalen Grundrechte determiniert werden können. Dies aber ist eine Frage des Einzelfalls (s auch noch Rn 91 ff).
Lösung Fall 6: Das Vorabentscheidungsverfahren setzt die Zuständigkeit des EuGH voraus. Gem Art 267 I lit a) AEUV entscheidet der EuGH über die Auslegung der Verträge und damit über die gem Art 6 I EUV in das Vertragsrecht inkorporierte GRCh. Die Charta müsste aber im Ausgangsstreit anwendbar sein. Da hier mitgliedstaatliches Handeln in Rede steht, setzt dies eine Durchführung des Rechts der Union voraus (Art 51 I 1 GRCh). Zur Abgrenzung dieses Anwendungsbereichs greift der EuGH auf seine stRspr zu den nicht geschriebenen Unionsgrundrechten zurück und wendet diese auf die GRCh an. Aus ihr ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte immer dann Anwendung finden, wenn die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln. Dies ist der Fall in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen (aber nicht außerhalb derselben). Entscheidend ist daher, ob eine nationale Vorschrift in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. „Da […] die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.“332 Diese Definition des Anwendungsbereichs werde durch die bei der Auslegung zu beachtenden Erläuterungen zu Art 51 der Charta bestätigt. Hier könnte der streitgegenständliche Sachverhalt als Durchführung des Unionsrechts eingeordnet werden. Die im Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sanktionen stehen im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer. Nach der RL 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Art 2, 250 I, 273) sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen. Das ergibt sich auch aus Art 4 III EUV. Schließlich verpflichtet Art 325 AEUV die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten. Da die Eigenmittel der EU ua die Einnahmen umfassen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage ergeben, erkennt der EuGH einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union. Folglich seien steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer als Durchführung des Unionsrechts iSv Art 51 I GRCh anzusehen. Dass die nationalen Bestimmungen, die den steuerlichen Sanktionen und dem Strafverfahren zugrunde liegen, nicht zur Umsetzung der RL 2006/112 erlassen wurden (und die Union auf dieser Grundlage nicht dafür zuständig war, den Mitgliedstaaten strafrechtliche Vorgaben zur Sanktionierung von Steuerhinterziehung zu machen), ist für den EuGH unerheblich. Die Entscheidungserheblichkeit folgt iSd stRspr aus dem Umstand, dass der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene EuGH dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben hat, die es benötigt, um die unionsrechtliche Vereinbarkeit einer nationalen Regelung beurteilen zu können.
332 EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C‑617/10, Rn 21 – Åkerberg Fransson. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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In Beantwortung der Vorlagefrage führt der EuGH aus, dass Art 50 GRCh die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, strafrechtliche und nichtstrafrechtliche Sanktionen zur Ahndung derselben Tat zu kombinieren. Die Beurteilung, ob eine steuerliche Sanktion strafrechtlichen Charakter habe, obliege dem nationalen Gericht. Allerdings muss die Verhältnismäßigkeit insgesamt gewahrt sein.333 Die ständige schwedische Gerichtspraxis, die die Verpflichtung der Gerichte zur Nichtanwendung von die GRCh verletzenden Vorschriften davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den Bestimmungen der GRCh oder aus der entspr Rspr ergibt, hält der EuGH für nicht vereinbar mit der Verpflichtung der nationalen Gerichte, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen.
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Abwandlung Ob der Anwendungsbereich der GRCh nach Art 51 I 1 GRCh eröffnet ist, erscheint fraglich, da das Recht der Einkommenssteuern unionsrechtlich nicht harmonisiert ist. Die Strafverfolgungsbehörden könnten dennoch in Durchführung des Unionsrechts handeln, wenn ein hinreichender Bezug zum harmonisierten Bereich des Mehrwertsteuerrechts334 besteht. In der dem Fall zugrundeliegenden Vorlagefrage hatte das nationale Gericht argumentiert, dass es zu einer Ungleichbehandlung zwischen Angeklagten in Mehrwertsteuerstrafverfahren und solchen in Einkommenssteuerstrafverfahren kommen könnte, wenn die GRCh nur auf erstere Anwendung fände. Diese sehr allgemeine Erwägung ist allerdings nicht ausreichend, um den Anwendungsbereich des Unionsrechts zu eröffnen; insbesondere waren die Vergleichbarkeit der Fälle und die Anforderungen des nationalen Gleichheitssatzes nicht näher substantiiert worden. Damit ist hier die Strafverfolgung wegen der Einkommenssteuerhinterziehung nicht am Maßstab der Unionsgrundrechte zu messen und die Strafverfolgungsbehörden an sie nicht gebunden. Anders könnte der Fall zu beurteilen sein, wenn das nationale Recht selbst auf die Regeln des Mehrwertsteuerrechts auch im Falle der Einkommenssteuerhinterziehung verweist, also den Anwendungsbereich des Unionsrechts gleichsam autonom für sich eröffnet. Allerdings gibt das Unionsrecht auch dann nicht zwingend bestimmte verfahrensrechtliche Konsequenzen wie Beweisverwertungsverbote vor, sofern das nationale Verfahrensrecht nur die grundlegenden Anforderungen der Effektivität und Äquivalenz nach Art 4 III EUV erfüllt.335
Lösung Fall 7: Das BVerfG sah in der Entscheidung keinen Anlass für ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. Die angegriffenen Normen des Antiterrordateigesetzes seien aus seiner Sicht schon deshalb (nur) an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen, weil sie nicht durch Unionsrecht determiniert würden. Demzufolge liege auch kein Fall der Durchführung des Rechts der EU gem Art 51 I 1 GRCh vor. Zwar beträfen die angegriffenen Vorschriften über die Ermöglichung eines Datenaustauschs zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus Fragen, die zT auch Regelungsbereiche des Unionsrechts berührten. So kennt das Unionsrecht diverse Kompetenz- und Rechtsgrundlagen im Zusammenhang mit der Terrorismusabwehr. Ebenso bestünden Anknüpfungspunkte zum Unions-
333 EuGH, Urt v 1.5.2022, Rs C-570/20 – BV; dazu Simon, Europe 7/2022, 16 f. 334 S auch EuGH, Urt v. 9.11.2017, Rs C-298/16, Rn 27 – Ispas; dazu Gazin, Europe 1/2018, 11. 335 Vgl etwa EuGH, Urt v 5.4.2022, Rs C-140/20 – GD/Commissioner of An Garda Síochána; dazu Deroudille, RUE 2022, 332 ff; Rizzo, JDE 2022, 383 ff; Simon, Europe 6/2022, 12 f.
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recht in Bezug auf die Pflichten zum Erlass von restriktiven Maßnahmen. Dies alles ändere aber nichts daran, dass die Einrichtungen und Ausgestaltungen der Antiterrordatei nicht durch das Unionsrecht determiniert werde. Aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Åkerberg Fransson (Fall 6) ergebe sich nichts anderes (Rn 83). Dies ist sicherlich zweifelhaft, weil der EuGH zu diesem Zeitpunkt die Reichweite seiner Rspr noch nicht präzisiert hatte; daher wäre eine Vorlage nach Art 267 III AEUV erforderlich gewesen. Das BVerfG nahm in der Entscheidung eine sehr kritische und abweisende Sichtweise auf die Auslegung des Art 51 I GRCh durch den EuGH ein und drohte indirekt mit der nicht sehr naheliegenden (und ohnedies unionsrechtswidrigen) Möglichkeit, die Deutung der Reichweite der GRCh als ultra-vires-Akt zu beurteilen. Eine Berufung auf Art 23 I 1 GG geht in diesem Falle aber gänzlich fehl, weil der EuGH durch die Anwendung der GRCh gerade die verfassungsrechtliche Bedingung des hinreichenden Grundrechtsschutzes einlöst. Daher verfängt auch das Argument der Berührung der Verfassungsidentität nicht. Das BVerfG verlangt, dass für eine Bindung der Mitgliedstaaten an die in der GRCh niedergelegten Grundrechte nicht jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder nur eine rein tatsächliche Auswirkung auf diese ausreichen könne. Dies entspricht mittlerweile auch der EuGH-Rspr, die wiederholt den Anwendungsbereich der Charta bei bloß punktueller Berührung verneint hat. Die Kontroverse dürfte heute durch die vom BVerfG in seiner „Recht auf Vergessen“-Rspr angenommene Auslegungszuständigkeit auch für die Unionsgrundrechte (Rn 47) entschärft sein. Freilich führt gerade auch diese Rspr zu einer Ausweitung der Vorlagepflicht des BVerfG nach Art 267 III AEUV.
cc) Die Grenzen der Durchführung bzw des Anwendungsbereichs des Unionsrechts und Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz Fall 8: (EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV, Art 30/1)
Der in Deutschland ansässige B-Verlag gibt eine auch in Österreich vertriebene Zeitschrift heraus, in der Kreuzworträtsel enthalten sind. Die Leser, welche die richtige Lösung einsenden, können an einer Verlosung teilnehmen und Geldpreise gewinnen. Anders als nach deutschem, ist nach österreichischem Wettbewerbsrecht eine solche Praxis verboten, um die Konkurrenzfähigkeit kleinerer Verlage gegenüber den Marktführern sicherzustellen und die Medienvielfalt aufrecht zu erhalten. Ein kleiner österreichischer Verlag hat, gestützt auf die österreichischen Wettbewerbsvorschriften, gegen den B-Verlag Klage erhoben und beantragt, den Verkauf von Zeitschriften, die den Lesern die Möglichkeit der Teilnahme an Gewinnspielen einräumen, zu unterlassen. Das mit der Sache befasste österreichische Gericht hat dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Art 34 AEUV der Anwendung der österreichischen Rechtsvorschriften entgegensteht, wenn die Zeitschrift in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig vertrieben wird und die Veranstaltung des Preisrätsels dort erlaubt ist.
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Fall 9: (EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C-399/11 – Melloni) Gegen den in Italien in Abwesenheit wegen betrügerischen Konkurses strafrechtlich verurteilten spanischen Staatsangehörigen M haben die italienischen Behörden einen Europäischen Haftbefehl erlassen (Art 4a I des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten). Der sich in Spanien aufhaltenDirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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de M hat das spanische Verfassungsgericht gegen seine Überstellung nach Italien angerufen. Dieses legt gem Art 267 AEUV dem EuGH die Frage vor, ob Art 53 GRCh dahin auszulegen ist, dass er dem vollstreckenden Mitgliedstaat gestattet, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilen Person von der Bedingung abhängig zu machen, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigerrechte, wie sie in der spanischen Verfassung garantiert sind, verletzt werden.
89 Nachdem unter Durchführung des Unionsrechts sowohl die Umsetzung unions-
rechtlicher Bestimmungen wie auch alle Handlungen in ihrem Anwendungsbereich zu verstehen sind, ist die genaue Reichweite im Einzelfall zu klären. Hierin liegt die eigentliche Schwierigkeit. Dabei kommt es darauf an, ob ein Sachverhalt dem Unionsrecht unterfällt und das Handeln der Mitgliedstaaten inhaltlich bestimmt.336 Hierfür ist die Reichweite der unionsrechtlichen Regelung des Sachverhaltes entscheidend. Der Gerichtshof verlangt, dass „die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden“.337 Zu prüfen ist (ua) ob mit der nationalen Regelung „eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“.338 Nach dieser allgemeinen Leitvorgabe kann die Fallgruppe der Umsetzung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten leicht abgeschichtet werden, wobei es auf die zuständige Gewalt nicht ankommt. Eine Durchführung liegt stets vor, wenn es um die Umsetzung oder den Vollzug zwingenden Unionsrechts durch die mitgliedstaatliche Legislative, Exekutive oder Judikative geht. Auch sofern Richtlinien und Beschlüsse nicht unmittelbar anwendbar sind, weil sie in nationales Recht umgesetzt wurden oder noch umzusetzen sind339, müssen sich die Rechtsakte der Mit-
336 Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1444). Näher unter Betrachtung der Rspr Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, S 413 ff. S auch Picod in: ders/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 51 Anm 31 ff mit einer Liste möglicher Anknüpfungspunkte. 337 EuGH, Urt v 9.9.2021, Rs C-546/18, Rn 41 – FN ua/Übernahmekommission, unter Berufung auf EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10, Rn 17, 19 – Åkerberg Fransson; Urt v 19.11.2019, verb Rs C-585/18, C-624/18 u C-625/18, Rn 78 – AK ua. 338 EuGH, Urt v 6.3.2014, Rs C-206/13, Rn 25 – Siragusa. 339 Bei verspäteter Umsetzung einer RL sind die mitgliedstaatlichen Gerichte und Behörden verpflichtet, das innerstaatliche Recht jedenfalls ab dem Ablauf der Umsetzungspflicht so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zwecks der betreffenden RL auszulegen. Falls das Vereitelungsverbot dies gebietet, sind die Mitgliedstaaten auch bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist zur
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gliedstaaten im Rahmen des Unionsrechts und damit zugleich der Unionsgrundrechte halten. Das Gleiche gilt, wenn die Mitgliedstaaten das Unionssekundärrecht anwenden.340 Besonders weitgehend ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts im Feld der durch die Richtlinien und die allgemeinen Rechtsgrundsätze verankerten Diskriminierungsverbote; auch hier befinden sich mitgliedstaatliche Maßnahmen, die entsprechende Diskriminierungen vorsehen, stets im Anwendungsbereich des Unionsrechts, so dass die Unionsgrundrechte Anwendung finden.341 Dasselbe gilt, wenn die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Umsetzung von Richtlinien erlassen, die diese nicht erfordern, aber als Handlungsoption vorsehen.342 Lässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten keinen selbständig auszufüllenden Gestaltungsspielraum, sind die Unionsgrundrechte (in den Grenzen der Solange-Rspr des BVerfG; Rn 45) alleiniger grundrechtlicher Prüfungsmaßstab. Das BVerfG spricht in solchen Fällen von einer unionsrechtlichen Determinierung der Mitgliedstaaten.343 Eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte kommt nur in dem 90 Ausmaße in Betracht, in dem das Unionsrecht für das Tun, Dulden oder Unterlassen der Mitgliedstaaten Bindungswirkungen entfaltet. Handelt es sich zB um rein innerstaatliche Gesetzgebungsverfahren ohne direkten Bezug zum Unionsrecht, sind die Charta-Grundrechte nicht anwendbar.344 Auch soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume eröffnet oder von vornherein nur die Berücksichtigung eines bestimmten Aspekts gebietet, wird von einem nichtdeterminierten Bereich ausgegangen. Insoweit kann das Verhalten der Mitgliedstaaten an den nationalen Grundrechten zu messen sein. Hier sind unterschiedliche Fallgestaltungen zu unterscheiden. Die nationalen Grundrechte sind unzweifelhaft anwendbar, soweit das Unionsrecht keine Wirkungen entfaltet; denn anderenfalls wäre wegen
richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet. Vgl EuGH (GK), Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981, Rn 66 ff – Mangold. 340 Vgl zB für die Anerkennung von Gerichtsentscheidungen in Zivil- und Handelssachen iRd Brüssel-Ia-VO EuGH, Urt v 25.5.2016, Rs C-559/14 – Meroni. 341 Vgl etwa für einen Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung, das zu einer Anwendung auch der Justizgrundrechte führte, EuGH, Urt v 19.11.2019, verb Rs C-585/18, C-624/18 u C-625/18, Rn 78 – AK ua (zum Problem der Verkürzung der Amtszeiten polnischer Richter im Rahmen der – weitestgehend gegen Art 19 EUV und Art 47 GRCh – verstoßenden Justizreform). 342 Vgl für nationale Fördermaßnahmen zugunsten erneuerbarer Energien EuGH, Urt v 15.4.2021, verb Rs C-798/18 u 799/18 – Anie ua = RIW 2021, 589 m Anm Fölsing; dazu auch Bassani, Europe 6/2021, 39 f; Urt v 1.3.2022, verb Rs C-306/19 ua – Milis Energy SpA ua. Anders wohl noch die Tendenz (keine Eröffnung des Anwendungsbereichs der RL) EuGH, Urt v 20.9.2017, verb Rs C-215/16 ua – Elecdey Carcelen ua; dazu Roset, Europe 11/2017, 51. 343 Vgl Rn 47. 344 Vgl EuGH, Urt v 16.12.2021, Rs C-203/20, Rn 73 ff – AB ua (keine Anwendung der Art 47, 50 GRCh auf ein nationales Amnestiegesetz ohne Bezug zum Unionsrecht); dazu Gazin, Europe 2/2022, 16 f.
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seines Vorrangsanspruchs die unionsrechtliche Grundrechtsbindung erforderlich. Im (1.) Fall der Umsetzung von Richtlinien und sonstigem Sekundärrecht ist nur im Ausnahmefall eine verbleibende Gestaltungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten anzunehmen, wenn es sich etwa um autonome verfahrensrechtliche Entscheidungen handelt. Gleiches gilt, wenn die Mitgliedstaaten anlässlich einer Richtlinienumsetzung darüber hinausgehende Fragestellungen regeln, die in der Richtlinie selbst nicht angelegt sind.345 Davon abzugrenzen sind die Fälle, in denen die Richtlinie den Mitgliedstaaten ausdrücklich Abweichungsmöglichkeiten eröffnet, weil die Entscheidung über diese dann gleichsam zur Umsetzung gehört und der Sachbereich unionsrechtlich abgedeckt wird.346 91 Anders als die Fallgruppe (1) ist die (2.) Konstellation zu beurteilen, in der die Union einen Sachbereich nur teilweise harmonisiert, die Mitgliedstaaten also weitergehende Bereiche für eigene Entscheidungsfindungen besitzen. Hier ist zunächst (2a.) zu klären, ob der Grad der Harmonisierung ausreicht, um von einem Handeln im Anwendungsbereich des Unionsrechts zu sprechen, so dass überhaupt die Unionsgrundrechte anwendbar sind. Abzulehnen ist dies bei bloß punktuellen unionsrechtlichen Regelungen eines inhaltlichen Feldes.347 Dann bleibt es bei der alleinigen Anwendung der mitgliedstaatlichen Grundrechte.348 Ist hingegen (2b.) der Harmonisierungsgrad ausreichend, so dass die Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht zumindest teilweise determiniert werden, ist insofern der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte eröffnet.349 Dies gilt etwa auch in Fällen, in denen das Unionsrecht für die Mitgliedstaaten Öffnungsklauseln im Interesse abweichen-
345 EuGH, Urt v 19.11.2019, verb Rs C-609/17 u 610/17, Rn 45 ff – TSN ua; dazu Driguez, Europe 1/2020, 35 f. 346 EuGH, Urt v 19.11.2019, verb Rs C-609/17 u 610/17, Rn 50 – TSN ua. 347 Vgl deutlich in Abgrenzung zu der Åkerberg Fransson-Rspr (EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10, Fall 6) EuGH, Urt v 24.10.2019, verb Rs C-469/18 u C-470/18 – IN u JM (Abwandlung Fall 6); dazu Simon, Europe 12/2019, 18. Ferner EuGH, Urt v 4.6.2020, Rs C-32/20 – TJ/Balga Srl (keine Eröffnung des Anwendungsbereichs der GRCh durch die bloß verfahrensrechtlichen, nicht materiellrechtlich harmonisierenden Vorschriften der Massenentlassungs-RL 98/59/EG. Ähnl BVerfG, eA v 18.8.2020, 1 BvQ 82/ 20 – Steag = NVwZ 2020, 1500 m Anm Gundel (keine hinreichende Harmonisierung durch die VO (EU) 2018/842 zur Festlegung verbindlicher nationaler Jahresziele für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2021 bis 2030 […]. 348 Vgl etwa für die behördliche Weitergabe von Informationen differenzierend je nach der sekundärrechtlichen Abdeckung des jeweiligen Feldes einerseits EuGH, Urt v 16.5.2017, Rs C-682/15 – Berlioz Investment Fund = EuZW 2017, 654 m Anm Barbist/Kröll; dazu Franz, IStR 2017, 273 ff; GautierMelleray, AJDA 2017, 1081; Gazin, Europe 7/2017, 20 f; andererseits EuGH, Urt v 27.4.2017, Rs C-469/15 P – FSL ua/Kommission = EuZW 2017, 614 m Anm Barth; dazu Idot, Europe 6/2017, 29 f. 349 Vgl als Bsp etwa EuGH, Urt v 14.1.2021, Rs C-393/19 – OM; dazu Rigaux, Europe 3/2021, 16; Urt v 10.6.2021, Rs C-94/20, Rn 35 ff – Land Oberösterreich/KV.
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der (zB strengerer) Regeln enthält.350 In den frei bleibenden sachlichen Feldern bleibt es bei der Anwendung der mitgliedstaatlichen Grundrechte.351 Allen diesen Fällen ist zunächst gemeinsam, dass sich unionaler und mitgliedstaatlicher Grundrechtsschutz nicht überschneiden (Trennungsthese352) und entweder nur die Unionsgrundrechte oder nur die mitgliedstaatlichen Grundrechte als Prüfungsmaßstab zum Zuge kommen. Ein anschauliches Feld für die insofern differenzierende Rspr des EuGH ist der Bereich des Ausländerrechts, welcher nur in Teilen europarechtlich determiniert wird.353 So fällt die Vergabe von Visa nur insoweit in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, wie die Gründe für die Erteilung oder Versagung unionsrechtlich vorgegeben sind. Dies ist etwa im Falle von durch die Schengen-Regeln harmonisierten Kurzzeit-Visa,354 nicht aber bei Visa zum Zwecke der Beantragung von Asyl der Fall.355 Unionsrechtlich determiniert ist dann wieder der effektive Rechtsschutz gegen die Ablehnung von Aufenthaltstiteln für Asylbewerber.356 Eine solche Grenzziehung lässt sich aber oft nicht klar durchführen und wider- 92 spräche auch zumeist dem Unionsrecht. Denn auch wenn dieses Gestaltungsspielräume eröffnet, sind diese nach stRspr des EuGH unionsrechtskonform auszufüllen;357 dies bedeutet insbesondere, dass die Mitgliedstaaten bei Ausfüllung der Spielräume die Unionsgrundrechte beachten müssen.358 Daher ist (3.) nach der Fall-
350 EuGH, Urt v 18.12.2020, Rs C-336/19 – Centraal Israëlitisch Consistorie van België = NVwZ 2021, 219 m Anm Gerhold/Hahn = JCP 2021, 346 m Anm Gonzalez; dazu Rigaux, Europe 2/2021, 17 f; ferner Vordermayer-Riemer, DÖV 2019, 693 ff. 351 Vgl etwa im Bereich des Datenschutzes („Recht auf Vergessenwerden“) EuGH, Urt v 24.9.2019, Rs C-507/17, Rn 72 – Google/CNIL. 352 Thym, NVwZ 2013, 889 (892); vgl auch Kingreen, JZ 2013, 801 (802) (Alternativitätsthese). 353 Generell zur Rolle der GRCh im europäischen Asylrecht Marti in: Potvin-Solis, Politiques de l’Union européenne et droits fondamentaux, 2017, S 317 (344 ff). 354 Vgl VO (EU) Nr 810/2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft, ABl 2009 Nr L 243/1, m spät Änd. 355 Vgl für die Anwendbarkeit des Art 47 GRCh etwa EuGH, Urt v 13.12.2017, Rs C-403/16 – El Hassani; Urt v 7.3.2017, Rs C-638/16 PPU – X u X/Belgien = NVwZ 2017, 611 m Anm Endres de Oliveira = JCP 2017, 869 m Anm Labayle = RCDIP 2018, 59 m Anm Parrot; dazu Delzangles/Louvaris, JDE 2017, 170 ff; Gazin, Europe 5/2017, 18 f; Hwang, EuR 2018, 269 ff; Müller, ZEuS 2017, 161 ff; Urt v 10.3.2021, Rs C-949/ 19 – MA/Konsul Rzeczypospolitej Polskiej; dazu Michel, Europe 5/2021, 20 f. S auch Germelmann/Gundel, BayVBl 2018, 689 (694 ff); dies, BayVBl 2022, 505 (513). S auch Matala-Tala in: Potvin-Solis, Politiques de l’Union européenne et droits fondamentaux, 2017, S 371 ff. 356 Vgl EuGH, Urt v 19.6.2018, Rs C-181/16 – Gnandi = NVwZ 2018, 1625 m Anm Gutmann. 357 Vgl etwa EuGH, Rs C-540/03, Slg 2006, I-5769, Rn 104 f – Parlament/Rat. Ebenso Kühling in: v Bogdandy/Bast Europ VfR, S 657 (682 f); Jarass GRCh, Art 51 Rn 20a , 53 Rn 22 ff. AA Kingreen in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 13. 358 EuGH, Urt v 11.6.2020, Rs C-634/18 – JI/Prokuratura Rejonowa w Slupsku; dazu Michel Europe 8/ 2020, 19 f.
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konstellation zu fragen, in der sich das mitgliedstaatliche Handeln in einem teilharmonisierten Bereich sowohl auf die Umsetzung des Unionsrechts als auch auf die verbleibenden mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielräume bezieht. Damit hängt die grundsätzlichere Frage zusammen, ob es den nationalen Grundrechten überhaupt möglich ist, über den Schutzstandard der Unionsgrundrechte hinaus den Mitgliedstaaten auch bei der Durchführung des Rechts der Union zusätzliche Pflichten aufzuerlegen.359 Bei der Behandlung dieser Fallgruppen ist erneut zu differenzieren. Zutreffend hat der EuGH in seiner grundlegenden Åkerberg-Fransson-Entscheidung (Fall 6) ausgeführt, dass es in Fällen einer nicht vollständigen Bestimmung durch das Unionsrecht zwar den Mitgliedstaaten freisteht, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, dies aber nur dann gilt, wenn „durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“.360 Steht also anderes Unionsrecht einem verschärften mitgliedstaatlichen Grundrechtsstandard entgehen, so kann er sich nicht durchsetzen.361 Besteht ein Spielraum für die Mitgliedstaaten, kann es zu einer doppelten Grundrechtsbindung kommen.362 Die Unionsgrundrechte legen den in jedem Falle zu beachtenden Mindeststandard fest,363 soweit eine Regelung unionsrechtlich veranlasst ist. Dies gilt auch für teilharmonisierte Bereiche, bei denen die Mitgliedstaaten zugleich Unionsrecht und nationales Recht durchführen. Allerdings werden diese Situationen, in denen Raum für nationale Grundrechte bleibt, selten sein. Denn der unionsrechtliche Schutz wird im Regelfall dem mitgliedstaatlichen entsprechen. Die Umkehr der Sichtweise, die das BVerfG in seiner jüngeren Rspr vornimmt, indem es die unionsrechtlichen Standards als von den deutschen Grundrechten als „mitgewährleistet“ ansieht,364 ist aus der unionsrechtlichen Sicht nicht überzeugend. Im Gegenteil wird das zentrale Argument der Einheit der Unions-
359 Zur Problematik etwa Safjan in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, S 545 ff. 360 EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10, Rn 29 – Åkerberg Fransson (Fall 6); Urt v 26.2.2013, Rs C-399/11, Rn 60 – Melloni (Fall 9). Vgl auch EuGH, Urt v 26.3.2015, Rs C-316/13, Rn 44 ff – Fenoll zum Vorrang von Art 31 GRCh. 361 Vgl EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C-399/11 – Melloni; dazu auch näher Rosoux in: Liber amicorum Melchior Wathelet, 2018, S 619 (627 ff). 362 Vgl Cariat in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 53 Anm 22. Für eine umgekehrte SolangeDoktrin plädieren dagegen v Bogdandy/Kottmann/Antpöhler/Dickschen/Hentrei/Smrkolj, ZaöRV 72 (2012), 45 ff. Wohl ähnl Holoubek FS Schwarze, 2014, S 109 (127 f). Dass der doppelte Schutz durch die Unionsgrundrechte und nationalen Grundrechte zu einer Halbierung der Allgemeininteressen und kollidierenden Grundrechte führen kann, befürchtet Kingreen, JURA 2014, 295 (302). Vgl demgegenüber aber auch Lange, NVwZ 2014, 169. 363 Cariat in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 53 Anm 20. 364 BVerfGE 152, 152 (Rn 42 ff) – Recht auf Vergessen I.
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rechtsordnung, die für einen einheitlichen Grundrechtsschutz streitet, der vagen Subsidiaritäts- und Vielfaltserwägung nur bei erkennbaren Gestaltungsspielräumen der Mitgliedstaaten Raum geben und im Übrigen für den Unionsgrundrechtsschutz als einheitlichen Standard eintreten. Allerdings werden in praktischer Hinsicht kaum alle entsprechenden Konflikte ausgetragen werden, wenn die Abwägungen im Ergebnis ähnlich ausfallen. Dennoch ist, wenn das Unionsrecht, welches die Mitgliedstaaten durchzuführen haben, abschließend ist, für einen weitergehenden nationalen Grundrechtschutz kein Raum (Fall 9). Insbesondere kann nicht mit Hinweis auf eine abweichende Gewichtung im Rahmen der Abwägung eine Korrektur des auf der Ebene der Unionsgrundrechte gefundenen Ergebnisses erreicht werden.365 Nur sofern in Bezug auf die grundrechtliche Frage keinerlei unionsrechtliche Restriktionen bestehen, bestimmt sich die Vereinbarkeit des mitgliedstaatlichen Rechtsaktes vorbehaltlich der Anerkennung des Vorrangs und der Wirksamkeit des Unionsrechts weiterhin nach den nationalen Grundrechten bzw nach der EMRK. Eine Bindung an die Unionsgrundrechte ist in Übereinstimmung mit der Rspr 93 des EuGH (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 20, 170) auch im Hinblick auf die Einschränkung der Grundfreiheiten zu bejahen. Auch hier handeln die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich und damit in Durchführung des Unionsrechts. Soweit die Unionsgrundrechte den Grundfreiheiten zuwiderlaufen, geht es um die Bestimmung und deren Reichweite (Anwendung). Im Falle einer Beschränkung der Grundfreiheiten machen die Mitgliedstaaten von ihrem primärrechtlich zugewiesenen Entscheidungsspielraum Gebrauch; dabei kann ihnen das Unionsrecht nichts erlauben oder verbieten, was grundrechtlich nicht vertretbar wäre. Demgemäß sind die mitgliedstaatlichen Beschränkungen der Grundfreiheiten auch im Lichte der Unionsgrundrechte auszulegen. Die Bindung der Mitgliedstaaten folgt daraus, dass es um das vom Unionsrecht zugelassene Ausmaß der Beschränkung der Grundfreiheiten geht.366 Im Interesse der Einheit des Unionsrechts können hierüber letztverbindlich nur die Unionsgerichte (und nicht die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten) entscheiden, unabhängig davon, ob von den geschriebenen Schranken der Grundfreiheiten Gebrauch gemacht wurde oder sich die Mitgliedstaaten auf die zwingenden Allgemeininteressen berufen haben.367 Kommen die Grundfreiheiten
365 Vgl zum „Recht auf Vergessenwerden“ etwa die umfangreiche Abwägung in EuGH, Urt v 24.9.2019, Rs C-136/17 – GC ua/CNIL. 366 Vgl auch Cirkel Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2000, S 141 ff; Wallrab Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte 2002, S 90 ff; Schaller Die EU-Mitgliedstaaten des Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2003, S 50 f. 367 Zum letzteren Gesichtspunkt EuGH, Urt v 21.5.2019, Rs C-235/17, Rn 64 f – Kommission/Ungarn, vgl Jarass, GRCh Art 51 Rn 32.
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nicht zum Zuge (weil beispielsweise die Mitgliedstaaten bloße Verkaufsmodalitäten geregelt haben) stellt sich die Frage einer Heranziehung der Unionsgrundrechte ebenfalls, weil die Mitgliedstaaten weiterhin im Feld des Binnenmarktes agieren.368
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Lösung Fall 8: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens als Auslegungsvorlage gem Art 267 I lit a AEUV bestehen keine Bedenken. Der grenzüberschreitende Vertrieb der Zeitschrift durch den B-Verlag wird durch Art 34 AEUV geschützt.369 Die Zeitschrift ist eine Ware. Der Gewährleistungsgehalt der Dassonville-Formel ist berührt, weil das Verbot des Preisrätsels zumindest mittelbar und potenziell den Absatz der Zeitschrift in Österreich behindern kann, wenn sie für die Käufer dadurch weniger attraktiv wird. Bei den weder formal noch faktisch diskriminierenden österreichischen Wettbewerbsvorschriften, die den Verkauf der Zeitschrift untersagen, handelt es sich um produktbezogene Regelungen und nicht um Anforderungen an Verkaufsmodalitäten iSd Keck-Rspr, weil der B-Verlag durch die Herausnahme des Preisrätsels für den Vertrieb in Österreich Änderungen am Produkt vornehmen müsste. Die Regelung stellt daher eine Maßnahme gleicher Wirkung gem Art 34 AEUV dar und beschränkt die Warenverkehrsfreiheit. Da keine formale Diskriminierung, sondern eine reine Beschränkung vorliegt, kann die Regelung durch zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls iSd Cassis-Formel gerechtfertigt werden. Hierzu rechnet der EuGH auch die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt (vgl Art 11 II GRCh). Allerdings müssen sich Beschränkungen der Grundfreiheiten ihrerseits „im Lichte der allgem Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte“ beurteilen lassen. Der Anwendungsbereich des Art 51 I GRCh ist eröffnet, weil die Mitgliedstaaten bei der Beschränkung von Grundfreiheiten im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig sind. Sie sind folglich an die Unionsgrundrechte gebunden. Daher muss der vorliegend durch das Verbot des Zeitschriftenvertriebs gleichzeitig bewirkte Eingriff in das durch Art 11 I und II GRCh (und ebenso Art 10 EMRK) geschützte Grundrecht der freien Meinungsäußerung und der Medienfreiheit des B-Verlages ebenfalls gerechtfertigt werden können. Es kommt also letztlich auf eine Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen der Warenverkehrsfreiheit sowie der Meinungs- und Medienfreiheit auf der einen und dem Ziel der Medienpluralität auf der anderen Seite ab. Dies im Einzelnen zu entscheiden, ist nach Ansicht des EuGH Sache des nationalen Gerichts. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die Maßnahme zur Zielerreichung zwar geeignet. Unter Berücksichtigung der betroffenen Rechtspositionen ist aber ein umfassendes Vertriebsverbot jedenfalls als ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit anzusehen, weil zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt mildere, gleich effektive Mittel zur Verfügung stehen. Denkbar ist etwa der Hinweis darauf, dass die Gewinnchance Lesern der Zeitschrift in Österreich nicht offen stehe. Auch der Eingriff in die Meinungsfreiheit ist hier milder, wenngleich auch die hierdurch bewirkte Reduzierung der Attraktivität der Zeitschrift weiterhin beeinträchtigend wirkt. Allerdings steht dies nicht außer Verhältnis zu dem für einen freien Meinungsaustausch sehr bedeutsamen Ziel der Medienpluralität und der Monopol- bzw Oligopolverhinderung. Bei Zugrundelegung dieser Ansicht verstößt jedenfalls ein Vertriebsverbot sowohl gegen die Freiheit des Warenverkehrs als auch gegen das Unionsgrundrecht der Meinungs- und Medienfreiheit.
368 Vgl EuGH, Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 43, 48 ff – Herbert Karner; offenbar aA Jarass GRCh, Art 51 Rn 32. 369 Vgl zu den warenverkehrsrechtlichen Fragen → Epiney § 13 Rn 44.
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Inhaltlich durch das Unionsrecht angeleitet wird das Handeln der Mitgliedstaaten 95 auch in allen sonstigen Fällen, in denen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht zu beachten haben. Dies kann angesichts der Ausstrahlungswirkung des Unionsrechts und der zahlreichen Politikbereiche, in denen die EU tätig wird, in einem sehr weiten Ausmaße der Fall sein. Denn schon die konsequente Wahrnehmung der bestehenden Unionskompetenzen zum Erlass von Sekundärrecht erhöht die Reichweite der determinierenden Wirkung des Unionsrechts und damit die Reichweite der Anwendung des unionalen Grundrechtsschutzes.370 Deshalb kommt es unabhängig von der fehlenden Kompetenzausweitung zugunsten der Union doch in gewissem Umfang durch die Ausweitung des Grundrechtsschutzes auf verschiedenen Ebenen zu einer gewissen Zentralisierung und Unitarisierung.371 Dies beruht ferner darauf, dass selbst dann, wenn die mitgliedstaatlichen Grundrechte zur Anwendung gelangen, der Vorrang und die Wirksamkeit des Unionsrechts keinesfalls beeinträchtigt werden dürfen (Rn 92). So gestattet Art 53 GRCh den Mitgliedstaaten nicht, die Anwendung von mit der GRCh in Einklang stehenden Unionsrechtsakten aus Gründen des nationalen Grundrechtsschutzes zu verhindern (Fall 9). Ferner darf in mehrpoligen Rechtsverhältnissen eine über den Unionsstandard eines Grundrechtsträgers hinausreichende mitgliedstaatliche Begünstigung nicht zu Lasten eines anderen Grundrechtsträgers gehen, wenn dadurch dessen durch die GRCh verbürgter Schutz unterschritten wird.372 Hinzu kommt überdies, dass durch die Setzung von Grundrechtsstandards auf der einen Ebene die anderen Ebenen in gewissem Umfange in Zugzwang geraten. Hier ist auch die EMRK mit der Rspr des EGMR einzubeziehen. Denn natürlich muss der Orientierung der GRCh an der EMRK Rechnung getragen werden, auch wenn Art 52 III GRCh einen weitergehenden Schutz nicht ausschließt. Auch wenn der EGMR den Konventionsstaaten bei der Auslegung und Abwägung der EMRK-Rechte mit den vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten vielfach einen „margin of appreciation“ zugesteht (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 143), können unterschiedliche Abwägungswertungen bei miteinander verbundenen Ebenen auch im Falle von Kompetenzaufteilungen nur in begrenztem Umfang bestehen bleiben,373 da sich die Grundrechtssphären schlicht nicht trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Prozessual werden nicht nur immer häufiger die Fachgerichte, sondern auch das BVerfG genötigt sein, eine Vorabentscheidung des EuGH nach Art 267 AEUV einzuholen, um die Vereinbarkeit mit
370 Vgl zu dieser Variabilität Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1437 f); ferner Thym, NVwZ 2013, 889 (894). 371 Vgl zur Unitarisierungswirkung Steiner FS Maurer, 2001, S 1005 (1015). 372 Zur parallelen Rechtslage nach der EMRK vgl → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 11. 373 Für größere mitgliedstaatliche Einschätzungs- und Abwägungsspielräume Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 29; v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 27 Rn 15. Vergleiche auch zur Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Interessen in der Rspr des EuGH Schwarze, EuR 2013, 253 ff.
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der GRCh klären zu lassen. Das BVerfG, das sich in jüngerer Zeit ausdrücklich auch die Zuständigkeit für die Auslegung der Unionsgrundrechte zugesprochen hat,374 reiht sich hierdurch strukturell in die vorlagepflichtigen nationalen Gerichte gem Art 267 III AEUV ein, die im Kooperationsverhältnis375 des Gerichtsdialogs sicherlich Anregungen für die Auslegung der Unionsgrundrechte aufwerfen, nicht aber in diesem Feld eine eigene Grundrechtsdogmatik entwickeln können. Hieran können auch die teils gegenläufigen Schlagworte der Völkerrechtsfreundlichkeit, der Europarechtsfreundlichkeit und der Integrationsverantwortung376 nichts ändern. Nicht ganz zu Unrecht ist von der Gefahr einer Reduzierung der Bedeutung der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Unionsgerichtsbarkeit und einem Bedeutungsverlust der Grundrechte des Grundgesetzes (und anderer Staaten) gesprochen worden, wobei auf das Schicksal der deutschen Landesgrundrechte verwiesen wird.377 Dies ist aber keineswegs pauschal als negative Entwicklung anzusehen, weil die unterschiedlichen Ebenen des Grundrechtsschutzes letztlich dessen Verstärkung zu dienen bestimmt sind.
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Lösung Fall 9: Die Vorlage ist als Auslegungsvorlage (Art 267 I lit a AEUV) zulässig. Die Grundrechtecharta ist nach Art 51 I GRCh anwendbar, weil die Mitgliedstaaten den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, also Unionssekundärrecht durchführen. Im Grundsatz ist es nach Art 53 GRCh möglich, weitergehende nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden. Die Heranziehung der nationalen Grundrechte würde es hier allerdings dem Mitgliedstaat Spanien erlauben, die Anwendung eines mit der GRCh vollständig im Einklang stehenden Unionsrechtsaktes zu verhindern, wenn er den in der Verfassung des betreffenden Staates (Spanien) garantierten Grundrechten nicht entspricht. Dies ist mit dem Vorrang des Unionsrechts nicht vereinbar. Auch Art 53 GRCh erlaubt die zusätzlich zu den Garantien der GRCh hinzutretende Anwendung der erhöhten nationalen Schutzstandards nur, wenn dadurch der Vorrang des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird.378
c) Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV 97 Für die Unionsgrundrechte, welche die Unionsgerichtsbarkeit der EMRK und/oder
den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten entnommen hat oder noch entwickeln wird (Art 6 III EUV), hat sich durch den Erlass der GRCh
374 BVerfGE 152, 216 (Rn 50 ff) – Recht auf Vergessen II. 375 BVerfGE 89, 155 (175). 376 BVerfGE 123, 267 (Leitsatz 2, 347, 351). 377 Gärditz in: HStR IX, § 189 Rn 38 ff; Thym, NVwZ 2013, 889 (895). 378 Das span Tribunal Constitucional ist mit Urt v 13.2.2014, BOE v 11.3.2014, Nr 2650 den Vorgaben des EuGH gefolgt. Es hat dabei seinen Kontrollvorbehalt bezüglich der grundlegenden Verfassungsprinzipien und -werte aufrechterhalten, vgl dazu schon Fn 3.
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nichts verändert. Selbst wenn man Art 51 I 1 GRCh entgegen der EuGH-Rspr (Fall 6) restriktiv interpretieren würde, folgt daraus keine Zwangsläufigkeit für die Bestimmung der Reichweite der allgemeinen Grundsätze. Tatsächlich hat der EuGH die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten auch insoweit auf den Anwendungsbereich des Unionsrechts bezogen (Rn 74 ff), so dass es keine Unterschiede im Verhältnis zur GRCh gibt.
3. Privatpersonen Während der EuGH unter bestimmten Voraussetzungen eine im Ergebnis recht weit- 98 gehende Bindung von Privatpersonen an die Grundfreiheiten angenommen hat (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 78 ff), ist die Situation für die Unionsgrundrechte differenziert zu bewerten. Hier bietet sich an, Kategorien zu bilden und auf dieser Basis die Frage der Berechtigung einer unmittelbaren Drittwirkung zu beantworten. Die Rspr ist in Hinblick auf die Frage nicht abschließend und klar, sondern scheint sich vielmehr in der Entwicklung zu befinden. Festzuhalten ist zunächst, dass Personen, denen die Befugnis zur Ausübung von Staatsgewalt übertragen worden ist, nicht als Private gelten. Deshalb unterliegen die Beliehenen379 bei der Durchführung des Rechts der Union der Bindung an die Unionsgrundrechte. Ferner sind die Grundsätze der Drittwirkung von Grundfreiheiten auf die Grundrechte nicht übertragbar. Die Interessenlage unterscheidet sich insofern, als die besondere Situation der Schaffung und des Schutzes des Binnenmarktes sowie die diesbezüglichen Beeinträchtigungsmöglichkeiten privater Wirtschaftsteilnehmer auf die Grundrechtskonstellationen nicht unmittelbar übertragbar erscheinen. Für deren Schutzbedürfnisse müssen andere, differenzierte Lösungen gesucht werden. Hinzu kommt, dass anders als im Fall der Grundfreiheiten bei den Chartagrundrechten mit Art 51 I GRCh eine ausdrückliche Bestimmung über den (auch personellen) Anwendungsbereich besteht, die von ihrem präzisen Wortlaut her gegen die Ausweitung im Sinne einer generellen Drittwirkung der Grundrechte spricht. Es ist allerdings festzuhalten, dass der Vertrag in Bezug auf einzelne grundrechtliche Garantien eine Drittwirkung gegenüber Privaten vorsieht. Sie ist für Art 157 I AEUV anzunehmen, der eine der ältesten geschriebenen grundrechtlichen Bestimmungen der Verträge ist.380 Eine weitere Grenzziehung erscheint zwischen Grundrechten und Grundsätzen erforderlich. Eine unmittelbare Bindung Privater an letztere ist nach Art 51 I 1, 2, V GRCh aus
379 Vgl dazu statt vieler Siegel Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl 2022, Rn 151 ff mwN; Jarass GRCh, Art 51 Rn 33. 380 Rebhahn in: Schwarze, EU-Komm, Art 157 AEUV Rn 1, 7.
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geschlossen. Denn sie bedürften ohnehin der legislativen Konkretisierung,381 wobei sie typischerweise den Staaten Gestaltungsspielräume überlassen; hinzu kommt ihre objektive Wirkung, so dass ihnen die subjektivrechtliche Anspruchsstruktur fehlt. Im Bereich der Grundrechte kann sodann zwischen den geschriebenen und den ungeschriebenen Quellen unterschieden werden. Hier ist allerdings von einem Gleichlauf auszugehen, da Art 6 EUV insofern keine Unterschiede vorsieht und auch keine entsprechenden Ansatzpunkte erkennen lässt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sowohl bei den Chartagrundrechten als auch bei den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen die Grundentscheidungen der EMRK und der Vergleichung der nationalen Verfassungstraditionen zu berücksichtigen sind. Zwar nimmt auch die EMRK die Privaten nicht als Grundrechtsadressaten in die Pflicht (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 68). Allerdings können gerade die möglicherweise flexibler auszulegenden Wirkungen der allgemeinen Rechtsgrundsätze Einfluss auf die Auslegung der Chartagrundrechte haben. Eine letzte Differenzierung ist zwischen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechten vorzunehmen. Während bei den Freiheitsgrundrechten, die in erster Linie gegen staatliche Gewalt begrenzen sollen, unmittelbare Drittwirkungen schwerer vorstellbar sind, kann das Ziel der Gleichbehandlung weiter gefasst und auch auf Private als Adressaten ausgedehnt werden. In diesem Punkt findet sich eine partielle Vergleichbarkeit mit den Diskriminierungsverboten der Grundfreiheiten. Zudem sind gerade durch die sekundärrechtliche Ausdehnung der unterschiedlichen Diskriminierungsverbote in den Mitgliedstaaten heute Bindungen Privater in diesem Bereich nahezu die Regel. Freilich ist auch dieser Befund kein zwingendes Argument für die Erstreckung einer grundrechtlichen Verpflichtung auf sie, da die Ausdehnung von Pflichten durch Sekundärrecht oder Gesetz gerade einen kategorialen Unterschied gegenüber der direkten Grundrechtsbindung darstellt. In der Rspr finden sich in der Tat gerade in jüngerer Zeit Ansätze, die für eine Erstreckung zumindest von Gleichbehandlungspflichten des Primärrechts, die sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, aber eben auch aus Art 20, 21 GRCh ergeben können, auf Private sprechen können. Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass anders als im Falle nicht umgesetzter Richtlinien echte Rechtspflichten für Private aus dem (ungeschriebenen) Primärrecht erwachsen können.382 Dies erstreckt sich logischerweise auch auf Grundrechte, wenn sich die Pflichtenübertragung auf Private sachlich an-
381 Vgl EuGH, Urt v 15.1.2014, Rs C-176/12, Rn 45 ff – Association de médiation sociale für Art 27 GRCh. Die Schlussanträge des GA Cruz Villalón in der Rs sehen in der Bestimmung einen Grundsatz; der Wortlaut ist unklar. 382 Vgl EuGH, Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981 – Mangold; Rs C-555/07, Slg 2010, I-365 – Kücükdeveci; Urt v 15.1.2014, Rs C-176/12, Rn 47 – Association de médiation sociale. Gegen eine Horizontalwirkung allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts früher noch EuGH, C-60/92, Slg 1993, I-5683, Rn 16 – Otto BV; Rs C-2/92, Slg 1994, I-955, Rn 24 – Bostock.
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bietet. Aus den genannten Gründen ist eine unmittelbare Drittwirkung zumindest für die grundlegenden Gleichbehandlungsansprüche mittlerweile in der Rspr anerkannt.383 Das Unionsrecht ist durch das Verbot der Diskriminierung auf allen Ebenen geprägt; zudem können Ungleichbehandlungen, die die Grundfreiheiten und damit den Binnenmarkt beeinträchtigen, leicht mit solchen, die zudem einen Grundrechtsverstoß begründen, zusammenfallen. Auch wenn es mit der Anerkennung staatlicher Schutzpflichten im Hinblick auf rechtswidrige Eingriffe von Privaten und der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte bei der Anwendung des Sekundärrechts oder des nationalen Rechts – ebenso wie im deutschen Recht384 – alternative Schutzkonzepte gäbe, scheint sich das Unionsrecht jedenfalls im Bereich der Gleichheitsgrundrechte auf dem Weg zur Anerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung zu befinden. In der Literatur wird die unmittelbare Drittwirkung der Unionsgrundrechte 99 weitgehend abgelehnt,385 da sie auch bei Richtlinien nicht akzeptiert werde386 und sich die Rechte des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt zu Pflichten gegenüber allen Mitbürgern verkehren würden, was wiederum eine weitgehende Beschränkung der Privatautonomie zur Folge hätte. Auch das Rechtssicherheitsargument, welches der EuGH gegen eine horizontale Richtlinienwirkung anführt, wird gegen eine unmittelbare Direktwirkung von Grundfreiheiten angeführt.387 Zudem wird der Wortlaut des Art 51 I 1 GRCh als abschließend betrachtet,388 was freilich
383 Vgl für das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Religion EuGH, Urt v 17.4.2018, Rs C-414/16, Rn 77 – Egenberger = DVBl 2018, 863 m Anm Edenharter = EuZW 2018, 381 m Anm Sagan = NZA 2018, 569 m Anm Fuhlrott; dazu auch Joussen, EuZA 2018, 421 ff; Lourenço, CMLRev 56 (2019), 193 ff; Simon, Europe 6/2018, 5 ff; Urt v 11.9.2018, Rs C-68/17 – IR/JQ, Rn 67 ff = EuZW 2018, 853 m Anm Fuhlrott; dazu Simon, Europe 11/2018, 14 f; Urt v 22.1.2019 – Rs C-193/17 – Cresco Investigation = EuZW 2019, 242 m Anm Wienbracke = EuZA 2019, 482 (nur LS) m Anm Hentzschel; dazu auch Rigaux/Simon, Europe 3/ 2019, 18 f; Wattier, JDE 2019, 164 f. 384 Grundlegend BVerfGE 7, 198 ff. 385 IdS Kober Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2009, S 180 ff; Winkler Die Grundrechte der Europäischen Union, 2006 , S 164 f; Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657 (675 f); Sagmeister Grundsatznormen, 2010, S 324 f; Fuger, NJW 2011, 2385 (2389); Jarass GRCh, Art 51 Rn 31 ff (der Ausnahmen für möglich hält); zweifelnd Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 51 GRCh Rn 22. Krit auch Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, S 438 ff. Differenzierend v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 27 Rn 59 ff; Stein Drittwirkung im Unionsrecht, 2016, S 85 ff. AA, dh grds für eine unmittelbare Drittwirkung Picod in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 51 Anm 17 f. 386 Vgl zu diesem Argument v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 27 Rn 60. 387 Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, S 460 f. 388 Anders Stein Drittwirkung im Unionsrecht, 2016, S 85 mit dem Verständnis, die Charta habe die Frage offen gelassen.
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nur die Charta-Grundrechte betrifft, nicht aber Erweiterungsmöglichkeiten im Wege der Auslegung der allgemeinen Rechtsgrundsätze erfasst. Zutreffend ist sicherlich, dass ähnlich wie bei den Schwierigkeiten der Erstreckung der Rechtfertigungsgründe auf Private im Bereich der Grundfreiheiten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 81) auch die Erfüllung der Vorgaben des Art 52 I 1 GRCh einschließlich des Gesetzesvorbehalts durch Private kaum möglich erscheint. Aber auch das hindert eine Direktwirkung unter interpretatorischer Abänderung der Schrankenregel nicht, wenn man diese asymmetrisch zum Schutzbereich, aber dem Wortlaut konform nur auf Hoheitsträger bezieht und Privaten andere ungeschriebene Rechtfertigungsmöglichkeiten im Rahmen ihrer eigenen Grundrechtsausübung zugesteht. Letztlich erscheint es sachgerecht, die Frage nach der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte nach der sachlichen Eignung und Zielsetzung der Grundrechte zu beantworten. Sofern eine grundrechtliche Gewährleistung sich zur Geltendmachung in Privatrechtsverhältnissen eignet,389 kommt eine unmittelbare Drittwirkung in Betracht. Jedenfalls für den Bereich der Freiheitsgrundrechte ist das im Regelfall zu verneinen, weil sie nach ihrer inhaltlichen Gewährleistung deutlicher als die Gleichheitsrechte staatenbezogen sind. Allenfalls bei ganz grundlegenden Garantien, deren Verletzung durch Private aus Sachgründen naheliegen kann und die keine Einschränkungsmöglichkeiten vorsehen, wie zB im Falle des Verbots des Menschenhandels (Art 5 III GRCh) oder des Verbots der Kinderarbeit (Art 32 I 1 GRCh), ist eine unmittelbare Drittwirkung erwägenswert. Eine sehr weitgehende direkte Bindung Privater an die Grundrechte hat der EuGH im Bereich der sozialen Grundrechte aus Art 31 II GRCh in Bezug auf Arbeitgeber angenommen, die er durch diese Norm angesprochen sieht und im Effektivitätsinteresse unmittelbar verpflichtet.390 Die Begrenzung ihrer grundrechtlichen Inpflichtnahme wird nur durch die fehlende Bezifferung der Ansprüche in den Grundrechten gewährleistet, die in jedem Falle eine gesetzgeberisches Konkretisierung verlangt, die dann aber grundrechtlich unterlegt wird.
389 Bsp bei Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, 440 ff. Für eine Direktwirkung auch der Menschenwürdegarantie Vial in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 1 Anm 23. 390 Vgl EuGH, Urt v 6.11.2018, verb Rs C-569/16 u C-570/16 – Stadt Wuppertal/Bauer und Willmeroth/ Broßonn; dazu Driguez Europe 1/2019, 40 f; Urt v 6.11.2018, Rs C-684/16 – Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften/Shimizu. Krit Mehrens/Witschen, EuZA 2019, 326 ff.
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VII. Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich der Unionsgrundrechte In räumlicher und zeitlicher Hinsicht bestimmt sich der Geltungsbereich der Uni- 100 onsgrundrechte nach den allgemeinen Grundsätzen (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 85 f). Wie die Rechte der EMRK (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 72 ff) entfalten auch die Unionsgrundrechte extraterritoriale Wirkungen, weil die Grundrechtsadressaten ihren grundrechtlichen Pflichten auch im Ausland nachkommen müssen.391 Dies gilt jedenfalls für die Abwehrfunktion, während für die Leistungsfunktion Einzelfalldifferenzierungen erforderlich sind.392 Treten neue Staaten der Union bei, gelten die Unionsgrundrechte ab dem Zeitpunkt des Beitritts,393 falls nichts anderes vereinbart worden ist; mit dem Austritt endet die Grundrechtsbindung nach Maßgabe des Art 50 EUV. Übergangsfristen im Falle des Eintritts in die Union sind nur für die Geltung der Grundfreiheiten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 87), nicht für die Unionsgrundrechte vorgesehen worden, was einmal mehr den Unterschied zwischen den binnenmarktbezogenen und den menschenrechtlichen Gewährleistungen deutlich macht. Die Hinnahme einer verspäteten Geltung der Unionsgrundrechte wäre auch nicht mit der Festlegung der EU auf Fundamentalprinzipien (Art 2, 7 EUV) vereinbar. Im Übrigen hat die Rspr des EuG, nicht allerdings des EuGH394 auch eine Vorwirkung der Chartagrundrechte als Rechtserkenntnisquelle iRd Art 6 II EUV aF angenommen.395 Soweit die GRCh entgegen ihrem Anliegen, die Grundrechte nur sichtbar zu machen (Rn 124), neue Grundrechtsgewährleistungen enthält, die sich nicht auf die EMRK oder die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zurückführen lassen, sind diese erst mit Inkrafttreten der Charta verbindlich geworden. Vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erlassene Dauerverwaltungsakte sowie Rechtsakte, die sich zum Zeitpunkt des späteren gerichtlichen Verfahrens noch in Kraft befanden, sind an der GrundrechteCharta (GRCh) zu messen, da ihre Wirkung sofort für den gesamten Bereich des Unionsrechts eintrat.396
391 Näher hierzu und zu den Fallgruppen, bei denen in der aktuellen Bedeutung natürlich der Datenschutz hervortritt, s Cruz Villalón in: Liber amicorum Melchior Wathelet, 2018, S 317 ff. 392 Vgl Jarass GRCh, Art 51 Rn 39. 393 Vgl in diesem Zusammenhang für die Geltung der lex mitior nach Art 49 I 3 GRCh EuGH, Urt v 6.10.2016, Rs C-218/15 – Paoletti; dazu Gazin, Europe 12/2016, 17. 394 Vgl auch EuGH, Urt v 26.3.2015, Rs C-316/13, Rn 44 ff – Fenoll zu Art 31 GRCh. 395 Vgl zB EuG, Rs T-54/99, Slg 2002, II-313, Rn 57 – max.mobil. 396 Vgl v Danwitz in: EnzEuR Bd 2, § 10 Rn 27.
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VIII. Gewährleistungen, Beeinträchtigungen und Schranken der Unionsgrundrechte 101 Zum Zwecke einer Förderung der „Grundrechtskultur“ hat die EU-Kommission eine
Grundrechts-Checkliste erarbeitet, die bereits im frühen Statium der Vorschlagskonzeption greifen und auch während der Folgenabschätzung bis hin zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der endgültigen Fassung des Entwurfs eines Rechtsaktes zum Tragen kommen soll.397 Die Checkliste, die natürlich keine verfahrensrechtliche Verbindlichkeit besitzt, sondern nur einen zweckmäßigen Fragenkatalog zusammenstellt, hat folgenden Inhalt: 1. Welche Grundrechte sind betroffen? 2. Handelt es sich dabei um absolute Rechte (die in keinem Fall eingeschränkt werden dürfen – zB die Würde des Menschen und das Verbot der Folter)? 3. Wie wirken sich die verschiedenen ins Auge gefassten politischen Optionen auf die Grundrechte aus? Handelt es sich dabei um positive (Förderung der Grundrechte) oder negative Auswirkungen (Einschränkung der Grundrechte)? 4. Haben die Optionen sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die einschlägigen Grundrechte (zB eine negative Auswirkung auf die Freiheit der Meinungsäußerung und eine positive Auswirkung auf das geistige Eigentum)? 5. Sind etwaige Grundrechtseinschränkungen präzise und vorausschauend formuliert worden? 6. Für den Fall, dass es zu Grundrechtseinschränkungen kommen sollte: – Sind diese zur Verwirklichung eines Ziels von allgemeinem Interesse oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten Dritter (welcher?) erforderlich? – Stehen sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel? – Tragen sie dem Wesensgehalt der Grundrechte Rechnung? 102 Die Checkliste orientiert sich stark an den Notwendigkeiten der Grundrechtsprü-
fung im Rahmen der Rechtsetzung der EU und nicht an der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten. Ihrem Zweck entsprechend ist sie auch zu wenig ausdifferenziert, um als allgemeines Schema für die Überprüfung der Grundrechtskonformität von Maßnahmen der Verpflichtungsadressaten verwendet zu werden.398 103 Um zu einer alle Gesichtspunkte berücksichtigenden Prüfung zu gelangen, bieten sich im Sinne eines Schemas die Betrachtung unterschiedlicher Aspekte an, die in Teilen auch in der deutschen Grundrechtsdogmatik ihre Entsprechung finden.
397 Mitteilung KOM (2010) 573; vgl dazu Wehlau/Lutzhöft, EuZW 2012, 45 ff. 398 Noch allgemeiner gehalten ist die Checkliste des Rates der Europäischen Union v 20.1.2015, 5377/ 15.
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Dabei sollte aber stets berücksichtigt werden, dass deutsche und Unionsgrundrechte zwei unterschiedliche Kategorien von Grundrechtsgarantien darstellen, deren Behandlung dogmatisch nicht vermischt werden sollte. Übertragungen von Erkenntnissen sind möglich, aber stets kritisch zu überprüfen. Zunächst ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Unionsgrundrechte nur 104 zum Zuge kommen können, wenn sie anwendbar sind. Hier liegt ein deutlicher Unterschied zum deutschen Recht und Art 1 III GG vor. Da sich die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte insbesondere auf das Handeln der Mitgliedstaaten nicht von selbst versteht, sondern gem Art 51 I 1 GRCh subsumtionsfähigen Vorgaben unterliegt, empfiehlt es sich, diese Frage stets vorab zu prüfen. Sodann ist auf das konkret in Betracht kommende Grundrecht einzugehen. Handelt es sich bei dem Grundrecht um ein subjektives Freiheitsrecht (Abwehrrecht) und nicht nur um einen Grundsatz (Rn 20 ff), lässt sich ebenso wie bei den EMRK-Grundrechten (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 84 ff), aber auch bei den deutschen Grundrechten danach unterscheiden, ob der Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) berührt ist (Rn 107 ff), eine Beeinträchtigung (ein Eingriff) vorliegt (Rn 120 ff) und die Beeinträchtigung zulässig oder nach den maßgeblichen Schrankenregelungen gerechtfertigt ist (Art 52 I GRCh; Rn 123 ff).399 Bei manchen der explizit normierten Verfahrensrechte (zB Art 47 GRCh) kann in Ermangelung eines tauglichen Rechtfertigungsgrundes für einen Eingriff nach Art 52 I GRCh ggf die Rechtfertigungsprüfung sehr kurz ausfallen bzw ganz fortfallen, so dass sich die Grundrechtskonformität oft maßgeblich danach entscheidet, ob eine hinreichende Beeinträchtigung vorliegt.400 Hier lässt sich die Rspr dahingehend deuten, dass der genaue Inhalt dessen, was die grundrechtliche Gewährleistung erfordert, zumeist schon im Schutzbereich präzise definiert wird.401 Freilich ist es nicht
399 Ebenso Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657 (688 ff); Rengeling/Szczekalla GR, Rn 506. 400 Vgl etwa als Bsp zur Frage eines Verstoßes gegen das in Art 47 II 1 GRCh gewährleistete Recht auf ein durch Gesetz errichtetes Gericht (mit der Folge der Aufhebung der ergangenen Urteile) EuGH, Urt v 26.3.2020, verb Rs C-542/18 RX-II u C-543/18 RX-II – Erik Simpson/Rat u HG/Kommission; dazu Leloup, CMLRev 57 (2020), 1139 ff; Simon, Europe 5/2020, 21 f. Ferner EuGH, Urt v 9.9.2021, Rs C546/18, Rn 42 ff – FN ua/Übernahmekommission; Urt v 21.10.2021, verb Rs C-845/19 u C-863/19, Rn 75 ff – DR, TS, Okrazhna prokuratura – Varna; dazu Gazin, Europe 12/2021, 23 f. 401 Vgl etwa EuGH, Urt v 19.6.2018, Rs C-181/16, Rn 54 ff – Gnandi: Für Art 47 GRCh ist zwar kein mehrstufiger Instanzenzug erforderlich, wohl aber ein effektiver Rechtsschutz in dem Sinne, dass neue Umstände auch in einem national vorgesehenen Rechtmittelverfahren berücksichtigt werden müssen und der Rechtsmittelführer (im Falle der Ablehnung eines Aufenthaltstitels) nicht inhaftiert oder sonstigen vollziehenden Vorwirkungen der Rückkehrentscheidung unterworfen werden darf. Ähnl für das Regelungssystem der Brüssel-Ia-VO EuGH, Urt v 25.5.2016, Rs C-559/14 – Meroni = EuZW 2016, 713 m Anm Mäsch; dazu auch Bonifay, Dalloz 2016, 1636 ff; Idot, Europe 7/2016, 40. Für Kosten der Rechtsverfolgung EuGH, Urt v 28.7.2016, Rs C-543/14 – Ordre des barreaux francophones et germanophone ua); dazu Daniel, Europe 10/2016, 23 f.
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ausgeschlossen, dass in besonderen Fällen eine Abwägung mit primärrechtlichen Schutzgütern wie der Funktionsfähigkeit der Verwaltung auf der Rechtfertigungsebene erforderlich wird.402 In anderen Fällen (zB Art 50 GRCh) findet nach allgemeinen Grundsätzen eine Rechtfertigungsprüfung nach Wesensgehaltsgarantie und Verhältnismäßigkeit statt.403 Unionsbürgerrechte ieS, die wie Art 45 GRCh ihre Entsprechung im AEUV finden, sollten im Einklang mit den dort geltenden Regelungen geprüft werden (Art 52 II GRCh; → Kadelbach § 10.2 Rn 1, 40 ff); im Bereich des Wahlrechts (Art 39, 40 GRCh) ergeben sich ähnliche Erwägungen wir im Falle der Verfahrensrechte. Geht es um Gleichheitsrechte oder auch um Leistungsrechte, kann sich eine andere Prüfungsreihenfolge empfehlen. Hier dürfte es angezeigt sein, zweistufig vorzugehen und zu prüfen, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt und sich diese ggf mit Sachgründen rechtfertigen lässt.404 Allerdings muss auch hier insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anwendung finden.405 Der allgemeine Gleichheitssatz (Art 20 GRCh) zeichnet sich durch relativ große Wertungsoffenheit aus. Auch wenn im Einzelnen vieles unklar geblieben ist, dürften die Anforderungen an die Rechtfertigung ähnlich wie im deutschen Verfassungsrecht406 je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse unterschiedlich ausfallen. Eine strengere Prüfung kann auch im Unionsrecht sachgerecht erscheinen, wenn nicht nur Sachverhalte, sondern Personengruppen ungleich behandelt werden.407 Eine schematische Übertragung der deutschen Dogmatik verbietet sich indes. Die Diskriminierungsverbote (etwa des Art 21 GRCh) und besonderen Gleichheitssätze (etwa des Art 23 GRCh) enthalten wesentlich striktere Unterscheidungsverbote. Beispiels
402 Vgl dazu Nowak in: Terhechte, Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2. Aufl 2021, § 12 Rn 36. Für Verteidigungsrechte vgl ausdrücklich EuGH, Rs C-394/07, Slg 2009, I-2563, Rn 29 – Gambazzi. 403 Diese bezieht sich hier auf das zulässige Maß der Doppelbelastung; s EuGH, Urt v 20.3.2018, Rs C524/15 – Menci Luca; Urt v 20.3.2018, Rs C-537/16 – Garlsson Real Estate; Urt v 20.3.2018, Rs C-596/16 – Di Puma. Insofern unterscheidet sich die europarechtliche Konstruktion von Art 103 III GG; s Germelmann/Gundel, BayVBl 2019, 583 (589 m Fn 84). 404 Vgl etwa EuGH, Urt v 15.11.2016, Rs C-258/15, Rn 40 ff – Salaberria Sorondo; EuG, Urt v 10.3.2020, Rs T-251/18 – International Forum for Sustainable Underwater Activities – IFSUA/Rat, Rn 108 ff. Demgegenüber aber → Classen § 9.2 Rn 18. 405 Vgl EuGH, Urt v. 5.7.2017, Rs C-190/16, Rn 35 ff – Werner Fries/Lufthansa CityLine = EuZW 2017, 729 m Anm Sagan; dazu Michel, Europe 10/2017, 37; Urt v 18.10.2017, Rs C-409/16, Rn 37 ff – Maria-Elleni Kalliri = NVwZ 2017, 1686 m Anm Kaiser; dazu Rigaux, Europe 12/2017, 36 f; Urt v 21.10.2021, Rs C824/19, Rn 62 ff – TC ua. S auch EuGH, Urt v 15.7.2021, Rs C-795/19 – Tartu Vangla. Anders (nur Willkürkontrolle) bei dienstrechtlichen Ansprüchen aus dem Beamtenstatut EuGH, Urt v 14.7.2022, verb Rs C-116/21 P bis C-118/21 P, C-138/21 P u C-139/21 P, Rn 127 – Kommission/VW ua. 406 BVerfGE 121, 108 (119); 124, 199 (219); 127, 224 (244). 407 Zum deutschen Recht vgl BVerfGE 103, 310 (318 f); 121, 317 (369).
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weise hat der EuGH die (in Art 5 II RL 2004/113/EG ausnahmsweise zugelassene) Berücksichtigung des Geschlechts bei der Berechnung von Prämien und Leistungen im Bereich des Versicherungswesens und verwandter Dienstleistungen aufgrund einer mathematischen Risikobewertung als Verstoß gegen Art 21 und 23 GRCh angesehen408, obwohl „Unisextarife“ für Frauen im Vergleich zu reinen Risikotarifen nicht nur günstiger (so für die Lebensversicherung), sondern auch ungünstiger (so für die Kfz-Versicherung) sein können. Auch die Wirkungsweise des Gesetzmäßigkeitsprinzips (Art 52 I 1 GRCh) kann bei den Gleichheitsgrundrechten differieren;409 allerdings ist auch hier grundsätzlich eine gesetzliche Grundlage zu fordern. Bei Grundrechten, die auf eine Leistung gerichtet sind, worunter auch verfahrensrechtliche Teilhabeund Ausgestaltungsansprüche zu rechnen sind, ist es im Aufbau auch möglich, sogleich nach den Anspruchsvoraussetzungen zu fragen, statt zu untersuchen, ob das Unterlassen eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung darstellt. Das gilt beispielsweise bei dem Recht auf Akteneinsicht (Art 41 II lit b GRCh), auf Rechtsschutz (Art 47 GRCh) oder auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 AEUV; 42 GRCh).410 Die folgenden Ausführungen beschränken sich im Kern auf die Überprüfung 105 von Freiheitsverstößen. Zu den Gleichheits-, Verfahrens-, Rechtsschutz- und Leistungsgrundrechten vgl die folgenden Abschnitte.
1. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte Die Unionsgrundrechte sind nur anwendbar, wenn es um das Handeln eines Ver- 106 pflichtungsadressaten der Grundrechte geht (Rn 72 ff) – dh der Europäischen Union oder eines Mitgliedstaates – und der räumliche und zeitliche Geltungsbereich der Grundrechte gegeben ist (Rn 100). IdR dürfte in der Fallprüfung insbesondere der Inhalt des Art 51 I 1 GRCh von Bedeutung sein, der immer zu prüfen ist. Liegt zwingendes Unionsrecht vor, muss dieses zwar durch die Mitgliedstaaten befolgt werden. Doch bedarf es auch in solchen Fällen insofern einer Heranziehung der Unionsgrundrechte und einer Prüfung an ihrem Maßstab, weil das Unionsrecht einheitlich ausgelegt werden (Rn 64) und das Sekundär- bzw Tertiärrecht mit den Unionsgrundrechten vereinbar sein muss (Rn 33).
408 EuGH, Rs C‑236/09, Slg. 2011, I-773 – Association belge des Consommateurs Test-Achats ua. 409 Vgl Jarass GRCh, Art 52 Rn 23. 410 Zur Entbehrlichkeit einer Anhörung vor Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls vgl EuGH, Urt v 29.1.2013, Rs C-396/11 – Radu. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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2. Schutzbereich der Unionsgrundrechte a) Sachlicher Schutzbereich der Charta-Rechte aa) Grundrechtlich geschützer Lebensbereich oder geschütztes Rechtsgut 107 Der sachliche Schutzbereich der Freiheitsgrundrechte beschreibt den grundrechtlich geschützten Lebensbereich bzw das geschützte menschliche Verhalten (also zB die Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, freie und friedliche Versammlung usw) oder das geschützte Rechtsgut (zB die Würde des Menschen, Art 1 GRCh; das Recht auf Eigentum, Art 17 GRCh). Der Schutzbereich ist nach unionsrechtlichen Maßstäben (Rn 64), nicht mitgliedstaatlichen, auszulegen. Daher besteht keine Deckungsgleichheit mit den mitgliedstaatlichen Schutzbereichsdefinitionen und den in der dortigen Rspr ggf vorgenommenen Abgrenzungen und Präzisierungen. Für das deutsche Recht kann insbesondere die ausdifferenzierte Rspr des BVerfG zu den Schutzbereichen der Grundrechte des GG nicht auf die europäischen Grundrechte übertragen werden. In Ermangelung von Präzisierungen durch die Rspr des EuGH ist natürlich nicht ausgeschlossen, aus den nationalen Schutzbereichsverständnissen Anregungen zu ziehen. Noch mehr gilt dies allerdings wegen Art 52 III GRCh für die Auslegung der Schutzbereiche der EMRK-Grundrechte. Es erscheint daher zweckmäßig, die einzelnen Hilfsmittel der Auslegung bei der Bestimmung der Schutzbereiche der Unionsgrundrechte zu betrachten.
(1) Auslegungsvorgaben aus dem Verhältnis zu den in den Verträgen geregelten Grundrechten (Art 52 II GRCh) 108 Überschneiden sich die in der GRCh anerkannten Rechte mit denjenigen, die in den Verträgen geregelt sind, soll die Ausübung gem Art 52 II GRCh im Rahmen der dort festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgen. Diese Bestimmung ist aber in verschiedener Hinsicht nicht als zwingende und exakt handhabbare Vorrangnorm zu betrachten; auch der Gerichtshof scheint sie nicht strikt zu verstehen. Zudem ist auch der Anwendungsbereich der Norm nicht groß. Grundsätzlich besteht zwischen den vertraglichen Rechten und Charta-Grundrechten Idealkonkurrenz, sofern sie inhaltlich dasselbe regeln, was zuweilen schon vom Wortlaut her der Fall ist. Art 52 II GRCh ist letztlich die Konsequenz aus dem Wunsch, vertraglich bereits gewährleistete Rechte nochmals im systematischen Zusammenhang in die Grundrechtecharta aufzunehmen, ohne gleichzeitig eine Anpassung in den Verträgen vorzunehmen. Die vertraglichen (subjektiven) Rechte gem Art 52 II GRCh müssen in jedem Falle funktional äquivalent zu den Charta-Rechten sein.411 Das ist für die
411 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 8. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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Mehrzahl der in den Verträgen verankerten subjektiven Rechte nicht der Fall, so dass sie neben den Grundrechten zu Anwendung kommen. So sind beispielsweise die Grundfreiheiten in aller Regel als gegenüber den Grundrechten unterschiedlich in ihren Gewährleistungen einzustufen (Rn 227 ff). Eine Ausnahme besteht im Bereich der Aufenthaltsrechte der Unionsbürger. Die vertraglichen Bedingungen iSd Art 52 II GRCh haben dann auch weniger Bedeutung für die den Schutzbereich definierenden Regelungen, als vielmehr für die Grenzen der jeweiligen aus den Verträgen folgenden Rechte.412 Bestehen unterschiedliche Schrankenregelungen, gelten die vertraglichen Regelungen vorrangig. Sie sind dann in die GRCh hineinzulesen.413 Eine allgemeine Verdrängung der Charta-Rechte ist nicht geboten (Rn 10).414
(2) Auslegung im Lichte der EMRK-Rechte (Art 52 III GRCh) Um die „notwendige Kohärenz“ zwischen der GRCh und der EMRK (einschl der Pro- 109 tokolle) zu schaffen415, bestimmt Art 52 III GRCh, dass die der EMRK entsprechenden Rechte (Rn 36) „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben. Ein weitergehender Schutz der Charta ist nach Satz 2 allerdings nicht ausgeschlossen. Die EMRK und die dazu ergangene Rspr des EGMR stellt damit eine Rechterkenntnisquelle dar (Rn 36), die in der Definition von Schutzbereichen und Schranken zu berücksichtigen ist. Im Falle eines Beitritts der EU zur EMRK (Rn 35) dürfte unabhängig von der Ausgestaltung des Beitrittsabkommens416 der Rspr des EGMR eine noch weitergehende Bedeutung zukommen.
(3) Auslegung im Lichte der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art 52 IV GRCh) Wenn es gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gibt, ist 110 ihnen gem Art 52 IV GRCh Rechnung zu tragen. Damit soll sichergestellt werden,
412 Vgl Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 GRCh Rn 12; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 10. 413 Vgl zum Petitionsrecht (das allerdings kein Freiheits- sondern ein Verfahrens- oder Leistungsrecht darstellt) Art 227 AEUV mit zusätzlichen Bedingungen im Vergleich zu Art 44 GRCh (vgl a Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 21). 414 Jarass GRCh, Art 52 Rn 48. 415 Erläuterungen zu Art 52 III GRCh. 416 Zu dem vor dem EuGH gescheiterten letzten Versuch vgl zB Breuer, EuR 2015, 330 ff; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 6 EUV Rn 14 ff.
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dass die Charta-Rechte ein hohes Niveau bieten.417 Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sind Rechtserkenntnisquellen für die Auslegung der Charta-Rechte in ihren Schutzbereichen und Schranken (vgl auch Rn 12). Hier kommt weiterhin der wertenden Rechtsvergleichung eine Rolle zu.
(4) Die Rolle des (sonstigen) Unionsrechts sowie der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh) 111 Die GRCh verweist des Öfteren nicht nur auf die in den Verträgen geregelten Rechte (Art 52 II GRCh) und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art 52 IV GRCh), sondern auch auf das sonstige Unionsrecht (Art 16, 27, 28, 30, 34 GRCh) sowie vor allem auch auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften (respektive Gesetze) und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh sowie Art 9, 10 II, 14 III, 16, 27, 28, 30, 34, 36 GRCh). Der Inhalt dieser Verweisungen ist dogmatisch nicht einfach einzuordnen. Die Vorschrift des Art 52 VI GRCh ist im Schrifttum als deklaratorisch418 und bloße „Angstklausel“419 bezeichnet worden. Dies dürfte zu weit gehen. Auch wenn die Norm wie die anderen in Art 52 GRCh enthaltenen Absätze auf eine generelle Geltung ausgelegt sind, reduziert sich ihre Bedeutung doch, da letztlich die Auslegung und Verweisung in den einzelnen Grundrechten und Grundsätzen für den jeweiligen Einzelfall maßgeblich ist. Damit bietet sich auch eine differenzierende Deutung an. Zum Teil sind die unionsrechtlichen oder mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten als Ausgestaltung der Tatbestände der Chartanormen zu begreifen. Dabei sind unter Gepflogenheiten quasigesetzliche Normen (wie die privaten Normen des Arbeitsrechts, aber auch das Gewohnheitsrecht) zu verstehen.420 Aus der Inbezugnahme ergibt sich daher in zahlreichen Fällen eine erhebliche Normprägung der Gewährleistungen. Wie diese Ausgestaltung der Garantie rechtlich zu bewerten ist, hängt von der einzelnen Bestimmung ab. Zuweilen betrifft diese nicht die subjektiv-rechtlichen Verbürgungen der Grundrechte ieS (Rn 19), sondern die Grundsätze der GRCh (Rn 20; Fall 1), die vielfach ohnehin der normativen Umsetzung und Ausfüllung bedürfen. Damit entsteht der Gehalt des Grundsatzes erst in Verbindung mit der unionsrechtlichen oder mitgliedstaatlichen Ausformung iSd Art 52 VI GRCh. Die Frage nach rechtfertigungsbedürftigen Eingriffen stellt sich hier nicht.
417 Erläuterungen zu Art 52 IV GRCh. 418 Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 88; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 53 GRCh Rn 35. 419 Rengeling/Szczekalla GR, Rn 479; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 41. 420 Jarass GRCh, Art 52 Rn 79. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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In einem anderen Teil der Fälle können jedoch die Ausgestaltungsvorbehalte 112 durchaus rechtfertigungsbedürftig sein, wenn sie nämlich grundrechtlich dem Grunde nach gewährleistete Freiheiten begrenzen, obgleich sich eine justiziable Rechtsposition erst aus dem Zusammenwirken von Grundrecht und Ausgestaltung ergibt. Dies ist insbesondere in den Situationen möglich, in denen Chartagrundrechte im Sinne echter subjektiv-rechtlicher Verbürgungen auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweisen. Sofern sich hier (1) aus der Auslegung ergibt, dass der Inhalt des Schutzbereichs nur soweit geschützt wird, wie er mit den unionsrechtlichen oder nationalen Ausgestaltungsbestimmungen übereinstimmt, liegt kein Eingriff vor.421 In diesem Fall erscheint eine Schutzbereichsbestimmung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Vorschriften und Gepflogenheiten denkbar, die zu unterschiedlichen Ergebnissen je nach Mitgliedstaat führen kann; dies kann sich etwa in unterschiedlichen Teilhaberechten oder im Falle des Art 27 GRCh unterschiedlichen Arbeitnehmerbeteiligungsrechten manifestieren. Sofern aber (2) aus dem Grundrecht selbst darüber hinaus ein Schutzbereichsgehalt ablesbar ist, den weder die Union noch die Mitgliedstaaten minimalisieren oder gar leerlaufen lassen dürfen, stellen die Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigungen des Schutzbereichs dar. In diesen Fällen ist der Verweis auf das Unionsrecht und/ oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten – ähnlich wie im Falle des Art 21 AEUV422 – dann als Hinweis auf die Einschränkbarkeit der Unionsgrundrechte zu deuten, die im Rahmen des Gesetzesvorbehalts und der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Geltung zu bringen sind.423 IdS hat sich auch der EuGH im Zusammenhang mit Art 28 GRCh geäußert (Fall 11).424 Vergleichend kann zudem darauf hingewiesen werden, dass auch das BVerfG gesetzliche Inhaltsbestimmungen des Eigentums iSd Art 14 I 2 GG einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzieht425 und eine entsprechende Konstruktion auch bei Art 17 I 3 GRCh vorgesehen ist.426 Bleiben in derartigen Fällen die unionalen oder mitgliedstaatlichen Regelungen hinter dem zurück, was die Charta unter Berücksichtigung der Art 52 III u IV
421 IdS wohl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 49. 422 Vgl EuGH, Rs C-413/99, Slg 2002, I-7091, Rn 80 ff – Baumbast. 423 Vgl idS auch Kober Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2009, S 227 (230); Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 91 f; Jarass GRCh, Art 52 Rn 80. 424 Vgl auch EuGH, Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779, Rn 44 – International Transport Workers’ Federation ua/Viking Line ua; Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767, Rn 91 – Laval. 425 Vgl zB BVerfGE 50, 290 (341); 53, 257 (292); 71, 230 (246 f); 74, 203 (214); 95, 64 (84 ff). 426 Dazu etwa EuGH, Urt v 5.5.2022, Rs C-83/20, Rn 55 f – BPC Lux 2 Sàrl ua = EuZW 2022, 760 m Anm Witte; dazu Simon, Europe 7/2022, 29 f; Urt v 1.8.2022, Rs C-352/20 – HOLD = EuZW 2022, 900 m Anm Bartlitz; Urt v 27.1.2022, verb Rs C-234/20 u C-238/20, Rn 66 ff – Sātiņi-S; dazu Bassani-Winckler, Europe 3/2022, 35 f.
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GRCh selbst schützt, müssen sie sich am Maßstab der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen lassen können. Auch wenn der Bindungsgehalt für die subjektiv-rechtlichen Verbürgungen (anders als für die Grundsätze) nicht sehr hoch zu veranschlagen ist, kommt für sie aus der Normierung des Art 52 VI GRCh dann zum Ausdruck, dass den Gesetzgebern ein größerer Regelungsspielraum eingeräumt werden soll, der insbesondere bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Geltung zu bringen ist.427 So dürfen das Eherecht (Art 9) und das Recht der Kriegsdienstverweigerung (Art 10 II) in erheblichem Umfange von den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern bestimmt werden, soweit hier die Unionsgrundrechte anwendbar sind.
(5) Die Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents als Auslegungshilfe 113 Gem Art 52 VII GRCh sind die vom Präsidium des Europäischen Konvents verfassten Erläuterungen zur GRCh (Rn 64) von den Gerichten der Union (aber auch den sonstigen Organen, Einrichtungen und Stellen) sowie den Mitgliedstaaten „gebührend“ zu berücksichtigen.428 Hierbei handelt es sich um gewichtige Auslegungsgesichtspunkte, nicht aber um rechtsverbindliche Vorgaben (Rn 64). Sie sind auch in Hinblick auf die einzelnen Grundrechte unterschiedlich ausführlich.
(6) Das Schutzniveau im Verhältnis zu den sonstigen menschenrechtlichen Gewährleistungen als Auslegungsregel (Art 53 GRCh) 114 Eine zwar pauschale, aber gleichwohl in ihrer teleologischen Grundaussage wesentliche Auslegungsregel enthält Art 53 GRCh. Hiernach darf keine Bestimmung der Charta als Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen sein, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union, das Völkerrecht oder die Verfassung der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Die Vorschrift tritt zu den Regelungen des Art 6 EUV, 52 GRCh hinzu und wiederholt im Wesentlichen den Regelungsgehalt der Art 6 III EUV, 52 III, IV GRCh. Denn wenn die Bestimmungen der Charta ohnehin bereits im Lichte der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszulegen sind, so ist es naheliegend, dass deren Schutzniveaus erreicht werden. In Bezug auf das Völkerrecht hat die Norm für das Unionsrecht kaum eigenständige Bedeutung, weil das europäische regionale Schutzniveau typischerweise das globale übertrifft. Das Völkerrecht ist auch nur von Belang, soweit es die Union oder alle Mitgliedstaa-
427 Vgl a Jarass GRCh, Art 52 Rn 46. 428 Vgl a Art 6 I UAbs 3 EUV. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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ten bindet, so dass andere regionale Spezialgewährleistungen nicht für die Bestimmung des Schutzniveaus iSd Art 53 GRCh herangezogen werden können. Auf das von Art 53 GRCh angesprochene Schutzniveau der Verfassungen der Mitgliedstaaten kommt es daher vor allem dann an, wenn sie nicht ohnedies „gemeinsame“ Verfassungsüberlieferungen iSd Art 52 IV GRCh wiedergeben. Allerdings kann auch hier nur eine abstrakt-generelle und keine einzelfallbezogene Niveaubestimmung vorgenommen werden. Denn keinesfalls stellt Art 53 GRCh eine Transferklausel dar, die andere Gewährleistungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten in die Charta-Grundrechte inkorporiert und damit entweder einen Mindestschutz garantiert oder eine automatische „Hochzonung“ auf das jeweils höchste Schutzniveau bewirkt.429 Vielmehr schafft Art 53 GRCh im Kern eine Zweifelsregelung, die für einen möglichst weitgehenden Grundrechtsschutz und ein weites Schutzbereichsverständnis dort spricht, wo das auch in anderen grundrechtlichen Gewährleistungen anerkannt ist. Auf diesem Wege erscheint es also nicht ausgeschlossen, etwa auch die ausdifferenzierte und schutzintensive Grundrechtsdogmatik des deutschen Verfassungsrechts als Auslegungshilfe der Grundrechtecharta einzuführen. Im Übrigen finden die parallelen Grundrechte nebeneinander Anwendung, 115 sofern das Unionsrecht dies gestattet (Rn 92). Das kann im Überschneidungsfall zu einer Meistbegünstigung führen, weil die Berechtigten der Unionsgrundrechte sich auf die weiterreichenden Grundrechte berufen können.430 Allerdings darf die Meistbegünstigung weder den Vorrang noch die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen (Fall 9).431 Hieran ändert auch die grundrechtsfreundliche Grundaussage des Art 53 GRCh nichts, da er keine klare Konfliktregel für das Verhältnis von Unionsgrundrechtsschutz und anderen grundrechtlichen Gewährleistungen enthält. Kommt es in mehrpoligen Rechtsverhältnissen zu Grundrechtskollisionen zwischen den Unionsgrundrechten und den nationalen Grundrechten, gilt das Meistbegünstigungsprinzip nicht uneingeschränkt, weil die Anhebung des Schutzstandards für einen Grundrechtsträger den nach dem Unionsrecht gebotenen, mit Vorrang geltenden Mindestschutz eines anderen betroffenen Grundrechtsträgers nicht unterschreiten darf (Rn 92). Auch hier ist indes die Abwägung innerhalb der unionsprimärrechtlichen Normenstufe zu treffen. Lässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten mehrere unionsgrundrechtekonforme Umsetzungsmöglichkeiten (wie dies etwa bezogen auf das Eigentumsgrundrecht nach Art 17 GRCh auf die
429 Vgl Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 53 GRCh Rn 9; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 53 GRCh Rn 3 ff; Niedobitek in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 159 Rn 72 f. 430 Vgl statt vieler Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 53 GRCh Rn 5. 431 Vgl auch EuGH, verb Rs C-188/10 u C-189/10, Slg 2010, I-5665, Rn 51 ff – Melki u Abdeli.
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Entflechtung der Übertragungsnetze von Energieleitungen zutrifft432) und ist eine der Umsetzungsmöglichkeiten mit den nationalen Grundrechten unvereinbar (wie dies in Deutschland für die eigentumsrechtliche Entflechtung teilweise behauptet worden ist433), stünde es dem Mitgliedstaat offen, eine Wahl innerhalb des unionsrechtlichen Rahmens kraft der Vorgabe des nationalen Verfassungsrechts zu treffen.
(7) Konkurrenzen und Kollisionen der Unionsgrundrechte 116 Von einer Grundrechtskonkurrenz lässt sich sprechen, wenn ein Verhalten des
Grundrechtsträgers mehrere Grundrechte betrifft, von einer Kollision, wenn die Grundrechte mehrerer Grundrechtsträger miteinander in Konflikt geraten.434 Im Falle einer Grundrechtskonkurrenz besteht grds Idealkonkurrenz, so dass die Grundrechte kumulativ nebeneinander anzuwenden sind. Dies geschieht in der Praxis indes typischerweise dann nicht, wenn es sich um identische Grundrechtsinhalte handelt, die in unterschiedlichen Texten derselben Normstufe enthalten sind. Hier greift die Rspr idR nur auf eine der Gewährleistungen zurück, so dass man davon ausgehen kann, dass hier lediglich die mehrfache textliche Verankerung ein und derselben Grundrechtsgewährleistung vorliegt. Anders ist dies, wenn zugleich ein Gleichheits- und ein Freiheitsrecht betroffen sind.435 Keine Idealkonkurrenz ist anzunehmen, wenn sich eine grundrechtliche Gewährleistung als spezieller erweist: Das gilt etwa für das Verbot der Folter (Art 4 GRCh) gegenüber dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art 3 GRCh) oder das Verbot der Zwangsarbeit (Art 5 II GRCh) gegenüber der negativen Berufsfreiheit (Art 15 GRCh436). Das allgemeinere Grundrecht tritt dann zurück.437 In seltenen Fällen kann im Wege der Auslegung am Maßstab eines Grundrechts der Schutzbereich eines anderen Grundrechts eingeschränkt werden. Bspw ist einem Berufsverbrecher oder einem Rauschgifthändler die Berufung auf die Unionsgrundrechte der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh) oder unternehmerischen Freiheit (Art 16 GRCh) verschlossen, weil die Tätig-
432 Vgl EuGH, Urt v 2.9.2021, Rs C-718/18, Rn 19 ff – Kommission/Deutschland = EuZW 2021, 893 m Anm Scholtka = N&R 2021, 297 m Anm Meinzenbach/Klein/Uwer; dazu Gundel, EnWZ 2021, 339 ff; Mussaeus/Küper/Lamott, RdE 2022, 9 ff; Weyer, KlimR 2022, 83 ff. 433 Vgl Mayen/Karpenstein, RdE 2008, 33; Möllinger, Eigentumsrechtliche Entflechtung der Übertragungsnetze, 2009, S 237 ff. 434 Vgl statt vieler Jarass/Kment, GR, § 6 Rn 12 ff, 16 ff; ferner bereits Rn 28. 435 Vgl EuGH, Urt v. 5.7.2017, Rs C-190/16 – Werner Fries/Lufthansa CityLine: Art 21 GRCh (Altersdiskriminierung) und Art 15 GRCh. 436 Frenz GR Rn 488. 437 Jarass/Kment, GR, § 6 Rn 14.
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keit der Garantie der Menschenrechte (Art 1 GRCh) schlechthin zuwiderläuft. Kollidiert der Grundrechtsgebrauch des einen Grundrechtsinhabers mit dem Grundrechtsgebrauch eines anderen (wie dies zB im Falle einer Kollision des Rechts auf Achtung des Privatlebens, Art 7 GRCh, mit der Kunstfreiheit, Art 13 GRCh, der Fall sein kann), sind die gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen im Rahmen der Schrankenregelung (nicht des Schutzbereichs) gem dem Prinzip des „gerechten Gleichgewichts“ bzw der praktischen Konkordanz miteinander in Einklang zu bringen.438 So wäre in dem skizzierten Beispielsfall zu fragen, ob sich die Einschränkung des Rechts auf Achtung des Privatlebens durch das kollidierende Grundrecht der Kunstfreiheit rechtfertigen lässt. Dementsprechend bestimmt auch Art 52 I 2 GRCh, dass der Schutz „der Rechte und Freiheiten anderer“ ein legitimer Grund für die Einschränkung von Grundrechten sein kann.
bb) Schutzbereich der ungeschriebenen Unionsgrundrechte Soweit der EuGH vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon Grundrechte als un- 117 geschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt hat, fehlt es zuweilen an einer genauen Umschreibung des Schutzbereichs. Allerdings spielen hier die Rechtserkenntnisquellen des Art 6 III EUV für die Auslegung eine wesentliche Rolle. Indes hat sich der EuGH früher oftmals sogleich der Rechtfertigungsprüfung zugewandt.439 Für die Kreierung neuer allgemeiner Rechtsgrundsätze grundrechtlicher Provenienz (Art 6 III EUV) ist erst recht eine genaue Konturierung des Schutzbereichs erforderlich, um eine Abgrenzung zu den geschriebenen Charta-Rechten und die Existenz einer Schutzlücke zu belegen.
438 Vgl etwa EuGH, Urt v 27.3.2014, Rs C-314/12, Rn 46 – UPC Telekabel Wien; Urt v 18.10.2018, Rs C149/17, Rn 45 – Bastei Lübbe; Urt v 24.9.2019, Rs C-136/17, Rn 78 – GC ua/CNIL; Urt v 29.7.2019, Rs C469/17 – Funke Medien NRW; Urt v 29.7.2019, Rs C-516/17, Rn 38 – Spiegel Online/Beck = MMR 2019, 588 m Anm Hoeren/Düwel; dazu Simon, Europe 10/2019, 39 f; Urt v 29.7.2019, Rs C-476/17, Rn 34 – Pelham ua/Hütter ua = NJW 2019, 2913 m Anm Schulze = ZUM 2019, 738 m Anm Hieber S 746 ff u Thonemann/Farkas, ZUM 2019, 748 ff; dazu auch Leistner, GRUR 2019, 1008 ff; Simon, Europe 10/2019, 40 f. Zur Abwägung zwischen den Unionsgrundrechten und den sonstigen rechtlich geschützten Interessen vgl EuGH, Urt v 13.5.2014, Rs C-131/12, Rn 81 – Google Spain. Ferner für die Abwägung mit der Autonomie der Religionsgemeinschaften nach Art 17 AEUV EuGH, Urt v 17.4.2018, Rs C-414/16, Rn 64 ff – Egenberger; Urt v 11.9.2018, Rs C-68/17, Rn 57 ff – IR/JQ. 439 Krit Nettesheim, EuZW 1995, 106 f; Huber Recht der Europäischen Integration, 2002, S 103; Pauly, EuR 1998, 253 ff; Stieglitz Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 2002, S 118 f, 145 f.
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cc) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Unionsgrundrechte 118 Eine praktisch wenig bedeutsame Bestimmung enthält Art 54 GRCh. Sie zielt darauf ab zu verhindern, dass die Unionsgrundrechte missbräuchlich in Anspruch genommen werden. Die Vorschrift ist in ihrem Wortlaut Art 17 EMRK nachgebildet worden (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 92) und soll nach den Erläuterungen zur Charta (Rn 64, 113) dieser Bestimmung sachlich entsprechen. Nach ihr darf keine Bestimmung der Charta so ausgelegt werden, „als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als dies in der Charta vorgesehen ist“. Die Vorschrift ist dabei in Hinblick auf ihren Adressatenkreis deutlich weniger klar als ihr EMRK-Vorbild. Wie die Anknüpfung an Art 17 EMRK und den dort auch als Adressaten des Missbrauchsverbots genannten Staat sowie die Handlungsmodalitäten „abschaffen oder einschränken“ zeigen, werden aber auch die Verpflichtungsadressaten (EU, Mitgliedstaaten) durch die Vorschrift in die Pflicht genommen.440 Insoweit wirkt das Missbrauchsverbot nicht als Schutzbereichsbegrenzung, sondern als Schranken-Schranke. Sie untersagt den Hoheitsträgern, die Möglichkeit der Grundrechtseinschränkung (Beeinträchtigung) zu missbrauchen. Dieses Verbot soll dem Schutz von Rechtsstaat und Demokratie dienen. Daneben wendet sich das Missbrauchsverbot in einer nach dem Wortlaut weit weniger klaren Weise an die Grundrechtsberechtigten.441 Handeln diese missbräuchlich, ist der Schutzbereich der einschlägigen Grundrechtsverbürgung (mangels Rechtsbegründung) nicht eröffnet.442 Insofern besteht eine Parallelität zum Missbrauchsverbot, welches auch bei den Grundfreiheiten, wenn auch in engen Grenzen, anerkannt ist; es stellt sich als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts dar (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 102).443 Hierbei geht es weniger um eine Einschränkung der Grundrechte durch das Handeln, sondern um eine gezielte Verfehlung ihres Schutzzwecks. An das Vorliegen eines Missbrauchs sind strenge Anforderungen zu stellen, so dass bei allen Adressaten nur in extremen Ausnahmefällen von einem Missbrauch ausgegangen werden kann; es muss das Ziel einer „Abschaffung“, also einer Bekämpfung der grundrechtlichen Ordnung ver-
440 AA Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 54 GRCh Rn 2 (mit Hinw darauf, dass Grundrechtsverpflichtete Befugnisse, aber keine Rechte haben); Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 54 GRCh Rn 3. 441 Vgl auch Sudre in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 54 Anm 5. 442 Ebenso Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 54 GRCh Rn 3. AA Jarass GRCh, Art 54 Rn 3. 443 EuGH, Rs C-321/05, Slg 2007, I-5795 – Kofoed; Simon/Rigaux, in Mélanges en hommage à Guy Isaac, tome II, 2004, S 559 ff; Buckler, EuR 2018, S 371 ff. S auch Szpunar in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, S 623 (624 ff).
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folgt werden.444 Dabei kann ein Missbrauch nicht von vornherein im Hinblick auf bestimmte Grundrechtsgewährleistungen (wie den Justizgrundrechten) ausgeschlossen werden, wenngleich die Anwendungsfälle hier selten sein werden.445 Ist missbräuchliches Handeln anzunehmen, führt dieses anders als in der Konstruktion des Art 18 GG nicht zur Grundrechtsverwirkung, sondern nur zu einer Versagung des Grundrechtsschutzes im Einzelfall.446 Für die Hoheitsträger dürfte das Missbrauchsverbot wegen der Schrankenregelungen des Art 52 I 2 GRCh noch weniger Bedeutung haben als für die Grundrechtsberechtigten.447
b) Personeller Schutzbereich In personeller Hinsicht ist der Schutzbereich der Unionsgrundrechte berührt, wenn 119 eine Grundrechtsberechtigung (Grundrechtsträgerschaft) der das Grundrecht in Anspruch nehmenden Person vorliegt (Rn 66 ff). Abzustellen ist auf das jeweils einschlägige Grundrecht, nicht nur darauf, wer generell Grundrechtsberechtigter sein kann. So wird der personelle Schutzbereich eines höchstpersönlichen Grundrechts (etwa das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, Art 3 GRCh) bspw nicht tangiert, wenn sich eine juristische Person darauf beruft.
3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der Unionsgrundrechte Eine grundrechtlich geschützte Freiheit kann nur verletzt werden, wenn die Frei- 120 heit beeinträchtigt wird. Art 52 I GRCh spricht von Einschränkungen. Der EuGH448 verwendet ebenso wie der EGMR (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 85) zT auch den Begriff des Eingriffs. Die Bezeichnungen kann man als Synonyma begreifen. Auch der Begriff der Beeinträchtigung ist im gleichen Sinne zu verstehen. Wichtig ist die Unterschiedung zur Begrifflichkeit bei den Grundfreiheiten. Es liegt bei den Grundrechten eine grundlegend andere Situation als bei den „Beschränkungen“ der
444 Sudre in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 54 Anm 12. 445 ZB fehlt beim Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs in diesem engen Sinne das Rechtsschutzbedürfnis für die Einlegung eines Rechtsbehelfs. Für das deutsche Recht vgl Ehlers in: Schoch/ Schneider, Verwaltungsrecht, Loseblatt, Vorb § 40 VwGO Rn 98 ff. AA Rengeling/Szczekalla GR, Rn 504; Jarass GRCh, Art 54 Rn 2; Hoppe in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 54 Rn 16. 446 Vgl näher zu diesem Verwirkungseffekt unter Berücksichtigung der Praxis des EGMR Sudre in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 54 Anm 11 ff. 447 Vgl auch Sudre in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 54 Anm 21 ff. 448 EuGH, Rs C-465/00, Slg 2003, I-4989, Rn 74 – Rechnungshof/Österreichischer Rundfunk; verb Rs C-482/01 u C-493/01, Slg 2004, I-5257, Rn 98 f – Orfanopoulos u Oliveri; verb Rs C-184/02 u C-223/02, Slg 2004, I-7789, Rn 52 – Spanien u Finnland/Parlament u Rat.
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Grundfreiheiten vor, weil dort im Gewährleistungsgehalt zwischen Beschränkungsverboten und Diskriminierungsverboten zu unterscheiden ist (→ Ehlers/ Germelmann § 12 Rn 38 ff, 41 ff); diese Unterscheidung besteht bei den Freiheitsgrundrechten nicht. Bei den Gleichheitsrechten sowie Leistungsrechten liegt die Beeinträchtigung in der Ungleichbehandlung bzw Vorenthaltung einer geschuldeten Leistung. Auch hier ist ein Vergleich mit den Grundfreiheiten nicht angezeigt. Allerdings genügen auch im Falle der Gleichheitsgrundrechte mittelbare Diskriminierungen für die Annahme eines Eingriffs.449 121 Insgesamt besteht bei den Unionsgrundrechten in entsprechender Weise wie auf dem Gebiet der EMRK (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 85) keine elaborierte Beeinträchtigungsdogmatik der Rspr.450 Dies wirkt sich auf die Frage der erforderlichen Intensität der Beeinträchtigung aus. In jedem Fall erfordert eine Beeinträchtigung das Handeln oder handlungspflichtwidrige Unterlassen eines Verpflichtungsadressaten (Rn 72 ff).451 Eine Beeinträchtigung kann durch Gesetz oder Einzelfallentscheidung geschehen. Bei der Qualität der Grundrechtsbelastung wird in der deutschen Grundrechtsdogmatik zwischen klassischen (finalen) und mittelbar-faktischen Eingriffen unterschieden. Dabei sind die klassischen Eingriffe handlungsbezogen durch die Merkmale Rechtsakt, Finalität des Handelns, Unmittelbarkeit der Bewirkung und/ oder Handeln durch Befehl oder Zwang gekennzeichnet; bei den mittelbar-faktischen Eingriffen wird wirkungsbezogen auf den Erfolg abgestellt; es soll ausreichend sein, wenn ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird.452 Diese Unterscheidung ist auf die Unionsgrundrechte nicht übertragbar, da sie spezifisch dem deutschen Verfassungsrecht entstammt. Allerdings ist die Problemlage übertragbar, da die Grundrechte allgemein nicht Nachteilszuführungen jeglicher Art abwehren sollen, sondern insoweit eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschritten werden muss.453 Im Bereich des Unionsrechts spricht Vieles für ein weites Eingriffsverständnis; Art 52 I 1 GRCh spricht von „[j]ede[r] Einschränkung“. Dass unmittelbare und finale Einschränkungen die Unionsgrundrechte beeinträchtigen, unterliegt keinem Zweifel. Da der EuGH ähnlich wie der EGMR (→ Ehlers/ Germelmann § 2.1 Rn 85) zu Recht von einem weiten Beeinträchtigungs- bzw Beschränkungsverständnis (etwa iSe Gleichsetzung mit Belastung) ausgeht, werden ferner auch mittelbare Auswirkungen hoheitlicher Maßnahmen auf die grundrecht
449 Vgl EuGH, Urt v 6.4.2017, Rs C-668/15, Rn 27 – Jyske Finans A/S; Urt v 15.11.2018, Rs C-457/17, Rn 47 f – Maniero; Urt v 10.6.2021, Rs C-94/20 – Land Oberösterreich/KV. 450 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 56. 451 Jarass GRCh Art 52 Rn 10. 452 Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 339 ff. 453 Ehlers, JZ 2012, 623 (624 f).
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lich geschützten Güter erfasst.454 Dabei müssen eine gewisse Nähebeziehung zwischen Maßnahme und beeinträchtigender Wirkung wie auch eine gewisse Spürbarkeit (Eingriffsschwelle)455 gegeben sein, die allerdings nicht zu hoch anzusetzen ist. Eine Beeinträchtigung ist etwa gegeben, wenn in grundrechtsrelevanten Bereichen ein präventives Verbot mit Genehmigungsvorbehalt besteht (bereits diese gesetzliche Regelung hat Eingriffscharakter) und die Genehmigung (etwa für eine unternehmerische Betätigung) verweigert wird (weil sich das präventive Verbot dann in ein endgültiges umwandelt). Auch wenn sich der grundrechtsverpflichtete Hoheitsträger privater Dritter bedient456, damit diese den Grundrechtsberechtigten Nachteile zufügen (zB Förderung eines privaten Vereins, der aggressiv gegen bestimmte Religionsgemeinschaften vorgeht), liegt eine Beeinträchtigung vor.457 Den Charakter von Beeinträchtigungen haben auch umsetzungsbedüftige Sekundärrechtsakte der Union, sofern die Umsetzungspflicht die Grundrechte beeinträchtigt (mögen die Berechtigten eine Grundrechtsverletzung auch erst nach Umsetzung oder unmittelbarer Anwendung der sekundärrechtlichen Bestimmungen geltend machen können). Ungeklärt ist bislang, ob ein Grundrechtseingriff auch dann in Frage kommen kann, wenn nur eine von mehreren vorgegebenen Umsetzungsoptionen die Unionsgrundrechte berührt.458 Dies dürfte wegen der Ermöglichung grundrechtswidriger Umsetzungen und wegen der Folgewirkungen für alle Mitgliedstaaten zu bejahen sein. Den Rechtsakten sind die (in der unionsrechtlichen Rspr in diesem Zusammenhang bisher eher selten relevant gewordenen) Realakte (zB negative Auskünfte)459 jedenfalls dann gleichzustellen, wenn diese unmittelbar und/oder gezielt die grundrechtliche Rechtssphäre betreffen.460 Während Realakte der Union seltener sein dürften, kann sich die Problematik im Falle mitgliedstaatlichen Handelns in gleicher Weise wie im Falle der nationalen Grundrechte stellen. An einer Grundrechtsbeeinträchtigung fehlt es, wenn der Grundrechtsträger in 122 zulässiger Weise in die Beeinträchtigung einwilligt bzw auf seinen Grundrechtsschutz verzichtet hat. Teilweise knüpfen Unionsgrundrechte ausdrücklich an das Vorliegen einer Einwilligung an (Art 3 II lit a, 8 II GRCh). Unerheblich sind Einwil-
454 Vgl EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 81 – Deutschland/Rat, Rs C-84/95, Slg 1996, I-3953, Rn 22 f – Bosphorus; ferner Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 56; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 20. 455 AA Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 10 Rn 24; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 517. 456 Vgl EuGH, Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 28 – Metronome Musik. 457 Näher zum Ganzen Jarass GRCh, Art 52 Rn 13, 17. 458 Vgl dazu Kühling in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 657 (690). 459 Für Bsp vgl Rademacher Realakte im Rechtsschutzsystem der Europäischen Union, 2014, S 77 ff. 460 Vgl auch EuGH, Rs C-404/92 P, Slg 1994, I-4737, Rn 23–X/Kommission; Rs C-465/00, Slg 2003, I4989, Rn 74 – Rechnungshof/Österreichischer Rundfunk.
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ligung oder Verzicht aber, wenn keine Freiwilligkeit gegeben ist461 oder ihnen Unionsinteressen von erheblichem Gewicht entgegenstehen.462 Insb kann auf die Menschenwürde (Art 1 GRCh) niemals verzichtet werden. Unterliegen die Grundrechte der Ausgestaltung nach Maßgabe des Unionsrechts und/oder der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh), kommt es nach der hier vertretenen Auffassung darauf an, ob im Einzelfall der Schutzbereich gänzlich für eine Ausgestaltung offengehalten wird oder ob es sich um Rechtfertigungsanforderungen handelt, die der Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten müssen, weil die Ausgestaltung in eine bereits durch die GRCh grundrechtlich geschützte Position eingreift (Rn 112). Dies ist für das jeweilige Grundrecht durch Auslegung zu bestimmen.
4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Unionsgrundrechte a) Einschränkbarkeit der Grundrechte 123 Die Unionsgrundrechte gelten – grds – nicht uneingeschränkt. Anders als die EMRK
(→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 87 ff) hat die GRCh in regelungstechnischer Hinsicht davon Abstand genommen, für jedes einzelne Grundrecht Schrankenvorbehalte vorzusehen. Stattdessen enthält Art 52 I GRCh eine allgemeine (horizontale) Schrankenregelung463 für im Grundsatz alle in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten. Insofern sind zwei Präzisierungen vorzunehmen: Vereinzelt wird die Regelung durch besondere Schrankenregelungen der Einzelgrundrechte ergänzt (Art 8 II 1, 17 I 2 GRCh). Da es überdies Art 52 I GRCh um die Art und Weise der Grundrechtsbeschränkung und nicht um das Ob geht, schließt das vorbehaltslos gewährleistete Grundrechte nicht aus.464 Dies bestimmt sich nach der Auslegung der jeweiligen Grundrechtsgewährleistung, wobei die Vorbehaltslosigkeit die Ausnahme darstellt. Anzunehmen ist sie aus Gründen der Natur der Sache zB für die Würde des Menschen (Art 1 GRCh)465 und die damit zusammenhängenden Garan-
461 Vgl EuGH, Urt v 17.10.2013, Rs C-291/12, NVwZ 2014, 435 ff, Rn 32 – Schwarz. 462 Vgl auch Jarass/Kment GR, § 6 Rn 18. 463 Ausf zur Schrankendogmatik Kober Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2009, S 192 ff. 464 Vgl Winkler Die Grundrechte der Europäischen Union, 2006, S 248; Schwerdtfeger in: Meyer/ Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 27. 465 Vial in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 1 Anm 16; Van Drooghenbroeck/Rizcallah ebd, Art 52-1 Anm 4. Vgl implizit auch EuGH, Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, Rn 85 ff – Aranyosi und Căldăraru.
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tien des Verbotes der Folter (Art 4 GRCh)466 und der Sklaverei (Art 5 GRCh)467 oder das Verbot von Kollektivausweisungen (Art 19 I GRCh). Dies ergibt sich für das zuletzt genannte Grundrecht auch aus den vorbehaltslos gewährleisteten Garantien der Art 3, 4 I ZP Nr 4 zur EMRK iVm Art 52 III GRCh. In solchen Fällen kann es höchstens zu einer Begrenzung des Grundrechtschutzes auf der Tatbestandsebene kommen, wenn und soweit sich die Grundrechtsnormierungen in Abwägung mit anderen Normierungen oder uU auch sonstigen Bestimmungen des Unionsrechts restriktiv interpretieren lassen.468 Ob kollidierendes Unionsrecht im Interesse der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Unionsrechtsordnung die vorbehaltslos gewährleisteten Unionsgrundrechte einzuschränken vermag469, ist in der Rspr bisher nicht geklärt. Für die Grundwerte der Union wie Art 1, 4, 5 GRCh wird man das nicht annehmen können, da diese abwägungsfest sind.470 Überdies wird sich die Frage kaum je stellen, da die meisten Konfliktfälle bereits auf der Ebene der Schutzbereichsinterpretation oder der Eingriffsschwelle geklärt werden, wie dies zB bei einer strengen Interpretation der auf die Menschenwürdegarantie bezogenen Gewährleistungen in Betracht kommt.471 Die allgemeine Schrankenbestimmung des Art 52 I GRCh ist für die Rechtfer- 124 tigungsprüfung maßgeblich. Grundrechtseinschränkungen sind also stets an der Wesensgehaltsgarantie und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen, wie dies Art 52 I GRCh ausdrücklich vorschreibt. Die zusätzlichen Vorgaben des Art 52 II-IV und VI GRCh (Rn 109 f) treten daneben, sind allerdings in ihrer Bedeu
466 EuGH, Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, Rn 85 ff – Aranyosi und Căldăraru = NJW 2016, 1709 m Anm Böhm = JZ 2016, 617 m Anm F Meyer = EuR 2016, 421 (nur LS) m Anm Schwarz; dazu auch Anagnostaras, CMLRev 53 (2016), 1675 ff; Bribosia/Weyembergh, JDE 2016, 225 ff; Gazin, Europe 6/2016, 18 ff; Urt v 16.2.2017, Rs C-578/16 PPU, Rn 59, 69 – CK ua; Urt v 19.3.2019, Rs C-163/17, Rn 78 – Jawo; Urt v 15.10.2019, Rs C-128/18, Rn 62, 82 – Dorobantu; dazu Gazin, Europe 12/2019, 20 f.; Rizcallah, JDE 2020, 62 ff. 467 Vial in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 1 Anm 17. 468 Vgl auch → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 87. Für den besonderen Fall der Verweigerung der gegenseitigen Anerkennung beim Europäischen Haftbefehl wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen vgl etwa EuGH, Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, Rn 85 ff – Aranyosi und Căldăraru; Urt v 25.7.2018, Rs C-220/18 PPU, Rn 60 ff – ML – Generalstaatsanwaltschaft (Haftbedingungen in Ungarn); dazu Rubi-Cavagna, Rec Dalloz 2018, 1899 ff. 469 Zur Rechtsfigur des kollidierenden Verfassungsrechts als immanente Grundrechtschranke der deutschen Grundrechte vgl Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 396 ff. 470 Vgl die Begründungslinien in EuGH, Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, Rn 85 ff – Aranyosi und Căldăraru; Urt v 16.2.2017, Rs C-578/16 PPU, Rn 59, 69 – CK ua; Urt v 19.3.2019, Rs C163/17, Rn 78 – Jawo; Urt v 15.10.2019, Rs C-128/18, Rn 62, 82 – Dorobantu. 471 Vgl etwa EuGH, Urt v 19.3.2019, Rs C-163/17, Rn 91 ff – Jawo; Urt v 19.3.2019, verb Rs C-297/17, C318/17, C-319/17 u C-438/17 – Ibrahim ua; zu beiden Urteilen Wendel, JZ 2019, 983 ff; Lübbe, EuR 2019, 352 ff.
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tung auf der Rechtfertigungsebene wegen des umfassenden Prüfungsprogramms des Art 52 I GRCh deutlich reduziert. Die Kohärenzvorschrift des Art 52 III GRCh und die Auslegungsregeln der Art 52 IV u VI GRCh sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Ggf führt dies zu einer ergänzenden Heranziehung der Wertungen der Einschränkungsvorbehalte der EMRK-Rechte.472 In Bezug auf die vorrangige Berücksichtigung von im Vertrag vorgesehenen Schranken nach Art 52 II GRCh ist im Regelfall von einer Modifizierung der Vorgaben des Art 52 I GRCh473 und nicht von einer vollständigen Verdrängung auszugehen,474 wenn das Charta-Grundrecht geprüft wird. Sofern sich die Gewährleistung indes wie im Falle der Unionsbürgerrechte nach der Parallelgewährleistung des Vertrages bestimmt, kommen die dortigen Schrankenbestimmungen zur Anwendung. 125 Für die ungeschriebenen Grundrechte iSd Art 6 III EUV (Rn 11 ff), gelten heute die Schrankenregelungen, wie sie Art 52 I GRCh entsprechen, weil sich hieraus heute der gemeinsame Rechtsstandard der Mitgliedstaaten entnehmen lässt. Die vom EuGH im Wege der Rechtsgewinnung abweichend entwickelten Schranken erscheinen insoweit obsolet. Die Standards des Art 52 I GRCh müssen dementsprechend auch bei etwaigen neuen Unionsgrundrechten berücksichtigt werden.
b) Gesetzesvorbehalt
Fall 10: (EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859 ff – Hoechst = JK 90, EWGV Art 173/2) Die H AG hat gem Art 263 IV AEUV Nichtigkeitsklage gegen einen an sie gerichteten und von der Kommission auf Art 20 KartellVerfO (Sartorius II Nr 165) – gestützten Nachprüfungsbeschluss erhoben, auf dessen Grundlage wegen des Verdachts von Kartellabsprachen die Geschäftsräume der H AG durchsucht werden sollen.
126
127 Nach Art 52 I 1 GRCh muss jeder Eingriff in ein Grundrecht auf einer gesetzlichen
Grundlage beruhen („muss gesetzlich vorgesehen sein / must be provided for by
472 Vgl auch Kingreen, JURA 2014, 295 (299); eher skeptisch wegen Art 52 I GRCh Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 5. 473 IdS Jarass/Kment GR, § 6 Rn 20 ff; ferner Magiera in: Scheuing (Hrsg) Europäische Verfassungsordnung, 2003, S 117, 125 f; Molthagen Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, 2003, S 170 ff; Jarass GRCh, Art 52 Rn 21 ff; Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 Rn 3; Schneiders Die Grundrechte der EU und die EMRK, 2010, S 218 ff. 474 So aber Rengeling/Szczekalla GR, Rn 463, 473; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 10; Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 52; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 52 GRCh Rn 31.
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law / doit être prévue par la loi“). Dieses Erfordernis, welches sich nicht in gleicher Weise im Bereich der Grundfreiheiten wiederfindet (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 142), hat der Gerichtshof schon früh in seiner Rspr zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelt. Es handelt sich dabei um ein allgemeines rechtsstaatliches Erfordernis, welches den Grundrechtsschutz effektivieren soll. Schon in seiner Hoechst-Entscheidung (Rn 126/Fall 10) hat der EuGH davon gesprochen, dass in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder natürlichen oder juristischen Person einer „Rechtsgrundlage“ bedürfen und „aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen“ gerechtfertigt sein müssen. Das Erfordernis eines solchen Schutzes sei als allgem Grundsatz des Unionsrechts anzuerkennen.475 Der Gesetzesvorbehalt ist auch in den Schrankenregelungen der EMRK verankert (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 95).476 Er bedeutet, dass eine Beeinträchtigung der Unionsgrundrechte nur durch oder aufgrund Gesetzes zulässig ist. Dabei enthält die GRCh keine näheren Angaben, welche konkreten Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt zu stellen sind.477 Handelt es sich um Eingriffe der Union selbst in die Unionsgrundrechte, so ist der Gesetzesvorbehalt im systematischen Einklang mit dem Gesetzesverständnis der Verträge zu verstehen. Dies bedeutet, dass eine Ermächtigungsgrundlage in Form einer Verordnung (Art 288 II AEUV), einer unmittelbar wirkenden Richtlinie478 (Art 288 III AEUV) oder eines Beschlusses (Art 288 IV AEUV) gefordert werden muss. Nicht ausreichend sind unverbindliche Empfehlungen und Stellungnahmen (Art 288 V AEUV), da sie schon nicht die dem Gesetzescharakter notwendig eigene Rechtsverbindlichkeit besitzen.479 Auch die allgemeine Dienstpflicht in Art 55 I des EU-Beamtenstatuts hat das EuG nicht als ausreichende Grundlage für einen Eingriff in das Streikrecht der Unionsbediensteten angesehen.480 Bei Beschlüssen stellt sich die Frage, ob dem Gesetzesbegriff nur die an einen unbestimmten
475 EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst = JK 93, EMRK Art 8/1 (Fall 10). Ebenso in jüngerer Zeit EuGH, Urt v 7.8.2018, Rs C-59/17, Rn 30 – SCI Château du Grand Bois. S auch EuG, Urt v 22.4.2015, Rs T-320/09 – Planet AE/Kommission; dazu Bouveresse Europe 6/2015, 24 ff. 476 Vgl die jeweiligen Abs 2 der Art 8 ff EMRK. 477 Näher zum Ganzen Bühler Einschränkung von Grundrechten nach der europäischen Grundrechtecharta, 2005, S 75 ff; Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, S 67 ff; Röder Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, 2007. 478 Kober Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2009, S 194; aA Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, S 154 f; zweifelnd Jarass GRCh, Art 52 Rn 24. Entfaltet eine RL keine unmittelbare Wirkung, kommt erst der innerstaatliche Umsetzungsakt als Eingriffsgrundlage in Betracht. 479 Vgl auch v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 33. 480 EuG, Urt v 29.1.2020, Rs T-402/18 – Robert Aquino ua/Parlament.
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Adressatenkreis gerichteten, generell wirkenden Beschlüsse oder auch Einzelfallbeschlüsse genügen. Art 289 AEUV macht in Hinblick auf das (ordentliche oder besondere) „Gesetzgebungsverfahren“ insofern keinen Unterschied, so dass Gleiches auch für den Gesetzesvorbehalt des Art 52 I 1 GRCh gelten sollte. In der Tat sind jedenfalls die demokratisch höher legitimierten Gesetzgebungsakte iSd Art 289 AEUV als Gesetze iSd grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts zu verstehen. Allerdings erfüllen auch die untergesetzlichen Rechtsakte die demokratischen und rechtsstaatlichen Anforderungen des Gesetzesvorbehalts.481 So ist aufgrund der Systematik der Verträge davon auszugehen, dass im Primärrecht vorgesehene Rechtsakte, bei denen keine ausdrückliche Zuordnung zu einem Gesetzgebungsverfahren erfolgt (zB Art 103 I, 105 III, 106 III, 108 I, II, 215 II AEUV) unabhängig vom zuständigen Rechtssetzungsorgan als „Gesetze“ iSd Art 52 I 1 GRCh anzuerkennen sind.482 Denn hier nimmt das Primärrecht die Zuweisung der Regelungszuständigkeit selbst vor, und auch unter der Geltung der allgemeinen Rechtsgrundsätze waren etwa primärrechtlich vorgesehene Kommissionsentscheidungen als ausreichende Rechtsgrundlagen anerkannt.483 Allerdings reichen auch Rechtsakte auf Basis des Sekundärrechts484 wie delegierte Rechtsakte der EU-Kommission iSv Art 290 AEUV aus, wenn sie eigenständige, nicht im Basisrechtsakt bereits angelegte oder durch den delegierten Rechtsakt aktualisierte Grundrechtsbeeinträchtigungen vornehmen.485 Sofern sie insoweit die – in grundrechtskonformer Auslegung ermittelten – Grenzen des Basisrechtsakts überschreiten (Art 290 I UA 2 AEUV), sind sie allerdings unabhängig von dem Grundrechtsverstoß ohnehin auch aus kompetenziellen Gründen rechtswidrig.486 Auch Durchführungsrechtsakte der Union iSd Art 291 II AEUV genügen dem Gesetzesvorbehalt des Art 52 I 1 GRCh und können daher eigenständige Grundrechtseingriffe vornehmen, sofern sie insgesamt ihrer Ermächtigungsgrundlage genügen.487 Maßgeblich ist in beiden Fällen, dass die wesentlichen Grundentscheidungen dem Unionsgesetzgeber vorbehalten bleiben müs-
481 EuG, Urt v 10.3.2020, Rs T-251/18 – International Forum for Sustainable Underwater Activities – IFSUA/Rat; dazu Simon, Europe 5/2020, 18 f. Ferner näher Gundel, ZLR 2015, 143 (150 f). 482 EuGH, Urt v 19.7.2012, Rs C-130/10, Rn 84 – Parlament/Rat; Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 13. Vgl auch Van Drooghenbroeck/Rizcallah in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-1 Anm 23. 483 EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst. 484 Vgl EuG, Urt v 21.12.2022, Rs T-187/21 – Firearms United Network ua/Kommission. 485 So zu Recht Gundel in: Frankfurter Komm, Art 290 AEUV Rn 9. AA wohl Jarass/Kment GR, § 6 Rn 28; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 62. 486 Vgl EuGH, Urt v 6.10.2015, Rs C-362/14 – Schrems I. 487 Ebenso Jarass GRCh, Art 52 Rn 25. Vgl entsprechend Van Drooghenbroeck/Rizcallah in: Picod/ Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-1 Anm 23 ff.
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sen,488 was aber nicht mit jedem einzelnen Grundrechtseingriff gleichzusetzen ist. Mitgliedstaatliche Durchführungsakte nach Art 291 I AEUV müssen ihrerseits den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügen. Abseits der danach ohnehin nicht relevanten Differenzierung des Art 289 AEUV 128 kann eine Beteiligung des EP an den Rechtssetzungsverfahren – im Wege der Mitentscheidung (Art 294 AEUV), der Zustimmung (zB Art 86 I UA 1 S 2 AEUV) oder jedenfalls der Anhörung (zB Art 188 UA 1 AEUV) – auch pauschal aus demokratischen Erwägungen für einen Grundrechtseingriff nicht verlangt werden.489 Für einen derartigen unionsrechtlichen Parlamentsvorbehalt,490 der sich an die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis von Parlamentsrecht und administrativem Gesetzesrecht491 anlehnt, finden sich keine Anhaltspunkte im Vertrag. Die Situation ist wegen der unterschiedlichen Legitimation von Unionsrechtsakten und mitgliedstaatlichen Parlamentsgesetzen sowie der verschiedenen Rechtstraditionen auch nicht vergleichbar. Wichtiger ist hier, dass die Rechtsgrundlage ähnlich wie in der Rspr des EGMR zur Schrankenregelung der EMRK (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 95) die Mindestanforderungen an Zugänglichkeit, Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit erfüllt.492 Da Unionsorgane ohnedies stets für ihre Handlungen eine spezifische Ermächtigungsgrundlage benötigen (Art 5 II EUV), ist auch die von der deutschen Diskussion um sog verfassungsimmanente Schranken inspirierte Frage, ob eine sich unmittelbar aus dem Vertragsrecht selbst ergebende Einschränkung der Unionsgrundrechte gesetzlich nachzuzeichnen ist,493 wenig ergiebig. Auch diese deutsche Besonderheit lässt sich aus der GRCh nicht ableiten; entscheidend bleibt das primärrechtliche Abwägungsgebot zwischen den betroffenen Rechtspositionen. Mitgliedstaatliche Beschränkungen der Unionsgrundrechte benötigen eben- 129 falls eine Ermächtigung durch oder aufgrund Gesetzes. Wenn sie zur Durchführung von Unionsrecht erforderlich sind, kann die unionsrechtliche Norm, die eine ent-
488 Vgl EuGH, Rs C-156/93, Slg 1995, I-2019, Rn 18 – Parlament/Kommission; Rs C-48/98, Slg 1999, I7877, Rn 34 – Söhl & Söhlke; Rs C-133/06, Slg 2008, I-3189, Rn 45 – Parlament/Rat; Urt v 5.9.2012, Rs C355/10, Rn 77 – Parlament/Rat. 489 IdS aber Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, S 93 ff; Röder Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, 2007, S 27 f. 490 Vgl in rechtspolitischer Hinsicht für eine graduelle Steigerung der Parlamentsbeteiligung etwa Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 11; Kokott in: Merten/Papier, HGR, Bd I, 2004, § 22 Rn 28 f. 491 Vgl zB BVerfGE 40, 237 (249 f); 49, 89 (126); 83, 130 (142, 151 f); 95, 267 (307 f); 98, 218 (251 f); 108, 282 (311). 492 Van Drooghenbroeck/Rizcallah in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-1 Anm 23 ff. 493 Die Unionsgrundrechte können etwa nach Maßgabe der Wettbewerbsregelungen oder der Grundfreiheiten eingeschränkt werden.
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sprechende Ermächtigung selbst nicht vorsieht, auch nicht ausreichend sein;494 dies gilt etwa für die Umsetzung einer Richtlinie, die insofern keine Regelung trifft oder nicht unmittelbar anwendbar ist.495 Hinsichtlich der Form einer gesetzlichen Ermächtigung ist eine Anlehnung an das Gesetzesverständnis der EMRK (→ Ehlers/ Germelmann § 2.1 Rn 95) anzunehmen. Die EMRK überlässt es bei ihrer vergleichbaren Rechtfertigungsanforderung in einem gewissen Ausmaße den Staaten, darüber zu entscheiden, was unter einem Gesetz zu verstehen ist. Dies ergibt sich aus den unterschiedlichen Rechtstraditionen der Staaten. So kann im Common-LawRechtskreis uU ungeschriebenes Recht ausreichen. Dies ist auch für das Unionsrecht anzunehmen. Hierfür sprechen nicht nur dieselben Sacherwägungen, sondern auch die Kohärenzklausel des Art 52 III 1 GRCh.496 Verlangt wird nicht ein Gesetz im formellen Sinn (Parlamentsgesetz), sondern im materiellen Sinn (dh regelmäßig eine abstrakt-generelle Regelung). Stets müssen die Schrankenregelungen aus rechtsstaatlichen Gründen aber im innerstaatlichen Rechtskreis als Rechtsnorm angesehen werden,497 allgemein zugänglich und so hinreichend bestimmt und vorhersehbar sein, dass die Bürger ihr Verhalten danach einrichten können (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 95).498 Inwieweit darüber hinaus die im jeweiligen innerstaatlichen Recht für Freiheitsbeschränkungen geltenden Maßstäbe (zB im Hinblick darauf, ob es eines Parlamentsgesetzes bedarf oder ob eine VO oder eine Satzung ausreicht) auch auf die Unionsgrundrechte anzuwenden sind,499 ist letztlich keine vom Unionsrecht zu beantwortende Frage, sondern kann sich allenfalls aufgrund einer zusätzlichen national-verfassungsrechtlichen Anforderung ergeben. Für Deutschland erscheint das nicht fernliegend.
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Lösung Fall 10: Bedenken gegen die Zulässigkeit der von der H AG gem Art 263 IV, 1. Var. AEUV erhobenen Nichtigkeitsklage bestehen nicht. Begründet ist die Nichtigkeitsklage, wenn der Beschluss der Kommission rechtswidrig ist. Das ist der Fall, wenn er einer Rechtsgrundlage entbehrt (1.) oder er ansonsten wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht formell oder materiell rechtswidrig ist (2.). 1. Der Be-
494 Vgl EuGH, Urt v 7.8.2018, Rs C-59/17, Rn 30 ff – SCI Château du Grand Bois. 495 Deutlich für im nationalen Recht nicht vorgesehene Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der materiellen Vorgaben der RL 2008/50/EG über Luftqualität und saubere Luft für Europa s EuGH, Urt v 19.12.2019, Rs C-752/18 – Deutsche Umwelthilfe/Freistaat Bayern = EuZW 2020, 189 m Anm Kaufmann = NJW 2020, 977 m Bespr Will S 963 ff.; dazu auch Rigaux, Europe 2/2020, 14 f. 496 Im Ergebnis ebenso Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 63. 497 Vgl EGMR, Urt v 26.4.1979, 6538/74, § 47 – Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr 1); Urt v 25.3.1983, 5947/72, § 86 – Silver/Vereinigtes Königreich. 498 Vgl auch Van Drooghenbroeck/Rizcallah in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-1 Anm 27. 499 Vgl auch Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 32; → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 95; § 12 Rn 142.
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schluss der Kommission beruht hier auf Art 20 KartellVerfO, der die Kommission auch zur Durchführung von Durchsuchungen ermächtigt. Eine Überprüfung der VO am Maßstab des Unionsgrundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung (heute Art 7 GRCh) lehnte der EuGH500 damals mit der Begründung ab, dass dieses Unionsgrundrecht nicht Geschäftsräume schützt.501 Diese Sicht entspricht nicht der Rspr des EGMR (für einen Schutz der Geschäftsräume durch Art 8 EMRK EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88 – Niemietz/Deutschland); auch der EuGH hat sie später revidiert.502 Jedoch sollen wegen entsprechender mitgliedstaatlicher Verfassungsüberlieferungen Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, die Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen bieten muss. Diese Garantie fungiert als ein Auffanggrundrecht, nicht unähnlich einer allgem Handlungsfreiheit. Die KartellVerfO (damals EWG-KartVO) genügt nach Ansicht des EuGH diesen Anforderungen. 2. Da die Kommission Art 20 KartellVerfO auch grundrechtskonform angewendet hat, war die Nichtigkeitsklage zurückzuweisen.
c) Verfolgung zulässiger Ziele In materieller Hinsicht dürfen Unionsgrundrechte nur aus Gründen beschränkt 131 werden, welche „dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ der Union503 oder „den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ tatsächlich entsprechen (Art 52 I 2 GRCh). Dieses Erfordernis eines legitimen Ziels gilt auch für die Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV. Die Gemeinwohlziele können den Interessen der Allgemeinheit oder auch von Gruppen oder Einzelnen dienen (wie auch die Inbezugnahme auf die Rechte und Freiheiten anderer zeigt)504 und den Wertungen des Unionsrechts entsprechen. Eine Übertragung der Rspr des EuGH bei den Grundfreiheiten, die „zwingende“ Erfordernisse verlangt (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 153 ff), ist nicht möglich. Da das Merkmal „zwingend“ jedoch auch dort mit dem Allgemeininteresse – und damit dem Gemeinwohl – gleichgesetzt wird, ergeben sich in der Sache kaum Unterschiede.505 Das Abstellen auf die Zielsetzungen der EU bedeutet nicht, dass nur Aufgaben respektive Ziele der Union iSd Art 3 EUV verfolgt werden dürfen. Vielmehr sind die Mitgliedstaaten in der Definition frei, sofern sie nicht mit Unionswerten kollidieren. Soweit die EU tätig wird, darf sie aber nur die ihr übertragenen Aufgaben wahrnehmen.506 Sie kann etwa Gemeinwohlinteressen heranziehen, die durch andere Vertragsbestimmungen (wie zB Art 4 II,
500 Heute wäre nach Art 256 I AEUV erstinstanzlich das EuG zuständig. 501 Zum Wohnungsbegriff iSd Art 7 GRCh vgl → Marsch § 4.2.2 Rn 5. 502 Vgl EuGH, Rs C-94/00, Slg 2002, I-9011 – Roquette Frères. 503 Vgl EuGH, Rs 5/88, Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Rs C-292/97, Slg 2000, I-2737, Rn 45 – Karlsson. 504 Allgem zum Gemeinwohlerfordernis Ehlers/Pünder in: dies, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl 2022, § 1 Rn 40 ff. 505 Vgl auch Becker in: Schwarze EU-Komm, Art 52 Rn 5. 506 Art 5 II, 6 I UA 2 EUV, Art 51 I 2 GRCh.
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36, 101 f, 169 oder 346 AEUV507), das primärrechtkonforme Sekundärrecht508, das zwingende Völkerrecht (Rn 40 f) oder die mit internationalen Übereinkommen iSd Art 216 AEUV verfolgten Zielsetzungen geschützt werden. Soweit die Charta-Rechte auf das Unionsrecht sowie die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh) verweisen (Rn 112), können sich auch aus diesen legitime Zielsetzungen für Einschränkungen ergeben. Zu den unionsrechtlich anerkannten Zielen gehören etwa die Belange des Gesundheitsschutzes (Art 35 S 2 GRCh) und des Umweltschutzes (Art 36 GRCh). Nichts Anderes gilt für die in der GRCh positivierten Grundsätze (Art 52 V GRCh). Von großer Bedeutung sind wegen Art 52 III GRCh ferner die zahlreichen in den Schrankentatbeständen der EMRK genannten Schutzgüter, wobei eine zwingende und restriktive Handhabung des Art 18 EMRK wegen der abweichenden dogmatischen Konstruktion des Art 52 I GRCh nicht anzunehmen ist. Bei den Rechten und Freiheiten anderer handelt es sich um die kollidierenden Unionsgrundrechte509, die als Schranke (in seltenen Fällen als immanente Begrenzungen der Grundrechte510), fungieren. Die Mitgliedstaaten können sich ebenfalls auf die vom Unionsrecht anerkannten Gemeinwohlgründe sowie Rechte und Freiheiten anderer berufen, sind aber in diesem Rahmen befugt, selbständig ihre Interessen zu bestimmen.511
d) Schranken-Schranken 132 Dürfen die Unionsgrundrechte beschränkt werden, unterliegen die Schranken ih-
rerseits Gegenschranken. Als solche kommen die Wesensgehaltsgarantie, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie die Grundfreiheiten und sonstigen Primärrechtsbestimmungen in Betracht.
507 Vgl Erläuterungen zu Art 52 GRCh. 508 Jarass GRCh Art 52 Rn 31. 509 Vgl a Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 17. Beispielhaft für die Zuordnung der Rechte am geistigen Eigentum, Art 17 II GRCh, und der unternehmerischen Freiheit, Art 16 GRCh, vgl EuGH, Urt v 16.2.2012, Rs C-360/10, Rn 41 ff – SABAM; Urt v 26.4.2022, Rs C-401/19 – Polen/ Parlament u Rat = EuZW 2022, 458 m Anm Gielen = JZ 2022, 674 m Anm Stieper = NJW 2022, 1663 m Bespr Hauck S 1650 ff = GRUR 2022, 820 m Bespr Leistner S 803 ff; dazu Gazin, Europe 6/2022, 14 f; Lennartz, EuGRZ 2022, 482 ff. 510 Vgl Rn 123. 511 Vgl näher zum Ganzen Bühler Einschränkung von Grundrechten nach der europäischen Grundrechtecharta, 2005, S 235 ff.
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aa) Wesensgehaltsgarantie Gem Art 52 I 1 GRCh muss jede Einschränkung der Ausübung der Charta-Rechte und 133 Freiheiten den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Dies entspricht auch der Rspr des EuGH vor Inkrafttreten der Charta und gilt also auch für die Grundrechte iSd Art 6 III EUV.512 Das Kriterium des Wesensgehalts ist wegen der Schrankenstruktur des Art 51 I 1 GRCh und in Abweichung zu den im deutschen Recht herrschenden Üblichkeiten513 gesondert zu prüfen.514 Der EuGH hat etwa den Umgang eines leiblichen Vaters mit seinem Kind als zum Wesensgehalt des Art 24 III GRCh gehörend angesehen515 und die Ausweisung eines EU-Ausländers ohne weitere Prüfung als Verletzung der Wesensgehaltsgarantie des Art 18 EGV (heute Art 21 AEUV516) gewertet. Nicht in den Wesensgehalt von Art 7 und 8 GRCh fallen soll dagegen die Speicherung von Daten, auch wenn aus ihnen ein Persönlichkeitsprofil erstellt werden kann, solange nicht der Inhalt der Kommunikation gespeichert wird.517 Anders kann dies für weitergehende Datenübermittlungen ohne adäquate Rechtsschutzmöglichkeiten sein.518 Ob nur ein generell-absoluter Grundrechtskern oder auch ein individueller (auf den einzelnen Grundrechtsinhaber bezogener) und relativer (im Einzelfall zu ermittelnder) geschützt werden soll, ist bisher nicht abschließend entschieden.519 In der Literatur wird vielfach die erste Lösungsalternative angenommen,520 so dass die Wesensgehaltsgarantie bereits dann gewahrt ist, wenn die grundrechtliche Garantie allgemein im Wesentlichen erhalten bleibt. Dieses Verständnis erscheint aus systematischer Sicht in Relation zum einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durchaus sinnvoll. Der Wesensgehaltsgarantie kommt in diesem Falle allerdings nur noch eine reduzierte Bedeu-
512 Vgl zB EuGH, Rs 5/88, Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Rs C-292/97, Slg 2000, I-2737, Rn 58 – Karlsson; ferner Erläuterungen zu Art 51 GRCh. Für die Grundfreiheiten vgl → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 162. 513 Vgl dazu Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 440 ff. 514 Zweifelnd Van Drooghenbroeck/Rizcallah in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-1 Anm 8 ff. 515 EuGH, Rs C-400/10 PPU, Slg 2010, I-8965, Rn 55 – McB. 516 EuGH, Rs C-408/03, Slg 2006, I-2647 Rn 68 – Kommission/Belgien. 517 Zur Vorratsdatenspeicherung EuGH, Urt v 8.4.2014, verb Rs C-293/12 ua – Digital Rights Ireland = DVBl 2014, 708 m Anm Durner = EuR 2014, 441 m Anm Classen; dazu auch Kühling, NVwZ 2014, 681 ff. 518 Vgl EuGH, Urt v 6.10.2015, Rs C-362/14, Rn 94 f – Schrems I (Verstoß gegen die Wesensgehalte von Art 7 und 47 GRCh). 519 Vgl auch Becker in: Schwarze EU-Komm, Art 52 GRCh Rn 7, der das Konzept eher als „Einleitung“ der Rechtfertigungs- und Auftakt zur Verhältnismäßigkeitsprüfung ansieht. Näher dazu Schildknecht Grundrechtsschranken in der Europäischen Gemeinschaft, 2000, S 91 ff. 520 Vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 445 ff; Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 7 Rn 49 ff.
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tung zu.521 Die Rspr hingegen ist nicht eindeutig;522 sie spricht allerdings eher für eine individuelle Betrachtung des Einzelfalls und gliedert so gleichsam besonders weitgehende Eingriffe, die sich in keiner Weise rechtfertigen lassen, aus der Verhältnismäßigkeitsprüfung aus.523
bb) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
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Fall 11: (EuGH, Urt v 22.1.2013, Rs C‑283/11 – Sky Österreich = JK 2014, AEUV 267/1) Nach Art 15 der RL 2010/13/EG (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste)524 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass jeder Fernsehveranstalter, der in der EU niedergelassen ist, zum Zwecke der Kurzberichterstattung einen fairen, angemessenen und diskriminierungsfreien Zugang zu Ereignissen hat, die von großem öffentlichen Interesse sind und die von einem der Rechtshoheit der Mitgliedstaaten unterworfenen Fernsehveranstalter exklusiv übertragen werden. Wird eine Kostenerstattung vorgesehen, darf diese nach Art 15 VI der RL die unmittelbar mit der Gewährung des Zugangs verbundenen zusätzlichen Kosten nicht übersteigen. Sky Österreich GmbH hat die Exklusivrechte für die Ausstrahlung von Sportveranstaltungen erworben. Die GmbH wendet sich gegen die Verpflichtung, dem österreichischen Rundfunk (ORF) ein Kurzberichterstattungsrecht einzuräumen, ohne Anspruch auf ein Entgelt zu haben.
Fall 12: (EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973 – Deutschland/Rat) Die (frühere) Bananenmarkt-VO der EG hat die Einführung von Bananen aus Drittstaaten in die EU drastisch reduziert (vgl auch Fall 4). Ein Importeur von Drittlandbananen möchte wissen, ob dadurch seine Unionsgrundrechte des Eigentums (heute Art 17 GRCh) und der unternehmerischen Freiheit (heute Art 16 GRCh) verletzt werden.
521 Nach einem Ausspruch des Vorsitzenden der mit der Erarbeitung einer Charta beauftragten Grundrechtskonvents Roman Herzog soll die Wesengehaltsgarantie schwierig zu bestimmen sein und deshalb nicht viel nützen, aber auch nicht schaden. Vgl Bernsdorff/Borowsky, DRiZ 2005, 188 (235). 522 Deutlich Van Drooghenbroeck/Rizcallah in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-1 Anm 10 ff. 523 Vgl differenziert etwa zu Art 47 GRCh EuGH, Urt v 6.10.2020, verb Rs C-245/19 u C-246/19, Rn 54 ff, 86 ff – Etat du Grand-duché de Luxembourg; dazu Bonneville/Gänser/Markarian, AJDA 2020, 2365 ff; Michel, Europe 12/2021, 14 f. Zuweilen lassen sich die Entscheidungen in beide Richtungen deuten; vgl etwa EuGH, Urt v 14.1.2021, Rs C-393/19, Rn 55 – OM; Urt v 14.5.2020, verb Rs C-924/19 PPU u C925/19 PPU, Rn 290 – FMS ua; dazu Gazin, Europe 7/2020, 23 f. 524 ABl Nr L 95/1 v 15.4.2010, m spät Änd.
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Die Verhältnismäßigkeitskontrolle gehört zum „Kernstück“525 jeder Rechtferti- 136 gungsprüfung von Grundrechtsbeeinträchtigungen. Dies gilt für die Unionsgrundrechte ebenso wie für die EMRK (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 100) und die nationalen Grundrechte526. Auch bei den Grundfreiheiten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 162 ff) ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung zentral. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehörte schon vor Inkrafttreten der Charta zu den in stRspr anerkannten allgemeinen Grundsätzen des Unionsgrundrechts527 und gilt somit nicht nur für die Charta-Rechte, sondern auch für die ungeschriebenen Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV. Art 52 I 2 GRCh verlangt, dass Einschränkungen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind. Der Text der Norm hebt wie auch Art 5 IV EUV damit aber nur eines der Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung (im weiteren Sinne) hervor, was sich auch zuweilen in der Rspr spiegelt.528 Doch setzt die Erforderlichkeit logisch geeignete Maßnahmen voraus. Zudem entspricht eine Einschränkung der Unionsgrundrechte nur dann „tatsächlich“ (Art 52 I 2 GRCh) der verfolgten Zielsetzung, wenn sie sich zur Verwirklichung dieser Zielsetzung eignet.529 Ferner kann eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auf eine Abwägung der Nachteile zu dem erstrebten Erfolg nicht verzichten. Nach klassischer Auffassung, die auch der unionsrechtlichen Grundrechtsprüfung zugrunde zu legen ist, ist ein Grundrechtseingriff danach verhältnismäßig, wenn ein als solches zulässiges Mittel eingesetzt wird und dieses geeignet, erforderlich und angemessen530 für die Verwirklichung der mit ihm legitimerweise angestrebten Zielsetzungen ist: dh (1) der Verwirklichung der Zielsetzung dient, (2) das am wenigsten belastende Mittel darstellt531 und (3) auf einem gerechten Ausgleich zwischen den Gemeinwohlerfordernissen bzw den
525 Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 27. 526 Sachs in: ders, GG, Art 20 Rn 145 ff. 527 Vgl etwa EuGH, Rs 5/88, Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 90 ff – Deutschland/Rat (Bananenmarktordnung) = JK 94, EWGV Art 186/2; Rs C-292/97, Slg 2000, I-2737, Rn 45 – Karlsson. Näher zum Verhältnismäßigkeitsprinzip des Unionsrechts und zur Rspr des EuGH Tridimas EU, S 141 f; Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000; Koch Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003; v Danwitz, EWS 2003, 393 ff. 528 Vgl EuGH, Urt v 6.10.2020, verb Rs C-511/18, C-512/18 u C-520/18, Rn 130 – La Quadrature du Net ua; Urt v 2.3.2021, Rs C-746/18, Rn 38 – HK/Prokuratuur; dazu Bonneville/Gänser/Iljic, AJDA 2021, 1086 f; Simon, Europe 5/2021, 13 f. 529 Vgl auch Cornils in: EnzEuR Bd 2, § 7 Rn 104. 530 Das Kriterium der Angemessenheit findet (wenn auch nur unter einem speziellen Gesichtspunkt) Erwähnung in den Protokollen über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Vgl Nr 7 des Protokolls von 1997 und Art 5 des gleichnamigen Protokolls zum EUV und zum AEUV. 531 Vgl zB EuGH, Urt v 8.4.2014, verb Rs C-293/12 ua – Digital Rights Ireland.
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Rechten und Freiheiten anderer sowie den geschützten Belangen des Grundrechtsträgers beruht532 bzw nicht außer Verhältnis zu den ihnen verursachten Nachteilen steht533 (näher zu den Einzelheiten auch → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 100; → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 162 ff). Dies ist auch in der Rspr des EuGH anerkannt.534
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Lösung Fall 11: Der Fall liegt im Anwendungsbereich der GRCh; die Unionsorgane sind in ihren Handlungen wie dem Sekundärrecht nach Art 51 I GRCh an die Grundrechte gebunden. Setzen die Mitgliedstaaten die RL um, unterfallen sie ebenfalls nach Art 51 I GRCh dem Anwendungsbereich der Charta. In Bezug auf den einschlägigen Schutzbereich hat der EuGH angenommen, dass sich der Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte für Ereignisse von großem öffentlichen Interesse nicht auf den Schutz durch Art 17 I GRCh berufen kann, weil er noch keine geschützte gesicherte Rechtsposition erlangt habe und damit kein Eigentumsrecht vorliege. Wohl aber sei die unternehmerische Freiheit iSd Art 16 GRCh betroffen, weil der Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte nicht frei wählen könne, mit welchen Fernsehveranstaltern er eine Vereinbarung über die Einräumung eines Kurzberichterstattungsrechts schließt. Hierin ist ein Eingriff zu sehen. Die unternehmerische Freiheit gilt jedoch nicht schrankenlos, sondern Eingriffe können nach Maßgabe des Art 52 I GRCh gerechtfertigt werden. Eine gesetzliche Grundlage für den Eingriff lag einerseits durch die RL vor und war auch durch die Umsetzungsgesetzgebung in Österreich vorhanden. Auch ein Eingriff in den Wesensgehalt ist nicht ersichtlich, da die unternehmerische Tätigkeit als solche nicht verhindert wird. In Bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nach Ansicht des EuGH der Wortlaut des Art 16 GRCh zu beachten, der sich mit der Bezugnahme auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (vgl Art 52 VI GRCh) von den anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten unterscheide. Daher könne aus seiner Sicht die unternehmerische Freiheit einer größeren Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken könnten; er gesteht der Union und den Mitgliedstaaten damit größere Ermessensspielräume bei den Beschränkungen zu. In Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürften die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Errichtung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Zwecke geeignet und erforderlich ist, wobei bei Vorliegen mehrerer geeigneter Maßnahmen die am wenigsten belastende zu wählen sei und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürften. Eine exklusive Vermarktung von Ereignissen von großem öffentlichen Interesse sei geeignet, den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen erheblich einzuschränken. Die RL ziele darauf ab, dass durch Art 11 I GRCh garantierte Grundrecht auf Information auch bei exklusiv vermarkteten Ereignissen von großem Interesse zu wahren und den durch Art 11 II GRCh geschützten Me-
532 So (zB) EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 21 – Schräder. Vgl auch EuGH, Rs C-331/88, Slg 1990, I-4023, Rn 13 – Fedesa; Rs C-189/01, Slg 2001, I-5689, Rn 81 – Jippes; Rs C-310/04, Slg 2006, I-7285, Rn 97 – Spanien/Rat. 533 Vgl EuGH, Rs C-189/01, Slg 2011, I-5689, Rn 81 – Jippes ua; Urt v 22.1.2013, Rs C-283/11, Rn 50 – Sky Österreich; Urt v 30.6.2016, Rs C-134/15, Rn 33 – Lidl/Freistaat Sachsen. 534 Vgl etwa EuGH, Urt v 20.3.2018, Rs C-524/15, Rn 46 – Menci; Urt v 30.4.2019, Rs C-611/17, Rn 55 – Italien/Rat; Urt v 18.12.2020, Rs C-336/19, Rn 64, 75 ff – Centraal Israëlitisch Consistorie van België. S auch Van Drooghenbroeck/Rizcallah in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-1 Anm 32 ff.
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dienpluralismus durch die Vielfalt der Nachrichtenprogramme zu fördern. Dies erkennt der Gerichtshof als ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel an. Das Recht zur Kurzberichterstattung sei auch zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet. Was die Erforderlichkeit angeht, steht besonders die Kostentragungspflicht im Zentrum des Interesses. Hier belaste die Obergrenze des Art 15 VI der RL, welche die unmittelbar mit der Gewährung des Zugangs zum Signal verbundenen zusätzlichen Kosten als maßgeblich festlegt, die Inhaber von Exklusivrechten. Nach Ansicht des EuGH wäre zwar eine höhere Kostenerstattung denkbar gewesen, um die Fernsehveranstalter, die Kurzberichte senden, an den Kosten für den Erwerb dieser Exklusivrechte zu beteiligen. Doch habe durch eine solche weniger belastende Regelung die Erreichung des verfolgten Ziels nicht genauso wirksam sichergestellt werden können, weil die Kostenbelastung Fernsehveranstalter davon hätte abhalten können, zum Zweck der Kurzberichterstattung um Zugang zu ersuchen. Schließlich prüft der EuGH, ob die Anforderungen, die sich aus dem Grundrecht auf Information einerseits und der unternehmerischen Freiheit andererseits ergeben, angemessen zum Ausgleich gebracht worden sind. Dies wird im Ergebnis bejaht, insbesondere weil die Kurzberichterstattung ausschließlich im Rahmen allgemeiner Nachrichtensendungen erfolge, Fristen unterworfen werde und nicht länger als 90 Sekunden dauern dürfe. Auch könne der Hinweis auf die Veranstaltungen den Inhabern der Exklusivrechte selbst nutzen, da hierin ein Werbeeffekt liegen könne.
Dessen ungeachtet hat der EuGH in der Vergangenheit oftmals nicht alle Kom- 138 ponenten der Verhältnismäßigkeit geprüft.535 Dies ist insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten zu beobachten, aber auch bei den Grundrechtsprüfungen der Fall. Häufig ist nur kontrolliert worden, ob die ergriffenen Maßnahmen zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet oder erforderlich sind (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 167). Vor allem unterbleibt vielfach eine Angemessenheitsprüfung.536 Soweit doch auf die Erforderlichkeit und Angemessenheit eingegangen wurde, verschwimmt teilweise die klare Zuordnung zu diesen Stufen der Verhältnismäßigkeit.537 Falls Gesichtspunkte der Vorhersehbarkeit und des Vertrauensschutzes berücksichtigt wurden, geschieht dies zuweilen selbständig oder unter dem Gesichtspunkt milderer (da weniger belastender) Mittel und nicht im Rahmen einer gesonderten Angemessenheitsprüfung.538 Auch lässt es der EuGH zumeist bei einer
535 Krit dazu Nettesheim, EuZW 1995, 106 f; Huber, EuZW 1997, 517 (521); Stein, EuZW 1998, 261 (262); Pache, EuR 2001, 475 (488 f); v Danwitz, EWS 2003, 393 (394 ff). Vgl demgegenüber aber auch Kischel, EuR 2000, 380 (398 ff); v Bogdandy, JZ 2001, 157 (161 ff). 536 Vgl Van Drooghenbroeck/Rizcallah in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 52-1 Anm 39 mwN. S demgegenüber aber EuGH, Rs C-60/00, Slg 2002, I-6279 Rn 42 – Carpenter; Rs C-112/00, Slg 2003, I5659 Rn 79 – Schmidberger; verb Rs C-482/01 u C-493/01, Slg 2004, I-5257 Rn 99 – Orfanopoulos u Oliveri. 537 Vgl zB zu Art 49 III GRCh EuGH, Urt v 11.2.2021, Rs C-77/20, Rn 49 ff – KM; dazu Rigaux, Europe 4/ 2021, 10; s ferner Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 69. 538 Vgl etwa aus dem Bereich der Grundfreiheiten EuGH, Rs C-483/99, Slg 2002, I-4781 – Kommission/Frankreich („Golden Shares”) = RdE 2002, 277 m Anm Gundel = EWS 2002, 328 m Anm Ebke/ Traub; Rs C-503/99, Slg 2002, I-4809 – Kommission/Belgien („Golden Shares“). S für eine Mischung der
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abstrakten Bewertung der Interessen bewenden, ohne die individuelle Zumutbarkeit einzubeziehen.539 Eine im Einzelfall eher kursorische540 Prüfung der Kontrollmaßstäbe kann zuweilen mit einer Zurücknahme der Kontrolldichte einhergehen541, wenn nur darauf abgestellt wurde, ob eine Maßnahme offensichtlich ungeeignet542, die Beurteilung des Unionsgesetzgebers offensichtlich irrig543 oder eine Maßnahme offensichlich unverhältnismäßig ist544. Zuweilen liegt der Verzicht auf die Angemessenheitsprüfung aber auch eher in dem Umstand begründet, dass der EuGH eine ausführlichere Erforderlichkeitsprüfung als etwa deutsche Gerichte vornimmt und somit Abwägungsfragestellungen bereits auf dieser Ebene löst, wie es der Wortlaut des Art 52 I 2 GRCh nahelegt. 139 Jedenfalls ist hierin kein systematisches Problem zu sehen, da zum einen nicht erwartet werden kann, dass im Unionsrecht die zT überaus strengen Maßstäbe der in Deutschland gängigen Verhältnismäßigkeitsprüfung zugrunde gelegt werden. Die Begründungen des Gerichtshofs sind bekanntermaßen oft knapper als die teils lehrbuchartigen Ausführungen des BVerfG; zudem bestehen Gestaltungsspielräume des Unionsgesetzgebers und der Kommission gerade im Bereich des Binnenmarktes (vgl auch für die Mitgliedstaaten → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 165). Ähnliches hat auch der EGMR zugunsten der Mitgliedstaaten für die Konventionsrechte anerkennt (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 101). Im Bereich der unionsrechtlichen Grundrechtsprüfung ist zum anderen gerade in jüngerer Zeit eine im Vergleich mit den Grundfreiheiten strengere Verhältnismäßigkeitsprüfung auch gegenüber dem Unionsgesetzgeber festzustellen. So hat der EuGH in jüngerer Zeit
Kriterien auch EuGH, Urt v 21.12.2016, verb Rs C-203/15 u C-698/15, Rn 117 f – Tele2 Sverige = NJW 2017, 717 m Bespr Roßnagel S 696 ff = EuZW 2017, 153 m Bespr Priebe S 136 ff.; dazu Germelmann/Gundel, BayVBl 2017, 649 (654 f); Urt v 6.10.2020, Rs C-623/17, Rn 68 – Privacy International; Urt v 6.10.2020, verb Rs C-511/18, C-512/18 u C-520/18, Rn 132 – La Quadrature du Net ua = NJW 2021, 531 m Anm Ogorek; dazu Lassalle, Rec Dalloz 2021, 406 ff; Simon, Europe 12/2020, 12 ff; Urt v 2.3.2021, Rs C-746/18, Rn 48 – HK/Prokuratuur. 539 Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EGRechtsetzung, 2000, S 216. Vgl aber auch EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 81 – Schmidberger (sämtliche Umstände des jeweiligen Einzelfalls); Rs C-58/08, Slg 2010, I-4999, Rn 48 – Vodafone. 540 Streinz/Michl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 19. 541 Vgl Krämer in: Stern/Sachs, GRCh, Art 52 Rn 55 ff. 542 Vgl EuGH, Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 20 ff – Schräder; Rs C-331/88, Slg 1990, I-4023, Rn 13 ff – Fedesa; Rs C-296/93, Slg 1996, I-795, Rn 31 – Frankreich u Irland/Kommission; Rs C-58/08, Slg 2010, I-4999, Rn 52 – Vodafone. 543 EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 90 – Deutschland/Rat (Bananenmarktordnung) = JK 94, EWGV Art 186/2 (Fall 12). 544 EuGH, Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 28 – Winzersekt; Rs C-44/94, Slg 1995, I-3115, Rn 58 – National Federation of Fishermen‘s Organisations ua; Urt v 30.6.2016, Rs C-134/15, Rn 39 – Lidl/Freistaat Sachsen.
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die Ungültigkeit mehrerer Sekundärrechtsakte festgestellt.545 Hierzu gehört in prominenter Weise der Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten wegen ihrer Unvereinbarkeit mit Art 7 und 8 GRCh, weil es sich um einen Eingriff in großem Ausmaß und von besonderer Schwere in die betroffenen Grundrechte handelte, ohne dass gewährleistet war, dass sich der Eingriff auf das absolut Notwendige beschränkte546 (vgl ferner auch Fall 2). Dazu beitragen dürfte die allgemeine Aufwertung der Unionsgrundrechte durch die GRCh und die damit einhergehende ausdrückliche Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art 52 I 2 GRCh). Auch erkennt der EuGH ausdrücklich die Entwicklungsoffenheit der Charta-Grundrechte und ihrer Wertungen an, indem er die Charta (wie der EGMR die EMRK) als „living instrument“ bezeichnet.547 Lösung Fall 12: 140
Der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte ist eröffnet, weil ein Sekundärrechtsakt vorliegt und die Union (früher EG) an die Grundrechte gebunden ist (vgl Art 51 I 1 GRCh). Einen Eingriff in das Eigentumsrecht (heute Art 17 GRCh) verneint der EuGH schon im Schutzbereich, weil kein Wirtschaftsteilnehmer ein Eigentumsrecht an einen Marktanteil geltend machen könne. Der Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit (heute Art 16 GRCh; die Entscheidung spricht noch von Berufsausübungsfreiheit) ist hingegen eröffnet; allerdings diene nach Ansicht des EuGH der Eingriff Gemeinwohlzielen548 und sei deshalb verhältnismäßig, weil die Maßnahme zur Erreichung der agrarpolitischen Zielsetzung nicht „offensichtlich“ ungeeignet sei. Zwar lasse sich nicht ausschließen, dass das verfolgte Ziel durch weniger einschneidende Maßnahmen hätte erreicht werden können. Der EuGH könne jedoch nicht die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Unionsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch eine eigene Beurteilung ersetzen, wenn nicht der Beweis erbracht werde, dass diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet sind. Der Nachweis einer „offensichtlich irrige(n) Beurteilung“ des Gemeinschaftsgesetzgebers (heute Unionsgesetzgeber) sei dem Kl nicht gelungen. Daher greife die Rüge einer Verletzung des Rechts auf freie Berufsausübung (unternehmerische Tätigkeit) und der Nichteinhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht durch. Diese sehr oberflächliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit, die der EuGH in jüngerer Zeit nicht mehr erkennen lässt, erklärt sich
545 Vgl zB EuGH, Urt v 25.1.2022, Rs C-181/20 – YSOČINA WIND as; dazu Simon, Europe 3/2022, 14 f; Gundel, GewArch 2022, 261 ff; Spangenberg JDE 2022, 220 ff; Urt v 22.11.2022, verb Rs C-37/20 u C-601/ 20 – WM u Sovim SA/Luxembourg Business Registers; Urt v 8.12.2022, Rs C-694/20 – Ordre van Vlaamse Balies ua; dazu Berlin, JCP 2022, 2325. 546 Vgl zB EuGH, Urt v 8.4.2014, verb Rs C-293/12 ua – Digital Rights Ireland; Urt v 2.10.2018, Rs C-207/ 16, Rn 54 ff – Ministerio Fiscal; dazu Bonneville/Broussy/Cassagnabère/Gänser, AJDA 2018, 2280 (2283 f); Michel, Europe 12/2018, 12. 547 EuGH, Urt v 18.12.2020, Rs C-336/19, Rn 77 – Centraal Israëlitisch Consistorie van België. 548 Dies erschient im Hinblick auf die Nichtvereinbarkeit der Bananenmarkt-VO mit dem WTORecht fraglich; vgl den WTO Panel Report v 12.4.1999, WT/DS27/RW/ECU (in Auszügen abgedruckt in EuZW 1999, 431 ff), sowie den Appellate Body Report v 26.11.2008, WT/DS27/AB/RW2/ECU, WT/DS27/ AB/RW/USA.
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möglicherweise aus der Sonderstellung des WTO-Rechts im Unionsrecht, welches im Interesse der Wahrung der Verhandlungsspielräume der Unionsorgane jedenfalls keine unmittelbare Anwendung entfaltet.549
141 Es ist also unabhängig von der Schwerpunktsetzung des EuGH bei den Unions-
grundrechten stets eine vollständige Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen. Im Einzelnen sind folgende Abwägungsgesichtspunkte hervorzuheben: In ähnlicher Weise wie bei den Grundfreiheiten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 163) kann die Geeignetheit einer Maßnahme (insbesondere bei Gestaltungsspielräumen und der Prüfung der Gleichheitsverletzung) auch davon abhängen, ob die legitimen Zielsetzungen in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werden.550 Die Erforderlichkeit mitgliedstaatlicher Maßnahmen entfällt nicht notwendigerweise schon dann, wenn ein anderer Mitgliedstaat weniger belastende Mittel gewählt hat. Dies prüft der EuGH teilweise auch im Rahmen der Angemessenheit.551 Bei der Prüfung der Angemessenheit ist auch auf den Einzelfall (Rn 138) und die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung abzustellen. Die gerichtliche Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeit hängt maßgeblich davon ab, ob ein Gestaltungsspielraum (Beurteilungs- oder Ermessensspielraum) besteht. Ein solcher kann insbesondere angenommen werden, wenn es um komplexe Sachverhalte bzw Politikbereiche geht oder die Unionsgrundsätze auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen
549 Vgl nur EuGH, Rs C-149/96, Slg 1999, I-8395, Rn 36 – Portugal/Rat = JK 2000, EGV Art 300/1. 550 Vgl allg EuGH, verb Rs C-159/10 u C-160/10, Slg 2011, I-6919, Rn 85 – Fuchs u Köhler; Rs C-123/10, Slg 2011, I-10003, Rn 71 – Brachner. S auch bezogen auf die Zulässigkeit des Verbots religiöser Symbole am Arbeitsplatz im Sinne einer kohärenten Neutralitätspolitik EuGH, Urt v 14.3.2017, Rs C-188/ 15 – Bougnaoui und ADDH; Urt v 14.3.2017, Rs C-157/15 – Achbita; dazu Bribosia/Rorive, RTDH 2017, 1017 ff; Cloots, CMLRev 55 (2018), 589 ff; Daniel, Europe 5/2017, 5 ff; Driguez, Europe 5/2017, 378 f; Gauthier, JDE 2017, 263 ff; Germann, EuR 2018, 235 ff; Howard, MJ 24 (2017), 348 ff; Klein, NVwZ 2017, 920 ff; Mangold/Payandeh, EuR 2017, 700 ff; Mouly, Rec Dalloz 2017, 947 ff; Robin-Olivier, RTDE 2017, 229 ff; Sagan, EuZW 2017, 457 ff; EuGH, Urt v 15.7.2021, verb Rs C-804/18 u C-341/18 – WABE und MH Müller Handel = NJW 2021, 2715 m Anm Dornbusch = JZ 2021, 898 m Anm Classen = ZESAR 2021, 528 m Bespr Schlachter S 477 ff = EuZW 2022, 69 m Bespr Sura S 65 ff; dazu Djelassi/Mertens/Wattier, RTDH 2022, 373 ff; Miné, JDE 2021, 421 ff; Simon/Rigaux, Europe 10/2021, 11 f.; s ferner dazu mwN Germelmann/ Gundel, BayVBl 2018, 689 (697 f); dies, BayVBl 2022, 505 (516); zur Rspr von EuGH und EGMR in dieser Frage s auch Gonzalez, in: Mélanges Mouly, 2020, S 191 ff. Für die Kohärenzerfordernis beim Sonderarbeitsrecht der Religionsgemeinschaften (hier Durchsetzung der katholischen Ehelehre) EuGH, Urt v 11.9.2018, Rs C-68/17, Rn 57 ff – IR/JQ. 551 Vgl EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 37 f – Omega; Rs C-208/09, Slg 2010, I-13693, Rn 91 – Sayn-Wittgenstein; zur Parallelsituation bei den Grundfreiheiten vgl → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 165.
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Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweisen (Rn 112, 131).552 Ein Einschätzungs- und Prognosespielraum kommt eher für die Gesetzgeber als für die Verwaltung in Betracht. Zweifelhaft ist, ob ähnlich wie im Bereich der EMRK (→ Ehlers/ Germelmann § 2.1 Rn 143) unterschiedliche politische Traditionen in den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume rechtfertigen können; in der Rspr des EuGH findet sich diese Tendenz zuweilen.553 Schließlich ist die Art des Grundrechtsschutzes von Bedeutung. Unionsgrundrechte, welche die Privatssphäre schützen und eng mit der Würde des Menschen zusammenhängen (wie etwa das Recht auf Leben, Art 2 GRCh, und die körperliche Unversehrtheit, Art 3 GRCh) erfordern im Falle ihrer Beeinträchtigung eine strengere gerichtliche Überprüfung.554 Ähnliches gilt für die Unionsgrundrechte, die der Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 7 GRCh) und dem Schutz personenbezogener Daten (Art 8 GRCh) dienen.555 Ebenso sind auch die politischen Rechte der demokratischen Meinungsbildung (wie die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit, Art 11 GRCh, sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Art 12 GRCh) und der effektive Rechtsschutz (Art 47 GRCh) streng zu schützen. Dagegen sind die Gestaltungsmöglichkeiten der EU und der Mitgliedstaaten größer, wenn der soziale Bezug oder der Marktbezug größer ist, wie dies etwa auf die unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) zutrifft.556 Soweit die Charta-Rechte der EMRK entsprechen, dürften sich die Unionsgerichte trotz der Zulässigkeit eines weitergehenden Schutzes (Art 52 III 2 GRCh) maßgeblich an der EGMR-Rspr orientieren.
cc) Grundfreiheiten und sonstige Primärrechtsbestimmungen Wegen der Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung können die Unionsgrund- 142 rechte ferner nur dann wirksam eingeschränkt werden, wenn die Maßnahmen auch mit dem sonstigen primären Unionsrecht, insbesondere anderen Grundrech-
552 Näher zum Ganzen Jarass GRCh, Art 52 Rn 45 f. Vgl auch Koch Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003, S 527 ff; v Danwitz in: Essays in Honour of Pernilla Lindh, 2012, S 367 (377). 553 In diesem Sinne EuGH, Urt v 18.12.2020, Rs C-336/19 – Centraal Israëlitisch Consistorie van België = NVwZ 2021, 219 m Anm Gerhold/Hahn = JCP 2021, 346 m Anm Gonzalez; dazu Rigaux, Europe 2/2021, 17 f; ferner Vordermayer-Riemer, DÖV 2019, 693 ff: Verbot des betäubungslosen Schächtens. Ferner EuGH, Urt v 15.7.2021, verb Rs C-804/18 u C-341/18, Rn 85 ff -– WABE und MH Müller Handel für die Neutralitätspflicht am Arbeitsplatz bezogen auf religiöse Symbole. S aber auch EuGH, Urt v 13.10.2022, Rs C-344/20 – LF/SCRL; dazu Colonna/Renaux-Personnic, JCP 2022, 2216 ff; Rigaux, Europe 12/2022, 12 f. 554 Vgl auch Jarass GRCh, Art 52 Rn 47 m Rspr-Nachw. 555 Vgl zu Art 7 und 8 GRCh oben Rn 133, 139. 556 Vgl EuGH, Urt v 30.6.2016, Rs C-134/15 – Lidl/Freistaat Sachsen. S auch EuG, Urt v 21.12.2022, Rs T187/21, Rn 123 – Firearms United Network.
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ten und Grundsätzen,557 den Grundfreiheiten (→ Ehlers/Germelmann § 12) und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts, wie etwa dem Rechtssicherheitserfordernis, vereinbar sind.
5. Schematische Zusammenfassung 143 Schematisch zusammengefasst können die Freiheitsrechte der EU im Regelfall wie
folgt geprüft werden: I. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte 1. Handeln der EU (Rn 72) 2. Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben und sonstiges Handeln im Anwendungsbereich des Unionsrechts (Rn 74 ff) 3. Handeln im räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich der Unionsgrundrechte (Rn 100) – nur im Problemfall zu prüfen II. Schutzbereich der Unionsgrundrechte (Rn 107 ff) 1. Sachlicher Schutzbereich a) Betroffenheit eines grundrechtlich geschützten Lebensbereichs oder Rechtsguts (Rn 107) aa) ggf Abgrenzung zu den vertraglich verankerten Rechten (Art 52 II GRCh) (Rn 108) bb) Auslegung im Lichte der EMRK-Rechte (nach Maßgabe des Art 52 III GRCh) (Rn 109) sowie ggf der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art 52 IV GRCh) (Rn 110) und ggf nach Maßgabe mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh) (Rn 111 f) cc) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Unionsgrundrechte (Art 54 GRCh) – nur im engen Ausnahmefall einschlägig (Rn 118) b) ggf Zuordnung der Unionsgrundrechte im Falle von Konkurrenzen und Kollisionen (Rn 116) c) ggf Herstellung der Kohärenz mit dem sonstigen Unionsrecht, Völkerrecht und den Verfassungen der Mitgliedstaaten (Art 53 GRCh) (Rn 114 f) – nur im Ausnahmefall zu problematisieren
557 Vgl für Art 38 GRCh und Art 169 AEUV (Verbraucherschutz) EuGH, Urt v 23.3.2021, Rs C-28/20 – Airhelp Ltd = EuZA 2021, 450 (nur LS) m Anm Pötters/Hansen; dazu auch Grard, JDE 2021, 344 ff; Michel, Europe 5/2021, 29 f; Siguoirt, Rec Dalloz 2021, 1171.
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2.
Personeller Schutzbereich (Rn 119) Natürliche Personen, juristische Personen, bei manchen Grundrechten nur Unionsbürger III. Beeinträchtigung des Schutzbereichs (Rn 120 ff) 1. Direkte Eingriffe durch Rechtsakte oder Realakte: jede Freiheitsverkürzung 2. Indirekte Eingriffe durch mittelbar-faktische Eingriffe a) Hinreichende Nähe b) Spürbarkeit/Erheblichkeit IV. Rechtfertigung (Rn 123 ff) 1. Erfordernis einer Rechtsgrundlage (Rn 127 ff) a) Im Falle eines Handelns der EU: (1) unionsrechtlicher Rechtsakt: VO, RL, Beschluss (Art 288 II–IV AEUV) (2) auch delegierte oder Durchführungs-Rechtsakte (Art 290, 291 AEUV) in den Grenzen des Basisrechtsakts (3) keine bestimmten Anforderungen an eine Beteiligung des Parlaments (kein „Parlamentsvorbehalt“, aber hinreichende Regelungsdichte (Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit) b) Im Falle eines Handelns der Mitgliedstaaten: (1) Gesetzliche Grundlage (2) Zugänglichkeit, hinreichende Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit (3) ggf besondere Anforderungen des nationalen Verfassungsrechts; für Deutschland: Beachtung des Parlamentsvorbehalts 2. Keine Verletzung des Wesensgehalts des Grundrechts (Art 52 I 1 GRCh) (Rn 133) 3. Verfolgung zulässiger Ziele (Rn 131) Gemeinwohlziele sowie Schutz der Rechte und Freiheiten anderer (Art 52 I 2 GRCh), zB: a) Allgem Zielbestimmungen des EU-Rechts b) Schrankenbestimmungen der EMRK (über Art 52 III GRCh) c) Grundsatzbestimmungen der GRCh d) Zielbestimmung des sonstigen Unionsrechts e) Gemeinwohlziele der Mitgliedstaaten und Schutz der Rechte und Freiheiten anderer im Rahmen des Unionsrechts 3. Schranken-Schranken (Rn 134 ff) a) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art 52 I 3 GRCh) (Rn 136 ff) (1) Geeignetheit, incl allgem Zulässigkeit des eingesetzten Mittels (2) Erforderlichkeit des Mittels (3) Angemessenheit des Mittels
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(4) ggf Beachtung von Gestaltungsspielräumen namentlich nach Maßgabe von Grundsätzen (Art 52 V GRCh) und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art 52 VI GRCh) b) Beachtung der Grundfreiheiten und der sonstigen Primärrechtsbestimmungen (Rn 142)
IX. Rechtsschutz und Kontrolle 144 Rechtsschutz gegen die Verletzung von Unionsgrundrechten bzw noch allgemeiner
die Kontrolle ihrer Einhaltung findet sich auf verschiedenen Ebenen des Unionsrechts, die teilweise dem gerichtlichen Rechtsschutz, teilweise aber auch alternativen Rechtsschutz- und Kontrollverfahren zuzuordnen sind.558
1. Gerichtlicher Rechtsschutz 145 Die Möglichkeiten gerichtlichen Rechtsschutzes gehören naturgemäß zu den wich-
tigsten Voraussetzungen für einen wirksamen Grundrechtsschutz. Nicht umsonst haben sich sowohl die deutschen Grundrechte mit dem Institut der Verfassungsbeschwerde nach Art 93 I Nr 4a GG wie auch die Grundrechte der EMRK wegen der Möglichkeit der Individualbeschwerde nach Art 34, 35 EMRK eine besondere Prägekraft in ihren jeweiligen Rechtsordnungen und auch für den europäischen Grundrechtsschutz insgesamt entwickeln können. Die Wirkungskraft der globalen Grundrechtskataloge des IPbpR und des IPwskR ist demgegenüber deutlich reduziert, da die Fakultativprotokolle, die prozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten gewähren, nicht nur kaum wirksame Durchsetzungsmechanismen enthalten, sondern auch nur von einem Teil der Vertragsstaaten ratifiziert worden sind.559 Für die Unionsgrundrechte ist ein besonderer Rechtsbehelf wie die Verfassungsbeschwerde oder die Individualbeschwerde nicht vorgesehen; das integrierte Rechtsschutzssystem der Union mit dem Zusammenspiel von Unionsgerichtsbarkeit und mitgliedstaatlicher Gerichtsbarkeit sowie die Prinzipien der unmittelbaren Geltung und des
558 Vgl im Überblick auch Cariat La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, 2016, S 787 ff. 559 Vgl dazu v Arnauld VR, Rn 762 (zum IPbpR), 763 (zum IPwskR). Deutschland hat das (1.) Fakultativprotokoll v 19.12.1966 zum IPbpR (BGBl 1992 II 1246, 1247) und jüngst auch das (2.) Fakutativprotokoll v 10.12.2008 zum IPwskR (BGBl 2023 II Nr 4) ratifiziert.
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Anwendungsvorrangs (Rn 4, 16 f) führt allerdings zu einer hohen Durchsetzungskraft.
a) Rechtsschutz durch die Unionsgerichtsbarkeit aa) Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen Gem Art 19 I UAbs 1 S 2 EUV sichert der Gerichtshof der EU (Gerichtshof, Gericht 146 und Fachgerichte) „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Dazu gehört, die Einhaltung der Unionsgrundrechte in Bezug auf die Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts (Art 51 I 1 GRCh) zu kontrollieren. Dies ist aber nur im Rahmen der Rechtsmittel möglich, die das Unionsrecht bereitstellt (Art 258 ff AEUV). Rügt der Einzelne, dass eine Maßnahme der Union die Unionsgrundrechte 147 verletzt, kommt eine Nichtigkeitsklage gem Art 263 IV AEUV in Betracht. Für diese gelten die üblichen Zulässigkeitsvoraussetzungen. So muss eine an die natürliche oder juristische Person gerichtete oder sie unmittelbar und individuell betreffende Handlung oder ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter vorliegen, der sie unmittelbar betrifft und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht. Greift der Rechtsakt direkt in die grundrechtliche Position ein, wird man eine Unmittelbarkeit anzunehmen haben. Individuell betroffen ist ein Kläger aber nur, wenn er durch den Akt wie ein Adressat betroffen wird;560 allein die Grundrechtsbeeinträchtigung genügt hier nicht, was den Rechtsschutz gegen Normen erschwert.561 Zu den Rechtsakten mit Verordnungscharakter sind keine Gesetzgebungsakte zu rechnen, wohl aber abstrakt-generelle Normen wie Durchführungsrecht und delegiertes Recht, das nicht in einem Gesetzgebungsverfahren erlassen worden ist.562 Im Falle eines rechtswidrigen Untätigbleibens der Union (etwa der Missachtung einer grundrechtlichen Schutzpflicht) kann eine Untätigkeitsklage nach Art 265 AEUV erhoben werden, wenn die Union es unterlassen hat, einen Rechtsakt (also keine bloße Empfehlung oder Stellungnahme) an die natürliche oder juristische Person zu richten (UAbs 3). Darüber hinaus kennt das Unionsrecht keinen allgemeinen Individualrechtsschutz gegen Normen (oder auf Erlass von Normen) sowie keine individuel
560 Grdl EuGH, Rs 25/62, Slg 1963, 217 – Plaumann. 561 Vgl etwa (Zulässigkeit nach Art 263 IV AEUV verneint) EuGH, Beschl v 12.1.2017, Rs C-280/16 P – Amrita ua/Kommission; EuG, Beschl v 11.3.2016, Rs T-436/15 – Consorzio Vivaisti viticoli pugliesi ua; Beschl v 11.3.2016, Rs T-439/15 – Amrita ua/Kommission. 562 EuGH, Urt v 3.10.2013, Rs C-583/11 P, Rn 52 ff – Inuit Tapiriit Kanatami ua. Vgl dazu Streinz, EuZW 2014, 17 ff. Ferner EuG, Urt v 10.3.2020, Rs T-251/18 – International Forum for Sustainable Underwater Activities – IFSUA/Rat.
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len Leistungs- und sonstigen Feststellungsklagen.563 Da die Unionsgrundrechte auch unmittelbar durch das (Gesetzes-)Sekundärrecht (Rn 32 ff) verletzt werden können, ist nach allgemeinen Grundsätzen als Ausweg der Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten iVm dem Vorabentscheidungsverfahren des Art 267 AEUV gegeben.564 Zwar ist es den mitgliedstaatlichen Gerichten nicht gestattet, selbst über die Gültigkeit von Unionsrecht zu befinden. In Betracht kommt aber (jedenfalls in Deutschland) eine auf Nichtanwendung des Sekundärrechts gerichtete Feststellungsklage vor den nationalen Verwaltungsgerichten. Hält das Verwaltungsgericht den Unionsrechtsakt für primärrechtswidrig, muss es gem Art 267 AEUV den EuGH anrufen, selbst wenn es sich nicht um ein letztinstanzliches Gericht handelt.565 Der EuGH hat dann in dem Vorabentscheidungsverfahren auch über die Gültigkeit des Unionsrechts zu entscheiden (Art 267 I lit b AEUV). Mittelbar lässt sich eine Überprüfung der Einhaltung der Unionsgrundrechte durch die Unionsorgane auch über eine Schadensersatzklage gem Art 268, 340 II AEUV erreichen. Zum Zusammenspiel mit dem Rechtsschutz nach der EMRK vgl → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 104 ff. 148 Rügt der Einzelne, dass ein Mitgliedstaat bei der Durchführung des Rechts der Union (Art 51 I 1 GRCh) die Unionsgrundrechte verletzt hat, ist nur der Rechtsweg zur nationalen Gerichtsbarkeit gegeben, die dann erneut ein Vorabentscheidungsverfahren einleiten kann (Rn 150).
bb) Rechtsschutzmöglichkeiten der Unionsorgane und Mitgliedstaaten 149 Widerspricht das Unionsrecht den Unionsgrundrechten, können die Unionsorgane
und Mitgliedstaaten als privilegierte Kläger nach Maßgabe des Art 263 I, II AEUV Nichtigkeitsklage erheben.566 Ferner kann die EU-Kommission im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens gem Art 258 AEUV die Beachtung der Unionsgrundrechte durch die Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts durchsetzen. Dieselbe Möglichkeit steht den Mitgliedstaaten gem Art 259 AEUV zu, wenn sie der Auffassung sind, dass andere Mitgliedstaaten gegen Unionsgrundrechte verstoßen haben.
b) Rechtsschutz durch die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit 150 Nach Art 19 I UA 2 müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe
schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Be-
563 564 565 566
Vgl dazu Ehlers in: ders/Schoch, RS, § 7 Rn 21. Vgl auch EuGH, Rs C-432/05, Slg 2007, I-2271, 2316 f, Rn 38 f – Unibet. Vgl EuGH, Rs 314/85, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost. Für die Klagebefugnis der teilprivilegierten Kläger s Art 263 III AEUV.
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reichen gewährleistet ist. Dies gilt auch im Hinblick auf die Durchsetzung der Unionsgrundrechte. Wird das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten durchgeführt (Art 51 I 1 GRCh), kann sich Jedermann mit der Behauptung, dass seine Unionsgrundrechte verletzt worden seien, an die mitgliedstaatlichen Gerichte wenden.567 Die Unionsgrundrechte dürften nach dem deutschen Verständis als öffentlich-rechtliche Normen anzusehen oder solchen Normen zumindest gleichzustellen sein,568 so dass idR nach § 40 I VwGO regelmäßig der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist. Anderes gilt bei Zugrundelegung der deutschen Rspr569 aber, wenn das Rechtsverhältnis, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird, privatrechtlicher Natur ist. Dies ist der Fall, wenn sich die Verwaltung privatrechtlicher Handlungsformen bedient. Die ordentlichen Gerichte sind dann befugt und verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit nach § 13 GVG über die öffentlich-rechtlichen Bindungen (und damit die Unionsgrundrechte) des privatrechtlichen Verwaltungshandelns mitzuentscheiden.570 Greift ein nationales Parlamentsgesetz unmittelbar in die durch die Unionsgrundrechte geschützte Sphäre ein, ist die Verfassungsbeschwerde,571 im Falle untergesetzlicher Normen die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage (gerichtet auf Nichtanwendung der untergesetzlichen Bestimmung), zu erheben. Verstöße der nationalen Stellen (einschließlich der Gerichte) gegen die Unionsgrundrechte und die Vorlagepflicht nach Art 267 AEUV (sogleich Rn 151) können nach den allgemeinen Grundsätzen der Staatshaftung für Unionsrechtsverstöße eine Haftung des Mitgliedstaates wegen Verletzung des Unionsrechts nach sich ziehen.572 Zwingende unionsrechtliche Vorgaben des Sekundärrechts unterliegen kei- 151 ner Überprüfung am Maßstab der nationalen Grundrechte (Fall 4), es sei denn, man folgte der bundesverfassungsgerichtlichen Rspr und nähme an, die Union habe außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt (Rn 45). Der Sonderfall des generellen Absinkens des Unionsgrundrechtsstandards unter das unabdingbare Mininum iSd Solange-Rspr, der eine Prüfung am Maßstab der deutschen Grundrechte ermöglichen würde, ist heute rein theoretisch; ein Rechtsbehelf (Verfassungsbeschwerde, konkrete Normenkontrolle) an das BVerfG, der dieses Absinken nicht substantiiert, ist
567 Zur Rolle der nationalen Gerichtsbarkeit vgl auch Abs 5 S 2 der Präambel der GRCh. 568 Zu den Grundfreiheiten → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 174. 569 Vgl zB GmS-OGB BGHZ 97, 312, 313 f; GmS-OGB BGHZ 108, 284, 286. 570 Vgl entsprechend für das deutsche Recht BVerwGE 129, 9 = JK 2007, VwGO § 40 I 1/37. Näher zum Streitstand der Abgrenzung einer öffentlich-rechtlichen von einer bürgerlichen Streitigkeit Ehlers in: ders/Schoch, RS, § 25 Rn 85 ff. 571 BVerfGE 152, 216 (Rn 50 ff) – Recht auf Vergessen II. 572 Vgl zu den Haftungsgrundlagen EuGH, verb Rs C-6/90 u C-9/90, Slg 1991, I-5357 – Francovich; verb Rs C-46/98 u C-48/98, Slg 1996, I-1029 – Brasserie du Pêcheur. Für Verstöße durch Gerichtsentscheidungen EuGH, Rs C-224/01, Slg. 2003, I-10239 – Köbler = EuZW 2003, 718 m Anm Obwexer = EWS 2004, 19 m Bespr Gundel S 8 ff.
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unzulässig.573 Sind die Fachgerichte der Meinung, dass das durchzuführende Unionsrecht gegen die Unionsgrundrechte verstößt, müssen sie gem Art 267 AEUV den EuGH anrufen (Rn 147).574 Damit bedarf es bei der Gewährung von Rechtsschutz wegen angenommener Ungültigkeit des Unionsrechts stets einer Vorlage an den EuGH. Dieser entscheidet letztverbindlich. Ein Abstellen auf die Klarheit des Verstoßes gegen die Unionsgrundrechte ist unzulässig, wenn noch keine entsprechende EuGH-Entscheidung existiert.575 Für den vorläufigen Rechtsschutz vor den Fachgerichten bestehen Besonderheiten (Rn 61). 152 Das mitgliedstaatliche Recht darf im Falle eines Verstoßes gegen das vorrangig geltende Unionsrecht einschließlich der Unionsgrundrechte nicht angewendet werden. Die Pflicht zur Nichtanwendung trifft sowohl jedes nationale Gericht als auch jede Verwaltungsbehörde (Rn 62). Die Gerichte müssen ex officio prüfen, ob nationale Rechtsakte gegen die Unionsgrundrechte verstoßen, wobei die Frage nach der Reihenfolge der Prüfung, ob neben dem Unionsrechtsverstoß auch ein Verstoß gegen nationales Recht vorliegt, zugunsten der Unionsrechtsprüfung zu beantworten ist. Dies gilt jedenfalls, wenn ein vollständig unionssekundärrechtlich determinierter nationaler Rechtsakt vorliegt, da dem EuGH nicht die Möglichkeit genommen werden darf, zur Grundrechtswidrigkeit des Sekundärrechts Stellung zu nehmen.576 Jedenfalls das letztinstanzliche nationale Gericht muss dem Gerichtshof im Interesse der Einheit der Unionsrechtsordnung die Grundrechtsprüfung und Ungültigerklärung des Sekundärrechts ermöglichen. Gibt es Zweifel über die Auslegung des Unionsgrundrechts, kann jedes Fachgericht den EuGH nach Art 267 I lit a, II AEUV anrufen. Dies ist der Fall, wenn es um Verstöße des nationalen Rechts gegen Unionsrecht geht. Die letztinstanzlich entscheidenden Gerichte sind gem Art 267 III AEUV auch hier zur Vorlage verpflichtet. Anderes gilt, wenn die Rechtsfrage in einem gleichgelagerten Fall dem EuGH vorgelegt und entschieden worden ist, eine gesicherte Rspr des EuGH existiert oder die richtige Anwendung des Unionsrechts offenkundig ist (sog acte-clair-Doktrin).577
573 BVerfGE 102, 147, 161 ff – Bananenmarktordnung; dazu Lecheler, JuS 2001, 120 ff. 574 EuGH, Rs 314/85, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost. 575 Ein acte clair kann hier nur angenommen werden, wenn der Gerichtshof den Sekundärrechtsakt in einem anderen Verfahren für ungültig erklärt hat; s dazu Germelmann Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der EU, 2009, S 407 f. 576 EuGH, verb Rs C-188/10 u C-189/10, Slg 2010, I-5665, Rn 51 ff – Melki u Abdeli. 577 Vgl zur acte clair-Rspr EuGH, Rs 283/81, Slg 1982, 3415, Rn 16 – CILFIT; Rs C-495/03, Slg 2005, I-8151, Rn 35 – Intermodal Transports. Wenig sinnvoll ist die in der Rspr des BVerfG vorgenommene Differenzierung zwischen einem „acte clair“ und einem „acte éclairé“ (zB BVerfGE 135, 155 Rn 183), wobei sich letzterer dadurch kennzeichnet, dass der EuGH eine Rechtsfrage geklärt hat (sie also nun „acte clair“ ist); denn die Behandlung der beiden Fallgruppen unterscheidet sich nicht.
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Kommt ein nationales Gericht der sich aus Art 267 III AEUV oder der Foto-Frost- 153 Rspr (Rn 147) ergebenden Verpflichtung nicht nach, stellt dies nicht nur eine Vertragsverletzung, sondern auch einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (nach Art 101 I 2 GG) dar578, der in Deutschland (anders als in den meisten anderen Mitgliedsstaaten) mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann.579 Das BVerfG prüft jedoch in stRspr nur, ob die Zuständigkeitsregelung in „nicht mehr verständlich[er]“ und „offensichtlich unhaltbar[er]“ Weise gehandhabt wurde.580 Hierbei haben die beiden Senate des BVerfG erst unterschiedliche Anforderungen gestellt. Während sich der Zweite Senat mit einer Willkürprüfung begnügte581, stellte der Erste Senat auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Handhabung der Vorlagepflicht nach Art 267 III AEUV ab.582 Heute sind in der Rspr im Wesentlichen drei (vom BVerfG wenig konzis herausgearbeitete583) Fallgruppen herrschend: Das Fachgericht muss entweder (1) seine Vorlagepflicht grundsätzlich verkannt haben, weil es in Kenntnis der Entscheidungserheblichkeit der Frage von einer Vorlage absieht oder mangels Kenntnissen des Unionsrechts oder der unionsgerichtlichen Rspr die Entscheidungserheblichkeit nicht sieht; oder (2) von der unionsgerichtlichen Rspr bewusst ohne (erneute) Vorlage abweichen; oder (3) bei erkennbar unvollständiger EuGH-Rspr seinen „Beurteilungsrahmen“ überschreiten, indem es ohne Vorlage in willkürlicher Weise einen acte clair annimmt oder eine Auslegungsvariante des Unionsrechts zulasten einer näherliegenden Auslegung ablehnt. Gerade die letzte Fallgruppe bleibt danach in ihrer Reichweite mangels präziser Definition letztlich unklar und muss in unionsrechtskonformer Weise am Maßstab des unionsrechtlichen Effektivitätsgebots im Interesse der Einheit des Unionsrechts ausgelegt werden; daher genügt für die Unhaltbarkeit bereits das objektive Bestehen einer nicht geklärten Unionsrechtsfrage.584 Richtigerweise ist schließlich eine Verfassungsbeschwerde wegen des Verstoßes gegen die Garantie
578 St Rspr seit BVerfGE 73, 339 (366 ff); 75, 223 – Kloppenburg; dazu Hilf, EuR 1988, 1 ff. Jüngst wieder bestätigt in BVerfGE 152, 216 (Rn 64 ff, 75) – Recht auf Vergessen II. Zu einem möglichen Verstoß gegen Art 19 IV GG oder das materielle Grundrecht BVerfGE 118, 79 (97) – Treibhausgasemissionsberechtigungen. 579 Näher zum Ganzen Thiemann, JURA 2012, 902 (910, 912); Betz Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013, S 55 ff. Unionsrechtlich gefordert wird das nicht; s EuGH, Urt v 21.12.2021, Rs C-497/20 – Randstad Italia SpA; dazu Simon, Europe 2/2022, 11 f; Bonneville/Gänser/Iljic, AJDA 2022, 398 f. 580 BVerfGE 147, 364 (Rn 39). 581 BVerfGE 126, 286. 582 BVerfGE 128, 157. S zusammenfassend Michael, JZ 2012, 870 ff. 583 Vgl BVerfGE 135, 155 (Rn 180 ff); 147, 364 (Rn 40 ff); vgl auch BVerfGE 147, 364 (Rn 40 ff); 152, 216 (Rn 72 ff). 584 Näher Ehlers in: ders/Schoch, RS, § 12 Rn 60 ff mwN.
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des gesetzlichen Richters auch nicht aufgrund der Missachtung des Grundsatzes der allgemeinen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn der Rechtsschutzsuchende das letztinstanzliche Gericht nicht auf die Vorlage an den EuGH hingewiesen hat.585 Denn der Rechtsschutzsuchende kann eine Vorlage anregen, aber nicht erzwingen. Rechtspolitisch ist daher gefordert worden, einen einfachgesetzlichen Rechtsbehelf zur Durchsetzung der Vorlagepflicht in Gestalt eines Antragsrechts und eine Nichtvorlageregel einzuführen.586 154 Heute wird man parallel zu der Rüge der Verletzung des Art 101 I 2 GG wegen mangelnder Vorlage eines Unionsgrundrechtsverstoßes an den EuGH auch direkt die Verletzung des Unionsgrundrechts vor dem BVerfG rügen können, welches dann seinerseits diese Fragen nach Art 267 III AEUV vorlegen müsste.587 Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG sind nämlich nach der neueren Rspr in erweiternder Auslegung von Wortlaut und der Systematik des Art 93 I Nr 4a GG nicht mehr nur die deutschen Grundrechte, sondern nun auch die Unionsgrundrechte.588 Freilich bleibt Prüfungsgegenstand hierbei weiterhin nur nationales Recht, nicht Unionsrecht. Kollidiert ein nationales Parlamentsgesetz sowohl mit den Unionsgrundrechten wie auch mit den deutschen Grundrechten, sind die Unionsgrundrechte vorrangig zu prüfen, weil in ihrem Anwendungsbereich für nationale Grundrechte prinzipiell kein Raum bleibt (Rn 46). Da das BVerfG den Verstoß des nationalen Rechts gegen die Unionsgrundrechte selbst prüft, ist es in Bezug auf die Auslegung der Unionsgrundrechtsprüfung wegen der eigenen Zuständigkeitserweiterung nun letztinstanzliches Gericht iSd Art 267 III AEUV und damit gegenüber dem EuGH regelmäßig vorlagepflichtig.589 Damit erschiene heute auch eine konkrete Normenkontrolle an das BVerfG gem Art 100 I GG zur Feststellung eines Unionsgrundrechtsverstoßes ohne vorherige Klärung der Unionsrechtslage im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens durchaus denkbar; denn das BVerfG könnte alle Fragen selbst entscheiden und vorlegen. Allerdings bezieht sich die Zuständig-
585 Vgl BVerfGE 129, 78 (93 f). AA aber wohl BVerfG (K), EuR 2008, 558; krit Terhechte, EuR 2008, 567 ff; in wenig überzeugender Weise differenzierend für das Zulassungsverfahren bei Rechtsmitteln BVerfG (K), Beschl v 19.4.2017, 1 BvR 1994/13. 586 Vgl Rabe FS Redeker, 1993, S 201 (206); Gundel, EWS 2004, 8 (13 f); Schröder, EuR 2011, 808 (826 f). 587 Gundel in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, § 18 Rn 44 weist zutr darauf hin, dass damit die Fallgruppe des Art 101 I 2 GG aus unionsrechtlicher Sicht eigentlich überflüssig wäre. 588 BVerfGE 152, 216 (Rn 50 ff) – Recht auf Vergessen II. S schon oben Rn 47. 589 Vgl BVerfGE 152, 216 (Rn 68 ff) – Recht auf Vergessen II. Im Übrigen hat das BVerfG erst sehr spät damit begonnen, dem EuGH Vorabentscheidungsersuchen zu unterbreiten, auch wenn es schon lange in den Fällen vorlagepflichtig war, in denen kein fachgerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung steht (wie bei Verfassungsbeschwerden gegen unmittelbar in die Grundrechte eingreifende Parlamentsgesetze). S für den Fall einer ultra-vires-Frage BVerfGE 134, 366; krit Heun, JZ 2014, 331 ff.
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keitserweiterung ausdrücklich bislang nur auf Verfassungsbeschwerden.590 Bislang geht das BVerfG nach nationalem Verfassungsrecht unter dem Gesichtspunkt der Entscheidungserheblichkeit davon aus, dass eine Vorlage nach Art 100 I 1 GG unzulässig ist, wenn sowohl eine Unionsrechts- als auch eine Verfassungswidrigkeit in Betracht kommt und das vorliegende Gericht nicht geklärt hat, ob das von ihm als verfassungswidrig beurteilte Gesetz in Umsetzung eines dem nationalen Gesetzgeber durch das Unionsrecht verbleibenden Gestaltungsspielraum ergangen ist. Das vorliegende Gericht muss hierfür jedenfalls ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 I AEUV einleiten, unabhängig davon, ob es ein letztinstanzliches Gericht ist.591 Vermutlich wird sich an dieser Rspr, die zur Entlastung des BVerfG beitragen soll, nichts ändern, auch wenn sie nicht mehr zwingend ist, da das BVerfG die entscheidungserheblichen Fragen nun auch selbst vorlegen könnte.592 Soweit die nationalen Grundrechte neben den Unionsgrundrechten weiterhin Anwendung finden oder gem Art 53 GRCh über diese hinausgehen können (Rn 115), richtet sich der Rechtsschutz nach dem nationalen Recht.
2. Weitere Formen des Schutzes der Unionsgrundrechte Neben der Unionsgerichtsbarkeit sind die EU-Kommission (Art 17 EUV), das Euro- 155 päische Parlament (Art 15 EUV), der Rat (Art 16 EUV) sowie die sonstigen Einrichtungen und Stellen der Union (insbes auch ihre Agenturen) verpflichtet, auf die Einhaltung der Unionsgrundrechte zu achten. Die Kommission hat eine Strategie zur wirksamen Umsetzung der GRCh entworfen, die ua eine Grundrechts-Checkliste (Rn 101 ff) für die Maßnahmen der Kommission (insbes vor und während des Gesetzgebungsverfahrens) und einen jährlichen Bericht über die Anwendung der Charta vorsieht.593 Ferner wurde im Jahre 2007 eine Agentur der Europäischen Union für 156 Grundrechte (FRA, European Agency for Fundamental Rights) ins Leben gerufen. Ziel der Agentur soll es sein, „den relevanten Organen, Einrichtungen, Ämtern und Agenturen der Union und der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts im Bereich der Grundrechte Unterstützung zu gewähren und ihnen Fachkenntnisse zur Verfügung zu stellen, um ihnen die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte zu erleichtern, wenn sie in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich
590 BVerfGE 152, 216 (Rn 50 ff) – Recht auf Vergessen II. 591 BVerfGE 129, 186 (198 ff). 592 Die Parallelität der Vorlagepflichten unterschiedlicher Gerichte hat es nicht in Frage gestellt; s BVerfGE 152, 216 (Rn 72 ff) – Recht auf Vergessen II. 593 KOM 2010, 573, S 6.
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Maßnahmen einleiten oder Aktionen festlegen.“594 Zudem soll die unabhängige Agentur mit dem Europarat und mit nichtstaatlichen Organisationen zusammenarbeiten. 157 Das Europäische Parlament kann – ebenso wie der Europäische Bürgerbeauftragte (Art 228 AEUV, Art 43 GRCh)595 – insb auf Petitionen reagieren, mit denen Bürger eine Verletzung der Unionsgrundrechte rügen. Im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der Union durch einen Mitgliedstaat kann der Rat nach vorheriger Beteiligung der anderen Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen (Art 7 EUV iVm Art 354 AEUV). Zu diesen Verletzungen gehören auch Zuwiderhandlungen gegen die Unionsgrundrechte.596 Das Verfahren ist in der Praxis unwirksam; allerdings befindet sich im Rahmen des Rechtsstaatsdialogs im Rat gerade auch die Wahrung der Grundrechte in den Mitgliedstaaten im Fokus der Aufmerksamkeit des (freilich informellen) Berichts-, Austausch- und Kontrollverfahrens.597 Beachtet werden müssen die Unionsgrundrechte auch im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, wobei es maßgeblich auf die handelnden Instanzen ankommt, weil der Gerichtshof, von dem in Art 275 II AEUV genannten Fall abgesehen, nach Abs 1 der Vorschrift keine Zuständigkeit zur Überprüfung der Maßnahmen besitzt. Im Übrigen kommt es wegen der Mehrfachzuständigkeiten für den Europäischen Grundrechtsschutz häufig zu Überschneidungen (auch mit den Kompetenzen des Europarates)598.
594 Art 2 VO (EG) Nr 168/2007 idFd VO (EU) 2022/555; krit zur Beschränkung der Zuständigkeit auf den Durchführungsbereich des Unionsrechts Kingreen, JURA 2014, 295 (304). Diese ist aber aus kompetenziellen Gründen für den Unionsrechtsakt erforderlich (vgl Art 51 I GRCh). 595 Näher zu den hier besonders relevanten Grundrechtsthemen (zB Diskriminierungen und Zugang zu Dokumenten) s Blumann in: Picod/Van Drooghenbroeck, GRCh, Art 43 Anm 28 ff. 596 Vgl zB Entschließung des EP v 12.9.2018 zu einem Vorschlag, mit dem der Rat aufgefordert wird, im Einklang mit Art 7 I EUV festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn besteht, Dok P8_TA(2018)0340; Jarass GRCh, Einl Rn 81. 597 Vgl Germelmann, DÖV 2021, 193 (197 ff). 598 Vgl Art 1 lit a der Satzung des Europarates (Sart II Nr 110). Näher zum Ganzen auch v Bogdandy in: Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 166.
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§ 3 Menschenwürde Der Schutz der Würde des Menschen steht exemplarisch für die Eigentümlichkeiten 1 in der dogmatischen Entwicklung und Differenzierung des europäischen Grundrechtsschutzes. Die Würde des Menschen, zu der die Europäische Grundrechtecharta systematisch auch die Rechte auf Leben und Unversehrtheit sowie die Verbote der Todesstrafe, der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit zählt (Art 1–5 GRCh), ist als Rechtssatz erst seit Ende der 1990er Jahre – befördert durch die Ausarbeitung der Charta – im Unionsrecht berücksichtigt worden. Seit etwa einer Dekade ist zu beobachten, dass insb Sekundärrechtsakte verstärkt auf die Menschenwürde auch als Tatbestandsmerkmal Bezug nehmen. Als Bezugspunkt für die häufig beschworene europäische Wertegemeinschaft1 ist die Menschenwürde seit längerem Grundstein der Rechtsgemeinschaft. Nach dem Vertrag von Lissabon steht die „Achtung der Menschenwürde“ ausdrücklich an erster Stelle der Werte, auf die sich die Union gründet (Art 2 EUV), mit der Folge, dass sich auch die Ziele der Union an deren Förderung maßgeblich ausrichten sollen (Art 3 I EUV). Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union folgt wei- 2 terhin den Sachverhaltsgestaltungen, die der EuGH zu entscheiden hat. Zunehmend gewinnt der Grundrechtsschutz aber auch einen Eigenstand in der Sekundärrechtsetzung und durch Verwaltungspraxis, etwa im Rahmen der Tätigkeit der Agenturen und des Ombudssystems. Die Fortentwicklung und Ausdifferenzierung des unionalen Grundrechtsschutzes bedarf jedoch weiterhin entsprechender grundrechtsrelevanter Sachverhalte. In den Bereichen, die die Charta im ersten Kapitel zusammenfasst, hatte der Gerichtshof lange Zeit kaum Gelegenheiten, sich zu den Gewährleistungen zu äußern. Auch dieses ändert sich im Zusammenhang mit Aktivitäten der EU in den Bereichen Strafrecht, Innen- und Migrationspolitik. Dabei bestätigt sich wegen der konkreten Bezugnahmen auf die entsprechenden Vorschriften der EMRK und die Rechtsprechungspraxis des EGMR die These, dass eine grundsätzliche Konkordanz zwischen dem jeweiligen Schutzbereichsumfang in beiden Grundrechtsordnungen besteht – jedenfalls auf den ersten Blick. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Konkordanz zu einem gemeineuropäischen Schutzstandard der Grundrechte im Prinzip angeschlossen.2 In einem fallorientierten, auf Leitentscheidungen beruhenden System, in dem es auch bewusste Differen-
1 Calliess, JZ 2004, 1033 ff; Herdegen FS Scholz, 2007, S 139 ff; Schwarz, Der Staat 2011, 533 ff; Voßkuhle Die Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, 2018 jew mwN; zu jüngeren institutionellen und rechtsprechungsbedingten Entwicklungen Schorkopf, EuR 2016, 147 ff; ders, JZ 75 (2020), 477 ff. 2 BVerfG 152, 152 (175 ff.); BVerfG, Beschl des Zweiten Senats v 1.12.2020, 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18, Rn 37.
Frank Schorkopf https://doi.org/10.1515/9783110716740-004
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zierungen zur Konventionspraxis gibt,3 bleibt es prinzipiell schwierig, sich bei der Darstellung der geltenden Grundrechtsstandards vom Einzelfall zu lösen. Wenn diese Unsicherheit in Bezug auf den geltenden Gewährleistungsumfang durch die Aufwertung der Grundrechtecharta zu einem rechtsverbindlichen Grundrechtskatalog beseitigt werden kann (s Art 53 GRCh), dann sicherlich in dem Abschnitt des europäischen Grundrechtekanons, der mit der „Würde des Menschen“ überschrieben ist. 3 Das allmähliche Entstehen eines Dreiecks des europäischen Grundrechtsschutzes lässt auch im Zusammenhang mit dem Grundrechtsschutz der EU nach der Garantie der Menschenwürde in der EMRK fragen. Nun lässt sich die Existenz der EMRK an sich als Ausdruck eines gemeineuropäischen Würdeschutzes einordnen – der Entstehungszusammenhang der Konvention zeigt, dass über die Maßstabsfunktion der und Bezugnahme auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte das Bekenntnis zur Menschenwürde handlungsleitend war.4 Der Wortlaut der Konvention nennt die Würde des Menschen allerdings nicht. Erst in der Präambel des ZP 13 aus dem Jahr 2002 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe taucht diese auf, damit begründet, dass darin die „volle Anerkennung der allen Menschen innewohnenden Würde“ liege. In der Rechtsprechung des EGMR wiederum hat die Menschenwürde eine Funktion als „normativer Ursprung“ und Wesenskern besonders im Zusammenhang mit Art 3 EMRK, aber auch weiteren Gewährleistungen erlangt (Rn 24 ff). 4 Die unterschiedlichen Regelungskonzeptionen – die GRCh setzt auf Positivierung der Menschenwürde als eigenständiges Grundrecht, die EMRK garantiert die Menschenwürde indirekt über den Wesenskern der sachnächsten Gewährleistung – eröffnen für die Zukunft eine anregende Vergleichsperspektive auf Leistungsfähigkeit europäischer Grundrechtsdogmatik vor dem Hintergrund der prinzipiellen Abwägungsfestigkeit der Menschenwürde.
3 Erkennbare Unterschiede im Gewährleistungsumfang der Grundrechte bestehen beim Schutz vor Selbstbelastung, vgl dazu einerseits EuGH, Rs 374/87, Slg 1989, 3283, Rn 29 ff – Orkem/Kommission; Rs C-50/00 P, Slg 2002, I-8375, Rn 274 f – Limburgse Vinyl Maatschappij NV ua, andererseits EGMR, Urt v 25.2.1993, 10828/84, Series A, Vol 256-A – Funke; Urt v 17.12.1996, 19187/91, RJD 1996-VI, 2044 – Saunders; Urt v 3.5.2001, 31827/96 RJD 2001-III – J. B./Schweiz, sowie beim Schutz der Wohnung. 4 Bührer Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention, S 192 ff; Ronc Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK, 2020.
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§ 3 Menschenwürde
I. Menschenwürde im Unionsrecht Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-159/90, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan; Rs C-13/94, Slg. 1996, I-2143 ff – P. / S. Cornwall County Council; Rs C-377/98, Slg 2001, I-7079 ff – Niederlande/Parlament und Rat; Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 06/05, EGV Art 49/13; Rs C-34/10, EuZW 2011, 908 – Brüstle; EuGH (GK), Urt v 18.12.2014, Rs C-364/13, Rn 24 – International Stem Cell Corporation; EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, Rs C-404/15 und C-659/15 PPU, Rn 85 – Aranyosi und Căldăraru; EuGH (GK), Urt v 12.11.2019, Rs C-233/18, Rn 46 – Haqbin; EuGH (GK), Urt v 6.10.2020, Rs C-181/19, Rn 57 – Jobcenter Krefeld; EuGH (GK), Urt v 15.7.2021 Rs C-709/20, Rn 69 – CG.
Schrifttum: Breuer Menschenwürde und andere Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter (Hrsg), Europäischer Grundrechtsschutz, 2. Aufl, 2021, § 8; Wollenschläger Ein Unionsgrundrecht auf Sicherung des Existenzminimums im Aufnahmemitgliedstaat? Ambivalentes zur Freizügigkeit nicht erwerbstätiger Unionsbürger post Dano, EuZW 2021, 795 ff; Bührer Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2020, 146 ff; Lenaerts Die Werte der Europäischen Union in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union: eine Annäherung, EuGRZ 2017, 639 ff; Blömacher Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, 2016; Reinbacher/Wendel Menschenwürde und Europäischer Haftbefehl, EuGRZ 2016, 333; Berlth Artikel 1 GRCh – Die Menschenwürde im Unionsrecht, 2012; Wallau Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010; Ekardt/Kornack „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 2010, 111 ff; Gröschner/Lembcke (Hrsg), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009; Walter Menschenwürde im nationalen Recht, Europarecht und Völkerrecht, in: Bahr/Heinig (Hrsg), Menschenwürde in der sekularen Verfassungsordnung, 2006, 127 ff; Mastronardi Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts, in: Marauhn (Hrsg), Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht, 2003, 55 ff; Frowein Human Dignity in International Law, in: Kretzmer/E Klein (Hrsg), The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, 2002, 121 ff; Rau/Schorkopf Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, 2448 f.
Rechtsakte: RL 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI, ABl 2012 Nr L 315/57; RL 2010/13/EU zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste), ABl 2010 Nr L 95/1; Bericht der Kommission über die Anwendung der Empfehlung des Rates vom 24.9.1998 zum Jugendschutz und zum Schutz der Menschenwürde und der Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 über den Schutz Minderjähriger und den Schutz der Menschenwürde und über das Recht auf Gegendarstellung im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Industriezweiges der audiovisuellen Dienste und Online-Informationsdienste – Schutz der Kinder in der digitalen Welt (KOM (2011) 556 endgültig); VO 2016/399 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl 2016 Nr L 77/1; VO 2019/1896 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der VO 1052/2013 und 2016/1624, ABl 2019 Nr L 295/1.
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1. Schutzbereich
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Fall 1: (EuGH, Rs C-377/98, Slg 2001, I-7079 – Niederlande/Parlament und Rat): Das Europäische Parlament und der Rat erlassen eine Richtlinie, die die Mitgliedstaaten zum Schutz biotechnologischer Erfindungen durch ihr nationales Patentrecht verpflichtet. Die Richtlinie legt insb fest, welche Bestandteile von Erfindungen, deren Gegenstand Pflanzen, Tiere oder der menschliche Körper sein können, patentierbar sind und welche nicht. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen die Patentierbarkeit von gewerblich anwendbaren Erfindungen zur Herstellung, Bearbeitung oder Verwendung von biologischem Material vorzusehen. Die Niederlande sind der Ansicht, dass diese mitgliedstaatliche Verpflichtung zur Erteilung von Patenten auf Tiere, Pflanzen oder menschliche biologische Materie gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße. Sie beantragen deshalb beim EuGH, den Rechtsakt für nichtig zu erklären. In ihrer Klageschrift tragen die Niederlande ua vor, dass die Richtlinie die Menschenwürde und das Grundrecht der Unversehrtheit der Person verletze. Der menschliche Körper sei Vermittler der Menschenwürde. Die Erteilung von Patenten für isolierte lebende Bestandteile des menschlichen Körpers mache diese zu Objekten. Ferner enthalte die Richtlinie keine Bestimmungen, die unbeeinflusste Zustimmung des Spenders und des Empfängers menschlichen Materials sicherzustellen (vgl RL 98/44/EG v 6.7.1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen).
6 Der Schutz der Menschenwürde ist zunächst der unausgesprochene Bezugspunkt
der Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz auf Unionsebene. Seit dem Jahr 2000 hat diese Rechtsprechung eine Verbindungslinie zur Grundrechtecharta, die in Art 1 formuliert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Mit diesen Sätzen wird auch die der Europäischen Union übertragene Hoheitsgewalt in den Dienst des Menschen gestellt, bekennt sich die Union als politischer Herrschaftsverband zur Selbstzweckhaftigkeit des Menschen.5 Mit zunehmender Kompetenzdichte und damit politischer Gestaltungsmacht der EU wird deren strikte Grundrechtsbindung notwendiger, aber – mit Blick auf das noch immer vergleichsweise junge Phänomen überstaatlicher europäischer Gewalt – zunehmend auch vertrauter. Die Entstehungsgeschichte, der das Grundgesetz zitierende Wortlaut und die Systematik der Vorschrift führen auch auf der europäischen Ebene zu zahlreichen Fragen, die aus dem staatsrechtlichen Kontext vertraut sind. Der Wechsel vom einzelfall- zum normgeleiteten Erkenntnisansatz, für den die Grundrechtskodifikation durch die Charta auch steht, führt aber gleichwohl nicht dazu, dass nunmehr aus Art 1 GRCh Maßstäbe für europäische Rechtssachverhalte deduziert werden könnten. Die Rechtsprechung bleibt erster Ansatzpunkt für die Sichtung konkreter Gewährleistungsinhalte.
5 Zur Abkehr vom Kantschen Begriff der Würde durch Politik und Recht vgl v d Pfordten, Jahrbuch für Recht und Ethik 14, 2006, 501 (514 ff).
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Als eigenständiges Schutzgut eines selbständigen Grundrechts spielt die Men- 7 schenwürde in den Entscheidungen des Gerichtshofs zuletzt eine größere Rolle. Bereits die frühe Entscheidung in der Rechtssache Stauder ist insoweit beispielhaft. Herr Stauder, der Kläger im Ausgangsverfahren, hatte die Ansicht vertreten, dass die Ausgestaltung des Bezugsrechts für verbilligte Butter zugunsten von Sozialhilfeempfängern die Menschenwürde verletze.6 Der Gerichtshof legte – ohne jedoch die Würde in den Gründen ausdrücklich zu erwähnen – die streitige Vorschrift unter Hinweis auf die „Grundrechte der Person“ dahingehend aus, dass die namentliche Bezeichnung des Bezugsberechtigten nicht ausdrücklich vorgeschrieben sei. Substanzielle Aussagen zur Menschenwürde macht der Gerichtshof vor allem in seiner Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft7 und zum Asyl,8 dabei kann er teilweise auch auf einschlägige Normen im Sekundärrecht Bezug nehmen.9 In der Folgezeit erwähnte der EuGH die Menschenwürde in seiner Rechtspre- 8 chung fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der VO 2011/492. Die sechste Begründungserwägung dieses Rechtsaktes lautet: „Damit das Recht auf Freizügigkeit nach objektiven Maßstäben in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden kann, muß sich die Gleichbehandlung tatsächlich und rechtlich auf alles erstrecken, was mit der eigentlichen Ausübung einer Tätigkeit im Lohn – oder Gehaltsverhältnis und mit der Beschaffung einer Wohnung im Zusammenhang steht.“10 Nach stRspr des Gerichtshofs soll die VO 2011/492 die Freizügigkeit der Arbeit- 9 nehmer sicherstellen, deren „Ausübung in Freiheit und Menschenwürde“ es erfordere, dass die bestmöglichen Bedingungen für die Integration der Familie des EG-Arbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat geschaffen werden.11 Insoweit müssten alle Hindernisse beseitigt werden, die sich der Mobilität der Arbeitnehmer entgegenstellten, insb in Bezug auf das Recht des Arbeitnehmers, seine Familie nach-
6 EuGH, Rs 29/69, Slg 1969, 419, Rn 419 ff – Stauder, insb Rn 421. Die erste ausdrückliche Bezugnahme enthält eine EuGH-Entscheidung aus Anlass der Entlassung einer transsexuellen Person, vgl EuGH, Rs C-13/94, Slg 1996, I-2143, Rn 22 – P gegen S und Cornwall County Council: „Würde eine solche Diskriminierung toleriert, so liefe dies darauf hinaus, daß gegenüber einer solchen Person gegen die Achtung der Würde und der Freiheit verstossen würde, auf die sie Anspruch hat und die der Gerichtshof schützen muß.“ 7 EuGH (GK), Urt v 6.10.2020, Rs C-181/19, Rn 57 – Jobcenter Krefeld; Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20, Rn 72 – CG. 8 EuGH (GK), Urt v 12.11.2019, Rs C-233/18, Rn 46 – Haqbin. 9 Art. 24 II RL 2004/38 über das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und und aufzuhalten, ABl 2004 Nr L 229/35 sowie 35. Erwägungsgrund RL 2013/33 zur Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl 2013 Nr L 180/96. 10 VO 2011/492 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl 2011 Nr L 141/1. 11 EuGH, Rs C-308/89, Slg 1990, I-4185, Rn 13 – Di Leo; Rs C-356/98, Slg 2000, I-2623, Rn 20 – Kaba.
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kommen zu lassen, sowie auf die Bedingungen für die Integration seiner Familie im Aufnahmeland. Dem Arbeitnehmer und seinen Familienangehörigen stünden deshalb die gleichen sozialen Vergünstigungen zu, wie sie der Aufnahmestaat seinen eigenen Staatsangehörigen gewähre. Die Freizügigkeits-Richtlinie aus dem Jahr 2004 nimmt auf diesen normativen Anspruch der Rspr ausdrücklich Bezug.12 10 Dass die Menschenwürde in der Vergangenheit auch in gemeinschaftlichen Rechtsakten – ausgenommen in der VO 68/1612 und Art 12 der Fernseh-Richtlinie13 aus dem Jahr 1989 – kaum erwähnt wurde, könnte seine Ursache darin haben, dass die Menschenwürde als Rechtsprinzip nicht allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt ist. Da die Menschenwürde auf Unionsebene ihren sichtbaren Ausdruck vor allem in den bereits anerkannten Grundrechten auf Unversehrtheit der Person und Achtung des Privatlebens findet, könnte eine Anerkennung als eigenständiges Grundrecht – oder wenigstens als Rechtsgrundsatz – durch den EuGH von nur geringem zusätzlichem Erkenntniswert gewesen sein. Mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Niederlande gegen Parlament und Rat hat sich diese Konzeption jedoch grundlegend verändert. In den Gründen der genannten Entscheidung heißt es: „Es obliegt dem Gerichtshof, im Rahmen der Kontrolle der Übereinstimmung der Handlungen der Organe mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts die Beachtung der Menschenwürde und des Grundrechts auf Unversehrtheit der Person sicherzustellen.“14 11 Der EuGH ordnet beide Normen als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ein.15 Diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof in der Rechtssache Omega fortentwickelt. In diesem Vorabentscheidungsverfahren aus Deutschland hatte der Gerichtshof zu klären, inwieweit nationale Gerichte sich auf Wertungen 12 RL 2004/38/EG, 5. Erwägungsgrund: „Das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden.“ 13 RL 2010/13/EU zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste), ABl 2010 Nr L 95/1. 14 EuGH, Rs C-377/98, Slg 2001, I-7079, Rn 70 – Niederlande/Parlament und Rat, Hervorhebung hinzugefügt, bestätigt EuGH, EuZW 2011, 908 Rn 33 – Brüstle und EuGH, Urt v 18.12.2014, Rs C-364/13, Rn 24 – International Stem Cell Corporation. 15 Mit der Differenzierung zwischen „Beachtung der Menschenwürde“ und „Grundrecht auf Unversehrtheit“ wird keine rechtsdogmatische Unterscheidung eingeführt. Vielmehr zeigen die anderen Sprachfassungen des Urteils und insb die niederländische Verfahrenssprache, dass der Gerichtshof die Menschenwürde als Grundrecht einordnet. So ausdrücklich unter Hinweis auf Rau/ Schorkopf, NJW 2002, 2448 und unter Bezugnahme auf die Differenzierung in der deutschen Sprachfassung GA’in Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen, EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 90 – Omega, ausdrücklich EuGH, Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767, Rn 94 – Laval. Frank Schorkopf
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ihres nationalen Verfassungsrechts stützen können, um Maßnahmen zu treffen, die zwar zum Schutze der öffentlichen Ordnung im jeweiligen Mitgliedstaat beitragen, aber zugleich auch Grundfreiheiten beeinträchtigen. Dem Ausgangsverfahren lag eine Verfügung der Stadt Bonn zugrunde, durch welche simulierte Tötungshandlungen im Rahmen eines Spiels mit der Begründung untersagt wurden, das geplante Geschäftsmodell verstoße gegen die öffentliche Ordnung, zu deren Schutzgütern auch die Menschenwürde zähle. Die Generalanwältin Stix-Hackl hat in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Omega vorgeschlagen, zum einen die in Rede stehende nationale Maßnahme anhand des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen und zum anderen den vom Mitgliedstaat herangezogenen Rechtfertigungstatbestand der öffentlichen Ordnung entsprechend der Bedeutung und der Tragweite der Menschenwürde in der Gemeinschaftsrechtsordnung auszulegen.16 Der Gerichtshof ist dieser Konzeption in seinem schlanken Urteil gefolgt und sah die Beeinträchtigung des freien Dienstleistungsverkehrs durch die Verbotsverfügung als gerechtfertigt an. Die Reichweite des Begriffes der öffentlichen Ordnung dürfe nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig bestimmt werden. Gleichwohl hätten die Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum in Bezug auf die konkreten Umstände, unter denen sie sich zulässigerweise auch auf die öffentliche Ordnung berufen könnten. Die Gemeinschaftsrechtsordnung ziele unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ab. Allerdings sei es nicht unerlässlich, dass die nationale Maßnahme einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung darüber entspreche, wie das betreffende Grundrecht oder berechtigte Interesse zu schützen sei.17 Seitdem die Menschenwürde durch die Europarechtspraxis entdeckt wurde, 12 hat die Zahl der Bezugnahmen insb in Rechtsakten deutlich zugenommen, so dass sie auch zu einem Bezugspunkt für die rechtssetzenden Organe geworden ist. Dabei lassen sich einerseits Vorschriften nennen, in denen die Menschenwürde eine unmittelbar regelnde Funktion hat, wie beispielsweise das Gebot an die Grenzschutzbeamten der Mitgliedstaaten, „ihre Aufgaben unter uneingeschränkter Wahrung der Menschenwürde“ durchzuführen,18 oder die Pflicht der Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass „Maßnahmen […] zum Schutz der Würde der Opfer bei der Vernehmung oder bei Zeugenaussagen zur Verfügung stehen.“19 In der Verordnung über
16 Schlussanträge GA’in Stix-Hackl, EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 67 ff – Omega. 17 EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609 – Omega = JK 06/05, EGV Art 49/13. 18 VO 2016/399 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl 2016 Nr L 77/1. 19 Art 18 RL 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI, ABl 2012 Nr L 315/57.
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die Europäische Grenz- und Küstenwache heißt es, die Beamten der Mitgliedstaaten und der EU-Agentur Frontex hätten „während der gesamten Rückkehraktion die Achtung der Grundrechte, den Grundsatz der Nichtzurückweisung und einen verhältnismäßigen Einsatz der Zwangsmittel sowie die Wahrung der Würde der zur Rückkehr verpflichteten Person“ zu gewährleisten.20 Andererseits lassen sich Rechtsakte anführen, in denen die Menschenwürde – als Höchstwert der Union – durch Rechtssätze konkretisiert wird. Ein wichtiges Beispiel ist die QualifikationsRichtlinie aus dem Jahr 2011, deren ausdrückliches Ziel es ist, „die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Art 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 GRCh zu fördern.“21 13 Eine wichtige Neuerung ist der Topos der Existenzsicherung, die der Gerichtshof dogmatisch bereits in der Rechtssache Aranyosi und Căldăraru angelegt und seitdem entfaltet hat – die Entscheidung hat darüber hinaus noch eine weitere dogmatische Bedeutung.22 In der Entscheidung, in der es um die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle aus Ungarn und Rumänien in Deutschland geht, stellt der Gerichtshof eine Verbindung zwischen Art 1 und Art 4 GRCh her. So wäre, nach der Folgerechtsprechung die von Art 4 GRCh geforderte besonders hohe Erheblichkeitsschwelle erreicht, wenn „die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.“23 Die Rechtssache Aranyosi und Căldăraru ist jedoch darüber hinaus von Interesse, weil sie ein gutes Beispiel für den dialogischen Austausch zwischen der Unionsrechtsordnung und einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung steht, in diesem Fall den Einfluss der Rechtspre-
20 Art 50 III 2 VO 2019/1896, ABl 2019 Nr L 295/1, vgl auch deren 103. Erwägungsgrund; im Jahr 2020 wurde ein internes Ermittlungsverfahren gegen Frontex-Beamte eingeleitet, die gegen ua diese Pflicht bei sogenannten „Push Backs“ verstoßen haben sollen, s Bericht von OLAF, Olaf.03(2021) 21088. 21 16. Erwägungsgrund der RL 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl 2011 Nr L 337/9. 22 EuGH, Urt v 5.4.2016, Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, Rn 85 – Aranyosi u Căldăraru. 23 EuGH (GK), Urt v 12.11.2019, Rs C-233/18, Rn 46 – Haqbin; EuGH, Urt v 6.7.2020, Rs C-517/17, Rn 51 – Addis. Frank Schorkopf
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chung des Bundesverfassungsgerichts auf die Rechtsprechung des EuGH zur Menschenrechtswürde. So wird eine Verbindung zwischen dem zitierten Urteil und der „Solange III“-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2015 gezogen,24 in dem das BVerfG zwar nicht auf Art 1 GRCh direkt Bezug nahm, es jedoch um nationale Grenzen aus der Menschenwürde für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ging. Der EuGH hatte sich in der früheren Rechtsprechung, namentlich der Rechtssache Melloni zu dieser Frage nicht verhalten, sondern sogar betont, mitgliedstaatliches Recht könne auch dann nicht einem Europäischen Haftbefehl entgegengehalten werden, wenn es um nationale Menschenwürdekontexte gehe.25 Das wechselseitige Beobachten wird noch deutlicher an dem Urteil der Großen Kammer vom 15. Juli 2021, mit dem der Gerichtshof die Mitgliedstaaten aus Art 1 GRCh verpflichtet hat, zu prüfen, ob schutzbedürftige Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat „unter würdigen Bedingungen leben“ können. In dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ging es um eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, so dass deren Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums noch durch Art 7 und 24 II GRCh verstärkt wurde.26
2. Beeinträchtigung Die Menschenwürde und die ihr nahestehenden Gewährleistungen werden sowohl 14 gegenüber Beeinträchtigungen durch die Unionsorgane als auch gegenüber Handlungen der Mitgliedstaaten gewährleistet. „Wie der Gerichtshof […] entschieden hat, ist, wenn ein Mitgliedstaat sich auf die Vertragsbestimmungen beruft, um eine nationale Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung einer vom Vertrag garantierten Freiheit zu behindern, diese im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insb der Grundrechte auszulegen.“27 Der EuGH ist nicht zuständig für die Überprüfung einer grundrechtsrelevanten 15 Handlung, wenn der Prüfungsgegenstand eine nationale Regelung ist, die nicht in den Bereich des Unionsrechts fällt. Der Begriff „Bereich des Unionsrechts“ wird
24 BVerfGE 140, 317 ff. 25 BVerfGE 140, 317 (353 ff, 376); EuGH (GK), Urt v 26.2.2013, Rs C-399/11 – Melloni; dazu Rauchegger in: Violini/Baraggia (Hrsg), The Fragmented Landscape of Fundamental Rights Protection in Europe, 2018, S 94 ff. 26 EuGH (GK), Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20, Rn 89 ff – CG, krit dazu Wollenschläger, EuZW 2021, 795 (797 ff). 27 EuGH, Rs C-62/90, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland unter Hinweis auf Rs C-260/ 89, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT.
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vom Gerichtshof allerdings zuweilen so weit ausgelegt, dass für den Beobachter in Fällen, in denen der EuGH seine Zuständigkeit annimmt, der Bezug eines Sachverhalts zum Unionsrecht kaum noch erkennbar ist.28 Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum „Recht auf Vergessen“ mit der Betonung der „fachrechtsakzessorischen Anlage der Unionsgrundrechte“ kann insoweit als Eingrenzungsversuch der extensiven EuGH-Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte gesehen werden.29 Mit der Anwendung der Unionsgrundrechte durch das BVerfG hat sich am Problem extensiver Anwendungsbereichspostulate im Rahmen der Auslegung des Art 51 GRCh allerdings nichts geändert.
3. Rechtfertigung 16 Die Menschenwürde kann auch nach der unionsrechtlichen Konzeption grundsätz-
lich nicht eingeschränkt werden, dh etwaige Beeinträchtigungen führen stets zu einer Verletzung dieses Rechts. Obwohl die Schranken-Klausel in Art 52 GRCh sich nach dem Wortlaut unterschiedslos auf alle Rechte und Freiheiten – und damit auch auf Art 1 GRCh – erstreckt, wird die Hervorhebung der Menschenwürde auch nach einem Inkrafttreten der Charta auf der Grundlage einer entsprechenden Auslegung Bestand haben („unantastbar“).30 17 Dieser prinzipielle „Automatismus“ führt bei Vorabentscheidungsverfahren zu heiklen Problemen, weil das unionsrechtliche Prüfungsprogramm je nach Prüfungsgegenstand unterscheiden muss und auf diesem Umweg eine Differenzierungsmöglichkeit einführt: Verstößt ein Akt der Unionsorgane gegen die Menschenwürde, so folgt daraus die Nichtigkeit der in Rede stehenden Handlung. Wird hingegen ein mitgliedstaatlicher Akt am Maßstab der Menschenwürde gemessen, etwa im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, so würde eine binäre Lösung nach dem Muster von Bestandskraft/Nichtigkeit den Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde unionsweit unitarisieren. Das gilt nicht für den ethischen Kern des Rechts, sondern für dessen „kleineres Münzgewicht“ im Rechtsalltag. 18 Das Problem spiegelt in aller Deutlichkeit die Rechtssache Omega (Rn 9). Aus der Perspektive deutscher Behörden und Gerichte verstößt das geplante Geschäfts-
28 Zum Ganzen Schorkopf in: EnzEuR, Bd 2, § 5 Rn 18 ff. 29 BVerfGE 152, 152 (169 ff, 178, 183); 152, 216 (239 f, 246 ff); beachtenswert auch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v 10.11.2020, 1 BvR 3214/15, Rn 65 – Antiterrordateigesetz II, wonach das BVerfG im Bereich nicht vollständig unionsrechtlich determinierter Normen am Maßstab der Grundrechte des GG prüft und es ausdrücklich keine Rolle spielt, ob der EuGH in diesen Fällen Art 51 GRCh für einschlägig hält. 30 van Vormizeele in Schwarze, EU-Komm, Art 1 GRCh Rn 7; Jarass GRCh, Art 1 Rn 12.
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modell gegen die Menschenwürde; in Großbritannien war das Tötungsspiel zum Zeitpunkt der Untersagung nicht nur in der Praxis erprobt, sondern über Franchiseverträge und patentierte Technologie sogar exportfähig. Wie kann in dieser Konstellation ein Wertungswiderspruch vermieden werden, wenn das deutsche Verbot am Maßstab des EU-weiten Unionsrechts Bestand hat und gleichzeitig dasselbe „menschenwürdefeindliche“ Geschäftsmodell in Großbritannien erfolgreich praktiziert wird? Müsste eine unionsrechtliche Gewährleistung der Menschenwürde nicht in allen EU-Mitgliedstaaten denselben Schutz gewähren? In der genannten Rechtssache hat die Generalanwältin zur Lösung dieses Problems vorgeschlagen, den Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde in die jeweils betroffene Grundfreiheit und den Abwägungsprozess im Rahmen der Verhältnismäßigkeit hineinzulesen.31 Dadurch wird die Zweck-Mittel-Relation derart zugunsten der Menschenwürde verschoben, dass die beschränkenden Maßnahmen des betroffenen Mitgliedstaats kaum je unverhältnismäßig sein werden. Der unitarisierende Zug dieser rechtsdogmatischen Konstruktion bleibt allerdings ebenso bestehen wie der Umstand, dass ein Geschäftsmodell in einem Mitgliedstaat gegen die Menschenwürde verstoßen kann und in einem anderen am Markt erfolgreich ist. Deshalb wäre es vorzugswürdig, in den seltenen Einzelfällen einer Kollision des Rechts auf Schutz der Menschenwürde und einer Grundfreiheit die unionsrechtliche Prüfungskompetenz auf eine Missbrauchskontrolle zu beschränken und den nationalen identitätsstiftenden Merkmalen einer Rechtsordnung (4 II 1 EUV) einen Platz in der Unionsrechtsordnung einzuräumen.32 Dass die Menschenwürde als Grundrecht nicht eingeschränkt werden kann, ist 19 eine Aussage, die die Rspr zunächst so nicht teilte. So legte die Große Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Laval unter anderem die Omega-Entscheidung dahingehend aus, dass die Ausübung des Grundrechts der Menschenwürde „mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen [muss].“33 Auch die Menschenwürde wird dadurch zu einem Abwägungsgegenstand im Rahmen der Verhältnismäßigkeit.34 Diese Konzeption würde es einerseits ermöglichen,
31 Vgl Schlussanträge GA’in Stix-Hackl, EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 103 ff – Omega. 32 Zu den Auswirkungen der Rs C-34/10 – Brüstle. 33 EuGH, Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767, Rn 94 – Laval unter Hinweis auf die Rechtssachen Schmidberger und Omega. 34 Trotz der Aussage in der Rs Laval mit dem Argument dagegen, die Aussage sei ein obiter dictum, Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 1 Rn 44; vgl auch Jarass, GRCh, Art 1 Rn 9 mit dem Hinweis: „Nicht jede Maßnahme, die die Menschenwürde irgendwie berührt, stellt einen Grundrechtseingriff dar.“ Notwendig sei, nicht zuletzt wegen ihrer Uneinschränkbarkeit, eine bilanzierende Gewichtung.
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kollidierende Rechte auf Menschenwürde – etwa im Bereich der Biomedizin – auszugleichen und in größtmöglichem Umfang, wenngleich in der Substanz verringert, zur Geltung zu bringen. Auch entspräche die Abwägbarkeit der Würde der Systematik der Charta, deren Schrankenklausel in Art 52 GRCh sich nach dem Wortlaut unterschiedslos auf alle Rechte und Freiheiten – und damit auch auf Art 1 GRCh – erstreckt. Andererseits ginge mit dem Abwägungskonzept eine Relativierung des Rechts einher, die der Idee der Menschenwürde widerspräche. Die Rspr des Gerichtshofs stand bislang in diesem Bereich noch nicht auf einer gesicherten dogmatischen Grundlage. 20 Nach der neueren Rspr, vor allem dem Urteil in der Rs Haqbin (Rn 12), schwenkt der Gerichtshof in den erwartbaren Standpunkt ein, die Menschenwürde als abwägungsfest einzuordnen. In den Entscheidungsgründen formuliert der Gerichtshof, dass ein Sekundärrechtsakt darauf abziele, „die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten“, woraufhin der Gerichtshof den Sanktionsumfang für einen Verstoß gegen das unionale Migrationsrecht begrenzt, damit ein würdiger Lebensstandard für den Betroffenen zu gewährleisten sei.35 Es bleiben noch Zweifel, ob damit der Schritt zu Abwägungsfestigkeit gemacht ist, denn andere Formulierungen lesen sich so, dass das Bemühen des Unionsgesetzgebers um den absoluten Schutz ausreichen würde. Möglicherweise sieht der Gerichtshof, dass die Anreicherung des Wertes „Menschenwürde“ zu einem im Einzelfall abwägungsresistenten Grundrecht zu einem unauflösbaren Dilemma führt. Das Unionsrecht kann dann nämlich nur noch binäre Antworten geben, abhängig von der gerade maßgebenden Perspektive des jeweils fragenden Rechtsgutträgers. Eine Äußerung aus dem Gerichtshof lässt allerdings erkennen, dass zumindest einzelne Mitglieder die Menschenwürde als abwägungsfestes subjektives Recht sehen.36
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Lösung Fall 1: Im Rahmen der niederländischen Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV obliegt es dem EuGH, die Kontrolle der Übereinstimmung der Handlungen der Organe mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts wie der Beachtung der Menschenwürde und des Grundrechts der Unversehrtheit der Person sicherzustellen. Die Achtung der Menschenwürde wird grundsätzlich durch die Bestimmung der RL gewährleistet, wonach der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung keine patentierbare Erfindung darstellen kann (Art 5 I RL). Bestandteile des menschlichen Körpers sind als solche nicht patentierbar und ihre Entdeckung kann nicht geschützt werden. Gegenstand einer Patentanmeldung können nur Erfindungen sein, die einen natürlichen Bestandteil mit einem technischen Verfahren verknüpfen, durch das dieser im Hinblick auf eine gewerbliche Anwendung isoliert
35 EuGH (GK), Urt v 12.11.2019, Rs C-233/18, Rn 46 f – Haqbin. 36 Lenaerts, EuGRZ 2017, 639 (640), unter Hinweis auf die Rs Niederlande gegen Parlament und Rat, die die Würde ausdrücklich als „vorbehaltsloses Grundrecht anerkannt“ habe. Frank Schorkopf
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oder reproduziert werden kann. Nach Verabschiedung der Charta lässt sich für diese Rechtsposition auch Art 3 II lit c GRCh anführen. Das Ergebnis von Arbeiten an Sequenzen oder Teilsequenzen menschlicher Gene kann nur dann zur Erteilung eines Patents führen, wenn die Anmeldung eine Beschreibung zum einen der neuen Methode der Sequenzierung, die zu der Erfindung geführt hat, und zum anderen der gewerblichen Anwendung umfasst, die das Ziel der Arbeiten ist. Ohne eine solche Anwendung hätte man es nicht mit einer Erfindung zu tun, sondern mit der Entdeckung einer DNA-Sequenz, die als solche nicht patentierbar wäre. Die RL schützt somit nur das Ergebnis einer wissenschaftlichen oder technischen erfinderischen Tätigkeit. Beim Menschen natürlich vorkommende biologische Daten werden nur erfasst, soweit sie für die Durchführung und Verwertung einer besonderen gewerblichen Anwendung erforderlich sind. Schließlich werden Verfahren zum Klonen von menschlichen Lebewesen, Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität der Keimbahn des menschlichen Lebewesens und die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten von der Patentierbarkeit ausgeschlossen (Art 6 RL). Die RL fasst das Patentrecht in Bezug auf lebende Materie menschlichen Ursprungs demnach so streng, dass der menschliche Körper tatsächlich unverfügbar und unveräußerlich bleibt und somit die Menschenwürde gewahrt wird. Das Grundrecht auf Unversehrtheit der Person kann nicht gegen eine RL angeführt werden, die sich nur mit der Erteilung von Patenten befasst und deren Anwendungsbereich sich daher nicht auf Vorgänge vor und nach dieser Erteilung – sei es die Forschung oder die Verwendung der patentierten Erzeugnisse – erstreckt. Rechtliche Einschränkungen oder Verbote, die für die Entwicklung patentierbarer Erzeugnisse oder die Verwertung patentierter Erzeugnisse gelten, werden von der Erteilung eines Patents nicht berührt (14. Begründungserwägung). Die RL soll restriktive Bestimmungen nicht ersetzen, die jenseits ihres Anwendungsbereichs die Achtung bestimmter ethischer Normen garantieren sollen. Dazu gehört auch das Recht des Menschen, durch Zustimmung in voller Kenntnis der Sachlage über sich selbst zu verfügen. Die Frage, ob das Recht auf Unversehrtheit der Person, das im Bereich der Medizin und der Biologie die unbeeinflusste Zustimmung des Spenders und des Empfängers von Bestandteilen menschlichen Ursprungs in voller Kenntnis der Sachlage umfasst (vgl Art 3 II lit a GRCh), stellt sich in der Regel im Zusammenhang mit der Verwendung menschlicher Bestandteile wie zB Transplantaten. Antworten auf die damit einhergehenden Probleme sind deshalb nicht im Patentrecht eines speziellen Sektors zu suchen.37
II. Menschenwürde in der EMRK Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, § 33 – Tyrer; Urt v 29.4.2002, 2346/02, NJW 2002, 2851 ff – Pretty/Vereinigtes Königreich.
Schrifttum: Bührer Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2020; Ronc Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK, 2020; Bedford Key Cases on Human Dignity
37 Vgl zu dieser Thematik auch EuGH, Urt v 19.12.2019, Rs C‑418/18 P, Rn 106 ff – Patrick Grégor Puppinck.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
under Article 3 of the ECHR, European Human Rights Law Review 24 (2019), 185 ff; Heselhaus/Hemsley Human Dignity and the European Convention on Human Rights, in: Becchi/Mathis (Hrsg), Handbook of Human Dignity in Europe, 2019, S 1 ff; v Schwichow Die Menschenwürde in der EMRK, 2016; Costa Human Dignity in the Jurisprudence of the European Court of Human Rights, in: McCrudden (Hrsg), Understanding Human Dignity, 2013, S 393 ff; Bank Das Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar, Bd 1, 3. Aufl, 2022, Kap 11; McCrudden Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights, European Journal of International Law 19 (2008), 655 ff.
Fall 2: (EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, NJW 2020, 2851 ff – Pretty/Vereinigtes Königreich) Die 43-jährige Diane Pretty hat eine unheilbare Motoneuron-Erkrankung, eine neurodegenerative Krankheit, die eine Schwächung der Gliedmaßen und der Atemmuskeln bewirkt und zum Tod führt. Nach der Diagnose im Jahr 1999 verschlechtert sich Frau Prettys Zustand rasch, sie ist vom Hals abwärts gelähmt und muss über eine Sonde ernährt werden. Ihr Intellekt und ihre Entscheidungsfähigkeit sind jedoch unbeeinträchtigt. Da das Endstadium der Krankheit quälend und würdelos sei, möchte Frau Pretty selbst bestimmen, wie und wann sie stirbt. Sie ist jedoch nicht in der Lage, sich ohne Hilfe selbst zu töten, zudem ist es im Vereinigten Königreich eine Straftat, einem anderen Menschen bei der Selbsttötung zu helfen. Ihr Anwalt beantragt deshalb bei der Staatsanwaltschaft die Zusicherung, dass Frau Prettys Ehemann nicht strafrechtlich verfolgt werden wird, wenn er ihr bei der Selbsttötung hilft. Der Antrag wird abgelehnt. Der fachgerichtliche Rechtsschutz dagegen vor dem Divisional Court wie auch vor dem House of Lords haben keinen Erfolg. Daraufhin legt Frau Pretty Individualbeschwerde vor dem EGMR ein.
22
23 Die Menschenwürde ist im Vertragswortlaut der EMRK eine Leerstelle. Das ZP 13
aus dem Jahr 2002, das der vollständigen Abschaffung der Todesstrafe gewidmet ist, erwähnt die „allen Menschen innewohnend[e] Würde“ in der Präambel. Mit diesem Textbefund, der erstaunlicherweise nicht dem Gesamtbefund einer Durchdringung von Rechtstexten in der Nachkriegszeit mit Menschenwürdebezügen entspricht,38 ist allerdings nicht festgestellt, dass die Konvention die Menschenwürde nicht kennt. Der EMGR kann sich nur nicht auf einen geschriebenen Tatbestand „Menschenwürde berufen. Bereits im Jahr 1973 bezog sich die mittlerweile aufgelöste Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) in der Begründung einer Entscheidung auf die Würde. In dem Verfahren ging es um die Unterscheidung von Menschen aufgrund der Rasse, worauf die EKMR feststellte, dass unter bestimmten Umständen solch eine Differenzierung eine besondere Form des Verstoßes gegen die Menschenwürde darstelle.39 Der EGMR, der sich auf diese Entscheidung der
38 McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (667 ff); dieser Befund steht auch in einem auffallenden Kontrast zur Berücksichtigung des Würdevokabulars in der Europäischen Sozialcharta. 39 EKMR, Entsch v 14.12.1973, 4403/70-4419/70, § 207 – East African Asians/Vereinigtes Königreich.
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§ 3 Menschenwürde
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EKMR bezog, stellte in Folgeentscheidungen einen Bezug zu Art 14 EMRK her und wählte sodann auch allein Art 3 EMRK als Maßstab für schwere Diskriminierungen.40 Folglich lässt sich festhalten, dass die EMRK – in der Auslegung durch den EGMR – die Menschenwürde als „normativen Ursprung“ des Anspruchs auf Gleichbehandlung sowie des Rechts auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung sieht.41 Wer dem Schutz der Menschenwürde durch die EMRK nachgehen will, der 24 muss sich also mit einzelnen Gewährleistungen der Konvention und der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzen. Die Erwartungen an diese Rspr sind zu dämpfen, weil der EGMR nicht systematisch eine Rechtsprechungslinie zur Menschenwürde entwickelt; die vorhandenen, in ihrer Reichweite begrenzten Aussagen haben Substanz, häufig bleibt es aber auch bei einer Erwähnung der Würde.42 Einen ausdrücklichen Würdegehalt haben – neben dem erwähnten Art 3 EMRK – vor allem das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) und mit geringerer Praxisbedeutung das Recht auf Leben (Art 2 EMRK), auf ein faires Verfahren (Art 6 EMRK), auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9 EMRK) sowie das akzessorische, dh nur mit einem Freiheitsrecht zusammen anwendbare Diskriminierungsverbot (Art 14 EMRK).43 In der Gesamtbetrachtung ist die EGMR-Rechtsprechung jedoch nicht kohärent, so gibt es Würdesemantik auch bei weiteren Gewährleistungen und es gibt menschenwürdenahe Sachverhalte, bei denen ein entsprechender Rückgriff gleichwohl unterbleibt.44 Bei einer Gesamtschau lässt sich die Funktion der Menschenwürde am ehesten 25 mit der dogmatischen Figur des Wesensgehalts eines Rechts vergleichen. Die erwähnten Gewährleistungen sind, soweit sie nicht wie das Folterverbot und das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe (Art 3 EMRK) absolute Rechte sind, grundsätzlich einschränkbar. Gleichwohl identifiziert der EGMR eine Eingriffsschwelle, bei deren Verletzung er zugleich auch die Menschenwürde verletzt sieht. Exemplarisch lässt sich dies an Fällen des Freiheitsentzugs festmachen. So formuliert der Gerichtshof im Zusammenhang mit Art 2 EMRK, jeder Gefangene habe das Recht auf mit der Menschenwürde vereinbare Haftbedingungen, damit si-
40 EGMR, Urt v 10.5.2001, 25781/94, §§ 309-311 – Zypern/Türkei. 41 Vgl. Bührer Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2020, S 202; v Schwichow Die Menschenwürde in der EMRK, 2016, S 181. 42 Breuer in: EnzEuR, Bd 2, § 8 Rn 9: „Bezugnahmen auf die Menschenwürde erscheinen oftmals eher zufallsgesteuert und ohne ein erkennbares System“; dagegen optimistischer Meyer/Borowsky, GRCh, Art. 1 Rn 3; Wallau Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, S 103 ff. 43 Einzelheiten bei v Schwichow Die Menschenwürde in der EMRK, 2016, S 115 ff. 44 Beispiele bei Breuer in: EnzEuR, Bd 2, § 8 Rn 10.
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chergestellt sei, dass die Art und Weise des Vollzugs der auferlegten Maßnahmen den Gefangenen nicht einem Leid oder einer Härte aussetze, die das unvermeidliche Maß an Leiden, das mit der Haft verbunden sei, übersteige.45 Der Hinweis auf das „unvermeidliche Maß an Leiden“ zeigt, dass die Beschränkung des Menschenrechts von der Konvention anerkannt wird, ein Übermaß des Leidens dann aber die Schwelle zur Würdeverletzung übersteigen kann. Insoweit hat die Menschenwürde zugleich die Markierungsfunktion, die die Vertragsstaaten auf diese Gefahr einer möglichen Grenzübertretung hinweist.46 Wiederum exemplarisch zeigt sich diese Grenzübertretung an einem neueren deutschen Fall, in dem der Beschwerdeführer, ein Gefangener in lebenslanger Strafhaft, vor und nach jedem offiziellen Besuch etwa von Beamten sich vollständig entkleiden und einschließlich der Körperöffnungen hatte durchsuchen lassen müssen. Diese Form der Durchsuchung war von der Gefängnisleitung als Stichprobe pauschal gegen jeden fünften Gefangenen angeordnet worden. Der Gerichtshof kam am Prüfungsmaßstab von Art 3 EMRK zu dem Ergebnis, dass die anlasslose Durchsuchung über das unvermeidliche Element des Leidens oder der Demütigung hinausgegangen sei, das mit einer bestimmten Form der an sich rechtmäßigen Behandlung verbunden sei. In dem Fall sei dessen Behandlung einer erniedrigenden Behandlung gleichgekommen und die Menschenwürde beeinträchtigt.47 26 Art 3 EMRK hat insoweit eine besondere Bedeutung, weil der EGMR den eigentlichen Schutzzweck des Folterverbots und des Verbots der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe bereits seit Mitte der 1970er Jahre im Schutz der Menschenwürde sieht.48 Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dieser Ansatz, dass Art 3 EMRK auch eine Schutzpflicht zu entnehmen ist. Der EGMR greift auf dieses Institut der Schutzpflicht auch zurück, die im Konventionskontext als „positive obligation“ der Vertragsparteien bezeichnet wird und gegenüber dem deutschen Verständnis weiter reicht.49 So spricht der EGMR etwa die Verpflichtung aus, eine Vertragspartei habe geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu ergreifen.50 In der Literatur wird diese Rechtsprechung
45 EGMR, Urt v 9.12.2008, 77766/01, § 91 – Dzieciak/Polen; EGMR, Guide on Article 2 of the European Convention on Human Rights, Rn 51 (Stand 31.12.2020). 46 Zu dieser Funktion vgl Buyse The Role of Human Dignity in ECHR Case-Law, ECHR Blog v 21.10.2016, zugänglich unter https://www.echrblog.com/2016/10/the-role-of-human-dignity-in-echrcase.html. 47 EGMR, Urt v 22.10.2020, 6780/18 u 30776/18, NLMR 2020, 329 ff, §§ 65 ff – Roth. 48 EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, § 33 – Tyrer. 49 Dröge Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2003. 50 EGMR, Urt v 10.5.2001, 29392/95, § 73 – Z/Vereinigtes Königreich.
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§ 3 Menschenwürde
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auch sehr expansiv verstanden,51 beispielsweise in die Richtung eines Anspruchs auf ein auch soziales Existenzminimum. Einen solchen Schritt ist der EGMR derweil nicht gegangen. Er hütet sich davor, absolute Maßstäbe für existentielle Notlagen des Individuums aus Art 3 EMRK abzuleiten – eine strategische Grundentscheidung, die mit Blick auf die sehr unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Vertragsstaaten und die Existenz der spezielleren Europäischen Sozialcharta sicherlich richtig ist. Die strukturelle Heterogenität der Vertragsstaaten der EMRK steht einer materiellen Operationalisierung der Menschenwürde grundsätzlich entgegen. Sie kommt nur dort in Betracht, wo absolute Standpunkte losgelöst von der jeweiligen Wirtschafts- und Sozialordnung der Staaten nicht nur möglich, sondern wie bei der physischen und psychischen Integrität des Menschen als ethisches Minimum schlechterdings geboten sind. Eine zweite, sehr praxisbedeutsame Anwendungskonstellation für die Men- 27 schenwürde ist das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK). Der Menschenwürdebezug in Art 8-Sachverhalten ist eine vergleichsweise neuere Entwicklung, die zu Beginn der 2000er Jahre eingesetzt hat. Mittlerweile nimmt der Gerichtshof fortlaufend auch bei dieser Gewährleistung auf die Menschenwürde Bezug. Ausgangspunkt ist der britische Fall Pretty (Rn 20), in dem es um Sterbehilfe und die mögliche Assistenz der sterbewilligen Beschwerdeführerin durch ihren Ehemann ging. Der Gerichtshof lehnte zunächst eine Verletzung von Art 3 EMRK ab. Die britischen Behörden waren für den Krankheitszustand der Beschwerdeführerin nicht verantwortlich, so dass sich in dem Fall die Frage stellte, ob sich aus der Konvention eine positive Pflicht (positive obligation) zur Billigung von Sterbehilfe ergäbe. Der Gerichtshof lehnte eine solche Pflicht ab. Dass Art 3 EMRK, dessen normativen Ursprung in der Menschenwürde der EGMR bereits Jahrzehnte zuvor anerkannt hatte, eine tatbestandliche Rigidität hat und abwägungsfeindlich ist, wird vermutlich der Grund für die Erweiterung der Menschenwürdesemantik auf Art 8 EMRK gewesen sein, der eine klar konturierte Schrankenklausel in Art 8 II EMRK hat. Der EGMR prüfte die britische Rechtslage, die das Hilfeleisten des Ehemanns untersagte, anhand dieser Schranke und gestand den Vertragsstaaten einen weiten Einschätzungsspielraum (margin of appreciation) zu. Der Fall zeigt exemplarisch, dass der EGMR – ausgenommen Sachverhalte mit einer eindeutigen Verletzung des Wesenskerns – die dogmatische Lösung sucht, die Bewertungsspielräume im sachnächsten Menschenrecht gestattet. Die prinzipielle Abwägungsresistenz des Menschenwürdeschutzes bedeutete insoweit eine Vorfestlegung im Entscheidungsprogramm, die der Gerichtshof gerade in den Fällen nicht eingehen will, in denen es
51 Etwa Frohwerk Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, 2012. Frank Schorkopf
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
unter den Staaten Europas keine klaren gesellschaftspolitischen oder ethischen Maßstäbe gibt. 28 Doch hatte der EGMR noch mehr im Sinn, als er erstmals die Achtung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit als das Wesentliche der Konvention bezeichnete („The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom.“).52 Er hat die Menschenwürde dabei mit der Idee der Persönlichkeit und der Identität verknüpft. Es lässt sich erkennen, dass der EGMR die Menschenwürde auf die individuelle Selbstbestimmung zurückführt.
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Lösung Fall 2: Der EGMR entscheidet im Rahmen seiner Zuständigkeit nach Art 34 EMRK über die Individualbeschwerde. Die wesentlichen Prüfungsmaßstäbe der zulässigen Beschwerde sind das Recht auf Leben (Art 2 EMRK), das Folterverbot und Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Bestrafung (Art 3 EMRK) und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK). Eine Verletzung von Art 2 EMRK kommt in Betracht, weil die Beschwerdeführerin ein Recht auf Sterben geltend macht, um unvermeidliches Leiden und Demütigung zu vermeiden, als logische Folge des Rechts auf Leben. Das Recht erkenne an, dass es dem Individuum obliege, zu entscheiden, ob es weiterleben möchte oder nicht. Der EGMR lehnt diese Auslegung des Rechts auf Leben ab, ein negatives Recht sei nicht mit umfasst. Vielmehr hätten die Vertragsparteien die Pflicht, das Leben zu schützen. Auch verletzten Staaten, die die Sterbehilfe gestatteten, nicht allein aufgrund dieses Umstands die Konvention. Eine Verletzung von Art 3 lehnte der EGMR ebenfalls ab. Die Beschwerdeführerin hatte geltend gemacht, dass der Staat auch eine positive Pflicht (positive obligation) aus Art 3 EMRK habe, Menschen vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu schützen. Indem ihrem Ehemann verweigert werde, ihr Sterbehilfe zu leisten, verletze das Vereinigte Königreich diese Pflicht. Der EGMR sieht in Art 3 und 2 EMRK grundlegendste Bestimmungen der Konvention, die als Verankerung von Kernwerten der demokratischen Gesellschaften angesehen werden, die den Europarat bildeten. Ausdrücklich äußert er Verständnis für die Befürchtung der Beschwerdeführerin, dass sie ohne die Möglichkeit, ihr Leben zu beenden, mit der Aussicht auf einen qualvollen Tod konfrontiert sei. Dennoch würde die erstrebte positive Verpflichtung des Staates nicht nur das bevorstehende Leiden beseitigen oder mildern, sondern zugleich erfordern, dass der Staat Handlungen sanktioniert, die auf die Beendigung des Lebens abzielen. Eine solche positive Verpflichtung könne aus Art 3 EMRK nicht abgeleitet werden. Zu Art 8 EMRK macht die Beschwerdeführerin geltend, dass das gewährleistete Recht auf individuelle Selbstbestimmung auch das Recht umfasse, über den eigenen Körper, das Leben und den Zeitpunkt des eigenen Todes zu entscheiden. In Anerkennung der Würde und Selbstbestimmung als Kern der Konvention („The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom.”) sieht der EGMR zunächst kein entscheidendes Argument, eine Schutzbereichsbeeinträchtigung von Art 8 I EMRK abzulehnen. Es folgt eine klassische Prüfung der Rechtfertigung nach Art 8 II EMRK. Diese setzt nach ständiger Rspr voraus, dass die Beeinträchtigung einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel steht. Bei der Feststellung, ob ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“
52 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, NJW 2020, 2851 (2854), § 65 – Pretty/Vereinigtes Königreich. Frank Schorkopf
§ 3 Menschenwürde
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ist, berücksichtigt der Gerichtshof, dass den nationalen Behörden, deren Entscheidung vom EGMR überprüft wird, ein Ermessensspielraum (margin of appreciation) eingeräumt wird. Die generell-abstrakte, strafrechtliche Untersagung von Sterbehilfe sei ein legitimes Ziel der Staaten und sei darüber hinaus auch nicht unverhältnismäßig. Diane Pretty hatte mit Ihrer Beschwerde vor dem EGMR keinen Erfolg.
Frank Schorkopf
§ 4 Höchstpersönliche Rechte § 4.1 Schutz des Lebens, der Unversehrtheit sowie des Privat- und Familienlebens § 4.1.1 Schutz des Lebens, der Unversehrtheit sowie des Privat- und Familienlebens nach der EMRK I. Überblick 1 Zu den Kerngewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention ge-
hören die höchstpersönlichen Rechte des Einzelnen. Insofern finden sich hier wesentliche Parallelen zu den Menschenrechtstexten auf internationaler (globaler) Ebene wie auch zu den nationalen Verfassungstexten. Oftmals wird die Gruppe derjenigen Menschenrechte, der auch diese höchstpersönlichen Rechte angehören, als Menschenrechte der ersten Generation bezeichnet.1 Dies ist eine sicherlich griffige Zuordnung, die historische Gründe für sich anführen kann und insbesondere unterschiedliche Anforderungen an das von den Staaten verlangte Verhalten sowie die Inanspruchnahme ihrer Ressourcen stellen kann.2 Allerdings sagt sie in rechtlicher Hinsicht nichts über den formalen Rang dieser Grundrechte aus; insbesondere das Konventionsrecht kennt insofern keine Abstufungen oder Hierarchien. Dennoch gehören die höchstpersönlichen Rechte zu den Grundrechten, die für den Einzelnen und seine Grundrechtsausübung im Übrigen eine besondere Bedeutung haben. Sie sind, wie etwa das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Art 3 EMRK zeigt, auch in besonders engem Maße mit der Menschenwürdeidee verknüpft3 und haben für die Entfaltung der Persönlichkeit eine zentrale Rolle.
1 Vgl Kälin/Künzli Universeller Menschenrechtsschutz, 4. Aufl 2019, Rn 2.3; s auch v Arnauld VR, Rn 613 f; Kau in: Graf Vitzthum/Proelß, VR, III Rn 233. 2 S allgemein De Schutter International Human Rights Law, 3. Aufl 2019, S 18 f mit Blick auf die Entstehungsgeschichte auf globaler Ebene und die Umsetzungserfordernisse insb bei Teilhabeansprüchen im Rahmen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte. 3 Vgl EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, § 33 – Tyrer/Vereinigtes Königreich; EGMR (GK), Urt v 9.7.2013, 66069/09, 130/10 u 3896/10, § 113 – Vinter ua/Vereinigtes Königreich; Urt v 28.9.2015, 23380/09, § 90 – Bouyid/Belgien; Bank in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 11 Rn 5; Sudre EMRK, Rn 290.
Claas Friedrich Germelmann https://doi.org/10.1515/9783110716740-005
§ 4.1.1 Leben, Unversehrtheit, Privat-und Familienleben: EMRK
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Zu den höchstpersönlichen Rechten nach der EMRK, von denen einige der zen- 2 tralen Garantien im Zentrum dieses Kapitels stehen, gehören der Schutz des Lebens und der körperlichen und physischen Integrität, die Bewahrung der persönlichen Freiheit sowie der Schutz des Privat- und Familienlebens. In textlicher Hinsicht betrifft dies aus dem Text der Konvention selbst die Art 2 (Recht auf Leben), 3 (Verbot der Folter), 4 (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) und 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) EMRK, die Art 8 (Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens) und 12 (Recht auf Eheschließung) EMRK. Ferner finden sich in den Zusatzprotokollen Art 1 4. ZP EMRK (Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden), der sachlich in Verbindung mit Art 5 EMRK steht,4 Art 3 und 4 4. ZP, die Sonderregelungen über Ausweisungen enthalten und damit in Verbindung mit Art 8 I EMRK stehen,5 die Zusatzprotokolle 6 und 13 über die Abschaffung der Todesstrafe, die Art 2 I 2 EMRK konkretisieren,6 sowie Art 5 7. ZP EMRK (Gleichberechtigung der Ehegatten), der in Beziehung zum Schutz des Familienlebens nach Art 8 I EMRK steht.7 Für die persönliche Freiheit, verstanden als Bewegungsfreiheit, sind dabei nicht nur die Art 4 und 5 EMRK, sondern auch die Justizgrundrechte in Art 6, 7 und 13 EMRK relevant.8 Daneben sind auch die weiteren Freiheitsrechte im Text der Konvention und in ihren Zusatzprotokollen, die spezifische Situationen und Tätigkeiten abdecken, ebenfalls Bestandteil des allgemeinen Freiheitsverständnisses der Konvention. Das hiesige Kapitel behandelt die Gewährleistungen der Art 2, 3 und 4 EMRK sowie Art 8 EMRK in Bezug auf den Schutz des Privat- und des Familienlebens; die übrigen Garantien wie Freiheit, Sicherheit und Privatsphäre sind anderen Kapiteln vorbehalten.9 Die Bedeutung einiger dieser höchstpersönlichen Rechte in der Systematik der 3 Konvention wird dadurch besonders unterstrichen, dass sie notstandsfest iSd Art 15 II EMRK sind: Dies ist in vollständigem Umfang für das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Art 3 EMRK sowie für das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft nach Art 4 I EMRK der Fall. Diese Qualifikation korrespondiert in der Sache sowohl mit dem Menschenwürdegehalt dieser Garantien als auch mit dem Umstand, dass Folterverbot wie Sklavereiverbot überwiegend als zwingendes Völkerecht (ius cogens) angesehen werden.10 Für das Recht auf Leben sieht Art 15 II EMRK im Notstandsfall des Art 15 I EMRK zulässige
4 EGMR, Entsch v 23.5.2002, 32190/96 – Luordo/Italien. 5 S unten Rn 51 6 Unten Rn 8. 7 S zum Verhältnis Schabas EMRK, S 1158 mwN. 8 Hierzu näher → Grabenwarter/Struth § 11.1. 9 S für die verfahrensrechtlichen Bestandteile des Art 5 EMRK → Grabenwarter/Struth § 11.1 Rn 3. Hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre nach Art 8 EMRK → Marsch § 4.2.1. Claas Friedrich Germelmann
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Abweichungen nur im Falle rechtmäßiger Kriegshandlungen vor und verweist damit auf das kriegsrechtliche Schädigungsrecht11. 4 In Struktur und Systematik unterscheiden sich die betreffenden Rechte durchaus und bilden insoweit keine dogmatische Einheit. Dies gilt insbesondere, was die Rechtfertigungsmöglichkeit bei Eingriffen angeht. In einigen Fällen wie bei Folter- und Sklavereiverbot sind Rechtfertigungsmöglichkeiten generell ausgeschlossen. Bei dem Lebensschutz des Art 2 EMRK sind sie deutlich verengt; bei anderen Gewährleistungen wie bei Art 8 EMRK entsprechen sie dem üblichen EMRK-Standard eines dringenden sozialen Bedürfnisses („in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“), welches einer sorgfältigen Verhältnismäßigkeitsprüfung entspricht.12 Im Rahmen dieser Prüfung gesteht der Gerichtshof den Mitgliedstaaten gerade in europaweit uneinheitlich geregelten Bereichen weiterhin Gestaltungsspielräume zu, wobei er allerdings für die Fortentwicklung des Rechts offen ist.13 5 Die genannten Rechte der EMRK finden ihre Entsprechung in der EU-Grundrechtecharta, die nach Art 52 III GRCh auf das Konventionsrecht und die detaillierte Rechtsprechung des EGMR in erheblichem Umfang zurückgreifen kann; dies gilt im hier behandelten Bereich etwa für Art 2 (Recht auf Leben), 3 (Recht auf Unversehrtheit), 4 (Verbot der Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung), 5 (Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit), 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und 9 (Recht zur Eheschließung und Familiengründung) GRCh. Teilweise sind die Garantien der GRCh im Text moderner, detaillierter und differenzierter ausgestaltet als die historisch ältere Konventionsfassung. Auch stellt die Charta den Garantien des Titel I (Art 1–5 GRCh) die Menschenwürdegarantie des Art 1 GRCh ausdrücklich voran, was ein offensiveres textliches Bekenntnis zu diesem Grundwert darstellt. In der Sache aber dürfte die EMRK hinter dem materiellen Schutzstandard auch in dieser Hinsicht nicht zurückbleiben, wenn sie sich auch textlich eher in die Zurückhaltung insbesondere älterer internationaler Menschenrechtstexte in Bezug auf die Garantie der Menschenwürde einreiht.14 Auch im globalen Menschenrechtsschutz finden sich Parallelen zu den EMRK-Gewährleistungen der höchstpersönlichen Rechte. Das gilt etwa für den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte mit den Art 6 (Recht auf Leben), 7 (Verbot
10 S De Schutter International Human Rights Law, 3. Aufl 2019, S 85, v Arnauld VR, Rn 289. Zum ius cogens-Charakter des Folterverbots auch IGH, Urt v 20.7.2012, Rep. 2012, 422, 457 Rn 99 – Questions Relating to the Obligation to Extradite or Prosecute (Belgium v Senegal); EGMR (GK), Urt v 21.11.2001, 35763/97, § 61 – Al-Adsani/Vereinigtes Königreich. 11 Dazu Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 60 Rn 2. 12 Dazu allgemein näher → Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 100. S im Einzelnen unten Rn 63. 13 Unten Rn 68. 14 Vgl zu diesem Phänomen McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 ff.
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von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung), 8 (Verbot von Sklaverei, Sklavenhandel, Leibeigenschaft, Zwangs- und Pflichtarbeit), 17 und 23 (Schutz des Privatlebens und der Familie) IPbpR. Diese Garantien spiegeln die (rechtlich unverbindlichen) Grundentscheidungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 wider,15 wobei sie indes in der Durchsetzungskraft hinter der EMRK zurückbleiben. Im deutschen Verfassungsrecht finden sich ebenfalls vergleichbare Garantien, die allerdings mit Art 1 I, 2 II 1, 2 I iVm 1 I, 6 I GG anders strukturiert sind. Trotz der Übertragbarkeit von Problemkonstellationen sowie der strukturellen und inhaltlichen Verwandtschaft, die in Bezug auf das Verhältnis von EMRK und GRCh sogar durch einen Gleichlauf der Gewährleistungen geprägt ist (Art 52 III GRCh) und hinsichtlich des nationalen Verfassungsrechts ebenfalls Kohärenzbestrebungen aufweist (Art 52 IV GRCh), können die einzelnen Garantien in der Interpretation durch die jeweils zugehörige höchstrichterliche Rechtsprechung doch im Detail einige Besonderheiten aufweisen.
II. Schutz des Lebens und der Integrität Die höchstpersönlichen Kerngrundrechte des Einzelnen sind, sowohl was das Leben 6 als auch was die körperliche Unversehrtheit angeht, durch das Konventionsrecht in mehreren Bestimmungen unter unterschiedlichen Aspekten abgesichert. Die Garantie der persönlichen Unversehrtheit umfasst neben dem Lebensschutz insbesondere auch das Folterverbot gemäß Art 3 EMRK, bewegt sich in der Rechtsprechung aber auch in den Sachbereich des Art 8 I EMRK hinein.16 Art 3 EMRK schützt nicht nur die körperliche, sondern auch die seelische Integrität. Das Sklavereiverbot des Art 4 EMRK bewegt sich sachlich im Bereich des Freiheitsschutzes, ist aber gleichzeitig ein zentraler Aspekt des Persönlichkeitsschutzes und mit der Sicherung der körperlichen und seelischen Integrität sowie dem Lebensschutz eng verknüpft.
1. Das Recht auf Leben (Art 2 EMRK) Leitentscheidungen: EGMR (GK), Urt v 27.9.1995, 18984/91 – McCann ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02 – Pretty/Vereinigtes Königreich; EGMR (GK), Urt v 8.7.2004, 53924/00 – Vo/Frankreich = JK 2005, EMRK Art 2 I 1/1; Urt v 16.12.2010, 25579/05 – A., B. und C./Irland; Urt v 24.3.2011, 23458/02 – Giuliani u Gaggio/Italien; EGMR, Urt v 12.11.2013, 23502/06 – Benzer ua/Türkei.
15 Vgl zu Unterschieden in der Nuancierung und Wirkungsrichtung (individualgerichteter Ansatz der AEMR vs staatengerichteter Ansatz des IPbpR) Sudre EMRK, Rn 85. 16 Dazu unten Rn 49. Claas Friedrich Germelmann
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Schrifttum: Arzt Europäische Menschenrechtskonvention und polizeilicher Todesschuss, DÖV 2007, 230 ff; Costa/O’Boyle The European Court of Human Rights and International Humanitarian Law, in: La Convention européenne des droits de l’homme, un instrument vivant / The European Convention on Human Rights, a living instrument. Mélanges en l’honneur de / Essays in Honour of Christos L. Rozakis, 2011, S 107 ff; Gaggioli/Kolb A right to life in armed conflicts? : the contribution of the European Court of Human Rights, Israel Yearbook on Human Rights 37 (2007), 115 ff.
7
Fall 1: (abgewandelt und vereinfacht nach EGMR (GK), Urt v 20.12.2004, 50385/99 – Makaratzis/Griechenland) M leidet unter psychischen Problemen, die schubweise auftreten. Er hatte nach der Begehung eines Rotlichtverstoßes im abendlichen Athener Stadtverkehr trotz Aufforderung der anwesenden Polizeistreife nicht angehalten, sondern war mit erhöhter Beschleunigung weitergefahren. Er befand sich dabei in der unmittelbaren Nähe der US-Botschaft. In der Folge lieferte er sich eine Verfolgungsjagd mit mehreren Polizeiwagen und -motorrädern, wobei er mehrfach am Straßenrand parkende Autos beschädigte. Nachdem er mehrere Polizeisperren durchbrochen hatte, begannen mehrere Polizeibeamten auf seinen Wagen mit Pistolen und Maschinenpistolen Schüsse abzugeben. Auch als sein Wagen an einer Tankstelle zum Halten gekommen war, erfolgten weitere Schüsse. M wurde letztlich verhaftet und in ein Krankenhaus zur Behandlung gebracht. In der Folge fand eine eingehende Untersuchung der Vorgänge durch die Polizeibehörde statt, in der das Verhalten der Beamten einer Kontrolle und Bewertung unterzogen wurde und die Abläufe des Einsatzes objektiv nachvollzogen werden konnten. Insgesamt wurde festgestellt, dass im Fahrerbereich 16 Kugeln das Fahrzeug getroffen hatten. In der Folge wurden gerichtliche Verfahren gegen einzelne Polizeibeamten eröffnet und durchgeführt. Hierbei wurde u. a. festgestellt, dass die vom nationalen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für den Einsatz von Schusswaffen von mehreren Polizeibeamten nicht eingehalten worden waren.
8 Das Recht auf Leben steht in Art 2 EMRK sowohl in sachlicher als auch in systemati-
scher Hinsicht an der Spitze und im Zentrum der Grundrechte der EMRK.17 Seine Verletzung ist der Kulminationspunkt eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit. Gleichwohl sind derartige Eingriffe durch den Konventionstext nicht gänzlich ausgeschlossen; sie unterliegen freilich einer engen Schrankenregelung. In Bezug auf den besonderen Fall der Todesstrafe, die der Konventionstext in Art 2 I 2 EMRK noch als Ausnahmefall des Rechts auf Leben normiert, ist durch die Fortentwicklung des Rechts der EMRK in den ZP 6 und 13 eine signifikante Rechtsänderung eingetreten, die eine konventionsgemäße Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe heute unmöglich macht.18
17 Schabas EMRK, S 122 mwN. 18 S dazu noch unten Rn 19. Claas Friedrich Germelmann
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§ 4.1.1 Leben, Unversehrtheit, Privat-und Familienleben: EMRK
a) Entsprechungen im globalen Menschenrechtsschutz und in der Grundrechtecharta der EU Der Schutz des Lebens und die rechtfertigungsbedürftige Zulässigkeit von Tötungen 9 im internationalen Menschenrechtsschutz finden ihre Grundlage in Art 6 IPbpR. Der Wortlaut der Bestimmung, der nur „willkürlich[e]“ Tötungen verbietet, ist weniger restriktiv gefasst als Art 2 EMRK. Die Norm setzt zudem andere Schwerpunkte, die sich aus ihrem globalen Geltungsanspruch erklären. Sie unterstreicht den Vorrang der Völkermordkonvention und enthält zudem eingehendere textliche Vorgaben zur Todesstrafe. Eine dem Art 15 EMRK vergleichbare Notstandsbestimmung normiert Art 4 IPbpR. Wenn in ihr auch Außerkraftsetzungen des Rechts auf Leben (Art 6 IPbpR) im Grundsatz ausgeschlossen werden, so ist dem jedenfalls wegen des Willkürmaßstabs in Art 6 IPbpR kein vollständiges Verbot rechtmäßiger Tötungen im Kriegsfall zu entnehmen. Die Frage der Willkürlichkeit wird hierbei durch die Spezialregeln des humanitären Völkerrechts definiert.19 Absolut verbietet die Norm hingegen Abweichungen vom Folterverbot (Art 7 IPbpR), welches wegen seines ius cogens-Charakters keine Ausnahmen gestattet.20 Im europäischen Unionsrecht sind beim Schutz des Rechts auf Leben nach 10 Art 2 GRCh Ausnahmen durch Gesetz nicht vorgesehen. Nur über die allgemeine Schrankenregel des Art 52 I GRCh können solche Eingriffe, die durch Gesetz vorgesehen sind, den Wesensgehalt des Rechts nicht antasten und verhältnismäßig sind,21 denkbar sein; dabei werden verbreitet über Art 52 III 1 GRCh auch die strengen Voraussetzungen des Art 2 II EMRK in die Rechtfertigungsprüfung des Art 2 GRCh einbezogen;22 dies gilt etwa auch für den Bereich der Gefahrenabwehr.23 Das Verbot der Todesstrafe nach Art 2 II GRCh ist hingegen schon von seinem Wortlaut her absolut24 und lässt sich durch den allgemeinen Schrankenvorbehalt des Art 52 I GRCh ebenso wenig relativieren wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde nach Art 1 GRCh.
19 Vgl IGH, 8.7.1996, Rep. 1996, 226 (240 Rn 25) – Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion; 9.7.2004, Rep. 2004, 136 (178 Rn 106) – Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion. S auch EGMR (GK), Urt v 7.7.2011, 55721/07, §§ 161 ff – Al-Skeini ua/Vereinigtes Königreich; ferner Sudre EMRK, Rn 295. 20 S dazu Rn 39. 21 Näher Jarass GRCh, Art 2 Rn 11 mit einem zu Recht strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab. 22 So Jarass GRCh, Art 2 Rn 9; Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 21. 23 Zutr Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRC Rn 7. 24 Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRC Rn 8; Augsberg in: vd Groeben/Schwarze/ Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 2 GRC Rn 11; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 45 f. S ferner die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zur Grundrechtecharta, Erl 3 zu Art 2.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
a) Sachlicher Schutzbereich 11 Der sachliche Schutzbereich des Art 2 EMRK erfasst das menschliche Leben in seiner vollständigen zeitlichen Ausdehnung. Dabei ergibt sich die Schutzwirkung direkt aus der Konvention selbst; die Formulierung, dass das Leben gesetzlich geschützt sei, unterstreicht nur die positive Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten, begründet aber kein zusätzliches Umsetzungserfordernis der abwehrrechtlichen Dimension; die Bestimmung des Art 2 I EMRK ist vielmehr in ihrer Gesamtheit selfexecuting.25 In zeitlicher Hinsicht stellt sich wie auch im deutschen Verfassungsrecht die Frage nach dem Beginn des Schutzes des Lebens. Als eindeutige Zäsur ist die Geburt zu begreifen.26 Hinsichtlich des Schutzes des ungeborenen Lebens bestehen hingegen in den Mitgliedstaaten der EMRK unterschiedliche rechtliche Traditionen. Dies bedeutet, dass eine einheitliche Rechtsaufassung bezogen auf den Beginn des Lebensschutzes vor der Geburt bislang nicht besteht. Daher erstreckt auch der EGMR den Schutz des Art 2 I EMRK nicht auf das ungeborene Leben.27 Allerdings bedeutet dies nicht, dass die EMRK insofern insgesamt keinerlei Schutz enthielte. Vielmehr erkennt der EGMR etwa in Fällen des Schwangerschaftsabbruchs als Gegengewicht zur Selbstbestimmung der werdenden Mutter schutzwürdige rechtliche Interessen des ungeborenen, werdenden menschlichen Lebens sowie grundlegende moralische Wertungen des jeweiligen Mitgliedstaates an.28 Auch wenn deren dogmatische Verankerung nicht eindeutig zuzuordnen ist, erfordert doch auch die Effektivität des Lebensschutzes nach der EMRK dieses Ergebnis. Die enge Verknüpfung des Lebensschutzes mit der Menschenwürde, wie sie im deutschen Verfassungsrecht anerkannt ist,29 ist auch für das Konventionsrecht bedeutsam und erhöht das Bedürfnis für einen rechtlichen Schutz insbesondere in Situationen der tatsächlichen Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins. In dieser Situation befindet sich das ungeborene Leben. Unter Berücksichtigung dieser Grundannahme ist es nach der Rechtsprechung des EGMR im Detail aber den Gestaltungsspielräumen der Mitgliedstaaten überlassen, den konkreten Zeitpunkt des Beginns des Lebensschutzes vor der Geburt gesetzlich zu regeln; damit gibt es insbesondere mit Blick auf das Recht des Schwangerschaftsabbruchs in den Mitgliedstaaten des Europarats weiterhin unterschiedliche Regelungsoptionen, die eine Ver-
25 Zu diesem Konzept Schweitzer/Dederer StR III, Rn 814 ff. 26 Vgl Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 6. 27 EGMR, Urt v 8.7.2004, 53924/00, §§ 75 ff – Vo/Frankreich; Urt v 10. 4. 2007, 6339/05, §§ 54 ff – Evans/ Vereinigtes Königreich; EGMR (GK), Urt v 16.12.2010, 25579/05, §§ 237 ff – A., B. und C./Irland. 28 EGMR, Urt v 20.3.2007, 5410/03 – Tysiąc/Polen; EGMR (GK), Urt v 16.12.2010, 25579/05, §§ 213, 222 ff – A., B. und C./Irland. 29 Vgl zur deutschen Konstruktion über Art 1 I GG BVerfGE 39, 1 (41); 88, 203 (251 f).
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einbarkeit mit Art 2 I EMRK für sich beanspruchen können.30 Vergleichbare Probleme stellen sich im Zusammenhang mit dem Embryonenschutz im Bereich der medizinischen Forschung; denn auch hier bestehen keine einheitlichen europäischen Rechtsauffassungen.31 Das Lebensende in juristischer Hinsicht wird gemeinhin durch den Hirntod 12 definiert.32 In diesem Kontext stellt sich namentlich die Frage der Zulässigkeit der so genannten Sterbehilfe, die sich allerdings weniger als eine Frage des Schutzbereichs als eine solche der Grundrechtsfunktionen unter dem Gesichtspunkt der Reichweite der positiven Schutzpflicht des Staates darstellt.33 Nicht vom Schutzbereich des Art 2 I EMRK gedeckt ist im Sinne einer negativen Freiheit jedenfalls ein Grundrecht auf Beendigung des eigenen Lebens,34 wie es neuerdings vom BVerfG für die deutsche Grundrechtsordnung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art 2 I iVm Art 1 I GG hergeleitet wird.35 In der Tat ließe sich ein derartiges Verständnis mit dem Wortlaut des Art 2 I EMRK auch kaum in Einklang bringen; die interpretativen Ausweichmöglichkeiten des EGMR als einem internationalen Gerichtshof mit einer stärkeren Verpflichtung auf den Normwortlaut sind insofern begrenzter als die eines nationalen Verfassungsgerichts. Hinzu kommen die in dieser sensiblen Frage nach wie vor divergierenden Rechtstraditionen der EMRK-Mitgliedstaaten. Die Rechtsprechung des EGMR wählt in dieser Situation daher einen Ausweg über Art 8 I EMRK, welcher u. a. die Führung eines selbstbestimmten Lebens nach dem eigenen frei gebildeten Willen schützt.36 Dies hindert allerdings nicht staatliche Maßnahmen im Rahmen der Rechtfertigungsgründe des Art 8 II EMRK zum Schutz des Lebens und auch zur Verhütung des Suizids, wobei den Mitgliedstaaten erneut erhebliche Gestaltungsspielräume bleiben, die im Interesse des Lebensschutzes und in Anbetracht der Missbrauchsgefahr auch ein Verbot der Sterbehilfe rechtfertigen können.37 Allerdings obliegen den mitgliedstaatlichen Stellen verfahrensrechtliche Pflichten, um sicherzustellen, dass die grundrechtlichen Posi
30 Für einen Überblick der Rspr Schabas EMRK, S 124 f. 31 S dazu eingehender Müller-Terpitz, AVR 51 (2013), 42; Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 11 mwN. 32 Vgl Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 12. 33 Unten Rn 14. 34 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, § 40 – Pretty/Vereinigtes Königreich; EGMR (GK), Urt v 5.6.2015, 46043/14, §§ 137 ff – Lambert ua/Frankreich mwN. 35 BVerfGE 153, 182. 36 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, §§ 61 ff – Pretty/Vereinigtes Königreich; Urt v 20.1.2011, 31322/07, § 51 – Haas/Schweiz. 37 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, §§ 68 ff – Pretty/Vereinigtes Königreich; Urt v 20.1.2011, 31322/07, §§ 53 ff – Haas/Schweiz.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
tionen des Betroffenen bei der Abwägungsentscheidung angemessen gewürdigt werden.38
b) Persönlicher Schutzbereich 13 Art 2 EMRK berechtigt nur natürliche Personen; es handelt sich um ein klassisches
Menschenrecht im engen Sinne. In prozessualer Hinsicht besteht in Fällen eines Eingriffs durch Tötung die Möglichkeit der Geltendmachung der Verletzung des Grundrechts auch durch die Angehörigen des Getöteten oder vergleichbare Interessensvertreter, wobei hier umstritten ist, ob eine Prozessstandschaft in Bezug auf das ursprüngliche Recht nach Art 2 EMRK39 oder eine eigene Passivlegitimation anzunehmen ist.40 In der Sache ist die dogmatische Zuordnung aber unerheblich, solange die eigene direkte Betroffenheit gegeben ist oder eine Parallelität mit den Interessen des Eingriffsopfers vorliegt, die ansonsten nicht mehr geltend gemacht werden könnten; die Rechtsprechung ist hier restriktiv und zudem eher wertendkasuistisch geprägt.41 In extremen Fällen mit unmittelbaren Wirkungen auch für diese kann gleichzeitig auch eine eigene Rechtsverletzung der Angehörigen anzunehmen sein, die sich dann wegen der erlittenen Belastungen aus dem Grundrecht des Art 3 EMRK ergibt.42
c) Grundrechtsfunktionen 14 Art 2 EMRK ist in seiner primären Funktion ein Abwehrrecht. Es schützt gegen alle
staatlichen oder dem Staat zurechenbaren Eingriffe. Allerdings hat die Rechtsprechung die Grundrechtsfunktionen in erheblichem Umfang fortentwickelt, um den Lebensschutz zu effektivieren und den tatsächlichen Bedrohungen in den Mitgliedstaaten angemessen begegnen zu können. Zum Schutz des Lebens hat der EGMR daher in ständiger Rechtsprechung zudem weitreichende positive Verpflichtungen
38 EGMR, Urt v 19.7.2012, 497/09, §§ 70 ff – Koch/Deutschland. 39 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 17 Rn 4. 40 So Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 49 mit der Annahme eines eigenständigen Rechts der Angehörigen aus Art 2 EMRK; nicht ganz klar Meyer-Ladewig/Kulick in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 34 Rn 23. 41 Vgl EGMR, Urt v 18.6.2013, 48609/06, §§ 88 f – Nencheva ua/Bulgarien.; Urt v 13.11.2012, 47039/11 u 358/12, § 73 – Hristozov u. a./Bulgarien; ausführl auch EGMR (GK), Urt v 17.7.2014, 47848/08, §§ 96 ff – Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu/Rumänien; Urt v 5.6.2015, 46043/14, §§ 89 ff – Lambert u. a./Frankreich, jeweils mwN. 42 Vgl ausführlicher Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 46 f.
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der Mitgliedstaaten anerkannt.43 Dabei sind allerdings Gestaltungsspielräume des Staates zu berücksichtigen.44 Diese beziehen sich zunächst auf den gesetzlichen Rahmen für staatliche Gewaltanwendung.45 Auch erfassen sie den Schutz vor rechtswidrigem Handeln privater Dritter durch geeignete und effektive rechtliche und tatsächliche Vorkehrungen, wie beispielsweise gesetzliche Schutzvorschriften präventiver wie repressiver Art und polizeiliche und ordnungsbehördliche Organisationsstrukturen.46 Auch der Schutz vor Naturkatastrophen ist entsprechend zu bewerten.47 Gleiches gilt für grundlegende Sicherheitsanforderungen bei gefahrgeneigtem Handeln wie im Straßenverkehr oder die Sicherstellung der Effektivität der Bereitstellung und Regulierung einer Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung, sofern der Staat eine solche vorsieht, was insbesondere Schutzvorkehrungen bei Behandlungsfehlern einschließt.48 Positive Schutzpflichten des Staates können auch gegenüber eigenen Entscheidungen des Grundrechtsträgers eingreifen. Dies ist insbesondere in menschlichen Krisensituationen wie bei krankheitsbedingter Wehrlosigkeit oder bei suizidalen Tendenzen der Fall; die staatlichen Schutzvorkehrungen müssen hier dem hohen Wert des Lebensschutzes gerecht werden. Klar ist dies in Fällen, in denen der Betreffende nicht in der Lage ist, einen freien Willen zu bilden.49 Der Fokus der Rechtsprechung richtet sich in diesen Fällen auf die Angemessenheit der staatlichen Organisation und Regelung derartiger Sachverhaltskonstellationen einschließlich der justiziellen Überprüfbarkeit.50 Aber auch darüber hinaus muss trotz der Anerkennung staatlicher Gestaltungsspielräume bei der Ausformung von Regelungen über Suizid und Sterbehilfe der hohe Wert des Lebens nach dem System der EMRK in seiner vollen Bedeutung berücksichtigt werden. Auch dies ist Bestandteil der positiven staatlichen Pflichten. Dies führt zwar nicht zu einem Verbot der Sterbehilfe nach der EMRK; ihre pauschale Zulässigkeit kann
43 EGMR, Urt v 9.6.1998, 23413/94, § 36 – L.C.B./Vereinigtes Königreich; ferner Schabas EMRK, S 126 ff zur Kasuistik. 44 Vgl etwa für den aktuell intensiv diskutierten Bereich des Umweltrechts und insbesondere von Maßnahmen gegen den Klimaschutz Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 39a mwN. 45 Vgl EGMR (GK), Urt v 20.12.2004, 50385/99, §§ 76 ff – Makaratzis/Griechenland. 46 S maßgeblich EGMR (GK), Urt v 28.10.1998, 23452/94, §§ 115 ff – Osman/Vereinigtes Königreich; w Nachw aus der Rspr bei Meyer-Ladewig/Huber in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 2 Rn 12 ff. Ausführl zu möglichen Erfüllungsformen der Schutzpflicht in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 34 ff. 47 Vgl EGMR, Urt v 10.4.2012, 19986/06, §§ 34 ff – Kemaloğlu (Erfrieren eines Schülers auf dem Heimweg im Schneesturm). 48 Schabas EMRK, S 131; Sudre EMRK, Rn 303 ff. 49 EGMR, Urt v 20.1.2011, 31322/07, §§ 54 ff – Haas/Schweiz. 50 Vgl beispielhaft EGMR (GK), Urt v 5.6.2015, 46043/14, §§ 137 ff – Lambert ua/Frankreich.
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es allerdings nach Art 2 I EMRK nicht geben.51 Sie ist grundrechtlich nicht gefordert52 und erscheint im Gegenteil ohne eine restriktive und klare gesetzliche Regulierung mit der Schutzpflicht aus Art 2 I EMRK auch nicht vereinbar zu sein. 15 Eine besondere, praktisch bedeutsame Rolle nehmen die positiven prozeduralen Pflichten des Staates bei der (gründlichen und effektiven, d. h. unabhängigen, objektiven und angemessenen) Ermittlung, Untersuchung und Dokumentation von gewaltsamen Todesfällen ein;53 dies erfasst auch staatsanwaltliche Ermittlungen und gerichtliche Aufarbeitungen.54 Die Verletzung dieser Pflichten kann in der Konsequenz zum einen dazu führen, dass eine Verletzung des Rechts auf Leben dem Staat selbst als Eingriff zugerechnet wird, wenn sich etwa ein Todesfall in staatlichem Gewahrsam oder in einer sonstigen staatlichen Einflusssphäre ereignet hat.55 In der Sache handelt es sich hierbei um eine Beweislastumkehr für das Vorliegen eines Eingriffs. Entsprechendes gilt für die Fälle des „Verschwindenlassens“ von Personen, deren Tod nach Ablauf einer bestimmten Frist vermutet wird; auch hier findet eine Zurechnung der (vermuteten) Tötungshandlung zu dem Staat statt, der für das Verschwinden verantwortlich ist.56 Zum anderen stellt die Verletzung der Ermittlungspflichten auch unabhängig von der Zurechnung des Eingriffs im abwehrrechtlichen Sinne für sich genommen eine eigenständige, im gegebenen Fall zusätzliche Verletzung des Art 2 EMRK in Form der aus ihm ableitbaren positiven prozeduralen Pflicht dar.57
51 EGMR, Urt v 20.1.2011, 31322/07, § 55 – Haas/Schweiz; Urt v 19.7.2012, 497/09, § 70 – Koch/Deutschland. 52 Oben Rn 12. 53 Näher Sudre EMRK, Rn 299. 54 Vgl EGMR (GK), Urt v 27.9.1995, 18984/91, §§ 161 ff – McCann ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 28.7.1998, 23818/94, §§ 77 ff – Ergi/Türkei; Urt v 20.5.1999, 21594/93, § 88 – Oğur/Türkei; Entsch v 5.10.1999, 33677/96 – Grams/Deutschland (Zulässigkeitsentscheidung); Urt v 21.9.2021, 20914/07 – Carter/Russland; w Nachw aus der Rspr bei Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 40 ff.; Schabas EMRK, S 134 ff. Monographisch Altermann Ermittlungspflichten der Staaten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2006. 55 Vgl EGMR, Urt v 27.6.2000, 21986/93, § 99 – Salman/Türkei; Urt v 13.6.2002, 38361/97, §§ 110 ff – Anguelova/Bulgarien. Allg zu den Folgen einer unzureichenden Mitwirkung des Konventionsstaates bei der Fallaufklärung s etwa EGMR, Urt v 24.7.2014, 28761/11 – Al Nashiri/Polen (zu geheimen CIAGefängnissen in Polen). 56 Vgl insb die zahlreichen Fällen in Aufarbeitung der Menschenrechtsverstöße im Tschetschenienkrieg: zB EGMR, Urt v 9.11.2006, 69480/01, §§ 80 ff – Luluyev ua/Russland; Urt v 27.3.2012, 5432/07, §§ 84 ff – Kadirova ua/Russland.; Urt v 31.10.2013, 26960/06 ua, §§ 87 ff – Tovbulatova ua/Russland. S ferner EGMR, Entsch v 16.12.2014, 20958/14, 38334/18, §§ 401 ff – Ukraine/Russland (Krim). Weitere Bsp bei Sudre EMRK, Rn 297. 57 EGMR, Urt v 20.5.1999, 21594/93, §§ 85 ff – Oğur/Türkei; Urt v 12.11.2013, 23502/06 , §§ 186 ff – Benzer ua/Türkei; Urt v 21.9.2021, 20914/07 – Carter/Russland; s auch Schübel-Pfister in: Karpenstein/ Mayer, EMRK, Art 2 Rn 20, 32.
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d) Eingriffe Das Recht auf Leben nach Art 2 EMRK schützt vor allen direkten und indirekten Ein- 16 griffen in das Recht auf Leben. Sie können rechtliche oder faktische Eingriffe sein und müssen nicht notwendigerweise gezielt und absichtlich oder auch nur vorsätzlich erfolgen.58 Auch Maßnahmen, die wie der Schusswaffengebrauch potenziell tödlich sind, aber letztlich nicht den Tod der betreffenden Person herbeiführen, werden als Eingriffe in Art 2 EMRK gewertet.59 Erforderlich ist indes stets, dass staatliche oder dem Staat zurechenbare Handlungen vorliegen;60 die Abwehr von Tötungen durch Private kann allerdings als Inhalt einer staatlichen Schutzpflicht relevant sein. Auch die Gefährdung des Lebens ist als ein tatbestandlicher Eingriff anzusehen.61 Dies gilt beispielsweise im Fall von Ausweisungen auch dann, wenn den Betreffenden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Zielstaat der Tod erwartet; es ist dem Mitgliedstaat durch Art 2 EMRK untersagt, auch indirekt an Verletzungshandlungen eines nicht durch die Konvention gebundenen Drittstaats mitzuwirken.62 Besonders relevant ist diese Konstellation im Zusammenhang mit der Todesstrafe in einem Drittstaat geworden, wenngleich die klassische Rechtsprechung im Ausgangspunkt vornehmlich den Weg über Art 3 EMRK wählte.63 Aber auch im Übrigen ist die Verwendung von unverhältnismäßiger Gewalt, die eine Tötung zur Folge haben kann, als ein ungerechtfertigter Eingriff in Art 2 I EMRK anzusehen.64
e) Rechtfertigungsgründe Die Ausnahmen vom Tötungsverbot sind im Text der Konvention nicht alle eindeu- 17 tig der Rechtfertigungsebene zugeordnet; sie sind zum Teil eher als Ausnahmenormen formuliert. In der Sache handelt es sich bei allen indes um Schranken des Rechts auf Leben. Sie können in drei größere Gruppen unterteilt werden. Zum einen sind in Art 2 II EMRK die Rechtfertigungsgründe im engeren Sinne normiert.
58 Vgl EGMR (GK), Urt v 27.9.1995, 18984/91, § 148 – McCann ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 20.5.1999, 21594/93, § 78 – Oğur/Türkei; Urt v 27.6.2000, 21986/93, § 98 – Salman/Türkei. 59 Schabas EMRK, S 125 mwN. 60 Vgl EGMR, Urt v 28.7.1998, 23818/94, § 78 – Ergi/Türkei. 61 EGMR (GK), Urt v 20.12.2004, 50385/99, §§ 50 ff – Makaratzis/Griechenland; EGMR, Urt v 24.2.2005, 57950/00, §§ 172 ff – Isayeva/Russland. Der Gerichtshof differenziert hierbei indes nach der Intensität; s näher Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 18. 62 S insb bei Fällen drohender Todesstrafe EGMR, Urt v 19.11.2009, 41015/04, § 99 – Kabulov/Ukraine; ferner Meyer-Ladewig/Huber, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 2 Rn 20; s auch noch Rn 20. 63 S näher dazu Rn 20. 64 Vgl Sudre EMRK, Rn 295 mwN.
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Hinzu kommt zum anderen die besondere Bestimmung über die Todesstrafe in Art 2 I 2 EMRK, die heute durch die ZP 6 und 13 modifiziert ist. Schließlich ist die Notstandsausnahme nach Art 15 EMRK zu beachten. 18 Art 2 II EMRK nennt drei abschließend gefasste Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in das Recht auf Leben. Die Tötung oder Lebensgefährdung muss dabei stets „unbedingt erforderlich“ gewesen sein, um das legitime Ziel zu erreichen. Diese Voraussetzung, die für eine Rechtfertigung immer zusätzlich zu den konkreten Rechtfertigungsgründen hinzukommen muss, ist als eine Verschärfung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs unter dem Gesichtspunkt der Auswahl milderer Mittel und der Schutzvorkehrungen zu verstehen, um den Einsatz tödlicher Gewalt zu minimieren.65 Hinsichtlich der Rechtfertigungsgründe kann zunächst gemäß Art 2 II lit a EMRK die Notwehr und Nothilfe zugunsten eines Menschen den Eingriff in das Grundrecht legitimieren, wobei es für die Voraussetzungen im Einzelnen auf das nationale Recht ankommt, das nach der Rechtsprechung des EGMR eine gesetzliche, hinreichend bestimmte und den rechtsstaatlichen Grundsätzen auch im Übrigen genügende Grundlage bereithalten muss.66 Unter diese Fallgruppe fällt beispielsweise der gefahrenabwehrrechtliche polizeiliche Schusswaffengebrauch. Der Rechtfertigungsgrund der rechtmäßigen Festnahme und Fluchtverhinderung gemäß Art 2 II lit b EMRK verweist ebenfalls auf das nationale Recht, welches auch hier eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für den Eingriff bereitstellen muss; gezielte Tötungen zu diesem Zwecke sind jedenfalls unverhältnismäßig.67 Die rechtmäßige Niederschlagung eines Aufruhrs oder Aufstands nach Art 2 II lit c EMRK wird man nach denselben Maßstäben zu beurteilen haben.68
f) Das Verbot der Todesstrafe durch das 6. und das 13. Zusatzprotokoll zur EMRK 19 Nach dem Wortlaut des Art 2 I 2 EMRK scheint die Vollstreckung der Todesstrafe
ein gerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Leben zu sein. Der ursprüngliche Konventionstext selbst sieht lediglich prozedurale Anforderungen im letzten Halbsatz dieses Absatzes vor.69 Diese Rechtslage, die heute nicht mehr dem Stand des Kon-
65 Vgl insb EGMR (GK), Urt v 27.9.1995, 18984/91, §§ 149, 200 ff – McCann ua/Vereinigtes Königreich (Differenzierung zwischen dem Verhalten der die tödlichen Schüsse abgebenden Soldaten im Vergleich zu der Gesamtorganisation des Einsatzes); EGMR, Urt v 20.5.1999, 21594/93, § 78 – Oğur/Türkei; EGMR (GK), Urt v 24. 3. 2011, 23458/02, §§ 174 ff – Giuliani und Gaggio/Italien; Schabas EMRK, S 147. 66 EGMR (GK), Urt v 20.12.2004, 50385/99, § 58 – Makaratzis/Griechenland. 67 Grabenwarter/Pabel EMRK § 20 Rn 16; Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 27; Schabas EMRK, S 150 (mit Verweis auf die wachsende Effektivität moderner Strafverfolgung). 68 Vgl in diese Richtung EGMR, Urt v 24.6.2008, 36832/97 – Solomou ua/Türkei. 69 Diese blieben allerdings sogar hinter denjenigen des Art 6 II-VI IPbpR zurück.
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ventionsrechts in der Fassung seiner Zusatzprotokolle entspricht, folgte der im Jahr 1950 durchaus mehrheitlichen Staatenpraxis. Auch wenn die Todesstrafe weltweit weiterhin von einer nicht unerheblichen Zahl von Staaten verhängt und vollstreckt wird,70 ist sie doch für die Mitglieder des Europarats heute effektiv abgeschafft. Eine (erste) Teilabschaffung erfolgte durch das Zusatzprotokoll Nr 6 vom 28.4.1983.71 Es verbot die Verhängung der Todesstrafe ebenso wie ihre Vollstreckung und sah nur eine Ausnahme für Taten vor, die im Krieg oder bei drohender Kriegsgefahr gesetzlich der Todesstrafe unterworfen waren (Art 1, 2 6. ZP EMRK). Im Übrigen wurden die Bestimmungen des Protokolls notstandsfest, da eine Berufung auf die Notstandsklausel des Art 15 EMRK ausgeschlossen wurde (Art 3 6. ZP EMRK). Vor dem Hintergrund der Unvereinbarkeit der Todesstrafe mit der Idee der Menschenwürde72 findet sich ein absolutes Verbot der Todesstrafe auch für Kriegszeiten sodann im Protokoll Nr 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe vom 3.5.2002,73 so dass das Verbot, die Todesstrafe zu verhängen und zu vollstrecken nun ausnahmslos gilt (Art 1 13. ZP EMRK). Auch dieses Protokoll ist notstandsfest (Art 2 13. ZP EMRK). Es ist mittlerweile von 44 der Europaratsstaaten ratifiziert worden und bislang lediglich nicht für Armenien und Aserbaidschan in Kraft getreten.74 Das Verbot der Todesstrafe ist eng mit der Idee der Menschenwürde verknüpft. 20 Dies gilt auch für das Recht der EMRK. Besonders deutlich wird dies in seiner Grundsatzentscheidung in der Rechtssache Öcalan.75 Hier nahm der Gerichtshof als tragende Begründung einen Verstoß gegen Art 3 EMRK aufgrund des zum Todesurteil führenden unfairen Verfahrens an.76 Seine Entscheidung ebenso wie die
70 Vgl Hood/Hoyle The Death Penalty –A Worldwide Perspective, 5. Aufl 2015, S 49 ff, 75 ff. 71 BGBl 2002 II 1077. Dazu Hartig, EuGRZ 1983, 270; R.-P. Calliess, NJW 1989, 1019; zur Entstehung Schabas The Abolition of the Death Penalty in International Law, 3. Aufl 2009, S 279 ff; Bernaz Le droit international et la peine de mort, 2008, S 80 ff. Das 6. ZP ist von allen Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert worden (eine Ausnahme bildete der ehemalige Mitgliedstaat Russland, der es nur gezeichnet hatte). Zum Problem, inwieweit Art 2 EMRK heute tatsächlich teilweise durch die Zusatzprotokolle abgeändert worden ist, s EGMR (GK), Urt v 12.5.2005, 46221/99, §§ 164 ff – Öcalan/Türkei; EGMR, Urt v 2.3.2010, 61498/08, §§ 115 ff – Al-Saadoon u Mufdhi/Vereinigtes Königreich und unten Rn 20. 72 Vgl die Präambel des 13. ZP. S auch Schabas EMRK, S 1199. 73 BGBl 2004 II 983. Dazu Bernaz Le droit international et la peine de mort, 2008, S 90 ff. 74 Armenien hat das 13. ZP unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, Aserbaidschan hat es weder gezeichnet noch ratifiziert. Auch Russland hatte vor seinem Ausscheiden aus Europarat und EMRK das 13. ZP nicht gezeichnet und ratifiziert. 75 EGMR (GK), Urt v 12.5.2005, 46221/99, §§ 162 ff – Öcalan/Türkei. 76 EGMR (GK), Urt v 12.5.2005, 46221/99, §§ 166 ff – Öcalan/Türkei. Auf ein besonderes psychisches Trauma stellte der EGMR hier nicht ab, sondern auf die allgemeine Furcht vor der Vollstreckung in Verbindung mit dem unfairen Verfahren.
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Folgeentscheidungen77 manifestieren jedoch eine Tendenz, Art 3 EMRK ein absolutes Verbot der Todesstrafe zu entnehmen, da die in Art 2 EMRK an sich angelegte Grundannahme, dass die Todesstrafe aus Sicht der Konvention keine unmenschliche Strafe im Sinne des Art 3 EMRK sei, durch die Zusatzprotokolle 6 und 1378 sowie den entsprechenden Wandel der Rechtsauffassung in der Mitgliedstaaten revidiert werden muss. Dies erscheint auch als die notwendige Konsequenz der Berücksichtigung der psychischen Stabilität des zum Tode Verurteilten, welche der EGMR seit seiner berühmten Entscheidung in der Rechtssache Soering79 in das Zentrum der Betrachtung rückt. Hier hatte er die Auslieferung eines Beschuldigten an die Vereinigten Staaten, dem im Falle einer Verurteilung die Todesstrafe gedroht hätte, unter Berufung auf Art 3 EMRK für konventionswidrig erklärt. Er sah es als eine unmenschliche Behandlung an, den Beschuldigten im Falle seiner Verurteilung dem sog Todeszellensyndrom (death row phenomenon) auszusetzen, einem psychischen Trauma, das mit dem mehrjährigen Warten auf die zwar gewisse, aber zeitlich noch unbestimmte Hinrichtung verbunden ist.80 Da die Mitgliedstaaten keine Person einer derartigen Belastung aussetzen dürfen, führt dies zu einem Auslieferungsverbot, wenn keine hinreichenden Sicherungen gegen eine Verhängung der Todesstrafe bestehen.81 Dabei kann grundsätzlich die bindende diplomatische Zusicherung des Verzicht des Drittstaats auf die Todesstrafe im konkreten Fall die Auslieferung möglich machen.82 Zuweilen wird wegen Zweifeln an der Belastbarkeit die Ansicht vertreten, dass eine Auslieferung immer dann schon unzulässig sein solle, wenn in dem betreffenden Staat die Todesstrafe nicht abgeschafft ist.83 In jüngerer Zeit stützt der Gerichtshof das Verbot der Auslieferung im Falle drohender
77 S etwa EGMR, Urt v 8.11.2005, 13284/04, §§ 42 ff – Bader und Kanbor/Schweden; Urt v 5.7.2005, 57/ 03 – Al-Shari ua/Italien; Urt v 2.3.2010, 61498/08, §§ 115 ff, 120 – Al-Saadoon u Mufdhi/Vereinigtes Königreich. Vgl auch EGMR, Urt v 24.7.2014, 28761/11, §§ 576 ff – Al Nashiri/Polen; Urt v 19.11.2009, 41015/04, §§ 99 ff – Kaboulov/Ukraine; ferner auch Sudre EMRK, Rn 308. 78 Vgl Art 6 6. ZP; Art 5 13. ZP. 79 EGMR (Pl), Urt v 7.7.1989, 14038/88, §§ 85 ff – Soering/Vereinigtes Königreich = EuGRZ 1989, 314 m. Anm. Blumenwitz. 80 EGMR (Pl), Urt v 7.7.1989, 14038/88, §§ 100 ff – Soering/Vereinigtes Königreich. 81 Dieses Auslieferungsverbot ist strukturell mit dem Non-Refoulement-Prinzip des Art 3 der UNAntifolterkonvention vergleichbar. 82 Vgl etwa EGMR, Urt v 2.3.2010, 61498/08, §§ 142 – Al-Saadoon u Mufdhi/Vereinigtes Königreich. Näher zu den Elementen der Gefahrenprognose EGMR (GK), Urt v 28.2.2008, 37201/06, §§ 128 ff – Saadi/Italien. Allg unter Berücksichtigung einer staatlichen Kontrollpflicht auch De Schutter International Human Rights Law, 3. Aufl 2019, S 325 ff; Dipla in: Mélanges en l’honneur de / Essays in Honour of Christos L. Rozakis, 2011, S 155 ff. 83 So Marguénaud, RSC 2010, 675 (678).
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Todesstrafe nicht mehr allein auf Art 3 EMRK, sondern auch auf Art 2 EMRK, in den ebenfalls eingegriffen würde.84 Die Entwicklung im Recht der Todesstrafe spiegelt sich in dem moderneren 21 Text der EU-Grundrechtecharta wider. In Art 2 II GRCh ist nicht nur ein absolutes Verbot der Todesstrafe enthalten. Hinzu kommt ergänzend vielmehr auch Art 19 II GRCh, der den Mitgliedstaaten auch die indirekte Mitwirkung an der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe in anderen Staaten durch ein entsprechendes ausdrückliches Auslieferungsverbot untersagt, welches in der Sache die EGMRRechtsprechung abbildet.85 Diese Grundsatzentscheidung ist im Sekundärrecht der Union86 und auch in den Auslieferungsabkommen der EU mit Drittstaaten verankert.87 Noch deutlicher als die EMRK stellt der Text der GRCh in Art 2 II GRCh und Art 4 II GRCh die Todesstrafe als gravierende Menschenrechtsverletzung auf dieselbe Stufe wie die völkergewohnheitsrechtlich als ius cogens geächtete88 Folter oder unmenschliche Behandlung.
84 EGMR (GK), Urt v 24.7.2014, 28761/11, §§ 576 ff – Al Nashiri/Polen; EGMR, Urt v 19.11.2009, 41015/04, §§ 99 ff – Kaboulov/Ukraine; Urt v 2.3.2010, 61498/08, § 120 – Al-Saadoon u Mufdhi/Vereinigtes Königreich. Zur Praxis einiger EMRK-Mitgliedstaaten vgl Germelmann in: BK GG, Art 102 GG Rn 59, 142 f mwN. 85 Vgl Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zur Grundrechtecharta, Erl zu Art 19; ferner Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 19 Rn 18; Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRC Rn 8. 86 S etwa zum Asylrecht Art 15 der Qualifikations-RL 2011/95/EU v 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl 2011 Nr L 337/9. Gewisse Schwierigkeiten bereitet hier der Ausschluss des Rechts nach Art 17 der RL, der nur das internationale Flüchtlingsrecht, nicht aber die weitergehenden Anforderungen des Art 19 Abs 2 GRCh aufnimmt. Ferner die Regelung in Art 4 der für das Flüchtlingsrecht bedeutsamen SeeaußengrenzenVO (EU) Nr 656/2014 v 15.5.2014 zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit, ABl 2014 Nr L 189/93. 87 Art 13 des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung, ABl 2003 Nr L 181/27 mit Beschluss 2009/820/GASP des Rates vom 23.10.2009 über den Abschluss im Namen der Europäischen Union des Abkommens über Auslieferung zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika und des Abkommens über Rechtshilfe zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika, ABl 2009 Nr L 291/40. 88 IGH, Urt v 20.7.2012, Rep 2012, 422, 457 Rn 99 – Questions Relating to the Obligation to Extradite or Prosecute (Belgium v Senegal); EGMR (GK), Urt v 28.7.1999, 25803/94, § 95 – Selmouni/Frankreich.
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g) Eingriffe in das Recht auf Leben durch kriegerische Handlungen 22 Der Lebensschutz der EMRK sieht im Text des Art 2 EMRK zwar keine Ausnahme im Falle kriegerischer Handlungen vor. Diese ergibt sich aber im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht aus der Notstandsklausel des Art 15 II EMRK.89 Diese gestattet eine Abweichung von Art 2 EMRK allerdings nicht in den übrigen Notstandssituationen des Art 15 I EMRK. Ersichtlich findet bei dem Ausnahmetatbestand der kriegerischen Handlung in materieller Hinsicht keine klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung nach allgemeinen friedensrechtlichen Maßstäben statt; vielmehr wird dieses Kriterium durch das Erfordernis der Rechtmäßigkeit der jeweiligen Kriegshandlung ersetzt, welches seinerseits einen kriegsrechtlich modifizierten Verhältnismäßigkeitsgedanken inkorporiert.90 Allerdings ist erforderlich, dass der Mitgliedstaat sich auch auf die Notstandsklausel beruft, da anderenfalls von der normalen (friedensrechtlichen) Anwendung des Art 2 EMRK nicht abgewichen werden kann.91 Eindeutig folgt aus Art 15 II EMRK auch, dass Abweichungen von dem Verbot unmenschlicher Behandlungen nach Art 3 EMRK auch in Kriegssituationen niemals zulässig sind. Die Staaten des Europarats werden auch im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen von ihrer Bindung an die EMRK samt der von ihnen ratifizierten Zusatzprotokolle nicht entlastet und können von ihnen nur nach Maßgabe des Art 15 EMRK abweichen. 23 Im Falle kriegerischer Handlungen stellt sich allerdings oftmals die Problematik der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EMRK nach Art 1 EMRK („allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen“ / „toute personne relevant de leur juridiction“ / „everyone within their jurisdiction“), so dass nicht jede Tötungshandlung eines Mitgliedstaates in einem Krieg der EMRK unterfällt, sondern nur solche, bei denen der Staat über die Betroffenen eine hinreichende Hoheitsgewalt ausübt.92 Art 2 EMRK ist also außer auf dem eigenen Staatsgebiet anwendbar, wenn eine tatsächliche und effektive Kontrolle des Mitgliedstaats über das betreffende fremde Gebiet gegeben ist, auf dem die Kampfhandlungen stattfinden, was nach jüngerer Rechtsprechung auch bei Tötungen in out of area-Einsätzen der Fall sein kann; im Gegenteil muss eine solche Kontrolle gerade bei punktuellen Einsätzen nicht stets vorliegen.93 Die Abweichung von Art 2 EMRK hat im Kriegsfall zudem nach allgemeinen Grundsätzen die Berichtspflicht gegenüber dem Generalsekretär nach
89 Dazu Ashauer, AVR 45 (2007), 400 (409 ff.). 90 S sogleich Rn 24. 91 Vgl Schabas EMRK, S 155 unter Verweis auf EGMR, Urt v 24.2.2005, 57950/00, § 191 – Isayeva/Russland. 92 Allgemein dazu oben → Germelmann, § 4.1.1 Rn 15. 93 S dazu einerseits EGMR (GK), Urt v 12.12.2001, 52207/99, §§ 54 ff – Banković ua/Belgien ua; andererseits EGMR (GK), Urt v 7.7.2011, 55721/07, §§ 131 ff – Al-Skeini ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt
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Art 15 III EMRK zur Folge, die eine eigenständige verfahrensrechtliche Pflicht darstellt,94 die die Reichweite der Ausnahme und damit letztlich die Rechtmäßigkeit der Maßnahme mitbestimmt.95 Materielle Voraussetzungen für die Ausnahme nach Art 15 II EMRK und folglich 24 für die Rechtmäßigkeit der Tötung ist damit zum einen das Vorliegen einer Kriegshandlung und zum anderen deren Vereinbarkeit mit dem allgemeinen humanitären Völkerrecht, insbesondere also den vier Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1949 sowie deren I. Zusatzprotokoll von 1977.96 Kriegshandlungen setzen einen bewaffneten Konflikt internationaler oder nicht internationaler Art voraus.97 Was die Rechtmäßigkeit der Kriegshandlung angeht, so ist zu beachten, dass entsprechend den Art 35 ff des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen auch im internationalen bewaffneten Konflikt kein unbegrenztes Schädigungsrecht gegeben ist. Vielmehr folgen aus den modernen kriegsvölkerrechtlichen Regelungen, wie sie insbesondere in den Genfer Abkommen und ihren Zusatzprotokollen kodifiziert sind, welche ihrerseits in Bezug auf wesentliche Regelungen Völkergewohnheitsrecht wiedergeben,98 eine Vielzahl an Restriktionen; in ihrer Gesamtheit sind sie Bestandteil der Rechtmäßigkeitsanforderung des Art 15 II EMRK. Hierzu gehören insbesondere die spezifischen Schutzvorschriften der Art 48 ff I. ZP GA zum Schutz der an den Kampfhandlungen unbeteiligten Zivilbevölkerung (Art 51 III I. ZP GA) sowie die allgemeinen Anforderungen des humanitären Völkerrechts zum Umgang mit Kombattanten nach Art 43 ff I. ZP GA.99 Gewaltanwendungen stehen insbesondere unter dem Verbot gezielter und unterschiedsloser Angriffe.100 Im Übrigen besteht bei legitimen militärischen Schädigungsmaßnahmen eine Abgrenzungslinie in
v 2.3.2010, 61498/08 – Al-Saadoon u Mufdhi/Vereinigtes Königreich. Aus jüngerer Zeit ausführl EGMR (GK), Urt v 21.1.2021, 38263/08 – Georgien/Russland (Nr 2). 94 Vgl Meyer-Ladewig/Schmaltz, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 15 Rn 11 f. 95 Vgl EGMR, Urt v 2.11.2004, 32446/96, § 69 – Abdülsamet Yaman/Türkei (Erklärung der Notstandsausnahme nur für einen Teil des staatlichen Territoriums). 96 Dazu beispielsweise Bothe in: Graf Vitzthum/Proelß, VR, VIII Rn 56 ff. 97 Vgl beispielsweise EGMR, Urt v 12.11.2013, 23502/06 – Benzer ua/Türkei. 98 Vgl im Detail Henckaerts/Doswald-Beck (Hrsg) Customary International Humanitarian Law, Bd I, 2009, Bd II, 2005. Zu den Problemen des Völkergewohnheitsrechts im bewaffneten Konflikt auch knapp Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 60 Rn 31 f. 99 S dazu insbesondere Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 63 Rn 1 ff. 100 Dezidiert IGH, GA v 8.7.1996, Rep 1996, 226, 257 Rn 78 – Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion: “The cardinal principles contained in the texts constituting the fabric of humanitarian law are the following. The first is aimed at the protection of the civilian population and civilian objects and establishes the distinction between combatants and non-combatants; States must never make civilians the object of attack and must consequently never use weapons that are incapable of distinguishing between civilian and military targets.” S auch EGMR, Urt v 24.2.2005, 57950/00, § 191 – Isayeva/Russland; Urt v 12.11.2013, 23502/06, § 184 – Benzer ua/Türkei.
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der Verhältnismäßigkeitsprüfung dahingehend, ob der Schaden außer Verhältnis zum militärischen Nutzen steht (Art 51 V lit b I. ZP GA).101 Gerade im asymmetrischen bewaffneten Konflikt102 besteht allerdings in der Praxis das Problem der Abgrenzung von Zivilbevölkerung und Kombattanten.103 Im nicht internationalen bewaffneten Konflikt sind zudem die kriegsrechtlichen Anforderungen auf den Minimalstandard der gemeinsamen Art 3 der Genfer Konventionen begrenzt.104 Die Grundwertung des Art 2 EMRK und seine Nähe zum Menschenwürdekern spricht jedenfalls auch in kriegerischen Auseinandersetzungen für eine größtmögliche Schonung des Lebens.105 Auch die prozeduralen Aufklärungspflichten des Staates werden im bewaffneten Konflikt nicht außer Kraft gesetzt.106
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Lösung Fall 1: Die Schüsse der Polizeibeamten auf den M könnten ihn in seinem Grundrecht auf Leben nach Art 2 I EMRK verletzt haben. Hinsichtlich des sachlichen Schutzbereiches ist fraglich, ob das Grundrecht überhaupt berührt ist, da M nicht getötet wurde, sondern durch die auf sein Fahrzeug abgegebenen Schüsse lediglich in Lebensgefahr gebracht wurde. Der Schutz des Art 2 I EMRK, der das menschliche Leben vom Beginn bis zum Ende erfasst, ist allerdings weit zu verstehen, um effektiv zu sein. Daher sind auch Lebensgefährdungen in den Schutzbereich des Grundrechts einzubeziehen, wenn der töd-
101 Henckaerts/Doswald-Beck (Hrsg) Customary International Humanitarian Law, Bd I, 2009, S 46; Melzer Targeted Killing in International Law, 2008, S 357 ff. S auch deutlich IGH, GA v 8.7.1996, Rep 1996, 226, 257 Rn 78 – Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion: “According to the second principle, it is prohibited to cause unnecessary suffering to combatants: it is accordingly prohibited to use weapons causing them such harm or uselessly aggravating their suffering. In application of that second principle, States do not have unlimited freedom of choice of means in the weapons they use.” Ferner Schmitz-Elvenich Targeted Killing. Die völkerrechtliche Zulässigkeit der gezielten Tötung von Terroristen im Ausland, 2008, S 225 ff.; Strüwer Zum Zusammenspiel von humanitärem Völkerrecht und den Menschenrechten am Beispiel des Targeted Killing, 2010, S 136 ff. 102 S zum Problem Melzer Targeted Killing in International Law, 2008, S 300 ff; Schmitz-Elvenich Targeted Killing. Die völkerrechtliche Zulässigkeit der gezielten Tötung von Terroristen im Ausland, 2008, S 208 ff; Strüwer Zum Zusammenspiel von humanitärem Völkerrecht und den Menschenrechten am Beispiel des Targeted Killing, 2010, S 94 ff; zum Problem des Missbrauchs der Zivilbevölkerung als menschlicher Schutzschild Schmitt, Col J Transnat L 47 (2008–2009), 292 ff. 103 Zur Problematik des targeted killing s monographisch Melzer Targeted Killing in International Law, 2008; Strüwer Zum Zusammenspiel von humanitärem Völkerrecht und den Menschenrechten am Beispiel des Targeted Killing, 2010; Schmitz-Elvenich Targeted Killing. Die völkerrechtliche Zulässigkeit der gezielten Tötung von Terroristen im Ausland, 2008. 104 Vgl Heintschel von Heinegg in: Ipsen, VR, § 61 Rn 29 ff; s etwa EGMR, Urt v 12.11.2013, 23502/06 – Benzer ua/Türkei. 105 So auch dezidiert Schabas EMRK, S 158. Zur Untersuchung von entsprechenden Verstößen und der Verarbeitung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vgl bspw EGMR (GK), Urt v 21.1.2021, 38263/08 – Georgien/Russland (Nr 2). 106 EGMR (GK), Urt v 7.7.2011, 55721/07, § 164 – Al-Skeini ua/Vereinigtes Königreich.
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liche Ausgang letztlich nur durch Zufall nicht eingetreten ist. Nur auf diese Weise kann der Zweck der Norm, Gefahren für das Leben durch staatliche Handlungen möglichst gering zu halten und den engen Voraussetzungen des Art 2 II EMRK zu unterwerfen, erreicht werden. Allerdings können hierunter nur solche Behandlungen gefasst werden, die eine signifikant erhöhte Lebensgefährdung mit sich bringen. In allen anderen Fällen bleibt nur ein Rückgriff auf Art 3 EMRK oder Art 8 EMRK. Hier lag durch die Abgabe von Schüssen auf ein fahrendes Auto im Straßenverkehr eine derart lebensgefährliche Behandlung vor, dass es nur vom Zufall abhing, dass der Tötungserfolg nicht eintrat. Der Schutzbereich des Art 2 I EMRK ist damit eröffnet. Die Maßnahmen der Polizei stellten auch einen Eingriff dar. Fraglich ist dessen Rechtfertigung nach Art 2 II EMRK. In Betracht kommen insbesondere die Rechtfertigungsgründe nach lit a, da M durch seine Fahrweise eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben der Polizeibeamten und anderer Verkehrsteilnehmer darstellte, und nach lit b (rechtmäßige Festnahme). Die Maßnahme müsste verhältnismäßig gewesen sein, wobei der Erforderlichkeitsmaßstab durch die Formulierung im Chapeau der Norm („unbedingt erforderlich“) verengt wird. Hier waren etliche mildere Mittel, den M zum Anhalten zu bringen wie polizeiliche Aufforderungen oder sogar Straßensperren gescheitert. Auch stand mit Blick auf die Nähe zur US-Botschaft die Möglichkeit eines terroristischen Hintergrundes im Raum. Dies rechtfertigt allerdings nicht die Art und Weise des Schusswaffengebrauchs, der eher den Charakter einer Schießerei als den eines geordneten und zentral gesteuerten polizeilichen Einsatzes mit Schusswaffengebrauch als ultima ratio aufwies. Ein Verstoß gegen Art 2 I EMRK liegt also vor. Eine Verletzung der ebenfalls aus Art 2 I EMRK folgenden positiven staatlichen Pflichten sind hier hingegen nicht anzunehmen. Zwar ist auch insofern der Schutzbereich eröffnet; denn der Schutz des Lebens verlangt von den Staaten in Bezug auf staatliche Gefahrenabwehrmaßnahmen, wie im Zusammenhang mit Schusswaffengebrauch, die Schaffung von effektiven und verhältnismäßigen Regelwerken, Organisationsvorgaben und der tatsächlichen Rahmenbedingungen der Polizeiarbeit, die lebensgefährliche Behandlungen soweit wie möglich minimieren. Insofern gibt der Sachverhalt indes keine näheren Angaben, so dass nicht von einem Verstoß gegen diese Pflicht auszugehen ist.107 Eine weitere positive Pflicht besteht im Nachgang zu Eingriffen in das Recht auf Leben durch eine verfahrensmäßige Absicherung der angemessenen Aufklärung und Aufarbeitung des Geschehens. Eine Verletzung des Grundrechts auf Leben in dieser positiven prozeduralen Pflichtendimension ist wegen der hier vorgenommenen nachträglichen gründlichen und objektiven Untersuchungen nicht gegeben, da die Behörde wie die Gerichte eine Kontrolle des Verhaltens der Beamten im Anschluss an den Einsatz durchführte.108
107 Die Vorlage des Falles in EGMR (GK), Urt v 20.12.2004, 50385/99, § 71 – Makaratzis/Griechenland, löst die Frage der Grundrechtsverletzung über die Verletzung der positiven Pflicht des Staates zur Schaffung angemessener Organisationsstrukturen. Hier wurde der Sachverhalt in dieser Hinsicht vereinfacht und abgewandelt, um auf eine Darstellung des nationalen Rechts verzichten zu können. Vgl in diesem Zusammenhang auch das Sondervotum (concurring opinion) der Richter Costa, Bratza, Lorenzen und Vajić. 108 Auch hier weicht der Ausgangsfall EGMR (GK), Urt v 20.12.2004, 50385/99, §§ 76 ff – Makaratzis/ Griechenland in tatsächlicher Hinsicht von dem Übungsfall ab.
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2. Das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art 3 EMRK) Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 18.1.1978, 5310/71 – Irland/Vereinigtes Königreich; EGMR (Pl), Urt v 7.7.1989, 14038/88 – Soering/Vereinigtes Königreich = JK 90, EMRK Art 3/1; EGMR (GK), Urt v 1.6.2010, 22978/05 – Gäfgen/Deutschland; Urt v 28.7.1999, 25803/94 – Selmouni/Frankreich; Urt v 26.10.2000, 30210/96 – Kudła/Polen; Urt v 9.7.2013, 66069/09, 130/10 u 3896/10 – Vinter ua/Vereinigtes Königreich Schrifttum: Higgins Extradition, the right to life, and the prohibition against cruel and inhuman punishment and treatment: Similarities and differences under the ECHR and the ICCPR, in: Protection des droits de l’homme: La perspective européenne / Protecting human rights: the European perspective – Mélanges à la mémoire de Rolv Ryssdal / Studies in memory of Rolv Ryssdal, 2000, 605 ff; Lehnert Menschenrechtliche Vorgaben an das Migrationsrecht in der jüngeren Rechtsprechung des EGMR, NVwZ 2020, 766 ff; Lorz/Sauer Wann genau steht Art 3 EMRK einer Auslieferung oder Ausweisung entgegen?, EuGRZ 2010, 389 ff.
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Fall 2: (vereinfacht nach EGMR (GK), Urt v 6.4.2000, 26772/95 – Labita/Italien) L wird im Zusammenhang mit einer polizeilichen Ermittlungsaktion gegen Angehörige der Mafia verhaftet. Wegen Verdunkelungsgefahr wird er über einen mehrmonatigen Zeitraum in Untersuchungshaft gehalten. Nach seiner Entlassung rügt er, während der Haft von den Gefängnisaufsehern misshandelt worden zu sein. Er sei regelmäßig auch für kleinere Ordnungsverstöße geschlagen worden; hierbei sei eine seine Zahnkronen beschädigt worden. Außerdem hätten die Aufseher regelmäßig die Gänge mit Seifenwasser rutschig gemacht und die Gefangenen sodann gezwungen, sie entlang zu rennen; wer gestürzt sei, sei auf die Beine geschlagen worden. Die medizinische Eingangsuntersuchung des L weist keine Auffälligkeiten auf; die Krankenakte des L aus dem Gefängnis enthält in der Folge einen Bericht über Probleme mit einer Zahnkrone sowie eine Knieverletzung. Die Vorwürfe des L werden einer staatsanwaltschaftlichen Untersuchung unterzogen. Dabei leugnen alle Gefängniswärter einhellig die geschilderten Ereignisse und äußern die Vermutung, dass L die Verletzungen ohne fremde Einwirkungen erlitten habe. Die Untersuchung erfolgt sehr zögerlich und kann daher nicht alle Beweise angemessen sichern. Ein Regierungsbericht hatte kurz vor der Untersuchungshaft des L die Zustände des Gefängnisses in unterschiedlicher Hinsicht, ua auch bezüglich des Verhaltens des Gefängnispersonals, als mit erheblichen Mängeln belastet eingestuft.
a) Schutzbereich 27 Das Folterverbot nach Art 3 EMRK ist mehr noch als das Recht auf Leben als Kern
der persönlichen Unversehrtheit zu bezeichnen. Dies folgt aus seiner Bedeutung im allgemeinen Völkerrecht, welches anerkennt, dass es sich bei dem Folterverbot um einen grundlegenden zivilisatorischen Fortschritt handelt, der als ius cogens abgesichert ist. In systematischer Hinsicht ist das Folterverbot im Text der EMRK zwar hinter das Recht auf Leben gereiht; anders als dieses ist es aber notstandsfest iSd Claas Friedrich Germelmann
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Art 15 II EMRK. Dies beruht auf seiner unmittelbaren Verbindung zum Schutz der Menschenwürde.109 Seine Verletzung ist zudem keiner Rechtfertigung zugänglich. Die ausdrückliche Nennung des Folterverbots in Art 3 EMRK findet ihre Entsprechung im Unionsrecht in Art 4 GRCh.110 Im deutschen Grundgesetz findet sich hingegen keine ausdrückliche textliche Entsprechung, obgleich hier der Schutz über Art 2 II 1 GG sowie die Menschenwürdegarantie des Art 1 I 1 GG ebenso gewährleistet ist. Das Folterverbot deckt den Schutz der körperlichen Unversehrtheit allerdings 28 nicht vollständig ab. Es ist daher enger als die Garantie der körperlichen Unversehrtheit etwa in Art 2 II 1 GG.111 Als Folter werden gemeinhin in Anschluss an die Definition in Art 1112 der UN-Antifolterkonvention113 nur bestimmte erhebliche Einwirkungen auf die körperliche und seelische Unversehrtheit durch staatliche Organe oder auf deren Veranlassung begriffen, die zudem bestimmte Ziele verfolgen, welche zB entweder bestimmte Verhaltensweisen erreichen wollen oder auf Bestrafung oder Einschüchterung abzielen.114 Körperverletzungen, die gleichwohl nach deutschem Verfassungsrecht als Beeinträchtigungen des Art 2 II 1 GG zu werten wären, aber nicht die entsprechende Qualifikation aufweisen, sind damit vom Folterbegriff nicht erfasst. Abstrakt lassen sich die Schwellen, ab deren Erreichen eine Folter eher als eine sonstige unmenschliche Behandlung anzunehmen ist, nur schwer bestimmen. Die die Handlung muss sich als besonders grausam darstellen, die Verletzung muss besonders gravierend sein, und das daraus folgende Leiden muss besonders schwerwiegend und vorsätzlich mit der besonderen mentalen Zielrichtung verursacht sein, wobei es dann aber wiederum auf die Umstände des
109 Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (982). Für Art 4 GRCh ebenso Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 4 GRC Rn 6. 110 Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 4 GRC Rn 3: „inhaltlich identisch“. 111 Zu deren Reichweite Lorenz in: BK GG, Art 2 Abs 2 Satz 1 Rn 449 ff. 112 Art 1 I UN-Antifolterkonvention: „[…] jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmasslich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden.“ 113 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984, BGBl 1990 II 246. 114 EGMR (GK), Urt v 28.7.1999, 25803/94, §§ 91 ff – Selmouni/Frankreich; EGMR, Urt v 27.6.2000, 21986/93, § 114 – Salman/Türkei; EGMR (GK), Urt v 1.6.2010, 22978/05, § 90 – Gäfgen/Deutschland.
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Einzelfalles und auch auf die subjektiven Wirkungen auf den Betroffenen ankommt.115 29 Diese enge Begrifflichkeit, die nur die schwerwiegendsten Verletzungen körperlicher und seelischer Integrität erfassen möchte, wird im Konventionstext ergänzt und erweitert durch das tatbestandlich gleichgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Strafe. Dieses Verbot erfasst Verletzungen der persönlichen Integrität physischer oder psychischer Art, die anders als die Folter nicht notwendigerweise einen über die Verletzungshandlung hinausgehenden Zweck verfolgen, der eine Wirkung auf den Gefolterten oder Dritte entfalten soll. Die Verbreitung von Angst oder Einschüchterung kann, je nachdem, ob sie direktes Ziel der Verletzungshandlung ist oder im Gegenteil eher allgemein als deren Folge eintritt, sowohl Folter als auch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sein.116 Ebenso sind bewusst auch rein psychisch wirkende Erniedrigungen etwa in Form schwerer Diskriminierungen von Art 3 EMRK erfasst.117 Der Unterschied zwischen den einzelnen Alternativen „Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ wird dabei überwiegend als graduell eingeordnet,118 wobei eine „unmenschliche“ Behandlung die menschliche Subjektsqualität und Persönlichkeit eher durch die Verursachung von gravierenden physischen oder psychischen Leiden verletzt als die „erniedrigende“ Behandlung, die stärker das abwertende oder als abwertend wahrgenommene Moment in den Mittelpunkt rückt.119 Als unmenschlich werden daher langandauernde und intensive Leiden begriffen.120 Das Kriterium der Erniedrigung nimmt besonders deutlich auf die Menschenwürde Bezug121 und erfasst etwa Gefühle
115 Vgl beispielhaft EGMR, Urt v 18.1.1978, 5310/71 – Irland/Vereinigtes Königreich; Urt v 25.9.1997, 23178/94, §§ 83 ff – Aydin/Türkei; EGMR (GK), Urt v 28.7.1999, 25803/94, §§ 91 ff – Selmouni/Frankreich; EGMR, Urt v 7.7.2011, 18280/04, §§ 86 ff – Shishkin/Russland; Urt v 26.10.2017, 28923/09, 67599/10, §§ 126 ff – Azzolina ua/Italien; Urt v 17.7.2018, 38004/12, § 141 – Mariya Alekhina ua/Russland. 116 Überblick über die Kasuistik bei v Arnauld VR, Rn 676 ff. 117 EGMR, Urt v 7.10.2014, 28490/02, §§ 100 f – Begheluri ua/Georgien; s auch bereits EGMR, Urt v 27.9.1999, 33985/96, 33986/96, § 121 – Smith u Grady/Vereinigtes Königreich. 118 Vgl EGMR, Urt v 18.1.1978, 5310/71, § 167 – Irland/Vereinigtes Königreich. Näher zur Rspr Sudre EMRK, Rn 317 ff. 119 Vgl EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, § 33 – Tyrer/Vereinigtes Königreich (erniedrigende körperliche Bestrafung durch Schläge mit der Rute); EGMR (GK), Urt v 6.4.2000, 26772/95, § 120 – Labita/Italien; EGMR (GK), Urt v 26.10.2000, 30210/96, § 92 – Kudła/Polen; EGMR, Urt v 21.1.2011, 20696/09, § 220 – M.S.S./Belgien und Griechenland; Urt v 2.6.2022, 38967/17 – H.M. ua/Ungarn. Aus der Lit Grabenwarter/Pabel EMRK § 20 Rn 44, 49; Sinner in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 3 Rn 5. 120 Vgl EGMR, Urt v 7.7.2011, 20999/05, §§ 51 ff – Hellig/Deutschland; EGMR (GK), Urt v 25.6.2019, 41720/13, §§ 116 ff – Tănase/Rumänien. 121 Besonders deutlich EGMR (GK), Urt v 28.9.2015, 23380/09, §§ 87 ff, 100 ff – Bouyid/Belgien.
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des Unterworfen- und des Ausgeliefertseins;122 für sie kann auch eine reine Einschüchterung genügen, sofern zugleich körperliches oder seelisches Leid verursacht wird.123 In der Sache ist die Unterscheidung aber unwesentlich, weil die Rechtsfolgen für alle Handlungsformen dieselben sind. Die Auslegung der Begrifflichkeiten ist dynamisch und orientiert sich an den sich fortentwickelnden gemeineuropäischen Werten.124 Dies bedeutet im Ergebnis zu Recht heute eine wohl immer weitergehende Erstreckung des Tatbestandes auf staatliche Verletzungshandlungen. Dennoch ergibt sich als Folge des weiterhin qualifiziert beschriebenen Tat- 30 bestandes, dass körperliche und seelische Verletzungen, die unterhalb der genannten Schwelle liegen, von Art 3 EMRK nicht erfasst werden. Erheblich sind hierbei die Umstände des Einzelfalls.125 Dem Staat obliegt es nachzuweisen, dass die in Rede stehende Gewaltanwendung erforderlich und nicht exzessiv war.126 In der Haft führt die Situation der Wehrlosigkeit des Gefangenen dazu, dass Misshandlungen, unverhältnismäßige Gewaltanwendungen wie auch demütigende oder unangemessene Haftbedingungen in aller Regel Art 3 EMRK verletzen;127 das Schutzziel und Schutzniveau des Konventionsrechts insgesamt führt hier zu einem besonders strengen Maßstab, was Gewaltanwendungen angeht. Entsprechendes gilt für die Behandlung von Asylsuchenden und die Situationen der Auslieferungshaft.128 Bei der 122 Vgl EGMR, Urt v 15.7.2002, 47095/99, § 95 – Kalashnikov/Russland (Zustände in der Haftanstalt); Urt v 29.4.2002, 2346/02, § 52 – Pretty/Vereinigtes Königreich (unheilbare Krankheit); Urt v 12.5.2005, 46221/99, § 181 – Öcalan/Türkei (Haftbedingungen); Urt v 30.4.2020, 43270/16, §§ 52 ff – Castellani/ Frankreich (übermäßige Polizeigewalt bei der Verhaftung); Urt v 17.7.2018, 38004/12, §§ 145 ff – Mariya Alekhina ua/Russland (übermäßige Bewachung im Gerichtssaal unter Verwendung von Hunden, deren Einsatz im Gerichtssaal sich aus objektiven Sicherungsgründen nicht erschloss); dazu auch Burgorgue-Larsen, AJDA 2018, 1770 (1778 ff). 123 EGMR (GK), Urt v 1.6.2010, 22978/05, §§ 87 ff – Gäfgen/Deutschland; Urt v 21.1.2011, 20696/09, § 220 – M.S.S./Belgien und Griechenland. 124 Vgl EGMR (GK), Urt v 28.7.1999, 25803/94, § 101 – Selmouni/Frankreich. 125 S beispielhaft EGMR, Urt v 13.5.2008, 52515/99, §§ 69 ff – Juhnke/Türkei (gynäkologische Untersuchung einer Festgenommenen); Urt v 16.12.2010, 25579/05, § 164 – A., B. und C./Irland (restriktive Abtreibungsgesetzgebung); Urt v 10.4.2012, 9829/07 – Ali Güneş/Türkei, § 43 (Verletzung des Art 3 EMRK durch Tränengaseinsatz gegenüber dem Beschwerdeführer); EGMR (GK), Urt v 25.6.2019, 41720/13, §§ 116 ff – Tănase/Rumänien (fahrlässiges Verhalten ist nicht ausreichend). 126 Sudre EMRK, Rn 310 aE. 127 Vgl EGMR, Urt v 25.9.1997, 23178/94, §§ 83 ff – Aydin/Türkei; EGMR (GK), Urt v 26.10.2000, 30210/ 96, § 92 – Kudła/Polen; EGMR, Urt v 15.7.2002, 47095/99, §§ 95 ff – Kalashnikov/Russland; Urt v 7.7.2011, 20999/05, §§ 51 ff – Hellig/Deutschland; ausführlich zur Kasuistik Sinner in: Karpenstein/ Mayer, EMRK, Art 3 Rn 11 ff. 128 EGMR, Urt v 21.1.2011, 20696/09, §§ 216 ff – M.S.S./Belgien und Griechenland; EGMR (GK), Urt v 21.11.2019, 61411/15 ua , §§ 181 ff – Z.A. ua/Russland; Urt v 21.11.2019, 47287/15 – Ilias u Ahmed/Ungarn; dazu Burgorgue-Larsen, AJDA 2020, 160 (163 ff); EGMR, Urt v 28.2.2019, 19951/16, §§ 166 ff – H.A. ua/ Griechenland.
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Frage der Konventionswidrigkeit von Freiheitsstrafen kommt es etwa auf deren Dauer und die Überprüfungsmöglichkeiten an.129 Auch nahe Angehörige können durch eigenes Leid, das ihnen im Einzelfall durch die Behandlung des Opfers der Folter oder unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung verursacht wird, ihrerseits in ihrem Grundrecht nach Art 3 EMRK verletzt sein; dies ist freilich eine Frage des Einzelfalls.130 31 Als Regel kann festgehalten werden, dass Eingriffe in der körperliche und seelische Unversehrtheit unterhalb der Intensitätsschwelle das Verbot des Art 3 EMRK nur dann verletzen, wenn sie in erniedrigender Absicht durchgeführt werden.131 Solche Eingriffe hingegen, die die Intensitätsschwelle erreichen, können nur dann aus dem Tatbestand des Art 3 EMRK herausfallen, wenn ihnen eine objektiv erniedrigende Wirkung fehlt und sie zur Erreichung eines legitimen Ziels erforderlich und angemessen sind.132 Beispielsweise ist es als unverhältnismäßig einzustufen, präsumtiven Drogenkurieren zu Beweiszwecken Brechmittel zu verabreichen, um verschluckte Drogenpäckchen zu Tage zu fördern.133 Insgesamt bleibt die Vorschrift des Art 3 EMRK trotz der Erweiterung des reinen Folterverbots und des Fortschritts in den gemeineuropäischen Wertvorstellungen damit deutlich enger gefasst als Art 2 II 1 GG. Eine erweiternde Auslegung ist wegen des von den Vertragsparteien eng gefassten Wortlauts des Art 3 EMRK und seiner absoluten Geltung nicht möglich; sie ist aber zur Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes auch nicht erforderlich, weil als Auffangnorm hier der Schutz des Privatlebens nach Art 8 I EMRK in Betracht kommen kann.134 Dieser setzt allerdings auch nicht einmal zwingend eine Gesundheitsgefährdung voraus,135 spannt also den Grundrechtsschutz noch weiter als Art 2 II 1 GG.
129 Für die lebenslange Freiheitsstrafe s EGMR, Urt v 12.2.2008, 21906/04, § 98 – Kafkaris/Zypern; EGMR (GK), Urt v 9.7.2013, 66069/09, 130/10 u 3896/10, §§ 102 ff; 119 ff – Vinter ua/Vereinigtes Königreich; ferner für Freiheitsstrafen allg EGMR, Urt v 16.12.1999, 24724/97, § 99 – T./Vereinigtes Königreich; Urt v 27.7.2010, 28221/08, § 29 – Gatt/Malta. 130 Näher Schabas EMRK, S 170. 131 Vgl EGMR (GK), Urt v 28.9.2015, 23380/09, §§ 100 ff – Bouyid/Belgien (Ohrfeigen durch Polizeibeamte im Gewahrsam). 132 Vgl für erforderlich medizinische Eingriffshandlungen EGMR, Urt v 7.10.2008, 35228/03, §§ 77 ff – Bogumil/Portugal. (Operation zur Entfernung von Rauschgiftbeuteln, um eine Vergiftung zu verhindern); dagegen die Konstellation EGMR (GK), Urt v 11.7.2006, 54810/00, §§ 67 ff – Jalloh/Deutschland. 133 EGMR (GK), Urt v 11.7.2006, 54810/00, §§ 67 ff – Jalloh/Deutschland; dazu Safferling, JURA 2008, 100 ff.; Schuhr, NJW 2006, 3538 ff. 134 Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 8 Rn 8. S dazu näher noch unten Rn 49 sowie → Marsch, § 4.2.1 Rn 3. 135 Vgl EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90 – López Ostra/Spanien.
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b) Grundrechtsfunktionen Art 3 EMRK ist in erster Linie ein Abwehrrecht.136 Es richtet sich ausschließlich ge- 32 gen den Staat einschließlich aller Einrichtungen und Personen, deren Handeln dem Staat zurechenbar sind. Wichtig ist zudem, um einen effektiven Schutz vor derart gravierenden Eingriffen in die persönliche Unversehrtheit sicherzustellen, dass dem Staat positive Pflichten auferlegt sind, auch entsprechende Handlungen Privater zu unterbinden.137 Hierbei kann der Staat freilich nicht verpflichtet sein, jeden Härtefall durch seine Intervention zu lösen.138 Allerdings ist die Verpflichtung zu Schutzmaßnahmen etwa im Bereich der häuslichen Gewalt anerkannt.139 In besonderem Maße wichtig sind die Schutzpflichten in Konstellationen, in denen sich die Betroffenen in schutzbedürftigen Situationen befinden. Dies gilt etwa für den Schutz von Kindern vor Misshandlungen.140 Hierher gehören ferner Situationen, in denen die Betroffenen staatlicher Gewalt unterworfen sind oder sich in staatlicher Obhut befinden, weshalb eine umfangreiche Kasuistik etwa im Bereich der Haft existiert. Sie hat sich hier insbesondere zu vulnerablen wie kranken Häftlingen,141 aber auch im Zusammenhang mit Asyl sowie aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entwickelt.142 Auch wenn die Ergebnisse ähnlich sein mögen, sind in diesen Fällen in dogmatischer Hinsicht stets Eingriffe durch staatliches Handeln von solchen zu unterscheiden, in denen Private handeln und dem Staat Schutzpflichten obliegen. In jedem Falle treffen die Mitgliedstaaten auch im Bereich des Art 3 EMRK 33 überdies positive verfahrensrechtliche Pflichten zur Ermittlung von Verstößen und zur Dokumentation und Beweissicherung.143 Hier gelten dieselben Maßstäbe wie bei Art 2 EMRK.144 Kommt der Staat dieser Pflicht nicht nach, kann dies zwei Folgen haben: Zum einen liegt in dem Verstoß gegen die prozedurale Pflicht ein ei-
136 Sinner in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 3 Rn 9. 137 Vgl etwa EGMR (GK), Urt v 28.10.1998, 23452/94, § 115 f – Osman/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 10.5.2001, 29392/95, §§ 72 ff – Z ua/Vereinigtes Königreich; Urt v 29.4.2002, 2346/02, § 51 – Pretty/Vereinigtes Königreich; Urt v 28.10.2014, 25018/10, § 25 – Demirtaş/Türkei. 138 Vgl EGMR, Urt v 13.11.2012, 47039/11 u 358/12, §§ 110 ff – Hristozov ua/Bulgarien (kein Zugang zu experimenteller medizinischer Behandlung). 139 Vgl EGMR, Urt v 7.4.2022, 10929/19, §§ 78 ff – Landi/Italien; Sudre EMRK, Rn 314 mwN. 140 S insb EGMR, Urt v 10.5.2001, 29392/95, §§ 72 ff – Z ua/Vereinigtes Königreich; dazu Schmahl/ Winkler, AVR 48 (2010), 405 (422 f.). S für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge EGMR, Urt v 10.10.2019, 50376/13, §§ 94 ff – M.D./Frankreich. 141 Vgl etwa Pohlreich, NStZ 2011, 560. 142 S etwa Sinner in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 3 Rn 22, 24 ff mwN. 143 Vgl etwa EGMR (GK), Urt v 6.4.2000, 26772/95, § 131 – Labita/Italien; EGMR, Urt v 4.3.2008, 42722/ 02, § 67 – Stoica/Rumänien; EGMR (GK), Urt v 13.12.2012, 39630/09, §§ 182 ff – El-Masri/EJR Mazedonien; Urt v 2.2.2021, 22457/16, §§ 184 ff – X ua/Bulgarien; Urt v 24.1.2023, 17912/15 – Kutayev/Russland. 144 Sudre EMRK, Rn 315. Zu Art 2 EMRK oben Rn 14.
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genständiger Verstoß gegen Art 3 EMRK.145 Zum anderen kann die Verletzung zusätzlich Auswirkungen auf die Beweislastverteilung im Falle behaupteter materieller Verstöße zur Folge haben. So findet etwa bei Misshandlungen im Gewahrsam eine Beweislastumkehr statt, so dass der Staat gesundheitliche Schäden des Betroffenen objektiv überzeugend zu erklären hat und ihm diese widrigenfalls als Eingriff zugerechnet werden, sofern der Eingriff und die Kausalität plausibel gemacht werden.146 Kann nach dem Vortrag des Beschwerdeführers eine solche Plausibilität nicht angenommen werden, weil etwa alternative Erklärungsansätze für die festgestellten Verletzungen objektiv möglich und ebenso plausibel erscheinen, bleibt es allein bei der Verletzung der verfahrensrechtlichen Dimension.147 Gleichzeitig kommt auch ein Verstoß gegen die besondere verfahrensrechtliche Dimension des Art 13 EMRK in Betracht, wobei das Verhältnis der beiden Gewährleistungen in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt ist.148 Richtigerweise sollte wegen der Bedeutung des Verbots in Art 3 EMRK eine Idealkonkurrenz der beiden Gewährleistungen angenommen werden. Ein ergänzender Schutz der Rechte des Einzelnen soll durch das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 erreicht werden.149 Es sieht in institutioneller Hinsicht einen unabhängigen Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vor, der Untersuchungen über Gefängnisse und andere Haftorte in den Mitgliedstaaten durchführt und Berichte anfertigt.150 Insofern findet sich hier eine spezialvertragliche Komplementärregelung zu den prozeduralen Pflichten aus Art 3 EMRK.
c) Eingriffe 34 Eine Beeinträchtigung des Folterverbots bzw. des Verbots der unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung liegt vor, wenn die inkriminierte Handlung durch den Staat oder ihm zurechenbare Personen vorgenommen wird und hierdurch die entsprechenden Leiden verursacht werden. Auch Haftumstände, die mit der Men-
145 Vgl EGMR (GK), Urt v 6.4.2000, 26772/95, §§ 130 ff – Labita/Italien. 146 EGMR, Urt v 4.12.1995, 18896/91, §§ 34 ff – Ribitsch/Österreich; EGMR (GK), Urt v 28.7.1999, 25803/ 94, §§ 87 ff – Selmouni/Frankreich; dazu Rudolf, EuGRZ 1996, 497 (499 ff); EGMR (GK), Urt v 28.9.2015, 23380/09, §§ 91 ff – Bouyid/Belgien; Sudre EMRK, Rn 311. 147 Vgl EGMR (GK), Urt v 6.4.2000, 26772/95, §§ 120 ff, 130 ff – Labita/Italien. 148 Vgl näher Sudre EMRK, Rn 316 mwN. 149 BGBl 1989 II 946; geänd durch zwei Zusatzprotokolle v 4.11.1993, BGBl 1996 II 1114. 150 S die Würdigung von Alleweldt, EuGRZ 1998, 245 (249 ff); speziell zur Türkei ders, EuGRZ 2000, 193 f.
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schenwürde nicht vereinbar sind, stellen Eingriffe in Art 3 EMRK dar;151 hierzu gehören sowohl Eingriffe in das Abwehrrecht als auch Verletzungen positiver Schutzpflichten etwa in Bezug auf die Gesundheitsfürsorge der der staatlichen Gewalt unterstehenden Gefangenen.152 Ein reines Handeln Privater ohne staatliche Zurechnung ist nicht ausreichend und kann allenfalls über eine positive Schutzpflicht des Staates erfasst werden. Das Eingriffsmittel ist unerheblich; denn jede staatliche Maßnahme kommt in 35 Betracht, auch wenn sie nicht rechtsförmig ist.153 Auch in einem staatlichen Unterlassen kann wegen der Konstruktion der positiven staatlichen Pflichten ein Eingriff liegen.154 Auch ist es nicht nötig, dass eine körperliche Verletzung bereits eingetreten ist; vielmehr kann die Drohung mit einer Handlung, die tatbestandlich iSd Art 3 EMRK ist, im Falle hinreichender Intensität einen Eingriff darstellen; sie ist dann aber regelmäßig eher als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung denn als Folter zu verstehen.155 Auch Gesetze können direkte Eingriffe darstellen.156 Der Gerichtshof ist indes der Einschätzung entgegengetreten, dass die Strafbarkeit der Sterbehilfe ein Eingriff in Art 3 EMRK sei; auch wenn ein entwürdigender Krankheitsverlauf zu erwarten sei, könne eine Verpflichtung des Staates zwar darin liegen, Leiden im Rahmen der Gesundheitsfürsorge weitgehend zu mildern, nicht aber entgegen Art 2 EMRK Maßnahmen zur aktiven Lebensbeendigung zu gestatten.157 Eine Grundsatzentscheidung für eine generelle Straflosigkeit der Sterbehilfe liegt in Art 3 EMRK also nicht. Eine besondere Form des Eingriffs stellt die Mitwirkung eines Mitgliedstaates 36 an einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Folter durch einen Drittstaat dar. Es handelt sich hier nicht im eigentlichen Sinne um eine positive (Schutz-)Pflicht des Mitgliedstaates, sondern im abwehrrechtlichen Sinne um eine Pflicht zur Unterlassung einer bestimmten Handlung. In seiner berühmt gewordenen Soering-Entscheidung hat der Gerichtshof das Todeszellensyndrom im Falle
151 EGMR (GK), Urt v 26.10.2000, 30210/96, § 94 – Kudła/Polen; EGMR, Urt v 6.3.2001, 40907/98, §§ 44 ff – Dougoz/Griechenland. S entsprechend für die EU-GRCh EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU – Aranyosi und Căldăraru. 152 Ausführlicher Sudre EMRK, Rn 322 ff, insb 326. 153 Vgl für Haftbedingungen beispielhaft EGMR, Urt v 15.7.2002, 47095/99, § 95 – Kalashnikov/Russland; EGMR (GK), Urt v 12.5.2005, 46221/99, § 181 – Öcalan/Türkei; näher zur Kasuistik Sinner in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 3 Rn 12. 154 EGMR (GK), Urt v 10.5.2001, 25781/94, § 81 – Zypern/Türkei; EGMR, Urt v 6.11.2018, 3289/10, §§ 119 ff – Burlya ua/Ukraine. 155 EGMR (GK), Urt v 1.6.2010, 22978/05, § 108 – Gäfgen/Deutschland; dazu Grabenwarter, NJW 2010, 3128 ff. 156 Vgl EGMR (Pl), Urt v 13.6.1979, § 66, 6833/74 – Marckx/Belgien. 157 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, §§ 52 ff – Pretty/Vereinigtes Königreich.
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der Verhängung der Todesstrafe für einen Verstoß gegen Art 3 EMRK gehalten und hieraus ein die Mitgliedstaaten treffendes Auslieferungsverbot für den Fall angenommen, dass in dem die Auslieferung begehrenden Drittstaat eine Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe drohe.158 Diese Rechtsprechung zum Verbot der Mitwirkung an auch im Übrigen unmenschlichen Behandlungen iSd Art 3 EMRK und damit der Auslieferung durch die Vertragsstaaten in Drittstaaten bei Vorliegen entsprechender Gefahren ist mittlerweile verfestigt und ausgeweitet worden.159 Sie gilt heute auch in anderen Bereichen des Strafvollzugs wie bei Misshandlungen in der Haft oder bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer Überprüfung.160 Der EGMR verlangt hier neben dem Nachweis, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe wirklich droht auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob im Zielstaat hinreichende Rechtsbehelfe für eine Überprüfung einer möglichen Rehabilitationsfähigkeit des Strafgefangenen während seiner Strafhaft zur Verfügung stehen.161 Auch im Asyl- und Ausländerrecht spielt Art 3 EMRK eine bedeutende Rolle. Ausweisungen und Abschiebungen sind im Falle von erwartbaren Beeinträchtigungen im Zielstaat, die in ihrer Qualität Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung iSd Art 3 EMRK entsprechen würden, unzulässig.162 Dabei kann die Gefahr sowohl vom Zielstaat selbst als auch von dortigen nichtstaatlichen Akteuren ausgehen.163 Auch unzumutbare Bedingungen für Asylbewerber im Ziel-
158 EGMR (Pl), Urt v 7.7.1989, 14038/88, §§ 87 f – Soering/Vereinigtes Königreich. S näher dazu Rn 20. 159 S dazu entsprechend in der Folge beispielhaft auch EGMR (GK), Urt v 29.4.1997, § 34, 24573/94 – H. L. R./Frankreich; Urt v 8.7.2004, 48787/99, §§ 434 ff – Ilaşcu ua/Moldau u Russland; EGMR, Urt v 29.4.2003, 41220/98, §§ 132 ff – Aliev/Ukraine; Urt v 2.3.2010, 61498/08, §§ 115 ff – Al-Saadoon u Mufdhi/Vereinigtes Königreich; Urt v 29.4.2019, 12148/18 – A.M./Frankreich; Burgorgue-Larsen, AJDA 2019, 1803 (1809 f). In jüngerer Zeit entsprechend für den Bereich des europäischen Haftbefehls EGMR, Urt v 9.7.2019, 8351/17, §§ 82 ff – Romeo Castaño/Belgien; Urt v 25.3.2021, 40324/16 u 12623/17, §§ 104 ff – Bivolaru u Moldovan/Frankreich. 160 Zur staatlichen Schutzpflicht gegen Misshandlungen s etwa EGMR, Urt v 29.10.2013, 11160/07, §§ 83 ff – D.F./Lettland; zum Verbot der Auslieferung bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung EGMR (GK), Urt v 25.11.1996, 22414/93, § 73 – Chahal/Vereinigtes Königreich; Urt v 28.2.2008, 37201/06, §§ 125 ff – Saadi/Italien; EGMR, Urt v 17.1.2012, 8139/09 – Othman (Abu Qatada)/Vereinigtes Königreich. Für die lebenslange Freiheitsstrafe etwa EGMR (GK), Urt v 9.7.2013, 66069/09, 130/10 u 3896/10 – Vinter ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 4.9.2014, 140/10, §§ 137 ff – Trabelsi/Belgien; jüngst EGMR (GK), Urt v 3.11.2022, 22854/20 – Sanchez-Sanchez/Vereinigtes Königreich (unter teilweiser Abkehr von der Trabelsi-Entscheidung). 161 EGMR (GK), Urt v 3.11.2022, 22854/20, § 97 – Sanchez-Sanchez/Vereinigtes Königreich. 162 Vgl für Fälle, die freilich nicht die Todesstrafe betrafen, EGMR (GK), Urt v 23.2.2012, 27765/09, §§ 146 ff – Hirsi Jamaa ua/Italien; Urt v 28.6.2011, 8319/07, §§ 212 ff – Sufi u Elmi/Vereinigtes Königreich. 163 Gusy, ZAR 1993, 63 (66); s a Alleweldt Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, 1996, S 26. Zu den Anforderungen an die
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staat164 oder die mangelnde gesundheitliche Versorgung165 können in Extremfällen zu einem Abschiebungsverbot nach Art 3 EMRK führen. Dabei genügen bessere Behandlungsbedingungen im Inland allein nicht;166 wohl aber kann bei einer lebensnotwendigen medizinischen Behandlung, die im Heimatstaat nicht gewährleistet ist, eine Abschiebung gegen das Verbot der unmenschlichen Behandlung nach Art 3 EMRK verstoßen.167 Aus der drohenden Verletzung des Art 3 EMRK, die eine Mitwirkung des abschiebenden Staates bedeuten würde, folgt letztlich ein Aufenthaltsrecht in diesem.168
d) Rechtfertigung Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in das Verbot der Folter und der unmensch- 37 lichen oder erniedrigenden Behandlung sind nach der EMRK nicht gegeben,169 sodass das Verbot absolut gilt.170 Es ist überdies nach Art 15 II EMRK auch notstandsfest. Dies gilt auch in Kriegszeiten, wie der Vergleich mit den Art 2, 15 II EMRK zeigt, und selbst vor dem Hintergrund schwerster Gefahren wie solchen des internationalen Terrorismus.171 Anders als ein Eingriff in das Recht auf Leben im Falle des Art 2 II lit a EMRK zur Verteidigung anderer Menschen ist auch eine so genannte
Bewertung der Situation im Zielstaat der Abschiebung EGMR (GK), Urt v 29.4.2022, 28492/15 u 49975/ 15 – Khasanov u Rakhmanov/Russland. 164 EGMR (GK), Urt v 21.1.2011, 20696/09 – M.S.S./Belgien u Griechenland. 165 S dazu etwa Hinterberger/Klammer, NVwZ 2017, 1180. Eingehend auch und unter Einbeziehung schlechter humanitärer Bedingungen allgemein Oepen-Mathey Internationaler Schutz im Falle extremer Armut, 2021, S 172 ff. 166 EGMR, Entsch v. 7.10.2004, 33743/03 – Dragan ua/Deutschland; Urt v 20.10.2011, 55463/09, §§ 56 ff – Samina/Schweden. 167 Vgl für einen solchen Ausnahmefall EGMR (GK), Urt v 27.5.2008, 26565/05 – N/Vereinigtes Königreich. 168 Vgl EGMR, Urt v 17.12.1996, 25964/94, §§ 39 ff – Ahmed/Österreich; näher Gundel in: HStR IX, § 198 Rn 37. Selbst Sicherheitsbedenken des Aufnahmestaates können bei einer drohenden Verletzung des Art 3 EMRK grundsätzlich nicht durchdringen und müssen auf andere Weise bewältigt werden; s EGMR (GK), Urt v 25.11.1996, 22414/93, §§ 80 f – Chahal/Vereinigtes Königreich; Urt v 28.2.2008, 37201/06, § 138 – Saadi/Italien; EGMR, Urt v 17.12.1996, 25964/94, §§ 39 ff – Ahmed/Österreich; Urt v 22.9.2009, 30471/08, § 91 – Abdolkhani u Karimnia/Türkei. 169 Sinner in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 3 Rn 1. 170 EGMR (GK), Urt v 28.7.1999, 25803/94, § 95 – Selmouni/Frankreich; Urt v 1. 6. 2010, 22978/05 – Gäfgen/Deutschland; dazu Grabenwarter, NJW 2010, 3128 ff. 171 EGMR (GK), Urt v 28.7.1999, 25803/94, § 95 – Selmouni/Frankreich; Urt v 6.4.2000, 26772/95, § 119 – Labita/Italien; Urt v 28.2.2008, 37201/06, § 127 – Saadi/Italien; Urt v 1.6.2010, 22978/05, § 87 – Gäfgen/ Deutschland; Urt v 13.12.2012, 39630/09, § 195 – El-Masri/EJR Mazedonien; EGMR, Urt v 15.4.2021, 5560/19, § 119 – K.I./Frankreich.
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„Rettungsfolter“ selbst dann nicht gestattet, wenn hierdurch Leib und Leben von Menschen gerettet werden sollen. Das gilt selbst in Situationen von Terrorismus. Der Unterschied zwischen dem insofern durchlässigen Tötungsverbot und dem absolut geltenden Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung liegt in der engen Verknüpfung mit dem Menschenwürdekern172 und dem Schutz der menschlichen Persönlichkeit zugrunde. Das internationale Recht betrachtet hier – ebenso wie letztlich auch Art 2 II 3 GG – die gewaltsame Beendigung des Lebens als mit der menschlichen Subjektsqualität eher vereinbar als die unmenschlich-erniedrigende Behandlung durch die Folter, die niemals gerechtfertigt werden kann. Abseits von der gerade in Folterfällen historisch verbreiteten hohen Missbrauchsgefahr im Falle einer Absenkung der Absolutheitsschwelle stellt dies auch den Beweis für den Grad des zivilisatorischen Fortschritts dar, den die EMRK für Europa erreicht hat.
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Lösung Fall 2: Es könnte in der Behandlung des L im Untersuchungsgefängnis ein Verstoß gegen Art 3 EMRK liegen. Dies setzt eine Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung voraus. Die Abgrenzung erfolgt grundsätzlich vor allem nach der Intensität des Eingriffs in die physische oder psychische Unversehrtheit. Dabei stellen Folter und unmenschliche Behandlung insbesondere auf schwerste und schwere Eingriffe ab, während die erniedrigende Behandlung vornehmlich durch das demütigende Element geprägt wird.173 Letzteres bildet hier nach den Vorwürfen des K den Schwerpunkt, da eine besondere Schwere der Eingriffe, die über die Körperverletzung durch Schläge an sich hinausgeht, nicht vorgetragen wird. Die Regelmäßigkeit der Misshandlungen und die Umstände des erzwungenen Rennens auf rutschigem Boden stellen in Anbetracht des Ausgeliefertseins in einer langen Untersuchungshaft demütigende, die menschliche Achtung in Frage stellende Eingriffe dar. Es fragt sich allerdings, ob die Angaben des L als wahr angenommen werden können, d. h. insbesondere, ob die Misshandlungen durch das Gefängnispersonal und ihre Kausalität für die Verletzungen des L bewiesen werden können. Der EGMR lehnt eine Verletzung des materiellen (abwehrrechtlichen) Gehalts des Art 3 EMRK ab, da ein nach den Maßstäben der Norm hinreichend schwerwiegendes Fehlverhalten der Gefängniswärter gegenüber dem L und dessen Kausalität für seine Verletzungen nicht nachgewiesen werden könne. Hier hat aber zum einen der Regierungsbericht in engem zeitlichem Zusammenhang mit den Vorwürfen erhebliches Fehlverhalten des Gefängnispersonals festgestellt; zum anderen hat L nach den medizinischen Berichten seine Verletzungen, die zu den geschilderten Vorfällen passen können, in staatlichem Gewahrsam erlitten. Diese konkreten Hinweise auf Eingriffe durch Fehlverhalten der staatlichen Organe verpflichten den Staat zu einer eingehenden Untersuchung. Der Gerichtshof nimmt daher einen Verstoß gegen Art 3 EMRK in seiner prozeduralen Dimension an,174 da die Untersuchung des Vorgangs nicht den Maßstäben des Grundrechts bezüglich Effektivität und Gründlichkeit genüge und eine belastbare Feststellung der Vorgänge so vereitelt worden sei, obgleich hinreichende Anhaltspunkte gegeben waren.
172 Vgl Erwägungsgrund 2 der Präambel der UN-Antifolterkonvention. 173 Oben Rn 29. 174 Denkbar ist zudem ein Verstoß gegen Art 13 EMRK; s Rn 20. Claas Friedrich Germelmann
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3. Verbot von Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel (Art 4 EMRK) Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 26.7.2005, 73316/01 – Siliadin/Frankreich; Urt v 7.1.2010, 25965/04 – Rantsev/Zypern u Russland Schrifttum: Cullen Siliadin v France: Positive Obligations under Article 4 of the European Convention on Human Rights, HRLR 6 (2006), 585 ff.
Das Sklavereiverbot gehört international zu den zentralen menschenrechtlichen 39 Garantien. Es ist als ius cogens anerkannt175 und eine der Basisgarantien einer demokratischen Gesellschaft.176 Im Text des Grundgesetzes spielt es keine ausdrückliche Rolle, ist aber durch die Menschenwürdegarantie natürlich sachlich abgesichert. Auch im Verständnis des Konventionsrechts ist der Menschenwürdegehalt des Art 4 EMRK offenkundig und erklärt auch seinen absoluten Schutz, der weder Rechtfertigungsgründe für Eingriffe kennt noch – für Sklaverei und Leibeigenschaft iSd Art 4 I EMRK – eine Notstandsausnahme gestattet (Art 15 II EMRK). Sklaverei wird dabei entsprechend der Definition des Genfer Sklavereiabkommens vom 25.9.1926177 eng verstanden; der Betroffene wird durch die Sklaverei zum bloßen Objekt.178 Die Leibeigenschaft geht über die Verpflichtung zur Zwangsarbeit dadurch hinaus, dass der Betroffene zusätzlich unter einer Freiheitsbeeinträchtigung zu leiden hat, die sich etwa darin manifestiert, dass er gezwungen ist, auf dem Grundstück des Dienstherrn am Ort seiner Arbeit zu wohnen.179 Der Menschenhandel, der von der unionsrechtlichen Schwestervorschrift zu Art 4 EMRK in Art 5 III GRCh ausdrücklich verboten wird180 und im internationalen Recht Gegenstand etwa des Palermo-Protokolls der Vereinten Nationen zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels vom 5.11.2000181 und des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 17.11.2005182 ist, wird
175 S schon oben Rn 3. 176 EGMR, Urt v 26.7.2005, 73316/01, § 112 – Siliadin/Frankreich. 177 RGBl 1929 II 63, mit Änderungsprotokoll vom 7.12.1953, BGBl 1972 II 1069. S auch das Zusatzabkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken vom 7.9.1956, BGBl 1958 II 203. 178 Vgl Art 1 Ziff 1 des Sklavereinabkommens: „Sklaverei ist der Zustand oder die Stellung einer Person, an der die mit dem Eigentumsrechte verbundenen Befugnisse oder einzelne davon ausgeübt werden.“ S auch EGMR, Urt v 26.7.2005, 73316/01, § 122 – Siliadin/Frankreich. 179 EGMR, Urt v 5.7.1979, 7906/77 – van Droogenbroeck/Belgien. 180 Dazu Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 5 GRC Rn 6. 181 BGBl 2005 II 995. 182 BGBl 2012 II 1108. Claas Friedrich Germelmann
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vom EGMR zu Recht als eine moderne Form der Sklaverei dem absoluten Verbot des Art 4 I EMRK unterstellt.183 40 Verpflichtende Arbeitsleistungen, die keine Sklaverei darstellen, sind gemäß Art 4 II EMRK im Grundsatz verboten und nur in bestimmten Formen in den engen und klar definierten Grenzen des Art 4 III EMRK gestattet.184 Für die Definition der Zwangs- oder Pflichtarbeit wird erneut auf einen internationalen Text, das ILOÜbereinkommen Nr 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit von 1930, zurückgegriffen.185 Unentgeltliche oder gering bezahlte Tätigkeiten im Rahmen der Ausbildung fallen nicht hierunter, wenn kein grobes Missverhältnis zu den Interessen des Betroffenen festzustellen ist.186 Die Ausnahmevorschrift des Art 4 III EMRK ist dogmatisch nicht als Rechtfertigungsgrund zu verstehen, sondern formuliert typisierte Fallgruppen zulässiger verpflichtender Arbeitsleistungen.187 41 Die Norm des Art 4 EMRK enthält neben dem Abwehrrecht auch positive Schutzpflichten der Mitgliedstaaten wie Ermittlungs- und Zusammenarbeitspflichten sowie Präventions- und Bestrafungspflichten.188 Sie spielen in der Praxis die bedeutsamere Rolle und müssen einen effektiven Schutz vor Verstößen gegen das Verbot durch Private sicherstellen.189 Dies entspricht der allgemeinen Grundrechtsdogmatik des EGMR und hat im Bereich des Sklavereiverbots in Anbetracht der herausragenden Bedeutung der Garantie eine besondere Berechtigung. Auslieferungen in Staaten, in denen den Betroffenen Sklaverei, Leibeigenschaft oder Menschenhandel drohen, sind durch Art 4 EMRK ebenfalls verboten und können gleichzeitig Art 3 EMRK verletzen.190
183 EGMR, Urt v 7.1.2010, 25965/04, §§ 272 ff – Rantsev/Zypern und Russland. S auch Schabas EMRK, S 209 f. 184 Vgl hierzu Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 283 ff. 185 BGBl 1956 II 640. Art 2 Abs 1: „Als „Zwangs- oder Pflichtarbeit“ im Sinne dieses Übereinkommens gilt jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“ S EGMR, Urt v 26.7.2005, 73316/01, §§ 123 ff – Siliadin/Frankreich. 186 EGMR, Urt v 23.11.1983, 8919/80 – Van der Mussele/Belgien (Rechtsanwalt in Ausbildung). Der Gerichtshof prüfte hier indes keine Ausnahme nach Art 4 III EMRK, sondern lehnte den Begriff der Zwangs- oder Pflichtarbeit unabhängig davon ab; er stellte auf Leistungen im Allgemeininteresse bzw der sozialen Solidarität ab. 187 Vgl EGMR, Urt v 18.7.1994, 13580/88 – Karlheinz Schmidt/Deutschland; Urt v 20.6.2006, 17209/02 – Zarb Adami/Malta. 188 EGMR, Urt v 26.7.2005, 73316/01, § 112 – Siliadin/Frankreich; Urt v 7.1.2010, 25965/04 – Rantsev/Zypern und Russland. 189 Schabas EMRK, S 206 f. Vgl auch Sudre EMRK, Rn 333. 190 Vgl oben Rn 36; ferner EGMR, Entsch v 19.1.1999, 42367/98 – Ould Barar/Schweden (Zulässigkeitsentscheidung).
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III. Schutz des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) Leitentscheidungen: EGMR (Pl), Urt v 13.6.1979, 6833/74 – Marckx/Belgien; EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88 – Niemietz/Deutschland = JK 93, EMRK Art 8/1; Urt v 9.12.1994, 16798/90 – López Ostra/Spanien; Urt v 18.1.2001, 27238/95 – Chapman/Vereinigtes Königreich; Urt v 2.8.2001, 54273/00 – Boultif/ Schweiz; Urt v 29.4.2002, 2346/02 – Pretty/Vereinigtes Königreich; Urt v 8.7.2003, 36022/97 – Hatton ua/Vereinigtes Königreich; Urt v 19.2.1998, 14967/89 – Guerra ua/Italien = JK 99, EMRK Art 8/3; Urt v 7.2.2012, 40660/08 u 60641/08 – von Hannover/Deutschland (Nr 2). Schrifttum: Coester-Waltjen Grundgesetz und EMRK im deutschen Familienrecht, JURA 2007, 914 ff; Connelly Problems of Interpretation of Article 8 of the European Convention on Human Rights, ICLQ 25 (1986), 567 ff; Graf Kielmansegg Jenseits von Karlsruhe – Das deutsche Familienrecht in der Straßburger Rechtsprechung, AVR 46 (2008), 273 ff; Meyer-Ladewig Das Umweltrecht in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, NVwZ 2007, 25 ff; Thym Respect for Private and Family Life Under Article 8 ECHR in Immigration Cases: A Human Right to Regularize Illegal Stay, ICLQ 57 (2008), 87 ff.
Fall 3: (vereinfacht nach EGMR (GK), Urt v 18.10.2006, 46410/99 – Üner/Niederlande) Der türkische Staatsangehörige U wurde in der Türkei geboren, zog aber bereits im Alter von zwölf Jahren mit seinen Eltern in die Niederlande. Er lebt dort seit 20 Jahren und hat eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. In der Zeit seines Aufenthalts in den Niederlanden wurde U mehrfach strafgerichtlich wegen Gewalttätigkeiten gegen andere Personen verurteilt. Seit zehn Jahren ist er mit einer niederländischen Staatsangehörigen verheiratet und hat mit ihr zwei Kinder, die ebenfalls die niederländische Staatsangehörigkeit besitzen; die Ehefrau und die Kinder sind der türkischen Sprache nicht mächtig. Allerdings ist ua wegen der Gefängnisaufenthalte des U ein stabiles Familienleben nur während eines Teils dieser Zeit möglich gewesen. U selbst spricht ebenfalls nur wenig Türkisch und war seit dem Umzug in die Niederlande auch nur einmal zu einer Familienveranstaltung in der Türkei. Als U nach einem Streit in einem Café einen Totschlag mittels einer Schusswaffe begeht, wird er zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt; zugleich wird seine Aufenthaltsgenehmigung aufgehoben und er nach Ablauf der Haftstrafe aus den Niederlanden ausgewiesen. Das niederländische Ausländerrecht sieht diese Rechtsfolge vor, wenn in der Abwägung die Interessen des Betroffenen hinter den Sicherheitsinteressen des niederländischen Staates zurücktreten. Liegt ein Verstoß gegen Art 8 EMRK vor?
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Der Schutz des Privatlebens und der Privatsphäre ist im Recht der EMRK in unter- 43 schiedlichen Bestimmungen verankert. Eine zentrale Norm ist Art 8 I EMRK, der vier Bestandteile nennt, die ihrerseits unterschiedliche, weiter ausdifferenzierte Rechtspositionen in sich vereinen: Privatleben, Familienleben, Wohnung und Korrespondenz. Die Norm ist von ihrem Schutzbereich für das europäische Unionsrecht entsprechend in Art 7 GRCh abgebildet, wobei sich trotz der Parallelität der beiden Grundrechtsgewährleistungen in der Schrankenprüfung der Rechtsprechung im Einzelfall Unterschiede ergeben können.191 Der Bereich des Datenschutzes ist in der
191 Vgl Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 7 GRC Rn 1, 2, 11. Claas Friedrich Germelmann
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EU-Grundrechtecharta mit Art 8 GRCh durch ein eigenes Grundrecht geschützt, welches der EuGH jedoch oftmals gemeinsam mit Art 7 GRCh als Prüfungsmaßstab heranzieht.192 44 Das Privatleben kann dabei sachlich als übergeordnetes Schutzobjekt bzw Auffangrechtsposition in Art 8 I EMRK begriffen werden, wenngleich die im Text enthaltene Differenzierung sich auch in der Rechtsprechung wiederfindet. Zu allen Bestandteilen des Schutzbereichs nach Art 8 I EMRK existiert zudem eine umfangreiche Kasuistik, die in der Folge nicht nachgezeichnet werden soll. In Anbetracht der schmalen textlichen Ausgangsbasis des Konventionstextes hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung für eine erhebliche Ausweitung und Ausdifferenzierung des Schutzes des Privatlebens gesorgt. Die Rechtsprechung zu Art 8 EMRK ist geprägt durch die Entwicklung stets neuer detaillierterer Garantien unter dem Oberthema des Privatlebens bzw der Privatsphäre, die teilweise Lücken füllen und neue tatsächliche Schutzbedürfnisse aufnehmen.193 Hier zeigt sich in besonderem Maße die Charakteristisierung der EMRK als ein „living instrument“,194 die entsprechend den aktuellen Lebensverhältnissen auszulegen ist195 und in der Lage sein muss, aktuelle Herausforderungen aufzunehmen und sie sachgerechten Lösungen zuzuführen. 45 Hierbei spielt die Bedeutung des Schutzes des Privatlebens für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen eine große Rolle. Die Tendenz der Rechtsprechung geht dahin, hier eine möglichst lückenlose Absicherung zu erreichen, die freilich stets im Wege der Abwägung mit entgegenstehenden Gütern sachlich gerechtfertigte und verhältnismäßige Eingriffe gestatten kann. Da das Konventionsrecht keine eigenständige textliche Garantie für das allgemeine Persönlichkeitsrecht besitzt, nimmt die Garantie des Art 8 EMRK hier gleichsam eine Ersatzfunktion ein.196 Über die besondere Persönlichkeitsrelevanz und die Bedeutung für die selbstbestimmte Entfaltung in der individuellen Lebensgestaltung197 stehen die Grundrechte zum Schutz der Privatsphäre nach Art 8 I EMRK überdies in einem sachlichen Zusammenhang mit den Grundrechten des Schutzes des Lebens und der
192 Ausführlich dazu → Marsch, § 4.2.2 Rn 1. 193 Vgl Schabas EMRK, S 366: „In recent years, article 8 has proven to be one of the richest areas of legal development by the Court.“ Kritischer Sudre EMRK, Rn 457: „Se constitue ainsi une nébuleuse « vie privée et familiale », à la configuration baroque et au sein de laquelle la notion de « vie familiale » est singulièrement diluée.“ 194 EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, § 31 – Tyrer/Vereinigtes Königreich. 195 Vgl EGMR (Pl), Urt v 13.6.1979, 6833/74, § 58 – Marckx/Belgien; Sudre EMRK, Rn 456. 196 Näher Rn 56. 197 Vgl EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, § 63 – Pretty/Vereinigtes Königreich; Urt v 12.6.2003, 35968/ 97, § 69 – Van Kück/Deutschland; Urt v 8.1.2009, 29002/06, § 100 – Schlumpf/Schweiz; Urt v 11.10.2018, 55216/08, § 55 – S.V./Italien. Claas Friedrich Germelmann
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Unversehrtheit sowie dem allgemeinen Schutz der Freiheit der Person und decken auch Teile von deren Gewährleistungen ab.198 Eine besondere hervorgehobene Rolle spielt überdies der Bereich des Schutzes 46 der Privatsphäre, die in Art 8 I EMRK über den Schutz der Wohnung und der Korrespondenz in Ansätzen ebenfalls Erwähnung findet. Auch sie unterfällt in der Sache dem Oberbegriff des Privatlebens und enthält einen engen Bezug zum Schutz des Persönlichkeitsrechts. Neue Herausforderungen bestehen in heutiger Sicht gerade im Bereich des Datenschutzes. Dem Schutz der Privatsphäre in seinen unterschiedlichen Ausprägungen ist ein eigener Abschnitt gewidmet;199 sie werden hier nur im Wege eines kursorischen Überblicks in die Gewährleistung des Schutzes des Privatlebens eingeordnet.
1. Sachliche Schutzbereiche a) Schutz des Privatlebens Der Schutz des Privatlebens wird gemeinhin als nicht selbstständig definierbarer 47 Oberbegriff für unterschiedliche Rechtspositionen begriffen;200 auch der EGMR enthält sich einer abschließenden Definition.201 Er fasst unter den Begriff aber potenziell sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens sowohl im individuellen internen Bereich wie auch in den privaten sozialen Beziehungen. Im Ergebnis bezieht sich der Schutz des Privatlebens nach dem Verständnis des EGMR auf eine sachlich umfassende Garantie der persönlichen Selbstbestimmung in individuellen Angelegenheiten wie im sozialen Umgang.202
aa) Physische und psychische Integrität Zum Privatleben gehören daher zunächst physische Elemente. Das Leben selbst 48 wird zwar durch Art 2 EMRK geschützt. Grenzbereiche des Lebensschutzes wie ein Recht auf eine Beendigung des eigenen Lebens werden aber nicht von dieser Norm, sondern von Art 8 I EMRK erfasst; denn sie berühren in letzter Konsequenz die Fra-
198 S dazu Rn 31. 199 Ausführlich → Marsch, § 4.2.1. 200 Vgl Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 5. 201 EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, § 29 – Niemietz/Deutschland; Urt v 8.1.2009, 29002/06, § 100 – Schlumpf/Schweiz; Urt v 23.9.2010, 425/03, § 39 – Obst/Deutschland. 202 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, § 63 – Pretty/Vereinigtes Königreich; Urt v 12.6.2003, 35968/97, § 69 – Van Kück/Deutschland; Urt v 8.1.2009, 29002/06, § 100 – Schlumpf/Schweiz; Urt v 11.10.2018, 55216/08, § 55 – S.V./Italien. Claas Friedrich Germelmann
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ge nach der persönlichen Selbstbestimmung über das eigene Leben und die eigene Lebensführung in einem finalen Stadium.203 Wäre im deutschen Recht hier das allgemeine Persönlichkeitsrecht die vom sachlichen Schutzbereich her einschlägige Gewährleistung,204 so ist dies nach der EMRK gleichsam als Auffanggewährleistung Art 8 I EMRK. Damit kann die Beurteilung der Zulässigkeit von Sterbehilfe ihren Ausgangspunkt im Schutzbereich des Art 8 I EMRK nehmen, da sie als Ausdruck der persönlichen Selbstbestimmung Bestandteil des Schutzes des Privatlebens ist.205 Entsprechendes gilt für die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, da auch sie vom Schutzbereich her als eine Frage der persönlichen (körperlichen) Selbstbestimmung zu betrachten ist.206 In allen diesen Fällen ist allerdings der Schutz des Lebens nach Art 2 I EMRK seinerseits in seiner Ausprägung als positive staatliche Pflicht als Eingriffsrechtfertigung zu berücksichtigen und mit der Garantie der Selbstbestimmung, die im Schutz des Privatlebens nach Art 8 I EMRK verankert ist, abzuwägen.207 49 Zu der physischen Komponente im Schutzbereich des Art 8 I EMRK gehört ferner die körperliche und seelische Unversehrtheit,208 insoweit diese nicht bereits durch die spezielle Bestimmung des Art 3 EMRK geschützt ist.209 Die dogmatische Konstruktion des Schutzes muss wegen der verschiedenen textlichen Ausgangsbasis hier ebenfalls eine andere sein als im deutschen Verfassungsrecht mit dem Grundrecht nach Art 2 II 1 GG. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit ist nach der Rechtsprechung des EGMR gleichfalls Ausdruck der Garantie der Selbstbestimmung, wie sie Art 8 I EMRK im Blick hat; dies erfasst auch ärztliche Behandlungen gegen den Willen des Betroffenen.210 Gleiches gilt natürlich auch für die psychische Unversehrtheit, insoweit noch nicht die Schwelle der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art 3 EMRK erreicht ist.211 In jüngerer Zeit hat der Gerichtshof die Garantie des Art 8 I EMRK auch auf bestimmte soziale Garan-
203 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, §§ 61 ff – Pretty/Vereinigtes Königreich; Urt v 20.1.2011, 31322/07, § 51 – Haas/Schweiz. 204 BVerfGE 153, 182. 205 EGMR, Urt v 19.7.2012, 497/09 – Koch/Deutschland. Vgl auch → Marsch, § 4.2.1 Rn 11. 206 EGMR, Urt v 20.3.2007, 5410/03 – Tysiąc/Polen; EGMR (GK), Urt v 16.12.2010, 25579/05, §§ 212 ff – A., B. und C./Irland. 207 Näher Rn 12. S auch Schabas EMRK, S 373. 208 Vgl nur EGMR, Urt v 26.3.1985, 8978/80, § 22 – X. und Y./Niederlande. Kasuistik bei Sudre EMRK, Rn 459. 209 EGMR, Urt v 13.5.2008, 52515/99, § 71 – Juhnke/Türkei; Urt v 1.6.2017, 9635/13, § 70 – Dejnek/Polen; Schabas EMRK, S 370. 210 EGMR, Urt v 16.6.2005, 61603/00 – Storck/Deutschland. 211 EGMR, Urt v 20.3.2007, 5410/03 – Tysiąc/Polen; Meyer-Ladewig, NVwZ 2007, 25, 26. Zu Art 3 EMRK s bereits Rn 29.
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tien ausgeweitet, die grundlegende Bedürfnisse der Lebensführung wie gesunde Wasserversorgung, Wohnung oder Eigentum betreffen; hieraus können allerdings nur in begrenztem Umfang positive staatliche (Leistungs-)Pflichten folgen.212 Soziale Leistungen sind dagegen im Grundsatz nicht erfasst und können allenfalls in engen Ausnahmefällen, in denen sie unmittelbare Auswirkungen auf das Familienleben haben, vom sachlichen Schutzbereich des Art 8 I EMRK abgedeckt sein und etwa unter dem Gesichtspunkt der akzessorischen Gleichbehandlung nach Art 14 EMRK Teilhabeansprüche begründen.213 Zum Schutz des Privatlebens gehören ferner grundlegende Fragen der indivi- 50 duellen Identität ebenso wie persönliche Lebensstile.214 So ist etwa das eigene Erscheinungsbild, welches Spiegel der Persönlichkeit sein kann, durch Art 8 I EMRK geschützt,215 setzt aber auf der Eingriffsebene eine hinreichende Intensität und Persönlichkeitsrelevanz der staatlichen Maßnahme voraus.216 Auch die Kenntnis der eigenen Abstammung gehört in den Schutz der Privatsphäre.217 Eine besondere Fallgruppe stellen hierbei Minderheiten dar, die in ihrer Lebensweise und den sie prägenden Traditionen sowie in ihren Sprachen über Art 8 I EMRK ebenfalls geschützt werden.218
bb) Soziale Kontakte Dem Schutz des Art 8 I EMRK unterfällt auch die Bewahrung bestehender hinrei- 51 chend intensiver persönlicher Beziehungen, da der soziale Bereich für die menschliche Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung ebenfalls zentrale Wichtigkeit besitzt. Besondere Bedeutung erlangt dieser Bereich im Falle der Aufenthaltsbeendi-
212 Näher Sudre EMRK, Rn 482. 213 Vgl EGMR (GK), Urt v 11.10.2022, 78630/12, §§ 66 ff – Beeler/Schweiz. 214 Vgl für die ethnische Identität und Gruppenidentität EGMR, Urt v 17.9.2019, 40942/14, § 72 – Iovcev ua/Moldau u Russland; für sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität EGMR, Urt v 27.9.1999, 33985/96 u 33986/96, §§ 70 f – Smith u Grady/Vereinigtes Königreich; Urt v 12.6.2003, 35968/97, § 69 – van Kück/Deutschland; Urt v 6.4.2017, 79885/12 ua, §§ 92 ff – A. P., Garçon, Nicot/ Frankreich; Urt v 17.1.2019, 29683/16, § 37 – X/EJR Mazedonien. 215 Ausführlicher → Marsch, § 4.2.1 Rn 13. Vgl für den religiös motivierten Gesichtsschleier, den der Gerichtshof unter den Schutzbereich der Art 8 u 9 EMRK fasst, den Schwerpunkt allerdings auf letztere Norm legt, EGMR (GK), Urt v 1.7.2014, 43835/11, § 109 – S.A.S./Frankreich. 216 Näher Schabas EMRK, S 376 f. 217 EGMR, Urt v 13.7.2006, 58757/00, §§ 28 ff – Jäggi/Schweiz. Zum Problem anonymer Geburten und dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung EGMR, Urt v 13.2.2003, 42326/98 – Odièvre/Frankreich. Näher auch Sudre EMRK, Rn 486, 488. 218 EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62 ua – Belgischer Sprachenfall; Urt v 18.1.2001, 27238/95, §§ 73 f – Chapman/Vereinigtes Königreich; für die staatliche Schutzpflicht gegen diskriminierende Behandlung EGMR, Urt v 12.4.2016, 64602/12, §§ 78 ff – R. B./Ungarn.
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gung bei Ausländern, bei der unabhängig vom Aufenthaltstitel im Aufnahmestaat entstandene und hinreichend starke persönliche Verbindungen des Betroffenen den Schutzbereich des Art 8 I EMRK eröffnen und daher bei der Ermessensentscheidung219 die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf diese Beziehungen hätte, Berücksichtigung finden müssen.220 Dies gilt beispielsweise bei einer Integration in Schule und näherer sozialer Umgebung. Zu einem Aufenthaltsrecht muss Art 8 I EMRK allerdings nicht in jedem dieser Fälle führen, da auch diese Norm über ihren Abs. 2 einschränkbar ist. Insofern besteht ein deutlicher Unterschied zum Abschiebungsverbot in den Fällen der Art 2 und 3 EMRK.221 Aufenthaltsrechtliche Spezialnormen enthält das Konventionsrecht dabei nur sehr punktuell und garantiert insbesondere kein Recht auf Einreise oder Aufenthalt. Das 4. ZP EMRK schützt in seinem Art 3 eigene Staatsangehörige des Staates vor einer Verbannung, indem er Ausweisung und Einreiseverbot für sie einschränkungslos für unzulässig erklärt, und sein Art 4 verbietet Kollektivausweisungen für Ausländer.222
cc) Beruf 52 Eine grundrechtsdogmatisch besonders weitgehende, sachlich aber durchaus ver-
tretbare Konsequenz zieht der EGMR, wenn er bestimmte berufsbezogene Maßnahmen immer dann am Maßstab des Art 8 I EMRK misst, wenn sie mit dem Privatleben eng verknüpft sind; dies ist entweder der Fall, wenn die Gründe für die Maßnahme, beispielsweise eine Entlassung, im Privatleben des Betroffenen liegen oder wenn sie sich auf das Privatleben des Betroffenen in besonderer Weise auswirken.223 Einen Sonderfall bildet hier der Schutz der beruflichen Korrespondenz.224
219 Vgl die ermessensleitenden Aspekte für die Rechtfertigungsprüfung in EGMR, Urt v 2.8.2001, 54273/00, § 48 – Boultif/Schweiz; EGMR (GK), Urt v 18.10.2006, 46410/99, § 57 – Üner/Niederlande. S auch Fall 3. 220 Vgl EGMR, Urt v 26.9.1997, 25017/94, §§ 23 ff – Mehemi/Frankreich; EGMR (GK), Urt v 18.10.2006, 46410/99 – Üner/Niederlande; EGMR, Urt v 2.12.2018, 18706/16 – Cabucak/Deutschland; EGMR, Urt v 28.6.2007, 31753/02 – Kaya/Deutschland. Weitere Bsp aus der Rspr bei Schabas EMRK, S 395 ff. Ausführlich Thym, ICLQ 57 (2008), 87 ff. Zur deutschen Rspr s auch Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 22 f. 221 Dazu schon Rn 20. 222 S dazu Schabas EMRK, S 1072 f, 1077 ff. Art 1 7. ZP EMRK, das für Deutschland nicht in Kraft ist, beschränkt sich auf Verfahrensgarantien für den Fall der Ausweisung. 223 Vgl EGMR, Urt v 27.7.2004, 55480/00, 59330/00, §§ 42 ff – Sidabras and Džiautas/Litauen; Urt v 27.6.2017, 50446/09, §§ 56 ff – Jankauskas/Litauen (Nr 2). Ausführlich EGMR (GK), Urt v 25.9.2018, 76639/11, §§ 100 ff – Denisov/Ukraine. 224 Vgl dazu EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, §§ 29 ff – Niemietz/Deutschland; dazu noch unten Rn 58.
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Art 8 I EMRK inkorporiert dabei zwar kein allgemeines Grundrecht der Berufsfreiheit, welches im Text der Konvention auch nicht vorgesehen ist;225 der Gerichtshof unternimmt über die Vorschrift aber eine Lückenschließung im Wege der Auslegung, wie sie charakteristisch für seine Rechtsprechung ist. Grundsätzlich nicht unter Art 8 I EMRK fällt hingegen die Ausübung eines öffentlichen Amtes, weil es hier an einer privaten Dimension fehlt.226 Eine Beeinträchtigung der Norm ist hier allenfalls denkbar, wenn das Privatleben als Anknüpfungspunkt für staatliche Maßnahmen genommen wird oder der Eingriff in engem Zusammenhang mit dem Privatleben steht.227
dd) Umwelteinflüsse Das Privatleben kann auch durch Umweltveränderungen der Lebensbedingungen 53 beeinflusst werden. Dies gilt insbesondere bei negativen Umwelteinwirkungen. Auch wenn hier anders als bei den übrigen bisher erörterten Aspekten des Privatlebens der Persönlichkeitsbezug für den Betroffenen deutlich zurücktritt und auch die Privatsphäre nicht im eigentlichen Sinne eines Privatheitsschutzes berührt ist, kann doch faktisch die Art und Weise des Betroffenen zu leben beeinträchtigt werden. Der EGMR hat in ständiger Rechtsprechung daher konkrete, unmittelbare und hinreichend erhebliche Umweltbeeinträchtigungen durch Emissionen unterschiedlicher Art, denen der Betroffene ausgesetzt ist, als Eingriffe in den Schutzbereich des Grundrechts des Privatlebens anerkannt. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Betroffene Nachbar des Emittenten ist. Ist der Verursacher eine Privatperson, werden im gegebenen Fall positive Schutzpflichten des Staates ausgelöst.228 Dies ist etwa bei Lärm oder Abgasen,229 aber auch bei Strahlungen oder Abfällen möglich.230 Erforderlich ist stets eine hinreichend schwere, konkret feststellbare Beeinträchtigung.231 Sofern noch keine Schäden eingetreten sind, können
225 Näher Gundel, DVBl 2020, 1042 ff; → Ruffert, § 6.1 Rn 4; Schabas EMRK, S 374 f. 226 EGMR, Urt v 26.9.1995, 17851/91, § 43 – Vogt/Deutschland. 227 Vgl EGMR, Urt v 24.7.2012, 29476/06 – D.M.T. und D.K.I./Bulgarien. 228 Vgl etwa EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90 – López Ostra/Spanien; EGMR, Urt v 8.7.2003, 36022/97 – Hatton ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 10.1.2012, 30765/08 – Di Sarno ua/Italien. 229 EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90 – López Ostra/Spanien; Urt v 19.2.1998, 14967/89, § 57 – Guerra ua/Italien; Urt v 10.1.2012, 30765/08, §§ 104 ff – Di Sarno ua/Italien; Entsch v 26.2.2008, 37664/04 – Fägerskiöld/Schweden (Zulässigkeitsentscheidung). 230 Zur Kasuistik vgl die Nachw bei Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 38 f. 231 Zu den Voraussetzungen EGMR, Urt v 8.7.2003, 36022/97, § 96 – Hatton ua/Vereinigtes Königreich; Urt v 26.2.2008, 37664/04 – Fägerskiöld/Schweden (Zulässigkeitsentscheidung); EGMR, Urt v 24.1.2019, 54414/13, 54264/15, § 157 – Cordella/Italien. Dazu auch Burgorgue-Larsen, AJDA 2019, 1803 (1811).
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Gefährdungen nur ausreichen, wenn sie hinreichend konkret sind und unmittelbar bevorstehen.232 Nicht hingegen ist in der Rechtsprechung bislang ein allgemeines Recht auf eine saubere Umwelt233 oder mittelbare Beeinträchtigungen durch allgemeine Umweltveränderungen etwa im Zuge des Klimawandels anerkannt.234 Derartige künftige Weiterungen des Schutzbereichs des Art 8 I EMRK erscheinen vor dem Hintergrund der bisherigen extensiven Auslegung in der Rechtsprechung indes nicht ausgeschlossen. Sie wären freilich ein erheblicher zusätzlicher Schritt, dessen Notwendigkeit nicht nur rechtspolitisch, sondern auch dogmatisch kritisch zu prüfen wäre. Denn letztlich würde hier das Problem staatlicher Handlungspflichten im Falle von Umweltveränderungen nur auf die Rechtfertigungsebene verschoben, für die notwendigerweise in gleicher Weise wie auch in anderen Bereichen staatliche Gestaltungsspielräume235 anzuerkennen wären. Gerade im Bereich des Klimaschutzes sind auf internationaler, aber auch auf europäischer Ebene weiterhin deutliche Divergenzen zu beobachten, was die Herausarbeitung konkreter verpflichtender staatlicher Instrumente erschwert. Allenfalls im Bereich gemeinsamer unionsrechtlicher Handlungsvorgaben wäre an eine grundrechtliche Absicherung über Art 8 I EMRK zu denken.
b) Schutz des Familienlebens 54 Die Reichweite des Schutzes des Familienlebens wirft unterschiedliche Fragestel-
lungen auf und ist dem deutschen Art 6 GG zwar im Schutzniveau, strukturell aber nur bedingt vergleichbar.236 So ist der Begriff der Familie nach der EMRK weit und dynamisch237 zu verstehen; er bezieht sich sowohl auf Ehe und eheähnliche Lebensgemeinschaften238 wie auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, wobei nicht nur biologische, sondern auch im Übrigen rechtlich anerkannte Beziehun-
232 Vgl EGMR, Urt v 29.6.1999, 29197/95 – Bernard ua/Luxemburg (Zulässigkeitsentscheidung). 233 EGMR, Urt v 8.7.2003, 36022/97 – Hatton ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Entsch v 26.2.2008, 37664/04 – Fägerskiöld/Schweden (Zulässigkeitsentscheidung). Näher Schmidt-Radefeldt Ökologische Menschenrechte, 2000, S 105 ff; ferner Heselhaus/Marauhn, EuGRZ 2005, 549 ff; Meyer-Ladewig, NVwZ 2007, 25 ff. Dafür aus verfassungsrechtsvergleichender Sicht Pereira da Silva Green Constitution: The Right to the Environment, in: Cremades/Hermida (Hrsg), Encyclopedia of Contemporary Constitutionalism, 2022. 234 Zu den Grenzen des Rechts prägnant Sudre EMRK, Rn 495. 235 Vgl allg für den Umweltbereich Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 117. 236 S Graf Kielmansegg, AVR 46 (2008), 273 (307 f); ferner Coester-Waltjen, JURA 2007, 914 (915 ff). 237 Sudre EMRK, Rn 500. 238 EGMR, Urt v 26.5.1994, 16969/90, § 44 – Keegan/Irland; Urt v 3.12.2009, 22028/04, § 37 – Zaunegger/Deutschland; Urt v 7.11.2013, 29381/09, 32684/09 § 73 – Vallianatos ua/Griechenland.
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gen wie Adoptivfamilien oä erfasst werden.239 Weniger sind dabei für den Schutz des Grundrechts aus Art 8 I EMRK sorgerechtliche Beziehungen als vielmehr die tatsächlichen sozialen Bindungen relevant. Daher kommt es auch entscheidend auf den tatsächlich bestehenden Kontakt an.240 Allerdings wird auch für Strafgefangene das Recht auf den Schutz des Familienlebens anerkannt, wenngleich hier die Freiheitsbeschränkung notwendigerweise Beschränkungen rechtfertigt.241 Die Rechtsprechung des EGMR ist von einer weitreichenden Anerkennung unterschiedlicher familienrechtlicher Konzepte der Mitgliedstaaten geprägt, was in Anbetracht der Unterschiedlichkeiten in den Rechtsordnungen und der Notwendigkeit, einen europaweit möglichst einheitlichen Schutz sicherzustellen, unausweichlich ist. Die praktisch wenig in Anspruch genommene Norm des Art 12 EMRK beschreibt den traditionellen Ehebegriff der Konvention, der allerdings in Anbetracht der tatsächlichen Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten heute nicht mehr exklusiv verstanden werden muss; bei der Entscheidung über die Ausdehnung des Eheverständnisses auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind die Mitgliedstaaten jedoch aus Sicht des Konventionsrechts in ihrem gesetzgeberischen Ermessen weitgehend frei.242 Allerdings ist anzunehmen, dass heute irgendeine Form der rechtlichen Anerkennung solcher Partnerschaften von den Konventionsstaaten verlangt wird.243 In zeitlicher Sicht ist logisch vorrangig die Entstehung der Familie. Hier um- 55 fasst der Schutzbereich des Art 8 I EMRK das Recht zur biologischen Elternschaft, einschließlich hierfür etwa erforderlicher medizinischer Unterstützung,244 nicht hingegen aber das weitergehende Recht, eine Familie auf anderem Wege, beispielsweise durch Adoption, zu gründen.245 Hier bleiben also die mitgliedstaatlichen Ermessensspielräume bestehen. Für Mitglieder einer bestehenden Familie schützt die Norm das räumliche Zusammensein, also insbesondere Entscheidung über den ge-
239 Zur Kasuistik des Familienbegriffs vgl Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 41 ff; Schabas EMRK, S 389 f; Sudre EMRK, Rn 505 f; ferner Mock, RUDH 1998, 237 (241 f). 240 EGMR, Urt v 11.7.2000, 29192/95, §§ 59 ff – Cılız/Niederlande; Urt v 13.7.2000, 25735/94, §§ 43 f – Elsholz/Deutschland; Urt v 9.2.2017, 29762/10, § 32 – Mitzinger/Deutschland. 241 EGMR (GK), Urt v 28.9.2000, 25498/94 – Messina/Italien (Nr 2); näher Sudre EMRK, Rn 503. 242 Vgl EGMR, Urt v 24.6.2010, 30141/04, §§ 60 f – Schalk u Kopf/Österreich; s auch Sudre EMRK, Rn 498. 243 S näher jüngst EGMR (GK), Urt v 17.1.2023, 40792/10, 30538/14 u 43439/14, §§ 190 ff – Fedotova ua/ Russland. 244 EGMR (GK), Urt v 3.11.2011, 57813/00 – S. H. ua/Österreich. 245 EGMR, Urt v 26.2.2002, 36515/97, § 32 – Fretté/Frankreich; Urt v 10.4.2007, 6339/05, §§ 71 ff – Evans/Vereinigtes Königreich; Urt v 22.1.2008, 43546/02, § 41 – E.B./Frankreich; Urt v 2.10.2012, 10048/10, §§ 54 ff – Knecht/Rumänien. S auch EGMR, Urt v 12.11.2019, 23038/19 – Lanzmann/Frankreich (postmortale künstliche Befruchtung).
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meinsamen Aufenthalt;246 dies wird insbesondere in aufenthaltsrechtlichen Problemkonstellationen relevant, soweit aufenthaltsbeendende Maßnahmen247 oder der Familiennachzug248 in Rede stehen.249 Bei Kindern ist auch die Gestaltung der rechtlichen Beziehung zu den Eltern250 und insbesondere die Bestimmung des Sorge- und Umgangsrechts vom Schutz des Familienlebens nach Art 8 I EMRK erfasst.251 Auch das Erbrecht zwischen engen Familienangehörigen ist Bestandteil des Schutzes des Familienlebens.252
c) Privatsphäre, Schutz der Wohnung und der Korrespondenz 56 Abseits der genannten Schutzbereichsbestandteile erfasst der Schutz des Privatlebens nach Art 8 I EMRK den Schutz der menschlichen Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit. Dies bewirkt einen umfassenden Schutz der Privatsphäre.253 Dieser Schutzaspekt des Art 8 I EMRK hat in der Rechtsprechung insbesondere im Zusammenhang mit den Fällen des staatlichen Ausspähens254 oder des Eindringens der Presse in die Privatsphäre Prominenter eine Rolle gespielt.255. 57 Auch beim weit zu verstehenden Wohnungsbegriff der EMRK steht die Privatsphäre im Vordergrund.256 Auch vorübergehende oder mobile Aufenthaltsorte wie Ferienwohnungen oder Wohnwagen können als Wohnungen anzusehen sein.257 Die
246 EGMR, Urt v 13.7.2000, 25735/94 – Elsholz/Deutschland; Urt v 10.1.2019, 18925/15, § 43 – Wunderlich/Deutschland. 247 EGMR, Urt v 3.10.2014, 12738/10 – Jeunesse/Niederlande; Urt v 25.4.2017, 41697/12 – Krasniqi/ Österreich; EGMR (GK), Urt v 18.10.2006, 46410/99 – Üner/Niederlande; EGMR, Urt v 2.12.2018, 18706/ 16 – Cabucak/Deutschland; Deibel, ZAR 2009, 121 ff; Fritzsch, ZAR 2011, 297 ff. 248 EGMR, Urt v 21.12.2001, 31465/96 – Şen/Niederlande; s auch Thiele, EuR 2007, 419. 249 Für die Bedeutung des Familienbegriffs iSd Art 8 I EMRK im Kontext von Migrations- und Ausländerrecht Desmond, EJIL 29 (2018), 261 ff. 250 Zum Kindesinteresse und zur prozeduralen Beschleunigungspflicht bei der Klärung umstrittener familienrechtlicher Beziehungen s EGMR, Urt v 7.4.2022, 13344/20, §§ 50 ff – A.L./Frankreich. 251 EGMR, Urt v 26.2.2004, 74969/01, §§ 35 ff – Görgülü/Deutschland; zur Anerkennung von im Ausland vorgenommenen Adoptionen EGMR, Urt v 28.6.2007, 76240/01, § 123 – Wagner & J.M.W.L./Luxemburg. 252 EGMR (Pl), Urt v 13.6.1979, 6833/74, § 52 – Marckx/Belgien; EGMR, Urt v 3.10.2000, 28369/95, § 35 – Camp und Bourimi/Niederlande; EGMR, Urt v 13.7.2004, 69498/01, § 26 – Pla und Puncernau/Andorra. 253 Ausführlicher dazu → Marsch, § 4.2.1 Rn 1. 254 Vgl EGMR, Urt v 25.9.2001, 44787/98, § 37 – P.G. und J.H./Vereinigtes Königreich. 255 EGMR, Urt v 7.2.2012, 40660/08, 60641/08, §§ 95 ff – von Hannover/Deutschland (Nr 2). Näher Schabas EMRK, S 377 f mwN. Zur entsprechenden Lösung über das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach deutschem Recht BVerfGE 73, 118 (201); 97, 125 (146); 101, 361 (379 ff). 256 S daher näher → Marsch, § 4.2.1 Rn 20. 257 EGMR, Urt v 25.9.1996, 20348/92, §§ 52 ff – Buckley/Vereinigtes Königreich.
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weite Interpretation gestattet dem EGMR einmal mehr die Schließung von Schutzlücken, die sich durch die geringe textliche Dynamik der Konvention erklären. Anders als der systematische Zusammenhang in Art 8 I EMRK es möglicherweise nahelegen würde, unterfällt dem Wohnungsbegriff nicht nur die Privatwohnung als persönlicher Rückzugsort, sondern auch der Geschäftsraum.258 Die Achtung der Wohnung iSd Art 8 I EMRK schützt vor jeglicher Art des Eindringens,259 auch durch technische Mittel;260 sie erfasst indes auch den Verlust der Wohnung etwa im Rahmen von Vollstreckungsmaßnahmen oder Planungsverfahren.261 Dieser letztere Aspekt des Wohnungsschutzes lässt sich weniger der Privatsphäre im engeren Sinne als dem Schutz der Basis des Privatlebens zuordnen. Hier hat der nationale Gesetzgeber angemessene verfahrensrechtliche Sicherungen vorzusehen, wobei ein Recht auf Wohnraum durch Art 8 EMRK nicht vorgesehen wird.262 Auch der Schutz der Korrespondenz betrifft als gesondert ausformulierte Ga- 58 rantie den Schutz der Privatsphäre.263 Die Reichweite des Schutzes der Korrespondenz umfasst alle heute gängigen Kommunikationsformen wie Post, Telefon und E-Mail-Kommunikation.264 Die Begrifflichkeit ist aber entwicklungsoffen, damit sie ihren Zweck erreichen kann. Sie schützt in gleicher Weise private wie geschäftliche und sonst berufliche Kommunikation.265 Die Korrespondenz ist auch für Strafgefangene geschützt,266 unterliegt hier allerdings verhältnismäßigen Einschränkungen.267 Wenn der Schutz der Korrespondenz nach Art 8 I EMRK zuweilen als le-
258 EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, §§ 30 ff – Niemietz/Deutschland; Urt v 28.4.2005, 41604/98, § 31 – Buck/Deutschland; Urt v 27.9.2005, 50882/99, § 70 – Sallinen ua/Finnland; Urt v 14.3.2013, 24117/08, § 104 – Bernh Larsen Holding AS ua/Norwegen. Der Gerichtshof stellt hierbei regelmäßig auf die weitgefasste französische Sprachfassung „domicile“ ab. 259 Vgl EGMR, Urt v 24.1.2023, 54714/17 – Svetova ua /Russland. 260 Für technische Überwachungsmaßnahmen EGMR, Urt v 12.5.2000, 35394/97, § 25 – Khan/Vereinigtes Königreich. 261 EGMR, Urt v 25.9.1996, 20348/92 – Buckley/Vereinigtes Königreich; EGMR (GK), Urt v 10.5.2001, 25781/94 – Zypern/Türkei. Zur Abgrenzung (Grundeigentum, das nicht zu eigenen Wohnzwecken genutzt wird, unterfällt nur dem Eigentumsschutz des Art 1 1. ZP EMRK) s EGMR (GK), Urt v 18.12.1996, 15318/89, § 66 – Loizidou/Türkei. 262 Näher Sudre EMRK, Rn 467 f mwN. 263 S dazu noch → Marsch, § 4.2.1 Rn 23 ff. 264 Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 60. 265 Zum Schutz der anwaltlichen Korrespondenz einschließlich elektronischer Daten und Telefonate beispielsweise EGMR, Urt v 25.3.1998, 23224/94, §§ 50 ff – Kopp/Schweiz; Urt v 23.1.2007, 73520/ 01 – Kepeneklioğlu/Türkei; Urt v 16.10.2007, 74336/01, § 45 – Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH/ Österreich; Urt v 6.12.2012, 12323/11, §§ 90 ff – Michaud/Frankreich. 266 EGMR, Urt v 23.9.1998, 27273/95, §§ 35 ff – Petra/Rumänien; Mock, RUDH 1998, 237 (243 f). 267 Jacobs/White/Ovey, EMRK, S 456 ff.
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diglich auf die schriftliche Kommunikation bezogen verstanden268 und die (fern-) mündliche als Bestandteil des Rechts auf Privatleben nach Art 8 I EMRK gesehen wird, so erscheint diese Kategorisierung in einer sich fortentwickelnden Kommunikationsstruktur und vor dem Hintergrund des einheitlichen Tatbestandes des Grundrechts wenig weiterführend.269
2. Persönlicher Schutzbereich 59 Der persönliche Schutzbereich des Grundrechts aus Art 8 I EMRK ist differen-
ziert zu betrachten. Die persönlichkeitsbezogenen Rechte, die sich aus dem Schutz des Privat- und Familienlebens ergeben, bestehen nur zugunsten von natürlichen Personen. Anders ist dies im Falle des Schutzes der Wohnung und der Korrespondenz. Die Einbeziehung auch von Geschäftsräumen kommt in gleicher Weise natürlichen Personen wie auch privaten Unternehmen gleich welcher Rechtsform zugute.270
3. Grundrechtsfunktionen 60 Art 8 I EMRK ist primär als Abwehrrecht konzipiert. Der Wortlaut „Achtung“ („re-
spect“) deutet indes bereits auf ein weitergehendes Verständnis hin.271 Zur Effektivierung des Schutzes sind in der Rechtsprechung des EGMR allerdings seit langem auch positive Pflichten des Staates anerkannt, die die Reichweite des Schutzes stark prägen. Diese kompensieren in vielen Fällen die fehlende Zurechenbarkeit einer schädigenden Maßnahme zum Staat und die ebenfalls fehlende unmittelbare Drittwirkung der EMRK-Grundrechte gegenüber Privaten. Sofern etwa im Bereich negativer Umwelteinwirkungen nicht der Staat selbst gehandelt hat, sondern die Maßnahme durch einen Privaten erfolgt ist, auch wenn diesem hierfür staatlicherseits eine Genehmigung erteilt worden ist, kommt die abwehrrechtliche Dimension
268 In diesem Sinne Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 8 Rn 48. 269 Vgl für eine inhaltliche Einbeziehung sowohl in den Begriff des Privatlebens als auch in den Korrespondenzbegriff EGMR, Urt v 6.9.1978, 5029/71, § 41 – Klass/Deutschland; Urt v 2.8.1984, 8691/79, § 64 – Malone/Vereinigtes Königreich; Urt v 16.2.2000, 27798/95, § 44 – Amann/Schweiz. 270 EGMR, Urt v 28.4.2005, 41604/98, § 32 – Buck/Deutschland; Urt v 27.9.2005, 50882/99, § 70 – Sallinen ua/Finnland; EGMR, Urt v 14.3.2013, 24117/08, § 104 – Bernh Larsen Holding AS ua/Norwegen. 271 Vgl Schabas EMRK, S 368. Claas Friedrich Germelmann
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nicht in Betracht. Wohl aber obliegen dem Staat in diesen Konstellationen Schutzpflichten zugunsten des Grundrechts aus Art 8 I EMRK.272 Positive Pflichten dienen der Gewährleistung der Rechte des Art 8 I EMRK daher 61 insbesondere gegenüber privaten Dritten und erfordern vom Staat beispielsweise die Schaffung effektiver materiell- und verfahrensrechtlicher Instrumente zur Durchsetzung der betroffenen Rechtspositionen.273 So müssen strafrechtliche Normen eine effektive Strafverfolgung sicherstellen, wie der EGMR etwa besonders für Missbrauchsfälle anerkannt hat.274 Ferner gibt es beispielsweise zwar keinen Anspruch auf eine Bereitstellung einer bestimmten Form der medizinischen Behandlung oder sonstigen Gesundheitsversorgung, wohl aber einen Anspruch auf die Teilhabe an Behandlungen nach Maßgabe des staatlich finanzierten Gesundheitssystems und Rechtsbehelfe im Falle von Behandlungsfehlern.275 Auch angemessen beschleunigte Entscheidungen müssen sichergestellt sein.276 Bei besonders vulnerablen Betroffenen, wie etwa im Falle privater psychiatrischer Einrichtungen, obliegen dem Staat Überwachungs- und Kontrollpflichten zum Schutz der Patienten.277 Entsprechendes gilt für Vorschriften zum Schutze von Kindern.278 Auch in Fällen wie dem Umweltrecht, in denen inhaltliche Beurteilungsspielräume für den Staat anerkannt werden, stärkt der EGMR den Grundrechtsschutz durch die Annahme positiver staatlicher Verfahrenspflichten auf der Grundlage des Art 8 I EMRK.279 Positive Pflichten können etwa auch in der Bereitstellung von Informationen im Falle von Gesundheitsgefahren liegen.280 Gerade der Schutz familienrechtlicher Positionen begründet häufig eine beson- 62 dere Eilbedürftigkeit,281 so dass der Staat verpflichtet ist, entsprechende behördli-
272 EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90 – López Ostra/Spanien; Urt v 8.7.2003, 36022/97 – Hatton ua/Vereinigtes Königreich; Urt v 16.11.2004, 4143/02, §§ 53 ff – Moreno Gómez/Spanien. 273 EGMR, Urt v 23.9.2010, 1620/03, §§ 53 ff – Schüth/Deutschland; Urt v 14.5.2020, 48534/10, 19532/15, §§ 103 ff – Rodina/Lettland; EGMR (GK), Urt v 17.1.2019, 29683/16, §§ 63 ff – X/EJR Mazedonien; Urt v 10.9.2019, 37283/13 – Strand Lobben ua/Norwegen; Schabas EMRK, S 369. 274 EGMR, Urt v 26.3.1985, 8978/80, §§ 24 ff – X. und Y./Niederlande. 275 Vgl EGMR, Urt v 4.1.2005, 14462/03 – Pentiacova ua/Moldau; Urt v 17.3.2016, 23796/10, §§ 63 ff – Vasileva/Bulgarien. 276 EGMR, Urt v 20.3.2007, 5410/03 – Tysiąc/Polen. 277 EGMR, Urt v 16.6.2005, 61603/00 – Storck/Deutschland. 278 EGMR, Urt v 12.11.2013, 5786/08, §§ 81 ff – Söderman/Schweden. 279 S beispielhaft EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90, §§ 44 ff – López Ostra/Spanien; EGMR, Urt v 8.7.2003, 36022/97, §§ 96 ff – Hatton ua/Vereinigtes Königreich. 280 EGMR, Urt v 24.7.2014, 60908/11 ua, § 102 – Brincat ua/Malta; Urt v 5.12.2013, 52806/09 u 22703/10, §§ 233 ff – Vilnes ua/Norwegen. 281 EGMR, Urt v 24.4.2003, 36812/97, 40104/98, § 60 – Sylvester/Österreich.
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che und gerichtliche Verfahrensgestaltungen vorzusehen.282 Diese müssen für alle Betroffenen hinreichende Beteiligungsrechte vorsehen.283 Die positiven prozeduralen Pflichten des Staates aus Art 8 I EMRK verdrängen zwar nicht im Wege der Spezialität diejenigen aus Art 6 I EMRK, wenn es sich um gerichtliche Verfahren handelt; sie werden aber im Regelfall mit diesem in einem inhaltlichen Gleichlauf stehen, so dass auch der EGMR sich in seiner Rechtsprechung oftmals mit diesbezüglichen Verweisen auf die jeweils andere Grundrechtsgarantie begnügt.284 63 Positive Pflichten, die eher materieller Art sind und über die prozedurale Dimension hinausgehen, erfordern häufig eine Abwägung mit widerstreitenden Rechtspositionen Dritter, die im Grundsatz der allgemeinen Verhältnismäßigkeitsabwägung entsprechen. Ein Beispiel ist die Abwägung zwischen dem Recht auf Privatleben mit dem Recht der Pressefreiheit bei Berichterstattungen aus der Privatsphäre von Personen. Hier gesteht der EGMR staatlichen Gerichten, die in einem Rechtsstreit eine solche Abwägung bereits vornehmen mussten, Ermessensspielräume zu und verzichtet oft darauf, seine eigene Wertung an ihre Stelle zu setzen, sofern der Abwägungsvorgang selbst ordnungsgemäß war.285
4. Eingriffe 64 Eingriffe in die Rechtspositionen aus Art 8 I EGMR können durch direkte oder indi-
rekte staatliche Handlungen erfolgen.286 Insofern gelten die allgemeinen Grundsätze der Eingriffsdogmatik der EMRK (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 85 ff). Indirekte Eingriffe sind etwa im Bereich aufenthaltsbeendender Maßnahmen möglich, die als Konsequenz die Auflösung sozialer Beziehungen hätten. Im Fall von positiven Pflichten liegt der Eingriff in der Nichterfüllung. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs nimmt dabei im Einzelfall durchaus eine wertende Betrachtung vor, ob in Zweifelsfällen der Schwerpunkt der staatlichen Maßnahme in einem Eingriff in die abwehrrechtliche Dimension oder in der Verletzung einer positiven Pflicht be
282 EGMR, Urt v 8.7.1987, 9749/82, §§ 62 ff – W/Vereinigtes Königreich; Urt v 10.5.2001, 28945/95, § 72 – T.P. u K.M./Vereinigtes Königreich; Urt v 10.11.2005, 40324/98, § 89 – Süss; EGMR (GK), Urt v 10.9.2019, 37283/13 – Strand Lobben ua/Norwegen. 283 EGMR, Urt v 11.7.2000, 29192/95, §§ 71 f – Cılız/Niederlande; Urt v 26.2.2004, 74969/01, §§ 52 ff – Görgülü/Deutschland. 284 EGMR, Urt v 13.7.2000, 25735/94, § 66 – Elsholz/Deutschland; Urt v 8.4.2004, 11057/02, § 108 – Haase/Deutschland; Urt v 19.7.2012, 497/09, § 84 – Koch/Deutschland. 285 EGMR, Urt v 7.2.2012, 40660/08 u 60641/08, § 107 – von Hannover/Deutschland (Nr 2). 286 Kasuistik bei Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 61 ff.
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steht.287 Eine unmittelbare Direktwirkung zwischen Privaten ist auch bei Art 8 EMRK nicht anerkannt; handelt eine Privatperson, kommt allenfalls die Schutzpflichtendimension für den Staat in Betracht, was etwa bei gerichtlichen Entscheidungen in entsprechenden zivilrechtlichen Streitigkeiten zu berücksichtigen ist.288 Die Verfehlung eines Staates, geeignete gesetzliche Regelungen zur Sicherstellung der körperlichen Unversehrtheit des Betroffenen zu erlassen, wird vom EGMR ebenfalls als Verstoß gegen die positiven Pflichten, nicht als Eingriff in die abwehrrechtliche Dimension verstanden.289
5. Rechtfertigung Für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Rechte des Art 8 I EMRK ist die Schran- 65 kenbestimmung des Art 8 II EMRK maßgeblich, die strukturell in ihrem dreistufigen Test290 derjenigen der Art 9, 10 und 11 EMRK entspricht,291 sich also deutlich von den Rechtfertigungsprüfungen der Art 2 bis 5 EMRK unterscheidet. Der Eingriff bedarf dabei zunächst einer gesetzlichen Grundlage; fehlt diese, 66 entspricht sie nicht rechtsstaatlichen Anforderungen oder wird sie willkürlich herangezogen, liegt in jedem Falle ein Verstoß gegen Art 8 EMRK vor. Dies ist in ständiger Rechtsprechung des EGMR anerkannt.292 Wenn die Rechtsprechung betont, dass die gesetzliche Grundlage rechtsstaatlichen Anforderungen genügen muss,293 ist insbesondere die Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der gesetzlichen Regelung wesentlich; nicht hingegen ist erforderlich, dass es sich um ein klassisches Parlamentsgesetz handelt.294 Auch ungeschriebene Normen können als Gesetze iSd Art 8 II EMRK begriffen werden.295
287 Vgl beispielhaft EGMR, Urt v 10.4.2007, 6339/05, §§ 75 f – Evans/Vereinigtes Königreich. 288 EGMR, Urt v 26.2.2004, 74969/01 – Görgülü/Deutschland; s auch BVerfGE 108, 82. 289 EGMR, Urt v 16.12.2010, 25579/05, §§ 244 ff – A., B. und C./Irland. 290 EGMR, Urt v 25.9.2018, 76639/11, § 92– Denisov/Ukraine. 291 Vgl Schabas EMRK, S 401 f. 292 Vgl etwa EGMR, Urt v 23.9.1998, 27273/95, §§ 36 ff – Petra/Rumänien; Urt v 29.6.2006, 54934/00, §§ 81 ff – Weber u Saravia/Deutschland. Der Unterschied der authentischen englischen Sprachfassungen des Art 8 II EMRK („as is in accordance with the law“) im Vergleich zu denen der Art 9 II, 10 II und 11 II EMRK („as are prescribed by law“) begründet keinen Unterschied, wie die ebenfalls authentische französische Vertragsfassung zeigt, die durchweg dieselbe Formulierung verwendet („prévue/prévues par la loi“). 293 EGMR, Urt v 12.5.2000, 35394/97, § 26 – Khan/Vereinigtes Königreich. 294 Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 92 ff. 295 S allg EGMR, Urt v 26.4.1979, 6538/74, § 47 – Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr 1).
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Als legitime Ziele für eine Eingriffsrechtfertigung sind in Art 8 II EMRK die nationale oder öffentliche Sicherheit, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten, der Schutz der Gesundheit oder der Moral sowie der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer genannt. Die legitimen Ziele sind abschließend, aber sachlich weit genug gefasst, um auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung296 den Mitgliedstaaten effektive Rechtfertigungsmöglichkeiten einzuräumen. Zudem erkennt die Rechtsprechung auch bei Art 8 II EMRK Ermessensfreiräume der Mitgliedstaaten an, die je nach der Intensität des Eingriffs, seiner Bedeutung für Privatleben und Persönlichkeit sowie der Bedeutung für das Allgemeininteresse unterschiedlich weitreichend sind.297 Die Schwerpunkte der Rechtfertigungsgründe bezogen auf die einzelnen Schutzgehalte des Art 8 I EMRK sind dabei in der Rechtsprechung durchaus unterschiedlich. In Betracht kommen beispielsweise erforderliche Eingriffe im Bereich der Strafverfolgung298 oder zugunsten sonstiger Sicherheitsinteressen des Staates.299 Weitere wesentliche Bereiche sind der Schutz der Rechte Dritter300 und die Gewährleistung der öffentlichen Gesundheit, wobei dem Staat hier einmal mehr Ermessensspielräume gewährt werden.301 Dies gilt auch für Bereiche, die etwa im Falle des medizinischen Fortschritts in ethischer Hinsicht noch keinen europaweiten Konsens in der Behandlung erzielt haben.302 Auch wirtschaftliche Erwägungen sind nicht per se als unzulässig zurückzuweisen,303 was konsequent ist, da die EMRK anders als etwa das Unionsrecht keine einheitlichen wirtschaftsbezogenen Regeln für die Mitgliedstaaten enthält und ihre wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Entscheidungen daher nicht grundsätzlich in Zweifel ziehen kann. Vergleichbare Erwägungen gelten für das Familienrecht, welches ebenfalls Gestaltungsspielräume für die Mitgliedstaaten bereithält, allerdings im Falle der Betroffenheit von Kindern besonders deren Wohl und ihre Beziehungen in der Familie beachten muss.304 Diese Maßstäbe gelten auch für die Sozialisation von Kindern durch den Schul-
296 EGMR, Urt v 27.8.2015, 46470/11, § 163 – Parrillo/Italien. 297 Schabas EMRK, S 368 mwN. Vgl auch EGMR, Urt v 18.1.2018, 48151/11, 77769/13 – Fédération nationale des associations et syndicats de sportifs (FNASS) ua/Frankreich. 298 EGMR, Urt v 13.5.2008, 52515/99, § 72 – Juhnke/Türkei. 299 EGMR, Entsch v 9.3.2004, 46210/99 – Wretlund/Schweden (Zulässigkeitsentscheidung). 300 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, § 69 – Pretty/Vereinigtes Königreich; Urt v 27.8.2015, 46470/11, § 167 – Parrillo/Italien. 301 EGMR, Urt v 13.11.2012, 47039/11, 358/12, § 119 – Hristozov ua/Bulgarien. 302 Vgl EGMR, Urt v 10.4.2007, 6339/05, §§ 77 ff – Evans/Vereinigtes Königreich. 303 Vgl EGMR, Urt v 8.7.2003, 36022/97, §§ 98 ff – Hatton ua/Vereinigtes Königreich. 304 Vgl EGMR, Urt v 26.2.2004, 74969/01, §§ 42 f – Görgülü/Deutschland; Urt v 15.9.2011, 17080/07, §§ 93 f – Schneider/Deutschland.
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besuch, weswegen sog. Homeschooling von den Mitgliedstaaten verboten werden darf.305 Die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs ist auch bei Art 8 II EMRK eine entschei- 68 dende Rechtmäßigkeitsvoraussetzung. Dies gilt in gleicher Weise für Eingriffe durch einen Verstoß gegen positive Verpflichtungen des Staates; auch hier findet in der Rechtfertigungsprüfung eine Abwägung statt, wobei anders als bei abwehrrechtlichen Fällen das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage im Regelfall entfällt.306 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung verbirgt sich textlich hinter der Formel der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft und setzt wie auch bei anderen Grundrechten der EMRK ein dringendes soziales Bedürfnis voraus.307 Auch bei diesem Grundrecht gesteht die Rechtsprechung dem Staat Beurteilungs- und Gestaltungsspielräume zu. Eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung unter eingehender Beleuchtung des Einzelfalls findet insbesondere im Falle aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Ausländerrecht statt.308 Lösung Fall 3: Ein Verstoß gegen Art 8 EMRK setzt einen Eingriff in den Schutz des Privat- und/oder Familienlebens voraus. Durch die Ausweisung werden zum einen die sozialen Beziehungen des U in den Niederlanden betroffen, da er sein bisheriges privates Lebensumfeld verlöre. Dies stellt einen Eingriff in den Schutz des Privatlebens dar. Zudem wäre er gezwungen, entweder allein unter Trennung von seiner Ehefrau und seinen Kindern in die Türkei zu übersiedeln oder diese dorthin mitzunehmen, was in beiden Fällen eine Änderung des familiären Zusammenlebens und einen Eingriff in den Schutz des Familienlebens bedeutet. Es liegt also ein Eingriff in beide Schutzbereiche des Art 8 I EMRK vor. Dieser könnte indes nach Art 8 II EMRK gerechtfertigt sein. Der Eingriff beruht auf einer nationalen gesetzlichen Grundlage, die die umstrittene Rechtsfolge vorsieht; für Bedenken hinsichtlich der rechtsstaatlichen Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit gibt der Sachverhalt keinen Anhaltspunkt. Es kommen als Rechtfertigungsgründe in Anbetracht der zahlreichen Straftaten des U und der darauf basierenden Prognose der Schutz der öffentlichen Sicherheit, die Verhütung von Straftaten und der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer in Betracht. Die Ausweisung müsste allerdings auch im Sinne eines dringenden sozialen Bedürfnisses „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein, was eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordert. Zur Erreichung der Ziele ist die Ausweisung in Anbetracht der negativen Prognose des voraussichtlichen künftigen Verhaltens des U geeignet. Gleich effektive, aber mildere Mittel sind auch nicht ersichtlich; dass die Ausweisung im Falle niederländischer Staatsangehöriger nach Art 3 I 4. ZP EMRK ausscheidet, so dass hier nur die Mittel des Strafrechts und des innerstaatlichen Gefahrenabwehrrechts gegeben sind, ändert aus Sicht der Erforderlichkeit nichts. Denn es widerspricht nicht per se Art 8 EMRK, Ausländer und Inländer in Bezug auf das Aufenthalts-
305 S in jüngerer Zeit wieder EGMR, Urt v 10.1.2019, 18925/15 – Wunderlich/Deutschland. 306 Vgl EGMR, Urt v 25.11.1994, 18131/91, § 38 – Stjerna/Finnland; EGMR, Urt v 10.4.2007, 6339/05 – Evans/Vereinigtes Königreich, §§ 75 ff; EGMR, Urt v 16.12.2010, 25579/05, § 247 – A., B. und C./Irland. 307 S zB EGMR, Urt v 28.9.2000, 25498/94, § 65 – Messina/Italien (Nr 2); Urt v 2.9.2010, 35623/05, § 78 – Uzun/Deutschland. 308 S die Kasuistik vgl die Nachw bei Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 107 ff.
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recht ungleich zu behandeln.309 Die besondere Situation des U als langjährig in den Niederlanden daueraufenthaltsberechtigter Ausländer und die hieraus resultierende Vergleichbarkeit seiner Situation mit der eines Inländers ist jedoch im Rahmen der Angemessenheit zu berücksichtigen. Die Rechtsprechung hat insofern mehrere Kriterien herausgearbeitet, die in der Ermessensentscheidung der Verwaltung der Abwägung zugrundegelegt werden müssen:310 Hierzu gehören die Art und Schwere der Straftaten, die Dauer des Aufenthalts des Betreffenden, sein Verhalten seit der Tatbegehung, die Familiensituation einschließlich des Vorhandenseins von Kindern, der Grad der Schwierigkeiten, die die Familienangehörigen, insbesondere die Kinder, im Falle einer Ausweisung zu bewältigen hätten, sowie die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Zielstaat der Ausweisung. Hier geben die Kriterien kein eindeutiges Ergebnis: Der schweren Straftat, der negativen Prognose auf der Basis des bisherigen Verhaltens, den zwar geringen, aber vorhandenen familiären Bezügen in die Türkei und dem durch die Kriminalität des U wenig stabilisierten Familienleben stehen die fehlenden Bezüge zur Türkei bei den Familienangehörigen sowie die negativen Implikationen der Ausweisung insbesondere auf die minderjährigen Kinder gegenüber. Der Gerichtshof hat im Ausgangsfall keinen Ermessensfehler im Sinne eines Verstoßes gegen die Grundrechte aus Art 8 I EMRK erkennen können. Diese Einschätzung wird man mit Blick auf das eigene soziale Leben des U teilen können. Anders kann man dies mit Blick auf den Schutz des Familienlebens sehen, da hier den Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte ein höheres Gewicht beizumessen ist.
309 EGMR (GK), Urt v 18.10.2006, 46410/99, §§ 54 ff – Üner/Niederlande; s auch EGMR, Urt v 27.10.2005, 32231/02, §§ 53 ff – Keles/Deutschland (für Immigranten der zweiten Generation). 310 EGMR, Urt v 2.8.2001, 54273/00, § 48 – Boultif/Schweiz; EGMR (GK), Urt v 18.10.2006, 46410/99, § 57 f – Üner/Niederlande; EGMR, Urt v 27.10.2005, 32231/02, § 57 – Keles/Deutschland; Urt v 28.6.2007, 31753/02, §§ 54 f – Kaya/Deutschland.
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§ 4.1.2 Schutz des Lebens, der Unversehrtheit sowie des Privat- und Familienlebens nach der GRCh I. Recht auf Leben und Unversehrtheit Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-377/98, Slg 2001, I-7079 ff – Niederlande/Parlament und Rat; EuGH (GK), Rs C-34/10, Slg 2011, I-9821 ff – Brüstle; EuGH (GK), Urt v 18.12.2014, Rs C-364/13, EuZW 2015, 321 ff – International Stem Cell Corporation/Comptroller General of Patents, Designs and Trade Marks.
Schrifttum: Alleweldt Recht auf Leben, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg), EMRK/GG, Bd I, 3. Aufl, 2022, Kap 10; Bertrand The right to life in European constitutional and international case-law, 2006; Breuer, Menschenwürde und weitere Fundamentalgarantien, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, Bd 2, 2022, § 8; von Bubnoff Schwerpunkte strafrechtlicher Harmonisierung in Europa unter Berücksichtigung der Orientierungsvorgaben aus der Grundrechtecharta 2000, ZEuS 2001, 165 ff; Calmes Le droit au respect de l’être humain, in: Burgorgue-Larsen (Hrsg), La France face à la Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, 2005, S 123 ff; Groh/Lange-Bertalot Der Schutz des Lebens Ungeborener nach der EMRK, NJW 2005, 713 ff; H Jung, Status und Schutz des Embryos, FS Schroeder, 2006 S. 809 ff; Kersten Das Klonen von Menschen, 2004; Korff The Right to Life. A Guide to the Implementation of Article 2 of the European Convention on Human Rights, 2006; Müller-Terpitz Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007; Rixen Recht auf Leben und Verbot der Todesstrafe, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl, 2020, § 14; ders Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl, 2020, § 15; Schmidt Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 2002, 631 ff; Taupitz Menschenwürde von Embryonen – europäisch-patentrechtlich betrachtet, GRUR 2012, 1 ff; Vauchez Biomedicine and EU Law: Unlikely Encounters?, Legal Issues of Economic Integration 38 (2011), 5 ff; Vönecky/Petersen Der rechtliche Status des menschlichen extrakorporalen Embryos: Das Recht der Europäischen Union, EuR 2006, 340 ff; Wallau Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010; Wicks The Meaning of ‘Life’: Dignity and the Right to Life in International Human Rights Treaties, HRLR 12 (2012), 199 ff; A Wolf Staatliche Steuerung der Biotechnologie am Beispiel des Klonens von Menschen, 2005.
1. Recht auf Leben und Verbot der Todesstrafe (Art 2 GRCh) a) Systematische Einordnung Das in Art 2 GRCh garantierte Recht auf Leben schließt unmittelbar an die Men- 1 schenwürdegarantie des Art 1 GRCh an.1 Dadurch wird die „untrennbare Einheit
1 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 1 u 27; ausf zu Art 1 GRCh s → Schorkopf, § 3. Andrea Edenharter https://doi.org/10.1515/9783110716740-006
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
von Menschenwürde und Lebensrecht“2 zum Ausdruck gebracht. Die Bedeutung des Rechts auf Leben ergibt sich schon daraus, dass ohne Leben die anderen, nachfolgenden Grundrechte nicht verwirklicht werden können.3 Art 2 II GRCh enthält zusätzlich das explizite Verbot der Verurteilung zur Todesstrafe und der Hinrichtung, das seinerseits, ebenso wie das Recht auf Leben, ein subjektives Recht darstellt.4 Dies ändert jedoch nichts daran, dass es sich bei Art 2 GRCh um ein einheitliches Grundrecht handelt.5 Art 2 I GRCh ist Art 2 I 1 EMRK nachgebildet.6 Art 2 II GRCh wurde vor dem Hintergrund von Art 1 und 2 von Protokoll Nr 6 EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe konzipiert,7 welches seit Inkrafttreten von Protokoll Nr 13 EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe, das die Todesstrafe auch in Kriegszeiten ausschließt, allerdings überholt ist. Damit entspricht Art 2 GRCh den Vorgaben aus Art 2 EMRK und den genannten Zusatzprotokollen, so dass das Grundrecht nach Art 52 III 1 GRCh auch inhaltlich mit den EMRK-Garantien übereinstimmt, was insbesondere im Hinblick auf die Einschränkungsmöglichkeiten von Relevanz ist.8 Das Verbot der Todesstrafe hat im Unionsrecht heute keine praktische Bedeutung,9 entfaltet aber Signalwirkung gegenüber Drittstaaten,10 gerade auch gegenüber Beitrittskandidaten, von denen die Abschaffung der Todesstrafe vorab erwartet wird.11 In Bezug auf die Schutzwirkung lässt sich sagen, dass Art 2 GRCh sowohl ein Abwehrrecht als auch ein Recht auf Leistung verbürgt, aus dem eine Schutzpflicht der Union und der Mitgliedstaaten zum Schutz des Lebens folgt.12 Eine unmittelbare Wirkung des Art 2 GRCh gegenüber Privaten besteht indes nicht.13 2 Art 2 GRCh verpflichtet sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten, Letztere nach Art 51 I 1 GRCh allerdings nur, soweit sie Unionsrecht durchführen.14 Die grundrechtliche Schutzpflicht setzt allerdings eine Kompetenz im Unionsrecht voraus, da
2 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 1. 3 Alleweldt Recht auf Leben in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 10 Rn 7. 4 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRC Rn 27; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 26; für eine bloße Schranken-Schranke hingegen Jarass GRCh, Art 2 Rn 1. 5 Jarass GRCh, Art 2 Rn 1. 6 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (17 f); zu Art 2 EMRK s → Germelmann § 4.1.1 Rn 7 ff. 7 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (17 f). 8 Jarass GRCh, Art 2 Rn 1; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRCh Rn 1. 9 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 1. 10 Jarass GRCh, Art 2 Rn 2; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 18. 11 Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 2 Rn 44. 12 van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRCh Rn 6; Jarass GRCh, Art 2 Rn 3. 13 Jarass GRCh, Art 2 Rn 3. 14 Grundlegend EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C‑617/10, NVwZ 2013, 561 Rn 17 ff – Åkerberg Fransson; Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 2 Rn 39 ff.
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§ 4.1.2 Leben, Unversehrtheit, Privat-und Familienleben: GRCh
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Art 2 GRCh selbst nach Art 52 II GRCh keine Kompetenz gewährt.15 Die Verpflichtung der Union aus Art 2 GRCh kann insbesondere im Zusammenhang mit Polizei- und Militäreinsätzen unter EU-Kommando relevant werden, etwa bei Antiterroreinsätzen oder bei Auslandseinsätzen, sowie bei Aktionen der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Frontex).16 Außerdem können sich aus Art 2 I GRCh Schutzpflichten der Union und auch der Mitgliedstaaten etwa im Bereich des Umweltrechts oder des Arzneimittel- und Lebensmittelrechts ergeben.17 Zudem verlangt Art 2 GRCh, dass Union und Mitgliedstaaten im Rahmen von Art 51 I 1 GRCh aktive Maßnahmen zum Schutz des Lebens ergreifen, etwa, indem Tötungshandlungen durch Private unter Strafe gestellt und verfolgt werden.18 Bislang wurde das Grundrecht in der Rechtsprechung des EuGH noch nicht relevant,19 was sich damit erklären lässt, dass es kaum entsprechende Sachverhalte gibt, in denen der Union oder den Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht eine Verletzung des Lebensrechts zur Last gelegt werden kann. In Zukunft könnte sich dies jedoch ändern, wenn die Anzahl der Polizei- und Militäreinsätze unter EU-Kommando bzw. der Frontex-Einsätze zunimmt.20 Daneben können sich aus der Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten Berührungspunkte mit Art 2 GRCh ergeben.21 Nicht zuletzt kann sich aus der Aktivierung der Schutzpflichten aus Art 2 GRCh im Bereich des Umweltrechts oder des Arzneimittel- und Lebensmittelrechts eine entsprechende Judikatur des EuGH ergeben.22 Dabei ist zu beachten, dass zumindest der EGMR bislang staatliche Schutzpflichten im Zusammenhang mit Umweltbelastungen in erster Linie aus dem Recht auf Privatleben nach Art 8 EMRK23 und nicht aus dem Recht auf Leben nach Art 2 EMRK ableitet,24
15 Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 14 Rn 33; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 2 Rn 33. 16 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 41; Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 2 Rn 39; zur Bedeutung der Menschenwürdegarantie in diesen Fällen s → Schorkopf § 3 Rn 12. 17 Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 2 Rn 41. 18 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 37; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRCh Rn 6. 19 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 6. 20 S dazu → Rn 18. 21 Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 2 Rn 41. 22 Augsberg in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 2 GRCh Rn 5; Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 2 Rn 41; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 26; Frenz, EuR 2022, 3 (3 ff). 23 S dazu → Germelmann, § 4.1.1 Rn 42 ff. 24 S nur EGMR, Urt v 13.12.2012, 3675/04, 23264/04, NVwZ 2014, 429 Rn 133 – Flamenbaum ua/Frankreich.
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doch ist dies jedenfalls im Hinblick auf lebensgefährdende Umweltrisiken nicht überzeugend.25 Daher besteht durchaus Potential für eine eigenständige SchutzpflichtenJudikatur des EuGH zu Art 2 GRCh gerade im Umweltbereich. Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH dabei den Weg einschlägt, den das Bundesverfassungsgericht in seinem Klimabeschluss26 beschritten hat und ebenfalls das Konstrukt einer intertemporalen Freiheitssicherung entwirft. Voraussetzung für die Entwicklung einer solchen Judikatur im Zusammenhang mit dem Schutz vor den Gefahren des Klimawandels dürfte jedoch sein, dass der EuGH die Zulässigkeit einer Klimaklage bejaht und diese nicht, wie in der Rechtssache Armando Carvalho, unter Anwendung der Plaumann-Formel verneint.27 3 Im Verhältnis zum Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit aus Art 3 GRCh genießt Art 2 GRCh als lex specialis Vorrang, da eine Tötung stets immer auch einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit mit sich bringt.28 Entsprechendes gilt für das Verhältnis zu Art 4 GRCh, denn Folter bzw. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung tangieren stets zugleich die körperliche Unversehrtheit.29 Idealkonkurrenz besteht hingegen zum Verbot von Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel nach Art 5 GRCh.30 Im Verhältnis zu Art 19 II GRCh, welches ein Verbot der Ausweisung, Abschiebung und Auslieferung bei drohender Todesstrafe statuiert, tritt Art 2 GRCh zurück,31 da Art 19 II GRCh vor einer spezifischen Todesgefahr schützt.
b) Schutzbereich aa) Sachlicher Schutzbereich 4 Art 2 GRCh schützt das Leben. Darunter versteht man die biologisch-physische Existenz des Grundrechtsinhabers.32 Geschützt wird das Recht, am Leben zu bleiben. Nicht garantiert wird aber ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben, da andernfalls die Grenze zum Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit verwischt würde.33
25 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 15. 26 BVerfGE 157, 30 Rn 117 ff. 27 S EuGH, Urt v 25.3.2021, Rs C-565/19 P, Rn 48 – Armando Carvalho; s Winter, ZUR 2019, 259 (266 f) zur Entscheidung des EuG; zu Klimaklagen s auch → Calliess, § 8.3.2 Rn 23 ff. 28 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGR, Art 2 Rn 39; Jarass GRCh, Art 2 Rn 4. 29 Jarass GRCh, Art 2 Rn 4; aA Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 39. 30 Jarass GRCh, Art 2 Rn 4. 31 Jarass GRCh, Art 2 Rn 4; offen gelassen bei van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRCh Rn 8. 32 Jarass GRCh, Art 2 Rn 5; Schmidt, ZEuS 2002, 631 (645); van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRCh Rn 5. 33 Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 14 Rn 6 u 35; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRC Rn 14; Augsberg in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 2 GRCh Rn 3.
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§ 4.1.2 Leben, Unversehrtheit, Privat-und Familienleben: GRCh
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Nicht in den Schutzbereich von Art 2 GRCh fällt auch die Entscheidung gegen das eigene Leben, dh aus Art 2 GRCh lässt sich kein Recht auf Suizid oder aktive Sterbehilfe ableiten.34 Dafür spricht schon der Wortlaut der Norm, der ein Recht „auf Leben“ („to life“/„à la vie“), nicht aber ein Recht auf den Tod gewährt.35 Letzteres ergibt sich aus Art 7 GRCh.36
bb) Persönlicher Schutzbereich Grundrechtsträger ist jeder Mensch, also jede natürliche Person, während juris- 5 tische Personen und Personenvereinigungen nicht geschützt sind.37 Geschützt werden auch Personen im Wachkoma, weil es allein auf den rechtlichen Personenbegriff ankommt.38 Der Grundrechtsschutz endet mit dem Hirntod, dh dem Ausfall des gesamten Gehirns.39 Umstritten ist, ob auch das werdende Leben (nasciturus) dem persönlichen Schutzbereich unterfällt, was für die Zulässigkeit von Abtreibungen von Bedeutung ist.40 Der EGMR gewährt den Konventionsstaaten bei der Frage, ob auch das ungeborene Leben von Art 2 EMRK geschützt wird, einen Ermessensspielraum, was mit den unterschiedlichen Verfassungstraditionen begründet wird.41 Daher wird sich auch aus Art 2 GRCh keine endgültige Lösung ableiten lassen, zumal den europäischen Gerichten, solange es an einem europäischen Konsens fehlt, keine Vorreiterrolle zukommen sollte.42 Ähnlich gelagert ist das Problem der Zulässigkeit der Gewinnung embryonaler Stammzellen, welche idR mit der Zerstörung des Embryos einhergeht. Wenngleich der EuGH in der Rechtssache Brüstle in weiter Auslegung des Embryonenbegriffs iSv Art 6 der Biopatent-Richtlinie Patente auf derartige Stammzellenforschung verboten hat43 und sich dement34 EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, RJD 2002-III = EuGRZ 2002, 234, § 39 – Pretty/Vereinigtes Königreich; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRC Rn 5. 35 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRC Rn 16; Jarass GRCh, Art 2 Rn 5. 36 Jarass GRCh, Art 2 Rn 5. 37 Jarass GRCh, Art 2 Rn 6; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRCh Rn 5. 38 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 29 f; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 2 Rn 13; Jarass GRCh, Art 2 Rn 6. 39 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 2 Rn 23 f. 40 Jarass GRCh, Art 2 Rn 6; dafür etwa Rixen Recht auf Leben und Verbot der Todesstrafe in: Heselhaus/Nowak, GR, § 14 Rn 18; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 2 Rn 21; Wallau Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, S 253 f; dagegen Schmidt, ZEuS 2002, 631 (637 u 644). 41 EGMR, Urt v 8.7.2004, 53924/00, RJD 2004-VIII = NJW 2005, 727, § 82 – Vo/Frankreich; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 Rn 6. 42 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 12; van Vormizeele in: Schwarze, EUKomm, Art 2 GRCh Rn 5. 43 EuGH (GK), Rs C-34/10, Slg 2011, I-9821 – Brüstle.
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sprechend ein Schutz auch des Embryos von Art 2 GRCh andeutet,44 wird jedoch insoweit gegenwärtig noch ein Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten anzuerkennen sein.45 In Zukunft könnte sich angesichts des technologischen Fortschritts darüber hinaus die Frage stellen, inwieweit Mensch-Tier-Wesen, Künstliche Intelligenz (KI) oder Cyborgs dem persönlichen Schutzbereich des Art 2 GRCh unterfallen, doch gegenwärtig ist die Eröffnung des Schutzbereichs für derartige Entitäten abzulehnen, da eine Vergleichbarkeit mit Menschen bislang fehlt und überdies nicht von einem mitgliedstaatlichen Konsens bei dieser Frage auszugehen ist.46
c) Eingriffe 6 Ein Eingriff in den Schutzbereich von Art 2 GRCh liegt vor, wenn die Union oder ein
Mitgliedstaat in zurechenbarer Weise den Tod eines Menschen durch positives Handeln verursacht, insbesondere anordnet.47 Ein derartiger Eingriff kann beispielsweise dann vorliegen, wenn Frontex-Einheiten an den EU-Außengrenzen sog Pushbacks durchführen, also unter Verstoß gegen (völker-)rechtliche Vorgaben, insbesondere den Non-Refoulement-Grundsatz,48 schutzsuchende Menschen zurückdrängen, so dass diese in Lebensgefahr, zB durch Ertrinken im Mittelmeer, geraten. Eine Tötung durch Privatpersonen stellt keinen Eingriff dar, doch kann in diesem Fall eine Schutzpflichtverletzung der Union oder der Mitgliedstaaten vorliegen, soweit nach Art 51 I 1 GRCh eine Bindung an die Grundrechte-Charta besteht.49 Entsprechendes gilt, wenn die Grundrechtsverpflichteten drohende Tötungen nicht abwenden oder gegen Gefährdungen des Lebens, etwa durch Umwelt- oder Naturgefahren, nichts unternehmen,50 doch besteht idR ein weiter Gestaltungsspielraum der Grundrechtsverpflichteten.51 Schuldhaftes oder gar vorsätzliches Verhalten ist
44 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 31. 45 Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 2 Rn 17; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 2 GRCh Rn 8 u 13; für einen Schutz durch Art 2 GRCh hingegen Höfling/Kempny in: Stern/ Sachs GRCh, Art 2 Rn 51 ff. 46 Zu dem Problem s auch Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 2 Rn 18. 47 Augsberg in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 2 GRCh Rn 9; Jarass GRCh, Art 2 Rn 7. 48 S dazu Graf/Budelmann A pushback against international law?, Legal analysis of allegations against the Frontex mission in the Mediterranean, Völkerrechtsblog, 8.12.2020, abrufbar unter https://voelkerrechtsblog.org/a-pushback-against-international-law/ (zuletzt abgerufen am 25.5. 2023). 49 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 2 Rn 27; Jarass GRCh, Art 2 Rn 7; s → Rn 2. 50 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 19; Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRCKommentar, Art 2 Rn 28; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 47; s → Rn 2. 51 Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 14 Rn 33.
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für die Annahme einer Beeinträchtigung von Art 2 GRCh nicht erforderlich.52 Beispiele für einen Eingriff in Art 2 GRCh sind der staatliche Schusswaffengebrauch,53 die Verpflichtung zu lebensgefährlichen Tätigkeiten sowie die staatlich praktizierte Euthanasie.54 Angesichts der in solchen Fällen häufig schwierigen Beweisführung gilt nach den vom EGMR aufgestellten Grundsätzen55 eine Beweislastumkehr zu Lasten der staatlichen Organe.56
d) Rechtfertigung Einschränkungen des Rechts auf Leben sind nur in Ausnahmefällen zulässig.57 7 Eine derartige Ausnahme stellt der sog. finale Rettungsschuss, etwa zum Zweck der Geiselbefreiung, dar.58 Wegen Art 52 III 1 GRCh kommen die Vorgaben des Art 2 EMRK und somit auch die Ausnahmen des Art 2 II EMRK zum Tragen,59 bei denen es sich um Einschränkungsgründe handelt.60 Danach wird eine Tötung nicht als Verletzung des Lebens betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen, b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern, oder c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen. Die in lit a genannte Konstellation betrifft Fälle der staatlichen Notwehr oder der Nothilfe, zu denen der polizeiliche Schusswaffengebrauch bis hin zum finalen Rettungsschuss zählt.61 Bei lit b darf, anders als bei lit a, keine Tötungsabsicht bestehen, da die gezielte Tötung zum Zweck der Festnahme und Fluchtverhinderung bereits ungeeignet wäre.62 Unter „Aufstand“ iSv Art 2 II lit c ist die einem revolutionären Geschehen gleichkommende Erhebung eines Teils der Bevölkerung gegen die Staatsgewalt zu verstehen.63
52 Jarass GRCh, Art 2 Rn 7. 53 EGMR, Urt v 20.5.1999, 21594/93, RJD 1999-III, § 83 – Oğur/Türkei; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 35. 54 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 18. 55 EGMR, Urt v 27.6.2000, 21986/93, RJD 2000-VII, § 100 – Salman/Türkei. 56 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, GRCh, Art 2 Rn 35; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 18. 57 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 80 – Schmidberger. 58 Augsberg in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 2 GRCh Rn 11. 59 Augsberg in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 2 GRCh Rn 10. 60 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 2 Rn 39; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 21. 61 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 22. 62 EGMR, Urt v 6.7.2005, 43577/98 u 43579/98, RJD 2005-VII, §§ 96 f – Nachova ua/Bulgarien. 63 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 20 Rn 17. Andrea Edenharter
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„Aufruhr“ ist demgegenüber eine Situation, in der eine Menschenmenge Gewalttaten in größerem Umfang begeht oder zu begehen droht.64 Eingriffe in das Recht auf Leben bedürfen einer gesetzlichen Grundlage iSv Art 52 I 1 GRCh und müssen stets „unbedingt erforderlich“ sein, um die mit ihnen verfolgten Ziele zu erreichen. Es ist mithin eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen.65 Zudem beinhaltet der Einschränkungsvorbehalt eine verfahrensrechtliche Dimension, dh es muss das Diskriminierungsverbot beachtet werden und es müssen präventiv ausreichende Vorkehrungen getroffen werden, etwa durch die Etablierung entsprechender Kontrollsysteme.66
e) Verbot der Todesstrafe 8 Nach Art 2 II GRCh ist die Verhängung der Todesstrafe sowie deren Vollstre-
ckung durch Hinrichtung ausnahmslos verboten.67 Todesstrafe ist die Verurteilung eines Menschen zum Tode als staatliche Reaktion auf die Verwirklichung einer Straftat, einschließlich der Vollstreckung.68 Es handelt sich bei Art 2 II GRCh um ein eigenständiges, uneinschränkbares Grundrecht,69 was auch durch das Inkrafttreten des 13. Protokolls zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe zum 1.7.2003 zum Ausdruck kommt, das die Todesstrafe sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten abschafft und das Polen70 als letzter EU-Mitgliedstaat mit Wirkung vom 1.9.2014 ratifiziert hat.71 Daher ist auch jede Mitwirkung an einer von Drittstaaten verhängten oder vollstreckten Todesstrafe im Wege der Beihilfe oder Duldung verboten.72
64 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 20 Rn 17. 65 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 25. 66 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 2 Rn 35; Jarass GRCh, Art 2 Rn 12. 67 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 27; Frenz GR, Rn 916 f; Rixen in: Heselhaus/ Nowak, GR, § 14 Rn 46. 68 Augsberg in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 2 GRCh Rn 6. 69 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRC Rn 27; aA Jarass GRCh, Art 2 Rn 13, der in der Vorschrift nur eine Grenze für Grundrechtseinschränkungen sieht; s → Rn 1. 70 BGBl 2014 II, 435; s oben, Rn 1. 71 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 27. 72 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGR, Art 2 Rn 47; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 GRCh Rn 27; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 2 GRCh Rn 8.
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§ 4.1.2 Leben, Unversehrtheit, Privat-und Familienleben: GRCh
2. Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit (Art 3 GRCh) a) Systematische Einordnung Art 3 GRCh schützt die körperliche und geistige Integrität des Menschen ein- 9 schließlich der biomedizinischen Unversehrtheit, welche in Absatz 2 aufgegriffen wird.73 Art 3 GRCh schließt als Konkretisierung der Menschenwürde in der Biomedizin74 unmittelbar an diese an und ist daher weit auszulegen. Von Relevanz ist Art 3 GRCh gerade im Hinblick auf die in Art 4 der Präambel der Grundrechte-Charta angesprochene wissenschaftliche und technologische Entwicklung.75 In den Charta-Erläuterungen wird das Grundrecht auf die Rechtsprechung des EuGH76 sowie auf das Übereinkommen des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin (Biomedizin-Konvention) einschließlich des dazugehörigen Zusatzprotokolls77 sowie auf Art 7 I lit g des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs78 gestützt.79 In der EMRK findet sich keine vergleichbare Garantie. Teilweise kommt jedoch Art 8 EMRK über den Schutz des Privatlebens zum Tragen.80 Entsprechendes gilt für Art 2 EMRK (Recht auf Leben) sowie Art 3 EMRK (Folterverbot).81 Bei Art 3 GRCh handelt es sich um ein einheitliches, einklagbares Grundrecht, was auch im Hinblick auf Art 3 II GRCh gilt.82 Die Vorschrift enthält sowohl ein Abwehrrecht als auch ein Leistungsrecht, welches insbesondere eine Schutzpflicht zu Gunsten der körperlichen und geistigen Unversehrtheit auslösen kann.83 Art 3 GRCh verpflichtet die Union und auch die Mitgliedstaaten, Letztere nach Art 51 I 1 GRCh allerdings nur, so-
73 Jarass GRCh, Art 3 Rn 2. 74 Wallau Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, S 259 ff; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 3 Rn 1. 75 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 3 Rn 1. 76 EuGH, Rs C-377/98, Slg 2001, I-7079, Rn 70 u 78 ff – Niederlande/Parlament u Rat. 77 Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin vom 4.4.1997 und Zusatzprotokoll vom 12.1.1998, ETS 164 u ETS 168. 78 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.7.1998, BGBl 2000 II, 1393. 79 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (18). 80 EGMR, Urt v 16.6.2005, 61603/00, RJD 2005-V, § 143 – Storck/Deutschland; Entsch v 23.9.2010, 1620/ 03, RJD 2010, § 53 – Schüth/Deutschland; Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 6; Jarass GRCh, Art 3 Rn 1. 81 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 2; Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRCKommentar, Art 3 Rn 6. 82 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 39; Jarass GRCh, Art 3 Rn 1 f; Breuer in: EnzEuR, Bd 2, § 8 Rn 49; aA aber Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 3 Rn 41, der Art 3 II GRCh als bloße Grundsätze einstuft. 83 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 8; Jarass GRCh, Art 3 Rn 2; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 GRCh Rn 3.
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weit sie Unionsrecht durchführen. Zu beachten ist, dass die Anwendung von Art 3 GRCh schon auf Grund von Art 52 II GRCh nicht zu einer Ausweitung der Unionskompetenzen führen darf, mithin eine Unionskompetenz vorliegen muss, damit das Grundrecht überhaupt Wirkung entfalten kann.84 Im biologischen und medizinischen Bereich sind die EU-Zuständigkeiten bislang begrenzt, so dass sich Kompetenzen mit Bezug zu Art 3 GRCh vorwiegend dann ergeben, wenn zugleich ein Binnenmarkt- oder Wettbewerbsbezug besteht,85 wie das Beispiel der Biopatent-Richtlinie zeigt.86 Allerdings kann Art 3 GRCh sehr wohl Wirkung entfalten, wenn Aktionen von EU-geführten Streitkräften oder Polizeikräften sowie von Frontex-Einheiten zu beurteilen sind,87 da hier die Grundrechte-Charta Anwendung findet. Auch bei Dienstunfällen von EU-Beschäftigten kann Art 3 GRCh relevant werden.88 Private werden durch Art 3 GRCh nicht unmittelbar verpflichtet, doch kann sich eine Schutzpflicht der Union oder der Mitgliedstaaten aus dem Grundrecht zum Erlass gesetzlicher Regelungen zum Schutz der körperlichen oder geistigen Integrität ergeben, wobei freilich ein weiter Beurteilungsspielraum besteht.89 Darüber hinaus sind privatrechtliche Normen im Lichte von Art 3 GRCh auszulegen.90 10 Im Verhältnis zu Art 2 und Art 4 GRCh tritt Art 3 GRCh zurück,91 da die beiden genannten Garantien vor speziellen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit schützen. Art 35 GRCh hingegen hat als bloßer Grundsatz iSv Art 52 V GRCh keinen Vorrang vor Art 3 GRCh.92
b) Schutzbereich aa) Sachlicher Schutzbereich 11 Schutzgut des Art 3 GRCh ist die körperliche und geistige Unversehrtheit. Auf die genaue Abgrenzung zwischen körperlicher und geistiger Unversehrtheit kommt es indes angesichts der identischen Rechtsfolgen nicht an.93 Unversehrtheit ist der
84 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 3 Rn 14. 85 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 19. 86 EuGH, Rs C-377/98, Slg 2001, I-7079, Rn 27 ff – Niederlande/Parlament u Rat. 87 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 10; s auch → Rn 2. 88 EuGH, Rs C-257/98 P, Slg 1999, I-5251 – Lucaccioni; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 3 Rn 6. 89 Augsberg in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 3 GRCh Rn 5; Calliess in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 2 u 11. 90 Jarass GRCh, Art 3 Rn 3. 91 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 12; Jarass GRCh, Art 3 Rn 4. 92 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 12; Jarass GRCh, Art 3 Rn 4. 93 van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 GRCh Rn 3; Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRCKommentar, Art 3 Rn 15; Jarass GRCh, Art 3 Rn 5.
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§ 4.1.2 Leben, Unversehrtheit, Privat-und Familienleben: GRCh
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Status Quo vor der schädigenden Einwirkung, selbst wenn damals schon eine Erkrankung vorlag, Art 3 GRCh schützt mithin nicht nur den „gesunden“ Status Quo.94 Erfasst wird die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinn, aber auch die geistige Gesundheit und das seelische Wohlbefinden.95 Daneben wird auch die biomedizinische bzw. genetische Unversehrtheit einschließlich der Erbanlagen geschützt.96 Zudem fällt auch die Selbstbestimmung über den Körper, insbesondere das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, etwa bei Geschlechtsumwandlungen, in den Schutzbereich von Art 3 GRCh.97
bb) Persönlicher Schutzbereich Wie bei Art 2 GRCh können auch bei Art 3 GRCh nur natürliche Personen Grund- 12 rechtsträger sein. Ob auch das ungeborene Leben geschützt ist, ist umstritten und wird auch nicht dadurch geklärt, dass nach Art 3 II lit d das Klonen, welches gerade bei Ungeborenen in Betracht kommt, verboten ist.98 Allerdings entfaltet Art 3 GRCh in seiner objektiv-rechtlichen Dimension wegen der in Art 3 II GRCh aufgeführten Vorgaben Schutzwirkungen im Hinblick auf die genetische Unversehrtheit künftiger Generationen.99
c) Eingriffe Ein Eingriff in Art 3 GRCh liegt vor, wenn die EU oder ein Mitgliedstaat durch positi- 13 ves Handeln oder durch Unterlassen maßgeblich zur Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Unversehrtheit eines Menschen beiträgt.100 Dies ist dann der Fall, wenn Einwirkungen auf die Substanz des Körpers vorgenommen werden, dessen Beschaffenheit in anderer Weise verändert wird, Funktionsstörungen herbeigeführt werden oder wenn die körperliche oder geistige Gesundheit in sonstiger Weise tangiert wird.101 Beispiele hierfür sind staatlich angeordnete Blutentnahmen, Verstümmelungen, Impfzwang, Zwangssterilisationen, die sog „Ge-
94 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 16. 95 van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 GRCh Rn 3; gegen eine Einbeziehung auch des Wohlbefindens aber Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRC Rn 4 ff. 96 Jarass GRCh, Art 3 Rn 5. 97 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 5; Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 15 Rn 14; Jarass GRCh, Art 3 Rn 5. 98 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 3; Jarass GRCh, Art 3 Rn 6. 99 Vgl Jarass GRCh, Art 3 Rn 6. 100 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 37; Jarass GRCh, Art 3 Rn 7. 101 Vgl Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 15 Rn 27; Jarass GRCh, Art 3 Rn 7.
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hirnwäsche“ durch staatliche Instanzen sowie das Neuroenhancement, bei dem kognitive oder emotionale Zustände verändert werden.102 Bereits die Schaffung hinreichend konkreter Gefährdungssituationen kann als Beeinträchtigung einzustufen sein.103 Zudem stellen nach Art 3 II lit b GRCh eugenische Praktiken einen Grundrechtseingriff dar.104 Entsprechendes gilt für DNA-Analysen.105 Darüber hinaus ist nach Art 3 II lit c GRCh der Handel mit Organen eine Grundrechtsbeeinträchtigung.106 Verschulden oder gar Vorsatz ist für das Vorliegen eines Eingriffs nicht erforderlich.107 Auch Heilbehandlungen sind als Eingriff zu qualifizieren, wie sich aus Art 3 II lit a GRCh entnehmen lässt.108 Ein Eingriff kann sich schließlich daraus ergeben, dass die EU oder ein Mitgliedstaat die ihm aus Art 3 GRCh erwachsenden Schutzpflichten missachtet. Dies gilt etwa im Bereich des Umweltschutzes,109 aber auch bei drohender häuslicher Gewalt durch Private oder bei Genitalverstümmelung, wobei den Grundrechtsverpflichteten hinsichtlich der Art und Weise des Schutzes freilich ein gewisser Spielraum zuzugestehen ist.110 14 Die Eingriffsqualität entfällt jedoch nach Art 3 II lit a GRCh dann, wenn eine wirksame Einwilligung im Sinne eines informed consent vorliegt, dh wenn der Betroffene frei zugestimmt hat, nachdem er zuvor nach den gesetzlichen Vorgaben des betroffenen Mitgliedstaates über die Folgen aufgeklärt wurde.111 Daher sind die rechtssetzenden Stellen verpflichtet, entsprechende einfach-gesetzliche Regelungen zu erlassen, welche die Einwilligung im Rahmen privatrechtlicher Behandlungsverträge regeln.112 Nachdem derartige gesetzliche Regelungen obligatorisch sind, erstreckt sich das Einwilligungserfordernis des Art 3 II lit a GRCh auf jegliches ärztliches Handeln, also auch auf solches, welches nicht von staatlichen Stellen angeordnet wurde.113 Aus der systematischen Stellung von Art 3 II lit a GRCh ergibt
102 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 3 Rn 37 f; Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 17 f; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 10. 103 Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 15 Rn 27; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 GRCh Rn 4. 104 Jarass GRCh, Art 3 Rn 7. 105 Jarass GRCh, Art 3 Rn 7. 106 Schmidt, ZEuS 2002, 631 (650); Jarass GRCh, Art 3 Rn 7. 107 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 10; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 GRC Rn 4; Jarass GRCh, Art 3 Rn 7. 108 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 20; Augsberg in: vd Groeben/ Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 3 GRCh Rn 8; Jarass GRCh, Art 3 Rn 8. 109 S dazu aber → Rn 2. 110 Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 15 Rn 21; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 11; Jarass GRCh, Art 3 Rn 10. 111 Jarass GRCh, Art 3 Rn 9; Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 21. 112 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 22. 113 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 12.
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sich jedoch, dass die Vorschrift keine Gefährdungen außerhalb der Medizin bzw. Biologie wie etwa die Kinderpornographie erfasst.114 In den Fällen des Art 3 II lit b–d GRCh führt die Einwilligung nicht zur Zulässigkeit, derartige Eingriffe sind mithin stets verboten.115
d) Rechtfertigung Bei Einschränkungen des Rechts auf Unversehrtheit sind, nachdem Art 52 III 1 GRCh 15 mangels inhaltsgleicher Garantie in der EMRK nicht einschlägig ist,116 die Voraussetzungen von Art 52 I 1 GRCh zu beachten. Insbesondere ist eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage erforderlich. Außerdem muss ein legitimes Ziel iSv Art 52 I 2 vorliegen, dh der Eingriff muss zu Gunsten einer von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung erfolgen oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dienen. Daneben muss das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt werden. Für die Bereiche der Biologie und Medizin ergeben sich aus Art 3 II lit b-d GRCh schließlich absolute Verbote, welche ausnahmslos greifen.117 Nach Art 3 II lit b GRCh sind eugenische Praktiken unzulässig, insbesondere dann, wenn sie auf die Selektion von Menschen ausgerichtet sind. Außerdem ist die Zwangssterilisation, die Erzwingung einer Schwangerschaft oder die Pflicht, den Ehepartner aus der gleichen Volksgruppe zu wählen, verboten.118 Nicht verboten ist hingegen die Präimplantationsdiagnostik (PID) zur Erkennung genetischer Defekte im Vorfeld einer künstlichen Befruchtung, da es sich hierbei um rein private Eugenik handelt.119 Art 3 II lit c GRCh verbietet die Nutzung des menschlichen Körpers oder seiner Teile als solche zur Erzielung von Gewinnen. Ein Bestandteil des menschlichen Körpers kann daher nicht Gegenstand der Aneignung sein, doch dürfen die Möglichkeiten der Biomedizin-Konvention120 ausgeschöpft werden.121 Nicht schrankenlos zulässig ist auch die Patentierung der Nutzung von Stammzellen.122 Nach Art 3 II lit d GRCh ist darüber hinaus das reproduktive Klonen, dh das Erzeu-
114 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 12. 115 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 23; Jarass GRCh, Art 3 Rn 9. 116 Köchle in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 3 Rn 53. 117 Jarass GRCh, Art 3 Rn 14; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 GRCh Rn 6. 118 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (18). 119 Frenz GR, Rn 977; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 GRCh Rn 14; Borowsky in: Meyer/ Hölscheidt, ChGr, Art 3 Rn 45. 120 Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin vom 4.4.1997, ETS 164. 121 Jarass GRCh, Art 3 Rn 16; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 GRCh Rn 9. 122 EuGH (GK), Rs C-34/10, Slg 2011, I-9821, Rn 32 f – Brüstle. Andrea Edenharter
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gen genetisch identischer menschlicher Lebewesen, generell verboten.123 Andere Formen des Klonens, etwa das sog therapeutische Klonen, können von den Mitgliedstaaten entweder zugelassen oder verboten werden.124 Über die in Art 3 II lit b–d GRCh ausdrücklich genannten Verbote hinaus können sich weitere Fälle ergeben, in denen auf Grund der Menschenwürde ein Einschränkungsverbot besteht.125 Dies folgt bereits aus der Formulierung „insbesondere“ in Art 3 II GRCh.
II. Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art 4 GRCh) Leitentscheidungen: EuGH (GK), Rs C-411/10, Slg 2011, I-13905 ff – N. S. ua; EuGH, Urt v 16.2.2017, Rs C-578/16 PPU, NVwZ 2017, 691 ff – C. K., H. F. und A. S./Slowenien; EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709 ff – Aranyosi und Căldăraru; EuGH (GK), Urt v 19.3.2019, Rs C-163/17, NJOZ 2019, 1063 ff – Jawo; EuGH, Urt v 25.7.2018, Rs C-220/18 PPU, NJW 2018, 3161 ff – ML; EuGH (GK), Urt v 19.3.2019, verb Rs C-297/17, C-318/17, C-319/17 u C-438/17,– Ibrahim ua; EuGH, Urt v 13.11.2019, verb Rs C-540/17 u C-541/17, NVwZ 2020, 137 ff – Hamed und Omar; EuGH, Urt v 16.7.2020, Rs C-517/17, NVwZ 2020, 1817 ff – Milkiyas Addis; EuGH (GK), Urt v 15.10.2019, Rs C-128/18, EuGRZ 2019, 498 ff – Dorobantu; EuGH (GK), Urt v 22.11.2022, Rs C-69/21– X.
Schrifttum: Bank Das Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg), EMRK/GG, Bd I, 3. Aufl 2022, Kap 11; Bergmann, Die Bedeutung der EU-Grundrechtecharta für den Flüchtlingsschutz, in: Calliess, (Hrsg), Herausforderungen an Staat und Verfassung, FS Stein, 2015, S 427 ff; Bülow/Schiebel Die Rechtsprechung Hamed und Omar des EuGH und ihre Folgen für die Abweisung eines Asylantrages als unzulässig, ZAR 2020, 72 ff; Bungenberg Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl 2020, § 16; Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren, NJW 2010, 3128 ff; Herbert Folter und andere Würdeverletzungen, EuGRZ 2014, 661 ff; Krammer Menschenwürde und Art 3 EMRK: Grundrechtsverletzungen in Form von Polizeigewalt und Haft, 2012; Meyer-Ladewig Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Kampf gegen Terrorismus und Separatismus, NVwZ 2009, 1531 ff; Prosenjak Der Folterbegriff nach Art 3 EMRK, 2011; Schwarz, Der Europäische Gerichtshof bestätigt die Sollbruchstellen der Anerkennung, EuR 2016, 421 ff; Schwarzburg Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012; Webster, Dignity, Degrading Treatment and Torture in Human Rights Law: The Ends of Article 3 of the European Convention on Human Rights, 2018; Wendel Rechtsstaatlichkeitsaufsicht und gegenseitiges Vertrauen – Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 25.7.2018, Rs. C216/18 PPU (Minister for Justice and Equality gegen LM), EuR 2019, 111 ff; Wittreck Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873 ff.
123 van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 GRCh Rn 10. 124 Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 15 Rn 33; Jarass GRCh, Art 3 Rn 17. 125 Jarass GRCh, Art 3 Rn 18. Andrea Edenharter
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Fall 1 (EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709 ff – Aranyosi und Căldăraru):
Herr Aranyosi ist ein in Ungarn geborener ungarischer Staatsangehöriger. Der Ermittlungsrichter am Distriktgericht Miskolc erließ im Jahr 2014 zwei Europäische Haftbefehle gegen ihn, um seine Übergabe an die ungarischen Justizbehörden zum Zweck der Strafverfolgung zu erwirken, da er u. a. des Einbruchsdiebstahls verdächtigt wurde. Im Januar 2015 wurde Herr Aranyosi in Deutschland auf Grund einer Festnahmeausschreibung im Schengener Informationssystem vorläufig festgenommen. Er gab bei der Vernehmung an, dass er bei seiner Mutter in Deutschland wohne, bestritt die ihm vorgeworfenen Taten und erklärte sich mit dem vereinfachten Übergabeverfahren nicht einverstanden. Daraufhin wurde er von der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft Bremen freigelassen, da aus deren Sicht keine Gefahr bestand, dass er sich dem Übergabeverfahren entziehen würde. Die Generalstaatsanwaltschaft Bremen fragte anschließend beim Distriktgericht Miskolc unter Hinweis auf die nicht den europäischen Mindeststandards genügenden Haftbedingungen in einigen ungarischen Haftanstalten an, in welcher Haftanstalt Herr Araynosi im Fall seiner Übergabe inhaftiert würde. Die Staatsanwaltschaft des Distrikts Miskolc erwiderte, dass die ungarischen Gesetze für das Strafverfahren entsprechende, auf europäischen Werten beruhende Garantien vorsähen. Daraufhin beantragte die Generalstaatsanwaltschaft Bremen, die Übergabe von Herrn Aranyosi an die ausstellende ungarische Justizbehörde zum Zweck der Strafverfolgung für zulässig zu erklären. Das zuständige OLG Bremen sah die Voraussetzungen an ein Übergabeersuchen im Rahmen des Europäischen Haftbefehlgesetzes (IRG) grundsätzlich als erfüllt an, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass möglicherweise ein Auslieferungshindernis iSv § 73 IRG vorliege, da es beachtliche Anhaltspunkte dafür gebe, dass Herr Aranyosi bei einer Übergabe an die ungarischen Justizbehörde Haftbedingungen ausgesetzt sein könnte, die Art 3 EMRK sowie die Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze iSv Art 6 EUV verletzen. Dies gelte umso mehr, als Ungarn schon mehrfach vom EGMR wegen unmenschlicher Haftbedingungen verurteilt worden sei. Auf Grund dieser Zweifel leitete das OLG Bremen ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH ein. Es wollte wissen, ob Art 1 III des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl126 so auszulegen sei, dass eine Auslieferung zum Zweck der Strafverfolgung unzulässig ist, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat die Grundrechte der betroffenen Person oder die allgemeinen Rechtsgrundsätze iSv Art 6 EUV verletzen oder ob er so auszulegen sei, dass der Vollstreckungsstaat in diesen Fällen die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung von einer Zusicherung der Einhaltung der Haftbedingungen abhängig machen kann oder muss.
126 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 Nr L 190, 1, geändert durch Rahmenbeschluss 2009/299/JI, ABl 2009 Nr L 81, 24. Andrea Edenharter
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1. Systematische Einordnung 17 Art 4 GRCh verbietet sowohl Folter als auch unmenschliche oder erniedrigende
Strafe oder Behandlung. Die Gewährleistung, die ein echtes Grundrecht enthält,127 steht damit in direktem Zusammenhang mit der Menschenwürdegarantie des Art 1 GRCh sowie mit dem in Art 3 GRCh verbürgten Schutz der körperlichen und geistigen Integrität.128 Eine Verletzung von Art 4 GRCh wird im Regelfall auch einen Verstoß gegen die sog Objektformel begründen und damit als Verstoß gegen Art 1 GRCh anzusehen sein.129 Dementsprechend ist ein Eingriff in Art 4 GRCh grundsätzlich nicht zu rechtfertigen.130 Art 4 GRCh ist mit Art 3 EMRK131 vollständig identisch. Nach Art 52 III 1 GRCh ist daher für die Bestimmung des Schutzgehalts von Art 4 GRCh insbesondere die Rechtsprechung des EGMR zu Art 3 EMRK von Bedeutung.132 Bemerkenswert ist, dass der EuGH aus der EGMR-Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK lange Zeit keine unmittelbaren Aussagen zur Auslegung von Art 4 GRCh hergeleitet hat, sondern die EGMR-Judikatur bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls lediglich zur Klärung der Frage, ob systemische Mängel in Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaates vorliegen, herangezogen hat.133 Eine Abkehr von dieser Haltung könnte in der Rechtssache Dorobantu zu sehen sein, wo der EuGH zunächst seine eigene Auslegung von Art 4 GRCh entfaltet, im Anschluss aber anfügt, dass seine Auslegung von Art 4 GRCh im Wesentlichen der Bedeutung entspreche, die der EGMR Art 3 EMRK beimesse.134 Die Garantie des Art 4 GRCh enthält sowohl ein Abwehrrecht gegen Eingriffe als auch ein Leistungsrecht, insbesondere auf Schutz, mithin eine Schutzpflicht zur Unterbindung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung durch Private oder Drittstaaten.135 Im Ver-
127 Jarass GRCh, Art 4 Rn 2. 128 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 1. 129 Vgl EuGH, verb Rs C-540/17 u C-541/17, NVwZ 2020, 137 ff, Rn 39 – Hamed und Omar; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 1; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 4 Rn 13; zur Objektformel s EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, § 33 – Tyrer/Vereinigtes Königreich; s auch → Schorkopf, § 3 Rn 5 ff. 130 Jarass GRCh, Art 4 Rn 2. 131 S dazu → Germelmann, § 4.1.1 Rn 26 ff. 132 EuGH, Rs C-465/07, Slg 2009, I-921, Rn 28 – Elgafaji; EuGH (GK), Urt v 19.3.2019, verb Rs C-297/17, C318/17, C-319/17 u C-438/17, Rn 89 – Ibrahim ua; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGR, Art 4 Rn 14; Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 13; Lukan in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 2; zu Art 3 EMRK s Bank Das Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 11 Rn 19 ff. 133 S nur EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709, Rn 89 – Aranyosi und Căldăraru; s dazu Breuer in: EnzEuR, Bd 2, § 8 Rn 28. 134 EuGH (GK), Urt v 15.10.2019, Rs C-128/18, EuGRZ 2019, 498 Rn 56 – Dorobantu.
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hältnis zu Art 2 GRCh tritt Art 4 GRCh zurück, insbesondere im Hinblick auf die Todesstrafe, da das Grundrecht auf Leben insoweit einen umfassenderen Schutz vermittelt.136 Gegenüber Art 3 GRCh hingegen geht Art 4 GRCh als das speziellere Grundrecht vor.137 Zunächst hatte es im Grundrechte-Konvent Zweifel gegeben, ob ein Verbot der 18 Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung überhaupt in der Charta verankert werden sollte, nachdem die EU über keine originäre Kompetenz zur Schaffung eines umfassenden supranationalen Strafrechts verfügt.138 Letztlich hat man sich für die Aufnahme einer entsprechenden Garantie entschieden, welche eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung entfaltet.139 Zudem verfügt die Union zumindest punktuell über die Befugnis zum Erlass strafrechtlicher Normen, insbesondere in Art 83 I, II AEUV.140 Auf dieser Grundlage erlässt die EU Richtlinien zur Harmonisierung nationaler Strafrechtsvorschriften sowie zur Schaffung nationaler Strafvorschriften zur Sanktionierung von Verstößen gegen Unionsrecht,141 so dass Art 4 GRCh gegenüber der EU selbst zumindest theoretisch zum Tragen kommen kann. Zudem kann Art 4 GRCh gegenüber der EU selbst in anderen Konstellationen auch praktische Bedeutung entfalten. So kann es bei militärischen Aktionen durch EU-geführte Einsatzkräfte im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu Eingriffen in Art 4 GRCh kommen, wobei freilich die nach Art 275 I AEUV fehlende Zuständigkeit des EuGH für die Grundrechtskontrolle im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu beachten ist.142 Ähnliches gilt für EU-geführte Polizeimaßnahmen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie für Aktionen der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Frontex), etwa, wenn an den EU-Außengrenzen aufgegriffene Geflüchtete durch Frontex-Angehörige auf unmenschliche Weise behandelt werden.143 Nach Art 82 der
135 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 4; Jarass GRCh, Art 4 Rn 3; Lukan in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 10 f. 136 Jarass GRCh, Art 4 Rn 4. 137 Jarass GRCh, Art 4 Rn 4. 138 Ausf dazu Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 4 Rn 5; Lukan in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 1. 139 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, Rn 4; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 4 Rn 13. 140 Suhr in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 83 AEUV Rn 1 ff. 141 Satzger in: EnzEuR, Bd 11, § 2 Rn 9 u 17. 142 Ausf zur parallelen Situation bei Art 6 GRCh Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 27 u 61; s → Edenharter, § 11.2 Rn 7. 143 Ausf zur parallelen Situation bei Art 6 GRCh Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 28; Ogorek in: Stern/Sachs, GRCh, Art 6 Rn 9; Lukan in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 30 f u 35 ff; s oben → Rn 6 sowie → Edenharter, § 11.2 Rn 7.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Verordnung (EU) 2019/1896144 über die Europäische Grenz- und Küstenwache ist die Einrichtung einer ständigen Reserve von 10 000 EU-Grenzschutzbeamten vorgesehen, die nach Art 82 der Verordnung auch mit eigenen Durchführungsbefugnissen einschließlich der Anwendung von Gewalt und Strafverfolgungsbefugnissen ausgestattet sind.145 Außerdem sind nach der auf Art 86 I AEUV iVm der EUStA-VO146 gestützten Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), welche ihre operative Tätigkeit im Jahr 2021 aufgenommen hat, Eingriffe in Art 4 GRCh durch Delegierte Europäische Staatsanwälte denkbar. Diese sind nicht nur dazu befugt, nationale Behörden zu strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen anzuweisen, sondern sie haben durch Art 28 I 1 EuStA-VO auch die Befugnis, solche Maßnahmen unmittelbar selbst zu treffen, so dass sie beispielsweise freiheitsentziehende Maßnahmen wie die Festnahme oder die Untersuchungshaft anordnen können.147 Wenn in der bloßen Anordnung einer entsprechenden freiheitsentziehenden Maßnahme, etwa wegen menschenunwürdiger Bedingungen in der Untersuchungshaft in dem fraglichen Mitgliedstaat, im Einzelfall bereits eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu sehen ist, kann ein Eingriff in Art 4 GRCh durch Delegierte Europäische Staatsanwälte in Betracht kommen. Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, welche bei Durchführung von Unionsrecht nach Art 51 I 1 GRCh an Art 4 GRCh gebunden sind, hat sich die Gewährleistung bereits jetzt als sehr relevant erwiesen, was zahlreiche EuGH-Entscheidungen aus den letzten Jahren belegen. Die Relevanz von Art 4 GRCh zeigt sich ferner daran, dass es eine Entscheidung zu diesem Grundrecht war, in der nunmehr auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die Heranziehung der Grundrechte-Charta als unmittelbaren Prüfungsmaßstab bejaht hat.148 Die Vorschrift kann damit durch die Heranziehung als unmittelbarer Prüfungsmaßstab, welche von zahlreichen mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten mittlerweile praktiziert wird,149 zusätzliche Bedeutung erlangen. Konkret wird Art 4 GRCh vor allem im Zusammenhang mit
144 Verordnung (EU) 2019/1896 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2019 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr 1052/2013 und (EU) 2016/1624, ABl 2019 Nr L 295, 1. 145 S dazu Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 69. 146 Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), ABl 2017 Nr L 283, 1. 147 Ausf dazu Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 68; s → Edenharter, § 11.2 Rn 7. 148 BVerfGE 156, 182 (Rn 38 ff) – Europäischer Haftbefehl III. 149 So etwa BVerfGE 152, 216 – Recht auf Vergessen II; BVerfGE 156, 216 – Europäischer Haftbefehl III; VerfGH Österreich, Erk v 14.3.2012, U 466/11 ua, VfSlg 19496/201; VerfGH Belgien, Entsch v 15.3.2018, Nr 29/2018; Conseil Constitutionnel, Urt v 26.7.2018, Nr 2018-768 DC; Corte costituzionale, Entsch v 23.1.2019, Nr 20/2019.
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§ 4.1.2 Leben, Unversehrtheit, Privat-und Familienleben: GRCh
Haftbedingungen in Gefängnissen,150 bei staatlichen Übergriffen im Polizeigewahrsam,151 bei Prügelstrafen152 sowie in Abschiebungsfällen153 bzw in Fällen der asylrechtlichen Überstellung154 in einen anderen EU-Mitgliedstaat im Rahmen des Dublin-III-Regimes herangezogen.155 Die Vorschrift schützt demnach auch vor Auslieferung oder Abschiebung in Staaten, in denen Folter droht, Art 19 II GRCh ist insoweit mithin nicht als lex specialis zu verstehen.156
2. Schutzbereich a) Sachlicher Schutzbereich Art 4 GRCh ist als einheitliches Grundrecht anzusehen.157 Die darin verbotenen Maß- 19 nahmen stehen in einem Stufenverhältnis.158 Der schwerste Eingriff ist die Folter, gefolgt von der unmenschlichen Behandlung oder Strafe, während die erniedrigende Behandlung oder Strafe am unteren Ende der Skala steht.159 Zur Bestimmung des Begriffs der Folter nach Art 3 EMRK wird auf Art 1 I der UN-Antifolterkonvention160 zurückgegriffen.161 Danach ist Folter die vorsätzliche Zufügung von großen körperlichen oder seelischen Schmerzen oder Leiden, in der Absicht, auf den Willen des Gefolterten oder eines Dritten einzuwirken, um ein Geständnis zu erlangen oder um Dritte zu terrorisieren.162 Als erste Voraussetzung muss demnach eine besonders in-
150 Vgl etwa EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709 ff – Aranyosi und Căldăraru; EuGH, Urt v 25.7.2018, Rs C-220/18 PPU, NJW 2018, 3161 ff – ML. 151 EGMR, Urt v 14.10.2008, 40631/02, NJOZ 2009, 4993 – Timergaliyev/Russland; Wittreck, DÖV 2003, 873 (875 ff); EGMR, Urt v 1.6.2020, 22978/05, RJD 2010, §§ 94 ff – Gäfgen/Deutschland; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 3. 152 EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72– Tyrer/Vereinigtes Königreich. 153 EuGH, Urt v 13.11.2019, verb Rs C-540/17 u C-541/17, NVwZ 2020, 137 ff – Hamed und Omar. 154 Vgl EuGH (GK), Urt v 21.12.2011, Rs C-411/10, Slg 2011, I-13905, Rn 81 ff – N. S. ua. 155 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 3. 156 EuGH (GK), Urt v 21.12.2011, Rs C-411/10, Slg 2011, I-13905, Rn 106 – N. S. ua; EuGH, Urt v 13.11.2019, verb Rs C-540/17 u C-541/17, NVwZ 2020, 137, Rn 39 ff – Hamed und Omar; aA aber Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 11; Lukan in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 26; für eine Spezialität von Art 19 GRCh auch EuGH (GK), Rs C-182/15, NJW 2017, 378, Rn 51 ff – Petruhhin. 157 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 7. 158 van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 4 GRCh Rn 4. 159 EGMR, Urt v 18.1.1978, 5310/71, A25, § 167 – Irland/Vereinigtes Königreich. 160 Vereinte Nationen, Übereinkommen gegen Folter und andere, grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984, Resolution 39/46 der Generalversammlung der UNO, BGBl 1990 II, 246; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 14. 161 Ausf dazu Prosenjak Der Folterbegriff nach Art 3 EMRK, 2011, S 14 ff. 162 Jarass GRCh, Art 4 Rn 6; Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 24.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
tensive Beeinträchtigung und eine besondere Grausamkeit vorliegen. Das Element der besonderen Schwere der Beeinträchtigung ist zugleich das zentrale Abgrenzungskriterium zwischen Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung.163 Allerdings sind auch weitere Faktoren wie die physischen und psychischen Wirkungen der Maßnahmen, das Geschlecht, das Alter und der Gesundheitszustand des Opfers bei der Qualifizierung der Beeinträchtigung zu berücksichtigen.164 Als zweite Voraussetzung muss die Verletzungshandlung vorsätzlich erfolgen und auf eine bestimmte Reaktion, zB das Erwirken eines Geständnisses, gerichtet sein.165 Drittens schließlich muss das Verhalten zumindest mittelbar einem Staat zugerechnet werden können, so dass Handlungen von Privaten, die nicht einem Staat zurechenbar sind, nicht als Folter iSv Art 4 GRCh zu qualifizieren sind,166 wobei Art 4 GRCh die EU und ihre Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, gegen Folter durch Private vorzugehen.167 Beispiele für Folterhandlungen sind systematische Schläge,168 Elektroschocks,169 vorgetäuschte Exekution oder Nahrungsmittelentzug.170 Auch die bloße Androhung von Folter kann bereits als Folter anzusehen sein.171 Gewaltanwendung in polizeilicher Obhut stellt immer eine Verletzung des Folterverbots dar, wenn dazu keine Notwendigkeit bestand.172 Der EGMR tendiert in der jüngeren Vergangenheit zu einer extensiven Auslegung des Folterbegriffs in Art 3 EMRK.173 Diese Tendenz ist wegen Art 52 III 1 GRCh auch im Rahmen des Art 4 GRCh zu beachten.174
163 EGMR, Urt v 18.1.1978, 5310/71, A25, § 167 – Irland/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 1.6.2020, 22978/05, RJD 2010 = NJW 2010, 3145 § 90 – Gäfgen/Deutschland; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 6. 164 EuGH, Urt v 25.7.2018, Rs C-220/18 PPU, NJW 2018, 3161 Rn 91 – ML; EGMR, Urt v 15.7.2002, 47095/ 99, NVwZ 2005, 303 § 95 – Kalashnikov/Russland; Urt v 1.6.2020, 22978/05, RJD 2010 = NJW 2010, 3145 Rn 88 – Gäfgen/Deutschland; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 6; Bank in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 11 Rn 17 ff. 165 Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 25. 166 Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 26; Jarass GRCh, Art 4 Rn 6 u 10. 167 S → Rn 2. 168 EGMR, Urt v. 4.7.2006, 18944/02 §§ 64 ff – Corsacov/Moldawien; Urt v 7.4.2015, 6884/11, §§ 177 ff – Cestaro/Italien; Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 24. 169 EGMR, Urt v 19.3.2009, 30033/05, § 124 – Polonskiy/Russland. 170 Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 24; Lukan in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 8. 171 EGMR, Urt v 1.6.2020, 22978/05, RJD 2010, § 108 – Gäfgen/Deutschland; Höfling/Kempny in: Stern/ Sachs, GRCh, Art 4 Rn 9. 172 EGMR, Urt v 11.7.2006, 54810/00, RJD 2006-IX = NJW 2006, 3117 § 77 – Jalloh/Deutschland; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 11. 173 So etwa in EGMR, Urt v. 28.7.1999, 25803/94, RJD 1999-V, § 101 – Selmouni/Frankreich; ausf dazu Prosenjak Der Folterbegriff nach Art 3 EMRK, 2011, S 148 ff. 174 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 10.
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Ist der Tatbestand der Folter nicht erfüllt, weil der Eingriff keine besondere 20 Grausamkeit aufweist, kann eine unmenschliche Behandlung oder Strafe gegeben sein. Die unmenschliche Behandlung oder Strafe ist von der Qualität des Eingriffs her eine Stufe unterhalb der Folter anzusiedeln. Eine unmenschliche Behandlung oder Strafe ist gegeben, wenn die Handlung ein intensives physisches oder psychisches Leiden verursacht und über einen längeren Zeitraum hinweg andauert, ohne die für die Folter erforderliche Intensität zu erreichen.175 Vorsatz zur Zufügung von intensivem Leid oder zur Erniedrigung des Opfers ist dabei nicht erforderlich.176 Beispiele für eine unmenschliche Behandlung oder Strafe sind bestimmte Praktiken des Schlagens bei Verhören, Vergewaltigungen, Nahrungsmittelentzug, Vorenthalten der medizinischen Versorgung oder die Verletzung der physischen Integrität.177 Bei der erniedrigenden Behandlung oder Strafe, der „mildesten“ Form der Verletzung von Art 4 GRCh, steht demgegenüber die besonders intensive Demütigung im Vordergrund, die dazu geeignet ist, beim Opfer Gefühle der Angst, Herabwürdigung oder Minderwertigkeit hervorzurufen und seinen körperlichen oder moralischen Widerstand zu brechen.178 Auch hier muss das Verhalten jedoch ein Mindestmaß an Schwere erreichen,179 wobei die Umstände des konkreten Einzelfalls, etwa die Dauer der Behandlung und die physischen und geistigen Wirkungen, zu berücksichtigen sind.180 Ausreichend kann bereits sein, wenn das Opfer in seinen Augen gedemütigt wurde,181 etwa durch eine Prügelstrafe in der Schule.182 Erniedrigend können auch Haftbedingungen sein, die ein erhebliches psychisches oder physisches Leid verursacht und Gefühle von Demütigung und Erniedrigung ausgelöst haben.183 Dementsprechend kann gerade in Fällen, in denen ein Europäischer Haftbefehl vollstreckt werden soll, der Aspekt des Schutzes vor einer erniedrigenden Behandlung oder Strafe relevant werden. In der Grundsatzentscheidung
175 EGMR, Urt v 15.7.2002, 47095/99, RJD 2002-VI, § 95 – Kalashnikov/Russland; Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 27. 176 EGMR, Urt v 19.4.2001, 28524/95, RJD 2001-III, §§ 63 ff – Peers/Griechenland; Lukan in: Holoubek/ Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 12. 177 Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 27. 178 Jarass GRCh, Art 4 Rn 7; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 8; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 4 GRCh Rn 4. 179 EGMR, Urt v 20.10.2000, 30210/96, RJD 2000-XI, § 99 – Kudla/Polen. 180 EGMR, Urt v 18.1.1978, 5310/71, § 162 – Irland/Vereinigtes Königreich; Bungenberg in: Heselhaus/ Nowak, GR, § 16 Rn 28. 181 EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, § 32 – Tyrer/Vereinigtes Königreich; Lukan in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 15. 182 EGMR, Urt v 25.4.1978, 5856/72, § 29 – Tyrer/Vereinigtes Königreich. 183 EGMR, Urt v 15.7.2002, 47095/99, RJD 2002-VI, §§ 96 ff – Kalashnikov/Russland; Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 13.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
im Fall Aranyosi und Căldăraru hat der EuGH ausgeführt, dass das in Art 4 GRCh aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung absoluten Charakter habe, da es eng mit der in Art 1 GRCh geschützten Würde des Menschen verbunden sei.184 Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls dürfe daher nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung einer Person führen.185 Eine solche unmenschliche oder erniedrigende Behandlung liegt nach Auffassung des EuGH vor, wenn in dem Ausstellungsmitgliedstaat in den Haftanstalten „systemische“ Mängel bestehen,186 wobei erforderlich ist, dass die prekären Bedingungen eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt.187 Zudem müssen die systemischen Mängel im konkreten Fall bestehen, was die zuständige Behörde in einem zweiten Schritt zu prüfen hat,188 während sich die Prüfung nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten des fraglichen Mitgliedstaates beziehen müsse, in denen die betroffene Person inhaftiert werden könnte.189 Daher kann sich aus Art 4 GRCh ein Vollstreckungshindernis ergeben.190 Die für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entwickelten Grundsätzen gelten auch im Fall von asylrechtlichen Überstellungen in einen anderen EU-Mitgliedstaat, wo der EuGH aus Art 4 GRCh ein Überstellungshindernis hergeleitet hat,191 welches durch den Unionsgesetzgeber in Art 3 Abs 2 UAbs 2 der Dublin-III-Verordnung verankert wurde.192 Angesichts des allgemeinen und absoluten Charakters des Verbots nach Art 4 GRCh, das eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden sei und ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbiete, ist es nach Auffassung des EuGH für die Anwendung von Art 4 GRCh gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person einer ernsthaften Gefahr aus-
184 EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709, Rn 85 – Aranyosi und Căldăraru. 185 EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709, Rn 88 – Aranyosi und Căldăraru. 186 EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709, Rn 89 ff – Aranyosi und Căldăraru; EuGH, Urt v 25.7.2018, Rs C-220/18 PPU, NJW 2018, 3161 Rn 90 ff – ML; Lukan in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 34. 187 EuGH (GK), Urt v 19.3.2019, verb Rs C-297/17, C-318/17, C-319/17 u C-438/17, Rn 89 – Ibrahim ua. 188 EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709 Rn 94 – Aranyosi und Căldăraru; EuGH (GK), Urt v 15.10.2019, verb Rs C-128/18, EuGRZ 2019, 498, Rn 64 – Dorobantu. 189 EuGH (GK), Urt v 15.10.2019, verb Rs C-128/18, EuGRZ 2019, 498, Rn 63 f – Dorobantu; so auch schon EuGH, Urt v 25.7.2018, Rs C-220/18 PPU, NJW 2018, 3161 Rn 78 – ML. 190 Breuer in: EnzEuR, Bd 2, § 8 Rn 28. 191 EuGH (GK), Rs C-411/10, Slg 2011, I-13905, Rn 81 ff – N. S. ua. 192 ABl 2013 Nr L 180, 31; Breuer in: EnzEuR, Bd 2, § 8 Rn 30.
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gesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.193 Dies hat zur Folge, dass ein Zweitantrag in einem anderen Mitgliedstaat wegen Art 4 GRCh-widriger Lebensbedingungen im Anerkennungsstaat zulässig sein kann.194 Zudem leitet der EuGH in Fortführung der in Aranyosi und Căldăraru entwickelten Grundsätze195 aus Art 4 GRCh in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art 1 GRCh ein Abschiebungshindernis her, wenn in dem Staat, in den abgeschoben werden soll, das Risiko der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art 4 GRCh besteht.196 In der Rechtssache X führte er aus, dass ein Mitgliedstaat gegen Art 4 GRCh verstoßen könne, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Schmerzen, die einem Drittstaatsangehörigen durch eine natürlich aufgetretene Krankheit entstehen, durch die von den Behörden dieses Mitgliedstaats erlassene Rückkehrentscheidung oder aufenthaltsbeendende Maßnahme in einem solchen Maß verschlimmern, dass diese Schmerzen die vom Gerichtshof in der Entscheidung näher ausdifferenzierte Erheblichkeitsschwelle erreichen.197In der Entscheidung in der Rechtssache Jawo hatte der EuGH zudem eine Pflicht zur Gewährleistung des Existenzminimums Asylsuchender unter Bezugnahme auf einschlägige EGMR-Rechtsprechung auf Art 4 GRCh gestützt.198 In der Folgeentscheidung in der Rechtssache Haqbin hingegen führte er diese Linie nicht fort, sondern leitete den entsprechenden Anspruch allein aus Art 1 GRCh her.199 Bei der Auslegung des Tatbestandes der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung ist ferner zu berücksichtigen, inwieweit die betreffende Maßnahme zur Verfolgung eines legitimen Zieles geboten ist.200 So ist etwa keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe gegeben, wenn eine Maßnahme der Beweisermittlung als „überzeugend gerechtfertigt“ anzusehen ist.201 Der materielle Schutzgehalt des Art 4 GRCh wird begleitet von verfahrens- 21 rechtlichen Sicherungen. Danach sind die Behörden verpflichtet, für gründliche, wirksame und unvoreingenommene Ermittlungen zu sorgen, wenn sie in substantiierter Form davon Kenntnis erlangen, dass jemand gefoltert oder unmenschlich
193 EuGH, Urt v 13.11.2019, verb Rs C-540/17 u C-541/17, NVwZ 2020, 137, Rn 37 – Hamed und Omar. 194 EuGH, Urt v 13.11.2019, verb Rs C-540/17 u C-541/17, NVwZ 2020, 137, Rn 37 ff – Hamed und Omar. 195 EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709, Rn 84 ff – Aranyosi und Căldăraru. 196 EuGH (GK), Urt v 22.11.2022, Rs C‑69/21, Rn 57 – X. 197 EuGH (GK), Urt v 22.11.2022, Rs C‑69/21, Rn 68 ff – X. 198 EuGH (GK), Urt v 19.3.2019, Rs C-163/17, NJOZ 2019, 1063, Rn 92 – Jawo. 199 EuGH (GK), Urt v 12.11.2019, Rs C-233/18, NVwZ 2020, 456, Rn 46 – Haqbin; zum Ganzen s Breuer in: EnzEuR, Bd 2, § 8 Rn 14; ausf dazu auch → Schorkopf § 3 Rn 13 u 20. 200 EGMR, Urt v 5.4.2005, 54825/00, RJD 2005-II, §§ 97 f – Nevmerzhitsky/Ukraine. 201 EGMR, Urt v 11.7.2006, 54810/00, RJD 2006-IX = NJW 2006, 3117, § 70 – Jalloh/Deutschland; Jarass GRCh, Art 4 Rn 11.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
bzw. erniedrigend behandelt wurde.202 Zudem bestehen Beweiserleichterungen, wenn sich eine Person in Polizeigewahrsam oder Haft befand. So muss der betroffene Staat nachweisen, dass keine Folter oder unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung stattfand, wenn eine Person bei ihrer Festnahme bei guter Gesundheit war und nach ihrer Freilassung Verletzungen aufweist oder in Haft sogar gestorben ist.203 In der Sache besteht damit ein Anscheinsbeweis für eine Verletzung von Art 4 GRCh, wenn die betroffene Person nach ihrer Entlassung Verletzungen aufweist, obwohl sie zuvor in einem einwandfreien Gesundheitszustand war.204
b) Persönlicher Schutzbereich 22 Grundrechtsträger sind alle natürlichen Personen.205 Darüber hinaus können sich
auch Angehörige von Betroffenen auf die Grundrechtsgarantie berufen, wenn die Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung eine Intensität erreicht, welche selbst bei schweren Menschenrechtsverletzungen außergewöhnlich ist und die die Angehörigen daher besonders stark belastet.206 Juristische Personen und Personenvereinigungen können sich auf die Vorschrift nicht berufen, da der Menschenwürdegehalt des Art 4 GRCh insoweit entgegen steht.207
3. Eingriff und fehlende Möglichkeit der Rechtfertigung 23 Eingriffe in Art 4 GRCh können generell nicht gerechtfertigt werden, da das Grund-
recht vorbehaltslos gewährleistet ist.208 Dies ergibt sich bereits aus Art 3 EMRK iVm Art 52 III 1 GRCh.209 Daran ändert nach Art 15 II EMRK selbst ein Kriegs- oder Notstandsfall nichts.210 Entsprechendes gilt für Situationen, in denen eine Gefahr für das Leben einer anderen Person besteht, etwa im Fall einer Geiselnahme oder einer
202 EGMR, Urt v 20.7.2000, 33951/96, RJD 2000-IX, § 89 – Caloc/Frankreich; Höfling/Kempny in: Stern/ Sachs, GRCh, Art 4 Rn 14; Jarass GRCh, Art 4 Rn 13. 203 EGMR, Urt v 4.12.1995, 18896/91, § 34 – Ribitsch/Österreich; Entsch v 27.6.2000, 21986/93, RJD 2000-VII, Rn 113 – Salman/Türkei; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 14. 204 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 14. 205 Jarass GRCh, Art 4 Rn 5; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 6. 206 EGMR, Urt v 18.9.2009, 16064/90 ua, RJD 2009, § 200 – Varnava ua/Türkei; Jarass GRCh, Art 4 Rn 5; Lukan in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 4 Rn 5. 207 Jarass GRCh, Art 4 Rn 5; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 4 GRCh Rn 3. 208 So schon EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 80 – Schmidberger. 209 EuGH (GK), Urt v 5.9.2012, verb Rs C-71/11 u C-99/11, ZAR 2012, 433, Rn 8 – Y u Z; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 15. 210 Jarass GRCh, Art 4 Rn 12; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 4 Rn 15. Andrea Edenharter
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terroristischen Bedrohung.211 Art 4 GRCh beansprucht demnach absolute Geltung, die jegliche Relativierung ausschließt.212 Lösung Fall 1: Der EuGH betonte in seiner Entscheidung, dass sich das System des Europäischen Haftbefehls auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung stütze, welcher seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf beruht, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Grundrechte-Charta anerkannten Grundrechte zu bieten. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung komme in Art 1 II des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zum Tragen, wonach die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten. Eine Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls komme nur in den abschließend aufgezählten Fällen in Betracht. Gleichwohl seien darüber hinaus unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich. Zudem seien nach Art 1 III des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl die Grundrechte, wie sie sich insbesondere aus der Grundrechte-Charta ergeben, zu beachten. Der EuGH hob hervor, dass Art 4 GRCh, der eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung verbietet, nach Art 51 I GRCh von den Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts zu beachten sei, dh auch dann, wenn die ausstellende Justizbehörde und die vollstreckende Justizbehörde die zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ergangenen nationalen Bestimmungen anwenden. Art 4 GRCh entspreche Art 3 EMRK und habe als eng mit der Menschenwürde verbundenes Grundrecht absoluten Charakter. Dementsprechend sei die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaates, falls sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, vor dem Hintergrund von Art 4 GRCh verpflichtet, in einem ersten Schritt das Vorliegen dieser Gefahr bei der Entscheidung über die Übergabe einer Person an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaates zu würdigen. Angaben über die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat könnten sich beispielsweise aus den Urteilen des EGMR ergeben. Allerdings reicht nach Ansicht des EuGH das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auf Grund der allgemeinen Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat alleine noch nicht zur Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls. Vielmehr müsse die vollstreckende Justizbehörde in einem zweiten Schritt prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene im konkreten Fall der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen ausgesetzt sei. Zum Zweck der Ermittlung der zu erwartenden Haftbedingungen im konkreten Fall müsse die zuständige Behörde im Vollstreckungsmitgliedstaat die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaates um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen Informationen über die konkret zu erwartenden Haftbedingungen bitten. Falls sich daraus ergibt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im konkreten Fall besteht, ist nach Auffassung des EuGH die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls aufzuschieben, aber nicht aufzugeben. Kann das Vorliegen
211 EGMR, Urt v 1.6.2020, 22978/05, RJD 2010 § 107 – Gäfgen/Deutschland; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 4 GRCh Rn 6. 212 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 4 GRCh Rn 22; aA aber beispielsweise Brugger, Der Staat 35 (1996), 67 ff.
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einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, müsse die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden sei.
III. Verbot der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels (Art 5 GRCh) Schrifttum: Bungenberg, Verbot der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl 2020, § 17; Frenz Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit nach dem Urteil Siliadin, NZA 2007, 734 ff; Herz Menschenhandel, 2005; Küblbeck Die EU-Richtlinie gegen Menschenhandel: Situation und Umsetzung in Deutschland, NDV 2017, 172 ff; Lindner Die Effektivität transnationaler Maßnahmen gegen Menschenhandel in Europa, 2014; Ritter Art 4 EMRK und das Verbot des Menschenhandels, 2015; Zapatero Vom Kampf gegen die Sklaverei und den Menschenhandel hin zum Verbot des Menschenhandels, FS Hassemer, 2010, 929 ff.
1. Systematische Einordnung 25 Art 5 GRCh verbietet die Sklaverei, die Zwangsarbeit sowie den Menschenhandel,
mithin Aktivitäten, welche mit der Menschenwürde nicht vereinbar sind.213 Daher kann man von einem einheitlichen Grundrecht sprechen, welches mehrere Teilbereiche aufweist.214 Sämtliche Teilbereiche sind einklagbar, die Vorschrift enthält also echte Grundrechte, nicht nur Grundsätze iSv Art 52 V GRCh.215 Die Gewährleistungen des Art 5 I, II GRCh entsprechen wortgetreu Art 4 I, II EMRK, was auch in den Charta-Erläuterungen hervorgehoben wird.216 Dementsprechend besitzt Art 5 I, II GRCh wegen Art 52 III 1 GRCh die gleichen Gewährleistungsgehalte wie Art 4 I, II EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR. Außerdem gelten die Vorgaben des Art 4 III EMRK zur Abgrenzung der Zwangs- und Pflichtarbeit auch im Rahmen von Art 5 II GRCh.217 Das Verbot des Menschenhandels in Art 5 III GRCh wurde ausweislich der Charta-Erläuterungen eingefügt, um neueren Entwicklungen auf dem Gebiet der or-
213 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 5 Rn 5; Jarass GRCh, Art 5 Rn 2; s auch die Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (19). 214 Jarass GRCh, Art 5 Rn 1; Lienbacher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 5 Rn 8. 215 Jarass GRCh, Art 5 Rn 2. 216 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (18); zu Art 4 EMRK s → Germelmann, § 4.1.1 Rn 39 ff. 217 Jarass GRCh, Art 5 Rn 1.
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ganisierten Kriminalität wie der Schleuserkriminalität oder der organisierten sexuellen Ausbeutung Rechnung zu tragen.218 Konkret dienten folgende Regelungen als Vorbild für Art 5 III GRCh: die Menschenwürdegarantie, das Europol-Übereinkommen,219 Art 27 I des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ)220 sowie Art 1 des Rahmenbeschlusses des Rates zur Bekämpfung des Menschenhandels221.222 Nach jüngerer Rechtsprechung des EGMR ist nunmehr auch Art 4 EMRK ein Verbot des Menschenhandels zu entnehmen.223 Art 5 GRCh verpflichtet nach Art 51 I 1 GRCh die Union und die Mitgliedstaaten, sofern diese Unionsrecht durchführen. Private werden durch Art 5 GRCh nicht unmittelbar verpflichtet, doch obliegt der Union und den Mitgliedstaaten eine Schutzpflicht zur Verhinderung von Sklaverei, Leibeigenschaft, Zwangs- und Pflichtarbeit sowie von Menschenhandel,224 die etwa dadurch aktualisiert werden kann, dass entsprechende Straftatbestände geschaffen werden. Im Verhältnis zu Art 4 GRCh ist Art 5 lex specialis, wenn die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung225 gerade in den durch Art 5 verbotenen Handlungen besteht.226 Dagegen dürfte Art 5 im Fall von Kinderhandel und Kinderprostitution neben Art 24 GRCh anwendbar sein.227 Art 5 GRCh wurde in der Rechtsprechung des EuGH bislang nicht relevant. Die 26 Vorschrift entfaltet daher eher Signalwirkung, insbesondere in Bezug auf Drittstaaten.228 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass auch innerhalb der EU gerade der Frauenhandel und die Kinderprostitution als moderne Ausprägungen der Sklaverei immer wieder virulent werden.229 Praktische Bedeutung könnte Art 5 GRCh in Zukunft vor allem im Asyl- und Aufenthaltsrecht in Fällen von Abschiebung oder Ausweisung erlangen, indem er die Abschiebung oder Ausweisung in
218 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (19). 219 Übereinkommen aufgrund von Art K.3 EUV über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts vom 26.7.1995, BGBl 1997 II, 2150. 220 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen [...] vom 19.6.1990, ABl 2000, Nr L 239, 19. 221 Rahmenbeschluss des Rates vom 19. Juli 2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels (2002/629/ JI), ABl 2002, Nr L 203, 1. 222 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (19). 223 EGMR, Urt v 7.1.2010, 25965/04, RJD 2010, § 282 – Rantsev/Zypern u Russland; Calliess in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art 5 Rn 3; Lienbacher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 5 Rn 2. 224 Jarass GRCh, Art 5 Rn 3; Lienbacher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 5 Rn 29. 225 S dazu Art 4 Rn 5. 226 Jarass GRCh, Art 5 Rn 4; Lienbacher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 5 Rn 11. 227 Jarass GRCh, Art 5 Rn 4. 228 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 5 Rn 27. 229 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 5 Rn 26; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 5 Rn 4; Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 17 Rn 11. Andrea Edenharter
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einen Drittstaat untersagt, wenn der betroffenen Person dort eine reale Gefahr der Sklaverei oder Zwangsarbeit droht.230
2. Schutzbereich a) Sachlicher Schutzbereich 27 Art 5 I verbietet Sklaverei und Leibeigenschaft. Eine Definition der beiden Begriffe
findet sich weder in der Grundrechte-Charta noch in der EMRK. Daher bedarf es für die Begriffsbestimmung einer Heranziehung internationaler Abkommen.231 Aus Art 1 Nr 1 des Übereinkommens betreffend die Sklaverei von 1926 ergibt sich folgende Definition der Sklaverei: „Sklaverei ist der Zustand oder die Stellung einer Person, an der die mit dem Eigentumsrechte verbundenen Befugnisse oder einzelne davon ausgeübt werden.“232 Das dazugehörige Zusatzabkommen definiert in Art 1 lit b Leibeigenschaft als die „Lage oder Rechtsstellung eines Pächters, der durch Gesetz, Gewohnheitsrecht oder Vereinbarung verpflichtet ist, auf einem einer anderen Person gehörenden Grundstück zu leben und zu arbeiten und dieser Person bestimmte entgeltliche oder unentgeltliche Dienste zu leisten, ohne seine Rechtsstellung selbständig ändern zu können.“233 Sowohl der Begriff der Sklaverei als auch der der Leibeigenschaft sind weit auszulegen und erfassen dementsprechend auch neue Formen der Sklaverei und Leibeigenschaft, die sich insbesondere als Folge der wirtschaftlichen Globalisierung und der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich ergeben.234 Der EGMR wendet den Begriff der Sklaverei daher auch auf Beherrschungsverhältnisse auf Grund von Angst, Gewalt oder Zwang an235, so dass etwa auch die Zwangsprostitution unter den Begriff fällt.236 Auch der Begriff der Leibeigenschaft muss weiter zu verstehen sein, so dass auch sonstige
230 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 5 Rn 5; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 5 Rn 9; zu möglichen Konstellationen im Rahmen von Art 5 III GRCh s Lindner, Die Effektivität transnationaler Maßnahmen gegen Menschenhandel in Europa, 2014, S 180 f. 231 Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 5 Rn 6. 232 Übereinkommen betreffend die Sklaverei vom 25.9.1926 in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 7.12.1953, BGBl 1972 II, 1473. 233 Zusatzabkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken vom 7.9.1956, BGBl 1958 II, 203. 234 Vgl dazu Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 5 Rn 26 ff; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 5 Rn 8; Lienbacher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 5 Rn 19. 235 EGMR, Urt v 7.1.2010, 25965/04, RJD 2010, §§ 279 ff – Rantsev/Zypern u Russland; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 5 Rn 8. 236 van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 5 Rn 4; Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh Art 5 Rn 6; Jarass GRCh, Art 5 Rn 7.
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Formen der Abhängigkeit wie die Schuldknechtschaft, der Frauenkauf oder die Übergabe von Kindern und Jugendlichen zu sklavenähnlicher Arbeit, insbesondere als Haussklaven, darunter zu subsumieren sind.237 Art 5 II GRCh verbietet die Zwangs- oder Pflichtarbeit, was in Anlehnung an 28 Art 2 I des ILO-Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit aus dem Jahr 1930 als die Pflicht zur Erbringung höchstpersönlicher körperlicher oder geistiger Arbeit, welche nicht freiwillig übernommen wird, definiert wird.238 Zur Bestimmung, ob Zwangs- oder Pflichtarbeit vorliegt, nimmt der EGMR bei der Auslegung des mit Art 5 II GRCh übereinstimmenden Art 4 II EMRK eine Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände vor, wobei entscheidend ist, ob die Arbeit unterdrückend ist oder zwangsweise inakzeptable Härten zur Folge hat.239 Darüber hinaus ist relevant, ob die mit der Arbeit verbundenen Belastungen im Verhältnis zu den erwarteten Vorteilen völlig außer Verhältnis stehen.240 So ist etwa die Zwangsprostitution oder die Zwangsbettelei durch Kinder als Zwangs- und Pflichtarbeit anzusehen.241 Pflichten im Rahmen eines frei gewählten Berufes hingegen unterfallen nicht Art 5 II GRCh.242 Nicht vom Schutzbereich des Art 5 II GRCh erfasst werden schließlich die in Art 4 III EMRK aufgelisteten Tätigkeiten, die nach Art 52 III 1 GRCh auch nicht unter Art 5 II GRCh zu subsumieren sind.243 Konkret sind dies Arbeiten, die üblicherweise von Strafgefangenen verlangt werden, (Art 4 III lit a EMRK), der Wehr- und Ersatzdienst (Art 4 III lit b EMRK), Dienstleistungen, die verlangt werden, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen (Art 4 III lit c EMRK) sowie Arbeiten und Dienstleistungen, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehören (Art 4 III lit d EMRK), beispielsweise Feuerwehrdienste. Das Verbot des Menschenhandels in Art 5 III GRCh trägt neueren Entwicklun- 29 gen im Bereich der organisierten Kriminalität wie beispielsweise der Schleuserkriminalität oder der organisierten sexuellen Ausbeutung Rechnung.244 Zur De-
237 EGMR, Urt v 26.7.2005, 73316/01, RJD 2005-VII = NJW 2005, 41, §§ 123 ff – Siliadin/Frankreich; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 20 Rn 91; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 5 Rn 10; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 5 GRCh Rn 4. 238 EGMR, Urt v 23.11.1983, 8919/80, A70, §§ 33 f – van der Mussele/Belgien; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 20 Rn 91; Jarass GRCh, Art 5 Rn 7. 239 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 20 Rn 93; Jarass GRCh, Art 5 Rn 7; Lienbacher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 5 Rn 21. 240 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 20 Rn 93; Jarass GRCh, Art 5 Rn 7. 241 Jarass GRCh, Art 5 Rn 7. 242 Jarass GRCh, Art 5 Rn 7. 243 van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 5 GRCh Rn 5. 244 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (19).
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finition des Begriffs des Menschenhandels greift Art 5 III GRCh auf das EuropolÜbereinkommen245 zurück. Unter Menschenhandel iSv Art 5 III GRCh ist danach die „tatsächliche und rechtswidrige Unterwerfung einer Person unter den Willen anderer Personen mittels Gewalt, Drohung oder Täuschung oder unter Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses“246 zu verstehen, wodurch Ausbeutung bezweckt wird. Beispiele für Handlungen, die dem Begriff des Menschenhandels unterfallen, sind die Ausbeutung durch Prostitution, die Ausbeutung Minderjähriger, insbesondere durch sexuelle Gewalt, sowie Schleuseraktivitäten, bei denen jemand zu Erwerbszwecken Drittstaatsangehörigen die rechtswidrige Einreise oder den Aufenthalt in die EU ermöglicht oder zu ermöglichen versucht.247 Art 2 der Richtlinie 2011/36/EU248 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer vom 5. April 2011 („Menschenhandelsrichtlinie“) definiert die verbotenen Handlungsweisen umfassend als „Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen, einschließlich der Übergabe oder Übernahme der Kontrolle über diese Personen, durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die die Kontrolle über eine andere Person hat, zum Zwecke der Ausbeutung.“249 Diese weite Definition des Menschenhandels erfasst auch Formen der Zwangsarbeit und der Sklaverei.250 Umstritten ist, ob es sich bei Art 5 III GRCh um ein einklagbares Grundrecht oder lediglich um einen Grundsatz iSv Art 52 V GRCh handelt. Die besseren Argumente sprechen für die Annahme eines echten Grundrechts, da es sich bei Art 5 GRCh nach der Systematik um ein einheitliches Grundrecht handelt, welches in allen Teilbereichen direkter Ausfluss der Menschenwürde ist und darüber hinaus auch der Wortlaut für die Annahme eines
245 Übereinkommen aufgrund von Art K.3 EUV über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts vom 26.7.1995, BGBl 1997 II, 2150. 246 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (19). 247 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (19). 248 Ausf dazu Lindner Die Effektivität transnationaler Maßnahmen gegen Menschenhandel in Europa, 2014, S 144 ff. 249 Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, ABl 2011, Nr L 101, 1; s dazu auch Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGR, Art 5 Rn 36. 250 Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 17 Rn 49.
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subjektiven Rechtes hinreichend konkret erscheint.251 Darüber hinaus allerdings ist Art 5 III GRCh ein spezifischer Gesetzgebungsauftrag zu entnehmen, der sich sowohl an die Union als auch an die Mitgliedstaaten richtet.252
b) Persönlicher Schutzbereich Art 5 GRCh schützt alle natürlichen Personen ohne Rücksicht auf die Staatsange- 30 hörigkeit.253 Juristische Personen und Personenvereinigungen sind demgegenüber wegen des Menschenwürdegehalts des Grundrechts nicht geschützt.
3. Eingriffe und fehlende Möglichkeit einer Rechtfertigung Ein Eingriff in Art 5 GRCh liegt vor, wenn ein Grundrechtsadressat die verbotenen 31 Aktivitäten anordnet, selbst durchführt oder daran beteiligt ist.254 Art 5 GRCh enthält sowohl eine abwehrrechtliche Dimension als auch eine Schutzpflichtendimension.255 Letztere verlangt, dass Union und Mitgliedstaaten unter Wahrung der Kompetenzordnung angemessene Sanktionen gegen Personen vorsehen, welche gegen die in Art 5 GRCh aufgelisteten Verbote verstoßen. Daneben besteht die Pflicht, Opfer von derartigen Grundrechtsverstößen sofort zu befreien und für die Sicherung ihrer Verfahrensrechte zu sorgen.256 Teilweise wird Art 5 GRCh darüber hinaus eine unmittelbare Drittwirkung gegenüber Privatpersonen entnommen, da die entsprechenden Rechtsverletzungen in der Regel von Privaten vorgenommen werden.257 Vorzugswürdig erscheint es jedoch, Rechtsverletzungen durch Private im Wege der Schutzpflichtendimension des Grundrechts zu unterbinden.258 Eine Rechtfertigung von Eingriffen in Art 5 I und II GRCh ist wegen Art 52 III 1 GRCh iVm Art 4 I, II EMRK nicht möglich.259 Umstritten ist, ob das Verbot der Zwangs-
251 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGR, Art 5 Rn 37; Lindner Die Effektivität transnationaler Maßnahmen gegen Menschenhandel in Europa, 2014, S 175 f; aA van Vormizeele in: Schwarze, EUKomm, Art 5 GRCh Rn 6; s → Rn 1. 252 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, GRCh, Art 5 Rn 37. 253 Jarass GRCh, Art 5 Rn 5. 254 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 5 GRCh Rn 25. 255 Vgl EGMR, Urt v 21.1.2016, 71545/12, §§ 65 ff – L.E./Griechenland; Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 17 Rn 25 f; Lienbacher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 5 Rn 29. 256 EGMR, Urt v 7.1.2010, 25965/04, RJD 2010, §§ 273 ff – Rantsev/Zypern u Russland; EGMR, Urt v 21.1.2016, 71545/12 §§ 65 ff – L.E./Griechenland. 257 So etwa Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 5 Rn 25. 258 S → Rn 1. 259 Bungenberg in: Heselhaus/Nowak, GR, § 17 Rn 36 u 43.
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arbeit im Kriegs- und Notstandsfall nach Art 15 EMRK eingeschränkt werden kann,260 während in Bezug auf das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft nach Art 5 I GRCh eine Einschränkbarkeit selbst in Kriegs- und Notstandsfällen ausscheidet.261 Auch bei einer Verletzung des Verbots des Menschenhandels kommt eine Rechtfertigung unter keinen Umständen in Betracht, weil dies dem Charakter des Grundrechts als Ausprägung der Menschenwürde widerspräche.262
IV. Schutz von Ehe und Familie, Schutz des Familien- und Berufslebens Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-249/96, Slg 1998, I-621 ff – Grant; verb Rs C-122/99 P, C-125/99 P, Slg 2001, I-4319 ff – Schweden/Rat; Rs C-117/01 K, Slg 2004, I-541 ff – K.B.; Rs C-267/06, Slg 2008, I-1757 ff – Maruko; Urt v 16.7.2015, Rs C-222/14, NZA 2015, 987 ff – Maïstrellis; Urt v 7.92017, Rs C-174/16, NJW 2017, 3357 ff – H./Berlin; Urt v 18.9.2019, Rs C-366/18, NZA 2019, 1341 ff – Ortiz Mesonero.
Schrifttum: Böhringer Schutz der Familie, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2020, § 44; Bruns Die Maruko-Entscheidung im Spannungsfeld zwischen europäischer und nationaler Auslegung, NJW 2008, 1929 ff; Caracciolo di Torella/Masselot Under Construction: EU family law, European Law Review 29 (2004), 32 ff; De Baere/Gutman The impact of the European Union and the European Court of Justice on European family law, in: Scherpe (Hrsg), European Family Law, 2016, 5 ff; Fortunato Internationaler Schutz der Familie am Beispiel der Europäischen Sozialcharta, EuR 2008, 27 ff; Herzog Europäischer Grundrechtsschutz für Ehe und Familie, Bitburger Gespräche 2001, 7 ff; Isensee Europäische Familienpolitik als Kompetenzfrage, DVBl 2009, 801 ff; Joamets Gender as an Impediment of Marriage, Free Movement of Citizens, and EU Charter of Fundamental Rights, in: Kerikmäe (Hrsg), Protecting Human Rights in the EU – Controversies and Challenges of the Charter of Fundamental Rights, 2014, S. 91 ff; Marauhn/Böhringer, Eheschließungsund Familiengründungsrecht, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2020, § 24; Richter Ehe und Partnerschaft im Recht der Europäischen Union – Wie weit reicht die Bestimmungsmacht der Mitgliedstaaten, ZEuS 2014, 301 ff; Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017; Tettinger/Geerlings Ehe und Familie in der europäischen Grundrechtsordnung, EuR 2005, 419 ff; Thym Europäischer Grundrechtsschutz und Familienzusammenführung, NJW 2006, 3249 ff; Uerpmann-Wittzack Ehe und Familie in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, Bd 2, 2022, § 11; H A Wolff Ehe und Familie in Europa, EuR 2005, 721 ff.
260 Dafür etwa Jarass GRCh, Art 5 Rn 12; aA wohl Höfling/Kempny in: Stern/Sachs, GRCh, Art 5 Rn 15. 261 EuGH, Urt v 5.9.2012, Rs C-71/11, ZAR 2012, 433 Rn 8 – Y u Z; Lienbacher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 5 Rn 30. 262 Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 5 Rn 39; van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 5 Rn 7; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 5 GRCh Rn 28. Andrea Edenharter
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1. Systematische Einordnung Art 9 GRCh gewährleistet das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu grün- 32 den. Damit schützt die Vorschrift die Gründung von Ehe und Familie, nicht aber das Leben in Ehe und Familie, welches von anderen Vorschriften geschützt wird.263 Dazu gehört insbesondere Art 7 GRCh, der die Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert.264 Daneben wird das Familienleben noch durch zwei weitere Vorschriften geschützt: zum einen durch Art 24 III GRCh, der die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern garantiert und zum anderen durch Art 33 GRCh, der in Absatz 1 den rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Familie gewährleistet und in Absatz 2 Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben vorsieht. Damit stellt die Grundrechte-Charta den Schutz der Familie in den Vordergrund, was den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, nachdem eine große Zahl an Kindern heute außerhalb der klassischen Ehe zwischen Mann und Frau aufwächst. Darüber hinaus ermöglicht eine derartige Schutzkonzeption die zielgenaue sozial- und steuerrechtliche Privilegierung von Familien.265 Im Verhältnis zu Art 9 GRCh tritt Art 33 I GRCh zurück, weil Art 9 GRCh zum einen spezieller ist und zum anderen im Unterschied zu Art 33 I GRCh ein echtes Grundrecht verbürgt.266 Im Verhältnis zu Art 33 II GRCh tritt Art 33 I GRCh ebenfalls zurück.267 Art 9 GRCh ist Art 12 EMRK nachgebildet. Wegen Art 52 III 1 GRCh muss Art 9 33 GRCh mindestens den Schutzgehalt von Art 12 EMRK aufweisen, so dass die Rechtsprechung des EGMR zu Art 12 EMRK in die Grundrechte-Charta inkorporiert wird.268 Art 12 EMRK seinerseits enthält das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Die Vorschrift ist angelehnt an Art 16 I der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), der die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung verbürgt. Art 8 EMRK schützt das Privat- und Familienleben nach Vollzug der Gründungsakte und entspricht damit den Schutzwirkungen des Art 7 GRCh.269 Der besondere wirtschaftliche und soziale Schutz der Familie, den Art 33 I GRCh gewährleistet, ist auch in Art 16 der Europäischen Sozialcharta (ESC) ver-
263 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 1. 264 S dazu → Marsch, § 4.2.2. 265 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 1; Herzog Europäischer Grundrechtsschutz für Ehe und Familie, Bitburger Gespräche 2001, S 7 (12 ff). 266 Jarass GRCh, Art 33 Rn 5; Frenz GR, Rn 4043. 267 Jarass GRCh, Art 33 Rn 5; Frenz GR, Rn 4043. 268 EuGH, Rs C-400/10 PPU, Slg 2010, I-8965, Rn 53 – McB; EuGH, Urt v 15.11.2011, Rs C-256/11, NVwZ 2012, 97 Rn 70 – Dereci ua zu Art 7 GRCh. 269 EuGH, Rs C-400/10 PPU, Slg 2010, I-8965, Rn 53 – McB; EuGH, Urt v 15.11.2011, Rs C-256/11, NVwZ 2012, 97 Rn 70 – Dereci ua; ausf zu Art 7 GRCh s → Marsch, § 4.2.2 Rn 2 ff.
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bürgt, welche freilich weniger Wirkkraft entfaltet als die Gewährleistungen der EMRK.270 Art 33 II GRCh lehnt sich an Richtlinie 92/85/EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz sowie an die Richtlinie 96/34/EG (später RL 2010/18/EU, heute RL 2019/1158/EU) zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub an.271 Zudem diente Art 8 ESC über den Mutterschutz als Vorlage für Art 33 II GRCh. 34 Die EU verfügt im Bereich von Ehe und Familie praktisch über keine eigenen Rechtssetzungskompetenzen, so dass sich bislang kein unionales Ehe- und Familienrecht herausbilden konnte.272 Art 9 GRCh wird daher weitgehend nach Maßgabe der mitgliedstaatlichen Gesetzgebung gewährleistet.273 Dies freilich macht eine einheitliche Auslegung der Schutzgüter „Ehe“ und „Familie“ auf Unionsebene keinesfalls überflüssig,274 sondern eine solche Auslegung ermöglicht erst die Umschreibung des mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielraums. Anders als Art 6 I GG enthält Art 9 GRCh keine Institutsgarantie, da die Norm den Normadressaten keine Pflicht zur Bewahrung eines traditionellen Normkerns auferlegt.275 Art 33 I GRCh ist als Grundsatz anzusehen,276 während Art 33 II GRCh ein Grundrecht enthält.277 35 Das Grundrecht auf Ehe und Familie und die Vorschrift des Art 33 GRCh können durch Maßnahmen beeinträchtigt werden, die die Anwendbarkeit der Grundrechte-Charta nach Art 51 I 1 GRCh begründen. Konkret gilt dies beispielsweise für Regelungen des öffentlichen Dienstes der EU. So enthält das auf Art 336 AEUV gestützte Beamtenstatut etliche Vorschriften betreffend die Ehe und das Familienleben. Die Union gewährt ihren Bediensteten umfangreiche Familienleistungen, was den För-
270 Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 5. 271 Ausf Rohleder in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 33 Rn 7 ff; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 33 GRCh Rn 5. 272 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 3; Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 289; s auch EuGH, Rs C-267/06, Slg 2008, I-1757, Rn 59 – Maruko; EuGH (GK), Urt v 5.6.2018, Rs C-673/16, NVwZ 2018, 1545, Rn 37; aA aber Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 9 Rn 11; zu Kompetenzen der Union im Bereich der Familienpolitik s Isensee, DVBl 2009, 801 (802 ff). 273 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 3. 274 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 3. 275 Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 137; aA Schorkopf in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl 2014, § 16.1 Rn 54; Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 9 Rn 12; Wolff, EuR 2005, 721 (727). 276 Jarass GRCh, Art 33 Rn 3; Sagmeister Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, 2010, S 373; aA aber etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 2. 277 Jarass GRCh, Art 33 Rn 11; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, 2010, S 374; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 5.
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derpflichten des Art 33 I GRCh entspricht.278 Auch auf das Freizügigkeitsrecht wirkt sich der grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie aus.279 Dementsprechend sind die in der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) verankerten Vorschriften zum Familiennachzug im Lichte der Unionsgrundrechte auszulegen,280 was freilich nicht bedeutet, dass die Freizügigkeit von Drittstaatsangehörigen dadurch begründet werden kann, dass ein Unionsbürger mit einem Drittstaatsangehörigen eine Familie im Sinne von Art 9 GRCh gründen möchte.281 Ferner kann Art 9 GRCh im Bereich des Ausländer- und Flüchtlingsrechts, insbesondere bei der Auslegung der Dublin-III-Verordnung, relevant werden, zumal nach Art 2 lit g DublinIII-Verordnung auch nichteheliche Partner unter den Begriff des Familienangehörigen fallen können.282 Daneben kann Art 9 GRCh bei der Auslegung von Maßnahmen zum Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen gemäß Art 81 I, III AEUV Wirkung entfalten, da für die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs der sog Brüssel-IIa-Verordnung entscheidend ist, ob es sich bei der betreffenden Konstellation um eine Ehe im Sinne der Verordnung handelt.283 Schließlich entstehen Wechselwirkungen zwischen dem Recht auf Ehe und Familie einerseits und dem unionalen Antidiskriminierungsrecht andererseits, was sich insbesondere auf den Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften auswirkt.284
2. Schutz von Ehe und Familie (Art 9 GRCh) Fall 1: (EuGH, Rs C-117/01, Slg 2004, I-541 – K.B.) Frau K. B. lebte seit mehreren Jahren in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit R., einer Person, die als Frau geboren wurde und als solche im Personenregister eingetragen ist, infolge einer medizinischen Geschlechtsumwandlung aber zum Mann wurde, ohne jedoch ihre Geburtsurkunde ändern zu können, um diese Umwandlung amtlich eintragen zu lassen. Aus diesem Grund konnten Frau K. B. und R. gegen ihren Willen nicht heiraten. Die NHS Pensions Agency unterrichtete Frau K. B.
278 Ausf dazu Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 298. 279 Böhm VVDStRL 73 (2014), 211 (242); Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR Bd 2, § 11 Rn 10. 280 EuGH, Rs C-413/99, Slg 2002, I-7091, Rn 72 – Baumbast; EuGH, Rs C-480/08, Slg 2010, I-1107, Rn 39 – Teixeira; Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR Bd 2, § 11 Rn 10. 281 Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 301f. 282 Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 308 ff; für eine mögliche Konstellation s VG Ansbach, Urt v 25.11.2010, AN 11 K 10.30388, BeckRS 2010, 34858. 283 Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 311; Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 14. 284 Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 15.
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darüber, dass, falls sie zuerst versterbe, R. mangels Ehe keine Witwerrente erhalten könne, weil nur überlebende Ehegatten Anspruch auf diese Leistung hätten und keine Bestimmung des Rechts des Vereinigten Königreichs einer Person ohne Bestehen einer gesetzlichen Ehe die Eigenschaft eines Ehegatten zuerkenne. Frau K. B. rief daraufhin die britischen Gerichte an und machte geltend, dass die nationalen Bestimmungen, die die Leistungen auf Witwer und Witwen von Mitgliedern beschränkten, eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellten, die gegen Artikel 141 EG (= Art 157 AEUV) und gegen RL 75/117/EWG (= RL 2006/54/EG) verstoße. Nach diesen Bestimmungen sei der Begriff „Witwer“ dahin auszulegen, dass er auch den überlebenden Partner einschließe, der diese Stellung erlangt hätte, wenn seine sexuelle Zuordnung nicht das Ergebnis einer medizinischen Geschlechtsumwandlung gewesen wäre. Der Court of Appeal legte dem EuGH die Frage vor, ob der Ausschluss eines transsexuellen (ursprünglich weiblichen) Partners eines weiblichen Mitglieds des NHS-Rentensystems, wonach nur der Witwer des Mitglieds Ansprüche als berücksichtigungsfähiger Angehöriger hat, eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts unter Verstoß gegen Artikel 141 EGV (= Art. 157 AEUV) und RL 75/117/EWG (= RL 2006/54/EG) darstelle.
a) Schutzbereich aa) Sachlicher Schutzbereich (1) Ehe 37 Nach dem Wortlaut von Art 9 GRCh werden das Recht auf Eheschließung und das Recht auf Familiengründung nach der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung geschützt. Daraus folgt, dass die Union keinen allgemein gültigen und für die Mitgliedstaaten verbindlichen Begriff der Ehe definieren kann. Im Jahr 1998 hatte der EuGH in der Rechtssache Grant die Ehe als Lebensgemeinschaft zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts bezeichnet.285 Dies entspricht dem traditionellen Eheverständnis.286 Ob darüber hinaus auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften dem Ehebegriff unterfallen, hat der Gerichtshof bislang nicht abschließend entschieden. Vielmehr hat er in der Rechtssache Maruko aus Art 2 RL 2000/78/ EG, welcher Art 19 I AEUV konkretisiert, abgeleitet, dass gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften der Ehe gleichzustellen sind, wenn und soweit beide Institute miteinander vergleichbar sind.287 Die Rechtslage in den Mitgliedstaaten ist uneinheitlich. Folgende Mitgliedstaaten haben die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet: Belgien, Frankreich, Niederlande, Portugal, Schweden, Spanien, Dänemark, Luxemburg, Irland, Finnland, Malta, Deutschland, Österreich und Slowenien. Estland erkennt im Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen an, die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe wird derzeit diskutiert. Weitere Mitglied285 EuGH, Rs C-249/96, Slg 1998, I-621 ff, Rn 35 – Grant. 286 Marauhn/Böhringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 16. 287 EuGH, Rs C-267/06, Slg 2008, I-1757, Rn 65 ff – Maruko; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 5.
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staaten erkennen das von der Ehe zu unterscheidende Institut der eingetragenen Partnerschaft an, das in Bezug auf die Rechtsfolgen jedoch mit der Ehe vergleichbar ist. Zu diesen Ländern gehören Italien, Griechenland, die Tschechische Republik, Zypern, Estland, Ungarn und Kroatien. Andererseits gibt es Mitgliedstaaten, die bislang weder die gleichgeschlechtliche Ehe noch die eingetragene Partnerschaft anerkennen. Konkret sind dies im Moment Bulgarien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und die Slowakei. Der EGMR hat im Fall Schalk und Kopf im Jahr 2010 unter Verweis auf Art 9 GRCh entschieden, dass Art 12 EMRK trotz des entgegenstehenden Wortlauts auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften anwendbar sei, wobei die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe den Konventionsstaaten obliege.288 Die offiziellen Erläuterungen zur Grundrechte-Charta, welche nach Art 52 VII GRCh bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind, implizieren, dass die Tragweite der Ehegarantie davon abhängt, ob das jeweilige nationale Recht gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften mit einbezieht.289 Daher lässt sich sagen, dass Art 9 GRCh Union und Mitgliedstaaten dazu zwingt, eine gleichgeschlechtliche Ehe wie eine Ehe zwischen Mann und Frau zu behandeln, wenn und soweit das nationale Recht des jeweiligen Mitgliedstaates den Ehebegriff entsprechend erweitert.290 Darüber hinaus gewährt Art 9 GRCh jedoch keinen genuin unionsrechtlichen Schutz gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, welcher die Mitgliedstaaten dazu verpflichten würde, das Institut der Ehe für homosexuelle Partnerschaften zu öffnen.291 Nicht unter den Ehebegriff subsumiert werden können nichteheliche Lebensgemeinschaften, da diesen das Merkmal der Dauerhaftigkeit nicht zwingend inhärent ist.292 Nicht geschützt ist dementsprechend auch die im schiitischen Recht anerkannte Ehe auf Zeit.293 Entsprechendes gilt für polygame Beziehungen294 sowie für die Scheinehe.295 Eine bestimmte Form hingegen ist für die Eheschließung nicht vorausgesetzt, so dass es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt zu entscheiden, welche Formen der Eheschließung sie jeweils anerkennen.296
288 EGMR, Urt v 24.6.2010, 30141/04, RJD 2010, § 61 – Schalk u Kopf/Österreich. 289 ABl 2007 Nr C 303, 17 (21). 290 EuGH, Urt v 24.11.2016, Rs C-443/15, NZA 2017, 233, Rn 59 – Parris; EuGH (GK), Urt v 5.6.2018, Rs C673716, NVwZ 2018, 1545 Rn 39 u 45 – Coman; Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR Bd 2, § 11 Rn 21; Wolff, EuR 2005, 721 (723). 291 EuGH (GK), Urt v 5.6.2018, Rs C-673716, NVwZ 2018, 1545, Rn 39 u 45 – Coman; Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 5; Marauhn/Böringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 32. 292 Tettinger/Muckel in: Stern/Sachs, GRCh, Art 9 Rn 19. 293 Bock NJW 2012 122 (124); Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 16. 294 Jarass GRCh, Art 9 Rn 5. 295 Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 17. 296 Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 47. Andrea Edenharter
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(2) Familie 38 Der Begriff der Familie ist, anders als der Begriff der Ehe, kein normgeprägter Begriff. Stattdessen ist die Familie ein soziales Phänomen, welches durch das konkrete Zusammenleben geprägt wird.297 Wie sich bereits aus dem Wortlaut ergibt, wird der Schutz der Familie in Art 9 GRCh unabhängig vom etwaigen Bestehen einer Ehe gewährleistet. Insoweit besteht ein Unterschied zu Art 7 GRCh, wo das Eheleben dem Familienleben zugeordnet wird.298 Daraus folgt, dass nicht nur die heterosexuelle Ehepaare mit Kindern dem Schutzbereich des Art 9 2. Var GRCh unterfallen, sondern auch nichteheliche oder homosexuelle Lebensgemeinschaften mit Kindern sowie Alleinerziehende mit Kindern.299 Teilweise wird vertreten, „Familie“ könne auch die Beziehung zu nahen Verwandten umfassen.300 Diese Auffassung ist jedoch nicht überzeugend, da Art 9 GRCh von der „Gründung“ einer Familie spricht, welche bei bestehenden Verwandtschaftsverhältnissen gerade nicht gegeben ist.301
(3) Geschütztes Verhalten 39 Art 9 GRCh schützt sowohl das Eingehen der Ehe als auch die Freiheit, auf eine Ehe
bzw Familie zu verzichten.302 Voraussetzung für die Eheschließung ist die freie und vollständige Einwilligung der beiden Ehepartner.303 Nicht in den sachlichen Schutzbereich von Art 9 GRCh fällt die Ehescheidung, die jedoch über Art 7 GRCh geschützt ist.304 Ebenfalls nicht über Art 9 GRCh, sondern über Art 7 GRCh geschützt ist das eheliche und familiäre Zusammenleben. Sehr wohl von Art 9 GRCh erfasst ist jedoch der Zeitpunkt der Familiengründung sowie die Entscheidung, wie viele Kinder gewünscht werden.305 Auch die Zeugung von Kindern auf biologischem Weg fällt in den Schutzbereich der Familiengründungsfreiheit.306 Entsprechendes gilt
297 Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 49. 298 Jarass GRCh, Art 9 Rn 6. 299 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 6; Wolff, EuR 2005, 721 (731 f). 300 So etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 6. 301 Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 168. 302 Jarass GRCh, Art 9 Rn 6. 303 Jarass GRCh, Art 9 Rn 6. 304 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 7; aA aber wohl Wolff, EuR 2005, 721 (729 f). 305 Wolff, EuR 2005, 721 (731); Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 167. 306 Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 33; Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 167.
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für die Verwendung reproduktionsmedizinischer Verfahren.307 Daneben ist auch das Adoptionsrecht vom Anwendungsbereich des Art 9 GRCh erfasst, da es keinen Unterschied machen kann, ob eine Familie auf tatsächlichem oder auf rechtlichem Weg gegründet wird.308
bb) Persönlicher Schutzbereich Art 9 GRCh schützt ausschließlich natürliche Personen. In Anlehnung an Art 12 40 EMRK ist in Bezug auf die Eheschließungsfreiheit jedoch zu fordern, dass die betreffende Person im heiratsfähigen Alter ist, da andernfalls die Einsichtsfähigkeit in die Folgen einer Eheschließung fehlt.309 Etwas anderes gilt indes hinsichtlich der Familiengründung, da die Vorschrift in erster Linie die Kinder schützen soll und gerade jungen Eltern der grundrechtliche Schutz nicht versagt werden darf.310 Auch Transsexuelle können sich auf Art 9 GRCh berufen.311 Auf juristische Personen hingegen ist das Grundrecht seinem Wesen nach nicht anwendbar.312
b) Beeinträchtigungen Der Schutzbereich ist tangiert, wenn die Eheschließung oder die Familiengründung 41 verhindert, erschwert oder unmöglich gemacht werden.313 Dies ist etwa bei Eheverboten oder -hindernissen, bei der Pflicht zur Vorlage einer Ehefähigkeitsbescheinigung,314 bei Regelungen zur Zwangsauflösung oder Nichtanerkennung einer Ehe315 sowie bei Maßnahmen zur Geburtenkontrolle oder Zwangssterilisation der Fall.316 Entsprechendes gilt für Maßnahmen der Union, welche die Mitgliedstaaten bei der Sicherung der Eheschließung oder Familiengründung beeinträchtigen, da mittelbare Beeinträchtigungen grundsätzlich ausreichen.317 Kein Eingriff in Art 9 GRCh
307 Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 33; Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 167. 308 Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 168 f; Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 35. 309 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 8; Jarass GRCh, Art 9 Rn 8. 310 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 8; Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 9 GRCh Rn 3; aA aber Jarass GRCh, Art 9 Rn 8. 311 EuGH, Rs C-117/01, Slg 2004, I-541, Rn 33 – K.B; Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 9 GRCh Rn 4. 312 Jarass GRCh, Art 9 Rn 8. 313 Jarass GRCh, Art 9 Rn 9; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 9. 314 Marauhn/Böringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 27. 315 Wolff, EuR 2005, 721 (729). 316 Jarass GRCh, Art 9 Rn 9. 317 Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 8; Jarass GRCh, Art 9 Rn 9.
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liegt vor bei Regelungen zur Verhinderung oder Erschwerung der Scheidung, da diese ausschließlich von Art 7 GRCh geschützt wird.318
c) Rechtfertigung 42 Maßstab, an dem sich Beeinträchtigungen des Schutzbereichs messen lassen müs-
sen, ist grundsätzlich Art 52 I GRCh, wonach eine gesetzliche Grundlage für den Eingriff gegeben sein muss und das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten ist. Ergeben sich aus Art 12 EMRK und der diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR allerdings strengere Anforderungen an Einschränkungen der Eheschließungs- oder Familiengründungsfreiheit, so ist Art 52 III 1 GRCh maßgeblich.319 Nicht zu rechtfertigen ist beispielsweise eine mitgliedstaatliche Regelung, die vorsieht, dass die Ehefrau nach der Heirat zwingend den Namen des Ehemannes führen muss, während dies umgekehrt nicht verlangt wird.320 Außerdem wäre ist die Festlegung einer dreijährigen Wartezeit für eine erneute Heirat nach Scheidung unverhältnismäßig.321 Formvorschriften zur Heirat sowie Regelungen zum Heiratsalter hingegen können gerechtfertigt werden.322 Bei der Frage der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften besitzen die Mitgliedstaaten einen Ausgestaltungsspielraum.323
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Lösung Fall 1: Der EuGH stellte in seinem Urteil zunächst fest, dass das Gemeinschaftsrecht in dem fraglichen Fall anwendbar sei, da eine Hinterbliebenenrente, die im Rahmen eines beruflichen Sozialversicherungssystems gezahlt wird, als Entgelt im Sinne von Art 141 EGV (= Art 157 AEUV) und der Richtlinie RL 75/ 117/EWG (= RL 2006/54/EG) anzusehen sei. Eine solche Leistung sei eine Vergütung, die ihren Ursprung in der Zugehörigkeit des Ehegatten des Hinterbliebenen zu dem Rentensystem habe, so dass der Hinterbliebene den Rentenanspruch im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses erwerbe und ihm die Rente auf Grund des Beschäftigungsverhältnisses seines Ehegatten gezahlt werde. Die Ent-
318 Marauhn/Böringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 31. 319 Jarass GRCh, Art 9 Rn 10; Marauhn/Böringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 30; krit dazu Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 9 GRCh Rn 10; Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 153 f. 320 Vgl. EGMR, Urt v 16.11.2004, 29865/96, RJD 2004-X, §§ 63–68 – Ünal Tekeli/Türkei; UerpmannWittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 48. 321 EGMR, Urt v 18.12.1987, 11329/85, § 40 – F./Schweiz; Wolff, EuR 2005, 721 (728). 322 Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 47; Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 165 f; Joamets in: Kerikmäe, Protecting Human Rights in the EU – Controversies and Challenges of the Charter of Fundamental Rights, 2014, S 91 (100). 323 EGMR, Urt v 7.11.2013, 29381/09 u 32684/09, RJD 2013, § 91 – Vallianatos ua/Griechenland; Urt v 21.7.2015, 18766/11 u 36030/11, Rn 192 – Oliari ua/Italien; EuGH (GK), Urt v 5.6.2018, Rs C-673716, NVwZ 2018, 1545, Rn 37 – Coman; Jarass GRCh Art 9 Rn 12.
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scheidung, bestimmte Vorteile verheirateten Paaren vorzubehalten, sei Sache des Gesetzgebers oder folge aus der Auslegung des innerstaatlichen Rechts durch die nationalen Gerichte, ohne dass damit eine verbotene Diskriminierung auf Grund des Geschlechts verbunden sei. Eine Ungleichbehandlung bestehe jedoch darin, dass Frau K.B. und R. nicht in der Lage seien, miteinander die Ehe einzugehen, da sie nach britischen Recht unter keinen Umständen die Voraussetzungen für eine Eheschließung erfüllen könnten. Daher nahm der EuGH einen Verstoß gegen Art 141 EGV (= Art 157 AEUV) an. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Christine Goodwin aus dem Jahr 2002, wonach die britische Rechtslage, die die rechtliche Anerkennung einer neuen sexuellen Identität nicht ermögliche, eine Verletzung des Rechts auf Eheschließung nach Art. 12 EMRK begründe (EGMR, Entsch v 11.7.2002, 28957/95, RJD 2002-VI – Christine Goodwin). Damit übertrug der EuGH die Rechtsprechung des EGMR zur Eheschließungsfreiheit von Transsexuellen stillschweigend auf das Gemeinschaftsrecht.
3. Schutz des Familien- und Berufslebens (Art 33 GRCh)
Fall 2: (EuGH, Urt v 7.9.2017, Rs C-174/16, NJW 2017, 3357 ff – H./Berlin)
Frau H. trat 1999 in den Dienst des Landes Berlin ein und ist in dessen Verwaltung als Beamtin auf Lebenszeit tätig, ab 2008 als Senatsrätin der Besoldungsgruppe A 16. Nach Durchführung eines Auswahlverfahrens wurde sie 2011 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Probe zur Senatsrätin der Besoldungsgruppe B 2 befördert und ihr wurde eine entsprechende Planstelle mit Leitungsaufgaben zugewiesen. H. trat ihren Dienst auf diesem neuen Dienstposten jedoch nicht an, da sie zunächst schwangerschaftsbedingt dienstunfähig erkrankt und anschließend bis zum Jahr 2015 im Mutterschaftsurlaub bzw. im Anschluss daran im Elternurlaub war. In der Zwischenzeit wurde das Aufgabengebiet, das H. im Beamtenverhältnis auf Probe übertragen worden war, in der zweiten Jahreshälfte 2012 erneut ausgeschrieben und anschließend besetzt. Im Jahr 2014 teilte das Landesverwaltungsamt Berlin Frau H. mit, dass ein erfolgreicher Abschluss der zweijährigen Probezeit im übertragenen Amt nicht feststellbar sei, da sie dieses Amt nicht wahrgenommen habe und dass ihr Beamtenverhältnis auf Probe nach § 97 IV BerlLBG daher mit Ablauf des 19.9.2013 geendet habe. Ihr werde wieder das frühere Amt einer Senatsrätin übertragen. Gegen diese Entscheidung klagte H. vor dem VG Berlin. Dieses hatte Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit von § 97 BerlLBG mit Unionsrecht, insbesondere mit § 5 Nr 1 und 2 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub, die im Anhang der RL 2010/18/EU abgedruckt war (heute: RL 2019/1158/EU), da H. nach ihrem Elternurlaub nicht an den Arbeitsplatz, den sie vor ihrem Elternurlaub innegehabt hatte oder an einen gleichwertigen Arbeitsplatz zurückkehren konnte, sondern ihr ein niedrigeres Statusamt übertragen worden ist. Zudem sei problematisch, dass die Übertragung des niedrigeren Statusamtes eine niedrigere Besoldung zur Folge habe, § 5 Nr 2 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung aber vorsehe, dass die Rechte, die der Arbeitnehmer erworben habe oder dabei gewesen sei zu erwerben, trotz Elternurlaub bestehen bleiben, wobei es freilich nicht auszuschließen sei, dass § 97 BerlLBG eine Rechtsvorschrift iSv § 5 Nr 2 S 2 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung darstelle, aus der sich nach dem Elternurlaub in zulässiger Weise Änderungen der Rechte des Arbeitnehmers ergeben könnten. Dementsprechend legte das VG Berlin die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
a) Schutz der Familie (Art 33 I GRCh) 324 45 Der Begriff der Familie in Art 33 I GRCh ist weit zu verstehen. Demnach werden alle Lebensgemeinschaften mit Kindern geschützt, unabhängig davon, ob die Eltern verheiratet sind oder nicht oder ob sie überhaupt Kontakt zueinander halten.325 Dementsprechend sind auch Familien, die aus nur einem Elternteil und Kindern bestehen, geschützt.326 Auch durch Adoption begründete Familien327 und Beziehungen zwischen nahen Verwandten können in den Schutzbereich einbezogen werden, wenn ein besonderes Näheverhältnis besteht.328 Dies kann etwa bei Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln der Fall sein. In sachlicher Hinsicht schützt Art 33 I GRCh die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen der Familie.329 Kernstück ist dabei die wirtschaftliche Förderung der Familie, etwa durch Familienleistungen oder steuerliche Vorteile.330 Der soziale Schutz bezieht sich ua auf die Verfügbarkeit von Wohnraum von angemessener Größe, die Bereitstellung von Kinderbetreuungseinrichtungen und Familienberatungsstellen.331 Beeinträchtigungen des Art 33 I GRCh können sich daraus ergeben, dass die EU den Schutz von Familien durch die Mitgliedstaaten behindert.332 Das EU-Sekundärrecht ist, ebenso wie das nationale Recht bei der Durchführung von Unionsrecht nach Art 51 I 1 GRCh, im Lichte von Art 33 I GRCh auszulegen.333 Unklar ist bislang, ob Art 33 I GRCh auch positive Pflichten zum Schutz der Familie begründet.334 Bejaht man derartige Pflichten, ist zu beachten, dass es sich bei Art 33 I GRCh lediglich um einen Grundsatz handelt,335 so dass den Verpflichteten bei der Ausgestaltung des Schutzes ein sehr weiter Spielraum zukommt.336 Beschränkungen des Art 33 I GRCh sind zum Schutz konkurrierender Rechtsgüter möglich, wobei die Vorgaben des Art 52 I GRCh zu beachten sind.337
324 Jarass GRCh, Art 33 Rn 6. 325 Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 30; Frenz GR, Rn 4045. 326 Jarass GRCh, Art 33 Rn 6. 327 Tettinger/Geerlings, EuR 2005, 419 (427). 328 Jarass GRCh, Art 33 Rn 6; Frenz GR, Rn 4045; Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 33 GRCh Rn 3. 329 Jarass GRCh, Art 33 Rn 6; Uerpmann-Wittzack in: EnzEuR, Bd 2, § 11 Rn 30; Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 213. 330 Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 214 f. 331 Rogalla Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta, 2017, S 215 f. 332 Jarass GRCh, Art 33 Rn 8. 333 Jarass GRCh, Art 33 Rn 8; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 4. 334 S dazu Jarass GRCh, Art 33 Rn 8. 335 Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 33 GRCh Rn 7; Tettinger/Muckel in: Stern/Sachs, GRCh, Art 33 Rn 5; aA Böhringer, in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 14; aA auch → Kingreen, § 8.2 Rn 41 336 Tettinger/Muckel in: Stern/Sachs, GRCh, Art 33 Rn 8; Jarass GRCh, Art 33 Rn 8 f; Frenz GR, Rn 40, Rn 4052. 337 Jarass GRCh, Art 33 Rn 9.
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§ 4.1.2 Leben, Unversehrtheit, Privat-und Familienleben: GRCh
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b) Mutter- und Elternschutz (Art 33 II GRCh) Art 33 II GRCh, bei dem es sich um ein Grundrecht handelt,338 schützt ausweislich 46 des Wortlauts „jeder Mensch“ nicht nur (werdende) Mütter, sondern auch (werdende) Väter.339 Die Vorschrift möchte dazu beitragen, dass Familien- und Berufsleben miteinander in Einklang gebracht werden können.340 Art 33 II GRCh schützt sowohl Arbeitnehmer als auch Selbständige.341 Juristische Personen hingegen werden nicht geschützt. In sachlicher Hinsicht ist zu differenzieren zwischen Art 33 II 1. und 2. Var GRCh, die das Stadium der Mutterschaft arbeitsrechtlich schützen, und Art 33 II 3. Var GRCh, der darüber hinausgehend den Elternurlaub verbürgt.342 Unter „Mutterschaft“ ist nach den Erläuterungen zur Grundrechte-Charta der Zeitraum „von der Zeugung bis zum Stillen“ zu verstehen.343 Diese Interpretation ist jedoch problematisch, da sie Mütter, die nicht stillen, diskriminiert. Daher und auch aus Gründen der Rechtssicherheit ist auf das Ende des Mutterschaftsurlaubs abzustellen, so wie es auch in Art 8 und 10 der zugrundeliegenden Mutterschutz-Richtlinie RL 92/85/EWG vorgesehen ist.344 Für diese Zeit gewährleistet Art 33 II 1. Var GRCh Schutz vor Entlassung. Erfolgt eine Entlassung in dieser Zeit, besteht die Vermutung, dass ein Zusammenhang mit der Mutterschaft besteht, doch kann der Arbeitgeber diese Vermutung widerlegen.345 Art 33 II 2. Var GRCh gewährleistet einen bezahlten Mutterschaftsurlaub, wobei es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, ob die Bezahlung durch den Arbeitgeber oder durch angemessene Leistungen der sozialen Sicherheit erfolgt.346 Nach Art 33 II 3. Var GRCh steht den Eltern nach der Geburt oder Adoption eines Kindes ein Elternurlaub zu, dessen Dauer nicht vorgegeben ist, der sich aber an Art 5 I der Vereinbarkeitsrichtlinie RL 2019/1158/EU orientieren dürfte, die eine Dauer von vier Monaten vorsieht.347 Bei Zwillingen kann eine gewisse Verlängerung geboten sein.348 Für den Anspruch unerheblich ist,
338 Jarass GRCh, Art 33 Rn 11; Sagmeister Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, 2010, S 374; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 5. 339 EuGH, Rs C-104/09, Slg 2010, I-8661 Rn 39 – Roca Álvarez; Böhringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 19; Tettinger/Muckel in: Stern/Sachs, GRCh, Art 33 Rn 11. 340 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 6; → ders, § 8.2 Rn 42. 341 Jarass GRCh, Art 33 Rn 15. 342 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 7. 343 ABl 2007 Nr C 303, 17 (27). 344 Rohleder in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 33 Rn 41; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 8. 345 Jarass GRCh, Art 33 Rn 16. 346 Jarass GRCh, Art 33 Rn 17; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 8. 347 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 9. 348 EuGH, Rs C-149/10, Slg 2010, I-8489 Rn 59 f, 72 f – Chatzi; Böhringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 17. Andrea Edenharter
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
ob eine Ehe besteht und wie die familienrechtliche Personensorge im konkreten Fall ausgestaltet ist.349 Wie sich im Umkehrschluss aus Art 33 II 2. Var GRCh ergibt, ist eine Bezahlung des Elternurlaubs nicht verpflichtend, sie kann aber durch Sekundärrecht oder nationale Regelungen angeordnet werden.350 Eine Beeinträchtigung des Art 33 II GRCh liegt vor, wenn eine Kündigung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund erfolgt (1. Var), wenn kein bezahlter Mutterschaftsurlaub gewährt wird (2. Var) oder kein Anspruch auf Elternurlaub garantiert wird (3. Var). Nach den allgemeinen Grundsätzen des Art 51 I 1 GRCh sind sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten grundrechtsverpflichtet. Die EU greift in den Schutzbereich von Art 33 II GRCh ein, wenn sie die Mitgliedstaaten daran hindert, den Vorgaben des Art 33 II GRCh zum Schutz von Eltern gerecht zu werden.351 Bislang nicht geklärt ist, ob auch Private, insbesondere Arbeitgeber, an das Grundrecht gebunden sind. Dafür spricht, dass Art 33 II GRCh andernfalls weitgehend leer liefe. Andererseits ist eine Drittwirkung nicht erforderlich, nachdem die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sind, den nationalen Kündigungsschutz entsprechend elternfreundlich auszugestalten.352 Die Rechtfertigung von Beeinträchtigungen richtet sich nach Art 52 I GRCh, so dass insbesondere eine gesetzliche Grundlage vorliegen muss und das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten ist.353
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Lösung Fall 2: Der Gerichtshof entschied, dass § 97 BerlLBG im Lichte von RL 2010/18/EU und der überarbeiteten Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub (heute: RL 2019/1158/EU) zu prüfen sei. Ferner verwies der EuGH auf Art 33 II GRCh, wonach jeder Mensch Anspruch ua auf Elternurlaub nach der Geburt oder Adoption eines Kindes habe, um Familien- und Berufsleben miteinander in Einklang bringen zu können. Dementsprechend dürften § 5 Nr 1 und Nr 2 S 1 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung nicht restriktiv ausgelegt werden. Daher reiche es für die Anwendung von § 5 Nr 1 und 2 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung aus, dass Frau H., als sie ihren Elternurlaub antrat, im Anschluss an ein Auswahlverfahren und ihre Beförderung bereits das betreffende Amt im Beamtenverhältnis auf Probe übertragen worden war und sie bereits die Besoldung der höheren Besoldungsgruppe erhielt. Dass sie sich zum Zeitpunkt der Übertragung dieses Amts im schwangerschaftsbedingten Krankheitsurlaub befand, ändere daran nichts, dass sie ihr neues Amt ab diesem Zeitpunkt innehatte, so dass sie es, als sie später ihren Elternurlaub angetreten habe, bereits bekleidet habe und etwaige damit verbundene Rechte oder Anwartschaften besessen habe. § 97 BerlLGB sei auch nicht als nationale Rechtsvorschrift iSv § 5 Nr 2 S 2 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung zu betrachten, aus der
349 Jarass GRCh, Art 33 Rn 18. 350 Jarass GRCh, Art 33 Rn 18; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 9; Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 33 GRCh Rn 10. 351 Jarass GRCh, Art 33 Rn 19. 352 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 12; für eine mittelbare Drittwirkung aber Knecht in: Schwarze, EU-Komm Art 33 GRCh Rn 6. 353 Böhringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 22. Andrea Edenharter
§ 4.1.2 Leben, Unversehrtheit, Privat-und Familienleben: GRCh
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sich im Anschluss an den Elternurlaub in zulässiger Weise Änderungen von Arbeitnehmerrechten ergeben könnten, da andernfalls die praktische Wirksamkeit des den Arbeitnehmern durch § 5 Nr 2 S 1 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung gewährten Schutzes beeinträchtigt würde. Daher ist nach Auffassung des EuGH § 5 Nr 1 und Nr 2 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung dahin gehend auszulegen, dass die Norm einer nationalen Regelung wie § 97 BerlLBG entgegen steht, wonach im Ergebnis die Elternzeit während einer Probezeit angerechnet wird und wonach die Probezeit kraft Gesetzes und unter Ausschluss der Möglichkeit einer Verlängerung endet, wenn sich der Bewerber während des überwiegenden Teils davon im Elternurlaub befand, so dass dem Bewerber bei der Rückkehr aus dem Elternurlaub automatisch wieder das status- und besoldungsrechtlich niedriger eingestufte Amt übertragen wird. Damit nimmt der EuGH eine Auslegung von § 5 Nr 1 und Nr 2 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung im Lichte von Art 33 II GRCh vor, ohne sich freilich mit der Interpretation von Art 33 II GRCh näher auseinander zu setzen.
Andrea Edenharter
§ 4.2 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten § 4.2.1 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten nach der EMRK Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 6.9.1978, 5029/71, NJW 1979, 1755 – Klass ua; Urt v 16.12.1992, 13710/ 88, NJW 1993, 718 – Niemietz; (GK), Urt v 16.2.2000, 27798/95 – Amann; (GK), Urt v 4.5.2000, 28341/95 – Rotaru; Urt v 25.9.2001, 44787/98 – PG u JH/Vereinigtes Königreich; Urt v 29.4.2002, 2346/02, NJW 2002, 2851 – Pretty; (GK), Urt v 11.7.2002, 28957/95, NJW-RR 2004, 289 – Goodwin; (GK), Urt v 4.12.2008, 30562/04 ua, EuGRZ 2009, 299 – S u Marper; (GK) Urt v 4.12.2015, 47143/06 – Zakharov; (GK) Urt v 27.6.2017, 931/13 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy; (GK), Urt v 5.9.2017, 61496/08, EuZW 2018, 169 – Bărbulescu; (GK), Urt v 25.9.2018, 76639/11 – Denisov; (GK), Urt v 17.10.2019, 1874/13 ua, NZA 2019, 1697 – López Ribalda ua; (GK), Urt v 25.5.2021, 38170/13 ua, NVwZ-Beilage 2021, 11 – Big Brother Watch ua. Schrifttum: Gundel Der Schutz der – in der EMRK nicht normierten – Berufsfreiheit in der Rechtsprechung des EGMR und seine Konsequenzen für das Unionsrecht, DVBl 2020, 1042; Huber „Massenüberwachung“ vor dem EGMR, NVwZ-Beilage 2021, 3; Kugelmann Der Schutz privater Individualkommunikation nach der EMRK, EuGRZ 2003, 16; Lörcher Elektronische Überwachung am Arbeitsplatz und Europäische Menschenrechtskonvention, ArbuR 2020, 100; Marauhn/Thorn Privat- und Familienleben, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 868; Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018; Paefgen Der von Art. 8 EMRK gewährleistete Schutz vor staatlichen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte im Internet, 2017; Pärli Die EGMR-Rechtsprechung zum Schutz der Privatsphäre und vor Überwachung am Arbeitsplatz, EuZA 2020, 224; Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012; Schlachter Verdeckte Video-Überwachung am Arbeitsplatz bei Verdacht auf Diebstahl, EuZA 2020, 533; Schulz Geschlechtervielfalt in Europa, ZEuP 29 (2021), 64; Siemen Datenschutz als europäisches Grundrecht, 2011; Sperlich Suizidbeihilfe in der Rechtsprechung des EGMR, 2019; Theilen Der Schutz Transsexueller in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts, ZEuS 15 (2012), 363; van der Sloot, The Quality of Law, JIPITEC 11 (2020), 160; Woll Sterben dürfen und sterben lassen?, ZEuS 21 (2018), 181.
I. Einführung: Thematische Eingrenzung 1 Art 8 EMRK schützt seinem Wortlaut nach das Privatleben, das Familienleben,
die Wohnung und die Korrespondenz. Er umfasst somit grundrechtliche Gewährleistungen, die das Grundgesetz in mehreren speziellen Grundrechten (ua Art 2 I iVm Art 1 I, Art 2 II 1, Art 6, 10 und 13 GG) verbürgt. Mit Blick auf ihren gemeinsamen Zweck werden die vier sich vielfach überschneidenden Rechte unter dem Oberbegriff des Privatsphärenschutzes zusammengefasst.1 Dieser schillernde Be-
1 So Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 1; sa Marauhn/Thorn in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 16 Rn 15 ff.
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§ 4.2.1 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten: EMRK
griff2 vermittelt eine erste Idee des weiten Gewährleistungsumfangs des Art 8 EMRK, lädt aber auch zu Missverständnissen ein, die daher schon an dieser Stelle kurz angesprochen werden sollen. So darf der Begriff der Privatsphäre zum einen nicht zu einem räumlichen Denken verleiten, da durch Art 8 EMRK nicht nur besonders abgeschirmte Rückzugsorte als solche, sondern beispielsweise auch die soziale Interaktion mit anderen Menschen als Teil des Privatlebens geschützt ist (Rn 16).3 Der auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit abzielende Schutz bedingt zum anderen, dass die Privatsphäre keinesfalls als scharf von einem öffentlichen Raum abgrenzbar verstanden werden kann, wie unter anderem die Rechtsprechung zu in der Öffentlichkeit entstandenen Pressefotografien (Rn 15) oder zur Videoüberwachung (Rn 22) zeigt. Obwohl die statistische Auswertung der EGMR-Rechtsprechung ergibt, dass 2 Art 8 EMRK eine eher durchschnittliche praktische Relevanz aufweist, wird die Norm zu den in Deutschland bekanntesten Konventionsrechten gezählt, da sie in vielen Beschwerden gegen Deutschland als verletzt gerügt wird.4 Die besondere Bedeutung der Norm ergibt sich vor allem aus ihrem weiten Anwendungsbereich und ihrer lückenfüllenden Funktion (Rn 4). Für den vorliegenden Beitrag folgt hieraus in besonderer Weise das Erfordernis, Schwerpunkte in der Darstellung zu setzen. Auch um den Vergleich zur Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und EuGH zu ermöglichen, konzentriert sich der Beitrag daher vor allem auf die Darstellung jener Gewährleistungsgehalte, die in Deutschland dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, dem Fernmeldegeheimnis und der Unverletzlichkeit der Wohnung zugeordnet werden. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den – vom EGMR unter dem Begriff der „positiven Verpflichtungen der Konventionsstaaten“ zusammengefassten – Schutzpflichten- und Gewährleistungsdimension zu (Rn 44 ff). Die beschriebene Schwerpunktsetzung dient zugleich auch der Abgrenzung zu 3 den anderen Beiträgen innerhalb des vorliegenden Buchs. So wird der Schutz des Familienlebens nicht nur in einem gesonderten Kapitel (→ Germelmann, § 4.1.1 Rn 54 ff), sondern auch im Kapitel über den Schutz des Aufenthaltes (→ Schorkopf, § 4.4.1 Rn 12), für den das Familienleben vielfach den Anknüpfungspunkt bietet, behandelt. Auch der Schutz der körperlichen Integrität, für den der EGMR auf Art 8
2 Zu den unterschiedlichen Begriffen der Privatsphäre, der Privatheit und der privacy sowie den dahinterliegenden Begriffsverständnissen des Privaten s aus der rechtswissenschaftlichen Literatur nur Eichenhofer e-Privacy, 2021, S 15 ff; Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 5 ff; Albers, DVBl 2010, 1061 ff; Nettesheim VVDStRL 70 (2011), 7 (14 ff); darüber hinaus grundlegend Rössler Der Wert des Privaten, 2001. 3 Vgl hierzu und zum Folgenden Gusy, EuGRZ 2018, 244 (247 f). 4 Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 1.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
EMRK zurückgreift, wenn ein Eingriff – wie zB eine Impfpflicht5 – in seiner Schwere und Qualität nicht die Schwellen des Rechts auf Leben (Art 2 EMRK) und des Schutzes vor unmenschlicher Behandlung (Art 3 EMRK) erreicht, ist schwerpunktmäßig Gegenstand eines eigenen Kapitels (→ Germelmann, § 4.1.1 Rn 6 ff). Nur Erwähnung finden soll in diesem Zusammenhang der aus Art 8 EMRK folgende indirekte Schutz vor umweltbezogenen Beeinträchtigungen, der in der Rechtsprechung des EGMR an Bedeutung gewinnt.6 Kurz angesprochen wird im Folgenden der Schutz der sexuellen Identität und Präferenz (Rn 9 f), da der EGMR diesen vielfach freiheitsrechtlich über Art 8 EMRK absichert. Schließlich schützt Art 8 EMRK auch Aspekte der Berufsfreiheit,7 die hier als Ausdruck der lückenfüllenden Funktion des Rechts auf Schutz des Privatlebens (Rn 4, 16) sowie in Bezug auf die Schutzgüter der Wohnung (Rn 20) und der Korrespondenz (Rn 25) erörtert werden; im Übrigen wird auf das gesonderte Kapitel zur Berufsfreiheit verwiesen (→ Ruffert, § 6.1). Dagegen stellen der Schutz des guten Rufes im Rahmen von berufsbezogenen Streitigkeiten und der Schutz vor Videoüberwachung am Arbeitsplatz klassische Themen der Schutzpflichtendimension des Privatsphärenschutzes dar, weshalb sie einen Platz im vorliegenden Kapitel finden (Rn 46, 48).
II. Schutzbereich 1. Allgemein: Lückenfüllende Funktion des Begriffs des Privatlebens – Kasuistisches Vorgehen des Gerichtshofs 4 Den Kern des Schutzbereichs von Art 8 I EMRK bildet das Recht auf Achtung des Pri-
vatlebens. Dieses wird vom EGMR weit verstanden und daher nicht selten auch neben oder gemeinsam mit einem der anderen drei Schutzgüter geprüft (s Rn 20, 24). Der Begriff des Privatlebens, so betont es der Gerichtshof regelmäßig, lässt sich nicht umfassend und abschließend definieren;8 Art 8 I EMRK vermittelt ein „Recht auf persönliche Entfaltung […], sei es in Bezug auf die Persönlichkeit […]
5 EGMR (GK), Urt v 8.4.2021, 47621/13, NJW 2021, 1657, § 261 – Vavřička ua. 6 Hierzu und allgemein zur EGMR-Rechtsprechung in Umwelt- und Klimaschutzfragen Peters, AVR 59 (2021), 164; als Beispiel aus der jüngeren Rspr s EGMR, Urt v 24.1.2019, 54414/13 u 54264/15, NVwZ 2020, 451 – Cordella ua; Überblick bei Meyer-Ladewig/Nettesheim in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 8 Rn 18 ff; Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 38 ff. 7 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 15. 8 Dem entspricht der entwicklungsoffene Charakter des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art 2 I iVm Art 1 I GG, vgl Eifert in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 18 Rn 48 ff.
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§ 4.2.1 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten: EMRK
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oder die persönliche Autonomie, die ein wichtiger Grundsatz bei der Auslegung der Garantien des Artikel 8 ist.“9 Neben dieser inneren Seite umfasst der Schutz aber auch eine äußere Dimension, insbesondere die Möglichkeit, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu gestalten.10 Dieser verhaltensbezogene Schutz einzelner Aspekte des Privatlebens übernimmt in der EGMR-Rechtsprechung eine lückenfüllende Funktion (Rn 16), da er beispielsweise das Fehlen einer ausdrücklichen Gewährleistung der Berufsfreiheit teilweise kompensiert (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 29). Die äußere Dimension des Rechts auf Schutz des Privatlebens reicht jedoch nicht so weit, dass Art 8 I EMRK als ein Auffanggrundrecht verstanden werden könnte, das jegliches menschliche Verhalten schützt und damit das gesamte freiheitsbeschränkende staatliche Handeln einem Rechtfertigungsvorbehalt, also insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, unterwirft.11 Denn anders als die allgemeine Handlungsfreiheit des Art 2 I GG, die bekanntlich auch das Taubenfüttern12 und das Reiten im Wald13 umfasst, schützt Art 8 I EMRK nur Handlungen, die eine engere Verbindung zur Persönlichkeitsverwirklichung aufweisen,14 weshalb beispielsweise eine Fuchsjagd mit Hunden nicht in den Schutzbereich fällt.15 Wann eine solche Verbindung vorliegt, lässt sich entsprechend dem eingangs zur Definition des Privatlebens Gesagten nicht abstrakt bestimmen. Vielmehr entscheidet der EGMR im Einzelfall und unter Rückgriff auf unterschiedliche Kriterien und Fallgruppen, ob eine Tätigkeit in hinreichender Weise eine Verbindung zum Privatleben aufweist. Der Fuchsjagd mit Hunden fehlt es hieran nach Ansicht des Gerichtshofs, weil die in diesem Zusammenhang geknüpften zwischenmenschlichen Beziehungen nicht hinreichend eng sind und die Jagd eine ihrem Wesen nach öffentliche Tätigkeit darstellt, die zudem keine Nähe zur persönlichen Autonomie aufweist und in der auch kein Lebensstil zum Ausdruck kommt, der untrennbar mit der Identität verbunden ist.16
9 EGMR (GK), Urt v 5.9.2017, 61496/08, EuZW 2018, 169, § 70 – Bărbulescu. 10 EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, NJW 1993, 718, § 29 – Niemietz; EGMR (GK), Urt v 25.9.2018, 76639/11, § 95 – Denisov. 11 Richter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 9 Rn 82.; Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 232 ff. 12 BVerfGE 54, 143 – Taubenfütterungsverbot. 13 BVerfGE 80, 137 – Reiten im Walde. 14 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 6; Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 233. 15 EGMR, Entsch v 24.11.2009, 16072/06 u 27809/08, § 40 ff – Friend u Countryside Alliance ua; weitere Beispiele bei Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 234 f (ua Verbot der Hundehaltung und Gurtpflicht). 16 EGMR, Entsch v 24.11.2009, 16072/06 u 27809/08, §§ 41–44 – Friend u Countryside Alliance ua.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Der Unmöglichkeit, das Privatleben als zentrales Schutzgut des Art 8 I EMRK umfassend und abschließend zu definieren, entspricht ein in besonderer Weise kasuistisches Vorgehen des Gerichtshofs.17 Dem liegt nicht allein eine andere Rechtsprechungstradition zugrunde, die ganz allgemein (und im Gegensatz zum Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts) weniger auf die breite Entfaltung verfassungsrechtlicher Maßstäbe, sondern auf eine fallspezifische Konkretisierung der Konventionsrechte und ein case-law-artiges Vorgehen setzt. Vielmehr kommt hier ein spezifisches Problem zum Ausdruck, vor das sich auch andere Gerichte gestellt sehen, wenn sie entsprechende Grundrechte zur Anwendung bringen. So lässt sich auch der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art 2 I iVm Art 1 I GG nur bedingt in subsumierbarer Weise beschreiben und ist daher in Reaktion auf konkret identifizierbare Gefährdungen nach und nach konturiert worden: Die spezifischen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts – wie das Recht am eigenen Bild oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – stellen dabei abstrahierte Antworten auf als solche bereits identifizierte Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung dar.18 Infolge des Rückgriffs auf die beeinträchtigende Handlung bereits bei der näheren Bestimmung des Schutzbereichs kommt es zu einer besonders intensiven Verzahnung der ersten beiden Stufen der Grundrechtsprüfung (Rn 28). Das Denken von der Gefährdung her führt zudem dazu, dass die gegen staatliches Handeln gerichtete Abwehrdimension und die Beeinträchtigungen durch Private erfassende Drittwirkungs- bzw. Schutzpflichtendimension besonders häufig verschwimmen, weil auf die Feststellung, dass der Schutzbereich berührt ist, keine exakte Bestimmung mehr folgt, welches Handeln oder Unterlassen in erster Linie zu kontrollieren ist.19
17 Eichenhofer e-Privacy, 2021, S 241; Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 238 f. 18 Eifert, JURA 2015, 1181 (1182). 19 Nach Ansicht des EGMR ist die ohnehin schwer zu treffende Unterscheidung zwischen den – vom Gerichtshof als negative und positive Verpflichtungen bezeichneten – Grundrechtsdimensionen nicht von zentraler Bedeutung, da ohnehin ähnliche Prinzipien gelten und den Kern eine Abwägung der kollidierenden Grundrechte bilden soll, EGMR (GK), Urt v 5.9.2017, 61496/08, EuZW 2018, 169, § 112 – Bărbulescu; Urt v 17.10.2019, 1874/13 ua, NZA 2019, 1697, § 111 – López Ribalda ua. Mit Blick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes hebt die Bedeutung einer Differenzierung der Dimensionen dagegen zu Recht Eifert, JURA 2015, 1181 (1183) hervor; als Beispiel für eine strikte Unterscheidung der Grundrechtsdimensionen beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung BVerfG, Beschl v 6.11.2019, 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, Rn 79 ff – Recht auf Vergessen I = Eifert, JK 2020/411; hierzu Marsch, ZEuS 2020, 597 (611 f).
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§ 4.2.1 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten: EMRK
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2. Teilgehalte und Fallgruppen des Privatsphärenschutzes Die vielgestaltigen Gefährdungen, denen das Schutzgut des Privatlebens ausgesetzt 6 ist, spiegeln sich in einer großen Vielfalt an unterschiedlichen Teilgehalten wider, die der Gerichtshof in seinen Entscheidungen häufig nach der Feststellung aufzählt, dass der Begriff des Privatlebens nicht umfassend und erschöpfend definierbar ist.20 Dabei werden einzelne Ausprägungen, wie das Recht auf Schutz des guten Rufes, auch begrifflich stärker konkretisiert; überwiegend bleibt es jedoch bei einer kasuistischen Identifikation von Elementen des Privatlebensschutzes. Wie die Ausprägungen des grundgesetzlichen allgemeinen Persönlichkeitsrechts lassen sich auch die Teilgehalte des Rechts auf Achtung des Privatlebens auf sehr unterschiedliche Arten systematisieren,21 was unter anderem daran liegt, dass zwischen einigen von ihnen Wechselwirkungen bestehen.22 Die im Folgenden gewählte Fallgruppen- und Kategorienbildung ist somit keinesfalls zwingend. Zusammengefasst werden zum einen Aspekte der Selbstbestimmung im Sinne der Identitätsfindung und -bildung (a), Elemente der Selbstdarstellung (b) sowie der äußeren Entfaltungsfreiheit (c), zum anderen Schutzgehalte eines Privatsphärenschutzes im engeren Sinne (Wohnung, Privatheit in der Öffentlichkeit, Kommunikation), die wichtige Voraussetzungen der Selbstbestimmung und Selbstdarstellung gewährleisten (d). Quer hierzu liegt mit dem Datenschutz eine Fallgruppe (e), die durch eine besondere Dynamik in der Rechtsprechung geprägt ist und hier auch deswegen gesondert behandelt wird, weil die EuGH-Rechtsprechung zum Datenschutz den Schwerpunkt des nachfolgenden Abschnitts zur Grundrechtecharta bildet (→ Marsch, § 4.2.2 Rn 12 ff). Schließlich kann der Beitrag aufgrund der Vielzahl an Facetten des Rechts auf Achtung des Privatlebens nicht auf alle von ihnen im Abschnitt über die Rechtfertigung zurückkommen, weshalb bisweilen schon in der Darstellung des Schutzbereichs zentrale Erwägungen des Gerichtshofs zur Rechtfertigung von Beschränkungen konkreter Teilgehalte kurz genannt werden.
a) Selbstbestimmung, Identitätsfindung und -bildung Als ein wichtiges Element der Identität umfasst der Schutz des Privatlebens den Na- 7 men,23 der für die Selbstidentifikation ebenso bedeutsam ist wie für die persönliche
20 S bspw EGMR (GK), Urt v 4.12.2008, 30562/04 u 30566/04, EuGRZ 2009, 299, § 66 – S u Marper; Urt v 17.10.2019, 1874/13 ua, NZA 2019, 1697 – López Ribalda ua. 21 S die verschiedenen Oberkategorienbildungen mit Nachweisen bei Eifert, JURA 2015, 1181 (1182). 22 Vgl allg Lafferty in: Harris/O’Boyle/Warbrick, EMRK, S 501; zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht Eifert in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 18 Rn 104. 23 Grundlegend EGMR, Urt v 22.02.1994, 16213/90, § 24 – Burghartz. Nikolaus Marsch
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Identifikation in der Gesellschaft.24 Hat beispielsweise eine Frau über mehr als 50 Jahre wegen eines Fehlers des Standesbeamten bei der Eheschließung einen Nachnamen geführt, der in dieser Weise nicht hätte eingetragen werden dürfen, dann stellt es einen (unverhältnismäßigen) Eingriff in Art 8 I EMRK dar, wenn ihr von der Passbehörde unter Verweis auf die Rechtswidrigkeit des Namens die Ausstellung eines neuen Ausweises mit diesem Namen verweigert wird.25 8 Die Identitätsfindung und -bildung betrifft das vom Gerichtshof ebenfalls dem Privatleben zugeordnete Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Geschützt wird das bedeutsame Interesse daran, Informationen über die eigene Geburt und die Identität der Eltern zu erhalten, um die Kindheit und frühe Entwicklung kennen und verstehen zu können.26 Diesem Interesse kann beispielsweise in Fällen der in Frankreich gesetzlich vorgesehenen anonymen Geburt das ebenfalls aus Art 8 I EMRK folgende Recht der Mutter auf Wahrung ihrer Anonymität27 entgegenstehen (sa Rn 47). 9 Ein (mittlerweile) besonders intensiver28 Schutz kommt der Geschlechtsidentität zu, die einen der intimsten Bereiche des Privatlebens darstellt.29 So hat der Gerichtshof das Recht auf Identitätsbildung von transsexuellen Menschen anerkannt30 und – nachdem er zunächst lange Zeit auf den Ermessensspielraum der Konventionsstaaten verwiesen hatte31 – im Jahre 2002 einen dahingehenden Anspruch aus Art 8 I EMRK abgeleitet, dass eine erfolgte Geschlechtsanpassung auch rechtlich anerkannt werden muss.32 Der EGMR stützt sich dabei auf die veränderten tatsächlichen Gegebenheiten sowie den sich herausbildenden rechtlichen Standard in den Konventionsstaaten und er betont in diesem Zusammenhang die besondere Bedeu-
24 EGMR, Urt v 11.9.2007, 59894/00, § 51 – Bulgakov; ausf zur Rspr des EGMR in Bezug auf das Namensrecht Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 300 ff. 25 EGMR, Urt v 01.10.2008, 44378/08 – Daróczy. 26 So – vielleicht etwas sehr zuversichtlich – formuliert in EGMR, Urt v 7.7.1989, 10454/83, § 49 – Gaskin; später spricht der Gerichtshof etwas zurückhaltender davon, dass ein Anspruch darauf bestehe, die „Wahrheit“ über wichtige Aspekte der persönlichen Identität zu erfahren, EGMR, Urt v 13.2.2003, 42326/98, NJW 2003, 2145, §§ 29, 42 – Odièvre/Frankreich. 27 EGMR, Urt v 13.2.2003, 42326/98, NJW 2003, 2145, § 44 – Odièvre/Frankreich. 28 Der Gerichtshof räumt den Konventionsstaaten in Fragen der sexuellen Identität nur noch einen begrenzten Ermessensspielraum ein: EGMR, Urt v 11.10.2018, 55216/08, NVwZ-RR 2019, 489, § 62 – SV/ Italien. 29 EGMR, Entsch v 12.6.2003, 35968/97, NJW 2004, 2505, § 56 – van Kück. 30 EGMR (GK), Urt v 11.7.2002, 28957/95, NJW-RR 2004, 289, § 90 – Goodwin. 31 S die Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung bei Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 276 ff.; zum Ganzen auch Theilen, ZEuS 2012, 363. 32 EGMR (GK), Urt v 11.7.2002, 28957/95, NJW-RR 2004, 289, § 93 – Goodwin; Urt v 16.7.2014, 37359/09, NJW 2015, 3703, § 59 – Hämäläinen.
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tung einer dynamischen Auslegung der Konventionsrechte, die deren praktische Effektivität gewährleisten soll (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 50 ).33 Auch die Ablehnung des Antrags einer transsexuellen Person auf Änderung ihres Vornamens mit der alleinigen Begründung, die abschließende geschlechtsumwandelnde Operation sei noch nicht durchgeführt worden, verletzt Art 8 I EMRK, wenn die regelmäßige Wartezeit auf einen Operationstermin vier Jahre beträgt und die antragstellende Person sich seit Längerem in der Transition befindet, weshalb ihr äußeres Erscheinungsbild schon nicht mehr ihrem rechtlichen Geschlecht entspricht.34 Noch offen ist, ob der EGMR (entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts35) aus Art 8 I EMRK auch eine Pflicht zur Einführung eines nicht-binären Geschlechtseintrags ableiten wird.36 Darüber hinaus wird als wichtiger Aspekt der Identitätsbildung die sexuelle 10 Präferenz geschützt, die zugleich auch die äußere Entfaltungsfreiheit im Sinne einer selbstbestimmten Lebensführung als Dimension des Privatlebens berührt.37 Vergleichsweise früh hat der EGMR entschieden, dass ein Verbot von einvernehmlichen homosexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen eine Verletzung von Art 8 I EMRK darstellt.38 Gleiches gilt für die allein mit deren Homosexualität begründeten Entlassungen von Personen aus dem Militärdienst.39 Während diese Entscheidungen noch allein auf das Recht auf Achtung des Privatlebens gestützt worden sind, stehen mittlerweile Fragen der Diskriminierung und damit die Prüfung von Art 14 iVm Art 8 I EMRK im Vordergrund, wie beispielsweise beim Ausschluss homosexueller Paare von einer neben der Ehe eingeführten zivilen Partnerschaft in Griechenland40 oder in Fragen des Adoptionsrechts.41 Nach anfänglichem Zögern42 hat der Gerichtshof schließlich – ua gestützt auf 11 das dem Art 8 I EMRK zugrunde liegende Prinzip der persönlichen Autonomie –
33 EGMR (GK), Urt v 11.7.2002, 28957/95, NJW-RR 2004, 289, § 74 – Goodwin. 34 EGMR, Urt v 11.10.2018, 55216/08, NVwZ-RR 2019, 489 – SV/Italien. 35 BVerfGE 147, 1 – Drittes Geschlecht. 36 Für die Ableitung einer dahingehenden Verpflichtung aus Art 8 I EMRK Gössl, NZFam 2016, 1122 (1125 f); Schulz, ZEuP 29 (2021), 64 (74 ff). 37 Ausf zur Entwicklung der Rspr Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 264 ff. 38 EGMR (Pl), Urt v 22.10.1981, 7525/76, NJW 1984, 541 – Dudgeon. 39 EGMR, Urt v 27.9.1999, 33985/96 u 33986/96, NJW 2000, 2089 – Smith u Grady. 40 EGMR (GK), Urt v 7.11.2013, 29381/09 u 32684/09, FamRZ 2014, 189 – Vallianatos ua. 41 EGMR (GK), Urt v 22.1.2008, 43546/02, NJW 2009, 3637 – EB/Frankreich. 42 In der ersten Grundsatzentscheidung hat der EGMR die Frage, ob der Schutzbereich von Art 8 I EMRK eröffnet ist, noch offengelassen und das strafbewehrte Verbot der Beihilfe zum Suizid als jedenfalls gerechtfertigt angesehen, EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, NJW 2002, 2851, §§ 67 ff – Pretty.
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auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben aus der Norm abgeleitet.43 Inwieweit dieses ein grundsätzliches Leistungsrecht gegen den Staat auf Bereitstellung einer tödlichen Substanz zum Zwecke der Selbsttötung umfasst, hat der Gerichtshof offen gelassen.44 Was die Abwägung mit der gegenläufigen Verpflichtung der Staaten, Missbrauch zu verhindern und sicherzustellen, dass die Entscheidung zum Suizid dem freien Willen der betroffenen Person entspricht, betrifft, streicht der Gerichtshof den bisher fehlenden Konsens unter den Konventionsstaaten heraus und billigt diesen daher einen weiten Beurteilungsspielraum zu.45 Bemerkenswert ist schließlich eine gegen Deutschland ergangene folgenreiche Entscheidung: Der Ehemann einer Schwerstkranken hatte das Verfahren seiner zwischenzeitlich verstorbenen Ehefrau weiterführen wollen, der die Erlaubnis, sich ein konkretes zur Selbsttötung verwendetes Betäubungsmittel zu verschaffen, von der zuständigen Behörde verweigert worden war; dass die deutschen Verwaltungsgerichte seine Klage gegen die behördliche Versagung mit der Begründung als unzulässig abgewiesen haben, der Ehemann sei nicht klagebefugt, verletzte diesen nach Ansicht des EGMR in seinem Recht auf Achtung des Privatlebens.46 Die anschließende Restitutionsklage des Beschwerdeführers (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 152 ) hat zu einer Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts geführt, in der dieses für extreme Ausnahmefälle ein grundsätzliches Recht auf Verschreibung eines tödlichen Betäubungsmittels anerkennt.47 Mittlerweile hat auch das Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben abgeleitet.48
43 EGMR, Urt v 20.6.2011, 31322/07, NJW 2011, 3773, § 51 – Haas; Urt v 19.7.2001, 497/09, NJW 2013, 2953 – Koch; Urt v 14.5.2013, 67810/10, § 59 – Gross; ausf hierzu Sperlich Suizidbeihilfe in der Rechtsprechung des EGMR, 2019; Woll, ZEuS 21 (2018), 181. 44 EGMR, Urt v 20.1.2011, 31322/07, NJW 2011, 3773, § 61 – Haas. 45 EGMR, Urt v 20.1.2011, 31322/07, NJW 2011, 3773, § 55 – Haas; in der Entscheidung EGMR, Urt v 29.4.2002, 2346/02, NJW 2002, 2851, § 71 – Pretty, die allerdings die Beihilfe zum Suizid betraf, hatte der Gerichtshof noch eine Abgrenzung zum engen Spielraum der Staaten in Fragen des Intimlebens vorgenommen und die dortige Begründung für nicht übertragbar erachtet. 46 EGMR, Urt v 19.7.2001, 497/09, NJW 2013, 2953, §§ 47 ff, 65 ff – Koch; kritisch Bünnigmann, NWVBl 2017, 330. Während sich die Begründung des EGMR hier auch so verstehen lässt, dass er eine gerichtliche Überprüfung der staatlichen Regelungen zur Sterbehilfe auch dann ermöglichen möchte, wenn – wie nicht selten – die Betroffenen vor Abschluss des gerichtlichen Instanzenzuges versterben, hat die Große Kammer des Gerichtshofs selbst in einem anderen Fall eine Beschwerde mit neun zu acht Stimmen als missbräuchlich abgewiesen, weil dem Gerichtshof der Tod der Beschwerdeführerin nicht mitgeteilt worden war, EGMR (GK), Urt v 30.9.2014, 67810/10 – Gross. 47 BVerwGE 158, 142 mit Anm ua Hillgruber, JZ 2017, 777; Sachs, JuS 2017, 800; Schütz/Sitte, NJW 2017, 2155. 48 BVerfGE 153, 182 mit Anm ua Lang, NJW 2020, 1562; Sachs, JuS 2020, 580.
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b) Selbstdarstellung Fall 1: (EGMR, Urt v 6.11.2018, 25527/13, NZA 2019, 441 – Vicent Del Campo/Spanien) C war als Lehrer und Fachbereichsleiter an einer spanischen Schule angestellt. Die im selben Fachbereich tätige Lehrerin L warf ihm psychisches Mobbing vor und beschwerte sich daher über ihn bei der Schulbehörde. Diese Beschwerde wurde mit der Begründung zurückgewiesen, es habe sich bei den in Rede stehenden Handlungen zwar um beruflich veranlasste Streitigkeiten, nicht aber um Mobbing gehandelt. Aus diesem Grund klagte L später gegen die zuständige Regionalverwaltung und nahm diese unter anderem auf Schadensersatz in Anspruch, der ihr in der Folge auch zugesprochen wurde. Das spanische Gericht stellte in seiner Urteilsbegründung unter anderem fest, dass es sich beim Verhalten von C, dessen voller Name im Urteil genannt wurde, um Mobbing gehandelt habe. An diesem gerichtlichen Verfahren war C weder als Zeuge noch in sonstiger Weise beteiligt, sondern erfuhr vom Urteil erst einige Tage nach dessen Verkündung aus der Zeitung. Der von C mit dem Ziel eingelegte Rechtsbehelf, als Beteiligter zum Verfahren zugelassen zu werden und das Urteil aufheben zu lassen, wurde von den Gerichten zurückgewiesen. Sie begründeten dies damit, dass Verfahrensgegenstand allein die Schadensersatzpflicht der Regionalverwaltung, nicht aber eine mögliche Schadensersatz- oder Regresspflicht des C gewesen sei, weshalb das spanische Recht eine Beteiligtenstellung der einzelnen Beamten auch dann nicht vorsehe, wenn deren Handeln Grundlage für die Haftung der Verwaltung ist. Die gerichtlichen Feststellungen entfalteten auch keine präjudizielle Bindungswirkung für eine etwaige Regressklage der Regionalverwaltung gegen C. Dieser sieht dennoch sein Recht auf Privatleben verletzt und erhebt daher Beschwerde zum EGMR. [Lösung: Rn 48]
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Der grundrechtliche Schutz der Selbstdarstellung einer Person ist, wie die Entwick- 13 lung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt, ein heikles Unterfangen.49 Denn natürlich besteht kein Anspruch darauf, von anderen so gesehen zu werden, wie man gesehen werden möchte. Erst eine substantielle Einschränkung der eigenen Möglichkeiten, in freier Selbstbestimmtheit ein Bild von sich zu entwerfen, das die Grundlage für die Begegnung mit anderen bildet, erreicht grundrechtliche Relevanz. Zudem ist schon auf Ebene des Schutzbereichs zu berücksichtigen, dass an der Konstruktion des eigenen Bildes in der Öffentlichkeit regelmäßig auch andere Personen beteiligt sind, die sich dabei selbst auf Grundrechte (insb die Kommunikationsfreiheiten) berufen können. Aus diesem Grund werden die Aspekte des Schutzes der Selbstdarstellung insbesondere in Drittwirkungskonstellationen relevant. Die genannten Überlegungen leiten unter anderem auch die Rechtsprechung 14 des EGMR zum Schutz des guten Rufs iSv Art 10 II EMRK, der als Teil des Privatlebens von Art 8 I EMRK umfasst ist.50 So wird die Reichweite des Ehr- und Reputa-
49 Hierzu und zum Folgenden prägnant Britz, NVwZ 2019, 672 (675). 50 EGMR, Urt v 15.11.2007, 12556/03, NJW-RR 2008, 1218, § 35 – Pfeifer. Nikolaus Marsch
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tionsschutzes aus Art 8 I EMRK vom Gerichtshof von vornherein auf Beeinträchtigungen beschränkt, die einen bestimmten Schweregrad erreichen.51 Bei gruppenbezogenen Herabsetzungen kann dies der Fall sein, wenn die negative Stereotypisierung einer Gruppe ein Ausmaß erreicht, welches das Identitätsgefühl der Gruppe sowie das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen ihrer Mitglieder beeinträchtigt.52 Stellt eine Reputationsschädigung dagegen die Folge eines vorangegangenen Fehlverhaltens dar, das mit einem gewissen Maß an rechtlicher Verantwortlichkeit und vorhersehbaren negativen Auswirkungen auf das Privatleben einhergeht (wie zum Beispiel im Fall einer strafrechtlichen Verurteilung), ist der Schutzbereich von Art 8 I EMRK nicht eröffnet.53 15 Weitere wichtige Teilgehalte des Privatlebens, die dem Schutz der Selbstdarstellung dienen, sind das Recht am eigenen Bild54 und das Recht am gesprochenen Wort55. Dem liegt (auch, aber) nicht in erster Linie der Gedanke eines Schutzes von Privatheitserwartungen im Sinne eines Unbeobachtetseins zugrunde. Eher lässt sich die Schutzbedürftigkeit entsprechend der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung damit begründen, dass die Darstellung der eigenen Person in der Kommunikation mit anderen auch die Möglichkeit umfassen soll, sich situationsangemessen zu verhalten und selbst über den Kreis von Personen zu entscheiden, denen man sich in einer bestimmten Art und Weise zeigt oder mitteilt.56 So hat der EGMR den Schutzbereich von Art 8 I EMRK auch in einem Fall als berührt angesehen, in dem ein Beschuldigter, der sich immer wieder Gegenüberstellungen mit Zeugen entzogen hatte, bei der Ankunft in einer Polizeidienststelle heimlich gefilmt worden war, um diese Aufnahmen für eine – nunmehr virtuelle – Gegenüberstellung zu verwenden.57 Wie in einem vergleichbaren Fall, in dem die Polizei unter anderem heimlich Tonaufnahmen einer Anhörung der Beschuldigten anfertigte, um einen Stimmenvergleich vorzunehmen,58 betont der Gerichtshof, dass für die Bewertung von in der Öffentlichkeit durchgeführten Maßnahmen die berechtigten
51 EGMR (GK), Urt v 16.6.2011, 64569/09, NJW 2015, 2863, § 137 – Delfi AS; EGMR, Entsch v 27.11.2018, 28482/13, § 29 – Herman-Bischoff. 52 EGMR (GK), Urt v 15.3.2012, 4149/04 u 41029/04, NJOZ 2013, 378, § 58 – Aksu/Türkei; EGMR, Urt v 10.10.2012, 4782/18, NJW 2020, 901, § 46 – Lewit. 53 EGMR (GK), Urt v 25.9.2018, 76639/11, § 98 – Denisov; EGMR, Urt v 28.5.2020, 17895/14, NJW 2021, 3441, § 55 – Evers. 54 EGMR, Entsch v 21.2.2002, 42409/98 – Schüssel; Urt v 7.2.2012, 40660/08 ua, NJW 2012, 1053, §§ 95 f – von Hannover II; Urt v 10.7.2014, 62721/13 ua, NJW 2019, 741, § 28 – Bild u Axel Springer. 55 EGMR, Urt v 25.9.2001, 44787/98, §§ 49 f – PG u JH/Vereinigtes Königreich. 56 Beide Erwägungen bei EGMR, Urt v 7.2.2012, 40660/08 ua, NJW 2012, 1053, §§ 96 f – von Hannover II; aus der Rspr des BVerfG s zB BVerfGE 106, 28 (39 f) – Mithörvorrichtung. 57 EGMR, Urt v 17.7.2003, 63737/00 – Perry. 58 EGMR, Urt v 25.9.2001, 44787/98 – PG u JH/Vereinigtes Königreich.
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Privatheitserwartungen der betroffenen Person ein wichtiger, jedoch nicht allein ausschlaggebender Faktor seien.59 Im geschilderten Fall der Videoaufnahme stellt der EGMR beispielsweise auch darauf ab, dass die vorhandene Kamera in einer nicht erwartbaren Form verwendet wurde und sie hierfür eigens von einem Techniker neu eingestellt werden musste.60 In ähnlicher Weise berücksichtigt der Gerichtshof die Fortentwicklung der Technik, wenn er mit Blick auf die Bildberichterstattung durch die Presse auch an nicht geschützten öffentlichen Orten aufgenommene Fotos dem Schutz des Privatlebens unterstellt und in die Abwägung einstellt, dass die Fotos heimlich und aus einer weiten Entfernung gemacht wurden.61 Auch in der Speicherung von bei der Festnahme angefertigten Fotos erkennt der EGMR entgegen seiner früheren Rechtsprechung einen Eingriff in das Recht auf Privatleben jedenfalls dann, wenn die Datenbank mithilfe von Gesichtserkennungstechniken durchsuchbar ist.62
c) Aspekte einer selbstbestimmten Lebensführung Über die Selbstbestimmung und Selbstdarstellung als Elemente einer inneren Ent- 16 faltungsfreiheit hinaus sieht der EGMR auch einzelne Aspekte einer äußeren (also verhaltensbezogenen) Entfaltungsfreiheit63 als von Art 8 I EMRK umfasst an, ohne dass der Norm die Funktion eines umfassenden Auffanggrundrechts zukommt (Rn 4). Entwickelt hat der Gerichtshof diese lückenfüllende Rechtsprechungslinie zunächst in Fällen, die den Schutz von beruflichen Tätigkeiten betrafen: So entschied er anlässlich der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei, dass das Recht auf Achtung des Privatlebens sich nicht auf den Schutz eines inneren Bereichs beschränkt, der gegen ein Eindringen von außen zu schützen ist, sondern bis zu einem gewissen Grad auch das Recht umfasst, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu gestalten.64 Da diese Beziehungen von vielen Menschen gerade im beruflichen Kontext entwickelt werden und sich nach Ansicht des Gerichtshofs zudem vielfach nicht unterscheiden lässt, ob eine Handlung rein beruflichen oder
59 EGMR, Urt v 25.9.2001, 44787/98, § 57 – PG u JH/Vereinigtes Königreich; Urt v 17.7.2003, 63737/00, § 37 – Perry. 60 EGMR, Urt v 17.7.2003, 63737/00, § 41 – Perry. 61 EGMR, Urt v 24.6.2004, 59320/00, NJW 2004, 2647, §§ 68, 70 – von Hannover I. 62 EGMR, Urt v 13.2.2020, 45245/15, §§ 63 ff – Gaughran; Urt v 11.6.2020, 74440/17, NJW 2021, 3379 – PN/ Deutschland. 63 Zur Unterscheidung der beiden Dimensionen von Entfaltungsfreiheit Britz Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung, 2007, S 6 ff. 64 EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, NJW 1993, 718, § 29 – Niemietz; hierzu und zum Folgenden ausf Gundel, DVBl 2020, 1042 (1045 ff, 1048 f).
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auch privaten Charakter besitzt, wird insbesondere auch die Berufswahl durch Art 8 I EMRK geschützt.65 Grundsätzlich unterscheidet der Gerichtshof, ob eine private Handlung den Anlass für eine berufsbezogene Maßnahme wie eine Kündigung bildet (sog grund-basierter Ansatz) oder ob die berufsbezogene Maßnahme Rückwirkungen auf das Privatleben hat (sog folgen-basierter Ansatz), was beispielsweise bei negativen Folgen für die Reputation der Fall ist (Rn 12, 14, 48).66 In beiden Fällen muss die Schwelle einer gewissen Erheblichkeit überschritten werden.67 17 Darüber hinaus umfasst der als Teil des Privatlebens gewährleistete Schutz zwischenmenschlicher Interaktion solche familienähnlichen Beziehungen, die wegen des Fehlens einer rechtlichen oder biologischen Verbindung und aufgrund ihrer kurzen Dauer nicht bereits durch das Recht auf Achtung des Familienlebens erfasst sind.68 Auch die Begründung der Elternschaft wird als Teil des Privatlebens sowohl im positiven Sinne (sodass ein Eingriff vorliegt, wenn dem Kinderwunsch ein Verbot der In-vitro-Fertilisation entgegensteht) als auch im negativen Sinne als Wunsch, nicht Mutter oder Vater werden zu wollen, geschützt.69 In diesem Zusammenhang wurde vom Gerichtshof auch das an Hebammen gerichtete Verbot, an Hausgeburten mitzuwirken, als Eingriff in das Privatleben der Schwangeren bewertet.70 Das Verbot, durch In-vitro-Fertilisation entstandene Embryonen der Forschung zur Verfügung zu stellen (dies beabsichtigte die Beschwerdeführerin im konkreten Fall, weil ihr Ehepartner zwischenzeitlich ums Leben gekommen war), beeinträchtigt ebenfalls den Schutzbereich des Privatlebens, ohne dass ein wichtiger Aspekt der Existenz und Identität der Beschwerdeführerin betroffen gewesen wäre, weshalb der in der Abwägung besonders ins Gewicht fallende Kernbereich des Art 8 I EMRK als nicht berührt angesehen wurde.71 Schließlich wirkt das Recht auf Achtung des Familien- und des Privatlebens insofern auch über den Tod hinaus, als die im Rahmen eines Strafverfahrens zum Zwecke der Aufklärung angeordnete Exhumierung und Obduktion eines nahen Angehörigen vom Gerichtshof als Eingriff in beide Teilschutzgüter des Art 8 I EMRK qualifiziert wird.72
65 EGMR, Urt v 28.5.2009, 26713/05, NJW 2010, 3419, § 23 – Bigaeva; EGMR (GK), Urt v 5.9.2017, 61496/ 08, EuZW 2018, 169, § 71 – Bărbulescu; zur Verbindung von Berufs- und Privatleben im Fall der Annullierung eines berufszugangseröffnenden Universitätsdiploms: EGMR, Urt v 3.3.2020, 30547/14, § 28 f – Convertito ua. 66 EGMR (GK), Urt v 25.9.2018, 76639/11, §§ 103 ff – Denisov. 67 S zB EGMR, Entsch v 11.2.2020, 526/18, §§ 56 ff – Platini; Gundel, DVBl 2020, 1042 (1047) mit weiteren Nachw aus der Rspr. 68 EGMR (GK), Urt v 24.1.2017, 25358/12, NJW 2017, 941, §§ 140 ff, 159 ff – Paradiso u Campanelli. 69 EGMR (GK), Urt v 10.4.2007, 6339/05, NJW 2008, 2013, § 71 – Evans. 70 EGMR (GK), Urt v 15.11.2016, 28859/11 u 28473/12, §§ 162 f – Dubská u Krejzová. 71 EGMR (GK), Urt v 27.8.2015, 46470/11, NJW 2016, 3705, §§ 159, 174 – Parrillo. 72 EGMR, Urt v 20.9.2018, 30491/17 ua, §§ 103 ff – Solska u Rybicka.
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d) Schutz der Privatsphäre im engeren Sinne Als Schutz der Privatsphäre im engeren Sinne lässt sich der Schutz von Rück- 18 zugsorten und Räumen verstehen, die mit einer bestimmten Vertraulichkeits- und Privatheitserwartung verbunden sind, weil dies Voraussetzung für die soeben beschriebene Selbstbestimmung, Selbstdarstellung und selbstbestimmte Lebensführung ist. Denn der Persönlichkeitsentfaltung liegt ein prinzipiell unabgeschlossener Vorgang der Selbstreflexion zugrunde, wozu auch die Möglichkeit gehört, sich in einem geschützten Rahmen auszuprobieren und neu zu erfinden.73 Dieser Schutz reicht über die Wohnung als klassisches Schutzgut einer räumlichen Privatsphäre (aa) hinaus, da Privatheitserwartungen auch bestehen können, wenn sich Personen in der Öffentlichkeit bewegen (bb). Schließlich gewährleistet der Schutz der Korrespondenz (cc) eine besondere Vertraulichkeit der Kommunikation auch mit Abwesenden, wie sie sonst nur in einem räumlich geschützten Rahmen möglich wäre.
aa) Schutz der Wohnung Fall 2: (EGMR, Urt v 18.1.2001, 27238/95 – Sally Chapman/Vereinigtes Königreich) C ist britische Staatsangehörige und gehört der ethnischen Minderheit der Roma an. Seit ihrer Geburt lebte sie zunächst mit ihren Eltern und Geschwistern, später mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in Wohnwägen, die sie in unterschiedlichen Gegenden aufstellten, in denen C Arbeit als Landschaftsgärtnerin fand. Da es sich bei den gewählten Orten regelmäßig nicht um offizielle Wohnwagenstellplätze zur dauerhaften Belegung handelte und ihnen trotz eines Eintrags auf einer Warteliste nie ein solcher Stellplatz zugewiesen wurde, mussten sie wiederholt umziehen, wodurch auch die schulische Bildung der Kinder immer wieder unterbrochen wurde. Aus diesem Grund erwarb C ein Grundstück und beantragte die erforderliche Baugenehmigung, um auf diesem Grundstück in einem Wohnwagen zu leben. Die Genehmigung wurde ihr aus Gründen des Landschaftsschutzes versagt und ihr wurde aufgegeben, den Wohnwagen innerhalb von 15 Monaten vom Grundstück zu entfernen. Nach Ablauf dieses Zeitraums wurden wiederholt Bußgelder gegen C verhängt, weshalb sie gemeinsam mit ihrer Familie ihr nicht-sesshaftes Leben wieder aufnahm. [Lösung: Rn 49]
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Das Recht auf Achtung der Wohnung als eines der vier in Art 8 I EMRK genannten 20 Schutzgüter sichert die Privatsphäre räumlich-gegenständlich ab.74 Dabei geht der EGMR vom französischen Begriff des „domicile“ (im Gegensatz zum engeren englischen Begriff „home“) aus und versteht den Schutzbereich im Sinne einer systematisch-teleologischen Interpretation weit als einen physisch begrenzten Raum, in
73 Britz, NVwZ 2019, 672 (676). 74 Marauhn/Thorn in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 16 Rn 55. Nikolaus Marsch
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dem sich das Privat- und Familienleben entfaltet.75 Umfasst sind daher auch wohnungsnahe Gebäudeteile wie der Keller oder die Garage, unbedachte Flächen wie Innenhöfe oder Gärten sowie als Wohnraum dienende Hausboote oder Wohnwagen.76 Statt mit dem engen Begriff der Wohnung wird das Schutzgut daher auch als „privater Raum“ umschrieben.77 Als einen solchen sieht der EGMR unter Verweis auf die entsprechende BVerfG-Rechtsprechung auch Büro- und Geschäftsräume an, da insbesondere bei freiberuflich Tätigen eine Trennung von Privat- und Geschäftsräumen im Einzelfall Schwierigkeiten aufwerfen kann und Art 8 EMRK gerade auch den Schutz des Einzelnen vor willkürlichem Handeln der Behörden bezweckt.78 Dieser Rechtsprechung hat sich mittlerweile auch der EuGH angeschlossen (→ Marsch, § 4.2.2 Rn 54). Sie entspricht zugleich dem weiten Verständnis des Begriffs des Privatlebens, soweit ihm der EGMR auch ein Recht auf Schutz der zwischenmenschlichen Beziehungen entnimmt – seien sie nun privat oder beruflich bedingt (Rn 16). In der Folge wird zwischen den Schutzgütern des Privatlebens und der Wohnung nicht strikt unterschieden, sondern es werden beispielsweise im Fall der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei beide auch parallel angewandt.79 Konsequenz dieser Rechtsprechungsentwicklung ist schließlich, dass sich juristische Personen jedenfalls dann auf Art 8 I EMRK berufen können, wenn die Schutzgüter Wohnung oder Korrespondenz betroffen sind.80 21 Dagegen vermittelt Art 8 EMRK kein Recht auf Heimat.81 So hat der EGMR den Schutzbereich nicht dadurch als betroffen angesehen, dass die Türkei einer griechischen Zypriotin verwehrte, in ihren Heimatort im türkisch besetzten Nordzypern zurückzukehren, um dort auf einem ihr gehörenden Grundstück ein Haus zu errichten und es zu bewohnen.82 Auch ein Leistungsrecht bzw. ein soziales 75 EGMR, Urt v 27.9.2005, 50882/99, § 70 – Sallinen ua; Entsch v 3.7.2007, 32015/02, NVwZ 2008, 1215 – Gaida. Unerheblich sind im Sinne einer autonomen Interpretation von Art 8 I EMRK Regelungen des nationalen Rechts, die an den Begriff der Wohnung anknüpfen oder diesen näher bestimmen, EGMR (GK), Urt v 16.6.2015, 13216/05, NVwZ 2016, 1149, § 206 – Chiragov ua. 76 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 22. 77 Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 201. 78 EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, NJW 1993, 718, §§ 18, 30 f – Niemietz; später hat der Gerichtshof den Schutz auch auf reine Geschäftsräume einer juristischen Person erstreckt: EGMR v 16.4.2002, 37971/97, §§ 40 ff – Société Colas Est ua. 79 EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, NJW 1993, 718, §§ 27 ff – Niemietz. 80 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 4; ob sich juristische Personen – beispielsweise mit Blick auf Datenverarbeitungsvorgänge – auch auf das Recht auf Achtung des Privatlebens berufen können, ist umstritten. 81 Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 57. 82 EGMR (GK), Urt v 23.3.1995, 15318/89, EuGRZ 1997, 555, §§ 65 f – Loizidou. Anders gelagert waren dagegen jene Fälle, in denen den griechischen Beschwerdeführern der Zugang zu den von ihnen zuvor bewohnten Wohnungen von den türkischen Behörden dauerhaft verwehrt wurde, EGMR (GK),
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Grundrecht im Sinne eines Anspruchs gegen den Staat auf Bereitstellung einer Wohnung ist Art 8 EMRK nicht zu entnehmen.83
bb) Schutz der Privatheit in der Öffentlichkeit, insb Videoüberwachung Insbesondere anlässlich von Videoüberwachungsmaßnahmen hat der EGMR den 22 Privatheitsschutz auch auf öffentliche Räume erstreckt. Er stellt dabei unter anderem darauf ab, ob und inwieweit berechtigte Privatheitserwartungen der betroffenen Person enttäuscht werden.84 Im Fall der bloßen Videobeobachtung des öffentlichen Raums durch sog Kamera-Monitor-Systeme ohne Aufzeichnung sei dies nicht der Fall, da der live beobachtende Sicherheitsmitarbeiter nichts anderes wahrnehme als ein anderer Passant.85 Vielmehr sei der Schutzbereich erst berührt, sobald eine systematische oder dauerhafte Aufzeichnung erfolge, so der Gerichtshof unter Verweis auf seine datenschutzrechtliche Rechtsprechung.86 In Entscheidungen zu Videoüberwachungsmaßnahmen durch Private stützt sich der Gerichtshof zusätzlich auf das Recht am eigenen Bild und betont den fehlenden Einfluss des Betroffenen auf die spätere Verwendung der Aufnahmen.87 Die Eröffnung des Schutzbereichs von Art 8 I EMRK hängt in diesen Fällen zum einen von der Ausrichtung der Überwachung direkt auf die betroffene Person und zum anderen davon ab, ob Daten in einem Ausmaß verarbeitet werden, das für diese nicht vorhersehbar war.88
Urt v 10.5.2001, 25781/94, §§ 171 ff – Zypern/Türkei; zu Zerstörung oder Zugangsverweigerung als Beeinträchtigungen von Art 8 I EMRK sa Rn 31. 83 EGMR (GK), Urt v 18.1.2001, 27238/95, § 99 – Chapman. 84 Hierzu und zum Folgenden EGMR, Urt v 25.9.2001, 44787/98, § 57 – PG u JH/Vereinigtes Königreich; Urt v 28.1.2003, 44647/98, Rn 59 – Peck; Urt v 17.07.2003, 63737/00, § 40 – Perry; EGMR (GK), Urt v 17.10.2019, 1874/13 ua, NZA 2019, 1697, § 89 – López Ribalda ua. 85 Kritisch zu dieser Unterscheidung am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts Volkmann Staatsrecht II, 3. Aufl 2020, § 6 Rn 36 f. 86 Hierauf stellt der Gerichtshof auch bei Überwachungen mittels GPS-Peilsender ab, EGMR, Urt v 2.9.2010, 35623/05, NJW 2011, 1333, §§ 46, 49 ff – Uzun, die er allerdings als weniger eingriffsintensiv als die optische oder akustische Überwachung einstuft, EGMR, Urt v 8.2.2018, 31446/12, § 53 – Ben Faiza. 87 EGMR, Urt v 27.5.2014, 10764/09, §§ 30 f – De la Flor Cabrera mit Anm Dörr, JuS 2015, 661; EGMR (GK), Urt v 17.10.2019, 1874/13 ua, NZA 2019, 1697 – López Ribalda ua. Gerade im Fall der Videoüberwachung ist auch nach deutschem Verfassungsrecht die Abgrenzung zwischen dem Recht am eigenen Bild und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung unscharf, s Eifert, JURA 2015, 1181 (1186); interessant sind in diesem Zusammenhang auch die vom EGMR entschiedenen Fälle, in denen durch Videoüberwachung oder verdeckte Presserecherchen erlangtes Videomaterial später im Fernsehen ausgestrahlt wurde, EGMR, Urt v 28.1.2003, 44647/98 – Peck; Urt v 22.2.2018, 72562/10, NJW 2019, 743 – Alpha Doryforiki Tileorasi Anonymi Etairia. 88 EGMR (GK), Urt v 17.10.2019, 1874/13 ua, NZA 2019, 1697, § 90 – López Ribalda ua.
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Offene Videoüberwachungsmaßnahmen durch den Arbeitgeber berühren jedenfalls dann den Schutzbereich des Art 8 I EMRK, wenn der Betroffene diesen dauerhaft ausgesetzt ist und ihnen nicht ausweichen kann (zB Kontrolle von Dozenten durch in Hörsälen angebrachte Kameras89); bei geheimer Videoüberwachung ist dies jedenfalls ab einer gewissen Länge der Fall, selbst wenn die Betroffenen nicht individuell Ziel der Überwachung sind.90
cc) Schutz der Korrespondenz 23 Schließlich normiert Art 8 EMRK ausdrücklich ein Recht auf Achtung der Korres-
pondenz und schützt im Sinne einer „Privatheit auf Distanz“ die Individualkommunikation unter Abwesenden.91 Dem Fernmeldegeheimnis in Art 10 GG entsprechend nimmt sich auch Art 8 EMRK der besonderen Vulnerabilität dieser Art der Kommunikation an, für die sich die Bürger der Dienste Dritter bedienen müssen und schützt daher gerade die Vertraulichkeit der Übermittlung.92 Folgerichtig legt der Gerichtshof den Begriff der Korrespondenz dynamisch-evolutiv aus, sodass dieser auch Telefongespräche, E-Mails93 und andere moderne Kommunikationstechnologien umfasst.94 Dabei ist hinsichtlich der unterschiedlichen Formen elektronischer Kommunikation (zB Chatforen) eine Abgrenzung des Schutzbereichs im Verhältnis zu Art 10 EMRK vorzunehmen, indem nach der Art der Kommunikation (Individualoder Massenkommunikation) sowie nach der Vertraulichkeit der konkreten Kommunikationsform unterschieden wird (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska, § 5.1 Rn 22 ).95 24 Innerhalb des Art 8 EMRK nimmt der Gerichtshof dagegen wie beim Recht auf Achtung der Wohnung (Rn 20) nicht immer eine Unterscheidung zwischen den Teilschutzgütern des Privatlebens und der Korrespondenz vor und sieht beispielsweise Telefongespräche als von beiden erfasst an.96 Da die Teilschutzgüter denselben Schranken des Art 8 II EMRK unterfallen, kommt es auch nicht darauf an, ob der Schutzbereich des Rechts auf Schutz der Korrespondenz wie jener des grundgesetzlichen Briefgeheimnis zeitlich eng auf den Übertragungsweg begrenzt ist97 oder im 89 EGMR, Urt v 28.11.2017, 70838/13, § 44 – Antović und Mirković. 90 EGMR (GK), Urt v 17.10.2019, 1874/13 ua, NZA 2019, 1697, § 91 – López Ribalda ua. 91 Zu Art 10 GG ausführlich Gusy in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art 10 Rn 14 ff, 19. 92 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 24; Eichenhofer, JURA 2020, 684, (685 f). 93 EGMR, Urt v 3.4.2007, 62617/00, EuGRZ 2007, 415, § 41 – Copland. 94 Marauhn/Thorn in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 16 Rn 62; Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 219 ff. 95 Zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung sa Kugelmann, EuGRZ 2003, 16 (23 f). 96 EGMR, Urt v 6.9.1978, 5029/71, 5029/71, NJW 1979, 1755, § 41 – Klass ua. 97 Hierzu Gusy in: v Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art 10 Rn 48; zu den schwierigen Abgrenzungsfragen bei der Onlineüberwachung Bantlin, JuS 2019, 669; Eichenhofer, JURA 2020, 684 (689).
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Gegensatz zu Art 10 GG auch auf Mitteilungen erstreckt werden kann, die den Empfänger bereits erreicht haben und bei diesem beschlagnahmt wurden;98 der Gerichtshof wendet auch hier bisweilen beide Teilschutzgüter parallel an.99 Gleiches gilt für den staatlichen Zugriff auf die Telefonverbindungsdaten (mit wem wurde wann und wie lange telefoniert?), der nach der Rechtsprechung sowohl einen Eingriff in die Korrespondenz als auch in das Privatleben darstellt.100 Dagegen soll laut EGMR die deutsche Regelung in § 172 I TKG, nach der Telekommunikationsunternehmen unter anderem den Namen, die Anschrift und das Geburtsdatum auch von Prepaid-Kunden speichern müssen, nicht den Schutzbereich des Rechts auf Achtung der Korrespondenz, sondern allein das Privatleben berühren.101 Schwerpunkte der EGMR-Rechtsprechung zum Recht auf Achtung der Korres- 25 pondenz bilden der rechtsstaatlich bedeutsame102 Schutz der Kommunikation zwischen Anwältin und Mandant103 sowie die sich hiermit teilweise überschneidende staatliche Kontrolle der Korrespondenz von Strafgefangenen.104 Eine besondere Bedeutung kommt – ähnlich wie bei der Videoüberwachung – der Schutzpflichtendimension zu, wenn Arbeitgeber das Kommunikationsverhalten ihrer Arbeitnehmer kontrollieren.105
e) Datenschutz Quer zu den bisher dargestellten Schutzgütern des Art 8 I EMRK und den Teilgehal- 26 ten des Privatlebens liegt der Schutz vor der Verarbeitung persönlicher Daten.106 Denn ein solcher Schutz verstärkt grundsätzlich zum einen den ohnehin bestehenden Schutz einzelner Schutzgüter und Teilgehalte des Art 8 I EMRK, aber 98 S bspw EGMR, Urt v 17.12.2020, 459/18 – Saber: die Durchsuchung eines Smartphones, auf dem Anwaltskommunikation gespeichert ist, stellt einen Eingriff in das Recht auf Achtung der Korrespondenz dar; zu Computerfestplatten EGMR, Urt v 3.12.2019, 14704/12, NJW 2020, 3507, § 34 – Kırdök ua. 99 EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, NJW 1993, 718, § 32 – Niemietz; hierzu Paefgen Schutz vor staatlichen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte im Internet, 2014, S 19 ff. 100 EGMR, Urt v 8.2.2018, 31446/12, §§ 66 f – Ben Faiza. 101 EGMR, Urt v 30.1.2020, 50001/12, NJW 2021, 999, §§ 61 ff – Breyer mit Anm Spittka, K&R 2020, 263 (Streitgegenstand war noch die Vorgängernorm des § 111 TKG aF). 102 Vgl BVerfG, Beschl v 8.3.1983, 1 BvR 1078/80, NJW 1983, 1535 (1536); Urt v 30.3.2004, 2 BvR 1520/01 u 2 BvR 1521/01, NJW 2004, 1305 (1307). 103 EGMR, Urt v 27.9.2005, 50882/99 – Sallinen ua; Urt v 16.10.2018, 70288/13, NJW 2019, 2291 – Visy; Urt v 3.12.2019, 14704/12, NJW 2020, 3507 – Kırdök ua; EGMR, Urt v 4.2.2020, 11264/04 ua – Kruglov ua. 104 Hierzu ausf Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 56 f. 105 EGMR, Urt v 3.4.2007, 62617/00, EuGRZ 2007, 415 – Copland; EGMR (GK), Urt v 5.9.2017, 61496/08, EuZW 2018, 169 – Bărbulescu. 106 Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 239 f.
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auch anderer Konventionsrechte, wie das Beispiel der Speicherung von Informationen über die Teilnahme an Demonstrationen zeigt.107 Zum anderen adressieren grundrechtliche Verbürgungen des Datenschutzes Gefährdungen des Privatlebens schon in einem Vorfeldstadium, um auf diese Weise gerade auch den Schutz der inneren Persönlichkeitsentfaltung abzusichern.108 Bereits 1983 stellte das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Volkszählungsurteil fest: „Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.“109 Während die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Ableitung eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als eigenständigem Teilgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einem Paukenschlag gleichkam, hat der EGMR seine Datenschutz-Rechtsprechung eher inkrementell und tastend entwickelt.110 Aus diesem Grund herrscht bis heute Unklarheit über die exakte Reichweite des Schutzes. Denn im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht, das von der Feststellung ausgeht, dass es unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung kein belangloses Datum gibt, weshalb nach der deutschen Dogmatik jeder einzelne Schritt der Verarbeitung personenbezogener Daten (also ua das Erheben, Speichern und Übermitteln) einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt, hat der EGMR eine solch allgemeine und weitreichende Aussage bisher weitgehend vermieden.111 Zwar verwendet auch er bisweilen den Begriff der „informational self-determination“;112 einen Eingriff in Art 8 I EMRK erkennt er in der Verarbeitung von Daten jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen. Dabei lässt sich die kasuistische Rechtsprechung dahingehend zusammenfassen,113 dass der Schutzbereich des Art 8 I EMRK berührt ist,
107 EGMR, Urt v 24.1.2019, 43514/15 – Catt. 108 Zur hier angesprochenen instrumentellen Dimension und der auf andere Grundrechte bezogenen freiheitsakzessorischen Dimension von Datenschutzgrundrechten s mwN Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 108 ff. 109 BVerfGE 65, 1 (43) – Volkszählung. 110 Ausführlich zum Folgenden Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 8 ff. 111 Vereinzelte Entscheidungen, die sich wie EGMR, Urt v 24.1.2019, 43514/15, § 93 – Catt, anders – also im Sinne eines umfassenden Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – lesen, verweisen verkürzt auf frühere Entscheidungen, die das aus Art 8 I EMRK folgende Recht auf Schutz der persönlichen Daten durch die im Folgenden dargestellten, qualifizierenden Erfordernisse begrenzen. 112 So zB in EGMR (GK), Urt v 27.6.2017, 931/13, § 137 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 113 Ausführlich zum Folgenden Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 9 ff.
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wenn aus den verarbeiteten Daten Informationen mit Bezug zum Privatleben hervorgehen,114 wenn die Daten „systematisch“ gesammelt und in Behördenakten (insb von Sicherheitsbehörden) gespeichert wurden115 oder wenn die Daten in einer Weise oder einem Umfang verarbeitet werden, die über das normalerweise Vorhersehbare hinausgehen.116 Obwohl der Gerichtshof seine Rechtsprechung unter anderem auf die Datenschutz-Konvention des Europarates stützt,117 hat er mittlerweile ganz ausdrücklich klargestellt, dass nicht jede Verarbeitung eines personenbezogenen Datums den Schutzbereich des Art 8 I EMRK berührt.118 Dieser ist somit auch enger als der Anwendungsbereich des EU-Datenschutzsekundärrechts, namentlich der DSGVO. Eine spezielle Form der Verarbeitung persönlicher Daten, die aufgrund ihrer 27 Eingriffstiefe besondere Aufmerksamkeit erfährt und auch schon Gegenstand von Entscheidungen des EGMR und des EuGH (→ Marsch, § 4.2.2 Rn 14f) war, ist die öffentliche Bekanntmachung von Informationen. Obwohl diese in der Sache eher das Recht auf Selbstdarstellung und weniger die oben skizzierten Dimensionen des Schutzes vor Datenverarbeitung betrifft,119 wird die öffentliche Bekanntmachung von den Gerichten regelmäßig als Datenschutzthema bearbeitet,120 weshalb sie auch im vorliegenden Beitrag an dieser Stelle behandelt werden soll. Der EGMR hat in diesem Zusammenhang unter anderem über die gewerbliche Verbreitung der Steuerdaten eines großen Teils aller finnischen Steuerpflichtigen entschieden, die entsprechend der allgemeinen Transparenzgesetzgebung offengelegt wurden,121 sowie über die im Sinne eines naming-and-shaming in Ungarn gesetzlich angeordnete Veröffentlichung der Namen bestimmter Personen, die ihrer Steuerpflicht nicht nachgekommen sind.122 Dagegen hat der Gerichtshof in einer Entscheidung zum „Recht auf Vergessen“ (Berichterstattung über eine lange abgeurteilte Straftat in einem Online-Pressearchiv) sowohl seine datenschutzrechtliche Judikatur als auch
114 EGMR (GK), Urt v 16.2.2000, 27798/95, § 65 – Amann; Urt v 4.12.2008, 30562/04 u 30566/04, EuGRZ 2009, 299 – S u Marper. 115 EGMR (GK), Urt v 4.5.2000, 28341/95, § 43 aE – Rotaru. 116 EGMR (GK), Urt v 27.6.2017, 931/13, § 136 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 117 EGMR (GK), Urt v 16.2.2000, 27798/95, § 65 – Amann; Urt v 27.6.2017, 931/13, § 133 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 118 EGMR (GK), Urt v 8.11.2016, 18030/11, NVwZ 2017, 1843, § 194 – Magyar Helsinki Bizottság. 119 Zu den Unschärfen in der Abgrenzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Eifert, JURA 2015, 1181 (1186). 120 BVerfG, NJW 2008, 1435 (1435 f) – Veröffentlichung der Vergütung von Vorstandsmitgliedern gesetzlicher Krankenversicherungen. 121 EGMR (GK), Urt v 27.6.2017, 931/13 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 122 EGMR (GK), Urt v 9.3.2023, 36345/16 – LB/Ungarn.
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das Recht auf Schutz des guten Rufes als einschlägige Maßstäbe für die Drittwirkungskonstellation herangezogen.123
III. Beeinträchtigung 28 Die Feststellung einer Beeinträchtigung, für die der EGMR weder allgemein noch
speziell mit Blick auf Art 8 I EMRK eine Eingriffsdogmatik entwickelt hat,124 kann grundsätzlich unter Heranziehung der allgemeinen Kriterien erfolgen (→ Ehlers/ Germelmann, § 2.1 Rn 85 f ). Wie vom Gerichtshof in einer Entscheidung über eine mögliche Rufschädigung durch berufsbezogene Maßnahmen ausdrücklich konstatiert, bedingen sich gerade bei Maßnahmen, die das Privatleben betreffen, die Bestimmung des Schutzbereichs und die Feststellung des Eingriffs wechselseitig.125 Dieser Befund trifft auch auf andere Teilgehalte des Privatlebens (wie das Recht am eigenen Bild) bzw auf eine Vielzahl der Gefährdungshandlungen, wie die Videoüberwachung (Rn 22) oder die Verarbeitung von persönlichen Daten (Rn 26), zu. Grund hierfür ist, dass diese Ausprägungen des Rechts auf Achtung des Privatlebens gerade in Reaktion auf bestimmte Gefährdungen konturiert wurden (Rn 5) und dass sich die eigene Persönlichkeit insbesondere auch eingebettet in soziale Bezüge entfaltet. Die sich aus dieser Einbettung ergebenden Zwänge und Grenzen sind daher vielfach nicht als Eingriff zu verstehen, sondern schon bei der Bestimmung des Schutzbereichs zu berücksichtigen (Rn 13). Hieraus folgt auch eine gewisse Erheblichkeit, die eine Maßnahme aufweisen muss, um als Eingriff in das Privatleben qualifiziert werden zu können,126 die aber ebenfalls häufig bereits auf der Schutzbereichsebene Berücksichtigung findet.127 Geht die Beeinträchtigung, wie es gerade beim Recht auf Achtung des Privatlebens nicht selten der Fall ist, von Privaten aus, so stellt nicht dessen Handeln (wie zB die Fotoaufnahme des Journalisten) den Anknüpfungspunkt der Prüfung dar, sondern das staatliche Unterlassen, welches
123 EGMR, Urt v 28.6.2018, 60798/10 ua, NJW 2020, 295, §§ 86 ff – ML u WW/Deutschland; das BVerfG bringt in dieser Konstellation gerade nicht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sondern das allgemeine Persönlichkeitsrecht zur Anwendung, BVerfG, Beschl v 6.11.2019, 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, Rn 79 ff – Recht auf Vergessen I = Eifert, JK 2020/411; hierzu Marsch, ZEuS 23 (2020), 597 (611 f). 124 Marauhn/Thorn in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 16 Rn 72. 125 EGMR (GK), Urt v 25.9.2018, 76639/11, § 92 – Denisov. 126 Marauhn/Thorn in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 16 Rn 71. 127 S bspw mit Blick auf die Schwere der Rufschädigung durch eine Versetzung EGMR (GK), Urt v 25.9.2018, 76639/11, §§ 110 ff – Denisov.
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gegebenenfalls eine Schutzpflicht verletzt (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 85; zur Rechtfertigung Rn 44 ff).128 Handlungspflichten können die Konventionsstaaten auch im zweipoligen 29 Staat-Bürger-Verhältnis treffen. Während beispielsweise die staatlich auferlegte Namensänderung immer einen Eingriff in das Privatleben darstellt, ist dies bei der Verweigerung einer beantragten Namensänderung nur der Fall, wenn eine entsprechende Handlungspflicht des Staates besteht.129 Ob eine solche positive Verpflichtung aus Art 8 I EMRK abzuleiten ist, ergibt sich grundsätzlich aus einer Abwägung, in deren Rahmen insbesondere zu berücksichtigen ist, ob wesentliche Aspekte des Privatlebens betroffen sind, wie sehr eine etwaige Handlungspflicht den Staat belasten würde und ob diese Pflicht eher eng und präzise oder weit und unbestimmt zu beschreiben wäre.130 Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof in einem Fall, in dem der österreichische Beschwerdeführer nach einer Namensänderung auch die Ausstellung einer neuen Urkunde über die Verleihung des Magister iuris durch die Universität beantragt hatte, darauf abgestellt, dass dem akademischen Grad in Österreich allgemein Bedeutung auch für die Anrede außerhalb beruflicher Kontexte beigemessen wird und eine etwaige Verpflichtung zur Neuausstellung die Universität nicht allzu schwer belasten würde.131 Im Übrigen sind die möglichen Eingriffe in das Privatleben so vielgestaltig wie 30 das Schutzgut selbst, weshalb sich die breite Kasuistik, die den Schutzbereich prägt, auf Ebene der Beeinträchtigung fortsetzt. Dies gilt gerade auch für die als Aspekte einer selbstbestimmten Lebensführung geschützten Formen der äußeren Persönlichkeitsentfaltung. Als Beispiele – auch für die Unterschiedlichkeit der Eingriffe – können hier aus der Rechtsprechung des EGMR genannt werden: die Entziehung der Geschäftsfähigkeit, staatliche Bekleidungsvorschriften sowie die Spitzensportler treffende Pflicht, über Monate im Voraus ihre zukünftigen Aufenthaltsorte mitzuteilen, um unangekündigte Dopingkontrollen zu ermöglichen.132 Klassische Eingriffe in das Schutzgut der Wohnung stellen das Betreten und 31 Durchsuchen dar.133 Im Gegensatz zu Art 13 GG, dessen Garantie insoweit von der hM eng als Schutz vor Verletzungen einer bestehenden Privatheit134 verstanden wird, schützt Art 8 I EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR auch vor der Zerstö
128 Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 8 Rn 62. 129 EGMR, Urt v 16.5.2013, 20390/07, § 37 – Garnaga (Antrag, als Patronym den Namen des Stiefvaters und nicht des leiblichen Vaters zu führen). 130 EGMR (GK), Urt v 16.7.2014, 37359/09, NJW 2015, 3703, § 66 – Hämäläinen. 131 EGMR, Urt v 21.11.2019, 200/15 – PR/Österreich. 132 Beispiele und entsprechende Nachweise bei Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 29. 133 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 35. 134 Hermes in: Dreier, GG, Art 13 Rn 113. Nikolaus Marsch
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rung des bisher bewohnten Hauses135 oder dem Verbot des Zutritts zur eigenen Wohnung.136 Insoweit überschneidet sich der Schutz durch Art 8 I EMRK mit dem durch Art 1 1. ZP EMRK gewährleisteten Eigentumsschutz.137 32 In das Recht auf Achtung der Korrespondenz wird unter anderem eingegriffen, wenn Briefe geöffnet, gelesen oder kopiert, angehalten oder die Weitergabe zumindest verzögert wird, wenn Telefongespräche abgehört oder aufgezeichnet werden oder E-Mail-Kommunikation gespeichert oder automatisiert auf Stichworte durchsucht wird.138 Mit Blick auf verdeckt vorgenommene Überwachungsmaßnahmen hat der Gerichtshof früh das Problem erkannt, dass die von einer solchen Maßnahme Betroffenen diese nur dann gerichtlich überprüfen lassen können, wenn sie von ihr Kenntnis erhalten, weshalb er in bestimmten Konstellationen ausnahmsweise Beschwerden unmittelbar gegen die Ermächtigungsgrundlage zulässt und damit in der Rechtsgrundlage selbst einen Eingriff erkennt.139 Die hiermit einhergehende liberale Handhabung der Beschwerdebefugnis140 (der EGMR spricht vom fehlenden Opferstatus) und die Annäherung an eine Popularklage wird ua mit dem Abschreckungseffekt gerechtfertigt, der schon von der Ermächtigung zur Überwachung ausgeht und der als solcher schon eine Gefahr für die freie Kommunikation darstellt.141 In der Folge entwickelten sich unterschiedliche Rechtsprechungslinien zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Klage unmittelbar gegen die Rechtsgrundlage für Überwachungsmaßnahmen zulässig ist.142 Diese hat der Gerichtshof in der Entscheidung Zakharov dahingehend zusammengefasst, dass erstens der Anwendungsbereich der Überwachungsmaßnahme und die Tatsache, ob der Beschwerdeführer möglicherweise von ihr betroffen sein könnte (inbs weil sich die Überwachung gegen alle Bürgerinnen richten kann), zu berücksichtigen ist, und dass es zweitens darauf ankommt, ob das nationale Recht die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle vorsieht.143 Fehlt ein nationaler Rechtsbehelf gegen die Überwachung, ist eine Beschwerde zum EGMR auch bereits gegen die Ermächtigungsgrundlage zulässig. Auch wenn eine nationale Rügemöglichkeit besteht, kann eine Beschwerde gegen die Ermächtigungsgrundlage zulässig sein, wenn der Beschwer-
135 EGMR, Urt v 16.11.2000, 23819/94, § 108 – Bilgin. 136 EGMR (GK), Urt v 16.6.2015, 13216/05, NVwZ 2016, 1149, §§ 206 ff – Chiragov ua. 137 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 23. 138 S die Nachw aus der Rspr bei Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 36. 139 EGMR, Urt v 6.9.1978, 5029/71, 5029/71, NJW 1979, 1755, § 34 – Klass ua. 140 Vgl hierzu und zur entsprechenden BVerfG-Rspr Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 121; rechtsvergleichend zur Massenüberwachung Huber, NVwZ-Beilage 2021, 3, 4 f. 141 EGMR (GK), Urt v 04.12.2015, 47143/06, § 167 – Zakharov. 142 Ausf Darstellung in EGMR (GK), Urt v 4.12.2015, 47143/06, §§ 164 ff – Zakharov. 143 EGMR (GK), Urt v 4.12.2015, 47143/06, § 171 – Zakharov.
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deführer Gründe vorträgt, warum er in besonderer Weise dem Risiko einer Überwachung ausgesetzt ist, da in solchen Fällen der Abschreckungseffekt besonders groß ist.144
IV. Rechtfertigung Die Rechtfertigungsprüfung wird vom EGMR nach den Vorgaben des Gesetzesvor- 33 behalts in Art 8 II EMRK und entsprechend seiner Rechtsprechung zu anderen Konventionsrechten mit speziellen Schrankenregelungen (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 93 ff ) als 3-Stufen-Test der Begründetheit145 vorgenommen: Der Eingriff muss gesetzlich vorgesehen, also durch eine Rechtsgrundlage gedeckt sein (1.), er muss dem Schutz einer der in Art 8 II EMRK genannten Ziele dienen (2.) und zur Erreichung dieses Ziels in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, dh verhältnismäßig sein (3.). Neben dem 3-Stufen-Test spielen gerade im Rahmen des Art 8 I EMRK die den Staat treffenden (positiven) Schutz- und Gewährleistungspflichten eine besondere Rolle (4.).
1. Gesetzliche Grundlage Der Eingriff muss sich auf eine Ermächtigungsgrundlage des nationalen Rechts 34 stützen. Soweit also das jeweilige nationale Verfassungsrecht nicht etwas anderes vorgibt (Stichwort: Wesentlichkeitslehre), können nicht nur Parlamentsgesetze, sondern auch Rechtsverordnungen und sogar Gewohnheits- oder Richterrecht im Einzelfall taugliche Rechtsgrundlagen darstellen; Letzteres vor allem in den vom common law geprägten Rechtsordnungen (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 93 ff ).146 Der Gerichtshof prüft an dieser Stelle nur, ob eine Rechtsgrundlage existiert und ob diese den im Folgenden beschriebenen Anforderungen der Zugänglichkeit und Bestimmtheit entspricht. Die Kontrolle der Subsumtion, ob sich die angegriffene Maßnahme tatsächlich auf die angegebene Ermächtigungsgrundlage stützen ließ, überlässt der Gerichtshof grundsätzlich den nationalen Gerichten147 und beschränkt sich insoweit auf eine Willkürkontrolle. Dies entspricht der Beschränkung des bun
144 EGMR (GK), Urt v 4.12.2015, 47143/06, § 171 – Zakharov; Anwendung dieses Maßstabs in EGMR, Urt v 12.5.2020, 2309/10, §§ 64 ff – Ringler; Urt v 29.09.2020, 3599/10, §§ 61 ff – Tretter ua. 145 EGMR (GK), Urt v 25.9.2018, 76639/11, § 92 – Denisov. 146 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 8 mit Rspr-Nachw. 147 EGMR, Urt v 28.4.2005, 41604/98, NJW 2006, 1495, § 37 – Buck.
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desverfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs bei Urteilsverfassungsbeschwerden auf die Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht.148 35 Die Rechtsgrundlage muss darüber hinaus rechtsstaatlichen Anforderungen149 entsprechen und für die Bürger zugänglich und hinreichend bestimmt sein, damit sie staatliche Maßnahmen vorhersehen und sich entsprechend verhalten können (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 95 ). Das Gebot der Vorhersehbarkeit setzt beispielsweise der Rückwirkung von Rechtsnormen Grenzen;150 Rechtsprechungsdivergenzen zwischen verschiedenen Rechtsmittelgerichten eines Mitgliedstaates führen dagegen in der Regel nicht zur Unvorhersehbarkeit.151 Der erforderliche Grad der Bestimmtheit hängt vom Inhalt der Rechtsnorm, deren Anwendungsbereich sowie der Anzahl und der Stellung der von ihr betroffenen Personen ab.152 Der Gerichtshof erkennt in diesem Zusammenhang an, dass ein hohes Maß an Bestimmtheit mit einer unpraktikablen Starrheit der Norm einhergehen kann und dass gerade in dynamischen Lebensbereichen die gesetzlichen Regelungen auch das nötige Maß an Flexibilität aufweisen müssen, um im Lichte der sich ändernden Umstände ausgelegt werden zu können.153 Von besonderer Bedeutung ist das Bestimmtheitsgebot bei Ermittlungsmaßnahmen, die tief in die Schutzgüter des Art 8 I EMRK, vor allem das Recht auf Achtung der Korrespondenz, eingreifen und die daher grundsätzlich nicht auf eine allgemein formulierte Ermittlungsgeneralklausel gestützt werden können.154 Handelt es sich um verdeckte Ermittlungsmaßnahmen zielt die Bestimmtheit nicht darauf ab, dass von den Maßnahmen Betroffene diese vorhersehen und ihr Verhalten daran ausrichten können, sondern sie dient vor allem dem Schutz vor missbräuchlichem und willkürlichem staatlichen Handeln, für das bei geheimen Maßnahmen ein besonderes Risiko besteht.155 Aus diesem Grund lädt der
148 Marauhn/Merhof in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 7 Rn 33. 149 Der Gerichtshof spricht von der Vereinbarkeit mit der rule of law, EGMR (GK), Urt v 25.5.2021, 58170/13 ua, NVwZ-Beilage 2021, 11, § 332 – Big Brother Watch ua. 150 Die Übermittlung von Bankdaten in die USA auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Abkommens hat der Gerichtshof allerdings als verfahrensrechtliche Maßnahme der Amtshilfe qualifiziert, die in laufenden Steuerverfahren auch dann zulässig ist, wenn das Abkommen erst nach Abschluss des in Rede stehenden Besteuerungszeitraums geschlossen wurde, EGMR, Urt v 22.12.2015, 28601/11, §§ 75 ff – GSB/Schweiz. 151 EGMR, Urt v 19.11.2020, 24173/18, NJW 2021, 3647, §§ 50 ff – Klaus Müller. 152 EGMR (GK), Urt v 16.6.2011, 64569/09, NJW 2015, 2863, § 122 – Delfi AS; Urt v 27.06.2017, 931/13, §§ 144 f – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 153 EGMR (GK), Urt v 16.6.2011, 64569/09, NJW 2015, 2863, § 121 – Delfi AS. 154 EGMR, Urt v 25.9.2001, 44787/98, § 62 – PG u JH/Vereinigtes Königreich; der Gerichtshof berücksichtigt in diesem Zusammenhang auch, ob die Unbestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage durch eine präzisierende Rspr der nationalen Gerichte kompensiert wird, EGMR, Urt v 8.2.2018, 31446/12, § 58 – Ben Faiza. 155 EGMR (GK), Urt v 4.12.2015, 47143/06, §§ 229 f – Zakharov.
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Gerichtshof das Bestimmtheitsgebot inhaltlich auf und leitet aus ihm beispielsweise für Überwachungs- und Datenverarbeitungsmaßnahmen jeweils konkrete Vorgaben ab, die Schutz vor Missbrauch bieten sollen und denen die Rechtsgrundlagen entsprechen müssen (Rn 39 ff). Vielfach handelt es sich dabei um Punkte, die vom Bundesverfassungsgericht erst in der Angemessenheit angesprochen werden und auch der Gerichtshof betont, dass sich in diesen Fällen die Prüfung der Qualität der Eingriffsgrundlage und die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit überschneiden.156
2. Legitimes Ziel Die Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art 8 I EMRK kann zu- 36 dem nur gelingen, wenn die staatliche Maßnahme eines der in Abs 2 abschließend aufgezählten Ziele verfolgt (nationale oder öffentliche Sicherheit, wirtschaftliches Wohl des Landes, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten, Schutz der Gesundheit oder der Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer), die eng auszulegen sind.157 Es handelt sich somit um einen qualifizierten Grundrechtsvorbehalt. Die iSd Art 8 II EMRK legitimen Ziele decken jedoch weite Bereiche des staatlichen Handelns ab, weshalb diese Begrenzung nur selten relevant wird.158 Der Gerichtshof hat die Begriffe, die autonom und nicht unter Rückgriff auf nationale Begriffsverständnisse auszulegen sind,159 bisher nicht präzise definiert, sondern mit Blick auf den konkreten Einzelfall ausgelegt.160 So hat er in der Rechtssache Chapman (Fall 2, Rn 19) mit knapper Begründung entschieden, dass Maßnahmen des Landschaftsschutzes darauf abzielen können, die Rechte anderer iSd Art 8 II EMRK zu schützen.161
156 EGMR (GK), Urt v 4.12.2008, 30562/04 u 30566/04, EuGRZ 2009, 299, § 99 – S u Marper; Urt v 4.12.2015, Rs 47143/06, § 236 – Zakharov; Urt v 25.5.2021, 38170/13 ua, 58170/13, NVwZ-Beilage 2021, 11, §§ 334, 361 – Big Brother Watch ua. 157 EGMR (GK), Urt v 27.8.2015, 46470/11, NJW 2016, 3705, § 163 – Parrillo. 158 Schabas EMRK, S 404. 159 → Uerpmann-Wittzack, § 3 Rn 24 (Vorauflage). 160 Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK, § 8 Rn 96; Konkretisierungen der Begriffe bei Jacobs/ White/Ovey EMRK, S 347 ff; Marauhn/Thorn in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 16 Rn 90 ff. 161 EGMR (GK), Urt v 18.1.2001, 27238/95, § 82 – Chapman.
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3. Verhältnismäßigkeit 37 Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme wird vom Gerichtshof nicht in den aus
dem deutschen Recht bekannten Schritten und auch nicht unter Rückgriff auf die hier verwendete Terminologie (Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit) geprüft; in der Sache prägen die drei Kriterien aber auch die Kontrolle des EGMR, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist“ (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 100).162 Dieser hat im Laufe der Zeit Fallgruppen der Abwägung entwickelt, die sich unter anderem nach den Schutzgütern und Teilgehalten des Art 8 I EMRK sowie nach den betroffenen Politikbereichen richten.163 Von besonderer Bedeutung ist dabei gerade im Rahmen des Art 8 I EMRK der den Konventionsstaaten vom Gerichtshof eingeräumte Beurteilungsspielraum (margin of appreciation), der je nach Ziel der Maßnahme und Intensität des Eingriffs enger oder weiter ausfällt (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 101). Besonders weit fällt dieser Beurteilungsspielraum insbesondere auch dann aus, wenn es in einem Regelungsbereich (noch) keine gemeinsamen europäischen Wertvorstellungen gibt oder auch wenn ein Fall sensible ethische oder moralische Fragen aufwirft.164 38 Für Eingriffe in das Schutzgut des Privatlebens lässt sich konstatieren, dass der EGMR den Staaten grundsätzlich einen eher weiten Beurteilungsspielraum einräumt.165 Dies gilt beispielsweise für das Namensrecht.166 Als legitimes Ziel im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung akzeptierte der Gerichtshof hier unter anderem den Schutz des Kindes vor unangemessenen Namen sowie die durch das deutsche Verbot, Kindern einen Doppelnachnamen als Familiennamen zu geben, bezweckte Verhinderung immer längerer Nachnamensketten.167 Auch in Fragen der Fortpflanzungsmedizin und des Embryonenschutzes wird den Konventionsstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum zugestanden.168 Dagegen nimmt der EGMR eine eher strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle vor, wenn eine Maßnahme die besonders intimen Bereiche des Privatlebens, wie die sexuelle Identität oder Präferenz, be-
162 Vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 14 ff. 163 Die legitimen Beschränkungsziele des Art 8 II EMRK spielen in dieser Hinsicht keine Rolle, s kritisch Marauhn/Thorn in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Kap 16 Rn 96. 164 Ausf Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 21. 165 Marauhn/Thorn in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 16 Rn 97. 166 EGMR, Urt v 6.9.2007, 10163/02, § 31 – Johansson. 167 EGMR, Urt v 6.9.2007, 10163/02, § 32 – Johansson; Beschl v 06.05.2008, 31745/02 – Heidecker-Tiemann. 168 EGMR (GK), Urt v 10.4.2007, 6339/05, NJW 2008, 2013, §§ 77 ff – Evans; Urt v 27.8.2015, 46470/11, NJW 2016, 3705, §§ 168 ff – Parrillo.
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trifft.169 Wie schwer es jedoch ist, hier zu allgemeinen Aussagen zu kommen, zeigt schließlich das Beispiel der Strafbarkeit des Geschwisterinzests: Obwohl dieser ohne Zweifel in den Kernbereich des Privatlebens fällt, nimmt der Gerichtshof seine Kontrolldichte zurück und begründet dies mit dem breiten Konsens in den Konventionsstaaten, in deren Rechtsordnungen und Gesellschaften sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern nicht akzeptiert werden.170 Spezielle und ausdifferenzierte Maßstäbe, die willkürliches Handeln und 39 Missbrauch verhindern sollen und die auch als Vorgaben für die Bestimmtheit der Rechtsgrundlage des nationalen Rechts formuliert werden (Rn 35), hat der Gerichtshof vor allem für bestimmte Ermittlungs- und Überwachungsmaßnahmen entwickelt, die verdeckt vorgenommen werden und/oder besonders intensiv in den Schutzbereich des Art 8 I EMRK eingreifen. Insbesondere Gesetzen, die zu geheimen Überwachungsmaßnahmen ermächtigen, sei – so betont es der EGMR schon früh – die Gefahr inhärent, dass sie die Demokratie – mit der Begründung, sie zu verteidigen – untergraben oder zerstören.171 So stellt Art 8 II EMRK (im Gegensatz zu Art 13 II GG) die Durchsuchung einer 40 Wohnung zwar nicht unter den Vorbehalt einer richterlichen Anordnung und auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit muss das nationale Recht nicht zwingend einen solchen Richtervorbehalt enthalten. Da ein Richtervorbehalt aber in besonderer Weise gegen missbräuchliche und willkürliche Durchsuchungen schützt, prüft der Gerichtshof die Verhältnismäßigkeit des zur Durchsuchung ermächtigenden nationalen Rechts dann besonders streng, wenn dieses keine richterliche Anordnung der Durchsuchung vorsieht.172 Für die Beurteilung, ob auch die konkrete Durchsuchung verhältnismäßig war, stellt der EGMR unter anderem auf die Schwere der verfolgten Straftat, die Beweislage zum Zeitpunkt der Anordnung der Durchsuchung, den Inhalt und Umfang der Anordnung sowie die möglichen Auswirkungen auf den guten Ruf des Betroffenen ab.173 Ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht174 nimmt auch der EGMR auf der Rechtfertigungsebene die Wirkung der Schutzbereichserweiterung auf Büro- und Geschäftsräume wieder etwas zurück
169 EGMR (Pl), Urt v 22.10.1981, 7525/76, NJW 1984, 541 (543) – Dudgeon; Urt v 27.8.2015, 46470/11, NJW 2016, 3705, § 62 – Parrillo. 170 EGMR, Urt v 12.4.2012, 43547/08, NJW 2013, 215, § 61 – Stübing. 171 EGMR, Urt v 6.9.1978, 5029/71, 5029/71, NJW 1979, 1755, § 49 – Klass ua; EGMR (GK), Urt v 4.12.2015, 47143/06, § 232 – Zakharov. 172 EGMR, Urt v 16.12.1997, 21353/93, § 45 – Camenzind. 173 EGMR, Urt v 6.10.2016, 33696/11, NJW 2018, 921, § 44 – KS u MS/Deutschland = Eifert, JK 2017/ 996. 174 Vgl die ständige Rspr zu Betretungsrechten zur Nachschau BVerfGE 32, 54 (76); 97, 228 (266). Nikolaus Marsch
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und betont, dass der Vorbehalt des Art 8 II EMRK weiter reichen kann, wenn beruflich genutzte Räume durchsucht werden.175 41 Was das Schutzgut der Korrespondenz betrifft, unterscheidet der Gerichtshof mittlerweile zwischen zum Zwecke der Strafverfolgung gezielt angeordneten Eingriffen in die Vertraulichkeit der Kommunikation im Einzelfall (targeted interception) und den als Massenüberwachung bezeichneten breitflächigen Maßnahmen von Geheimdiensten zur Überwachung insbesondere der Auslandskommunikation (bulk interception).176 Rechtsgrundlagen im nationalen Recht, die eine gezielte Überwachung der Kommunikation erlauben, müssen unter anderem regeln, bei welchen Straftaten und für welchen maximalen Zeitraum das Abhören von Telefonen in Betracht kommt, welche Personengruppen abgehört werden dürfen, wie die gewonnenen Daten ausgewertet, genutzt und gespeichert und wann die Daten gelöscht werden müssen; Berücksichtigung findet in der Verhältnismäßigkeit darüber hinaus auch, in welcher Weise das Handeln der Strafverfolgungsbehörden kontrolliert wird, ob die Betroffenen nach Abschluss der Telefonüberwachung benachrichtigt werden und inwieweit sie diese nachträglich gerichtlich überprüfen lassen können.177 Da sich diese Kriterien nicht uneingeschränkt auf die als Massenüberwachung bezeichnete Filterung der Auslandskommunikation mit Hilfe von Suchbegriffen178 übertragen lässt, hat die Große Kammer des Gerichtshofs 2021 die Rechtsprechung in dieser Hinsicht ergänzt und fortentwickelt. Der EGMR hält Massenüberwachungsregime nicht per se für mit Art 8 I EMRK unvereinbar und überlässt den Konventionsstaaten einen weiten Spielraum, welche Art von Massenüberwachung sie für notwendig erachten, stellt aber zugleich fest, dass der Beurteilungsspielraum mit Blick auf die konkrete gesetzliche Ausgestaltung enger ist und dass das nationale Recht besondere Sicherungsmaßnahmen enthalten muss.179 So muss unter anderem die Verhältnismäßigkeit in allen Phasen der Überwachung durch eine unabhängige Aufsicht kontrolliert werden, was insbesondere durch eine detaillierte Dokumentation der Maßnahmen zu ermöglichen ist, die Verwendung von personenbezogenen Suchbegriffen bedarf einer schriftlichen Begründung und vorherigen behördeninternen Genehmigung und eine Weitergabe von Daten an andere Staaten darf nur erfolgen, wenn auch im Empfängerstaat Regeln über den Um-
175 EGMR, Urt v 16.12.1992, 13710/88, NJW 1993, 718, § 31 – Niemietz. 176 EGMR (GK), Urt v 25.5.2021, 58170/13 ua, NVwZ-Beilage 2021, 11, §§ 335, 347 – Big Brother Watch ua. 177 Zusammenfassend EGMR (GK), Urt v 25.5.2021, 58170/13 ua, NVwZ-Beilage 2021, 11, § 335 – Big Brother Watch ua; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 39 jeweils mwN. 178 Zur begrifflichen Unterscheidung Huber, NVwZ-Beilage 2021, 3. 179 EGMR (GK), Urt v 25.5.2021, 58170/13 au, NVwZ-Beilage 2021, 11, § 347 – Big Brother Watch ua. Nikolaus Marsch
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gang mit diesen Daten bestehen, die geeignet sind, eine verhältnismäßige Verwendung sicherzustellen und Missbrauch zu verhindern.180 Betreffen Eingriffe in das Privatleben, das Recht auf Achtung der Wohnung 42 oder der Korrespondenz die Geschäftsräume, Unterlagen oder Kommunikation eines Rechtsanwalts, muss die gesetzliche Grundlage besondere Sicherungen gegen Missbrauch enthalten und ist die Verhältnismäßigkeit besonders streng zu prüfen.181 Dies stützt die anwaltliche Schweigepflicht ab und dient somit dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant sowie – soweit anwendbar – auch der Selbstbelastungsfreiheit und allgemein dem Recht auf ein faires Verfahren gem Art 6 EMRK.182 Dieses kann auch dadurch verletzt werden, dass sich ein Gericht auf Beweismittel stützt, die unter Verletzung von Art 8 I EMRK erlangt worden sind, wobei nicht jede Verwertung solcher rechtswidrig erlangten Beweismittel mit dem Recht auf ein faires Verfahren unvereinbar ist; ein erneuter Eingriff in Art 8 I EMRK liegt in der Beweisverwertung jedenfalls nicht.183 Mit Blick auf die Verarbeitung persönlicher Daten unterscheidet der Ge- 43 richtshof – entsprechend dem Konzept besonderer Datenkategorien in Art 6 der Datenschutzkonvention des Europarates und Art 9 DSGVO – nach der Schutzbedürftigkeit der Daten: so stuft er beispielsweise Gesundheitsdaten und Daten über die friedliche Teilnahme an politischen Demonstrationen als besonders sensibel ein;184 Finanzdaten betrachtet der Gerichtshof dagegen als weniger schutzbedürftig, weshalb er insoweit den Konventionsstaaten einen weiten Ermessensspielraum einräumt.185 Inhaltliche Vorgaben hat der Gerichtshof insbesondere in Entscheidungen entwickelt, die die Verarbeitung von Daten durch Polizei- oder Geheimdienstbehörden betrafen.186 Diese entsprechen weitgehend den Vorgaben der Datenschutzkonvention und dem Datenschutzsekundärrecht der EU und verpflichten die Konventionsstaaten unter anderem sicherzustellen, dass die Daten nur zu festgelegten
180 EGMR (GK), Urt v 25.5.2021, 58170/13 ua, NVwZ-Beilage 2021, 11, §§ 348 ff – Big Brother Watch ua, insbesondere die Auflistung von acht Kriterien in § 361. 181 EGMR, Urt v 3.12.2019, 14704/12, NJW 2020, 3507, §§ 49 ff – Kırdök ua; EGMR, Urt v 17.12.2020, 459/ 18 – Saber; weitere Nachweise bei Gundel, DVBl 2020, 1042 (1048 f); Meyer-Ladewig/Nettesheim in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 8 Rn 115. 182 Vgl z diesem Zusammenhang auch die Anm v Gerhold, JZ 2023, 303 z EuGH, Urt v 8.12.2022, Rs C694/20 – Orde van Vlaamse Balies ua. 183 EGMR, Urt v 3.3.2016, 7215/10, NJW 2017, 2811, § 27 – Prade. 184 EGMR, Urt v 25.2.1997, 22009/93, § 95 – Z/Finnland; Urt v 24.1.2019, 43514/15, § 112 – Catt. 185 EGMR, Urt v 22.12.2015, 28601/11, § 93 – GSB/Schweiz. 186 Ausf hierzu und zum Folgenden Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 239 ff.
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Zwecken verarbeitet und nicht länger als notwendig gespeichert werden.187 Werden behördliche Daten aufgrund von Informationsfreiheitsgesetzen veröffentlicht, was gerade in skandinavischen Staaten einer besonderen Transparenzkultur geschuldet ist, die mittlerweile auch auf Ebene des Unionsrechts in Art 42 GRCh eine grundrechtliche Verankerung gefunden hat (→ Kadelbach, § 10.2 Rn 74 ff), so überlässt der Gerichtshof den Konventionsstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren unterschiedliche Alternativen erwogen und eine Abwägung der gegenläufigen Interessen vorgenommen hat (hierzu auch → Marsch, § 4.2.2 Rn 31 f).188 In der Leitentscheidung der Großen Kammer in der Rechtssache Satamedia, die zuvor bereits den EuGH beschäftigt hatte,189 akzeptiert der EGMR dabei die Unterscheidung des finnischen Gerichts zwischen der rechtmäßigen Offenlegung bestimmter Steuerdaten eines Drittels der finnischen Bevölkerung durch die Behörden und der unzulässigen massenhaften Verbreitung dieser Daten durch ein Medienunternehmen.190
4. Schutz- und Gewährleistungspflichten (positive obligations) 44 Schließlich nehmen die vom Gerichtshof unter dem Begriff der positive obligations
entwickelten Schutz- und Gewährleistungspflichten (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 33 ff) im Rahmen des Art 8 I EMRK einen besonders breiten Raum ein.191 Im Wege einer Abwägung der gegenläufigen Interessen prüft der EGMR, ob den Staat eine Handlungspflicht trifft, die er verletzt hat, weil er ein Schutzgut des Art 8 I EMRK nicht hinreichend gegenüber Privaten geschützt (Rn 45 f) oder weil er eine Leistung nicht erbracht – also zB eine Information nicht erteilt – hat, auf die der Beschwerdeführer unmittelbar aus Art 8 I EMRK einen Anspruch hat (Rn 47). Dabei betont der Gerichtshof regelmäßig, dass die Grenze zwischen den aus der Abwehrdimension folgenden negativen Verpflichtungen und den positiven Verpflichtungen schwer zu ziehen sei und er lässt mit dem Argument, in beiden Fällen sei eine Abwägung vorzunehmen, nicht selten offen, welche Grundrechtsdimension konkret in einem
187 EGMR (GK), Urt v 4.5.2000, 28341/95, §§ 56 ff – Rotaru; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 47 mwN. 188 EGMR (GK), Urt v 27.6.2017, 931/13, §§ 192 ff – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy; allg zu diesem Ansatz prozeduraler Rationalität Kleinlein Grundrechtsföderalismus, S 457 ff; Rauber, AöR 143 (2018), 67 (108 ff). 189 EuGH (GK), Rs C-73/07, Slg 2008, I-9831 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 190 EGMR (GK), Urt v 27.6.2017, 931/13, §§ 184 f, 188 ff – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 191 Krieger in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 6 Rn 46.
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Fall betroffen ist.192 Dieses sehr pragmatische Vorgehen ist unter anderem deswegen möglich, weil den staatlichen Stellen bei Beeinträchtigungen des Privatlebens schon mit Blick auf ihre negativen Verpflichtungen vielfach ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt wird, den der EGMR in Bezug auf die positiven Verpflichtungen der Konventionsstaaten ganz grundsätzlich hervorhebt. Denn wenngleich er diese Selbstbeschränkung nicht immer einhält,193 betont er in Bezug auf gerichtliche Abwägungsentscheidungen doch in ständiger Rechtsprechung, dass er sich nicht an die Stelle des nationalen Gerichts setzen dürfe.194 Ist allerdings ein besonders intimer Bereich des Privatlebens betroffen, kann dies – wie in der Abwehrdimension (Rn 38) – die Kontrolldichte auch bei staatlichen Handlungspflichten erhöhen.195 Besonders stark ausgeprägt ist die Schutzpflichtendimension des Privat- 45 lebens, wenn das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung betroffen ist: In einer Reihe von Entscheidungen hat der Gerichtshof aus Art 8 I EMRK abgeleitet, dass schwere Eingriffe Dritter unter Strafe zu stellen und die entsprechenden Straftaten effektiv zu verfolgen sind.196 Auch gegen konkrete Personen gerichtete homophobe Gewaltaufrufe im Internet müssen nach einer Anzeige der Betroffenen von den Strafverfolgungsbehörden jedenfalls gewissenhaft auf ihre Strafbarkeit hin überprüft werden.197 Im Einzelfall kann mit Blick auf die Bekämpfung von Straftaten im Internet die Schutzpflicht aus Art 8 I EMRK sogar dadurch verletzt werden, dass eine Rechtsgrundlage fehlt, die den Serviceprovider zur Mitteilung von Nutzerdaten verpflichtet.198 Aus dem Recht auf Achtung der Wohnung folgt unter anderem eine Pflicht der Staaten, die Wohnungsinhaber vor Lärm zu schützen;199 hier kommt es zu Überschneidung mit dem Eigentumsschutz (sa Rn 31).200 In der Weigerung der Staatsanwaltschaft, im Rahmen einer Untersuchung wegen häuslicher Gewalt auch den Hinweisen nachzugehen, der Beschuldigte habe widerrechtlich die private Korrespondenz seiner Ehefrau eingesehen und kopiert, kann eine Verletzung der
192 Kritisch hierzu Lafferty in: Harris/O’Boyle/Warbrick, EMRK, S 569. 193 Besondere Kritik hat in diesem Zusammenhang die Entscheidung EGMR, Urt v 24.6.2014, 59320/ 00, NJW 2004, 2647 – von Hannover I erfahren, s Grabenwarter FS Ress, 2005, S 979 (994 f); in späteren Entscheidungen hat der Gerichtshof seine Kontrolldichte aber wieder etwas zurückgenommen, s Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 62 mwN. 194 EGMR (GK), Urt v 27.6.2017, 931/13, § 164 mwN – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 195 Schabas EMRK, S 368 mit Verweis auf EGMR (GK), Urt v 10.4.2007, 6339/05, NJW 2008, 2013, § 77 – Evans; EGMR, Urt v 10.5.2011, 48009/08, NJW 2012, 747, § 109 – Mosley. 196 S mwN Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 60; Schabas EMRK, S 368 f. 197 EGMR, Urt v 14.1.2020, 41288/15 – Beizaras u Levickas. 198 EGMR, Urt v 2.12.2008, 2872/02 – KU/Finnland. 199 Ausf mwN Pätzold in: Karpenstein/Mayer, EMRK Art 8 Rn 125. 200 Hierzu Korves, JR 2016, 1 (2 ff).
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Schutzpflichtendimension des Rechts auf Achtung der Korrespondenz liegen.201 Eine umfangreiche Rechtsprechung hat der EGMR schließlich zur Frage entwickelt, in welcher Weise die Konventionsstaaten das Recht am eigenen Bild sowie die Ehre und den guten Ruf gegenüber journalistischer Berichterstattung schützen müssen (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska, § 5.1 Rn 48 ff). Den zur Abwägung der betroffenen Grundrechte berufenen staatlichen Stellen kommt dabei ein weiter Beurteilungsspielraum zu, der sich nicht danach unterscheidet, ob im konkreten Fall eine Verletzung von Art 8 I EMRK oder eine Verletzung der Meinungs- und Medienfreiheit aus Art 10 I EMRK gerügt wird, der also von der (zufälligen) prozessualen Rollenverteilung unabhängig ist.202 Diesen Beurteilungsspielraum hatte der BGH in einer Entscheidung zu aus Pressearchiven abrufbaren Berichten über eine lange zurückliegende Straftat gewahrt, weshalb in diesem Fall das „Recht auf Vergessen“, das auch schon den EuGH (→ Marsch, § 4.2.2 Rn 36 u 37) und das Bundesverfassungsgericht203 beschäftigt hat, nicht verletzt war.204 In einem belgischen Fall hat der Gerichtshof aus Art 8 I EMRK ein Recht des Beschwerdeführers auf Anonymisierung eines fast zwanzig Jahre alten Zeitungsberichts abgeleitet, der im Onlinearchiv abrufbar war und in dem über einen vom ihm verursachten schweren Verkehrsunfall berichtet wurde.205 46 Ein besonders intensiv diskutierter Aspekt der Schutzpflichtendimension von Art 8 I EMRK stellt die verdeckte Überwachung von Arbeitnehmern durch ihren Arbeitgeber dar.206 Wie schwierig vor allem die Anwendung des vom Gerichtshof für diese Fälle entwickelten Prüfkatalogs ist, verdeutlicht unter anderem die Tatsache, dass in der jüngeren Vergangenheit die Große Kammer jeweils mit deutlicher Mehrheit zwei Leitentscheidungen in Fällen getroffen hat, die zuvor von der Kammer ebenfalls mit deutlicher Mehrheit genau entgegengesetzt entschieden worden waren.207 Folgende Aspekte, die nicht als kumulativ zu prüfende Zulässigkeitskriterien, sondern als Abwägungsgesichtspunkte im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu verstehen sind, werden vom Gerichtshof berücksichtigt und – je nach Fallgestaltung unter
201 EGMR, Urt v 11.2.2020, 56867/15 – Buturugă. 202 EGMR, Urt v 7.2.2012, 40660/08 ua, NJW 2012, 1053, § 106 – von Hannover II; Urt v 16.6.2011, 64569/09, NJW 2015, 2863, § 139 – Delfi AS. 203 BVerfG, Beschl v 6.11.2019, 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300 – Recht auf Vergessen I = Eifert, JK 2020/ 411; Beschl v 6.11.2019, 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314 – Recht auf Vergessen II = Eifert, JK 2020/535. 204 EGMR, Urt v 28.6.2018, 60798/10 ua, NJW 2020, 295 – ML u WW/Deutschland; hierzu Kröner, K&R 2018, 544. 205 EGMR, Urt v 22.6.2021, 57292/16 – Hurbain. 206 Hierzu ua Lörcher, ArbuR 2020, 100; Pärli, EuZA 2020, 224; Schlachter, EuZA 2020, 533. 207 EGMR (GK), Urt v 5.9.2017, 61496/08, EuZW 2018, 169 – Bărbulescu; Urt v 17.10.2019, 1874/13 ua, NZA 2019, 1697 – López Ribalda ua. Nikolaus Marsch
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schiedlich – gewichtet:208 die vorherige Information des Arbeitnehmers über die geplante Überwachung, die Eingriffsschwere (insb Umfang und Gegenstand der Überwachung), die berechtigten Interessen des Arbeitgebers, die Notwendigkeit der Überwachung (gab es mildere Mittel?), die Folgen der Überwachung für den Arbeitnehmer209 und die Sicherungsmaßnahmen (zB vor unbefugtem Zugriff auf das durch die Überwachung gewonnene Material).210 Dass diese Gesichtspunkte fallspezifisch abzuwägen sind, zeigt der Aspekt der vorherigen Information des Arbeitnehmers. Während in der Rechtssache Bărbulescu die fehlende vorherige Information, dass der beruflich am Computer genutzte Messengerdienst vom Arbeitgeber überwacht wird, zur Feststellung einer Verletzung von Art 8 I EMRK führte, hat die Große Kammer in einer (im vorgenommenen Ausmaß) unangekündigten Videoüberwachung von Angestellten eines Supermarktes keine Verletzung des Privatlebens erkannt. Grund hierfür war insbesondere, dass mit dem Kassenbereich ein öffentlich zugänglicher Teil des Supermarktes überwacht wurde und die Überwachung nur zehn Tage andauerte. Besondere Bedeutung kommt der Schutzpflichten- und insbesondere Leistungs- 47 dimension des Art 8 I EMRK schließlich hinsichtlich der Verarbeitung von Daten und dem Zugang zu Informationen zu. So hat der Gerichtshof für sensible Gesundheitsdaten im Sinne einer engen Zweckbindung gefordert, dass in einem Krankenhaus hinreichende Sicherungsmaßnahmen getroffen werden müssen, die gewährleisten, dass nur jene Personen auf die Daten Zugriff haben, die sie zu medizinischen Zwecken benötigen.211 Jedenfalls wenn die bei einer staatlichen Stelle vorhandene Informationen einen besonders engen Bezug zum Privatleben einer Person aufweisen, kann sich aus Art 8 I EMRK ein Anspruch auf Zugang zu diesen Informationen ergeben;212 auch ein Berichtigungsrecht hat der EGMR grundsätzlich anerkannt.213 Dagegen hat die Große Kammer die französischen Regelungen über anonyme Geburten und die Tatsache, dass gegenüber der mittlerweile erwachsenen Beschwerdeführerin der Name ihrer leiblichen Mutter nicht offengelegt wurde, als im Beurteilungsspielraum des französischen Staates liegend angesehen.214 Denn ne-
208 Schlachter, EuZA 2020, 533 (543). 209 Hier wird wenig überzeugend von der Großen Kammer auf die verhaltensbedingte Kündigung abgestellt; daher mit guten Gründen kritisch zu diesem Kriterium Schlachter, EuZA 2020, 533 (541). 210 EGMR (GK), Urt v 5.9.2017, 61496/08, EuZW 2018, 169, § 121 – Bărbulescu; Urt v 17.10.2019, 1874/13 ua, NZA 2019, 1697, § 116 – López Ribalda ua. 211 EGMR, Urt v 17.7.2008, 20511/03, § 44 – I/Finnland. 212 EGMR, Urt v 7.7.1989, 10454/83, § 37 – Gaskin; Urt v 24.9.2002, 39393/98, § 29 – MG/Vereinigtes Königreich; ob Art 8 EMRK ein allgemeines Recht auf Zugang zu allen personenbezogenen Daten vermittelt, wie es in Art 8 II 2 GRCh verankert ist (→ Marsch, § 4.2.2 Rn 27), lässt der Gerichtshof explizit offen. 213 EGMR, Urt v 26.3.1987, 9248/81, § 48 – Leander; EGMR (GK), Urt v 4.5.2000, 28341/95, § 45 – Rotaru. 214 EGMR, Urt v 13.2.2003, 42326/98, NJW 2003, 2145, §§ 44 ff – Odièvre/Frankreich; hierzu Lux-Wesener, EuGRZ 2003, 555; Stürmann, KJ 2004, 54.
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ben der Beschwerdeführerin und der leiblichen Mutter, die sich beide auf ihr Recht auf Achtung des Privatlebens berufen konnten, waren auch die schutzwürdigen Interessen der Adoptiveltern und -geschwister der Beschwerdeführerin in der Abwägung zu berücksichtigen; zudem hatte die Beschwerdeführerin nach französischem Recht einen Anspruch auf Zugang zu anonymisierten Informationen über ihre leiblichen Eltern.
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Lösung Fall 1: Zunächst verwirft der Gerichtshof den Einwand der Regierung als irrelevant, nicht das Urteil selbst, sondern erst die Presseberichterstattung habe den Ruf und die Ehre des C beeinträchtigt, weshalb sich C gegen diese gerichtlich hätte wehren müssen. Denn auch wenn die mediale Verbreitung die Beeinträchtigung zweifellos vertieft hat, ist Ausgangspunkt die nicht anonymisierte Veröffentlichung des Urteils. Die Beschwerde ist daher zulässig. Der Schutzbereich des Art 8 I EMRK ist eröffnet, da die gerichtliche Feststellung, C habe gegenüber einer Kollegin schikanöses Verhalten an den Tag gelegt und psychisches Mobbing ausgeübt, unzweifelhaft dessen Reputation und Ehre betreffen, die als Teil des Privatlebens geschützt sind. Der Gerichtshof lässt dabei offen, ob Art 8 I EMRK in seiner Abwehr- oder in seiner Gewährleistungs- und Schutzpflichtendimension betroffen ist und verweist auf seine ständige Rechtsprechung, wonach die Grenze zwischen diesen Dimensionen schwer zu ziehen sei, es einer Differenzierung regelmäßig aber auch nicht bedürfe, da in beiden Konstellationen eine Abwägung vorzunehmen sei und den Staaten ein weiter Beurteilungsspielraum zukomme. Schließlich grenzt der Gerichtshof den Fall noch von seiner Rechtsprechungslinie ab, nach der eine gerichtliche Verurteilung, die vorhersehbare Konsequenz eines Fehlverhaltens gewesen ist, den Schutzbereich des Art 8 I EMRK nicht berührt. Diese komme mangels Vorhersehbarkeit für C nicht zur Anwendung, da dieser am gerichtlichen Verfahren nicht als Partei beteiligt war, weshalb er von diesem keine Kenntnis hatte, und da die unmittelbar gegen ihn gerichtete Beschwerde des Opfers mehrere Jahre zuvor abgewiesen worden war. Die nicht-anonymisierte Veröffentlichung des Urteils stellt daher einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens dar. Dieser verfolgt als iSd Art 8 II EMRK legitimes Ziel die im öffentlichen Interesse liegende Herstellung der Transparenz von Gerichtsverfahren, die insbesondere das Vertrauen der Bürger in die staatlichen Gerichte sichert. Auch das Interesse der Kollegin an einer gerichtlichen Feststellung der Tatsachen als Teil einer Wiedergutmachung des erlittenen Schadens stellt ein legitimes Ziel dar. Diese Ziele wurden im konkreten Fall jedoch nach Ansicht des Gerichtshofs nicht in verhältnismäßiger Weise verfolgt. Unter Anerkennung der Besonderheiten des Amtshaftungsverfahrens bemängelt der EGMR, dass das spanische Gericht sich nicht darauf beschränkt hat, die Verantwortlichkeit der Anstellungskörperschaft für den vom Opfer erlittenen Schaden oder die Tatsache festzustellen, dass das Opfer Mobbing ausgesetzt war und die Anstellungsbehörde dies wusste und keine Maßnahmen getroffen hat; vielmehr ging das spanische Gericht über diese nach Ansicht des Gerichtshofs allein notwendigen Feststellungen hinaus, indem es in der Urteilsbegründung konkret ausführte, dass das Verhalten des Beschwerdeführers wiederholtes psychisches Mobbing darstellte. Der Gerichtshof bezieht sich insoweit auch auf die vorangegangene Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts, wonach der Beamte im Urteil nicht hätte identifiziert werden müssen, insbesondere weil die persönliche Haftung des Schädigers nicht Voraussetzung für die Haftung der Anstellungskörperschaft ist. Zudem sah das spanische Recht die Möglichkeit vor, Personen in Urteilen nur mit ihren Initialen zu bezeichnen, was nach Ansicht des Gerichtshofs insbesondere deshalb hätte geschehen müssen, weil der Beschwerdeführer nicht Beteiligter des Verfahrens war Nikolaus Marsch
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und von diesem daher erst aus der Zeitung erfahren hat. Das spanische Gericht hat es somit versäumt, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens zu ergreifen, weshalb trotz des weiten Beurteilungsspielraums der spanischen Gerichte eine Verletzung von 8 I EMRK festgestellt wird. In einem Sondervotum kritisieren eine Richterin und ein Richter, dass die Kammer es wegen der festgestellten Verletzung von Art 8 I EMRK nicht für notwendig erachtet hat, über die weitere Rüge des Beschwerdeführers zu befinden, er sei durch die Verweigerung der spanischen Gerichte, ihn als Beteiligen zum Verfahren zuzulassen, auch in seinem Recht aus Art 6 I EMRK verletzt. Sie sind mit guten Gründen der Ansicht, es handele sich um zwei voneinander getrennt zu behandelnde Rügen. Die Kritik des Sondervotums legt letztlich eine Bruchstelle des Urteils offen, hinter der ein grundsätzliches Problem gerade der Rechtsprechung zu Art 8 I EMRK steht, nämlich der Umgang des Gerichtshofs mit den eigenen richterrechtlich entwickelten Maßstäben. Mit Blick auf die vor allem durch Strafurteile und disziplinarische Maßnahmen bewirkten Reputationsschäden ist schon fraglich, ob es wirklich – wie der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung judiziert – auf die Tatsache ankommt, dass die Betroffenen diese Auswirkungen ihres Fehlverhaltens vorhersehen konnten. Die Heranziehung dieses Maßstabs im vorliegenden, etwas speziell gelagerten Fall überzeugt jedenfalls nicht. Vielmehr wird deutlich, dass die Fälle dieser Fallgruppe zwei getrennt voneinander zu behandelnde Fragen aufwerfen. Auf einer ersten Ebene liegen der Strafausspruch, die Disziplinarmaßnahme oder im vorliegenden Fall die Verurteilung zu Schadensersatz; auf einer zweiten Ebene liegt die Veröffentlichung des Urteils215 (und zuvor schon die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens). Zwar mag eine tatsächliche Vermutung bestehen, dass jedenfalls bei Strafurteilen die Rechtmäßigkeit der Maßnahme auf der ersten Stufe auch die Rechtmäßigkeit der nicht-anonymisierten Veröffentlichung präjudiziert. Zwingend scheint dies aber nicht zu sein. Jedenfalls lassen sich die beiden Ebenen nicht überzeugend durch das Kriterium der Vorhersehbarkeit verkoppeln.
Lösung Fall 2: Die Versagung der von C beantragten Baugenehmigung und die Anordnung, den Wohnwagen von ihrem eigenen Grundstück zu entfernen, greifen in das Recht auf Achtung des Privatlebens, des Familienlebens und der Wohnung ein. Der Gerichtshof unterscheidet die drei Schutzgüter nicht, sondern sieht sie im konkreten Fall als in besonderer Weise miteinander verbunden an. Zur Begründung verweist er auf den Schutz des besonderen nicht-sesshaften Lebensstils als Ausdruck der ethnischen Identität. Der Gerichtshof betont insoweit den völkerrechtlichen Schutz nationaler Minderheiten und besonders vulnerabler Gruppen, erkennt aber zum Zeitpunkt des Urteils noch keinen hinreichend konkreten internationalen Konsens, aus dem sich Folgerungen für den zu entscheidenden Fall ableiten ließen.216 Da sich die allgemeinen Regeln des Landschaftsschutzes nicht diskriminierend gegen die Gruppe der Roma richten, besteht auch kein Anspruch, von der Geltung dieser Regeln, die den Schutz von Gemeinschaftsgütern wie der Umwelt bezwecken, ausgenommen zu werden. Allerdings müssen die besonderen Bedürfnisse einer Minderheit und der Schutz ihres traditionellen Lebensstils sowohl der Rechtssetzung als auch bei der Anwendung der Normen Berücksichtigung finden. Allein
215 Die Veröffentlichung gerichtlicher Entscheidungen und die dabei zu beachtenden Anonymisierungspflichten werden auch in Deutschland verstärkt diskutiert s nur Heese, JZ 2021, 665. 216 Kritisch über die konkrete Entscheidung hinaus Weber, ZAR 2013, 188 (195): EGMR berücksichtigt die kollektive Dimension der menschenrechtlichen Situation der Roma nicht hinreichend. Nikolaus Marsch
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die von den englischen Gerichten festgestellte Tatsache, dass nicht in ausreichender Zahl dauerhaft zu nutzende Wohnwagenstellplätze in England existieren, die von den Angehörigen der Romaminderheit als angemessen und bezahlbar angesehen werden, reicht aus Sicht des Gerichtshofs nicht aus, um aus Art 8 I EMRK eine positive Verpflichtung aller Konventionsstaaten abzuleiten, in ausreichender Zahl solche Stellplätze zu schaffen. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass aus Art 8 I EMRK grundsätzlich kein Anspruch gegen den Staat folgt, eine Wohnung zur Verfügung gestellt zu bekommen und dass ein solches soziales Grundrecht auch in der Rechtsprechung des EGMR niemals anerkannt wurde. Mit Blick auf die konkrete Entscheidung verweist der Gerichtshof letztlich vor allem auf die Einschätzung der lokalen Baubehörden (denen aufgrund ihrer besonderen Sachnähe ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt), wonach sich das Aufstellen von Wohnwägen auf dem Grundstück der C in sehr negativer Weise auf den dörflichen Charakter des sich in einem landschaftlich besonders geschützten Bereich befindlichen Grundstücks auswirken würde. Daher sieht eine Mehrheit von 10 Richterinnen der Großen Kammer Art 8 I EMRK als nicht verletzt an. Sieben Richter der Großen Kammer haben sich der Entscheidung im Ergebnis nicht angeschlossen. Sie verweisen in ihrem Sondervotum darauf, dass sich mit Blick auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Minderheiten und deren besondere Bedürfnisse ein Konsens der Vertragsstaaten herausgebildet habe, woraus Schutzpflichten mit Blick auf die Sicherheit, die Identität und den Lebensstil der betroffenen Personengruppen folgen. Den Mitgliedstaaten seien nicht nur Diskriminierungen verboten, sondern sie seien auch verpflichtet, die Situation der Romaminderheit durch eigene Maßnahmen zu verbessern. Da in England über die vergangenen Jahrzehnte die Zahl von Orten, auf denen sich Roma in ihren Wohnwägen niederlassen können, drastisch reduziert wurde und auch im konkreten Fall kein alternativer Stellplatz zur Verfügung stand, hätte es nach Ansicht der dissentierenden Richter besonders zwingender Gründe für die Anordnung bedurft, die Wohnwägen zu entfernen. Den Angehörigen der Romaminderheit werde auf diese Weise auch nicht carte blanche gegeben, sich an jedem gewünschten Ort niederzulassen, sondern es werde vielmehr an die langjährigen Versäumnisse der lokalen Behörden angeknüpft, Stellplätze in hinreichender Zahl zu schaffen. Aus diesem Grund sei Art 8 I EMRK im konkreten Fall verletzt. In einer späteren Entscheidung hat der Gerichtshof entschieden, dass eine staatliche Versorgung mit sicherem Trinkwasser im Ausnahmefall als positive Verpflichtung aus 8 I EMRK folgen kann, den Staaten aber ein weiter Entscheidungsspielraum zukommt, wie sie diese Verpflichtung erfüllen.217
217 EGMR, Urt v 10.3.2020, 24816/14 u 25140/14, § 141 ff – Hudorovič ua.
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§ 4.2.2 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten nach der GRCh Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2002, I-9011 – Roquette Frères; Slg 2003, I-4989 – ORF; (GK) Slg 2008, I-9831 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy; (GK) Slg 2010, I-1885 – Kommission/ Deutschland; (GK) Slg 2010, I-11063 – Schecke; (GK) NJW 2014, 2169 – Digital Rights Ireland; (GK) NJW 2014, 2257 – Google Spain; (GK) NJW 2015, 3151 – Schrems I (Safe Harbor); (GK) NJW 2017, 717 – Tele2 Sverige; (GK) ZD 2018, 23 – Fluggastdatenabkommen; (GK) NJW 2019, 655 – Ministerio Fiscal; (GK) NJW 2019, 3503 – GC ua/CNIL; (GK) NJW 2020, 2613 – Schrems II (Privacy Shield); (GK) NJW 2021, 531 – La Quadrature du Net. Schrifttum: Bäcker Das Vorratsdatenurteil des EuGH, JURA 2014, 1263; ders Datenschutzrecht, in: EnzEuR. Bd 8, 761; Benecke/Spiecker gen Döhmann Europäisches Datenschutzverwaltungsrecht, in: Terhechte (Hrsg), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2. Aufl 2022, 997; Breuer Datenschutz, in: Heselhaus/Nowak, GR, 549; Britz Europäisierung des grundrechtlichen Datenschutzes?, EuGRZ 2009, 1; Bull Die „völlig unabhängige“ Aufsichtsbehörde, EuZW 2010, 488; Classen Datenschutz ja – aber wie?, EuR 2014, 441; v Danwitz Die Grundrechte auf Achtung der Privatsphäre und auf Schutz personenbezogener Daten, DuD 2015, 581; Diesterhöft Datenschutzrechtlicher Direktanspruch gegen Suchmaschinenbeitreiber, VBlBW 2014, 370; Eichenhofer „e-Privacy“ im europäischen Grundrechtsschutz, EuR 2016, 76; ders e-Privacy, 2021; Gerhold Der Conseil d’Etat zur Vorratsdatenspeicherung, DÖV 2022, 93; Giegerich Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt, ZEuS 17 (2014), 3; González Fuster The Emergence of Personal Data Protection as a Fundamental Right of the EU, 2014; Guckelberger Veröffentlichung der Leistungsempfänger von EU-Subventionen und unionsgrundrechtlicher Datenschutz, EuZW 2011, 126; Gusy Datenschutz als Privatheitsschutz oder Datenschutz statt Privatheitsschutz, EuGRZ 2018, 244; Hijmans The European Union as Guardian of Internet Privacy, 2016; Klement Öffentliches Interesse an Privatheit, JZ 2017, 161; Kokott/Sobotta The distinction between privacy and data protection in the jurisprudence of the CJEU and the ECtHR, IDPL 3 (2013), 222; Kotzur Der Schutz personenbezogener Daten in der europäischen Grundrechtsgemeinschaft, EuGRZ 2011, 105; Kühling/Klar Transparenz vs. Datenschutz, JURA 2011, 771; Kühling Der Fall der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie und der Aufstieg des EuGH zum Grundrechtsgericht, NVwZ 2014, 681; ders Rückkehr des Rechts, EuZW 2014, 527; v Lewinski Staat als Zensurhelfer, AfP 2015, 1; Lynskey Deconstructing Data Protection, ICLQ 63 (2014), 569; dies The foundations of EU data protection law, 2015; Marauhn/Böhringer Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, in: Heselhaus/Nowak, GR, 516; Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018; ders Sicherheit und Freiheit im Verfassungsgerichtsverbund am Beispiel der Vorratsdatenspeicherung, in: Hascher et al (Hrsg), Sicherheit und Freiheit, 2018, 77; ders Kontrafakturen und Cover-Versionen aus Karlsruhe, ZEuS 23 (2020), 597; Masing Herausforderungen des Datenschutzes, NJW 2012, 2305; Müller/Schwabenbauer Unionsgrundrechte und Datenverarbeitung durch nationale Sicherheitsbehörden, NJW 2021, 2079; Nettesheim Privatleben und Privatsphäre, in: EnzEuR, Bd 2, 471; Reinhardt Konturen des europäischen Datenschutzgrundrechts, AöR 142 (2017), 528; Sandhu Die Tele2-Entscheidung des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung in den Mitgliedstaaten und ihre Auswirkungen auf die Rechtslage in Deutschland und in der Europäischen Union, EuR 2017, 453; Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012; dies/Mrozek Die Vorratsdatenspeicherung im Zahnräderwerk des europäischen Mehrebenensystems, DÖV 2016, 89; Schneider Völker- und unionsverfassungsrechtliche Grundlagen, in: Wolff/Brink (Hrsg), BeckOK Datenschutzrecht, 38 Ed (11/2021), Syst B; Siemen Datenschutz als europäisches Grundrecht, 2011; Spiecker gen Döhmann/Eisenbarth Kommt das „VolkszähNikolaus Marsch https://doi.org/10.1515/9783110716740-008
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lungsurteil“ nun durch den EuGH?, JZ 2011, 169; Spiecker gen Döhmann A new framework for information markets, CMLRev 52 (2015), 1033; Wolff Die „völlig unabhängige“ Aufsichtsbehörde, in: FS Bull, 2011, 1071; ders Die datenschutzrechtliche Rechtfertigungsbedürftigkeit der Verweise auf Webseiten durch Betreiber von Suchmaschinen, BayVBl 2015, 9; Wollenschläger Budgetöffentlichkeit im Zeitalter der Informationsgesellschaft, AöR 135 (2010), 363; ders/Krönke Telekommunikationsüberwachung und Verkehrsdatenspeicherung, NJW 2016, 906.
I. Einführung: Thematische Eingrenzung und Schwerpunkt der Darstellung 1 Die EU-Grundrechtecharta gewährleistet den Schutz der Privatsphäre durch ihre
Artikel 7 und 8. Art 7 GRCh entspricht weitgehend Art 8 I EMRK und gewährt ein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Wohnung und der Kommunikation. Entsprechend dem Zuschnitt des Kapitels zu Art 8 I EMRK (→ Marsch § 4.2.1 Rn 3) wird im Folgenden weder der Schutz des Familienlebens behandelt, da dieses bereits Gegenstand zweier anderer Kapitel ist (→ Edenharter § 4.1.2 Rn 34 ff; → Schorkopf § 4.4), noch werden an dieser Stelle das Recht auf körperliche Integrität und die Berufsfreiheit thematisiert, für die der EGMR lückenfüllend auf Art 8 I EMRK zurückgreift, die aber in der Grundrechtecharta in Art 3 und Art 15 f eigenständig normiert und ebenfalls in anderen Kapiteln dargestellt sind (→ Edenharter § 4.1.2 Rn 1 ff; → Ruffert § 6.1).1 Neben dem hergebrachten Recht auf Achtung des Privatlebens in Art 7 GRCh gewährleistet Art 8 GRCh als moderne Grundrechtsverbürgung ein Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten. Da der EGMR seine datenschutzrechtliche Rechtsprechung aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens entwickelt hat und sich der EuGH an dieser Rechtsprechung bis zum Verbindlichwerden der Grundrechtecharta stark orientierte, hat die Normierung eines eigenständigen Datenschutzgrundrechts nicht nur schwierige Auslegungs-, sondern auch Abgrenzungsfragen aufgeworfen, die eng mit dem grundrechtstheoretischen Verständnis von Art 8 GRCh verknüpft sind.2 2 Diese Auslegungs- und Abgrenzungsfragen sowie die relativ umfangreiche Rechtsprechung des EuGH zum grundrechtlichen Datenschutz bilden den wesentlichen Kern dieses Abschnitts. Für diese Schwerpunktsetzung sprechen neben der – auch aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts – Neuartigkeit eines eigenständigen Datenschutzgrundrechts vor allem drei Gründe: Erstens berühren Handlungen
1 Zu den Abgrenzungen Jarass GRCh, Art 7 Rn 9 ff. 2 Ausf zur besonderen Bedeutung der grundrechtstheoretischen Konzeption Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 80 ff.
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der EU-Organe oder mitgliedstaatliche Maßnahmen, durch die Unionsrecht durchgeführt wird, bisher eher selten die Schutzgüter des Privatlebens, der Wohnung und der Kommunikation, sodass insoweit der Art 7 GRCh wegen des gem Art 51 I GRCh beschränkten Anwendungsbereichs der Charta (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 72) nur selten zur Anwendung kommt.3 Aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten fehlt es weitgehend an Unionssekundärrecht, dessen Umsetzung oder Vollzug Fragen der Auslegung des Art 7 GRCh aufwerfen würde; Ausnahmen bilden hier das für das Familienleben bedeutsame Migrations- und Aufenthaltsrecht (→ Germelmann § 4.1 Rn 34 ff; → Schorkopf § 4.4) sowie das mit einem breiten Anwendungsbereich ausgestattete Datenschutzrecht der EU.4 Da hiervon abgesehen die Rechtsprechung des EuGH zu Art 7 GRCh nicht sonderlich umfangreich ist, ziehen auch die Kommentierungen für die Auslegung von Art 7 GRCh intensiv die Rechtsprechung des EGMR zu Art 8 I EMRK heran, was angesichts der besonderen Struktur des vorliegenden Werkes an dieser Stelle nicht erforderlich ist, sondern nur Redundanzen produzieren würde. Zweitens ist der Verweis auf die EGMR-Rechtsprechung darüber hinaus auch normativ gerechtfertigt, da Art 52 III GRCh einen weitgehenden Gleichlauf von Art 7 GRCh und Art 8 EMRK anordnet (Rn 3). Schließlich tragen drittens institutionell-prozessrechtliche Gründe dazu bei, dass bisher und vermutlich auch auf absehbare Zeit die EGMR-Rechtsprechung zum Schutz des Privatlebens deutlich umfangreicher und ausdifferenzierter ausfällt als die des EuGH. Denn das Privatleben spielt insbesondere in der Schutzpflichtendimension und dabei in Fällen eine Rolle, in denen es regelmäßig weniger um die Grundrechtskonformität der Rechtsgrundlagen oder ein Unterlassen des Gesetzgebers als vielmehr um die Auslegung und vor allem Anwendung des einfachen Rechts (in Deutschland vielfach von Generalklauseln) durch die mitgliedstaatlichen Fachgerichte geht. Dass diese dabei die grundrechtlichen Vorgaben nicht beachtet haben, kann vor dem EGMR im Wege der Individualbeschwerde gerügt werden, wohingegen der EuGH von den Parteien des Rechtsstreits nicht angerufen werden kann und auch die Fachgerichte nur die Auslegung des Unionsrechts, nicht aber ein konkretes Abwägungsergebnis im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens erfragen können.5
3 Vgl auch zum Folgenden Nettesheim in: EnzEuR, Bd 2, § 10 Rn 84; Marauhn/Böhringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 2. 4 Ausf Pavlidis in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 7 Rn 58 ff. 5 Die im EU-Prozessrecht fehlende Möglichkeit, die Entscheidung eines mitgliedstaatlichen Gerichts auf Initiative einer Prozesspartei vom EuGH überprüfen zu lassen, also das Fehlen einer Urteilsverfassungsbeschwerde, bildet das zentrale Argument des Bundesverfassungsgerichts dafür, dass es mittlerweile in durch Unionsrecht vollständig determinierten Fallgestaltungen die fachgerichtliche Entscheidung am Maßstab der Unionsgrundrechte misst, BVerfG, 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314 – Recht auf Vergessen II = Eifert, JK 2020/535; Marsch ZEuS 23 (2020), 597 (604 f, 611).
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II. Art 7 GRCh: Recht auf Achtung des Privatlebens, der Wohnung und der Kommunikation 3 Während im Entstehungsprozess noch Ergänzungen und Ausgliederungen dis-
kutiert worden waren, hat sich der Grundrechtekonvent mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation im Ergebnis auf einen weitgehenden Gleichlauf mit Art 8 I EMRK geeinigt.6 Es kommt somit die Kohärenzregel des Art 52 III GRCh zur Anwendung, nach der Chartagrundrechte, die einem Konventionsgrundrecht entsprechen, keinen geringeren Schutz bieten sollen als die äquivalente Norm der EMRK (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 35).7 Der dynamische Verweis auf die EMRK, der auch die Rechtsprechung des EGMR umfasst, zielt zwar (nur) auf eine Ergebnis-, nicht auf eine Auslegungskohärenz ab, zwingt also nicht zur Übernahme auch von dogmatischen Figuren.8 Nachdem aber die Rechtsprechungsdivergenz zwischen EuGH und EGMR hinsichtlich der Einbeziehung von Geschäftsräumen in den Schutzbereich beigelegt zu sein scheint (Rn 5) und da der Wortlautdifferenz hinsichtlich des Schutzguts der Kommunikation keine inhaltliche Bedeutung zukommt (Rn 6), erscheint es derzeit wenig wahrscheinlich, dass der EuGH mit Blick auf den Schutz der Privatsphäre eigene Akzente setzt, sieht man vom Datenschutz einmal ab (Rn 12 ff). Auch das durch Art 52 III 2 GRCh ermöglichte Abweichen nach oben, also die Gewährung eines im Vergleich zu Art 8 I EMRK weitergehenden Schutzes durch Art 7 GRCh in seiner Auslegung durch den EuGH, kann in Fällen, in denen das Schutzgut des Privatlebens betroffen ist, nur bedingt zum Tragen kommen. Denn das Privatleben wird regelmäßig in seiner Schutzpflichtendimension – vor allem in multipolaren Grundrechtsverhältnissen – relevant, in denen sich die Erhöhung des Schutzniveaus des Privatlebens negativ auf die gegenläufigen Grundrechte auswirken würde, die wie die Meinungsfreiheit ebenfalls von der Kohärenzregel erfasst und damit vor einem Absinken des Schutzniveaus geschützt sind.9
1. Schutzbereich 4 Wie in Art 8 I EMRK ist auch in Art 7 GRCh das Recht auf Achtung des Privatlebens
in der Hinsicht eng zu verstehen, als es kein Auffanggrundrecht im Sinne der all-
6 Ausf Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 7 Rn 6 ff; Marauhn/Böhringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 13 ff. 7 So ausdrücklich die Erläuterungen zu Art 7 GRCh und Art 52 III GRCh. 8 Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 42 ff. 9 Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 66.
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gemeinen Handlungsfreiheit des Grundgesetzes normiert (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 13).10 In der EuGH-Rechtsprechung relevant geworden ist das Schutzgut des Privatlebens als bei der Rekrutierung von Mitarbeitern zu beachtendes Grundrecht, das es verbietet, im Rahmen einer Einstellungsuntersuchung gegen den ausdrücklichen Willen des Bewerbers einen HIV-Test vorzunehmen.11 Die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH zum Namensrecht hat dieser dagegen in Anwendung der Freizügigkeit gem Art 21 AEUV entwickelt, weshalb sie in erster Linie vom Gedanken des Diskriminierungsschutzes getragen ist.12 Besondere Beachtung hatte zwischenzeitlich das Recht auf Achtung der Woh- 5 nung gefunden. Dies lag zum einen daran, dass insoweit eine gewisse Fallpraxis vorlag, die sich aus unionsrechtlich veranlassten Durchsuchungen in Kartellverfahren ergab.13 Zum anderen hatte die enge Auslegung des EuGH, der den Schutz zunächst nicht auf Geschäftsräume erstreckte, zu einer der meist diskutierten Rechtsprechungsdivergenzen zwischen EuGH und EGMR geführt.14 Mittlerweile hat sich der EuGH der Rechtsprechung des EGMR angeschlossen15 und der Unionsgesetzgeber hat die grundrechtlichen Vorgaben in den Art 20 f der Kartellverfahrensordnung VO 1/2003 aufgenommen, sodass der Konflikt als entschärft gelten und nunmehr auch insoweit auf die Ausführungen zu Art 8 EMRK verwiesen werden kann. Was das Schutzgut der Kommunikation betrifft, weicht der Wortlaut des Art 7 6 GRCh von jenem des Art 8 I EMRK ab, da dieser die „Korrespondenz“ schützt. Mit dem (einzigen) sprachlichen Unterschied zwischen den beiden Normen ist jedoch keine inhaltliche Differenz verbunden, da der EGMR den Begriff der Korrespondenz ohnehin dynamisch auslegt und den Schutz auf Telefongespräche sowie Internetkommunikation erstreckt hat (→ Marsch § 4.2.1 Rn 23).16 Bedeutung erlangt hat das
10 Der vom EuGH entwickelte allgemeine Rechtsgrundsatz, der im Sinne eines Rechts auf Freiheit von ungesetzlichem Zwang der allgemeinen Handlungsfreiheit funktional entspricht (Gärditz in: EnzEuR, Bd 2, § 6 Rn 46 ff) und dabei gerade auch auf den Begriff des Privaten Bezug nimmt (EuGH, Rs 46/87 ua, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst, Rs C-94/00, Slg 2002, I-9011, Rn 27 – Roquette Frères), war dem Grundrechtekonvent bekannt, wurde von ihm aber gerade berücksichtigt, Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 7 Rn 11. 11 EuGH, Rs C-404/92 P, Slg 1994, I-4737, Rn 17 ff – X/Kommission. 12 S nur EuGH, Rs C-438/14, NJW 2016, 2093, Rn 32 – Bogendorff von Wolffersdorff und die dortigen Nachweise. 13 Ausf hierzu und zum Folgenden mit Nachw aus der Rspr in der Vorauflage Schorkopf, § 16 Rn 21 ff, 32 ff; Marauhn/Böhringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 24 ff. 14 Schiedermair Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012, S 197. 15 EuGH, Rs C-94/00, Slg 2002, I-9011, Rn 29 – Roquette Frères. 16 Auch aus den Erläuterungen zu Art 7 GRCh geht hervor, dass die Verwendung des Begriffs der Kommunikation nur der technischen Entwicklung Rechnung tragen sollte.
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Schutzgut vor allem in den EuGH-Entscheidungen über die als Vorratsdatenspeicherung bezeichneten unionsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Regelungen, die wegen ihres datenschutzrechtlichen Schwerpunkts im Abschnitt über den Schutz der personenbezogenen Daten näher dargestellt werden (Rn 32 ff). 7 Mit Blick auf den persönlichen Schutzbereich wird schließlich diskutiert, inwieweit sich juristische Personen auf Art 7 GRCh berufen können. Diese können unstrittig Verletzungen des Rechts auf Achtung der Wohnung und der Kommunikation geltend machen; inwieweit sie sich auch auf das Privatleben als Schutzgut berufen können, ist differenziert nach den einzelnen Teilgehalten zu beurteilen und hängt letztlich davon ab, ob sie einer vergleichbaren Gefährdung ausgesetzt sind.17 Anders als zum persönlichen Schutzbereich des Art 8 GRCh (Rn 22) hat sich der EuGH zu dem des Rechts auf Achtung des Privatlebens bisher soweit ersichtlich nur unspezifisch geäußert.18
2. Eingriff 8 Ob ein Eingriff vorliegt, bestimmt sich grundsätzlich nach den allgemeinen Regeln.
Werden die im Rahmen eines Strafverfahrens durch Telefonüberwachungsmaßnahmen erhobenen Daten anschließend durch die Steuerbehörden verwendet, sieht der EuGH hierin – im Gegensatz zum EGMR (→ Marsch § 4.2.1 Rn 42) – einen erneuten Eingriff in Art 7 GRCh.19
3. Rechtfertigung 9 Da der Verweis auf Art 8 EMRK in Art 52 III GRCh gemäß den Erläuterungen zu Art 7
GRCh auch die Schranken umfasst, lassen sich Eingriffe nur rechtfertigen, wenn sie eines der in Art 8 II EMRK abschließend genannten Ziele verfolgen.20 Orientiert sich der EuGH auch insoweit weiterhin an der Rechtsprechung des EGMR, ist hiermit jedoch keine substantielle Beschränkung verbunden (→ Marsch § 4.2.1 Rn 36). 10 Was die gerichtliche Kontrolldichte und den Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum betrifft, der den mitgliedstaatlichen Stellen vom EGMR gerade in Fällen mit Bezug zum Privatleben eingeräumt wird, ist in zweifacher Hinsicht zu unterscheiden: Soweit die Schutzpflichtendimension des Art 7 GRCh angesprochen
17 18 19 20
Wolff in: Frankfurter Komm, Art 7 GRC Rn 12. S zB EuGH, Rs C-450/06, Slg 2008, I-581, Rn 48 – Varec. EuGH, Urt v 17.12.2015, Rs C-419/14, Rn 80 – WebMindLicenses. Jarass GRCh, Art 7 Rn 36; Marauhn/Böhringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 40.
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ist, kommt den verpflichteten Stellen der Union und der Mitgliedstaaten entsprechend den allgemeinen Grundsätzen ein besonders weiter Beurteilungsspielraum zu (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 56). Ist dagegen die Abwehrdimension betroffen, weil der Unionsgesetzgeber oder ein im Anwendungsbereich der Grundrechtecharta handelnder mitgliedstaatlicher Gesetzgeber in ein Unionsgrundrecht eingreift, hat sich die Kontrolle durch den EuGH gerade im Fall des Datenschutzes zunehmend intensiviert; auch hier kommt dem jeweiligen Gesetzgeber jedoch eine Einschätzungsprärogative zu, wie sie in ähnlicher Weise auch das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber zubilligt (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 138 ff). Sowohl diese gesetzgeberische Einschätzungsprärogative als auch der Beurteilungsspielraum im Rahmen der Schutzpflichtendimension bestehen – als funktional begründete Spielräume vor allem zwischen Gericht und Gesetzgeber – unabhängig davon, ob ein Unionsorgan oder eine mitgliedstaatliche Stelle gehandelt hat. Sie fallen daher prima facie auch nicht weiter aus, wenn die Grundrechtsbeschränkung von einem Mitgliedstaat ausgeht; eine grundsätzliche richterliche Kontrollzurückhaltung, wie sie der EGMR gegenüber den Mitgliedstaaten praktiziert,21 wäre fehl am Platz. Denn im Gegensatz zur EMRK, die einen europäischen Mindeststandard darstellt, ohne die nationalen Grundrechte zu verdrängen,22 treten die Unionsgrundrechte jedenfalls dann an die Stelle der nationalen Grundrechte, wenn die Mitgliedstaaten in einem unionsrechtlich volldeterminierten Bereich handeln.23 Hier spricht somit wenig für einen föderativ begründeten Spielraum der Mitgliedstaaten. Anders kann sich dies darstellen, wenn mitgliedstaatliche Stellen Unionsrecht durchführen, das mitgliedstaatliche Handeln durch dieses aber nicht vollständig determiniert ist, sodass neben den Unionsgrundrechten zugleich auch die mitgliedstaatlichen Grundrechte Anwendung finden können.24 Insbesondere dort, wo sich das Unionssekundärrecht für mitgliedstaatliche Grundrechtsabwägungen öffnet, ermöglicht es das Vorabentscheidungsverfahren als prozessuales Instrument, föderale Grundrechtsvielfalt zuzulassen, was sich gerade am Beispiel des Datenschutzrechts gut zeigen lässt (Rn 37). Abschließend soll nur kurz darauf hingewiesen werden, dass sich der EuGH 11 schon mehrfach zu dem nach Art 52 I 1 GRCh in jedem Fall zu achtenden Wesensgehalt des Art 7 GRCh geäußert hat. Neben Fragen des Datenschutzes stellte er auch fest, dass die sogenannte Vorratsdatenspeicherung, also die anlasslose Speicherung
21 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 20 f. 22 Masing, JZ 2015, 477 (478 ff). 23 EuGH (GK), Rs C-399/11, NJW 2013, 1215, Rn 55 ff – Melloni; BVerfG, 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314, Rn 33 ff – Recht auf Vergessen II = Eifert, JK 2020/535. 24 EuGH (GK), Rs C-617/10, NJW 2013, 1415, Rn 29 – Åkerberg Fransson; BVerfG, 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, Rn 42 ff – Recht auf Vergessen I = Eifert, JK 2020/411.
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aller Telekommunikationsmetadaten (die darüber Auskunft geben, wer mit wem wie lange telefoniert hat), deswegen nicht den Wesensgehalt von Art 7 GRCh berührt, weil nicht auf die Inhalte der Kommunikation zugegriffen wird (Rn 34).25
III. (Art 7 iVm) Art 8 GRCh: Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten 12 Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten, das der EuGH nicht nur in
Art 8 GRCh allein, sondern auch in Art 7 GRCh in Verbindung mit Art 8 GRCh verortet (Rn 18), gehört gemessen an der Zahl der EuGH-Entscheidungen zu den praktisch bedeutsamsten Unionsgrundrechten.26 Grund hierfür ist insbesondere die umfangreiche Gesetzgebungstätigkeit der EU im Bereich der Datenverarbeitung und der weite Anwendungsbereich des Datenschutzsekundärrechts.27 Dieses erfasst einen großen Teil der innerhalb der EU vorgenommenen28 Datenverarbeitungen durch staatliche Stellen und Unternehmen, sodass die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta in Art 51 I GRCh weitgehend leerläuft, weil im Bereich des Datenschutzes in den allermeisten Fällen Unionsrecht durchgeführt wird.29 Die kompetenzielle Grundlage dieser weitreichenden Europäisierung des Datenschutzrechts bildet die spezielle Gesetzgebungskompetenz der Union für den Datenschutz in Art 16 II AEUV. Allerdings verbleiben den Mitgliedstaaten bedeutende Regelungsspielräume, bei deren Ausfüllung sie zugleich auch an die nationalen Grundrechte gebunden sein können, da das Datenschutzsekundärrecht teilweise nur auf eine Mindestharmonisierung abzielt (vgl Art 3 I JI-RL)
25 EuGH (GK), Rs C-293/12 ua, NJW 2014, 2169, Rn 39 – Digital Rights Ireland ua; Rs C-362/14, NJW 2015, 3151, Rn 94 – Schrems I (Safe Harbor). 26 Überblick bei Skouris, NVwZ 2016, 1359 ff. Zur bloßen Zahl an Verfahren kommt hinzu, dass viele von ihnen durch die Große Kammer entschieden wurden. 27 Zu nennen sind hier insbesondere die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO, VO 2016/697), die sog JI-Richtlinie betreffend den Datenschutz im Bereich von Polizei und Strafjustiz (RL 2016/680) sowieso die sog E-Privacy-Richtlinie betreffend den Datenschutz in der elektronischen Kommunikation (RL 2002/58), die seit Langem durch eine Verordnung ersetzt werden soll, s den Vorschlag der Kommission vom 10.01.2017, COM(2017) 10. Ausf zum europäischen Datenschutzrecht Bäcker in: EnzEuR, Bd 8, § 11; Benecke/Spiecker gen. Döhmann in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, § 23. 28 Der Anwendungsbereich der DSGVO geht wegen des in Art 3 II DSGVO verankerten Marktortprinzips sogar noch darüber hinaus. 29 Ausf hierzu Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 306 ff, 309 ff. Als Beispiel für die Anwendung des Datenschutzgrundrechts in der sog ERT-Konstellation (Beschränkung einer Grundfreiheit durch einen Mitgliedstaat, → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 93) s EuGH (GK), Rs C-78/18, EuZW 2020, 858, Rn 101 ff – Kommission/Ungarn.
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oder – wie die DSGVO – zwar dem Grunde nach eine vollständige Harmonisierung anstrebt, aber zugleich eine Vielzahl von Öffnungsklauseln enthält (zB Art 85 DSGVO).30 Dies alles hat zur Folge, dass das Datenschutzrecht ein besonders wichtiges Referenzgebiet des sich entwickelnden europäischen Grundrechtsverbunds darstellt.31 Das Datenschutzgrundrecht erweist sich jedoch nicht nur als ein praktisch be- 13 deutsames, sondern auch als Grundrecht, dessen Auslegung und Anwendung besondere Schwierigkeiten aufwirft. Dies liegt zum einen an der besonderen Sekundärrechtsgeprägtheit des Datenschutzgrundrechts (Rn 17, 20, 23), die unter anderem zur Folge hat, dass aus den Entscheidungen des EuGH nicht immer klar hervorgeht, ob und inwieweit dieser grundrechtlich argumentiert oder eine Auslegung des einfachen Datenschutzrechts vornimmt.32 Zum anderen hat sich der EuGH seiner Begründungstradition folgend nicht zu der hinter dem Datenschutzgrundrecht stehenden grundrechtstheoretischen Konzeption (Rn 19) geäußert, sondern versucht, seine an die EGMR-Rechtsprechung zu Art 8 EMRK angelehnte frühere Rechtsprechung fortzuführen (Rn 16 ff), weshalb es ihm bisher nur in Ansätzen gelungen ist, eine kohärente Dogmatik des Art 8 GRCh zu entwickeln. Wegen dieser vielfältigen Unsicherheiten und der besonderen Struktur des Datenschutzgrundrechts folgt der Abschnitt dieses Beitrags auch nicht der klassischen Einteilung in Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung. Vielmehr wird zunächst der Frage nachgegangen, welche Konzeption dem Datenschutzgrundrecht zugrunde liegt und wie sich Art 8 und 7 GRCh voneinander abgrenzen lassen (1.), bevor im Anschluss der sachliche und persönliche Anwendungsbereich (2.) sowie die einzelnen Gewährleistungsgehalte (3.) des Grundrechts erläutert werden; abschließend erfolgt eine kurze Darstellung der für den grundrechtlichen Datenschutz typischen Kollisionslagen anhand der Rechtsprechung des EuGH (4.).
1. Theoretische Konzeption: Historische Entwicklung und das ungeklärte Verhältnis von Art 8 GRCh zu Art 7 GRCh Fall 1: (EuGH (GK), verb Rs C-92/09 u C-93/09, Slg 2010, I-11063 – Volker und Markus Schecke GbR ua) Um Transparenz bezüglich der EU-Ausgaben im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik (Art 38–44 AEUV) herzustellen, die einen bedeutenden Teil des EU-Haushalts ausmachen, beschließt die EU Re-
30 Weiß Öffnungsklauseln in der DSGVO und nationale Verwirklichung im BDSG, 2022. 31 Marsch, ZEuS 23 (2020), 597 (607 ff). 32 Kritisch zur Rspr Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 16, 22, 31; sa Britz, EuGRZ 2009, 1 (7); Nettesheim in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 58.
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gelungen, die die Veröffentlichung von Daten über die Vergabe von Agrarsubventionen vorsehen. Konkret werden die Mitgliedstaaten durch EU-Verordnungen verpflichtet, die Namen der Subventionsempfänger samt Wohnort und Postleitzahl sowie den Betrag der erhaltenen Subvention für die Dauer von zwei Jahren auf einer speziellen Website zu veröffentlichen, die mit einer Suchfunktion ausgestattet ist. Die Volker und Markus Schecke GbR hatte bei der zuständigen Behörde des Landes Hessen einen Antrag auf Bewilligung von Agrarbeihilfen aus EU-Mitteln gestellt, wobei im Antragsformular auf die Veröffentlichungspflicht hingewiesen worden war. Nach Bewilligung ihres Antrags erhob die GbR Klage mit dem Ziel, das Land Hessen zu verpflichten, ihre Daten nicht an die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung weiterzuleiten, die die genannte Website betreibt. Das Verwaltungsgericht hält die Regelungen über die Veröffentlichungspflicht in den EU-Verordnungen aus verschiedenen Gründen für primärrechtswidrig und legt daher dem EuGH unter anderem die Frage vor, ob die betreffenden Regelungen ungültig sind, weil sie Art 8 GRCh verletzen (Lösung → Rn 31).
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Fall 2: (EuGH (GK), Urt v 8.4.2014, verb Rs C-293/12 u C-594/12 – Digital Rights Ireland ua) In Reaktion auf schwere Anschläge in Madrid und London in den Jahren 2004 und 2005 erlässt die EU zum Zwecke der Straftaten- und Terrorismusbekämpfung die sogenannte Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie RL 2006/24. Nach deren Art 3 und 6 haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass die Telekommunikationsunternehmen die in Art 5 der Richtlinie aufgezählten Kommunikationsmetadaten (die unter anderem darüber Auskunft geben, wer wann mit wem telefoniert hat) für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten bis zu maximal zwei Jahren zu speichern. Die Richtlinie enthält nur rudimentäre Mindestanforderungen an die technisch-organisatorische Datensicherheit (Art 7) und überlässt es den Mitgliedstaaten, den Datenabruf durch die zuständigen Behörden im nationalen Recht zu regeln (Lösung → Rn 34).
16 Schon vor dem Verbindlichwerden der Grundrechtecharta hatte der EuGH die Ver-
öffentlichung und Weitergabe persönlicher Daten als grundrechtsrelevantes Thema erkannt. So drehte sich bereits 1969 der berühmte Fall Stauder, in dem der EuGH erstmals die Existenz von Unionsgrundrechten in Gestalt ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsätze anerkannte (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 4), darum, dass bedürftige Personen gegen Vorlage eines auf ihren Namen ausgestellten Gutscheins Butter zu einem reduzierten Preis erwerben konnten, sodass sie gegenüber dem Verkäufer ihre Identität offenbaren mussten.33 2003 schloss sich der EuGH der EGMR-Rechtsprechungspraxis, die Verarbeitung von Daten an Art 8 EMRK zu messen (→ Marsch § 4.2.1 Rn 26 ff), an und entschied in der Rechtssache ORF, dass die Vorschriften der damaligen Datenschutzrichtlinie (die durch die DSGVO abgelöst wurde) im Lichte der Grundrechte und insbesondere des Art 8 EMRK ausgelegt
33 EuGH, Rs 29/69, Slg 1969, 419 – Stauder. Die bittere Ironie des Falles besteht darin, dass aufgrund der damaligen (und mittlerweile geänderten) Praxis des EuGH, Entscheidungen nicht zu anonymisieren, Generationen von Studierenden und Rechtswissenschaftlern in ganz Europa von der Bedürftigkeit des Erich Stauder aus Ulm erfahren haben (die Entscheidung nennt sogar dessen Adresse). Nikolaus Marsch
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werden müssten.34 Aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens leitete der EuGH unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des EGMR abstrakte Vorgaben ab, denen eine österreichische Regelung entsprechen musste, die die Veröffentlichung der Einkommen von Führungskräften öffentlich-rechtlicher Unternehmen und Anstalten vorsah. Im Jahr 2009 wurde mit dem Vertrag von Lissabon die Grundrechtecharta ver- 17 bindlich (Art 6 I EUV), sodass sich die Frage stellte, welche Bedeutung dem neuen Datenschutzgrundrecht in Art 8 GRCh neben dem – Art 8 EMRK entsprechenden (Rn 3) – Art 7 GRCh zukommt und wie die beiden Grundrechte voneinander abzugrenzen sind. Da Art 8 GRCh im Gegensatz zu Art 7 GRCh keine unmittelbare Entsprechung in der EMRK findet, kommt die Kohärenzregel des Art 52 III GRCh zwar nicht unmittelbar zur Anwendung.35 Allerdings verweisen die Erläuterungen zu Art 8 GRCh, die gem Art 52 VII GRCh bei der Auslegung der Chartagrundrechte gebührend zu berücksichtigen sind, neben dem damaligen Datenschutzsekundärrecht und der Datenschutzkonvention des Europarates auch auf Art 8 EMRK als Inspirationsquelle.36 Über die zu diesem ergangene Rechtsprechung von EGMR und EuGH geht Art 8 GRCh aber jedenfalls insoweit hinaus, als er jede Verarbeitung personenbezogener Daten erfasst (Rn 20 f) und damit die Grundrechtsbetroffenheit nicht vom Vorliegen zusätzlicher Kriterien abhängig macht (→ Marsch § 4.2.1 Rn 26 ff).37 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Art 8 GRCh analog zum deutschen Recht auf informationelle Selbstbestimmung als ein Abwehrrecht zu verstehen sein muss, das jede staatliche Datenverarbeitung unter einen Rechtfertigungsvorbehalt stellt (Rn 19). Keine Erkenntnisse lassen sich schließlich aus der Tatsache ableiten, dass auch Art 16 I AEUV wortgleich zu Art 8 I GRCh ein Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten normiert.38
34 EuGH, verb Rs C-465/00 ua, Slg 2003, I-4989, Rn 68 ff – ORF; hierzu ua Classen, CMLRev 41 (2004), 1377; Ruffert, EuGRZ 2004, 466; Siemen, EuR 2004, 306. 35 EuGH (GK), Rs C-203/15 ua, NJW 2017, 717, Rn 129 – Tele 2 Sverige ua; sa die Erläuterungen zu Art 52 GRCh mit einer Liste jener Chartagrundrechte, die eine Entsprechung in der EMRK finden, in der Art 8 GRCh aber nicht aufgeführt wird. 36 Ausf zur Bedeutung der Erläuterungen für die Interpretation des Art 8 GRCh Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 55 ff. 37 In der zu Art 8 EMRK ergangenen Entscheidung EuGH, verb Rs C-465/00 ua, Slg 2003, I-4989, Rn 74 – ORF, hatte der Gerichtshof die Speicherung von Lohndaten durch den öffentlichen Arbeitgeber nicht als Eingriff bewertet, hierzu Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 18 f. 38 Der EuGH (GK), Gutachten 1/15, ZD 2018, 23, Rn 120 – Fluggastdatenabkommen, zieht explizit allein Art 8 GRCh als Prüfungsmaßstab heran und bringt daher auch nicht Art 52 II GRCh zur Anwendung, der für Grundrechte, die auch im EUV oder AEUV normiert sind, auf die in den Verträgen geregelten Schranken verweist; zustimmend hierzu Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 30; kritisch zur Doppelung auch Breuer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 25 Rn 13.
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Der EuGH musste sich mit diesen Fragen erstmals in der Rechtssache Schecke (Fall 1, Rn 14) befassen; es ist ihm jedoch mit einem Kniff gelungen, sie zunächst weitgehend offenzulassen. Denn der Gerichtshof verbindet in der Entscheidung die beiden Grundrechte in Art 7 und Art 8 GRCh zu einem „Recht auf Achtung des Privatlebens hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten“ – eine Wendung, die er in späteren Entscheidungen teils in leicht abgewandelter Form wieder aufnimmt.39 Auf diese Weise scheint er Kontinuität zu seiner früheren Rechtsprechung zu Art 8 I EMRK und insbesondere zur DatenschutzRechtsprechung des EGMR herstellen zu wollen,40 die er wegen der für den Art 7 GRCh geltenden Kohärenzregel des Art 52 III GRCh rezipieren muss (Rn 3). In der Entscheidung Digital Rights Ireland (Fall 2, Rn 15) hatte es dann zwischenzeitlich den Anschein, der EuGH wolle eine dahingehende Unterscheidung zwischen den beiden Grundrechten treffen, dass Art 7 GRCh die materiellen und prozeduralen Anforderungen für Datenverarbeitungen betrifft, während Art 8 GRCh insbesondere Vorgaben für den technisch-organisatorischen Datenschutz enthält.41 Hierauf ist der EuGH später jedoch nicht zurückgekommen. Vielmehr scheint er im Gutachten zum Fluggastdatenabkommen mit Kanada davon auszugehen, dass die Speicherung und Weitergabe personenbezogener Daten sowohl Eingriffe in Art 7 GRCh als auch in Art 8 GRCh darstellen.42 Mit dieser Gleichsetzung verschenkt der EuGH letztlich das Innovationspotential, das in der expliziten Verankerung eines Datenschutzgrundrechts neben dem Recht auf Achtung des Privatlebens liegt. 19 Auch wenn der EuGH eine kohärente Rechtsprechung zum Verhältnis der Grundrechte in Art 7 und 8 GRCh bisher nicht entwickelt hat,43 scheint er das Datenschutzgrundrecht in Art 8 I GRCh in Analogie zum deutschen Recht auf informationelle Selbstbestimmung als ein Abwehrrecht zu verstehen, sodass ausnahmslos jede Verarbeitung eines personenbezogenen Datums einen Eingriff darstellen würde44 Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Norm ist
39 EuGH (GK), Rs C-92/09 ua, Slg 2010, I-11063, Rn 52 – Schecke ua; EuGH, Rs C-468/10 ua, Slg 2011, I12181, Rn 42 – ASNEF; Rs C-291/12, NVwZ 2014, 435, Rn 26 – Schwarz; EuGH (GK), Rs C-131/12, NJW 2014, 2257, Rn 58 – Google Spain = Eifert, JK 9/14, RL 95/46/EG Art 12. 40 Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 32. 41 EuGH (GK), Rs C-293/12 ua, NJW 2014, 2169, Rn 39 f, 52 ff, 66 ff – Digital Rights Ireland ua; hierzu Bäcker, JURA 2014, 1263 (1266 f). 42 EuGH (GK), Gutachten 1/15, ZD 2018, 23, Rn 124 ff – Fluggastdatenabkommen. 43 Kranenborg in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2. Aufl 2021, Rn 08.46. 44 EuGH (GK), Gutachten 1/15, ZD 2018, 23, Rn 126 – Fluggastdatenabkommen.
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diese – auch in der Literatur vielfach geteilte45 – Auslegung jedoch nicht zwingend. Denn im Grundrechtekonvent wurde zwar zeitweilig eine dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts entsprechende sprachliche Fassung des Grundrechts erwogen, aber aufgrund starker Kritik wieder verworfen.46 Auch die Binnensystematik der Abs 1 und 2 spricht eher nicht für ein abwehrrechtliches Verständnis des Art 8 I GRCh (Rn 24). Da sich zudem in der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft zunehmend die Erkenntnis durchsetzt, dass zwischen der rechtstechnischen Konstruktion des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und einer dahinter liegenden grundrechtstheoretischen Konzeption zu unterscheiden ist und dass dieses dem Einzelnen jedenfalls keine herrschaftsrechtliche Befugnis über „seine“ personenbezogenen Daten verleiht,47 bleiben jedenfalls Zweifel, ob die Konstitutionalisierung des einfachrechtlichen Datenschutzkonzepts aus den 1970er- und 1980erJahren, jeden Datenverarbeitungsschritt zu regulieren, nicht zu einer unproduktiven grundrechtlichen Versteinerung führt.48 Einen der Fortschrittsdynamik entsprechenden, entwicklungsoffeneren Schutz bietet das Datenschutzgrundrecht dagegen, wenn es als auszugestaltendes Grundrecht verstanden wird, das den Gesetzgeber zum Erlass grundrechtsadäquater Datenschutzregelungen verpflichtet.49 Diese Ausgestaltungsdimension könnte neben die abwehrrechtliche Kombination der beiden Grundrechte aus Art 7 und 8 GRCh treten, die jedoch entsprechend der EGMR-Rechtsprechung nicht jede Datenverarbeitung erfassen muss. Auf diese Weise erhält das Datenschutzgrundrecht einen vom (Vorfeld-)Schutz des Privatlebens vor Gefährdung (→ Marsch § 4.2.1 Rn 26) unabhängigen Selbststand, der der Vielzahl an durch Datenverarbeitungsregeln zu schützenden Interessen entspricht.50
45 Bretthauer in: Specht-Riemenschneider/Mantz, Handbuch Europäisches und deutsches Datenschutzrecht, 2019, § 2 Rn 16 f; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 8 GRCh Rn 13; Wolff in: Frankfurter Komm, Art 8 GRCh Rn 18. 46 Diese lautete: „Everyone has the right to determine for himself whether his personal data may be disclosed and how they may be used“; ausf hierzu Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 74 f. 47 Vgl hierzu und zum Folgenden mwN Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 98 ff; Franzius, ZJS 2015, 259; Reinhardt, AöR 142 (2017), 528 (534 ff). 48 In diesem Sinne kritisch auch Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 16; mit Blick auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz Marsch in: Wischmeyer/Rademacher, Regulating Artificial Intelligence, 2020, S 33; Poscher in: Vöneky ua, The Cambridge Handbook of Responsible Artificial Intelligence, 2022, 281. 49 Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 128 ff. Den Regulierungsauftrag des Art 8 GRCh betonen auch Eichenhofer e-Privacy, 2021, S 307 ff; Gusy, EuGRZ 2018, 244 (253 f). 50 Albers in: Voßkuhle/Eifert/Möllers, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd 1, 3. Aufl 2022, § 22 Rn 25 f.
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2. Sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich 20 Der Anwendungsbereich des Datenschutzgrundrechts wird in sachlicher Hin-
sicht durch die Begriffe des personenbezogenen Datums in Abs 1 und der Verarbeitung in Abs 2 bestimmt. Beide entstammen dem Datenschutzsekundärrecht, dessen Anwendungsbereich ebenfalls davon abhängt, ob eine Verarbeitung personenbezogener Daten vorliegt, weshalb sie dort auch legaldefiniert werden. Dies wirft nun die nicht leicht zu beantwortende Frage auf, inwieweit für die Auslegung des Art 8 GRCh Rückgriff auf die Legaldefinitionen des Sekundärrechts genommen werden kann. Grundsätzlich steht einem solchen Vorgehen natürlich die Normenhierarchie entgegen. Allerdings beziehen sich die Erläuterungen zu Art 8 GRCh gerade auch auf das damalige Datenschutzsekundärrecht als Inspirationsquelle. Versteht man Art 8 I GRCh im Kern als eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlass datenschutzrechtlicher Regelungen, so verliert das Problem weitgehend an Bedeutung, da der Gesetzgeber in diesem Fall ohnehin zur Ausgestaltung berufen ist.51 Doch auch wenn man das Datenschutzgrundrecht abwehrrechtlich als Recht auf informationelle Selbstbestimmung mit weitem Anwendungsbereich interpretiert, kann zum Zwecke der Auslegung der beiden den Schutzbereich und den Eingriff konstituierenden Begriffe auf einen sekundärrechtlich gesicherten Kern zurückgegriffen werden, der regelmäßig zu klaren Ergebnissen führt. 21 Als personenbezogenes Datum sind hiernach Informationen über eine bestimmte oder eine bestimmbare Person zu verstehen,52 wobei die Bestimmbarkeit davon abhängt, ob die Person direkt oder indirekt identifiziert werden kann.53 In diesem Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, mit welcher Wahrscheinlichkeit Maßnahmen ergriffen werden, die zu einer Identifizierung führen könnten.54 Lässt sich die Person, auf die sich die Informationen beziehen, nicht identifizieren, handelt es sich dagegen um anonyme Daten, die nicht in den Anwendungsbereich des Datenschutzgrundrechts fallen.55 Der Begriff der Verarbeitung ist weit zu verstehen und meint nach den Legaldefinitionen des Sekundärrechts jede Art des automatisierten oder manuellen Umgangs mit personenbezogenen Daten.56
51 Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 145 ff. 52 EuGH (GK), Rs C-92/09 ua, Slg 2010, I-11063, Rn 52 – Schecke ua; EuGH, Rs C-291/12, NVwZ 2014, 435, Rn 26 – Schwarz. 53 Vgl Art 2 lit a RL 95/46 sowie mit leicht abweichendem Wortlaut Art 4 Nr 1 DSGVO. 54 Vgl ErwGr 26 S 3 u 4 DSGVO; ausf zum Problem Ziebarth in: Sydow/Marsch, DSGVO/BDSG, Art 4 DSGVO Rn 15 ff. 55 Vgl ErwGr 26 S 5 DSGVO. 56 Vgl Art 2 lit b RL 95/46 u Art 4 Nr 2 DSGVO; Breuer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 25 Rn 46.
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In persönlicher Hinsicht ist umstritten, ob sich auch juristische Personen 22 auf das Datenschutzgrundrecht berufen können. Während der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte in dieser Hinsicht unergiebig sind, spricht für eine Beschränkung der Grundrechtsträgerschaft auf natürliche Personen, dass auch im Datenschutzsekundärrecht der Begriff der personenbezogenen Daten nur Informationen über natürliche Personen erfasst.57 Der EuGH hat im Fall Schecke (Fall 1, Rn 14) einen bemerkenswerten (und wenig überzeugenden58) Kompromiss gefunden: Hiernach können sich juristische Personen nur dann auf das Datenschutzgrundrecht berufen, wenn der Name der juristischen Person auf natürliche Personen verweist.59
3. Gewährleistungsgehalte Die einzelnen in Art 8 II und III GRCh normierten Gewährleistungsgehalte des 23 Datenschutzgrundrechts entstammen ausnahmslos dem Datenschutzsekundärrecht, stellen also Konstitutionalisierungen einfachrechtlicher Regelungen dar. Wie beim Begriff des personenbezogenen Datums, der über den Anwendungsbereich des Datenschutzgrundrechts bestimmt (Rn 20 f), stellt sich auch hier die Frage, inwieweit für die Auslegung der einzelnen Gewährleistungsgehalte auf das Sekundärrecht zurückgegriffen werden darf. Soweit er im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren mit Fragen befasst wird, die nicht auf die Gültigkeit, sondern die Auslegung von datenschutzrechtlichen Gewährleistungen abzielen, geht der EuGH diesem normhierarchischen Dilemma bisweilen aus dem Weg, indem er sich auf die Auslegung der sekundärrechtlichen Regelungen beschränkt oder offen lässt, auf welche normhierarchische Ebene sich seine Ausführungen beziehen. Dreh- und Angelpunkt des Datenschutzrechts ist das sogenannte Verbotsprin- 24 zip, wonach personenbezogene Daten grundsätzlich nur verarbeitet werden dürfen, wenn einer der im Datenschutzrecht geregelten Erlaubnistatbestände erfüllt ist.60 Nach Art 6 I DSGVO (der weitgehend Art 7 RL 95/46 entspricht) ist die Datenverarbeitung nur rechtmäßig, wenn sie a) aufgrund einer Einwilligung der betroffenen Person, b) zur Erfüllung eines Vertrags, c) zur Erfüllung einer rechtlichen Ver
57 Vgl Art 2 lit a RL 95/46 u Art 4 Nr 1 DSGVO; ausf zum Ganzen Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 270 ff. 58 Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 273 f. 59 EuGH (GK), Rs C-92/09 ua, Slg 2010, I-11063, Rn 53 – Schecke ua; EuGH, Urt v 17.12.2015, Rs C-419/14, Rn 79 – WebMindLicenses. 60 Der vielfach verwendete Begriff des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt ist dagegen unscharf, da es keiner behördlichen Erlaubnis bedarf.
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pflichtung oder d) zum Schutz lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person oder einer anderen natürlichen Person erfolgt oder wenn sie e) für die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe erforderlich ist oder f) eine Interessenabwägung zugunsten des Datenverarbeiters ausfällt. Die rechtliche Verpflichtung (c) und die öffentliche Aufgabe (e) bedürfen zudem einer rechtlichen Grundlage im Unionsrecht oder im mitgliedstaatlichen Recht (Art 6 III DSGVO). Da der Anwendungsbereich der DSGVO sowohl Private als auch öffentliche Stellen erfasst, finden sich in der abschließenden Aufzählung des Art 6 I DSGVO sowohl Erlaubnistatbestände, auf die sich vor allem Private stützen können (wie die Vertragserfüllung und die Interessenabwägung) als auch solche, die vor allem von öffentlichen Stellen heranzuziehen sind (wie die Erfüllung öffentlicher Aufgaben). Art 8 II 1 GRCh nimmt das Verbotsprinzip teilweise auf und bestimmt, dass Daten nur „mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten Grundlage“ verarbeitet werden dürfen. Versteht man das Datenschutzgrundrecht in Art 8 I GRCh als ein Abwehrrecht im Sinne des deutschen Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Rn 19), dann scheint Art 8 II 1 GRCh eine spezielle Grundrechtsschranke zu normieren.61 Systematisch wirft dies jedoch die Frage auf, warum das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage, das bereits in der allgemeinen Grundrechtsschranke des Art 52 I 1 GRCh verankert ist (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 123), in Art 8 II 1 GRCh noch einmal wiederholt wird; gleiches gilt für die explizite Normierung der Einwilligung,62 die schon nach den allgemeinen Regeln die Beeinträchtigung entfallen lässt (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 122).63 Dies spricht wiederum dafür, die Regelung des Art 8 II 1 GRCh als Teil des Gewährleistungsgehaltes64 oder als Strukturvorgabe für die Ausgestaltung des Datenschutzrechts durch den Gesetzgeber (Rn 19) zu verstehen. Der EuGH hat sich zu dieser Frage noch nicht geäußert; er nennt bisweilen Art 8 II 1 und Art 52 I 1 GRCh nebeneinander, wendet im Wesentlichen aber wohl die allgemeine Schranke des Art 52 I 1 GRCh an.65 25 Während das Verbotsprinzip für jeden einzelnen Verarbeitungsschritt (zB das Erheben, das anschließende Speichern und die Weitergabe von Daten) eine rechtliche Grundlage fordert, stellt der Zweckbindungsgrundsatz als ein weiteres in Art 8 II 1 GRCh verankertes Strukturelement des Datenschutzrechts die einzelnen
61 Zu den unterschiedlichen in der Lit vertretenen Interpretationsansätzen Schneider in: Wolff/ Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 28. 62 Im Unterschied zu Art 3 II lit a GRCh wird die Einwilligung in Art 8 II 1 GRCh auch nicht näher qualifiziert. 63 Hierzu und zum Folgenden Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 134 ff, 137 ff. 64 Mehde in: Heselhaus/Nowak, GR (Voraufl), § 21 Rn 11. 65 Breuer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 25 Rn 33 mit Rspr-Nachw.
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Datenverarbeitungen in einen weiter zu verstehenden Zusammenhang.66 Er verpflichtet den für die Verarbeitung Verantwortlichen, bereits im Vorhinein deren konkreten Zweck festzulegen und die Daten nicht in einer mit diesem unvereinbarenden Weise weiterzuverarbeiten.67 Dies trägt nicht nur zur Vorhersehbarkeit, sondern auch zur Strukturierung und Begrenzung der Datenverarbeitung bei, da der festgelegte Zweck den Bezugspunkt für die Erforderlichkeitsprüfung bildet. Diese ist im Grundsatz der Datenminimierung in Art 5 I lit c DSGVO konkretisiert und besagt, dass nur für den festgelegten Zweck erhebliche Daten in einem für die Erreichung desselben notwendigen Maße verarbeitet werden dürfen.68 Ebenfalls auf die Herstellung von Transparenz zielt der Grundsatz der Ver- 26 arbeitung nach Treu und Glauben ab, dessen Kerngehalt in der Verpflichtung des für die Datenverarbeitung Verantwortlichen besteht, die betroffene Person über die Verarbeitung zu informieren.69 Dies findet seine Konkretisierung in den ausführlich geregelten Informationspflichten der Art 13 und 14 DSGVO. Darüber hinaus kommt dem Grundsatz noch eine Auffangfunktion für Fälle zu, in denen sich Datenverarbeitungen trotz Einhaltung der übrigen Datenschutzvorgaben in der Gesamtschau als illegitim erweisen, insbesondere weil sie den vernünftigen Erwartungen der betroffenen Person zuwiderlaufen.70 Ein zentrales Element des einfachgesetzlichen Datenschutzrechts bilden zu- 27 dem die Betroffenenrechte. Als leistungsrechtliche Dimension des Datenschutzgrundrechts normiert nun auch Art 8 II 2 GRCh ein grundrechtliches Recht der von einer Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten betroffenen Person auf Auskunft über die von staatlichen Stellen gespeicherten Daten sowie ein Recht auf Berichtigung, sollten diese Daten inkorrekt sein. Näher ausgestaltet werden die Betroffenenrechte weiterhin durch das europäische und nationale Datenschutzrecht,71 die jeweils auch Einschränkungen des Auskunfts- und des Berichtigungsrechts vorsehen können.72 Zwecke des Auskunftsrechts sind die Herstellung von Transparenz über Inhalt und Umfang der gespeicherten Daten sowie die Ermögli-
66 Bäcker in: EnzEuR, Bd 8, § 11 Rn 123. 67 Vgl Art 5 I lit b, 6 IV DSGVO; ausf hierzu Kühling/Klar/Sackmann Datenschutzrecht, 5 Aufl 2021, Rn 349 ff, 432 ff. 68 Dabei ist die Erforderlichkeit nicht im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung als Fehlen eines milderen Mittels zu verstehen, s Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 165 ff unter Verweis auf EuGH (GK), Rs C-524/06, Slg 2008, I-09705, Rn 62, 66 – Huber. 69 Hierzu und zum Folgenden Riesz in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 8 Rn 63. 70 Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 172 ff. 71 EuGH, Rs C-141/12 ua, NVwZ-RR 2014, 736, Rn 55 – YS/Niederlande ua. 72 Das Auskunftsrecht (Art 15 DSGVO) und das Berichtigungsrecht (Art 16 DSGVO) können gem Art 23 DSGVO durch Rechtsvorschriften eingeschränkt werden, die allerdings eines der in dieser Norm genannten Ziele verfolgen müssen; vgl zB § 34 BDSG.
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chung einer Kontrolle, ob die Speicherung und Datenverwendung rechtmäßig ist.73 Da die Kenntnis vom Eingriff erforderlich ist, um „die für die freie Entfaltung [der] Persönlichkeit wichtige Orientierung und Erwartungssicherheit erlangen“ zu können, leitet auch das Bundesverfassungsgericht einen Auskunftsanspruch aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ab.74 Das Berichtigungsrecht in Art 8 II 2 GRCh hebt deklaratorisch noch einmal den bereits aus der abwehrrechtlichen Dimension folgenden Anspruch der betroffenen Person auf Beendigung der in der Speicherung inkorrekter Daten liegenden Grundrechtsverletzung hervor. Bemerkenswert ist insoweit, dass der unter anderem in Art 17 DSGVO verankerte Anspruch auf Löschung rechtswidrig gespeicherter Daten keine grundrechtliche Erwähnung gefunden hat; denn auch dieser lässt sich ohne Weiteres unmittelbar aus dem Grundrecht ableiten.75 Der EuGH hat bisher vor allem zu den einfachgesetzlichen Ausgestaltungen der Betroffenenrechte Stellung genommen: So unterfallen falsche Antworten in Prüfungsarbeiten – im Ergebnis wenig überraschend – nicht dem Berichtigungsanspruch, da es für die Bewertung der Unrichtigkeit auf den Zweck der Datenerhebung ankommt;76 zugleich hat der EuGH aber die Klausur mitsamt der Prüferanmerkungen als vom datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch umfasst angesehen, weshalb Prüflinge nach einer Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen einen Anspruch auf unentgeltliche Zurverfügungstellung einer Kopie ihrer Staatsexamensklausuren inklusive der Prüfergutachten haben.77 28 Schließlich erfährt das Datenschutzgrundrecht eine institutionelle Absicherung durch Art 8 III GRCh, der die EU und die Mitgliedstaaten verpflichtet, unabhängige Aufsichtsbehörden zu schaffen, die die Einhaltung des Datenschutzrechts kontrollieren.78 Auch bei dieser organisatorischen Dimension des Datenschutzgrundrechts in Art 8 GRCh handelt es sich um die Konstitutionalisierung eines zentralen Elements des einfachrechtlichen Datenschutzes. Denn schon die EG-Datenschutzrichtlinie (RL 95/46) enthielt als Vorgängerin der DSGVO in Art 28 eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, öffentliche Stellen mit der Überwachung der Anwendung des Datenschutzrechts zu betrauen, die die ihnen zugewiesenen Aufgaben „in völliger
73 Vgl ErwGr 63 DSGVO; ausf zur doppelten theoretischen Fundierung Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 227 ff. 74 BVerfGE 120, 351 (360 f). 75 Riesz in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 8 Rn 76; Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 231. 76 EuGH, Rs C-434/16, NJW 2018, 767, Rn 52 f – Nowak. 77 OVG NW, 16 A 1582/20, ZD 2022, 174; als Klausurbearbeitung Marx, JuS 2022, 143. 78 In Deutschland wird diese Aufgabe vor allem vom Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) und den Landesdatenschutzbeauftragten (LfD bzw LfDI) wahrgenommen.
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Unabhängigkeit“ wahrnehmen. Diese Vorgabe der „völligen Unabhängigkeit“ hat der EuGH anlässlich mehrerer Vertragsverletzungsverfahren sehr weit ausgelegt und einen Richtlinienverstoß zum Beispiel darin gesehen, dass die Aufsicht über private Datenverarbeiter in einigen deutschen Bundesländern von Stellen wahrgenommen wurde, die in die ministerielle Weisungshierarchie eingebunden waren und somit einer Fachaufsicht unterfielen.79 Denn im Sinne der Effektivität der Datenschutzkontrolle muss nach Ansicht des EuGH jede Möglichkeit einer (auch mittelbaren) Einflussnahme der Regierung unterbunden werden, weshalb spiegelbildlich das Fehlen einer unmittelbaren demokratischen Rückbindung des Handelns der Aufsichtsbehörden hinzunehmen ist.80 In der Zusammenschau mit dem weiten Aufgabenkreis, für den die Aufsichtsbehörden gem Art 57 DSGVO zuständig sind, und den einschneidenden Befugnissen, die ihnen nach Art 58 DSGVO zur Erfüllung dieser Aufgaben zukommen, wirft dies legitimatorische Fragen auf, die bisher nicht befriedigend gelöst sind. Aus diesem Grund dürfen konkrete Aufgaben und Befugnisse nur zurückhaltend direkt aus Art 8 III GRCh abgeleitet werden; vielmehr kommt dem Gesetzgeber hier ein weiter Spielraum zu.81 Unproblematisch ist es insoweit gerade mit Blick auf die historische Entwicklung der Datenschutzaufsichtsbehörden als spezialisierte Ombudsstellen, wenn der EuGH Art 8 I, III GRCh ein Recht der betroffenen Person entnimmt, bei diesen eine Beschwerde einzulegen.82 Als nicht ganz so zwingend erscheint dagegen die unmittelbare Ableitung eines Klagerechts der Aufsichtsbehörden gegen bestimmte Unionsrechtsakte aus Art 8 III GRCh und die daraus folgende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einen entsprechenden Rechtsbehelf vorzusehen.83 Mit Blick auf die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie (Fall 2, Rn 15) hat der EuGH problematisiert, dass diese keine Verpflichtung enthielt, die Telekommunikationsdaten im Unionsgebiet zu speichern, sodass eine effektive Kontrolle durch die unabhängigen Datenschutzaufsichtsbehörden nicht sichergestellt war.84
79 EuGH (GK), Rs C-518/07, Slg 2010, I-1885 – Kommission/Deutschland; Rs C-614/10, ZD 2012, 563 – Kommission/Österreich; Rs C-288/12, ZD 2014, 301 – Kommission/Ungarn; Gutachten 1/15, ZD 2018, 23, Rn 228 ff – Fluggastdatenabkommen. 80 Die EuGH-Entscheidung wird in der deutschen Literatur kontrovers diskutiert, s nur kritisch Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art 52 Rn 19 f mwN. 81 Auch Art 28 RL 95/46 war insoweit offen formuliert. Die erst nach Verbindlichwerden der Grundrechtecharta vom europäischen Gesetzgeber unternommene Ausweitung der Befugnisse der Aufsichtsbehörden sollte als gesetzgeberische Entscheidung nicht im Wege einer nachvollziehenden Rechtsprechung durch den EuGH konstitutionalisiert werden. 82 EuGH (GK), Rs C-362/14, NJW 2015, 3151, Rn 58 – Schrems I (Safe Harbor); Rs C-203/15 ua, NJW 2017, 717, Rn 123 – Tele 2 Sverige ua. 83 EuGH (GK), Rs C-362/14, NJW 2015, 3151, Rn 65 – Schrems I (Safe Harbor); Deutschland ist dieser Verpflichtung ua durch den Erlass von § 21 BDSG nachgekommen. 84 EuGH (GK), Rs C-293/12 ua, NJW 2014, 2169, Rn 68 – Digital Rights Ireland ua.
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4. Typische Kollisionslagen 29 Als Querschnittsmaterie, die in einer Informationsgesellschaft nahezu alle Bereiche
des Lebens erfasst,85 ist das Datenschutzrecht durch eine Vielzahl von Kollisionen zwischen verschiedenen Grundrechten oder zwischen dem Datenschutz und Allgemeininteressen geprägt.86 Unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Schutzes des Wesensgehalts der jeweiligen Grundrechte sind hier vor allem von den Gesetzgebern und den Gerichten auf europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene Abwägungs- und Ausgestaltungsentscheidungen zu treffen, für die der EuGH je nach Sachgebiet unterschiedlich stark ausdifferenzierte spezifische Maßstäbe entwickelt hat.87 Daher wird im Folgenden für vier ausgewählte Kollisionslagen, die Gegenstand der zentralen EuGH-Entscheidungen waren, die bisherige Rechtsprechung knapp skizziert, wobei immer auch die Kernfrage des europäischen Grundrechtsverbunds nach dem jeweils gebotenen Maß an Unitarisierung und Vielfalt des Grundrechtsschutzes Berücksichtigung findet. 30 Bereits mehrfach hat sich der EuGH mit der Kollision zwischen Datenschutz und staatlicher Transparenz befasst. In der Rechtssache ORF war es zunächst eine mitgliedstaatliche Veröffentlichungspflicht, deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht und mit Art 8 EMRK in Streit stand, weshalb sich der im Wege einer Auslegungsvorlage gem Art 267 AEUV angerufene EuGH darauf beschränken konnte, den zur Entscheidung berufenen österreichischen Gerichten Kriterien mit auf den Weg zu geben, die sie bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit heranzuziehen haben.88 Welche Schwierigkeiten die Abwägung der beiden Rechtspositionen bereitet, zeigte sich dann, als der EuGH in der Rechtssache Schecke (Fall 1, Rn 14) selbst berufen war, über die Nichtigkeit der unionsrechtlichen Veröffentlichungspflicht zu entscheiden:89
31
Lösung Fall 1 (Rn 14) Als Maßstab zieht der EuGH in der Entscheidung die von ihm gebildete Grundrechtskombination der Art 7 iVm Art 8 GRCh heran, die hier den sachlichen Schutzbereich bildet (o Rn 18). Der persönliche Schutzbereich soll zwar nur natürliche und keine juristischen Personen umfassen, wird vom Gerichts-
85 Treffende Bezeichnung als „law of everything“ bei Purtova Law, Innovation and Technology 10 (2018), 40. 86 GA Kokott, Schlussanträge zu Rs C-73/07, Slg 2008, I-9831, Rn 44 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 87 Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 41 f mit einer Übersicht über die in der EuGH-Rspr anerkannten gegenläufigen Interessen (Rn 41.1). 88 EuGH, verb Rs C-465/00 ua, Slg 2003, I-4989, Rn 88 ff – ORF. 89 Sa die ausführliche didaktische Aufbereitung des Urteils von Kühling/Klar, JURA 2011, 771.
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§ 4.2.2 Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten: GRCh
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hof aber deswegen als eröffnet angesehen, weil der Name der klagenden „Volker und Markus Schecke GbR“ auf die Namen der Gesellschafter (und damit auf natürliche Personen) verweist (o Rn 22). Die Veröffentlichung des Subventionsbetrags, der der GbR bewilligt wurde, stellt trotz des entsprechenden Hinweises im Antragsformular auch einen Eingriff dar, da in der Antragstellung keine konkludente Einwilligung liegt. Dieser Eingriff müsste gesetzlich vorgesehen und verhältnismäßig sein. Während Ersteres vom EuGH zu Recht als unproblematisch bejaht wird, weicht der Gerichtshof der Abwägung der gegenläufigen Rechtspositionen im Ergebnis aus. Zwar stellt er fest, dass die Transparenz des Handelns der Unionsorgane ein primärrechtlich verankertes Ziel ist (Art 1 und 10 EUV, Art 15 AEUV) und dass die Veröffentlichung der Namen der Empfänger von Agrarsubventionen darauf abzielt, die öffentliche Kontrolle der Mittelverwendung zu ermöglichen und zugleich zum demokratischen Meinungsbildungsprozess beizutragen. Er führt die Verhältnismäßigkeitsprüfung aber nicht bis zu ihrem Ende durch. Vielmehr erklärt er die Regelungen deshalb für nichtig, weil weder aus dem Gesetzgebungsverfahren noch aus der Begründung des Rechtsakts deutlich hervorgeht, dass der Gesetzgeber andere Arten der Veröffentlichung erwogen hat, die weniger tief in die Grundrechte der Subventionsempfänger eingreifen.
Nicht die fehlende Erforderlichkeit, sondern das unzureichende gesetzgeberische 32 Regelungskonzept haben den EuGH also bewogen, die Veröffentlichungspflicht für nichtig zu erklären.90 Ähnlich wie der EGMR prozeduralisiert der EuGH die Kontrolle (→ Marsch § 4.2.1 Rn 43) und es steht zu vermuten, dass er dem Unionsgesetzgeber bei der Ausgestaltung der Kollision zwischen Transparenz und Datenschutz einen weiten Spielraum einräumt, sofern dieser seine Entscheidung hinreichend begründet.91 In besonderer Weise grundrechtlich aufgeladen ist der Konflikt, wenn ein Bürger Zugang zu Dokumenten eines Unionsorgans begehrt und sich dabei auf Art 42 GRCh berufen kann (→ Kadelbach § 10.2 Rn 74). Hier hat der EuGH in zweifelhafter Weise vom Zugangspetenten eine Darlegung seines Interesses an den begehrten Informationen verlangt, obwohl die Dokumentenzugangsverordnung 1049/2001 explizit regelt, dass dieser seinen Antrag nicht begründen muss.92 Da die Entscheidung, inwieweit staatliches Handeln und damit zum Teil auch personenbezogene Daten auf Antrag oder von Amts wegen öffentlich zu machen sind, in hohem Maße rechtskulturell geprägt ist, enthält Art 86 DSGVO eine Öffnungsklausel, die mitgliedstaatliche Ausgestaltungsentscheidungen ermöglicht und so die unterschiedlichen Rechtstraditionen wahrt. Weniger zurückhaltend agiert der EuGH bisher im Spannungsfeld zwischen 33 Datenschutz und innerer Sicherheit. Nachdem zunächst das Bundesverfassungsgericht das der Umsetzung der Richtlinie dienende deutsche Gesetz in seinem Kern
90 Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 49.3; ähnlich Guckelberger EuZW 2011, 126 (130): „Abwägungsausfall“. 91 Marsch Das europäische Datenschutzgrundrecht, 2018, S 200 f. 92 EuGH (GK), Rs C-28/08 P, Slg 2010, I-06055, Rn 78 f – Bavarian Lager.
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für gerade noch mit den Grundrechten vereinbar, in seiner Ausgestaltung aber für verfassungswidrig erklärt hat, ohne eine Vorlage an den EuGH zu richten, hat dieser auf Vorlagen des irischen High Court und des österreichischen Verfassungsgerichtshofs die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie für nichtig erklärt:93
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Lösung Fall 2 (Rn 15) Der EuGH sieht schon in der Verpflichtung der Telekommunikationsunternehmen, die Metadaten der Kommunikation zu speichern, einen Eingriff sowohl in das Recht auf Achtung des Privatlebens gem Art 7 GRCh als auch in das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten gem Art 8 GRCh (o Rn 18). Diesen schätzt der Gerichtshof unter Rückgriff auf eine Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts insbesondere deshalb als besonders schwerwiegend ein, weil er bei den Betroffenen das Gefühl zu erzeugen vermag, „dass ihr Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist.“ Er stellt zudem fest, dass die Daten insofern sehr genaue Rückschlüsse erlauben, also eine hohe Aussagekraft besitzen und zudem fast die gesamte europäische Bevölkerung betroffen ist. Dieser schwere Eingriff achtet zwar die Wesensgehalte von Art 7 GRCh (da die Kommunikationsinhalte nicht gespeichert werden) und Art 8 GRCh (da die Richtlinie überhaupt eine Regelung zur Gewährleistung der Datensicherheit enthält). Die Eingriffe in beide Grundrechte erweisen sich jedoch als unverhältnismäßig. So ist der Eingriff in Art 7 GRCh deshalb unzulässig, weil (erstens) anlasslos Daten gespeichert werden, ohne dass diese in einem Zusammenhang zu einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit stehen, weil die Richtlinie (zweitens) keine Vorgaben enthält, unter welchen Voraussetzungen die Daten von staatlichen Behörden abgerufen werden dürfen, und sie (drittens) auch keine Kriterien vorgibt, nach denen die Speicherdauer der unterschiedlichen Datenkategorien von den Mitgliedstaaten näher zu konkretisieren ist. Die Rechtfertigung des Eingriffs in Art 8 GRCh misslingt zum einen, weil die Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht in hinreichender Weise zum Erlass von Regelungen verpflichtet, durch die die Datensicherheit und die Löschung der Daten nach Ablauf der Speicherfrist sichergestellt werden. Zum anderen fehlt eine Anordnung der Speicherung im Unionsgebiet, weshalb die Kontrolle durch die unabhängigen Aufsichtsbehörden (Art 8 III GRCh) leerzulaufen droht (o Rn 27).
35 In mehreren Folgeentscheidungen zu Vorratsdatenspeicherungspflichten im
mitgliedstaatlichen Recht hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung geschärft und ausdifferenziert.94 Dass er diese (und möglicherweise ganz generell alle Regeln über den Abruf von Telekommunikationsmetadaten durch Strafverfolgungsbehörden) an den Unionsgrundrechten misst, begründet der EuGH mit einer sehr weiten Auslegung des Art 15 I E-Privacy-Richtlinie,95 die auf Kritik gestoßen ist.96 In der Ent-
93 Ausf didaktische Aufbereitung der Entscheidung bei Bäcker, JURA 2014, 1263. 94 Ausf zu den Folgeentscheidungen Müller/Schwabenbauer, NJW 2021, 2079; Schneider in: Wolff/ Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 47.1 ff. 95 EuGH (GK), Rs C-203/15 ua, NJW 2017, 717, Rn 65 ff – Tele 2 Sverige ua; Rs C-207/16, NJW 2019, 655, Rn 35, 37 – Ministerio Fiscal; Urt v 6.10.2020, Rs C-623/17, Rn 39 – Privacy International. 96 Müller/Schwabenbauer, NJW 2021, 2079, Rn 6; schon im Vorfeld der Entscheidung Wollenschläger/Krönke, NJW 2016, 906.
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scheidung Tele2 Sverige stellt er insbesondere klar, dass die drei in der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie genannten Punkte, die zur Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs in Art 7 GRCh führten, alternativ zu verstehen sind, dass sich die Grundrechtswidrigkeit also schon allein aus der Anlasslosigkeit der Speicherung ergibt.97 Diese Vorgabe präzisiert der Gerichtshof in der Rechtssache La Quadrature du Net,98 die auch als Lockerung des strikten Verbots einer Vorratsdatenspeicherung verstanden werden kann.99 Hiernach kann im Fall einer ernsten und gegenwärtigen Bedrohung der nationalen Sicherheit eine zeitlich begrenzte Speicherung aller Telekommunikationsmetadaten durch die TK-Unternehmen unter der Voraussetzung angeordnet werden, dass diese Anordnung einer Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterliegt. Sofern sich die Speicherpflicht nur auf eine bestimmte Kategorie von Personen beschränkt oder geografisch begrenzt ist, darf sie zeitlich befristet auch zur Straftatenbekämpfung oder bei schweren Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit angeordnet werden. Diese Maßstäbe des EuGH wurden vom vorlegenden französischen Conseil d’Etat in der verfahrensabschließenden Entscheidung allerdings derart weit interpretiert, dass die Entscheidung auch als bewusste Missachtung des Unionsrechts und als Affront gegen den EuGH verstanden wurde.100 Nicht ganz so konfrontativ wie der Conseil d’Etat mit den Maßstäben der EuGH- 36 Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung, aber in der Sache ebenfalls kritisch, geht das Bundesverfassungsgericht mit der „Recht auf Vergessen“-Rechtsprechung des EuGH um, die die Kollision zwischen Kommunikationsfreiheiten und Datenschutz betrifft. In seiner bekannten Entscheidung Google Spain hatte der Gerichtshof der Datenschutzrichtlinie einen gegen Suchmaschinenbetreiber gerichteten Anspruch auf „Löschung“ bestimmter Suchergebnisse entnommen, die auf die Eingabe des Namens der betroffenen Person hin angezeigt werden.101 Zu Recht stellt der EuGH fest, dass – obwohl die von der Suchmaschine verarbeiteten Daten bereits auf anderen Websites stehen und damit öffentlich zugänglich sind – auch die Anzeige der Suchergebnisse eine zusätzliche Beeinträchtigung der Privatheitsinteressen darstellt. Die vom Gerichtshof vorgenommene Abwägung ist dagegen auf Kritik gestoßen, da dieser nur die wirtschaftlichen Interessen des Suchmaschinenbetreibers, die Privatheitsinteressen der betroffenen Person sowie das Informationsinteresse der Öffentlichkeit einstellt, die Kommunikationsfreiheit des Inhalteanbieters aber
97 EuGH (GK), Rs C-203/15 ua, NJW 2017, 717, Rn 97 ff – Tele 2 Sverige ua; hierzu Sandhu, EuR 2017, 453. 98 EuGH (GK), Rs C-511/18 ua, NJW 2021, 531 – La Quadrature du Net ua. 99 In diesem Sinne Gerhold, DÖV 2022, 93 (94); Ogorek, NJW 2021, 547. 100 CE, Ass, Urt v 21.4.2021, 393099; hierzu Gerhold, DÖV 2022, 93. 101 EuGH (GK), Rs C-131/12, NJW 2014, 2257 – Google Spain = Eifert, JK 9/14, RL 95/46/EG Art 12.
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nicht berücksichtigt.102 Dies und die Tatsache, dass der Gerichtshof eine nahezu unmittelbare Bindung des privaten Suchmaschinenanbieters an die Grundrechte annimmt, führt im Ergebnis zu einer problematischen Vermutung, dem Privatleben komme in der Abwägung regelmäßig Vorrang zu, sofern nicht im konkreten Fall ein spezielles Interesse der breiten Öffentlichkeit (beispielsweise aufgrund der Rolle der betroffenen Person im öffentlichen Leben) besteht.103 Für besonders sensible Daten gem Art 9 DSGVO hat der EuGH diese Vermutung sogar noch verschärft.104 37 Das Bundesverfassungsgericht hat sich einer solchen Vermutung zugunsten des Privatlebens in der Entscheidung Recht auf Vergessen II entgegengestellt und betont, dass sich zwar der Suchmaschinenbetreiber nicht auf die Medienfreiheit berufen kann, diese aber dennoch in die Abwägung einzustellen sei, da auch die Grundrechte der im konkreten Fall von der Löschung betroffenen Rundfunkanstalt Berücksichtigung finden müssen.105 Während das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung die Unionsgrundrechte anwenden und die EuGH-Rechtsprechung heranziehen musste, weil die Klage gegen den Suchmaschinenbetreiber gerichtet war und das damit einschlägige datenschutzrechtliche Recht auf Vergessen aus unionsrechtlich vollständig vereinheitlichten Normen des europäischen Datenschutzrechts folgt, konnte es in der am selben Tag ergangenen Entscheidung Recht auf Vergessen I die Grundrechte des Grundgesetzes zur Anwendung bringen.106 Denn dieser Entscheidung lag eine Klage nicht gegen eine Suchmaschine, sondern unmittelbar gegen einen Presseverlag zugrunde, der in seinem Online-Archiv alte Beiträge zum Abruf bereithielt, womit der Sachverhalt in den Anwendungsbereich des sog Medienprivilegs des europäischen Datenschutzrechts – einer Öffnungsklausel, die den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, durch eigene Regeln die Kommunikationsfreiheiten und den Datenschutz in Einklang zu bringen – fiel.107 Da die in einem solchen Fall anzuwendenden Regelungen somit nicht vollständig durch Unionsrecht determiniert sind, also ein mitgliedstaatlicher Spielraum besteht, waren eigentlich die Unionsgrundrechte und die Grundrechte des Grundgesetzes pa-
102 Kühling, EuZW 2014, 527 (529); auf eine Besonderheit des konkreten Falles verweist Diesterhöft, VBlBW 2014, 370 (372). 103 Kritisch auch Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 45 mwN. 104 EuGH (GK), Rs C-136/17, NJW 2019, 3503, Rn 60 ff – GC ua/CNIL. 105 BVerfG, 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314, Rn 106 ff, 120 ff – Recht auf Vergessen II = Eifert, JK 2020/535; anders als vom Bundesverfassungsgericht behauptet, handelt es sich dabei eher um eine Fortentwicklung und Präzisierung der Maßstäbe des EuGH als um deren bloße Anwendung, Marsch, ZEuS 23 (2020), 597 (615 ff). 106 BVerfG, 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300 – Recht auf Vergessen I = Eifert, JK 2020/411. 107 Heute ist das Medienprivileg in Art 85 DSGVO verankert, bis zu dessen Inkrafttreten fand sich eine entsprechende Regelung in Art 9 RL 95/46; s hierzu EuGH (GK), Rs C-73/07, Slg 2008, I-9831 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy; EuGH, Rs C-345/17, NJW 2019, 2451 – Buivids.
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rallel anzuwenden. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung jedoch eine Vermutung etabliert, dass das Schutzniveau der Charta durch die Anwendung des Grundgesetzes mitgewährleistet wird, weshalb im Spielraumbereich vorrangig die deutschen Grundrechte Anwendung finden. Schließlich bildete ein klassisches Thema des Datenschutzrechts, nämlich die 38 Übermittlung von Daten in Drittstaaten108, den Hintergrund der Entscheidungen Schrems I (Safe Harbor) und Schrems II (Privacy Shield), in denen der Konflikt zwischen Datenschutz und freiem Datenverkehr im Zentrum stand.109 Grundlage der Entscheidungen waren die Regelungen der Datenschutzrichtlinie bzw der DSGVO über die Übermittlung von Daten in Drittländer. Diese zielen darauf ab, die wirtschaftlichen Grundrechte der Datenverarbeiter und das Interesse der EU an einer weiteren Vertiefung des internationalen Handels zu gewährleisten, ohne das unionsweit gewährleistete Datenschutzniveau preiszugeben.110 Entsprechende Datenübermittlungen sind daher nur unter den in Kapitel V der DSGVO (Art 44 ff) geregelten Bedingungen zulässig.111 Eine hier vorgesehene Möglichkeit ist, dass die Kommission gem Art 45 DSGVO die Angemessenheit des Schutzniveaus in konkreten Drittstaaten feststellt. Solche Angemessenheitsbeschlüsse in Bezug auf das Datenschutzniveau in den USA bildeten den Gegenstand der beiden oben genannten Entscheidungen.112 Beide wurden vom EuGH für nichtig erklärt: Während der erste Beschluss schon deshalb als primärrechtswidrig verworfen wurde, weil die EUKommission nicht hinreichend begründet hatte, warum sie das Datenschutzniveau in den USA für angemessen hielt, hat der EuGH im zweiten Verfahren das dortige Datenschutzniveau unter anderem deshalb für unzureichend erachtet, weil weder das amerikanische Recht noch das mit den USA geschlossene Abkommen ausreichenden Schutz (insb keinen adäquaten Rechtsschutz) gegenüber Maßnahmen der US-Geheimdienste gewährleisten.
108 Schon Art 12 der Datenschutzkonvention des Europarates aus dem Jahr 1981 regelt den grenzüberschreitenden Datenverkehr und die Übermittlung in Nichtvertragsparteien. 109 EuGH (GK), Rs C-362/14, NJW 2015, 3151 – Schrems I (Safe Harbor); Rs C-311/18, NJW 2020, 2613 – Schrems II (Privacy Shield); ausf zu den Entscheidungen Eichenhofer, EuR 2016, 76; Paal/Kumkar, MMR 2020, 733. 110 Vgl ErwGr 101 DSGVO. 111 Hierzu und zum Folgenden Kühling/Klar/Sackmann Datenschutzrecht, 5. Aufl 2021, Rn 582 ff. 112 Genauer gesagt handelte es sich um bedingte Angemessenheitsbeschlüsse, die nur Unternehmen zugutekamen, die sich zur Einhaltung von in einem mit den USA geschlossenen Abkommen fixierten Datenschutzstandards verpflichtet hatten, s hierzu und zu den Entscheidungen Schneider in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Syst B Rn 56 ff.
Nikolaus Marsch
§ 4.3 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit § 4.3.1 Schutz der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach der EMRK Leitentscheidungen: EGMR (GK), Urt v 18.2.1999, 24645/94, EuGRZ 1999, 213 ff – Buscarini ua/San Marino; (GK), Urt v 26.10.2000, 30985/96, ECHR 2000-XI, 119 ff – Hasan und Chauch/Bulgarien; Urt v 15.1.2013, 48420/10 ua, NJW 2014, 1935 ff – Eweida ua/Vereinigtes Königreich; (GK), Urt v 1.7.2014, 43835/11, NJW 2014, 2925 ff – S.A.S./Frankreich.
Schrifttum: Evans, Freedom of Religion under the European Convention on Human Rights, 2003; Classen, Europarecht und Staatskirchenrecht, in: Pirson/Rüfner/Germann/Muckel (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2020, § 11; Sydow Europäischer Menschenrechtsschutz für ethische Grundüberzeugungen, JZ 2022, 209; Walter, Kap 17: Religions- und Gewissensfreiheit in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, 3. Aufl. 2021.
1
Fall 1 (EGMR, Urt v 13.4.2006, 55170/00, NZA 2006, 1401 f – Kosteski/ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien) Ein Angestellter einer mazedonischen Elektrizitätsgesellschaft erschien an einem muslimischen Feiertag nicht zur Arbeit, obwohl sein Arbeitgeber mit Hinweis auf den großen Arbeitsanfall angeordnet hatte, dass alle Arbeitnehmer erscheinen müssen. Der Tag war für Muslime auch nach weltlichem Recht ein Feiertag, und der Arbeitnehmer berief sich darauf, ein Muslim zu sein. Daraufhin wurde er von seinem Arbeitgeber mit einer Gehaltskürzung sanktioniert. Die Gerichte billigten die Entscheidung, weil der Betroffene nicht überzeugend dargelegt habe, dass er Muslim sei. Der Betroffene sieht im gerichtlichen Verlangen des Nachweises einer Religionszugehörigkeit eine Verletzung von Art 9 EMRK.
I. Anwendungsbereich 1. Die geschützten Lebensbereiche 2 Art 9 EMRK gewährleistet die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; Abs 1
HS 2 erwähnt daneben die Freiheit der Weltanschauung. Die Norm deckt sich weitgehend mit Art 18 AEMR und Art 18 IPbürgR. Geschützt werden so identitätsbildende persönliche Überzeugungen sowie die Freiheit, sich dementsprechend zu verhalten. Diese Rechte sieht der Gerichtshof als „eine der Grundfesten einer ‚demokratischen Gesellschaft‘ im Sinne dieser Konvention (an), da der Pluralismus, der mit einer solchen Gesellschaft untrennbar verbunden ist, von dieser Freiheit abhängt.“1
1 EGMR, Urt v 25.5.1993, 14307/88, Series A 260-A, 4, § 31 – Kokkinakis/Griechenland; (GK), Urt v 18.2.1999, 24645/94, EuGRZ 1999, 213, § 34 – Buscarini ua/San Marino; Urt v 17.11.2011, 12884/03, NVwZ 2011, 1503, § 50 – Wasmuth. Claus Dieter Classen https://doi.org/10.1515/9783110716740-009
§ 4.3.1 Gedanken- Gewissens-und Religionsfreiheit nach der EMRK
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Für den Bereich der Bildung wird in Art 2 ZP die besonders Freiheit der Eltern hervorgehoben, dass ihre Kinder entsprechend den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern unterrichtet werden. Daneben schützen Art 14 EMRK im Anwendungsbereich der EMRK-Gewährleistungen und das 12. ZP auch darüber hinaus vor Diskriminierungen aus religiösen Gründen (→ Classen, § 9 Rn 9). Größere Bedeutung in der Judikatur des EGMR hat bisher nur die Religionsfreiheit entfaltet. Im Einzelnen schützt die Gedankenfreiheit – umfassend – die Bildung eigener Überzeugungen und damit insbesondere vor staatlicher Indoktrination. Der EGMR hat diese Freiheit bisher nur im Kontext des Schulunterrichts fruchtbar gemacht.2 Die Gewissensfreiheit schützt elementare Grundüberzeugungen davon, was gut und was schlecht ist. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung wurde allerdings lange Zeit aus der Norm nicht abgeleitet, weil die Wehrpflicht in Art 4 II b) EMRK ausdrücklich, wenn auch nur im Kontext des Verbots der Zwangsarbeit, in der Konvention erwähnt wird.3 Im Jahre 2011 hat der EGMR dann seine Rechtsprechung geändert.4 Religions- sowie Weltanschauungsfreiheit schützen eine bestimmte identitätsbestimmende, in sich kohärente Vorstellung von der Welt als Ganzer,5 die sich ggf in den in Abs 1 HS 2 sowie Abs 2 erwähnten Formen – Bekenntnis, Kult und Lebensweisen – äußern kann. Auch Atheisten, Agnostiker etc. können sich auf diese Freiheit berufen.6
3
4
5
6
1. Der geschützte Personenkreis Da nur Individuen die durch Art 9 EMRK geschützten Überzeugungen ausbilden 7 können, wurden zunächst allein diese als Träger des Rechts aus Art 9 EMRK angese-
2 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71, NJW 1977, 487, § 53 – Kjeldsen/Belgien. Zur Neutralität des Schulunterrichts ferner EGMR, Urt v 29.6.2007, 15472/02, NVwZ 2008, 1217, §§ 84 ff – Folgerø/Norwegen. 3 EKMR, Beschl v 12.12.1966, 2299/64, Yearbook 10 (1967), 626, § 32 – Grandrath/Deutschland; Beschl v 22.5.1995, 24630/94, § 5 – Heudens/Belgien. 4 EGMR (GK), Urt v 7.7.2011, 23459/03, NVwZ 2012, 1603, §§ 109 f – Bayatyan/Armenien; vgl aber auch schon Urt v 6.4.2000, 34369/97, ECHR 2000-IV, 265, § 47 – Thlimmenos /Griechenland. 5 EGMR, Urt v 5.4.2007, 18147/02, NJW 2008, 495, § 71 – Church of Scientology Moscow/Russland: „Identity of believers and their conception of life“; ferner etwa EGMR (GK), Urt v 7.7.2011, 23459/03, NVwZ 2012, 1603, § 110 – Bayatyan/Armenien. 6 EGMR, Urt v 25.5.1993, 14307/88, Series A 260-A, 4, § 31 – Kokkinakis/Griechenland.
Claus Dieter Classen
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
hen.7 Art 9 I HS 2 garantiert aber auch die Freiheit, die Religion „gemeinsam mit anderen“ zu bekennen. Daher erkennt der EGMR seit dem Jahr 2000 die Religionsfreiheit auch Religionsgemeinschaften zu.8 Dieses Argument gilt jedoch nicht für die Gedanken- und die Gewissensfreiheit.9
2. Geschützte Verhaltensweisen 8 Geschützt wird zunächst einmal sowohl bei Gedanken- als auch bei Gewissens-
und Religionsfreiheit – ohne Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung – die entsprechende innere Freiheit, das forum internum. Weil sich manche Religionsgemeinschaft mit deren Akzeptanz schwertun, wird ausdrücklich auch die Freiheit gewährleistet, die Religion zu wechseln. Mit Blick auf die Freiheit, sich entsprechend seinen Überzeugungen zu verhalten, das forum externum, ist zu differenzieren: Bei der Gedankenfreiheit stellt sich die Frage nicht; insoweit kommen nur andere Gewährleistungen wie die Religions- oder die Meinungsfreiheit (Art 10 EMRK) in Betracht. Bei der Religionsfreiheit ist das forum externum ausdrücklich erwähnt, denn diese schließt – nicht abschließend – das Bekenntnis durch „Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten“ ein. Bei der Gewissensfreiheit geht es regelmäßig nur um die Freiheit, bestimmte staatliche Verpflichtungen nicht erfüllen zu müssen. Insoweit hat der EGMR mit seiner erwähnten Judikatur zur Kriegsdienstverweigerung (→ Rn 5) auch das forum externum als geschützt anerkannt; anderenfalls wäre auch die Abgrenzung zur Gedankenfreiheit kaum möglich.10 9 Im Einzelnen wirft die Zuordnung der religionsspezifischen Äußerungsformen „Gottesdienst“11 und „Unterricht“ – gemeint ist die religiöse Unterweisung einschließlich der Glaubenswerbung12 – meist keine Abgrenzungsfragen auf. Anders ist dies beim „Praktizieren von Bräuchen und Riten“. Anders als nach dem BVerfG13
7 Zur Religionsfreiheit EKMR, Beschl v 17.12.1968, 3798/68, Yearbook 12 (1969), 307 – Church of X/Vereinigtes Königreich; Beschl v 8.3.1976, 7374/76, DR 5, 157 – X/Dänemark; zu Gewissensfreiheit Beschl v 12.10.1988, 11921/86, DR 57, 81 – Kontakt-Information-Therapie/Österreich. 8 EGMR (GK), Urt v 27.6.2000, 27417/95, ECHR 2000-VII, 233, § 72 – Cha’are Shalom ve Tsedek/Frankreich. 9 Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 17 Rn 113. 10 Grundsätzlich dazu Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 17 Rn 18. 11 Dazu EGMR, Urt v 26.9.1996, 18748/91, ECHR 1996-IV, 1347, § 36 – Manoussakis ua/Griechenland. 12 Zu dieser EGMR, Urt v 25.5.1993, 14307/88, Series A 260-A, 4, § 31 – Kokkinakis/Griechenland. 13 BVerfGE 32, 98 (106); 33, 23 (28 f).
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reicht hier nicht die individuelle Motivation des Betroffenen.14 Vielmehr muss auch objektiv eine hinreichend enge und direkte Verbindung zwischen Religion und Verhalten bestehen,15 wie dies etwa bei Speise-16 und Bekleidungsvorschriften17 der Fall ist. Weil Religion als Konzeption von der Welt als Ganzes häufig für etliche Lebensbereiche Regeln bereithält, die nicht selten mit allgemeinen, religionsunspezifischen Vorschriften konfligieren, ist der EGMR tendenziell zurückhaltend: Regelmäßig befreit Art 9 EMRK nicht von der Verpflichtung, allgemeine, religionsunspezifisch formulierte Vorschriften zu achten.18 Geschützt wird nicht nur die positive, sondern auch die negative Freiheit, also 10 die Freiheit, eine bestimmte, religiös oder weltanschaulich konnotierte Handlung nicht vorzunehmen,19 keine Auskunft zu seiner Religion geben zu müssen,20 aber auch, nicht mit religiösen Äußerungen konfrontiert zu werden.21 Dabei hat der EGMR eine mit der Anrufung Gottes verbundene Eidesleistung als Verstoß angesehen,22 ein Kreuz im Klassenzimmer hingegen nicht, weil der betroffene Staat das Kreuz als Zeichen seiner Werte qualifiziert habe.23
14 EGMR, Urt v 1.7.1997, 20704/92, ECHR 1997-IV, 1200, § 27 – Kalaç/Türkei; GK, Urt v 26.10.2000, 30985/96, ECHR 2000-XI, 119, § 60 – Hasan und Chauch/Bulgarien; Urt v 13.12.2001, 45701/99, ECHR 2001-XII, 83, § 114 – Metropolitan Church of Bessarabia ua/Moldawien. 15 Zum Tragen eines christlichen Kreuzes EGMR, Urt v 15.1.2013, 48420/10 ua, NJW 2014, 1935, § 82 – Eweida ua/Vereinigtes Königreich. Ausführlich Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 17 Rn 47, 56 f. 16 EGMR, Urt v 7.12.2010, 18429/06, NVwZ-RR 2011, 961 ff, § 45 – Jakóbski/Polen; vgl auch zum Schächten EGMR, (GK), Urt v 27.6.2000, 27417/95, ECHR 2000-VII, 233, § 73 – Cha’are Shalom ve Tsedek/Frankreich. 17 EGMR, Urt v 23.2.2010, 41135/98, § 35 – Ahmet Arslan ua/Türkei; (GK), Urt v 1.7.2014, 43835/11, NJW 2014, 2925, § 108 – S.A.S./Frankreich. 18 EGMR, Urt v 13.4.2006, 55170/00, NZA 2006, 1401, § 38 – Kosteski/ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien zur Arbeitsverweigerung an einem muslimischen Feiertag; Urt v 18.12.1996, 24095/94, ECHR 1996-VI, 2348, § 37 – Efstratiou/Griechenland zur Verweigerung der Teilnahme an einer Schulparade, die am Nationalfeiertag und am gleichen Tag wie eine Militärparade stattfand; Beschl v 2.10.2001, 49853/99, ECHR 2001-X, 383 – Pichon ua/Frankreich, zur Sanktionierung von Apothekerinnen, die sich geweigert haben, die „Pille“ zu verkaufen. Kritisch zu dieser Judikatur Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 17 Rn 37. 19 EGMR (GK), Urt v 18.2.1999, 24645/94, EuGRZ 1999, 213, § 34 – Buscarini ua/San Marino. 20 EGMR, Urt v 15.6.2010, 7710/02, NLMR 2010, 182, § 87 – Grzelak/Polen; Urt v 17.11.2011, 12884/03, NVwZ 2011, 1503, § 50 – Wasmuth. 21 EGMR, Beschl v 15.2.2001, 42393/98, NJW 2001, 2871 ff – Dahlab/Schweiz. Zur Neutralität des Schulunterrichts siehe bereits Fn. 2. 22 EGMR (GK), Urt v 18.2.1999, 24645/94, EuGRZ 1999, 213, § 34 – Buscarini ua/San Marino; zur fehlenden Rechtfertigung §§ 39 f. 23 EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/06, NJW 2011, 3775, §§ 73 ff Lautsi ua/Italien mit entgegengesetztem Urt v 3.11.2009 der 2. Kammer.
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Religionsgemeinschaften gewährleistet Art 9 EMRK eine „autonome Existenz“,24 verstärkt durch die Vereinigungsfreiheit des Art 11 EMRK. Die Staaten dürfen sich nicht in deren innere Angelegenheiten einmischen. Hierzu zählen etwa Entscheidungen über Glaubenslehren, Führungspersönlichkeiten und sonstige Personalentscheidungen, soweit Verkündigung und Unterricht betroffen sind. Lösung Fall 1: Fraglich ist zunächst, ob Art 9 EMRK anwendbar ist. Da es um einen auch vom Staat anerkannten religiösen Feiertag geht, könnte man in der Pflicht zur Anwesenheit am Arbeitsplatz einen Fall von Art 9 EMRK sehen. Der EGMR wertet in ständiger Rechtsprechung anders, weil es sich bei der Pflicht zur Anwesenheit am Arbeitsplatz um eine nach allgemeinem Recht statuierte, religiös-neutrale Verpflichtung handele. Soweit es um die gerichtliche Überprüfung der Religionszugehörigkeit geht, spricht grundsätzliches manches für eine Anwendbarkeit der Norm. Vorliegend hat sich allerdings der Betroffene selbst auf eine Vergünstigung berufen, die das staatliche Recht nur Muslimen zugestand. Dann aber ist eine gerichtliche Überprüfung der Religionszugehörigkeit unumgänglich. Art 9 EMRK ist also nicht anwendbar und daher auch nicht verletzt.
II. Beschränkungen und positive Verpflichtungen 13 Art 9 EMRK schützt vor Beschränkungen der soeben dargestellten Freiheitsrechte.
Hierzu zählen insbesondere Verbote und Strafen, aber auch alle sonstigen an die Freiheitsbetätigung geknüpften negativen Folgen wie die Verweigerung des Zugangs zu einem Beruf. Diese Maßnahmen müssen nicht zwingend staatlichen Charakter aufweisen; auch seitens eines privaten Arbeitgebers verhängte, von einem staatlichen Gericht gebilligte Maßnahmen sind am Maßstab von Art 9 EMRK zu prüfen (allgemein dazu → Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 235, vgl auch Rn 68). Diese Norm gibt aber nicht das Recht, innerhalb einer Religionsgemeinschaft abweichende Lehren zu verkünden oder sich abweichend von religiösen Geboten zu verhalten.25 Sind ggf andere Grundrechte wie Art 8 EMRK einschlägig, ist ein entsprechender Ausgleich zu suchen. Auch im Übrigen kommt dem Staat mit Blick auf die in Art 9 EMRK garantierten Freiheitsrechte eine Gewährleistungspflicht zu, etwa mit Blick auf das Recht zum Austritt aus einer Religionsgemeinschaft26 oder das Recht, seinen
24 EGMR, Urt v 10.6.2010, 302/02, NVwZ 2011, 1506, § 99 – Jehovah’s Witness of Moscow ua/Russland. 25 EGMR, Urt v 22.1.2009, 412/03 und 35677/04, § 141 – Holy Synod of the Bulgarian Orthodox Church/ Bulgarien. 26 EKMR, Beschl v 4.12.1984, 10616/83 – Gottesmann/Schweiz. Claus Dieter Classen
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Glauben unbeeinträchtigt von Störungen Dritter praktizieren zu können.27 Religionsgemeinschaften müssen Rechtsfähigkeit erlangen können.28
III. Rechtfertigung von Beschränkungen Fall 2 (EGMR, Urt v 15.1.2013, 48420/10 ua, NJW 2014, 1935 ff – Eweida ua/Vereinigtes Königreich):
Zwei Angestellte bekamen in England Probleme mit ihrem Arbeitgeber, weil sie aus religiösen Gründen ein christliches Kreuz trugen. Der jeweilige Arbeitgeber untersagte das, weil das zu den von ihm vorgegebenen Kleidungsregeln nicht passe. Im einen Fall ging es um eine Stewardess, der eine Uniform vorgegeben war, und der, als es zum Streit kam, eine Tätigkeit in der Verwaltung ohne Uniformzwang angeboten worden war. Dies lehnte sie ab, worauf sie zunächst freigestellt wurde. Angehörigen bestimmter anderer Religionsgemeinschaften (Sikhs, Muslimen) war allerdings das Tragen religiös motivierter Kleidung gestattet, weil insoweit eine religiöse Verpflichtung bestehe. Im anderen Fall ging es um eine auf einer geriatrischen Station eingesetzte Krankenschwester, die ihr Kreuz an einer Halskette trug. Zum Schutz vor Verletzungen sollte Schmuck auf ein Minimum reduziert werden. Die Schwester wurde dann auf eine andere, allerdings nur befristete Stelle außerhalb des pflegerischen Bereichs versetzt. Beide sehen sich in ihren Rechten aus Art 9 EMRK verletzt.
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Fall 3 (EGMR, Urt v 26.10.2000, 30985/96, ECHR 2000-XI, 119 – Hasan und Chauch/Bulgarien): Nach der politischen Wende 1989 kam es in Bulgarien zu einem Streit in der muslimischen Gemeinschaft. Das staatliche Direktorat für religiöse Bezeichnungen erklärte 1992 die 1988 erfolgte Wahl eines Oberhaupts der Muslime für rechtswidrig und setzte eine Übergangsleitung ein. Diese ließ neu wählen, und es wurde jemand anderes zum Oberhaupt der Muslime gewählt. Die Streitigkeiten zwischen den Muslimen fanden damit jedoch kein Ende. 1994 beschlossen Anhänger der früheren Führung der Muslime neue Statuten und wählten die frühere Führung wieder; 1995 bestätigten Anhänger der neuen Führung die 1992 gewählte Leitung. Zugleich erkannte das staatliche Direktorat für religiöse Bezeichnungen nunmehr die 1994 gewählte Führung als rechtmäßige Leitung aller Muslime in Bulgarien an. Daran änderte sich auch nichts nach einem von der früheren Führung letztlich boykottiertem Einigungsversuch. Klare Kriterien zur Anerkennung der Führung einer Religionsgemeinschaft sah das bulgarische Recht nicht vor. Die neue Leitung sah in der einseitigen Anerkennung allein der bereits 1988 zu Führung berufenen Personen eine Verletzung von Art 9 EMRK.
27 EGMR, Urt v 24.2.2015, 30587/13, NVwZ 2016, 1071, §§ 108 ff – Karaahmed/Bulgarien; zur Legitimation (nicht zur Verpflichtung) von Beschränkungen der Meinungsfreiheit (Art 10 EMRK) zum Schutz religiöser Überzeugungen etwa EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87, MR 1995, 35, §§ 47 f – Otto-Preminger-Institut/Österreich, zu dem es wie zu weiteren Entscheidungen jeweils Sondervoten gab; zum Streit McCrea, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, Rn 10.10. 28 EGMR, Urt v 8.4.2014, 70945/11 ua, NVwZ 2015, 499, §§ 90 f – Magyar Keresztény Mennonita Egyhàz ua/Ungarn.
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1. Allgemeines 16 Beschränkungen der dargestellten Art können unter den in Art 9 II EMRK genann-
ten Voraussetzungen gerechtfertigt werden; ebenso finden positive Gewährleistungspflichten aus den nachfolgend dargestellten Gründen ihre Grenzen. Die Norm ist strukturell vergleichbar mit den entsprechenden Bestimmungen bei Art 8, 10 und 11 EMRK. Beschränkbar ist dabei nur, wie der Wortlaut zeigt, das forum externum, das aber auch mit Blick auf die Gewissensfreiheit.29 Formal bedarf jede Beschränkung einer gesetzlichen Grundlage. Gefordert sind klare und erkennbare Regeln, denen auch eine gefestigte Rechtsprechung entsprechen kann (→ Ehlers/ Germelmann, § 2.1 Rn 95). 17 Materiell rechtfertigen eine Beschränkung nur die in Art 9 II EMRK genannten, wenn auch weit formulierten Ziele. Zugleich muss die Maßnahme auch zur Wahrung eines „dringenden sozialen Bedürfnisses“ „notwendig“, also verhältnismäßig sein.30 Dabei folgt der EGMR keiner strikten Prüfungsstruktur; im Mittelpunkt steht eine einzelfallbezogene Güterabwägung, die „fair balance“ zwischen den konfligierenden Rechtsgütern. Weil das Verhältnis von Staat und Religion in den Staaten des Europarats ausgesprochen unterschiedlich ausgestaltet ist, gesteht der EGMR dabei den Staaten trotz der großen Bedeutung der Religionsfreiheit (→ Rn 2) regelmäßig einen weiten Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“) zu.31 Daher weist die Rechtsprechung des EGMR einen stark kasuistischen Charakter auf.32 In keinem Fall darf der Staat allerdings die Legitimität religiöser Überzeugungen als solche überprüfen.33
2. Spezifische Konfliktsituationen a) Gesellschaftlicher Friede 18 Häufig dienen Beschränkungen der Religionsfreiheit der Bewältigung von Konflik-
ten zwischen Religionsgemeinschaften oder deren Anhängern oder von sonstigen mit der Religionsausübung verbundenen gesellschaftlichen Konflikten. Rechtlich geht es dann um die öffentliche Sicherheit oder den Schutz der Rechte anderer. Da-
29 Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 17 Rn 19. 30 Etwa EGMR, Urt v 14.12.1999, 38178/97, ECHR 1999-IX, 75, § 49 – Serif/Griechenland. 31 EGMR (GK), Urt v 1.7.2014, 43835/11, NJW 2014, 2925, § 108 – S.A.S./Frankreich. 32 Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 17 Rn 136 ff; vgl auch v Ungern-Sternberg in: Karpenstein/Meyer, EMRK, Art 9 Rn 43 ff. 33 EGMR (GK), Urt v 10.11.2005, 44774/98, NVwZ 2006, 1389, § 107 – Leyla Şahin/Türkei; Urt v 10.6.2010, 302/02, NVwZ 2011, 1506, § 119 – Jehova’s Witnesses of Moscow ua/Russland.
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her können Kopftücher in staatlichen Institutionen verboten werden.34 Gleiches gilt nach einem sehr umstrittenen Urteil auch für ein Verbot der Ganzkörperverhüllung in der Öffentlichkeit, weil hier das gesellschaftliche Miteinander bedroht sei.35 Im Übrigen darf aber religiös geprägte Kleidung in der Öffentlichkeit getragen werden.36 Voraussetzung aller Maßnahmen ist jedoch, dass der Staat in der Auseinander- 19 setzung neutral bleibt, sich also nicht mit einer Religion identifiziert. Mischt er sich dagegen in religiöse Auseinandersetzungen ein oder bezieht er sonstwie Position, ist eine Beschränkung regelmäßig unzulässig.37 Eine Staatskirche ist zulässig, wenn auch für die anderen Religionsgemeinschaften und deren Angehörigen volle Religionsfreiheit gewährleistet ist, mit anderen Worten, weder Zwang noch Druck gegenüber Nichtmitgliedern ausgeübt wird.38
b) Allgemeine, religionsunspezifische Gesetze Erweisen sich allgemeine Gesetze nach Ansicht des EGMR anders als im Normal- 20 fall (→ Rn 9) als Beschränkung der Religionsfreiheit, wurden sie überwiegend als gerechtfertigt angesehen. Dies gilt etwa für spezifische Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Schächten.39
c) Religion und Haft Auch in Haftanstalten muss die Ausübung ihrer Religion ermöglicht werden, kon- 21 kret in Form von Gottesdienstbesuch und seelsorgerischer Betreuung. Ebenso sind Speise- und Bekleidungsvorschriften zu berücksichtigen.40
34 EGMR (GK), Urt v 10.11.2005, 44774/98, NVwZ 2006, 1389, §§ 115 ff – Leyla Şahin/Türkei; Urt v 26.22.2015, 64846/11, §§ 60 ff – Ebrahimian/Frankreich; anders aber für einen zum Erscheinen vor Gericht verpflichteten Zeugen Urt v 5.12.2017, 57792/15, §§ 37 ff – Hamidović/Bosnien-Herzegowina. 35 EGMR (GK), Urt v 1.7.2014, 43835/11, NJW 2014, 2925, § 108 – S.A.S./Frankreich; abl v Ungern-Sternberg in: Karpenstein/Meyer, EMRK, Art 9 Rn 45. 36 EGMR, Urt v 23.2.2010, 41135/98, §§ 50 ff – Ahmet Arslan ua/Türkei. 37 EGMR (GK), Urt v 18.2.1999, 24645/94, EuGRZ 1999, 213, §§ 39 f – Buscarini ua/San Marino; Urt v 14.12.1999, 38178/97, ECHR 1999-IX, 75, §§ 51 ff – Serif/Griechenland; Urt v 22.1.2009, 412/03 und 35677/04, §§ 139 ff – Holy Synod of the Bulgarian Orthodox Church/Bulgarien. 38 Vgl auch EKMR, Beschl v 8.3.1976, 7374/76, DR 5, 157 – X/Dänemark. 39 EGMR (GK), Urt v 27.6.2000, 27417/95, ECHR 2000-VII, 233, §§ 73 ff – Cha’are Shalom ve Tsedek/ Frankreich. 40 EGMR, Urt v 29.4.2003, 38812/97, ECHR 2003-V, 91, §§ 166 f – Poltoratskiy/Ukraine; Urt v 7.12.2010, 18429/06, NVwZ-RR 2011, 961 ff, §§ 52 f – Jakóbski/Polen.
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d) Religionsgemeinschaftliches Arbeitsrecht 22 Kraft ihres Selbstbestimmungsrechts dürfen Religionsgemeinschaften auch personalpolitische Entscheidungen nach eigenen Maßstäben treffen und sich von Personen trennen, deren Religion oder Verhalten von Vorgaben der Religionsgemeinschaft abweicht. Allerdings muss die Tätigkeit der Person eine hinreichende Nähe zum Verkündungsauftrag der Religionsgemeinschaft aufweisen,41 und zudem ist auch hier die Verhältnismäßigkeit zu beachten.42
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Lösung 2: Fraglich ist zunächst, ob Art 9 EMRK anwendbar ist. Beide Angestellte tragen das Kreuz aus religiösen Gründen. Daher ist ihr Verhalten als Bekenntnis einer Religion im Sinne von Art 9 EMRK anzusehen. Die erlittenen arbeitsrechtlichen Nachteile bilden Beschränkungen, die im jeweiligen Arbeitsrecht eine gesetzliche Grundlage finden. Im Fall der Stewardess geht es dem Arbeitgeber allerdings nur um die Bewahrung der „corporate identity“. Diesem Anliegen kommt vergleichsweise wenig Gewicht zu, zumal bei anderen Arbeitnehmern Ausnahmen gemacht worden waren. Daher setzt sich hier die Religionsfreiheit durch. Im Fall der Krankenschwester hingegen geht es auch um gesundheitliche Risiken bei allen Beteiligten, denn es ist vorstellbar, dass sich ein alter Mensch ggf gegen bestimmte Maßnahmen wehrt und dann auch in die Kette greift. Hier setzt sich daher das Interesse des Arbeitgebers durch. Art 9 EMRK ist also im ersten Fall verletzt, im zweiten nicht.
Lösung 3: Fraglich ist zunächst, ob Art 9 EMRK anwendbar ist. Vorliegend geht es unstreitig um Religionsgemeinschaften. Zur Freiheit nach Art 9 gehört es aber auch, sich frei von staatlichem Einfluss zu organisieren. Vorliegend hat der Staat interveniert; damit liegt eine Beschränkung vor. Erforderlich ist zunächst eine gesetzliche Grundlage. Die Einseitigkeit der staatlichen Intervention fand jedoch keine Grundlage im nationalen Recht. Daher wird Art 9 EMRK verletzt.
41 EGMR, Urt v 23.9.2010, 1620/03, EuGRZ 2010, 560, §§ 69 ff – Schüth/Deutschland; Urt v 12.6.2014, 56030/07, § 131 – Fernández Martinez. 42 EGMR, Urt v 23.9.2010, 425/03, EuGRZ 2010, 571, §§ 48 ff – Obst/Deutschland, sowie Urt v 23.9.2010, 1620/03, EuGRZ 2010, 560, § 69 – Schüth/Deutschland.
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§ 4.3.2 Schutz der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach der GRCh Leitentscheidungen: EuGH, Urt v 29.5.2018, Rs C‑426/16, NVwZ 2018, 1283 – Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen ua; Urt v 17.12.2020, Rs C-336/19, NVwZ 2021, 219 – Centraal Israëlitisch Consistorie van België ua. Schrifttum: Classen, Kirchliches Arbeitsrecht unter Druck, EuR 2018, 752; Bilz, Margin of Appreciation der EU-Mitgliedstaaten, 2020, S 246 ff; Finke, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl, München 2020, § 33; Heinig, Die Säkularität des Rechts im Spiegel der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZevKR 64 (2019), 289 ff.
Fall 4 (EuGH, Urt v 17.12.2020, Rs C-336/19, NVwZ 2021, 219 – Centraal Israëlitisch Consistorie van België ua): Die auf Art 37 EGV (heute Art 43 AEUV) gestützte VO 1099/2009, ABl 2009 Nr. 303/1 verpflichtet dazu, Tiere vor dem Schlachten zu betäuben (Art 4 I). Art 4 IV macht jedoch eine Ausnahme für „Tiere, die speziellen Schlachtmethoden unterliegen, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind.“ Art 26 IV dieser Verordnung wiederum gestattet den Erlass von Vorschriften, die im Bereich von Art 4 IV der Verordnung einen strengeren Tierschutz vorsehen. Allerdings dürfen diese strengeren Vorschriften Importfleisch nicht entgegengehalten werden. Die flämische Regierung erlässt 2018 ein Dekret, wonach alle Tiere vor dem Schlachten zu betäuben sind. Hiergegen klagen muslimische und jüdische Organisationen, weil ihnen damit die Möglichkeit genommen werde, in Übereinstimmung mit ihren religiösen Geboten Tiere zu schlachten. Das angerufene Gericht fragt den EuGH, ob das Unionsrecht so ausgelegt werden kann, dass das Schächten verboten werden darf, und wenn ja, ob Art 26 IV der Verordnung mit Art 10 GRCh vereinbar ist.
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I. Entwicklung und Normenbestand Bereits 1976 hat der EuGH die Religionsfreiheit als allgemeinen Rechtsgrundsatz 26 anerkannt.43 Heute ist sie zusammen mit der Gedanken- und der Gewissensfreiheit in Art 10 I GRCh verankert, der wörtlich mit Art 9 I EMRK übereinstimmt. Dementsprechend kommt für Inhalt und Schranken Art 52 III GRCh zum Tragen, wonach Art 10 GRCh „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ zukommt wie Art 9 EMRK. Daneben garantiert Art 10 II GRCh das Recht zur Kriegsdienstverweigerung, allerdings nur in dem vom jeweiligen nationalen Recht anerkannten Rahmen. Nach Redaktion der Charta, nämlich im Jahre 2011, hat der EGMR allerdings aus Art 9 EMRK
43 EuGH, Rs 130/75, Slg 1976, 1589, Rn 12 ff – Prais.
Claus Dieter Classen https://doi.org/10.1515/9783110716740-010
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
auch ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung abgeleitet (→ Rn 5). Praktisch bedeutungslos44 ist, ob damit der Schutz der Charta insoweit mittlerweile hinter dem der EMRK zurücksteht45 oder das systematische Argument mit Hinweis auf Art 52 III GRCh überwunden werden kann46. 27 Vor einer Diskriminierung aus religiösen Gründen schützen Art 21 GRCh sowie die Querschnittsklausel des Art 10 GRCh. Dieser Schutz hat im Unionsrecht eine deutlich größere Bedeutung erlangt als der Schutz nach Art 14 EMRK. Neben der großen Bedeutung des Schutzes vor Diskriminierung im Unionsrecht generell (→ Classen § 9.2 Rn 29) dürfte hierfür ursächlich sein, dass dieses insoweit auch eine ausdrückliche Kompetenz kennt (Art 19 AEUV), von der im Kontext der Religion mit der RL 2000/78, ABl 2000 Nr. L 303/16 auch Gebrauch gemacht worden ist. Erst dieses Sekundärrecht aber führt zur Anwendung der GRCh (→ Classen, § 9.2 Rn 61). In jedem Fall werfen Konflikte um die Religionsfreiheit, soweit sie die von dieser geschützten „Bräuche und Riten“ erfassen, regelmäßig sowohl ein Freiheits- als auch ein Gleichheitsproblem auf: wer sich in Übereinstimmung mit den Regeln seiner Religionsgemeinschaft verhalten will, benötigt ggf entsprechende Sonderregeln. Daher behandelt der EGMR Konflikte um religiöse Kleidung (→ Rn 18) oder das kirchliche Arbeitsrecht als Frage der Religionsfreiheit, der EuGH als Frage des religiösen Diskriminierungsverbots (→ Classen, § 9.2 Rn 62 f). 28 Nebenaspekte der Religionsfreiheit erwähnen Art 14 II GRCh – nachgebildet Art 2 ZP 1 zur EMRK (→ Germelmann, § 7.1 Rn 43) – sowie Art 13 AEUV. Der in Art 22 GRCh verankerte Grundsatz (Art 52 V GRCh)47 der Vielfalt der Religionen richtet sich nur an die Union und hat bisher, insbesondere, soweit es um die Religion geht, keine praktische Bedeutung erlangt. Art 17 AEUV hat allein kompetenzrechtlichen Charakter und schützt (nur) den Status von Religionsgemeinschaften vor dem Zugriff durch die Union.48 Insoweit sind dann die Mitgliedstaaten für den Schutz der Religionsfreiheit verantwortlich.49
44 McCrea, in: Peers ua, The EU Charter of Fundamental Rights, Rn 10.30. 45 So Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt ChGr, Art 10 Rn 18 f. 46 So Muckel, in: Stern/Sachs GRCh, Art. 10 Rn 57. 47 Ennuschat, in: Stern/Sachs GRCh, Art. 22 Rn 6; offen Craufurd Smith, in: Peers ua, The EU Charter of Fundamental Rights, Rn 22.40; zur Bedeutungslosigkeit der Norm in der EuGH-Rechtsprechung Rn 22.49. 48 EuGH, Urt v 11.9.2018, Rs C-68/17, NJW 2018, 3086, Rn 48 – IR. 49 Classen in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 17 AEUV Rn 4.
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II. Anwendungsbereich und Schutz vor Beschränkungen Für den sachlichen und personellen Anwendungsbereich sowie den Beschrän- 29 kungsbegriff kann auf die Ausführungen zur EMRK verwiesen werden (→ Rn 2 ff). So schützt auch die GRCh das „forum externum“ der Religionsfreiheit50 sowie der Gewissensfreiheit51.
III. Rechtfertigung von Beschränkungen Beschränkungen der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit müssen zunächst 30 den in Art 52 I GRCh genannten Voraussetzungen Rechnung tragen: Gesetzesvorbehalt sowie Achtung von Wesensgehalt und Verhältnismäßigkeit. In Übereinstimmung mit Art 52 III GRCh betont der EuGH zudem, dass die Anforderungen der EMRK eine Mindestgarantie bilden.52 Der bei der EMRK zentrale mitgliedstaatliche Beurteilungsspielraum bei Beschränkungen (→ Rn 17) ist im Rahmen des Unionsrechts allerdings nur begrenzt bedeutsam. Die Grundrechte kommen gegenüber Mitgliedstaaten nur im Rahmen der Durchführung des Unionsrechts zur Anwendung (Art 51 GRCh), und dann bestimmt zunächst dieses den Spielraum der Mitgliedstaaten.53 Praktische Relevanz hat die Religionsfreiheit nur sporadisch entfaltet. Zu nennen sind das Asylrecht,54 das Schächten55 sowie das kirchliche Arbeitsrecht (→ Classen, § 9.2 Rn 63).
50 EuGH, Urt v 29.5.2018, Rs C‑426/16, NVwZ 2018, 1283, Rn 44 – Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen ua, mit Hinweis auf die Judikatur des EGMR. 51 Muckel, in: Stern/Sachs GRCh, Art. 10 Rn 13. 52 Zur Religionsfreiheit EuGH, Urt v 17.12.2020, Rs C-336/19, NVwZ 2021, 219, Rn 56 – Centraal Israëlitisch Consistorie van België ua. 53 Dazu Bilz Margin of Appreciation der EU-Mitgliedstaaten, S 115 ff. Beispielhaft etwa Art 26 IV VO 1099/2008, ABl 2009 Nr. 303/1; dazu → Rn 31 ff; Art 4 II RL 2000/78, ABl 2000 Nr. L 303/16; → Classen, § 9.2 Rn 63. 54 EuGH, Urt v. 5.9.2012, verb Rs C-71/11 und 99/11, Rn 56 ff – Y und Z, zum Begriff der Religionsfreiheit im Kontext religiöser Verfolgung (Art 9 I lit a RL 2004/83, ABl 2004 Nr L 304/12. 55 Art 4 IV VO 1099/2009, ABl 2009 Nr 303/1, und dazu einerseits EuGH, Urt v 29.5.2018, Rs C‑426/16, NVwZ 2018, 1283, Rn 58 ff – Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen ua (Schlachthofpflicht ist auch bei begrenzten Kapazitäten kein Eingriff in die Religionsfreiheit) sowie andererseits EuGH, Urt v 17.12.2020, Rs C-336/19, NVwZ 2021, 219, Rn 50 ff – Centraal Israëlitisch Consistorie van België ua mit entgegengesetzten Schlussanträgen von GA Hogan vom 10.9.2020, Rn 84 ff. zur Zulässigkeit nationaler Schächtverbote (dazu Fall 4).
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Lösung 4: Art 26 IV VO 1099/2009, ABl 2009 Nr L 303/1 gestattet, nach nationalem Recht eine Ausnahme von der in Art 4 IV VO der Verordnung vorgesehenen Regelung vorzusehen, dass bei Schlachtungen nach religiösem Ritus keine Betäubung erfolgen muss. Fraglich ist aber, ob die Religionsfreiheit einem generellen Betäubungsgebot entgegensteht. Die Anwendbarkeit von Art 10 GRCh richtet sich zunächst nach 51 GRCh. Soweit die Mitgliedstaaten die Verordnung anwenden, sind sie an die Unionsgrundrechte gebunden. Fraglich ist allerdings, ob das auch gilt, wenn ein Mitgliedstaat von im Unionsrecht vorgesehenen Ausnahmen Gebrauch macht. Weil eine Ausnahme, die mit den Grundrechten nicht vereinbar wäre, die unionsrechtliche Ausnahmebestimmung unwirksam machen würde, liegt hier ebenfalls ein Fall von Art 51 GRCh vor. Fraglich ist dann die Anwendbarkeit von Art 10 GRCh. Weil diese Norm aus der EMRK (dort Art 9) übernommen worden ist, sind die zu Art 9 EMRK anerkannten Grundsätze heranzuziehen. Die Zubereitung von Speisen nach religiösen Riten fällt unproblematisch unter diese Norm. Dementsprechend stellt das flämische Verbot eine Beschränkung dar. Fraglich ist also, ob diese Beschränkung gerechtfertigt ist. Wäre sie es nicht, wäre zu prüfen, ob eine grundrechtskonforme Auslegung von Art 26 IV der VO möglich oder diese Ausnahmebestimmung rechtswidrig ist. Eine gesetzliche Grundlage für die Regelung ist vorhanden. Fraglich ist zunächst das legitime Ziel. Der primärrechtlich gewährleistete Tierschutz (Art 13 AEUV) lässt sich als Teil der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art 9 II EMRK begreifen. Fraglich ist dann die Verhältnismäßigkeit. Fraglich ist hier insbesondere, ob Muslime und Juden auf den Import geschächteten Fleisches verwiesen werden können. Immerhin nutzen nicht alle Mitgliedstaaten die Ausnahmeklausel, und das Unionsrecht gewährleistet, dass der Import nicht behindert werden darf. Der Generalanwalt hielt einen solchen Verweis für unzulässig und plädierte daher für eine restriktive, die flämische Regelung nicht einschließende Interpretation. Demgegenüber sah der Gerichtshof in der Ausnahmeklausel einen Beleg für die unterschiedlichen Einstellungen zu dieser Frage in den Mitgliedstaaten, was diesen einen weiten Beurteilungsspielraum verschaffe. Daher sei die Ausnahmeklausel nicht so zu interpretieren, dass sie einem nationalen Schächtverbot entgegenstünde.
Claus Dieter Classen
§ 4.4 Schutz des Aufenthalts und Asylrecht Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-348/96, Slg 1999, I-11 – Calfa; EGMR (GK), Urt v 23.2.2012, 27765/09 – Hirsi Jamaa ua/Italien; EuGH (GK), Urt v 6.9.2016, Rs C-182/15 – Petruhhin; EuGH (GK), Urt v 7.3.2017, Rs C-638/16 PPU – X u X; EuGH (GK), Urt v 19.6.2018, Rs C-181/16 – Gnandi: EuGH (GK), Urt v 13.11.2018, Rs C-247/17, Rn 46 f – Raugevicius; EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 u 8697/15 – N.D. u N.T./Spanien; EGMR (GK), Entsch v 5.5.2020, 3599/18 – M.N. ua/Belgien; EuGH (GK), Urt v 17.12.2020, Rs C-808/18 – Kommission/Ungarn. Schrifttum: Thym Reforming the Common European Asylum System, 2022; ders Menschenrechtliche Trendwende?, Zu den EGMR-Entscheidungen über „heiße Zurückweisungen“ an den EU-Außengrenzen und humanitäre Visa für Flüchtlinge, ZaöRV 2020, 989 ff; Giegerich Völker- und europarechtliche Perspektiven auf die Flucht, in: Oster/Vatter (Hrsg), Fluchtraum Europa, 2020, 69 ff; von Spee/Kakzad/Idler, ZAR 2020, 351 ff; Schorkopf Das Dublin-Recht in EU-Gesetzgebung und Anwendungspraxis – Strukturprobleme und Perspektiven, in: Ludwigs/Schmahl (Hrsg), Die EU zwischen Niedergang und Neugründung, 2020, 55 ff; ders Die Dublin III-Verordnung als Sinnbild dysfunktionaler EU-Gesetzgebung, ZG 2019, 1 ff; Weiß Zur Reform des Dublin-Systems angesichts seiner Dysfunktionalität, ZEuS 2019, 113 ff; Thym Sollbruchstellen des deutschen, europäischen und internationalen Flüchtlingsrechts, 2019; ders A Bird’s Eye View on ECJ Judgments on Immigration, Asylum and Border Control Cases, EJML 21 (2019), 166 ff; Groß Migrationsrelevante Freiheitsrechte der EU-Grundrechtecharta, ZAR 2013, 106 ff; Groß/Tryjanowski Der Status von Drittstaatsangehörigen im Migrationsrecht der EU – Eine kritische Analyse, Der Staat 2009, 259 ff; Peek Die zukünftige Entwicklung des europäischen Einwanderungs- und Asylrechts, ZAR 2008, 258 ff; Schorkopf (Hrsg) Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, 2006; Kluth Reichweite und Folgen der Europäisierung des Ausländer- und Asylrechts, ZAR 2006, 1 ff; M Wollenschläger Das Asyl- und Einwanderungsrecht der EU, EuGRZ 2001, 354 ff.
Rechtsakte: RL 2001/55/EG über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, ABl 2001 L 212/12 (Massenzustromrichtlinie); RL 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl 2011 L 337/9 (Qualifikationsrichtlinie); VO (EU) 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl 2013 L 180/31 (Dublin III-Verordnung); RL 2013/32 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes, ABl 2013 L 180/60 (Asylverfahrensrichtlinie); RL 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl 2013 L 180/96 (Aufnahmerichtlinie); VO (EU) 603/2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der VO (EU) 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zu Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist [...], ABl 2013 L 180/ 1 (EURODAC-Verordnung).
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1 Die Charta gewährleistet im zweiten Teil unter der Überschrift „Freiheiten“ zwei
Grundrechte, die aus systematischen Gründen in diesem Kapitel behandelt werden. Es handelt sich um das Recht auf Asyl (Art 18 GRCh) und das Recht auf Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art 19 GRCh). Diese Rechte haben eine besondere Nähe zu der Garantie der Menschenwürde und ihren Konkretisierungen in den Art 2–5 GRCh, weshalb sie besser zu den Gewährleistungen des ersten Teils der Charta passen. Aufgrund der materiellen Leitfunktion der EMRK in der Auslegung des EGMR für die hier in Rede stehenden Unionsgrundrechte (Art 6 III EUV, Art 52 III 1 GRCh)1 werden zunächst die Aufenthalt und Asyl berührenden Rechte der EMRK betrachtet (§ 4.4.1), bevor der Blick auf Art 18 und 19 GRCh gerichtet wird (§ 4.4.2). Dabei wird der Ausweisungs-, Abschiebungs- und Auslieferungsschutz als Recht auf Schutz des Aufenthalts zusammengefasst. Grund- und menschenrechtlich begründete Visaerteilungsansprüche, die zu einem faktischen Einreiserecht in das Unionsgebiet führen, um im Anschluss innerhalb der Mitgliedstaaten Asylanträge stellen zu können, wurden vom EuGH und EGMR aus kompetenziellen Gründen und Erwägungen zur Bestimmung der Jurisdiktionsreichweite abgelehnt.2
1 Dazu Schorkopf in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 6 EUV Rn 57 (68. EL Oktober 2019). 2 EuGH (GK), Urt v 7.3.2017, Rs C-638/16 PPU, Rn 44 f – X und X; EGMR (GK), Entsch v 5.5.2020, 3599/18, §§ 74, 120 ff – M.N. ua/Belgien.
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§ 4.4.1 Schutz des Aufenthalts und Asylrecht nach der EMRK Fall 1: (basierend auf EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 u 8697/15 – N.D. u N.T./Spanien): Herr A, ein über Libyen reisender malischer Staatsangehöriger und Frau B, eine über Marokko reisende kenianische Staatsangehörige, überwinden jeweils die spanische Staatsgrenze. Sie wollen in Spanien einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes stellen. Während A dies nach einer gefährlichen Bootsüberfahrt und dem zunächst unbemerkten Betreten des spanischen Hoheitsgebiets gelingt, nimmt B an der gewaltsamen Überwindung eines spanischen Grenzpostens in der spanischen Exklave Mellila an der nordafrikanischen Mittelmeerküste teil. Mit der Aktion gelingt es insgesamt 30 Personen ungeachtet tatsächlich vorhandener Antragsmöglichkeiten in der näheren Umgebung, die Grenzbeamten zu überrumpeln und auf das Gebiet der Exklave zu gelangen. In beiden Fällen verwerfen die zuständigen spanischen Behörden wenige Wochen später die Asylanträge von A und B aufgrund des illegalen Betretens des spanischen Hoheitsgebiets als unzulässig. Die Behörden kündigen zudem für A die Abschiebung nach Libyen, für B nach Marokko an. Während in Libyen die Staatsgewalt zerfallen ist, Bürgerkrieg herrscht und Asylsuchenden willkürliche Tötung oder die Unterbringung in von Kombattanten oder Menschenschmugglern betriebenen Folterlagern droht, gilt Marokko als sicherer Drittstaat.
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I. Schutzbereiche a) Ein Recht auf Asyl gewährleistet die Europäische Menschenrechtskonvention 3 als solches nicht.3 Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung jedoch über Einzelgewährleistungen der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle Elemente entwickelt, die zu Zurückschiebungs- und Abschiebungsverboten und damit aus konventionsrechtlicher Perspektive – zumindest zeitweise – zu menschenrechtlich begründeten Bleiberechten in Konventionsstaaten führen können. Den normativen Ausgangspunkt der Rechtsprechungslinien bildet die völkergewohnheitsrechtlich verankerte Befugnis der Staaten, das Überschreiten der Staatsgrenze, Bleibendürfen und ggf. Zurückführen durch und von Drittstaatsangehörigen zu kontrollieren und zu regulieren.4 Die Gewährleistungsgehalte aus Art 2, 3, 4 ZP 4 EMRK, Art 1 ZP
3 EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 und 8697/15, § 188 – N.D. und N.T./Spanien: „The Court would also emphasise that neither the Convention nor its Protocols protect, as such, the right to asylum.”; w Nachw zur Rspr bei Schabas EMRK, S 194. 4 EGMR (GK), Urt v 28.2.2008, 37201/06, § 124 – Saadi/Italien; EGMR (GK), Urt v 16.11.2016, 27765/09, § 113 – Hirsi Jamaa ua/Italien, jew mwN zur stRspr. Frank Schorkopf https://doi.org/10.1515/9783110716740-012
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7 EMRK und Art 8 EMRK schränken diese Befugnis indes in verschiedenen Konstellationen ein.5 4 b) Das Recht auf Leben aus Art 2 I 1 EMRK schützt die grundlegende physische Existenz des Menschen.6 Den Vertragsparteien obliegt hierzu eine Schutzpflicht im Sinne einer positive obligation, die sich nicht nur auf vorsätzliche staatliche Tötungshandlungen bezieht, sondern auch nicht intendierte und darüber hinaus nach der Rspr bereits auch drohende Todesgefahren einbezieht, die durch staatliche Handlungen, etwa die Auslieferung in einen Drittstaat, eintreten.7 Das ist insbesondere für Zielstaaten von Bedeutung, in denen betroffenen Menschen die Todesstrafe droht.8 Art 2 EMRK greift aber auch in Fällen der Asylantragstellung und löst, vor allem bei bekannten Risiken über Lebensgefahren im Zielstaat und greifbaren Informationsquellen hierzu, eine Prüfpflicht aus, ob Antragstellern bei einer Rückführung Lebensgefahr droht.9 Das Recht auf Leben wird damit im Asylkontext über eine prozedurale Prüfplicht als Ausdruck der staatlichen Schutzpflicht gesichert.10 Aufgrund der regelmäßig gemeinsamen oder zusammengezogenen Prüfung mit Art 3 EMRK nimmt es insoweit auch an der Nichtderogierbarkeit nach Art 15 II EMRK teil und ist damit notstandsfest. 5 Art 2 EMRK könnte in Zukunft in Fällen der sog „Klimaflucht“, die vom geltenden Flüchtlingsvölkerrecht indes nicht erfasst sind,11 eine gesteigerte Bedeutung erlangen, wenn der Heimatstaat von Menschen unterzugehen droht und so eine Lebensgefahr für dessen Bevölkerung entsteht. Der UN-Menschenrechtsausschuss hat 2019 mit Blick auf Art 6 I IPbpR (Recht auf Leben) und den vom ansteigenden Meeresspiegel besonders betroffenen pazifischen Inselstaat Kiribati festgestellt, dass der menschenrechtliche Schutz des Lebens mit Blick auf Rückführungshandlungen einen weiteren Anwendungsbereich als das Non refoulement-Gebot des internationalen Flüchtlingsrechts haben könnte.12 Der EGMR zieht – unter der ausdrücklichen
5 Kleinlein in: EnzEuR, Bd 10, § 19 Rn 8 aE: Garantien der EMRK erscheinen als „Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der staatlichen Souveränität bei der Migrationskontrolle und nicht die staatliche Kontrolle als an den Menschenrechten zu messender Eingriff.“ 6 Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl 2015, Art 2 Rn 6. 7 EGMR, Urt v 19.11.2009, 41015/04, § 99 – Kaboulov/Ukraine. 8 EGMR, Urt v 24.7.2014, 28761/11, § 576 – Al Nashiri/Polen; Schabas EMRK, S 145. 9 EGMR (GK), Urt v 23.3.2016, 43611/11, §§ 125–127 – F.G./Schweden. 10 Zuletzt etwa EGMR, Urt v 7.7.2022, 5418/15, §§ 115 ff – Safi ua/Griechenland = NLMR 4/2022, 1–7. 11 Dieses stellt auf staatliche Verfolgungshandlungen ab; angenommene Kausalitätsketten staatlicher Mitverursachungsanteile am Klimawandel lassen sich indes nicht als staatliche Verfolgungshandlung iSd Flüchtlingsvölkerrechts übersetzen, s Nümann, ZAR 2015, 165 (168 ff); Hanschel, ZAR 2017, 1 (3 f). 12 Human Rights Committee, Entsch v 24.10.2019, Dok CCPR/C/127/D/2728/2016, Rn 9.3 – Teitiota/Neuseeland, dazu Prechtl/Qistauri/Uerpmann-Wittzack, AVR 58 (2020), 349 ff.
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Betonung, die EMRK autonom auszulegen – regelmäßig gem Art 31 III 3 lit c) WVRK völker- und europarechtliche Normschichten und Entscheidungen der mit diesen verbundenen Spruchkörpern heran, um Gewährleistungen der EMRK inhaltlich zu konturieren und unter der Living instrument-Doktrin fortzuentwickeln.13 c) Beim Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe 6 oder Behandlung aus Art 3 EMRK handelt es sich um eine notstandsfeste (Art 15 II EMRK) Kerngewährleistung der EMRK, die im Asylrecht eine zentrale Rolle spielt. Sie überführt nämlich den in Art 33 GFK niedergelegten Grundsatz der Nichtzurückweisung (non refoulement) des internationalen Flüchtlingsrechts in das konventionsrechtliche Menschenrechtsschutzsystem.14 Die zu Art 2 EMRK dargelegte staatliche Prüfpflicht bei Rückführungen in andere Staaten (Rn 4) gilt auch im Rahmen von Art 3 EMRK.15 Art 3 EMRK schützt die psychische und physische Integrität.16 Im Kontext des 7 Asylrechts folgen aus Art 3 EMRK staatliche Schutzpflichten im Sinne von positive obligations sowohl für Vertragsparteien, die Personen unterzubringen und sie zu versorgen haben, als auch für jene, die betroffene Menschen in das Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei oder einen Drittstaat zurückführen wollen.17 Ob der Grenzübertritt nach nationalem Ausländerrecht oder Unionsrecht legal oder illegal erfolgte, ist für die Anwendbarkeit der Vorschrift ohne Belang.18 Um den Anwendungsbereich von Art 3 EMRK zu eröffnen, muss die (drohende) Behandlung eine gewisse Bedeutungsschwelle überschreiten, die der EGMR anhand der Umstände des Einzelfalls bestimmt (Dauer, physische und/oder psychische Auswirkungen sowie Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand Betroffener).19 Jedenfalls die völlige
13 Exemplarisch für die Betonung der Autonomie und die Heranziehung von Völker- und Unionsrecht etwa EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 u 8697/15, §§ 172 ff, 184, 187, 209 – N.D. u N.T./Spanien. 14 EGMR (GK), Urt v 21.1.2011, 30696/09, § 218 – M.S.S./Belgien und Griechenland: „one of the most fundamental values of democratic societies”; zum GFK-Bezug ausdr EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 und 8697/15, § 188 – N.D. u N.T./Spanien; zur dogmatischen Unterscheidung zwischen non refoulement im Flüchtlingsvölkerrecht und im Menschenrechtsschutz Walter in: ders/Burgi (Hrsg), Die Flüchtlingspolitik, der Staat und das Recht, 2017, S 7 (18 ff); Kau in: Uhle (Hrsg), Migration und Integration, 2017, S 19 (38 ff). 15 Oben, Fn 9. 16 Näher zum allg Gehalt der Tatbestandsmerkmale Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafe Germelmann § 4.1.1 Rn 26 ff. 17 Mit Blick auf eine Abschiebung von Italien nach Tunesien EGMR (GK), Urt v 28.2.2008, 37201/06, § 125, 146 – Saadi/Italien. 18 EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 u 8697/15, §§ 185–187 – N.D. u N.T./Spanien. 19 Hieraus folgt nicht die Pflicht, eine Wohnung oder finanzielle Leistungen zur Ermöglichung eines gewissen Lebensstandards bereitzustellen; vgl EGMR (GK), Urt v 21.1.2011, 30696/09, §§ 219 ff, 249 – M.S.S./Belgien und Griechenland; EGMR (GK), Urt v 4.11.2014, 29217/12, §§ 93 f, 108 ff – Tarakhel/Schweiz, jew mwN zur Intensitätsschwelle in Einzelfällen und der stRspr.
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Mittellosigkeit und Obdachlosigkeit ohne (tatsächlich erreichbare) staatliche Unterstützungsleistungen und Aussicht auf Besserung verletzt die Schutzpflicht aus Art 3 EMRK, wie mit Blick auf Rückführungen nach Griechenland und Italien vom EGMR festgestellt wurde.20 Wo eine solche Behandlung jedenfalls aufgrund sichtbarer Überlastungen des Zielstaates droht, hat der rückführungswillige Staat von diesem zuvor eine individuelle Zusicherung einzuholen, dass Betroffene angemessen untergebracht werden.21 Andernfalls verletzen auch rückführende Staaten ihre Schutzpflicht aus Art 3 EMRK, Menschen nicht in solche Situationen zu verbringen.22 Ähnliche Maßstäbe gelten für die Inhaftierung von Asylsuchenden im Verfahren mit Blick auf die Haftbedingungen.23 8 d) Das Verbot der Kollektivausweisung aus Art 4 ZP 4 EMRK steht trotz des mehr als zwanzigjährigen Abstands in einem entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit Art 1 ZP 7 EMRK, in dem Verfahrens- und Rechtsschutzgarantien gegen Abschiebungen bei vorherigem rechtmäßigem Aufenthalt niedergelegt sind. Die zweitgenannte Vorschrift in ZP 7 wurde zuerst verhandelt, jedoch als zu weitgehend abgelehnt und so zunächst das sehr viel abstraktere Kollektivausweisungsverbot in ZP 4 vereinbart, das als objektive Rechtspflicht verstanden wird.24 9 Die Gewährleistungen aus Art 1 ZP 7 EMRK, das die Bundesrepublik Deutschland im Juni 2023 noch nicht ratifiziert hat,25 spielen in der Rspr des EGMR insgesamt eine untergeordnete Rolle. Ein Bleiberecht vermitteln sie nicht. Dies verdeutlicht bereits der systematische Zusammenhang mit Art 3 I ZP 4 EMRK, der dieses Recht Angehörigen der Vertragsparteien vorbehält. Zudem können ausländische Personen gem Art 1 II ZP 7 EMRK schon vor Gewährung rechtlichen Gehörts (Abs 1 lit a) und der Inanspruchnahme von Rechtsbehelfen (Abs 1 lit b) sowie Rechtsbeistand (Abs 1 lit c) ausgewiesen werden. Die Betroffenen müssen die Ga-
20 EGMR (GK), Urt v 21.1.2011, 30696/09, §§ 230 f, 234, 263 f – M.S.S./Belgien und Griechenland; OVG Saarlouis, Urt v 15.11.2022, 2 A 81/22, BeckRS 2022 32449, Rn 19 ff; zu Italien exemplarisch VG Braunschweig, Beschl v 1.12.2022, 2 B 278/22, BeckRS 2022, 34577, Rn 24 ff. 21 Allgemeine Vereinbarungen zwischen den Staaten reichen nicht aus, s EGMR (GK), Urt v 4.11.2014, 29217/12, §§ 120–122 – Tarakhel/Schweiz. 22 EGMR (GK), Urt v 21.1.2011, 30696/09, §§ 352, 359 f – M.S.S./Belgien und Griechenland; EGMR (GK), Urt v 4.11.2014, 29217/12, § 122 – Tarakhel/Schweiz. 23 EGMR (GK), Urt v 21.1.2011, 30696/09, §§ 223 ff – M.S.S./Belgien und Griechenland: Verletzung von Art 3 EMRK ua wegen völliger Überfüllung, dauerhaftem Schlafen auf dem Boden, kaum Freigang und der einzigen Möglichkeit, Wasser zu trinken, aus der Toilette. 24 Schabas EMRK, S 1127. 25 https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/117/signatures?p_auth= FaP03e0d (Stand: 3.6.2023); zuletzt im Jahr 2010 berichtete die Bundesregierung, sie „prüft weiterhin eine Ratifikation des am 19. März 1985 unterzeichneten Protokolls“ (BT-Drs 17/1496 v 21.4.2010, S 9); seitdem fehlen Hinweise zum Fortgang.
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rantien also vom Ausland aus in Anspruch nehmen, wenn die Ausweisung im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist oder aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgt. Die anderen Konventionsrechte reichen in ihrer Schutzwirkung insbesondere deshalb weiter, weil der Anwendungsbereich der in Art 1 I ZP 7 EMRK niedergelegten Garantien ausdrücklich einen rechtmäßigen Aufenthalt voraussetzt. Das Merkmal verweist auf nationales Recht (und anwendbares Unionsrecht), dessen Anwendung lediglich einer Willkür- oder Unvertretbarkeitskontrolle durch den EGMR unterliegt.26 Damit fehlt es bei Asylsuchenden für die Schutzbereichseröffnung regelmäßig schon an einer aufenthaltsrechtlichen Regularisierung. So hat der EGMR in einem russischen Fall entschieden, dass ein Wiedereinreiseverbot eines über sieben Jahre dort rechtmäßig ansässigen georgischen Staatsangehörigen nach einem zweiwöchigen Aufenthalt auf Zypern im konkreten Fall Art 1 ZP 7 EMRK verletzte.27 Im unionsrechtlichen Kontext sind den verfahrensrechtlich ausgelegten Rechtsschutzgarantien zudem die konkreteren Vorschriften des Unionssekundärrechts und des nationalen Ausländerrechts praktisch vorgelagert und unterliegen dort behördlichen und gerichtlichen Kontrollmechanismen. Hieraus resultiert die im Asylkontext geringe praktische Bedeutung der Vorschrift. Soweit es in regulären Ausweisungs- und Abschiebekonstellationen um die Berücksichtigung sozialer und familiärer Bindungen geht, ist Art 8 EMRK spezieller. e) Das Verbot der Kollektivausweisung aus Art 4 ZP 4 EMRK setzt hingegen 10 keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Es gilt nach der Rspr ebenso wie Art 3 EMRK ausdrücklich auch bei illegalem Grenzübertritt.28 Zudem kommt die Vorschrift wie auch Art 3 EMRK nicht nur im Fall des Erreichens des Staatsgebiets zur Anwendung, sondern überall dort, wo betroffene Menschen der Hoheitsgewalt der Vertragsparteien im Sinne von Art 1 EMRK unterliegen.29 Es macht somit keinen Unterschied, ob es um eine Entfernung aus dem Staatsgebiet geht oder eine Hinderung des Zugangs zu diesem durch Abschiebung außerhalb desselben, was beispielsweise beim Aufgreifen auf Hoher See der Fall sein kann.30 Inhaltlich untersagt die Vorschrift den Vertragsparteien Abschiebungen von 11 Personengruppen nach generellen Kriterien wie der Staatsangehörigkeit oder ihrer ethnischen Herkunft.31 Zentrales dogmatisches Element ist der vom EGMR spiegel-
26 Schabas EMRK, S 1129 mwN. 27 EGMR, Urt v 12.2.2009, 2512/04, §§ 111 ff – Nolan u K./Russland. 28 EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 u 8697/15, §§ 185 f – N.D. u N.T./Spanien. 29 Dazu zusammenfassend Thym, ZaöRV 80 (2020), 989 (1003 ff). 30 EGMR (GK), Urt v 16.11.2016, 27765/09, §§ 177 f – Hirsi Jamaa ua/Italien; EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 und 8697/15, §§ 184, 187 – N.D. u N.T./Spanien. 31 Meyer-Ladewig/Harrendorf/König in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 4 ZP 4 Rn 1.
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bildlich zum Wortlaut entwickelte Asylverfahrensanspruch.32 Damit ist gemeint, dass eine Verletzung von Art 4 ZP 4 EMRK nach der Rspr stets vorliegt, wenn die Zurückschiebung oder Abschiebung einer Gruppe erfolgt, ohne dass dieser kollektiven Maßnahme eine Untersuchung der jeweiligen individuellen Umstände der Betroffenen und eine Entscheidung über diese zugrunde liegt.33 Dieser weite Schutzbereich ist vom EGMR indes in zwei Konstellationen nicht eröffnet: Erstens ist Art 4 ZP 4 EMRK nicht eröffnet, wenn eine Einzelfalluntersuchung schon wegen des vorwerfbaren Verhaltens Betroffener unterbleibt, etwa weil Mitwirkungspflichten verletzt werden.34 Zweitens ist Art 4 ZP 4 EMRK nicht anwendbar, wenn Menschen eine größere Personenzahl ausnutzen und in einer disruptiven Situation die Grenze gewaltsam überwinden und auf diese Art in nicht autorisierter Weise unter der Umgehung tatsächlich erreichbarer legaler Zugangswege einreisen.35 Einzelfragen dieser jüngeren Rechtsprechungslinie bedürfen derweil noch der weiteren Klärung in zukünftigen Entscheidungen.36 In einzelnen Kammerentscheidungen ist die Selbstausschlusskonstruktion auch ohne Erfüllung des Gewaltkriteriums angewandt worden. Eine kohärente Folgerechtsprechung zeichnet sich einstweilen noch nicht ab.37 12 f) Auch zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art 8 EMRK38 hat der EGMR entstehungsgeschichtlich noch nicht angedachte migrationsrechtliche Elemente entwickelt, aus denen sich Grenzen der Aufenthaltsbeendigung oder -versagung von oder gegenüber Ausländern ergeben, wenn diese in deren Familien- oder Privatleben eingreifen.39 Geschützt ist das tatsächlich geführte Familienleben, wobei der Umfang regelmäßig auf einen Kernbereich der Familie beschränkt ist; irrelevant dabei ist, ob ein Betroffener als Erwachsener oder als
32 Thym, ZaöRV 80 (2020), 989 (995): Schaffung eines faktischen Asylverfahrensgrundrechts, das „auch Personen ohne Schutzbedarf eine prozedurale Einzelfallentscheidung“ zusichert, „die die Begrenzung des Art 1 des Zusatzprotokolls Nr 7 auf den „rechtmäßigem Aufenthalt“ umging und letztlich ein „Asylverfahren light“ darstellt.“ 33 EGMR (GK), Urt v 16.11.2016, 27765/09, §§ 166, 185 f – Hirsi Jamaa ua/ Italien; EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 u 8697/15, § 186 – N.D. und N.T./Spanien. 34 EGMR, Beschl v 1.2.2011, 2344/02, § 7 – Dritsas ua/Italien; EGMR (GK), Urt v 16.11.2016, 27765/09, § 184 – Hirsi Jamaa ua/Italien. 35 EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 u 8697/15, § 201, u §§ Rn 206 ff zur Subsumtion im konkreten Fall – N.D. u N.T./Spanien; EGMR, Urt v 23.7.2020, 40503/17 ua, § 203 – M.K. ua/Polen. 36 Dazu mwN Thym, ZaöRV 80 (2020), 989 (997 ff). 37 S etwa EGMR, Urt v 5.4.2022, 55798/16 ua, §§ 112–121 – A. A. ua/Nordmazedonien; zusammenfassend und kritisch zu weiterer Folgerechtsprechung Schmalz ZAR 2021, 360 ff. 38 Dazu → Marsch, § 4.2.1 Rn 6 ff. 39 Näher zum entstehungsgeschichtlichen Hintergrund Thym in: Rubio-Marín, Human Rights and Immigration, 2014, 106 (108 Fn 15) und zur dogmatischen Trennung in Privat- und Familienleben ebd 114 f.
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Kind eingereist oder im Hoheitsgebiet der Vertragspartei geboren ist.40 In der Rspr ist beim Fehlen familiärer Bindungen nachrangig das Privatleben einschlägig, zu dem das Recht gehört, Beziehungen zu anderen Personen herzustellen und zu entwickeln.41 Im Grundsatz folgt aufgrund der völkerrechtlichen Befugnis der Vertragsparteien zur Zuwanderungskontrolle aus der Wohnsitznahme eines Ausländers keine menschenrechtlich induzierte statusrechtliche Inklusionspflicht oder, auch bei längerem Aufenthalt, ein automatischer Abschiebeschutz.42 Die Ausländerrechtsregime der Vertragsparteien kennen zahlreiche Differenzierungen von Aufenthaltserlaubnissen, die nach Zwecken, Zeiträumen (befristet/unbefristet) und Aufhebungsgründen unterscheiden und mit denen jede politische Gemeinschaft eigene, legitime Steuerungsinteressen verfolgt. Gleichwohl ist die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts für die Eröffnung des Schutzbereichs nicht von Bedeutung,43 sie spielt aber eine maßgebliche Rolle im Rahmen der Rechtfertigung (Rn 18).
II. Beeinträchtigung a) Das Recht auf Leben aus Art 2 I 1 EMRK kann durch faktische (beabsichtigte 13 oder unbeabsichtigte Tötung) oder rechtliche (Todesurteil) Handlungen, zudem durch aktuelle Lebensgefährdungen (lebensgefährliche Verletzungen), nach vereinzelter Rspr sogar bei potenziellen Lebensgefährdungen beeinträchtigt werden.44 Im Verhältnis von rückführungswilligen Vertragsparteien zu dritten Zielstaaten können die (Prüf-)Pflichten aus Art 2 EMRK auch beeinträchtigt sein, wenn die Gefahr von Dritten ausgeht, denen der Zielstaat erkennbar nicht begegnen kann oder begegnen will.45 Die Verbote des Art 3 EMRK werden verletzt, wenn eine Vertragspartei selbst eine Behandlung im genannten Sinn von Personen zu verantworten hat oder eine solche durch Verbringung in einen anderen Staat auslöst. b) Das Verbot der Kollektivausweisung aus Art 4 ZP 4 EMRK ist beeinträch- 14 tigt, wenn eine Untersuchung der individuellen Umstände Betroffener im Wege einer Kollektivausweisung unterbleibt, ohne dass eine der genannten Ausnahmen vorliegt. Die Verfahrens- und Rechtsschutzgarantien aus Art 1 ZP 7 EMRK sind beeinträchtigt, wenn Betroffene keine Gelegenheit hatten, diese vor Ausweisung oder,
40 Meyer-Ladewig/Nettesheim in: dies/von Raumer, EMRK, Art 8 Rn 78, 81. 41 Meyer-Ladewig/Nettesheim in: dies/von Raumer, EMRK, Art 8 Rn 53, 79. 42 EGMR (Pl), Urt v 28.5.1985, 9214/80 ua, § 67 – Abdulaziz ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 31.7.2008, 265/07, § 54 – Omoregie ua/Norwegen. 43 Nuanciert Hofmann in: Kluth/Heusch (Hrsg), Ausländerrecht, 2. Aufl 2021, Art 8 EMRK Rn 23 f. 44 Ausf Schübel-Pfister in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 Rn 15, 19. 45 Mit Referenzen aus der Rspr Nußberger NVwZ 2013, 1305 (1307).
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bei Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 2, nach erfolgter Ausweisung, dh überhaupt geltend zu machen. 15 c) Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art 8 EMRK wird bei Einschränkungen bestehender familiärer oder dem Privatleben unterfallender Bindungen durch ausländerrechtliche Maßnahmen (Aufenthaltsbeendigung, Rückführung, Versagung der Einreise und von Familienzusammenführung/-nachzug) beeinträchtigt.
III. Rechtfertigung 16 a) Die Gewährleistungen aus Art 2, 3 und 4 ZP 4 EMRK sind keiner Rechtfertigung
zugänglich. Für Art 3 EMRK ergibt sich dies bereits aus Art 15 II EMRK, für Art 2 EMRK in den hier einschlägigen Konstellationen aus dem engen Zusammenhang und teilweise der gemeinsamen Prüfung mit Art 3 EMRK durch den EGMR (Rn 4). Art 4 ZP 4 EMRK ist nicht notstandsfest, jedoch ist im Rahmen von Art 15 I EMRK der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten46 und es sind Umstände, unter denen die Aussetzung des Rechts aus Art 4 ZP 4 EMRK verhältnismäßig wäre, schwer denkbar. Im Übrigen nimmt der EGMR trotz formal erfolgter Einzelfallprüfungen oder Entscheidungen gleichwohl eine Verletzung an, wenn klare Indizien für Instruktionen gegenüber den zuständigen Behörden und Spruchkörpern bestehen, entsprechend gleichgerichtete Entscheidungen zu treffen.47 17 b) Eine Versagung der Gewährleistungen aus Art 1 ZP 7 EMRK ist nicht rechtfertigungsfähig. Im Rahmen des gem Abs 2 möglichen Verweises, die Rechte erst nach Vollzug der Ausweisung, also im Ausland wahrzunehmen, ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen. Hierbei muss die sofortige Vollziehung der Ausweisung in der Praxis des Konventionsstaats die Ausnahme darstellen; eine bloß floskelhafte Begründung des Vorliegens der Voraussetzungen seitens der Vertragspartei ist nicht ausreichend.48 18 c) Die Rechtfertigungsmöglichkeiten des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens richten sich nach Art 8 II EMRK. Hierzu hat der EGMR eine inzwischen sehr kasuistische Rechtsprechung etabliert, bei der im Ergebnis eine Einzelfallabwägung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten stattfindet. In dieser
46 Meyer-Ladewig/Schmaltz in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art 15 Rn 9. 47 EGMR, Urt v 5.2.2002, 51564/99, §§ 60–63 – Čonka/Belgien: ua politische Ankündigung, entspr Instruktionen an Behörden zu erlassen (§ 62); EGMR (GK), Urt v 3.7.2014, 13255/07, § 175 – Georgien/ Russland: Tausende gerichtliche Ausweisungsentscheidungen ggü georgischen Staatsangehörigen in kurzer Zeit, nachdem entspr Erlasse ergangen waren. 48 Zu diesen Gesichtspunkten Hoppe in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 ZP 7 Rn 8 mwN. Frank Schorkopf
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stehen sich Sicherheitsinteressen (bei Straftaten) und andere Ausweisungsinteressen des Staates aus Ordnungsgesichtspunkten und Belange des Einzelnen gegenüber. Zu diesen Belangen zählen ua die Dauer und insbesondere Rechtmäßigkeit des Aufenthalts sowie soziale und familiäre Bindungen und erfolgte Integrationsbemühungen (etwa erfolgreiche Schulbesuche).49 Unter außergewöhnlichen Umständen kann sich trotz nach nationalem Recht (bisher) unrechtmäßigen Aufenthalts eine konventionsrechtliche Pflicht zur Legalisierung desselben ergeben.50 Insbesondere bei von vornherein unrechtmäßigem Aufenthalt kommt dem Ausweisungsinteresse jedoch ein erhöhtes Gewicht zu, wenn der Aufenthalt nicht tatsächlich und über viele Jahre geduldet wurde. Lösung Fall 1: Mangels rechtmäßigem Aufenthalt in Spanien können A und B sich auf Rechte aus Art 1 ZP 7 EMRK nicht berufen. Dasselbe gilt mangels ersichtlicher familiärer Bindungen in Spanien und dem Umstand, dass innerhalb weniger Wochen keine zu berücksichtigenden sozialen Bindungen aufgebaut werden können für die Geltendmachung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art 8 I EMRK. Etwas anderes gilt für die Rechte aus Art 2, 3 und 4 ZP 4 EMRK. A ist illegal von Libyen nach Spanien eingereist. Allerdings hat er die spanische Grenze unbemerkt und nicht unter Gewaltanwendung unter Ausnutzung einer disruptiven Situation unter Überrumpelung von Grenzbeamten überschritten. Damit ist die von der Großen Kammer des EGMR in der Entscheidung N.D. und N.T. formulierte Ausnahme des Schutzbereichs von Art 4 ZP 4 EMRK nicht gegeben, nach einzelnen Kammerentscheidungen dagegen greift sie (Rn 11). Die Verwerfung seines Asylantrags als unzulässig allein aufgrund der nach nationalem Recht illegalen Einreise, ohne Berücksichtigung seiner individuellen Umstände verletzt somit – nach Maßgabe der Großen Kammer – sein „Asylverfahrensgrundrecht“. Zudem haben die spanischen Behörden weder geprüft, ob A Lebensgefahr oder Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen, der sie ihm durch die Abschiebung aussetzen könnten. Damit wurden angesichts der Lage in Libyen auch die in Art 2 und 3 EMRK verankerten, aus der staatlichen Schutzpflicht folgenden Prüfpflichten verletzt. B hat sich demgegenüber ungeachtet tatsächlich bestehender legaler Zugangswege, für deren Nichtinanspruchnahme kein plausibler Grund ersichtlich ist, die disruptive Situation der Überwindung des Grenzpostens durch Gewalt und Überrumpelung der Grenzbeamten zunutze gemacht. Damit hat sie sich wegen eines eigenen vorwerfbaren Verhaltens des Schutzbereichs von Art 4 ZP 4 EMRK begeben. Die Vorschrift ist somit nicht verletzt. Hinsichtlich Art 2 und 3 EMRK ist zu beachten, dass Marokko als sicherer Drittstaat gilt, dh die grundlegenden menschenrechtlichen Standards grundsätzlich einhält. Da B auch nichts Gegenteiliges, was zu einer Widerlegung dieser Vermutung
49 Näher zu den Kriterien und Beispielen aus der Rspr Schabas EMRK, S 394 ff; Meyer-Ladewig/Nettesheim in: dies/von Raumer, EMRK, Art 8 Rn 76 ff; Hofmann in: Kluth/Heusch (Hrsg), Ausländerrecht, 2. Aufl 2021, Art 8 EMRK Rn 38 ff; krit zur Anwendung der Kriterien durch die Rspr Murphy in: Thym (Hrsg), Questioning EU Citizenship, 2017, 287 (289 ff). 50 EGMR, Urt v 31.1.2006, 50435/99, §§ 37 ff – Rodrigues da Silva und Hoogkamer/Niederlande; EGMR, Urt v 4.12.2012, 47017/09, §§ 76 ff – Butt/Norwegen.
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führen könnte, vorgetragen hat und auch sonst keine gegenteiligen Informationen greifbar sind, kommt auch eine Verletzung der Prüfpflicht aus Art 2 und 3 EMRK nicht in Betracht. Entsprechende Rechtsverletzungen durch die Abschiebung drohen ihr nicht. Der Fall zeigt, dass die EMRK trotz fehlenden eigenen Asylrechts grundlegende, mit diesem verbundene Gewährleistungen in ihrer Entwicklung durch die Rechtsprechung effektiv schützt. Daneben findet auch mit Blick auf den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Staatsgebiet der Vertragsparteien eine am Einzelfall ausgerichtete menschenrechtliche Kohärenzkontrolle des nationalen Ausländerrechts statt. Sowohl im Schutz des Aufenthalts als auch im „Asyl“ wird, vorbehaltlich der nicht einschränkbaren Kerngewährleistungen, ein Ausgleich zwischen den grundlegenden Steuerungsinteressen der Vertragsparteien und damit den sie konstituierenden politischen Gemeinschaften und den Belangen betroffener Individuen gesucht.
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§ 4.4.2 Schutz des Aufenthalts und Asylrecht nach der GRCh Fall 2: (basierend auf EuGH (GK), Urt v 6.9.2016, Rs C-182/15 – Petruhhin): Herr P ist ein estnischer Staatsangehöriger, der wegen schweren gewerblichen Rauschgifthandels in Russland und anderen osteuropäischen Staaten seit Jahren auf der Webseite von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben ist. Im Sommer 2020 wird er während einer Routinekontrolle bei der Durchreise durch Lettland identifiziert und kommt in Lettland in Untersuchungshaft. Wenig später stellt die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation bei den lettischen Behörden einen Auslieferungsantrag. In diesem heißt es, dass gegen P bereits seit 2009 Ermittlungen wegen des bandenmäßigen Handelns großer Mengen von Betäubungsmitteln laufen, was nach den russischen Gesetzen eine Freiheitsstrafe von acht bis 20 Jahren nach sich ziehen kann. Die Generalstaatsanwaltschaft der Republik Lettland genehmigt die Auslieferung an Russland, auf der Grundlage des zwischen der Russischen Föderation und der Republik Lettland 2007 geschlossenen Abkommens über Rechtshilfe auf den Gebieten des Zivil-, Familien- und Strafrechts. Das Abkommen schränkt die Auslieferung nur mit Blick auf eigene Staatsangehörige ein und sieht für die Auslieferung anderer Personen keinerlei Vorbehalte vor. P geht gegen die Genehmigung der Auslieferung vor. Er wendet ein, dass es unionsrechtswidrig sei, wenn ein Unionsbürger ausgeliefert werde, ohne dass geprüft werde, ob im ersuchenden Staat das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Es lägen Berichte der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und der Venedig-Kommission vor, die von dauerhaft überfüllten russischen Haftanstalten sowie willkürlichen Gewalthandlungen durch Gefängnispersonal und der Duldung kriminell-hierarchischer Strukturen berichten. Der Oberste Gerichtshof Lettlands legt dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor. Die lettische Regierung wendet dort ein, dass die Russische Föderation Vertragspartei des Europaratsübereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ist.
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I. Schutzbereiche a) Das Asylrecht, das heißt das Recht eines Menschen, bei einem (Mitglied-)Staat, der 21 nicht sein eigener ist, um internationalen Schutz vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu bitten, steht bereits nach dem Wortlaut von Art 18 GRCh unter einem Konkretisierungsvorbehalt. Es wird nach Maßgabe zum einen der Genfer Flüchtlingskonvention51 mit ihrem Zusatzprotokoll52 und zum anderen des EU-Vertrages und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ge-
51 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v 28.7.1951, BGBl 1953 II, 559 = UNTS, Bd 189, 137. 52 Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v 31.1.1967, BGBl 1969 II, 1293 = UNTS, Bd 606, 267. Frank Schorkopf https://doi.org/10.1515/9783110716740-013
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währleistet. Die Bindung der Union an das Völkerrecht wiederholt die bereits geltende einseitige Verpflichtung der Union auf die beiden Verträge, die Art 78 AEUV als Maßstab für das Entwicklungsgebot einer gemeinsamen Asylpolitik benennt. Der Vorbehalt zugunsten der primärrechtlichen Verträge irritiert dagegen, denn eine bloße „Gewährleistung nach Maßgabe“ widerspricht der Funktion eines Grundrechts, Maßstab für und nicht Ausdruck des Handelns von Trägern hoheitlicher Gewalt zu sein. 22 Der Primärrechtsvorbehalt des Asylrechts erfüllt mehrere Funktionen. Zunächst ist das Protokoll Nr 24 zum Vertrag von Lissabon53 zu nennen, das die Asylgewährung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats durch andere Mitgliedstaaten grundsätzlich ausschließt. Die Mitgliedstaaten gelten untereinander als sichere Herkunftsstaaten. Eine Ausnahme besteht unter anderem für den Fall, dass der Vorschlag eines Sanktionsbeschlusses gegen einen Mitgliedstaat (Art 7 EUV) unterbreitet wurde. Der im Rahmen der Regierungskonferenz unternommene Versuch, das Asylrecht innerhalb der Union insgesamt aufzuheben, scheiterte wegen Zweifeln an der Vereinbarkeit eines solchen Schritts mit den völkerrechtlichen Pflichten der Genfer Flüchtlingskonvention.54 Zwei weitere Protokolle zum Vertrag von Lissabon (Nr 21 und 22) behalten dem inzwischen aus der EU ausgetretenen Vereinigten Königreich sowie Irland und Dänemark bestimmte Rechte in diesem Bereich vor, die die übrigen Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen haben.55 Für die zwei genannten Mitgliedstaaten ist deshalb stets zu prüfen, in welchem Umfang das Unionsrecht angewendet wird. Dieser Zustand differenzierter Integration des Politikbereichs „Asyl“ und das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik, mit entsprechender rechtlicher Ausgestaltung, führten zu der Entscheidung, das Asylrecht lediglich in dieser dogmatischen Konstruktion zu gewährleisten. Auch ein Ausweichen auf die EMRK kam in diesem Fall nicht in Betracht, weil die Konvention das Asylrecht de iure nicht kennt (Rn 3), sondern einzelne Schutzaspekte über Art 2, 3, Art 8 und Art 4 ZP 4 EMRK – im Ergebnis durchaus wirkungsvoll – garantiert (§ 4.4.1).56 23 Der Wortlaut der Vorschrift („Das Asylrecht wird […] gewährleistet.“) hat Anlass gegeben, den Status der Vorschrift als subjektives Recht in Frage zu stellen. Der Meinungsstreit knüpft daran an, dass auf die Genfer Flüchtlingskonvention und ihr Zusatzprotokoll über das Zurückweisungsverbot (non-refoulement) verwiesen wird, die nach der verbreiteten Staatenpraxis und einer starken, wenn auch nicht
53 ABl 2010 C 83/305. 54 Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union, 2000, Ziff 261. 55 ABl 2010 C 83/295 u 299. 56 Zimmermann in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 27 Rn 34 ff; Mole/Meredith Asylum and the European Convention on Human Rights, Human Rights Files No 9, Council of Europe, 2010, S 19 ff mwN zur Rspr-Entwicklung; Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 19 Rn 18: EGMR-Rspr als „Ersatzasylrecht“.
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unbestrittenen Literaturmeinung nur ein objektiv-rechtliches Gebot enthalten.57 Ausgenommen ist lediglich das Ausweisungs- und Zurückweisungsverbot (Art 33 GFK), das über Art 18 und 19 II GRCh subjektiviert ist.58 Gegen diese Ansicht spricht der Sinn und Zweck der Charta, mit der individualschützende Rechte sichtbar gemacht und – wenn notwendig – geschaffen werden sollten; allerdings ist für den Wortlaut von Art 18 GRCh eine zurückhaltende Formulierung gewählt worden, die dem Entwicklungsprozess dieses Sachthemas und wohl auch Meinungsverschiedenheiten im Konvent Rechnung trägt. Dies spricht dafür, dass es in der Europäischen Union derzeit kein Grundrecht auf Asyl im Sinne eines subjektiven Rechts gibt.59 Der EuGH hatte in zu entscheidenden Fällen – in Orientierung an der EMRK – vorrangig die Gewährleistungen aus Art 4 GRCh herangezogen,60 während Äußerungen zu Art 18 GRCh im oben genannten Sinne verstanden werden konnten.61 Der EuGH scheint jedoch weitergehend von einem subjektiven Asylrecht im Ganzen auszugehen, das durch Sekundärrechtsetzung ausgeformt wird, wie das Ende 2020 entschiedene Vertragsverletzungsverfahren über die Transitzonen in Ungarn vermuten lässt.62 Im Ergebnis ist zu beobachten, dass der EuGH die sekundärrechtlichen Direktiven des Unionsgesetzgebers stark betont, während er solche unmittelbar aus Art 18 GRCh nur zurückhaltend entwickelt.63
57 M Wollenschläger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 32. 58 EuGH, Urt v 24.6.2015, Rs C-373/13, Rn 65 – H.T.: „Überdies ist dieser Grundsatz der Nichtzurückweisung in den Art 18 und 19 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Grundrecht gewährleistet.“ 59 Kortländer in: Schwarze, EU-Komm, Art 18 GRCh Rn 2 mwN auch zu Gegenstimmen; Jarass, GRCh, Art 18 Rn. 15: „Art 18 selbst dürfte insoweit keine Rechte vermitteln. Subjektive Rechte können sich aber aus der Umsetzung von Art 22 ff RL 2011/95 ergeben; ausf zur problematischen Normstruktur des Art 18 GRCh Pabel in: EnzEuR, Bd 2, § 19 Rn 14–23. 60 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 18 Rn 17 stellt fest, dass der EuGH immer andere Bestimmungen (Art 4 und 10 GRCh) in den Blick genommen habe, „ohne Art 18 näher auszuformen“. 61 EuGH (GK), Urt v 6.12.2017, verb Rs C-643/15 und C-647/15, Rn 343 – Slowakei und Ungarn/Rat: „Es handelt sich vielmehr um eine auf Unionsebene getroffene Maßnahme zur Krisenbewältigung, die gewährleisten soll, dass das in Art 18 der Charta verankerte Grundrecht auf Asyl unter Beachtung der Genfer Konvention wirksam ausgeübt wurde.“; EuGH (GK), Urt v 19.6.2018, Rs C-181/16, Rn 53 – Gnandi: „Ferner ist festzustellen, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung in Art 18 und in Art 19 Abs 2 der Charta als Grundrecht gewährleistet ist [...].“. 62 EuGH (GK), Urt v 17.12.2020, Rs C-808/18, Rn 102 – Kommission/Ungarn: „The right to make such an application thus makes the effective observance of the applicant’s rights conditional on that application being registered and being able to be lodged and examined within the periods prescribed by Directive 2013/32 including, ultimately, the effectiveness of the right to asylum, as guaranteed by Article 18 of the Charter.“ 63 Das geltende Sekundärrecht der Union gewährleistet ein Antrags- und Verfahrensrecht auf internationalen Schutz gem Art 6 II und Art 7 I RL 2013/32/EU (sog Asylverfahrensrichtlinie) auch bei illegaler Einreise, vgl unter Betonung der unionsgesetzgeberischen Entscheidung zuletzt EuGH, Urt
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In der Europarechtspraxis wird das Asylrecht durch eine Reihe von Sekundärrechtsakten konkretisiert, die der Blaupause des justiz- und innenpolitischen Haager und seit 2009 des Stockholmer Programms des Europäischen Rates folgen, nach dem es bis spätestens zum Jahr 2014 ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) geben sollte.64 Mit dem Stockholmer Programm trat zeitgleich der Vertrag von Lissabon in Kraft, der Entscheidungsverfahren der EU-Migrations- und Asylpolitik verbessern und Zuständigkeiten klarer zuordnen sollte (Art 78–79 AEUV). Nachdem sich alle zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1990 auf einen völkerrechtlichen Vertrag geeinigt hatten, in dem sie den zuständigen Staat für die Prüfung eines in einem EG-Mitgliedstaat gestellten Asylantrages bestimmten,65 sollten gleichwertige Verfahren für die Prüfung von Asylanträgen eingeführt werden. Dies gelang im Jahr 1995 mit der Entschließung des Rates über Mindestgarantien für Asylverfahren.66 Seit dem Jahr 2000 wird mit einer Reihe von Sekundärrechtsakten eine Mindestharmonisierung der mitgliedstaatlichen Gesetzgebungen und eine Koordinierung der nationalen Asylregelungen angestrebt. Zu den wichtigsten Rechtsakten gehören die Massenzustromrichtlinie, die das Verfahren strukturierende Asylverfahrensrichtlinie, die Schutzstatus und Schutzgründe definierende Qualifikationsrichtlinie, die Aufnahme- und Unterbringungsstandards bestimmende Aufnahmerichtlinie und die Dublin III-Verordnung, die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats festlegt. Mit der EURODAC-Verordnung wurde zudem eine Fingerabdruckdatenbank errichtet, die einen verlässlichen Nachvollzug der Erstregistrierung Schutzsuchender zwischen den Mitgliedstaaten gewährleisten soll.67 Mit der erstrebten Vergemeinschaftung dieser Thematik sollte das Asylrecht als subjektives Recht erstarken, was allerdings vor dem Hintergrund einer in dieser Hinsicht fehlenden gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten nicht selbstverständlich ist. Der Wortlaut der Charta, der bislang gegen den Status als subjektives Recht angeführt wird, ändert seinen
v 30.6.2022, Rs C-72/22 PPU, Rn 58–61, 67 – M. A./Valstybes sienos apsaugos tarnyba = ZAR 2022, 299 (Ls); dazu Weber, ZAR 2023, 102 (104 aE f) mwN. 64 Rat, Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, ABl 2010 C 115/1; Kommission, Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms KOM (2010) 171 endgültig; Kommission, Aktionsplan für unbegleitete Minderjährige (2010–2014) KOM (2010) 213 endgültig; Schlussfolgerungen der 3018. Tagung des Rates (Justiz und Inneres) am 3./4.6.2010 mit der Forderung an die Kommission nur die Initiativen zu ergreifen, die voll und ganz mit dem Stockholmer Programm in Einklang stehen, Presse 161, 10630/10. 65 Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags (Dubliner Übereinkommen) v 15.6.1990, BGBl 1994 II, 791. 66 Entschließung des Rates über Mindestgarantien für Asylverfahren, ABl 1996 C 274/13. 67 Für die vollen Namen der Rechtsakte mit Fundstellen s oben unter Rechtsakte. Frank Schorkopf
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Aussagewert nicht dadurch, dass die Union rechtspolitisch einen Entwicklungsschritt macht – der Gerichtshof scheint dennoch einen Schritt hin zu einer Subjektivierung unternommen zu haben (Rn 23). Die seit der Migrationskrise diskutierte und durch zwei Reformvorschläge der Kommission aus den Jahren 2016 und 2020 begleitete Reformdiskussion um das Gemeinsame Europäische Asylsystem scheitert bislang an der politischen Einigung auf eine für alle Mitgliedstaaten akzeptable und damit vollzugstaugliche Neufassung der Dublin III-Verordnung.68 b) Der Schutzbereich des Rechts auf Schutz vor Abschiebung, Ausweisung 25 und Auslieferung (Art 19 GRCh) besteht im Grunde in dem Recht auf Leben und Unversehrtheit des Menschen. Da diese Rechte in eigenständigen Grundrechten (Art 2–4 GRCh, Rn 17 ff) gewährleistet sind, wird deutlich, dass im Mittelpunkt von Art 19 GRCh bestimmte Modalitäten stehen, unter denen diese Rechtsgüter beeinträchtigt werden. Der Staat oder ein anderer verantwortlicher Träger hoheitlicher Gewalt greift in das Recht ein, indem er einen Menschen zur Ausreise aus dem Staatsgebiet auffordert (Ausweisung), dieses Ausreisegebot zwangsweise durchsetzt (Abschiebung) oder die Person auf Ersuchen zwangsweise aus dem Bereich inländischer Hoheitsgewalt entfernt und an eine ausländische Hoheitsgewalt überstellt (Auslieferung). Da der Europäische Haftbefehl – aus Perspektive der Union – die zwischenstaatliche Auslieferung durch das neue Rechtsinstitut der Übergabe einer Person zwischen der den Haftbefehl ausstellenden und der ihn vollstreckenden Justizbehörde ersetzt hat,69 fallen die Handlungen nach dem entsprechenden Rahmenbeschluss nicht in den Anwendungsbereich des Grundrechts. Bei diesen Handlungen ist es dem Träger hoheitlicher Gewalt untersagt, einer- 26 seits Kollektivausweisungen im Sinne abstrakt-genereller Massenausweisungen vorzunehmen (Art 19 I GRCh), womit die parallele Gewährleistung aus Art 4 ZP 4 EMRK in das Unionsrecht einbezogen wird.70 Andererseits darf niemand in einen Staat ausgewiesen, abgeschoben oder ausgeliefert werden, in dem speziell für den Betroffenen das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder ähnlicher Behandlung droht (Art 19 II GRCh). Art 19 I GRCh entspricht Art 4 ZP 4 EMRK und Art 19 II GRCh entspricht Art 3 EMRK, so dass die Rechtsprechung des EGMR gem Art 52 III 1 GRCh im Rahmen der Auslegung der Unionsgrundrechte durch den
68 Zur Dysfunktionalität der Dublin III-VO Schorkopf, ZG 2019, 1 ff; KOM (2020) 609, Überblick zur Reformdebatte ua bei Thym Reforming the Common European Asylum System, 2022; von Spee/Kakzad/Idler, ZAR 2020, 351 ff. 69 S die 5. Begründungserwägung und Art 9 ff des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, 2002/584/JI, ABl 2002 Nr L 190/1; zu der Konzeption Vogel, JZ 2001, 937 ff. 70 Zur Gewährleistungsreichweite und Ausnahmen in der EGMR-Rspr oben, Rn 10 f.
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EuGH zu beachten ist.71 Insoweit wird auf die Ausführungen zu Art 4 ZP 4 EMRK verwiesen (Rn 10 f). In der Entsprechung von Art 19 II GRCh zu Art 3 EMRK in der Auslegung des EGMR zeigt sich eine gewisse Dopplung, da bereits der jeweilige Wortlaut von Art 3 EMRK und Art 4 GRCh identisch sind. In der Rechtsprechung des EuGH kommt im Rahmen asylrechtlicher Überstellungen und dem Vollzug europäischer Haftbefehle bisher stets Art 4 GRCh zur Anwendung, auch unter Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR.72 In der Literatur wird derweil die Frage aufgeworfen, ob Art 19 II GRCh in diesem Zusammenhang spezieller ist und besser passt.73 Von Art 19 II GRCh ist jedenfalls die Auslieferung eines Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats an einen Drittstaat erfasst.74 Der EuGH hat die von ihm zu Art 4 GRCh in Anlehnung an den EGMR entwickelten Prüfpflichten der Mitgliedstaaten, ob im ersuchenden Drittstaat eine Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung besteht, auf Art 19 II GRCh übertragen. Die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaates muss sich demnach auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben internationaler Gerichte, des ersuchenden Drittstaates und/oder Berichte und andere Schriftstücke von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen stützen.75 27 Bei dieser Rechtslage wird deutlich, dass das Grundrecht sich in der gegenwärtigen Europarechtspraxis auf die Außenbeziehungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten beschränkt. Das Protokoll über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von EU-Mitgliedstaaten (Rn 22) entfaltet auch in diesem Fall seine Wirkung. Denn bereits nach den Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft – wie auch für den Verbleib in der Union – sollen mitgliedstaatliche Zustände, wie sie Art 19 GRCh voraussetzt, ausgeschlossen sein. Die 2010er Jahre haben gezeigt, dass die Heterogenität der EU-Mitgliedstaaten ein Maß erreicht hat, die diese normative Fiktion in Einzelfällen nicht mehr haltbar erscheinen lässt. Der EuGH hat vor dem Hintergrund der Lage in Griechenland und der vorlaufenden EGMR-Rechtsprechung festgestellt, dass ein Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ überstellt
71 Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 55. 72 S dazu → Edenharter, § 4.1.2 Rn 18. 73 Jarass GRCh, Art 4 Rn 14 Fn 60 aE: „Die Frage ist, ob insoweit Art 19 Abs 2 nicht besser passt.“; ähnlich Borowsky in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 4 Rn 24 Fn 179; explizit für eine Anwendbarkeit von Art 19 II GRCh auf Überstellungen im GEAS und Europäischem Haftbefehlssystem Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 19 Rn 18. 74 EuGH (GK), Urt v 6.9.2016, Rs C-182/15, Rn 52 f – Petruhhin, betreffend ein Auslieferungsersuchen wegen des Betäubungsmittelhandels eines estnischen Staatsangehörigen von Russland ggü Lettland, wobei der EuGH jedoch sogleich auf seine eigene Rspr zu Art 4 GRCh in Anlehnung an den EGMR verweist und diese referiert (Rn 56 f); EuGH (GK), Urt v 19.6.2018, Rs C-181/16, Rn 53 f – Gnandi betreffend die Ausweisung eines togolesischen Staatsangehörigen. 75 EuGH (GK), Urt v 6.9.2016, Rs C-182/15, Rn 59 – Petruhhin.
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§ 4.4.2 Schutz des Aufenthalts und Asylrecht nach der GRCh
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werden darf, wenn nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.76 Die Prüfpflichten werden im Rahmen höchstgerichtlicher Kontrolle auf nationaler Ebene unterstützt.77 Diese bereits knapp zehn Jahre anhaltende Entwicklung stellt das politische Bemühen um ein unionsweites Gemeinsames Europäisches Asylsystem prinzipiell in Frage. Die seit der Migrationskrise diskutierte und durch zwei Reformvorschläge der Kommission aus den Jahren 2016 und 2020 begleitete Reformdiskussion um das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat bislang zu keinem tragfähigen Konsens geführt (s auch Rn 24).78
II. Beeinträchtigung Der Schutzbereich des Asylrechts wird beeinträchtigt, wenn ein Asylsuchender aus 28 dem Staat, in dem er Schutz vor Verfolgung sucht, ausgewiesen, oder bereits an der Grenze zurückgewiesen wird, mit der Folge, dass der Betroffene wieder in seinen Herkunftsstaat oder in den Drittstaat, aus dem er einreisen wollte, gebracht wird. Der Schutzbereich von Art 19 GRCh wird durch eine Ausweisung, Abschiebung 29 oder Auslieferung beeinträchtigt. Unter Ausweisung wird die Verpflichtung verstanden, das Land zu verlassen, eine Abschiebung ist der zwangsweise Vollzug der-
76 EuGH, NVwZ 2012, 417, Rn 94 – N.S./Secretary of State for the Home Department ua, das Urteil (Rn 88) folgt EGMR (GK), Urt v 21.1.2011, 30696/09, NVwZ 2011, 413 – M.S.S./Belgien und Griechenland; in Deutschland wurde das Verfassungsbeschwerde-Verfahren 2 BvR 2015/09 mit Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG v 25.1.2011 eingestellt, nachdem das Bundesministerium des Innern das Bundesamt für Migration angewiesen hatte, generell von Überstellungen Asylsuchender nach Griechenland abzusehen und die Schutzgesuche im nationalen Verfahren zu prüfen. S dazu auch Europäischer Rat, Schlussfolgerungen der Tagung v 23./24. 6. 2011, EUCO 23/1/11, Ziff 20–30 und Rat für Inneres und Justiz, Pressemitteilung zur 3151. Sitzung des Rates v 8.3.2012, Dok Nr 7308/12, 7–8, betreffend den Greek national action plan on asylum and migration. 77 Die Abschiebung eines in Griechenland anerkannten Flüchtlings, der in Deutschland einen weiteren Antrag stellte, befand das BVerfG mangels Prüfung, ob die seit sechs Jahren andauernden systemischen Mängel im griechischen Asylsystem sich gebessert hätten, als Grundrechtsverletzung (Art 19 IV GG iVm Art 2 II 1 und 2 GG) – das bloße Abstützen auf eine Empfehlung der Kommission, Rücküberstellungen wieder aufzunehmen und der abstrakte Rückgriff auf den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens genügte nicht, vgl BVerfG, NVwZ 2017, 1196 Rn 14 ff. 78 Jarass GRCh, Art 19 Rn 7 mwN.
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selben und eine Auslieferung liegt in der Entfernung aus dem Gebiet des Mitgliedstaats, verbunden mit der Überstellung in den ersuchenden Staat.79
III. Rechtfertigung 30 Auf das Asylrecht (Art 18 GRCh) ist grundsätzlich die allgemeine Schranke der Char-
ta anzuwenden (Art 52 I GRCh). Der Hinweis in den Erläuterungen des Konvents, der auch in diesem Fall von der Literatur bestätigt wird, dass die Grundrechte wegen ihrer Nähe zur Menschenwürde schrankenlos gewährleistet seien, lässt sich mit Wortlaut und Systematik der Charta nicht vereinbaren. Die in der Sache berechtigte Aussage lässt sich dogmatisch besser dadurch absichern, dass jede Beeinträchtigung des Rechts bereits dessen Wesensgehalt berührt. Im Rahmen von Art 19 II GRCh ist die Rechtsprechung des EGMR zu Art 3 EMRK heranzuziehen, Art 52 III 1 GRCh (Rn 26). Da es sich insoweit um ein notstandsfestes Konventionsrecht handelt, das keiner Rechtfertigung zugänglich ist (Rn 16), kann für Art 19 II GRCh nichts anderes gelten.80 31 Das Verbot der Kollektivausweisung (Art 19 I GRCh) zählt ebenfalls zu den schrankenlosen Gewährleistungen der EMRK, die allerdings nicht von der absoluten Schranke des Art 15 EMRK erfasst wird. Die kollektive Ausweisung wäre demnach in Kriegs- und Notstandszeiten möglich, soweit eine solche Maßnahme überhaupt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfüllen kann (vgl Rn 16).
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Lösung Fall 2: Soweit es um die Auslieferung eines Unionsbürgers geht, der dem um Auslieferung ersuchten Mitgliedstaat nicht angehört, ist nach der Rechtsprechung des EuGH Art 19 II GRCh anwendbar (Rn 26). Unionsinterne Auslieferungen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls werden hingegen am Maßstab des Art 4 GRCh geprüft. Unionsbürger, die in ihrem Wohnsitzstaat „gut integriert“ sind, müssen nach der Rechtsprechung81 ebenso behandelt werden wie staatsangehörige Unionsbürger, weil erstere ihr Freizügigkeitsrecht ausgeübt haben (Art 18 iVm Art 21 I AEUV) – aufgrund der auslieferungsrechtlichen Gleichbehandlungspflicht stellt sich die Prüffrage des Art 19 dann gar nicht erst. Insoweit hat der EuGH im Anwendungsbereich von Art 19 II GRCh deutlich gemacht, dass der Verweis auf die Existenz und Erklärungen sowie den Abschluss völkerrechtlicher Verträge durch den ersuchenden Drittstaat, die grundsätzlich die Beachtung der Grundrechte gewährleisten, nicht ausreicht, um einen angemessenen Schutz vor der Gefahr von Misshandlungen sicherzustellen, wenn es
79 Weiß ZEuS 2019, 113 ff; Schorkopf, ZG 2019, 1 ff; ders in: Ludwigs/Schmahl (Hrsg), Die EU zwischen Niedergang und Neugründung, 55 ff; Giegerich in: Oster/Vatter (Hrsg), Fluchtraum Europa, 2020, 69 ff; von Spee/Kakzad/Idler, ZAR 2020, 351 ff. 80 Anders noch die Vorauflage; vgl auch Bernsdorff in Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 19 GRCh Rn 25. 81 EuGH (GK), Urt v 13.11.2018, Rs C-247/17, Rn 46 f – Raugevicius.
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vertrauenswürdige Quellen für Behördenpraxis oder von diesen tolerierte Praktiken gibt, die den Grundsätzen der EMRK zuwiderlaufen.82 Soweit der zuständigen Behörde des ersuchten Mitgliedstaates Anhaltspunkte vorliegen, die auf eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im ersuchenden Drittstaat hindeuten, sind sie bei der Prüfung des Auslieferungsersuchens verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen. Hierzu hat die Behörde objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben ua und – soweit möglich – Entscheidungen internationaler und nationaler Gerichten sowie Schriftstücke von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen heranzuziehen.83 Vor diesem Hintergrund dürfte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass eine Auslieferung an die Russische Föderation bei der derzeitigen Berichtslage unzulässig ist, weil sie materiell gegen Art 19 II GRCh verstoßen würde. Der EuGH hat zugleich hiermit verbundene, ebenfalls in der Norm enthaltene Prüfpflichten entwickelt.84 Der Fall zeigt, dass der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, der im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und dem Europäischen Haftbefehlssystem eine im Einzelfall zu widerlegende normative Grundvermutung menschenrechtskonformen Handelns mittransportiert, gegenüber Drittstaaten kein Äquivalent kennt. Die Unionsgrundrechte lassen beim Vorliegen von Anhaltspunkten in diesem externen Verhältnis keine Grundvermutung menschenrechtskonformen Verhaltens, die allein auf vereinbarte Rechtsnormen gestützt wird, zu.
82 EuGH (GK), Urt v 6.9.2016, Rs C-182/15, Rn 57 – Petruhhin. 83 EuGH (GK), Urt v 6.9.2016, Rs C-182/15, Rn 58 f – Petruhhin. 84 Die Regierung der Russischen Föderation hat am 10.3.2022 ihren Austritt aus dem Europarat erklärt und ist damit dem Ausschluss durch dessen Ministerkomitee am 16.3.2022 (Resolution CM/Res (2022)2) zuvorgekommen; die Mitgliedschaft Russland endete am 16.9.2022 und damit die völkerrechtliche Bindung an die EMRK. Die Entscheidung wird deshalb spätestens ab diesem Zeitpunkt stets ablehnend sein. Frank Schorkopf
§ 5 Kommunikationsgrundrechte § 5.1 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der EMRK I. Die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK 1 Kommunikationsgrundrechte leisten einen wesentlichen Beitrag zur Persönlich-
keitsentfaltung des Menschen, indem sie dessen Bedürfnis nach Mitteilung und Auseinandersetzung mit anderen schützen. Die freie Kommunikation ist aber auch von erheblicher gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, denn ohne sie ist Demokratie nicht denkbar. Mit seiner Rechtsprechung trägt der EGMR beiden Funktionen gleichermaßen Rechnung und hebt hervor, dass die Gewährleistung einer offenen geistigen Auseinandersetzung den Kern freiheitlicher zwischenmenschlicher Kommunikation bildet.1 Die EMRK enthält kein umfassendes Kommunikationsgrundrecht, sondern garantiert in den Art 92, 10 und 11 EMRK mehrere nebeneinander stehende Freiheiten, die erst in ihrer wechselseitigen Verschränkung und Bedingtheit die vielfältigen Kommunikationsvorgänge der Lebenswirklichkeit erfassen. 2 Die zentrale Vorschrift des Art 10 EMRK gewährleistet eine Vielzahl von Grundrechten: die Meinungsbildungsfreiheit, die Meinungsäußerungsfreiheit, die Freiheit, Mitteilungen zu empfangen, die Pressefreiheit sowie die Freiheit von Rundfunk, Fernsehen und Film3. In der Kombination von Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit kommt zum Ausdruck, dass menschliche Kommunikation kein einseitiger, sondern ein gegenseitiger Prozess ist, auch wenn die Gegenseitigkeit
1 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 49 – Handyside; Urt v 8.7.1986, 9815/85, EuGRZ 1986, 424, § 41 – Lingens; Urt v 23.5.1991, 1162/85, EuGRZ 1991, 216, § 58 – Oberschlick; EGMR (Pl), Entsch v 21.3.1991, 13585/88, EuGRZ 1995, 16, § 59 – Observer und Guardian; EGMR, Urt v 12.7.2001, 29032/95, ÖJZ 2002, 814, § 83 – Feldek. 2 Zu Art 9 EMRK, der in diesem Kapitel nicht näher erläutert wird, s Frowein in: Grote/Marauhn, Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht, 2001, 73 ff. Eingehend auch Weber, ZevKR 2002, 265 ff; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 111 ff; Grabenwarter in: Korinek/Holoubek, Österreichiches Bundesverfassungsrecht (6. Lfg 2003); Sahlfeld Aspekte der Religionsfreiheit, 2004; Ungern-Sternberg Religionsfreiheit in Europa, 2008; Walter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 17. 3 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 2 ff; Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 28 ff.
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§ 5.1 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der EMRK
echter Dialoge rechtlich ansonsten kaum fassbar ist.4 Art 10 EMRK erfährt eine spezifische Ergänzung durch die in Art 11 EMRK gewährleisteten Grundfreiheiten: die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit. Ähnlich wie der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, der die in der US-amerikanischen Verfassung nicht ausdrücklich garantierte Vereinigungsfreiheit aus der im Ersten Zusatzartikel enthaltenen Meinungsfreiheit abgeleitet hat,5 betont der EGMR den systematischen Zusammenhang zwischen Art 10 und Art 11 EMRK. Nach seiner Auffassung handelt es sich bei den Garantien des Art 11 EMRK um leges speciales im Verhältnis zu denen des Art 10 EMRK.6 Dieses Spezialitätsverhältnis wirkt sich nicht nur auf den Anwendungsbereich der beiden Vorschriften aus. Es führt auch zu einer parallelen Auslegung der Schutzbereiche und der Schranken.7 Neben den notstandsfesten Rechten stehen die Kommunikationsgrundrechte an 3 der Spitze aller weiteren Gewährleistungen der EMRK, denn ohne freie Kommunikation ist eine wirksame Verteidigung fundamentaler Rechte nicht möglich.8 Dem hat die Straßburger Spruchpraxis insoweit Rechnung getragen, als sie im Interesse von Pluralismus und Toleranz weite Schutzbereiche anerkannt und Eingriffe nur unter engen Voraussetzungen als gerechtfertigt angesehen hat. Eine konturenscharfe Abgrenzung der einzelnen in Art 10 und Art 11 EMRK enthaltenen Gewährleistungen ist weder durchgängig möglich noch unbedingt erforderlich, denn beide Vorschriften sollen die zwischenmenschliche Kommunikation umfassend schützen.9
II. Die Meinungs- und die Informationsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside; Urt v 8.7.1986, 9815/85, EuGRZ 1986, 424 ff – Lingens; Urt v 24.5.1988, 10737/84, EuGRZ 1988, 543 ff – Müller; EGMR (Pl), Urt v 28.3.1990, 10890/84, EuGRZ 1990, 255 ff – Groppera Radio AG; EGMR, Urt v 23.5.1991, 1162/85, EuGRZ 1991, 216 ff – Oberschlick; EGMR (Pl), Urt v 29.10.1992, 14234/88 u 14235/88, EuGRZ 1992, 484 ff – Open Door und Dublin Well Woman; EGMR, Urt v 24.11.1993, 13914/88, EuGRZ 1994, 549 ff – Informationsverein Lentia; Urt v 20.9.1994, 13470/87, HRLJ 1994, 371 ff – Otto-Preminger-Institut; EuGRZ 1995,
4 Müller Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl 2008, S 350 f. 5 US Supreme Court, NAACP/Alabama ex rel Patterson, 357 US 449 (1958). 6 EGMR, Urt v 26.4.1991, 11800/85, HRLJ 1991, 185, § 62 – Ezelin; vgl jetzt auch Urt v 3.2.2005, 46626/99, RJD 2005-I, 209, § 44 – Partidul Comunistilor; dazu auch Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 144. 7 EGMR, Urt v 30.1.1998, 133/1996/752/951, RJD 1998-I, 3, § 42 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei; Pabel, ZaöRV 2003, 921 (930 ff) eingehend zu den Prüfkriterien des EGMR bei Parteiverboten, insb im Vergleich zur Rechtsprechung des BVerfG. 8 Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 277 f. 9 EGMR, Urt v 17.10.2002, 37928/97, EuGRZ 1985, 150, § 42 – Barthold; explizit Urt v 3.2.2005, 46626/99, RJD 2005-I, 209, § 44 – Partidul Comunistilor.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
590 ff – Vogt; EGMR (Pl), Entsch v 21.3.1991, 13585/88, EuGRZ 1995, 16 ff – Observer und Guardian; Urt v 20.11.1989, 10572/83, EuGRZ 1996, 302 ff – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; Urt v 21.1.1999, 25716/94, EuGRZ 1999, 8 ff – Janowski; Urt v 20.5.1999, 21980/93, EuGRZ 1999, 453 ff – Bladet Tromsø; 23144/93, RJD 2000-III, 1 ff – Özgür Gündem; Urt v 12.7.2001, 29032/95, ÖJZ 2002, 814 – Feldek; Urt v 24.6.2004, 59320/00, EuGRZ 2004, 404 ff – von Hannover (Nr 1); Urt v 15.2.2005, 68416/01, NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris; Urt v 15.11.2007, 12556/03, ÖJZ 2008, 161 ff – Pfeifer; Urt v 21.7.2011, 28274/08 – Heinisch; Urt v 7.2.2012, 40660/08 u 60641/08, EuGRZ 2012, 278 ff – von Hannover (Nr 2); Urt v 7.2.2012, 39954/08, EuGRZ 2012, 294 ff – Axel Springer; Urt v 16.6.2015, 64569/09 – Delfi AS; Urt v 20.10.2015, 11882/10 – Pentikäinen; Urt v 8.11.2016, 18030/11 – Magyar Helsinki Bizottság; Urt v 30.1.2018, 69317/14 – Sekmadienis Ltd.; Urt v 27.2.2018, 39496/11 – Sinkova; Urt v 25.5.2021, 58170/13 – Big Brother Watch ua; Urt v 18.1.2022, 4161/13 – Karuyev; Urt v 3.2.2022, 39325/20 – Šeks.
Schrifttum: Bode, Anspruch auf Internet im Gefängnis? Zugleich eine Besprechung von EGMR, Urt v 17.1.2017 – 21575/08, ZIS 6/2017, 348 ff; Bychawska-Siniarska Protecting the Right to Freedom of Expression under the European Convention on Human Rights, 2017; Calliess, Werbung, Moral und Europäische Menschenrechtskonvention, AfP 2000, 248 ff; Engel, Einwirkungen des europäischen Menschenrechtsschutzes auf Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit – insbesondere auf die Einführung von innerer Pressefreiheit, AfP 1994, 1 ff; Engelbrecht, Informationsfreiheit zwischen Europäischer Menschenrechtkonvention und Grundgesetz, ZD 2018, 108 ff; Frowein, AfP 1986, 197 ff; Frowein, Meinungsfreiheit und Demokratie, EuGRZ 2008, 117 ff; Frowein in: ders/Peukert Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 3. Aufl 2009; Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988; Grabenwarter/Pabel Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl 2021, 399 ff; Grote, The ECHR’s Rulings in von Hannover v. Germany (No. 2) and Axel Springer AG v. Germany, GYIL 55 (2013), 639 ff.; Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 3. Aufl 2022, Kap 18; Hoffmeister, Art 10 EMRK in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 1994–1999, EuGRZ 2000, 358 ff; Klein, Einwirkungen des europäischen Menschenrechtsschutzes auf Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit, AfP 1994, 9 ff; Kühling, Zu den möglichen Grenzen der Kommunikationsfreiheit, AfP 1999, 214 ff; Malinverni, Freedom of Information in the Convention on Human Rights and in the International Covenant on Civil and Political Rights, HRLJ 1983, 443 ff;; Peters/Altwicker Europäische Menschenrechtskonvention, 2 Aufl 2012, §§ 9–14; Stürner, Caroline-Urteil des EGMR – Rückkehr zum richtigen Maß, AfP 2005, 213 ff; Trenkelbach Internetfreiheit, 2005; Uerpmann-Wittzack/Jankowska-Gilberg, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Ordnungsrahmen für das Internet, MMR 2008, 83 ff; Wittreck, Persönlichkeitsbild und Kunstfreiheit AfP 2009, 6 ff.
1. Schutzbereiche a) Die Meinungsfreiheit 4 Die in Art 10 I 2 EMRK geschützte Meinungsfreiheit ist die Grundlage und der Ober-
begriff der in Satz 1 gewährleisteten Meinungsäußerungsfreiheit.10 Die Meinungsfreiheit schützt zunächst – insoweit der in Art 9 EMRK gewährleisteten Gedankenfreiheit vergleichbar – das forum internum, die innere Meinungsbildung. In den
10 Guradze Die Europäische Menschenrechtskonvention, 1968, 142. Thilo Marauhn/Magdalena Jaś-Nowopolska
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§ 5.1 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der EMRK
1970er Jahren entschied der EGMR, dass der Staat daran gehindert ist, den Bürgern Meinungen durch Indoktrinierung oder andere Mittel aufzudrängen.11 Ebenso dürften eine gezielt einseitige staatliche Informationspolitik wie auch eine gezielt einseitige Berichterstattung in staatlichen Massenmedien konventionswidrig sein.12 Das lässt sich zumindest aus dem vom EGMR betonten „Schutz der Meinungsvielfalt“, also des Pluralismus, ableiten.13 Anders als das Bundesverfassungsgericht, das – methodisch nicht überzeu- 5 gend – den Begriff der „Meinung“ über vage Umschreibungen zu erschließen sucht,14 hat der EGMR den Begriff der „Meinung“ bislang nicht abstrakt definiert. Man mag diese Zurückhaltung des EGMR kritisieren, sollte aber bedenken, dass Synonyme und wenig präzise Umschreibungen, die das Schutzgut nicht hinreichend verdeutlichen, die Gefahr bergen, die Tatbestands- und die Eingriffsebene zu vermengen. Außerdem kann sich der EGMR auf den Wortlaut der Äußerungsfreiheit zurückziehen, der so weit gefasst ist, dass insbesondere keine Notwendigkeit besteht, zwischen „Meinungen“ und „Tatsachenmitteilungen“ zu unterscheiden.15
b) Die Äußerungsfreiheit Die Äußerungsfreiheit schließt die Meinungsäußerungsfreiheit und die Freiheit 6 zur Mitteilung von Informationen und Ideen (gelegentlich auch als aktive Informationsfreiheit bezeichnet16) ein. Unter Berücksichtigung der authentischen englischen („freedom of expressions“) und französischen („liberté d’expression“) Texte kommt daher eine Beschränkung auf „Meinungen“ nicht in Betracht. Dadurch er11 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71, EuGRZ 1976, 478, § 53 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen (Indoktrinierungsverbot vom EGMR ausdrücklich formuliert für die Schule auf der Grundlage von Art 10 EMRK und Art 2 1. ZP EMRK). 12 So auch Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 4; vgl auch EGMR, Urt v 20.10.1997, 19736/92, ÖJZ 1998, 151 – Radio ABC. Eine Zuspitzung erfährt die Fragestellung jüngst im Zusammenhang mit so genannten „memory laws“, die – teilweise in Anlehnung an das Verbot der Auschwitzlüge (s dazu unten) – bestimmte Interpretationen von Geschichte vorgeben oder ausschließen; s dazu Mälksoo Kononov v. Latvia as an Ontological Security Struggle Over Remembering the Second World War in: Belavusau/Gliszczyńska-Grabias, Law and Memory, 2017, 91 ff. und Lobba Testing the Uniqueness in: Belavusau/Gliszczyńska-Grabias, Law and Memory, 2017, 109 ff. 13 EGMR, Urt v 24.11.1993, 13914/88, EuGRZ 1994, 549 – Informationsverein Lentia. 14 Vgl nur BVerfGE 61, 1, 8 f. 15 Insoweit krit zur Rspr des BVerfG, die den Unterschied zwischen „Meinungen“ und „Tatsachenmitteilungen“ schon im Schutzbereich für wesentlich erachtet, vgl Erichsen, Jura 1996, 85 ff – Der EGMR unterscheidet zwischen „Meinungen“ und „Tatsachenmitteilungen“ allerdings im Rahmen der Rechtfertigung von Einschränkungen, so dass Werturteile wohl einen höheren Schutz genießen; so etwa EGMR, Urt v 6.12.2007, 19331/05 – Katrami; vgl auch Peters/Altwicker EMRK, § 9 Rn 1. 16 So Peters/Altwicker EMRK, § 12 Rn 2.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
übrigt sich auch hier eine Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung17 und Werturteil.18 7 In einer jeweils am Einzelfall orientierten Spruchpraxis hat der EGMR alle Mitteilungen von Sinngehalten, wie Tatsachen, Meinungen und Unterhaltungsbeiträge,19 unter die Äußerungsfreiheit subsumiert. Der Schutz der Äußerungsfreiheit erstreckt sich insbesondere auch auf solche Inhalte, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen.20 Es sind nicht nur unproblematische oder unkritische Inhalte geschützt. Dem EGMR geht es um den umfassenden Schutz einer offenen geistigen Auseinandersetzung als Kern der Meinungsäußerungsfreiheit. Dazu gehört auch die Aufrechterhaltung von Pluralität im Informationssektor. 8 Neben politischen Äußerungen21 werden kommerzielle Meinungsäußerungen vom EGMR dem Schutzbereich von Art 10 I EMRK zugeordnet.22 Dazu gehören sowohl kritische Äußerungen über bestimmte Geschäftspraktiken23 als auch Werbemaßnahmen24. Kritik ließe sich gegenüber dieser weiten Auslegung allenfalls damit begrün-
17 Zum Schutz von Tatsachenbehauptungen EGMR, Urt v 21.1.1999, 29183/95, NJW 1999, 1315 – Fressoz und Roire. 18 Zum Schutz von Werturteilen ggf auch ohne Tatsachenbasis vgl EGMR, Urt v 22.2.2007, 5266/03, Medien&Recht 2007, 71 – Nikowitz; zum besonderen Schutz von Werturteilen vgl auch EGMR, Urt v 22.2.2007, 37464/02, ÖJZ 2007, 836 § 41 ff – Standard Verlagsgesellschaft mbH (Nr 2). 19 EGMR (Pl), Urt v 28.3.1990, 10890/84, EuGRZ 1990, 255, § 54 f – Groppera Radio AG. 20 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 49 – Handyside; bestätigend Urt v 19.9.2006, 42435/02, § 21 – White und Urt v 25.1.2007, 68354/01, ÖJZ 2007, 618 – Vereinigung bildender Künstler; vgl auch EGMR (GK), Urt v 30.6.2009, 32772/02, NJW 2010, 3699, § 5 – VgT (2007), wo die Intensivtierhaltung mit Konzentrationslagern verglichen wird. Dazu, dass politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger als auch Journalisten hinsichtlich der Wahrheit der verbreiteten Tatsachen einen vergleichbaren Schutz genießen, sofern sie gutgläubig sind, vgl Urt v 15.2.2005, 68416/01, NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris einerseits und Urt v 20.5.1999, 21980/93, EuGRZ 1999, 453 ff – Bladet Tromsø andererseits. 21 In einer Unzulässigkeitsentscheidung aus dem Jahre 2002 bringt der EGMR die besondere Bedeutung politischer Äußerungen in Wahlkampfsituationen zum Ausdruck; EGMR, Urt v 21.2.2002, 42409/ 98, ÖJZ 2005, 276 – Schüssel. 22 Eingehend dazu Nolte, RabelsZ 1999, 507 ff; zum Schutz von außerhalb des Politischen getätigten Meinungsäußerungen vgl auch Bartnik, AfP 2004, 489 (494). 23 EGMR (Pl), Urt v 20.11.1989, 10572/83, EuGRZ 1996, 302, § 35 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann. 24 EGMR, Urt v 17.10.2002, 37928/97, EuGRZ 1985, 150, § 58 – Barthold; Urt v 24.2.1994, 15450/89, HRLJ 1994, 184, § 35 – Casado Coca (EGMR verneinte in diesem Fall eine Verletzung von Art 10 EMRK, weil es sich nicht um ein absolutes Werbeverbot für Anwälte handelte); vgl auch EKMR, Urt v 7.3.1991, 14622/89, NJW 1992, 963 – Hempfing (EKMR verneinte eine Verletzung von Art 10 EMRK in diesem Fall, wo der Beschwerdeführer, ein Anwalt, disziplinarisch verwarnt wurde, weil er in einem Rundschreiben die Kunden aufforderte, ihn zu „testen“); vgl auch EGMR, Urt v 30.1.2018, 69317/14 – Sek
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den, dass erfolgreiche Werbung darauf beruht, dem Verbraucher Kaufimpulse auf eine nicht notwendig bewusste Weise zu vermitteln. In diesen Fällen finde demnach keine offene geistige Auseinandersetzung statt, um die es doch bei Art 10 I EMRK eigentlich gehe.25 Weder der Wortlaut noch der systematische Zusammenhang legen aber eine restriktive Interpretation des Schutzbereichs nahe, die allein daraus abzuleiten sein soll, dass es keinen Grund gebe, die kommerzielle Meinungsäußerung gegenüber anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten zu privilegieren. Art 10 I EMRK schützt nicht nur Substanz und Inhalt der Mitteilung, sondern 9 auch die Form und die Darstellung der Mitteilung.26 So sind Bilder und auch Realhandlungen, die das Missfallen an Tätigkeiten anderer ausdrücken, von Art 10 I EMRK geschützt.27 Bei Symbolen dürften Äußerung und Form wegen der Komplexität der Darstellung regelmäßig zusammenfallen; jedenfalls ist ihren Besonderheiten Rechnung zu tragen.28 Meinungsäußerungen bedürfen grundsätzlich weder hinsichtlich ihrer Form noch hinsichtlich ihrer Darstellung einer besonderen Zulassung. Die Grenze zieht Art 10 I 3 EMRK, der für bestimmte technische Medien einen Genehmigungsvorbehalt vorsieht.
c) Die Informationsfreiheit Art 5 I 1 GG schützt die Freiheit, sich aus „allgemein zugänglichen Quellen“ zu infor- 10 mieren, während Art 10 I 1 EMRK ohne nähere Präzisierung der Quellen die „Freiheit zum Empfang … von Nachrichten oder Ideen“ gewährleistet. Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf Art 5 I 1 GG solche Informationsquellen als „allgemein zugänglich“ anerkannt, die technisch geeignet und bestimmt sind, der Allgemeinheit Informationen zu verschaffen. Insbesondere verlieren Quellen diesen Charakter nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht dadurch, dass gegen ihre Verbreitung Maßnahmen ergriffen werden.29 Damit hat das Gericht zwar – gemes-
madienis Ltd; hier beurteilte der EGMR die Verhängung einer Geldstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle durch Werbung als konventionswidrig. 25 Zu dieser Kritik vgl für das GG etwa Ipsen Staatsrecht II, Grundrechte, 24. Aufl 2021, Rn 421 f. 26 Zutreffend Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 5; deutlich EGMR, Urt v 23.9.1994, 15890/89, NStZ 1995, 237, § 31 – Jersild; zu Fotomontagen vgl EGMR, Urt v 21.2.2002, 42409/98, ÖJZ 2005, 276 – Schüssel. Zum Schutz des Mediums der Meinungsäußerung Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 40 ff. 27 EGMR, RJD 1998-VII, 2719, § 92 iVm § 7 – Steel; Urt v 25.11.1994, 25594/94, RUDH 1999, 331, § 28 – Hashman und Harrup; Urt v 27.2.2018, 39496/11, § 100 – Sinkova; Urt v 18.1.2022, 4161/13, §§ 17–20 – Karuyev. 28 Vgl zu mehrdeutigen Symbolen: EGMR, Urt v 8.7.2008, 33629/06, § 56 – Vajnai („roter Stern“); vgl auch: Entsch v 13.3.2018, 35285/16 – Nix (Nazi-Symbolen in einem Blogbeitrag). 29 BVerfGE 27, 71, 83 f; 33, 52, 65; 90, 27, 32; 103, 44, 60 (stRspr).
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sen am Wortlaut – einen relativ weiten Schutzbereich eröffnet. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die deutsche Rechts- und Verfassungstradition sich durch eine bemerkenswerte Zurückhaltung gegenüber an staatliche Stellen gerichteten Informationsansprüchen auszeichnet. Erst in jüngster Zeit wächst – auch in Anbetracht des so genannten Informationszeitalters – die Erkenntnis, dass die Informationsfreiheit im demokratischen Gemeinwesen Bedingung rationaler Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ist; das Bundesverfassungsgericht erkennt in einer neueren Entscheidung die Möglichkeit verfassungsunmittelbarer Informationsansprüche mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR an.30 Es ist aber nicht allein die demokratisch-politische Funktion der Informationsfreiheit, die es in den Blick zu nehmen gilt. Die Möglichkeit, an Informationen teilzuhaben, ist nicht nur Voraussetzung sozialer Kompetenz. Sie ist auch unabdingbare Voraussetzung persönlicher Entfaltung. Auch kann die Informationsfreiheit einen Beitrag zur Effizienz des Gemeinwesens leisten, indem sie dessen Problemlösungskapazität und Innovationsfähigkeit erhöht.31 11 Bei der Informationsfreiheit handelt es sich nach Auffassung des EGMR um eine eigenständige Gewährleistung,32 die der Gerichtshof allerdings lange tendenziell restriktiv ausgelegt hat. Trotz des insoweit offenen Wortlauts der Konvention33 hat der EGMR zunächst eine positive Informationspflicht staatlicher Behörden verneint.34 Nach Auffassung des EGMR garantiert Art 10 I 1 EMRK nur den Empfang allgemein zugänglicher Informationen („general sources of information“)35 und deckt
30 In Deutschland sind in den letzten Jahren zahlreiche Informationsansprüche geschaffen worden, die über den grundgesetzlichen Mindeststandard hinausgehen. Zu diesen Entwicklungen Kugelmann, NJW 2005, 3609; Fluck/Merenyi, VerwArch 2006, 381; Schoch, DÖV 2006, 1; Gurlitt, Die Verwaltung 2007, 441; Schoch AfP 2010, 313. Informationsansprüche mit Verweis auf die Rspr des EGMR: BVerfGE 145, 365. 31 Müller Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl 2008, S 517 f. 32 EGMR, Urt v 26.4.1979, 6538/74, EuGRZ 1979, 386, §§ 65, 66 – Sunday Times (Nr 1). 33 Das betonen auch Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 50. 34 EGMR, 14967/89, RJD 1998-I, 210, § 53 – Guerra. Der Spruchpraxis der Straßburger Organe lässt sich in Einzelfällen entnehmen, dass bei bestimmten Gefahren für die Schutzgüter des Art 8 EMRK eine Informationspflicht des Staates besteht; vgl dazu neben der Entscheidung im Fall Guerra auch EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90, Series A Nr 303-C, §§ 44–58 – López Ostra; Urt v 28.1.2000, 21825/93 u 23414/94, RJD 1998-III, 1334, §§ 96–104 – McGinley und Egan; Urt v 9.6.1998, 23413/94, RJD 1998-III, 1390, §§ 35–41 – L.C.B. Auch ein (positives) Recht auf Empfang bestimmter Informationen seitens der Behörden kann aus der Informationsfreiheit nicht abgeleitet werden; vgl Urt v 7.7.1989, 10454/83, Series A, Vol 160, § 52 – Gaskin; dazu auch NJOZ 2007, 865 – Roche. 35 EGMR, Urt v 8.7.1986, 9815/85, EuGRZ 1986, 424, § 41 – Lingens; Urt v 26.3.1987, 9248/81, Series A, Vol 116, § 74 – Leander. Ähnlich zuvor auch schon die Kommission; vgl EKMR, DR 17, 227, 230 – X. Zum Empfang eines Häftlings zu rechtlichen Informationen im Internet vgl EGMR, Urt v 19.1.2016, 17429/10 – Kalda. Ausnahmen erstrecken sich jedoch beispielweise auf den Zugang eines Häftlings
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sich insoweit mit Art 5 I 1 GG.36 Seine Zurückhaltung gegenüber einer positiven Informationspflicht des Staates hat der EGMR zuletzt bereichsspezifisch dort gelockert, wo die Behörden über ein faktisches Informationsmonopol verfügen.37 Im Übrigen hat der EGMR betont, dass die Medien die Aufgabe haben, Informationen zu verbreiten,38 und die Öffentlichkeit das Recht hat, diese Informationen zu empfangen.39 Bedeutung entfaltet der ungehinderte Empfang von Meldungen, Nachrichten und Meinungen auch für den Quellen- und Informantenschutz.40 In der neueren Rechtsprechung41 hat der EGMR das Recht auf Zugang zu Informationen zum einen dann in Betracht gezogen, wenn die Freigabe der Informationen durch rechtskräftige gerichtliche Anordnung angewiesen wurde, zum anderen, wenn dem Beschwerdeführer die Ausübung seiner Meinungsfreiheit durch Vorenthaltung der für die Meinungsbildung in einer Angelegenheit des öffentlichen Interesses erforderlichen Informationen faktisch unmöglich gemacht wird.42 Zusammengefasst wird damit das Recht auf Zugang an die nachfolgend genannten Kriterien43 geknüpft: Zweck und Ziel des Informationsansuchens, Charakter der begehrten Informationen (liegt die betreffende Information im öffentliche Interesse?), Rolle der betreffenden Person selbst und der Existenz von verfügbaren Informationen (war die betreffende Information bereit und verfügbar?). Des Weiteren stellt Art 10 I 1 EMRK – anders als Art 5 I 1 GG – ausdrücklich klar, dass die Informationsfreiheit ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen gewährleistet ist.44
zu rechtlichen Informationen im Internet vgl hierzu EGMR, Urt v 17.1.2017, 21575/08 – Jankovskis; Bode, ZIS 2017, 348. 36 Nach Auffassung des Gerichtshofs ist der Staat auf der Grundlage von Art 10 I EMRK nicht verpflichtet, Informationen herauszugeben, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden; er darf aber den Empfang von Informationen nicht verhindern, die Private weitergeben wollen; s dazu EGMR, Urt v 7.7.1989, 10454/83, Series A, Vol 160, § 52 – Gaskin. 37 EGMR, Urt v 10.7.2006, 19101/03 – Sdruženi Jihočeské Matky; Urt v 26.5.2009, 31475/05, § 33 – Kenedi; Urt v 25.6.2013, 48135/06 – Youth Initiative for Human Rights. 38 EGMR, Urt v 14.12.2006, 76918/01, § 30 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 1). 39 EGMR, Urt v 26.4.1979, 6538/74, EuGRZ 1979, 386, § 65 – Sunday Times (Nr 1). 40 Mittlerweile gibt es mehrere Entscheidungen des EGMR zum Quellen- und Informantenschutz, vgl EGMR, Urt v 25.4.2006, 77551/01 – Dammann; Urt v 10.12.2007, 69698/01, NJW-RR 2008, 1141 – Stoll; 27.11.2007, 20477/05, NJW 2008, 2565 – Tillack. 41 EGMR, Urt v 8.11.2016, 18030/11 – Magyar Helsinki Bizottság. Dazu auch Engelbrecht, Informationsfreiheit zwischen Europäischer Menschenrechtkonvention und Grundgesetz, ZD 2018, 108. 42 EGMR (GK), Urt v 8.11.2016, 18030/11, § 156 – Magyar Helsinki Bizottság. 43 EGMR (GK), Urt v 8.11.2016, 18030/11, §§ 157–200 – Magyar Helsinki Bizottság. 44 Der EGMR hat entschieden, dass jeder damit auch auf Informationsquellen zurückgreifen darf, die sich außerhalb seines Heimatstaates befinden; EGMR, Urt v 16.12.2008, 23883/06, § 44 – Khurshid Mustafa u Tarzibachi; Urt v 20.5.2010, 2933/03 – Cox und Urt v 5.10.2015, 27510/08 – Perinçek. Thilo Marauhn/Magdalena Jaś-Nowopolska
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Über das bloße (passive) Recht auf Informationsempfang hinaus ist auch das (aktive) Recht zur Informationsbeschaffung vom Schutzbereich des Art 10 I 1 EMRK erfasst45. Zwar unterscheidet sich der Wortlaut dieser Gewährleistung von den vergleichbaren Bestimmungen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Art 19 II) und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (Art 13 I). Es ist jedoch vertretbar, diesen Wortlautunterschied als Redaktionsversehen zu qualifizieren, denn immerhin enthielt einer der EMRK-Entwürfe ein Recht auf Informationsbeschaffung.46 Da ohne Recherchen und aktive Informationsbeschaffung keine wirksame Mitteilungs- und Verbreitungsarbeit geleistet werden und eine Mitteilung nicht erfolgen kann, ist es vertretbar, die Freiheit zur Informationsbeschaffung im Wege der teleologischen Auslegung unter Art 10 I 1 EMRK zu subsumieren.47 Schließlich kann es nicht Sinn und Zweck der Konvention sein, die Äußerungsfreiheit dadurch auszuhebeln, dass die Freiheit zur Informationsbeschaffung schutzlos gestellt wird. 13 Art 10 EMRK enthält kein ausdrückliches Zensurverbot. Beschränkungen der Gewährleistungen aus Art 10 I EMRK sind jedoch nur im Rahmen von Art 10 II EMRK zulässig,48 so dass insbesondere aus dem in Art 10 I 3 EMRK vorgesehenen Zulassungsverfahren keine Rechtfertigung staatlicher Vorzensur für Programme und Sendungen abgeleitet werden kann.49
d) Die Kunstfreiheit
Fall 1: (EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/84, EuGRZ 1988, 543 ff – Müller) Der Künstler M malte im Rahmen einer Ausstellung an Ort und Stelle drei große Gemälde mit dem Titel „Drei Nächte, drei Bilder“. Die Bilder stellten ua homosexuelle Aktivitäten und Sodomie dar. Am Tage der Eröffnung beschwerte sich ein Vater über die Bilder, nachdem seine minderjährige Tochter heftig darauf reagiert hatte. In der Folge wurden die Bilder eingezogen. M wurde wegen unzüchtiger Veröffentlichungen bestraft. Außerdem wurde die Vernichtung der Bilder angeordnet.
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15 Die Kunstfreiheit wird in Art 10 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt. Auch künstleri-
sche Aktivitäten sind jedoch Formen der Äußerung im Sinne von Art 10 I EMRK, denn der Künstler bringt durch sein schöpferisches Wirken seine persönliche Welt-
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Vgl Villiger EMRK, S 443 f; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 8–9. Vgl Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988, S 291. Probst Art 10 EMRK – Bedeutung für den Rundfunk in Europa, 1996, S 24 f. Vgl Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 62. Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988, S 294.
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anschauung und seine Gedanken über die Gesellschaft zum Ausdruck.50 Es ist daher grundsätzlich anerkannt, dass Art 10 EMRK die Freiheit des Kunstschaffens in allen Ausprägungen erfasst.51 Sie schließt den Werk- und den Wirkbereich ein, erstreckt sich also auch auf Personen, die Kunstwerke interpretieren, verbreiten oder ausstellen.52 Lösung Fall 1: Die Aktivitäten des M, das Erstellen der Kunstwerke und deren Ausstellung, fallen in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, denn diese ist nicht auf Äußerungen verbaler Art beschränkt. Auch Kunstwerke und Filme fallen in den Schutzbereich von Art 10 I EMRK. Die Verurteilung des M und die vorgesehene Vernichtung der Bilder stellen Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit des Künstlers dar. Ein solcher Eingriff muss, um konventionsrechtlich gerechtfertigt zu sein, auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen und einen nach Art 10 II EMRK zulässigen Eingriffszweck verfolgen. In Betracht zu ziehen ist der Schutz der öffentlichen Moral. Bei der Beurteilung, ob die Maßnahmen diesem Zweck dienen, kommt den zuständigen Organen der Konventionsstaaten ein Beurteilungsspielraum zu, der nur eingeschränkt überprüfbar ist. Die Verurteilung des M dürfte den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen, anders als die angedrohte Vernichtung der Bilder. Im Fall der Vernichtung könnte M seine Bilder auch dort nicht mehr ausstellen, wo sie willkommen sein mögen. Daraus dürfte die Unverhältnismäßigkeit der angedrohten Vernichtung resultieren. Auch eine Rückgabe der Bilder ändert nichts an der Unverhältnismäßigkeit der Androhung (anders aber der Straßburger Gerichtshof).
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e) Presse- und Medienfreiheit Die Pressefreiheit wird in Art 10 I EMRK nicht ausdrücklich, sondern als Bestandteil 17 der allgemeinen Äußerungs- und Informationsfreiheit geschützt.53 Die EMRK folgt damit der Tradition anderer internationaler Menschenrechtsinstrumente, in denen die Pressefreiheit nicht ausdrücklich genannt, aber ohne Zweifel geschützt wird. Der EGMR hat die zentrale (demokratische) Funktion der Presse, die Öffentlichkeit über Fragen von allgemeinem Interesse zu informieren,54 stets betont und die ihr
50 EKMR, Urt v 24.5.1988, 10737/84, EuGRZ 1986, 702, § 70 – Müller; vgl auch EGMR, 17419/90, RJD 1996-V, 1937 ff – Wingrove und Urt v 20.9.1994, 13470/87, HRLJ 1994, 371 ff – Otto-Preminger-Institut; Urt v 29.3.2005, 40287/98, – Alinak; Urt v 25.1.2007, 68354/01, ÖJZ 2007, 618 – Vereinigung bildender Künstler. 51 So zum Beispiel die Äußerung in Gestalt einer Performance (Pussy Riot), EGMR, Urt v 17.7.2018, 38004/12 – Mariya Alekhina ua. 52 EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87, HRLJ 1994, 371, § 56 – Otto-Preminger-Institut. 53 Die Presse wird lediglich in Art 6 I 2 EMRK im Zusammenhang mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit von mündlichen Gerichtsverhandlungen ausdrücklich erwähnt. 54 EGMR, Urt v 26.4.1979, 6538/74, EuGRZ 1979, 386, § 65 – Sunday Times (Nr 1).
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zukommende Wächterrolle („public watchdog“)55, die Öffentlichkeit auf Mängel, Fehler und rechtswidrige Machenschaften in Politik und Gesellschaft hinzuweisen,56 als Grundlage eines umfassenden Grundrechtsschutzes fruchtbar gemacht. Der funktionale Schutzbereich der Pressefreiheit schließt auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Geschäftsgebaren einzelner Unternehmen und Unternehmerpersönlichkeiten im Wirtschaftsleben ein.57 Dabei ist die Satire ein erlaubtes Mittel;58 der EGMR anerkennt Freiräume für Provokation und Übertreibung.59 Generell ist beim Schutz der Pressefreiheit zwischen drei Fallgruppen zu unterscheiden: der mit journalistischen Meinungen verbundenen Presseberichterstattung, der Wiedergabe fremder Meinungen60 (ohne dass sich die Presse von zitierten beleidigenden Äußerungen distanzieren muss)61 und der Wiedergabe fremder Tatsachenbehauptungen oder Materialien. Diese Differenzierungen wirken sich vor allem im Kontext der presserechtlichen Sorgfaltspflichten aus.62
55 In einer neueren Entscheidung wurde die Wächterrolle nicht nur etablierten Medien zugesprochen. Der Kreis von „social watchdogs“ kann hier vielmehr auch weitere Gruppen erfassen, beispielweise Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaft, Literatur oder Blogger, sofern sie durch ihre Aufklärungs- und Informationskampagnen einen ernsthaften Beitrag zu einer die Allgemeinheit berührenden Frage leisten. EGMR (GK), Urt v 8.11.2016, 18030/11, § 168 – Magyar Helsinki Bizottság; Urt v 27.6.2017, 931/13, § 126 – Satakunnan Markkinapörssi Oy and Satamedia Oy; Urt v 27.6.2017, 17224/11, §§ 86 ff – Medžlis Islamske Zajednice Brčko. 56 EGMR (Pl), Urt v 26.11.1991, 13166/87, HRLJ 1992, 30, § 50 – Sunday Times (Nr 2); EGMR, Urt v 25.6.1992, 13778/88, HRLJ 1992, 440, § 63 – Thorgeirson; EGMR (Pl), Entsch v 21.3.1991, 13585/88, EuGRZ 1995, 16, § 59 – Observer und Guardian; jetzt auch EGMR, Urt v 24.6.2004, 59320/00, EuGRZ 2004, 2647 – von Hannover (Nr 1). 57 EGMR (Pl), Urt v 20.11.1989, 10572/83, EuGRZ 1996, 302, § 35 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; hierauf verweist der EGMR auch in Urt v 15.2.2005, 68416/01, NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris. Ähnlich gelagert sind die Urteile des EGMR in den Fällen Urt v 29.6.2006, 54934/00, Series A, Vol 177 – Weber; 53440/99, RJD 1998-VI, 2298 – Hertel und Urt v 28.6.2001, 24699/94, ÖJZ 2002, 855 – Verein gegen Tierfabriken (VGT). Zur Unternehmerpersönlichkeit vgl Urt, 14.12.2006, 10520/02, § 36 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 2). 58 EGMR, Urt v 22.2.2007, 5266/03, Medien&Recht 2007, 71 – Nikowitz (insbesondere die Sachverhaltsdarstellung in § 6 und die Verhältnismäßigkeitsprüfung in § 26 der Entscheidung); Entsch v 15.3.2016, 52205/11 – Verlagsgruppe Handelsblatt GmbH & Co. KG; Urt v 5.7.2016, 1799/07 – Ziembiński, abweichende Stellungnahme von Wojtyczak und Kūris. 59 EGMR, Urt v 6.12.2007, 19331/05 – Katrami. 60 Zur Haftung eines Forenbetreibers für beleidigende Nutzerkommentare EGMR, Urt v 16.6.2015, 64569/09 – Delfi AS; Urt v 2.2.2016, 22947/13 – Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete u Index.hu Zrt; Urt v 19.3.3019, 43624/14 – Høiness. 61 EGMR, Urt v 14.12.2006, 76918/01, § 33 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 1). 62 Eingehend zu dieser Differenzierung unter Aufarbeitung der Rspr des EGMR Hoffmeister, EuGRZ 2000, 358 (363 ff); zur Einordnung der presserechtlichen Sorgfaltspflichten vgl Rn 48 ff; nicht ganz unproblematisch EGMR, Urt v 16.3.2000, 23144/93, RJD 2000-III, 1, § 58 – Özgür Gündem.
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Der Schutz der Pressefreiheit umfasst alle Informationen und Ideen, die der Öf- 18 fentlichkeit reproduziert vermittelt werden.63 Ob und inwieweit auch inhaltsferne Hilfsfunktionen, die vom Bundesverfassungsgericht in den Schutzbereich der Pressefreiheit nach Art 5 I 2 GG einbezogen werden,64 und damit nicht zuletzt die gesamte Infrastruktur der Presse (also etwa der Zeitungsvertrieb) unter die Gewährleistung von Art 10 I EMRK fallen, ist nicht abschließend geklärt. Berücksichtigt man aber, dass der EGMR auch die erforderlichen Übertragungs- und Empfangsmittel in den Schutzbereich der Gewährleistungen des Art 10 I EMRK einbezogen hat,65 und anerkennt man, dass es beim Schutz der Pressefreiheit nicht nur um den Schutz individueller Presseerzeugnisse geht, sondern gerade auch um den Schutz des Pressewesens als solchem, dann kann man nicht die Augen davor verschließen, dass Eingriffe in die Verteilung der Presseerzeugnisse die Presse als Institution sehr empfindlich treffen können. Im Wege der teleologischen Auslegung ist daher die Infrastruktur des Pressewesens in den Schutzbereich der (ungeschriebenen) Pressefreiheit einzubeziehen.66 Dies lässt sich der Rechtsprechung des EGMR jedenfalls insoweit entnehmen, als es um auf die unmittelbare Herstellung von Nachrichten und Meinungen bezogene Tätigkeiten geht.67 Nicht abschließend geklärt ist, in welchem Umfang Art 10 I EMRK zur Einfüh- 19 rung eines Gegendarstellungsrechts verpflichtet. Obwohl das Gegendarstellungsrecht im Bewusstsein seiner Existenz nicht in die EMRK aufgenommen wurde, gibt es gute Gründe, in Verbindung mit Art 8 EMRK jedenfalls für die Fälle, „in denen das Persönlichkeitsrecht durch Presseveröffentlichungen verletzt worden ist“, ein konventionsrechtlich gewährleistetes Gegendarstellungsrecht anzunehmen.68 Wenn man das Gegendarstellungsrecht jedenfalls auch in Art 8 I EMRK verankert69 und es nicht nur als medienspezifische Form des Ehrschutzes den nach Art 10 II EMRK gerechtfertigten Eingriffen in die Pressefreiheit zuordnet70, gewinnt der Anspruch an Gewicht und hängt nicht überwiegend von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab.
63 Villiger EMRK, S 446. 64 BVerfGE 77, 346, 353 f. 65 EGMR (Pl), Urt v 22.5.1990, 12726/87, EuGRZ 1990, 261, § 47 – Autronic. 66 Zum Schutz des Verlegers einer Zeitschrift vgl EGMR, Urt v 11.1.2000, 31457/96, ÖJZ 2000, 394, § 39 – NEWS Verlags GmbH & Co KG; vgl jetzt auch Urt v 10.1.2006, 50693/99 – Halis Doğan. 67 So mit Nachweisen zur Tätigkeit von Journalisten, Chefredakteuren, Herausgebern, Verlegern, aber auch Leserbriefautoren, Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 44. 68 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 16. 69 Malinverni, HRLJ 1983, 443 (448); in diese Richtung auch EGMR, Urt v 15.11.2007, 12556/03, ÖJZ 2008, 161 – Pfeifer. 70 So aber das BVerfG im Rahmen von Art 5 II GG, BVerfGE 63, 131, 142 f; Grote/Wenzel in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 46 greifen direkt auf Art 10 I EMRK zurück.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
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Art 10 I 3 EMRK bestätigt, dass die in Art 10 I EMRK garantierten Freiheiten der Äußerung und der Information auch die Freiheit von Rundfunk, Film und Fernsehen einschließen.71 Diese Freiheit umfasst die Herstellung, die Ausstrahlung und den Empfang von Sendungen und Programmen. Die Vorschrift unterscheidet nicht nach der Art der Übermittlung der Information, sondern schließt alle Übermittlungsarten (Äther, Kabel, Satelliten, etc) ein. Im Rahmen der Rundfunk-, Film- und Fernsehfreiheit ist besonders hervorzuheben, dass Art 10 I EMRK den freien internationalen Informationsfluss schützt, denn der Schutz wird „ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen“ (Art 10 I 2 EMRK) gewährleistet. 21 Soweit es um Herstellung, Ausstrahlung und Empfang unabhängig vom organisationsrechtlichen Rahmen geht, ist der Schutzbereich dieser Teilgewährleistung allenfalls hinsichtlich der Berechtigung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten problematisch. Dass der persönliche Geltungsbereich von Art 10 I EMRK Personenvereinigungen und juristische Personen des Privatrechts erfasst, wirft keine besonderen Fragen auf.72 Es dürfte aber auch unzweifelhaft sein, dass ein staatliches Rundfunk- und Fernsehunternehmen gegenüber staatlichen Einflüssen eine ausreichende Freiheit haben muss.73 Anderenfalls würde die Freiheit im Falle staatlicher Monopole, die bis in die 1970er Jahre in Europa üblich waren, leerlaufen. 22 Es bleibt die Frage, welche Bedeutung der Schutzbereich des Art 10 I EMRK für die neuen Medien (Bildschirmtext, Pay-TV und Internet) entfaltet. Eine besondere Rolle spielt das Internet74. Meinungen und Informationen verbreiten sich im Internet in Form des Betreibens eines YouTube-Kanals75, des Postens von Kommentaren76, über Beiträge in Internetforen77, in Gestalt des Setzens von Hyperlinks78 oder auf andere Weise. Als Reaktion auf die Entwicklung der neuen Medien hat der EGMR hierzu bereits Kriterien erarbeitet, die bei der Überprüfung der Haftung des
71 Vgl hierzu die nunmehr recht umfangreiche Spruchpraxis, EGMR, Urt v 28.3.1990, 11968/86, ÖJZ 1990, 482 – B.; EGMR (Pl), Urt v 22.5.1990, 12726/87, EuGRZ 1990, 261 – Autronic; EGMR, Urt v 24.11.1993, 13914/88, EuGRZ 1994, 549 – Informationsverein Lentia; Urt v 20.10.1997, 19736/92, ÖJZ 1998, 151 – Radio ABC; Urt v 5.11.2002, 38743/97, EuGRZ 2003, 488 – Demuth. 72 Vgl nur EGMR (Pl), Urt v 22.5.1990, 12726/87, EuGRZ 1990, 261, § 47 – Autronic AG; → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 29. 73 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 19. 74 Brings-Wiesen in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl 2019, Rn 25 f. 75 EGMR, Urt v 1.12.2015, 48226/10 u 14027/11, § 57 – Cengiz ua. 76 Vgl EGMR, Urt v 16.6.2015, 64569/09, § 140 – Delfi AS; Urt v 2.2.2016, 22947/13, §§ 62ff – Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete and Index.hu Zrt. 77 EGMR, Urt v 22.4.2010, 40984/07, §§ 93 ff – Fatullayev. 78 EGMR, Urt v 4.12.2018, 11257/16 – Magyar Jeti Zrt.
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§ 5.1 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der EMRK
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Unternehmens bei Nutzung von Hyperlinks berücksichtigt werden sollten79. Auch für die neuen Medien unterscheidet die EMRK, ähnlich wie das Grundgesetz, ansatzweise zwischen dem Schutz von Individual- (Art 8 EMRK) und Massenkommunikation (Art 10 EMRK). Diesbezüglich liegt es nahe, hinsichtlich neuer Medien bei den Gewährleistungsgehalten eine Differenzierung in Anlehnung an die verschiedenen Kommunikationsformen vorzunehmen.80 Das Versenden und das Empfangen elektronischer Nachrichten (e-mail) fallen in den Schutzbereich von Art 8 EMRK, während die Präsentation von Informationen auf einer Internet-Seite (homepage)81 durch Art 10 EMRK geschützt wird. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings bei Kommunikationsformen, die nicht eindeutig der Individual- oder der Massenkommunikation zuzuordnen sind82. Lassen sich bei Diskussionsforen noch Differenzierungen danach vornehmen, ob es sich um moderierte oder offene Foren handelt, so dürfte die Grenze zwischen Individual- und Massenkommunikation bei anderen interaktiven Medien zunehmend verschwimmen. Dies ist für die EMRK vor allem deshalb nicht ganz unproblematisch, weil es in der Konvention – anders als im deutschen Grundgesetz – kein Auffanggrundrecht gibt. Es dürfte deshalb kaum möglich sein, im Wege der Auslegung oder der lückenfüllenden Ergänzung der EMRK ein Recht der Internet-Freiheit83 zu begründen. Da aber andererseits auch nicht davon auszugehen ist, dass die Konvention bestimmte Kommunikationsformen schutzlos stellen will, sollte bei – wie es der Gerichtshof formuliert – „usergenerated expressive activity on the Internet“84 jeweils anhand der konkreten Einzel-
79 EGMR, Urt v 4.12.2018, 11257/16, § 77 – Magyar Jeti Zrt. Kriteria: (i) Hat der Journalist den umstrittenen Inhalt gebilligt? (pflichtete der Journalist dem strittigen Inhalt bei); (ii) wiederholte der Journalist den strittigen Inhalt; (iii) erstellte der Journalist lediglich einen Hyperlink zum strittigen Inhalt (ohne ihm beizupflichten oder ihn zu wiederholen); (iv) wusste der Journalist, dass der strittige Inhalt diffamierend oder auf andere Weise unrechtmäßig war oder konnte er dies angemessener Weise wissen; (v) handelte der Journalist gutgläubig und nach den Grundsätzen journalistischer Ethik und übte er die gebührende Sorgfalt aus, die im verantwortungsvollen Journalismus erwartet wird? 80 Vgl dazu Grote, KritV 1999, 27 (29 ff). 81 Aktuelle Herausforderungen zum Schutz der Meinungsfreiheit auf der Internetseite, vgl Entscheidungen EGMR zu Websperre in Russland: EGMR, Urt v 23.6.2020, 10795/14, – Kharitonov (Sperrung einer IP Adresse sowie Domains und Inhalte); Urt v 23.6.2020, 12468/15, 23489/15, 19074/16 – OOO Flavus ua (Sperrung der gesamten Domain wegen Inhalten auf der Unterseite); Urt v 23.6.2020, 61919/16– Engels (Sperrung der Informationen über Anonymisierungswerkzeuge wie VPN-Software oder TOR-Browser); Urt v 23.6.2020,20159/15 – Bulgakov (Sperrung einer IP Adresse wegen eines EBooks, das als extremistisch eingestuft wurde); vgl. Mantz, NJW 2020, 2449, Punkt 3. 82 EGMR, Urt v 1.12.2015, 48226/10 und 14027/11, § 52 – Cengiz ua. 83 Für die Diskussion zum deutschen Recht vgl Mecklenburg, ZUM 1997, 525 ff; jetzt auch insbesondere hinsichtlich des Zugangs zum Internet Trenkelbach Internetfreiheit, 2005. 84 EGMR, Urt v 1.12.2015, 48226/10 und 14027/11, § 52 – Cengiz ua.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
fälle einer den unterschiedlichen Schutzfunktionen der Art 8 und 10 EMRK entsprechende Zuordnung der einzelnen Handlungen erfolgen.85 In jüngeren Entscheidungen86 hat der Gerichtshof im Rahmen von Art 10 EMRK verstärkt die Besonderheiten der Wirkungsweise des Internet in den Vordergrund gestellt und Unterschiede sowohl zur Presse- als auch zur Rundfunkfreiheit herausgestellt.
f) Wissenschaftsfreiheit 23 Ähnlich wie die Kunstfreiheit wird die Wissenschaftsfreiheit in der EMRK nicht
ausdrücklich gewährleistet. Sie ist allerdings unstreitig Bestandteil der konventionsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit.87 Sie erfasst Lehre und Forschung gleichermaßen und erstreckt sich auf den gesamten Prozess zur Erzielung wissenschaftlicher Ergebnisse, auch wenn dieser im Vorfeld des eigentlichen Kommunikationsvorgangs liegt.88 Zu beachten ist, dass es für die innerstaatlich so wichtige objektivrechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit auf europäischer Ebene nach wie vor an einem sich auf die Organisation von Wissenschaft beziehenden Konsens fehlt,89 so dass einstweilen diesbezügliche Korrekturen nationaler Regelungen auf der Grundlage der EMRK die Ausnahme bleiben dürften.
2. Eingriff
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Fall 2: (EGMR, Urt v 28.10.1999, 28396/95, NJW 2001, 1195 – Wille) W, Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz des Staates L und ehemaliges Regierungsmitglied, hatte im Rahmen eines wissenschaftlichen Vortrags die Auffassung vertreten, dass dem Staatsgerichtshof des Landes bei einem Streit zwischen Regierung und Parlament über die Auslegung der Verfassung eine Entscheidungskompetenz zukomme. Nach Presseberichten über diesen Vortrag richtete das Staatsoberhaupt ein Schreiben an W, in dem ausgeführt wurde, dass W’s Aussagen gegen Sinn und Wortlaut der Verfassung verstießen und das Staatsoberhaupt, in Ausübung der ihm eingeräumten Rechte, W deshalb nicht mehr für ein öffentliches Amt ernennen werde, auch wenn das Parlament ihn dafür vorschlagen sollte. In einem sich anschließenden Briefwechsel legten der Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz und das Staatsoberhaupt ihre gegensätzlichen Stand-
85 Zur Multimedia-Diskussion Dörr FS Kriele, 1997, S 1417 ff; vgl auch Bröhmer Europäisches Medienrecht, Fernsehen und seine gemeinschaftliche Regelung, 1998, 79 ff. 86 EGMR, Urt v 5.5.2011, 33014/05, RJD 2011-II, 383 § 63 – Editorial Board of Pravoye Delo and Shtekel; EGMR (GK), Urt v 22.4.2013, 48876/08, RJD 2013-II, 203 § 119 – Animal Defenders International. 87 Vgl nur Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 § 14. 88 EGMR (GK), Urt v 28.10.1999, 28396/95, NJW 2001, 1195, §§ 8 und 36 ff – Wille; Urt v 17.1.2002, 53440/ 99, ÖJZ 1999, 614, § 50 – Hertel. 89 So auch Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 32.
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§ 5.1 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der EMRK
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punkte ohne Annäherung in der Sache erneut dar. W wurde dem Staatsoberhaupt später vom Parlament für eine weitere Amtszeit als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz vorgeschlagen. Das Staatsoberhaupt lehnte die neuerliche Ernennung ab. W ist der Auffassung, die Entscheidung des Staatsoberhaupts, ihn für keine neue Amtszeit zu ernennen, sei eine Sanktion für seine bei einem akademischen Vortrag geäußerten Ansichten über die Verfassung und verletze Art 10 EMRK.
Art 10 II EMRK eröffnet Spielräume für staatliche Eingriffe in die Freiheiten des 25 Art 10 I EMRK.90 Ausdrücklich genannt werden bestimmte Eingriffsmodalitäten: Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafandrohungen. Auf der Grundlage dieser Aufzählung lässt sich allerdings weder eine Eingriffstypologie entwickeln, wie schon der weite Begriff „Einschränkungen“ deutlich macht, noch lassen sich die Probleme des Eingriffsbegriffs umfassend erschließen. Ausgangspunkt ist vielmehr die allgemeine Überlegung, dass nicht jede Einschränkung der Grundfreiheiten des Art 10 I EMRK einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff im Sinne der Konvention darstellt.91 Herkömmlich muss der staatliche Hoheitsakt unmittelbar und wesentlich in das Recht der geschützten Person eingreifen. Dieser Eingriffsbegriff erfasst beispielsweise Veröffentlichungsverbote, wobei zu beachten ist, dass der EGMR eine Vorzensur im Regelfall nicht zulässt, weil sie das für den Schutzbereich und die Rechtfertigung von Eingriffen zentrale Verhältnis zwischen Regel und Ausnahme tendenziell verkehrt.92 Unter den „klassischen“ Eingriffsbegriff fallen aber auch Sanktionen disziplinar-, arbeits-, verwaltungs- oder gar strafrechtlicher Art, die an bestimmte Mitteilungen geknüpft werden.93 Der enge Begriff des „Grundrechtseingriffs“, der im Rahmen der Art 8 bis 11 26 EMRK grundsätzlich zur Anwendung kommt,94 wird in Bezug auf die Kommunikationsgrundrechte zu Recht kritisch hinterfragt und weiterentwickelt. Dabei geht es etwa darum, indirekte Sanktionen wie beispielsweise Berufsverbote und Schadensersatzrisiken zu erfassen, denn auch durch diese können unerwünschte Meinungsäußerungen unter Umständen sehr wirksam beschränkt werden.95 Richtigerweise
90 Zur Beschränkbarkeit von Art 10 EMRK erläuternd Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 15. 91 Marauhn/Mengeler in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 7 Rn 10. 92 Zwar hat der EGMR (Pl) im Fall Observer und Guardian, Entsch v 21.3.1991, 13585/88, EuGRZ 1995, 16, § 60, Verbotsanordnungen vor der Veröffentlichung nicht ausgeschlossen, hierfür aber einen strengen Prüfungsmaßstab verlangt. Zur Bewertung dieser Entscheidung Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 24; vgl auch Probst Art 10 EMRK – Bedeutung für den Rundfunk in Europa, 1996, S 25. 93 Villiger EMRK, S 431 f; Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 63. 94 Villiger EMRK, S 357; vgl auch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 5–6; → ausf dazu Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 85 f. 95 Näher dazu Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 36.
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sind daher auch faktische Einschüchterungsversuche als Eingriff zu werten.96 Weitergehend beurteilte der EGMR die Weigerung deutscher Gerichte, einer Kündigungsschutzklage im Fall von „whistleblowing“ stattzugeben, als Eingriff in Art 10 EMRK.97 Dies berührt auch die im Schrifttum thematisierte Frage der so genannten Drittwirkung der Kommunikationsgrundrechte.98 27 In ähnlicher Weise ist, ausgehend von der Überlegung, dass „gezielt einseitige Berichterstattung und Beeinflussung im staatlichen Rundfunk und Fernsehen einen Verstoß gegen die Freiheit der Meinungsbildung“99 darstellen kann, zu diskutieren, ob die immer stärker anwachsende private Medienmacht und die private Medienkonzentration die Meinungsfreiheit in vergleichbarer Weise beeinträchtigen können. Zwar sind die Konventionsorgane in Sachen Drittwirkung zurückhaltend.100 Jedoch eröffnet das Konzept „positiver Pflichten“, das von den Straßburger Organen anerkannt worden ist101, Spielräume, den für die demokratische Gesellschaft im Sinne von Art 10 II EMRK so zentralen Pluralismus effektiv zu sichern.102 Im konkreten Fall ging es bei Schutzpflichten gleichwohl weniger um eine Rechtfertigung anhand von Art 10 II EMRK, sondern um eine Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den betroffenen Individualinteressen im Rahmen von Art 10 I EMRK.103 28 Mag man schon indirekte Sanktionen zu den subtileren Beeinträchtigungen der Meinungsfreiheit zählen, so gilt dies erst recht für die Androhung von Sanktionen, deren Ausführung selbst kein Konventionsrecht entgegensteht. Nach Auffassung
96 EGMR, Urt v 28.10.1999, 28396/95, NJW 2001, 1195 – Wille und die entsprechende Bewertung bei Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 64; vgl die Zusammenschau bei Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 15 ff. 97 EGMR, Urt v 21.07.2011, 28274/08 – Heinisch; vgl auch EGMR, Urt v 19.1.2016, 12138/08 § 59 – Aurelian Oprea. S auch Gerdemann, NZA 2020, 43. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf die RL 2019/1937 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, Abl 2019 Nr L 305/17 (s dazu Gerdemann, NJW 2021, 3489). 98 Probst Art 10 EMRK – Bedeutung für den Rundfunk in Europa, 1996, S 27 f; Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 285 f; Dröge Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2003, 38 f; → auch Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 68; vgl auch EGMR, Urt v. 16.3.2000, 23144/ 93, RJD 2000-III, 1, § 43 – Özgür Gündem; Urt v 10.1.2019, 65286/13 und 57270/14, §§ 158 ff. – Khadija Ismayilova. 99 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 4. 100 Näher dazu Probst Art 10 EMRK – Bedeutung für den Rundfunk in Europa, 1996, S 27; vgl EKMR, Entsch v 20.6.1989, 12242/86, DR 62, 151 ff – Rommelfanger. 101 EGMR, Urt v 16.3.2000, 23144/93 §§ 43 f – Gündem; Urt v 6.5.2003, 44306/98 §§ 47 ff – Appleby ua. 102 Zum Pluralismus als Grundlage der Meinungs- und Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft EGMR, Urt v 24.11.1993, 13914/88, EuGRZ 1994, 549, § 38 – Informationsverein Lentia. 103 So jedenfalls der Prüfungsansatz bei Art 8 EMRK: EGMR, Urt v 7.7.1989, 10454/83, Series A, Vol 160, § 42 – Gaskin; Urt v 21.2.1990, 9310/81, Series A, Vol 172, § 41 – Powell und Rayner.
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des EGMR kommt es in einem solchen Fall weder darauf an, ob der Inhalt der Drohung konventionswidrig ist, noch darauf, ob die Drohung selbst unmittelbare Rechtswirkungen entfaltet. Maßgeblich ist allein, ob die Maßnahme bezweckt, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken.104 Ausgehend von vorsichtigen Modifikationen des Eingriffsbegriffs in Richtung auf eine Öffnung gegenüber anderen als gezielten Einwirkungen auf den Schutzbereich in früheren Entscheidungen105 und unter Berücksichtigung der Anerkennung faktischer Einschüchterungsversuche als Eingriff106 spricht vieles dafür, bei der Prüfung einschlägiger Sachverhalte zunächst vom klassischen Eingriffsbegriff auszugehen, dann aber im Hinblick auf Modifikationen, die sich angesichts spezifischer Grundrechtsgefährdungen kaum von der Hand weisen lassen, fallspezifische Weiterungen zuzulassen. Lösung Fall 2: Prima facie könnte man annehmen, es gehe in diesem Fall hauptsächlich um den Zugang zum öffentlichen Dienst. Ein solches Recht wurde nicht in die Konvention aufgenommen. Trotzdem können sich öffentliche Bedienstete gegen ihre Abberufung wehren, falls diese Abberufung ihre aus der Konvention erwachsenden Rechte verletzen würde. Hier kommt die Meinungsäußerungsfreiheit in Betracht, deren Schutzbereich im konkreten Fall eröffnet ist. Es ist dann zu prüfen, ob ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung in Form einer „Formalität, Bedingung, Beschränkung oder Strafe“ vorliegt oder ob die Maßnahme im Bereich des Zugangs zum öffentlichen Dienst lag, der nicht im Schutzbereich der Konvention liegt. Das Hauptaugenmerk bei Prüfung dieser Frage ist auf den Brief des Staatsoberhaupts an W zu richten. Diesen Brief erhielt W während seiner Amtszeit als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz, ohne dass eine Neubesetzung dieser Position aktuell gewesen wäre. Aus dem Inhalt des Briefes geht hervor, wie sich das Staatsoberhaupt in Ausübung der ihm eingeräumten Rechte zukünftig gegenüber W zu verhalten gedenke. Zu prüfen ist also, ob bereits der bloßen Absichtserklärung Eingriffscharakter zuzumessen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ankündigung des Staatsoberhauptes, W nicht mehr für ein öffentliches Amt ernennen zu wollen, eine Rüge für die von W getätigten Äußerungen darstellte und diesen entmutigen sollte, sie in Zukunft zu wiederholen. Zwar ist die Nichternennung als solche nicht konventionswidrig. Die Androhung zielt aber darauf, die Meinungsäußerungsfreiheit des W zu unterdrücken. Sie stellt daher, obwohl sie selbst nicht unmittelbar rechtlich wirkt, einen Eingriff in das Recht des W auf Freiheit der Meinungsäußerung dar und lässt sich nicht als ein den späteren Rechtsakt lediglich vorbereitender Akt qualifizieren. Unter der Annahme, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und einen legitimen Zweck verfolgte, ist weiter zu prüfen, ob dieser in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Dabei könnte der Stellung W’s als hochrangigem Richter besondere Bedeutung zukommen, denn bei der Freiheit der Meinungsäußerung solcher Personen bekommen die Pflichten und die Verantwortung in
104 Hoffmeister, EuGRZ 2000, 358 (359). 105 Vgl etwa EGMR, Urt v 26.3.1987, 9248/81, EuGRZ 1986, 424, § 44 – Lingens; Urt v 22.2.1989, 11508/ 85, Series A, Vol 149, § 29 – Barfod. 106 EGMR, Urt v 28.10.1999, 28396/95, NJW 2001, 1195, §§ 44 ff – Wille; vgl. die Zusammenschau bei Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 15; vgl auch Hoffmeister, EuGRZ 2000, 358 (359).
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Art 10 II EMRK eine besondere Bedeutung. Insbesondere kann von W Zurückhaltung bei der Ausübung dieses Rechts erwartet werden, um nicht die Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung in Frage zu stellen. Der Vortrag war Teil einer Reihe akademischer Vorlesungen zum Thema Verfassungsrecht und hatte fast zwangsläufig auch politische Zusammenhänge. Allein wegen dieser Tatsache sollte W aber nicht davon abgehalten werden, sich zu solchen Themen äußern zu können. Die Ansichten waren auch nicht unhaltbar. Sie hatten zudem offensichtlich keinen Einfluss auf seine Amtsführung als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz. Daher ist der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Es liegt eine Verletzung von Art 10 EMRK vor.
3. Rechtfertigung 30 Eingriffe in die durch Art 10 I EMRK geschützten Freiheiten sind gerechtfertigt und
damit konventionsgemäß, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 10 II EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Diese Bedingungen müssen kumulativ vorliegen.107 Was die von Art 10 II EMRK zugelassenen Eingriffszwecke betrifft, so fällt auf, dass es sich im Vergleich mit den anderen Konventionsgewährleistungen um den umfangreichsten Beschränkungskatalog der Konvention handelt.108 Ungewöhnlich ist auch, dass Art 10 II EMRK der Aufzählung der zugelassenen Eingriffszwecke eine Begründung voranstellt: dass die Ausübung der gewährleisteten Kommunikationsgrundrechte Pflichten und Verantwortung mit sich bringt. Nachdem der EGMR in einer frühen Entscheidung noch betont hatte, dass derjenige, der die Kommunikationsfreiheiten des Art 10 I EMRK ausübt, Pflichten und Verantwortlichkeiten „übernimmt“109 hat er später klargestellt, dass aus dieser Eingangs- oder Begründungsformel keine eigene Grundlage für Einschränkungen folgt.110 Möglicherweise sollten mit der Formel eher die weitreichenden Beschränkungsmöglichkeiten mit dem spezifischen Gefahrenpotential von Massenmedien in Verbindung gebracht und damit legitimiert werden.111 Der EGMR ist allerdings offensichtlich der Auffassung, dass die Ausübung der Meinungsfreiheit „ein gewisses Verantwortungsbewusstsein“112 voraussetzt. Dies schlägt sich in drei unterschiedlichen Fallkonstellationen113 nieder, nämlich (1) in weitergehenden Beschränkungsmöglich-
107 108 109 110 111 112 113
Zum Prüfungsaufbau vgl auch EGMR, Urt v 31.1.2006, 64016/00, § 38 – Giniewski. So auch Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 23. EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 49 – Handyside. EGMR, Urt v 25.6.1992, 13778/88, HRLJ 1992, 440, § 46 – Thorgeirson. Probst Art 10 EMRK – Bedeutung für den Rundfunk in Europa, 1996, S 28. So die Formulierung bei Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 71. Eingehend dazu Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 72.
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keiten bei Personen in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Status- oder Funktionsverhältnis,114 (2) bei mit der Meinungsäußerung möglicherweise verbundenen Verletzungen des sittlichen oder religiösen Empfindens anderer115 und (3) in Gestalt einer besonderen Inpflichtnahme der Presse116. Fall 3: (EGMR, Urt v 27.2.2018, 39496/11 – Sinkova) S war Mitglied einer für provokative Aktionen bekannten Gruppe. Sie briet über der „Ewigen Flamme“ am Grabmal des unbekannten Soldaten in Kiew, einer Gedenkstätte für im Zweiten Weltkrieg gefallene Soldaten, ein Spiegelei. Das Video der Aktion wurde später im Internet veröffentlicht. Im Video kritisierte die Gruppe, es werde Erdgas für die „Ewige Flamme“ verschwendet, jedoch nichts zur Verbesserung der Lebensumstände von Veteranen getan. S wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren auf Bewährung wegen Entweihung eines Grabmals verurteilt. S behauptete eine Verletzung von Art 10 EMRK.
31
a) Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage Vorausgesetzt wird in der Regel eine die Behörde zum Eingriff ermächtigende gene- 32 rell-abstrakte Norm, der innerstaatlich Gesetzeskraft zukommt. Dies gilt auch, wenn es sich um einen im Ausgangspunkt völkerrechtlichen Rechtsakt117 handelt. In Abhängigkeit vom jeweiligen innerstaatlichen Rechtsquellensystem118 kann dem Erfordernis auch durch ungeschriebenes Recht Rechnung getragen werden. Allerdings muss die gesetzliche Grundlage hinreichend zugänglich und vorhersehbar119 sein (→ Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 95). Ob hier mit dem EGMR auch auf besondere Kenntnisse des konkreten Normadressaten (etwa eines Rechtsanwalts) abgestellt werden kann,120 dürfte eher zweifelhaft sein.121 Probleme treten insbesondere im Zusammenhang mit der Verwendung eines erweiterten Eingriffsbegriffs auf. Werden nämlich faktische Einschüchterungsversuche als Eingriff qualifiziert,122 so wird es häufig schwierig sein, eine spezielle Rechtsgrundlage im Sinne von Art 10 II EMRK zu finden. Dies führt nicht per se zur Unzulässigkeit des Eingriffs, wenn man 114 Exemplarisch EGMR, Urt v 26.9.1995, 17851/91, EuGRZ 1995, 590, § 61 – Vogt. 115 Vgl jüngst EGMR, Urt v 31.1.2006, 64016/00, § 43 – Giniewski. 116 Hierzu schon EGMR, Urt v 23.9.1994, 15890/89, Series A, Vol 298, § 31 – Jersild. 117 EGMR (Pl), Urt v 28.3.1990, 10890/84, EuGRZ 1990, 255, § 68 – Groppera Radio AG. 118 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 23. 119 Dazu, dass die Vorhersehbarkeit durch widersprüchliche gerichtliche Entscheidungen trotz an sich hinreichender Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage beeinträchtigt werden kann, vgl EGMR, Urt v 17.1.2006, 35083/97, § 54 – Goussev und Marenk. 120 EGMR, Urt v 20.4.2004, 60115/00, RJD 2004-III, 197, § 33 – Amihalachioacie. 121 Zu Recht kritisch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 23. 122 Vgl dazu o Rn 24 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
berücksichtigt, dass Art 10 II EMRK von seiner Struktur her eigentlich auf rechtliche Eingriffe zugeschnitten ist. Bei faktischen Eingriffen kann letztlich vom Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage abzusehen werden, soweit die Maßnahme im Übrigen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt.123
b) Die zulässigen Eingriffszwecke 33 Im Rahmen der nach Art 10 II EMRK zulässigen Eingriffszwecke, die den Bezugspunkt
für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit bilden, kommt dem Schutz des guten Rufes anderer zentrale Bedeutung zu.124 Da Beleidigungstatbestände je nach Fassung und Anwendung die Meinungsfreiheit erheblich einschränken können, ist in Anbetracht der Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie (auf die Art 10 II EMRK mit der typischen Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „in einer demokratischen Gesellschaft … notwendig“ hinweist) sowohl eine restriktive Auslegung des Eingriffszwecks als auch besondere Sorgfalt bei der Prüfung der Rechtfertigung hierauf beruhender Eingriffe geboten.125 Nur auf diese Weise lässt sich die vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten als „chilling effect“126 bezeichnete Gefahr in Grenzen halten, dass Menschen Äußerungen allein deshalb unterlassen, weil sie befürchten, dass ihnen aus der Meinungsäußerung Nachteile erwachsen. Andererseits hat der EGMR nie einen Zweifel daran gelassen, dass Beleidigungsvorschriften zum Schutz des Rechtsfriedens notwendig sind. Insbesondere gilt der Beleidigungsschutz auch für Politiker.127 Allerdings hat der Gerichtshof, insoweit einer demokratisch-funktionalen Auslegung folgend, die Grenzen einer Kritik an Politikern weiter gezogen als im Fall von Privatpersonen.128 Dies ist letztlich
123 So auch Hoffmeister, EuGRZ 2000, 358 (359). 124 Vgl jetzt EGMR, Urt v 15.11.2007, 12556/03, ÖJZ 2008, 161, § 35 – Pfeifer. Deutlich hat der Gerichtshof im Fall Annen (EGMR, Urt v 20.9.2018, 3682/10, §§ 26 ff) Stellung bezogen. Er hat hier berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer in seiner Kampagne gegen Abtreibung die Ärzte öffentlich an den Pranger stellte. Der Gerichtshof verwies darauf, dass die Art der Darstellung neben einer Rufschädigung auch geeignet gewesen sei, Hass und Gewalt gegen die betroffenen Ärzte zu schüren. Kritisch nahm der EGMR in Anbetracht der deutschen Geschichte auch zu den Holocaustvergleichen Stellung. 125 Differenzierend Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 294 ff; ähnlich Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 32. 126 Zum „chilling effect“ vgl US Supreme Court, NAACP/Alabama ex rel Patterson, 357 US 449 (1958); zu Lehre und Rspr in Deutschland s Grimm, NJW 1995, 1703 ff; zur EMRK vgl insb EGMR, Urt v 25.6.1992, 13778/88, HRLJ 1992, 440, § 68 – Thorgeirson und Prepeluh, ZaöRV 2001, 771 (819 f). 127 EGMR, Urt v 26.3.1987, 9248/81, EuGRZ 1986, 424, § 36 – Lingens; hierzu auch Urt v 15.11.2007, 12556/03, ÖJZ 2008, 161 – Pfeifer. 128 EGMR, Urt v 26.3.1987, 9248/81, EuGRZ 1986, 424, § 42 – Lingens; Urt v 23.5.1991, 1162/85, EuGRZ 1991, 216, § 59 – Oberschlick; vgl dazu Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 294 ff.
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§ 5.1 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der EMRK
eine Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Ein besonderes Problem stellt der „Ehrschutz“ von staatlichen Institutionen dar. Nachdem der EGMR zunächst einen solchen Beleidigungsschutz anerkannt hatte,129 scheint er inzwischen davon abgerückt zu sein.130 So hat er die Bestrafung eines Wehrpflichtigen wegen Kollektivbeleidigung der griechischen Armee unter dem Gesichtspunkt der nationalen und öffentlichen Sicherheit als unverhältnismäßig angesehen.131 Indem der EGMR die Funktionsfähigkeit der Armee zum geschützten Rechtsgut erhob, dürfte er implizit nunmehr einen besonderen Ehrschutz von staatlichen Institutionen ablehnen.132 Eng verwandt mit dem Beleidigungsschutz ist der Schutz der Rechte anderer. 34 Dieser Eingriffszweck überschneidet sich teilweise mit dem des Ehrschutzes. Allerdings lassen sich dem Schutz der Rechte anderer weitere Eingriffszwecke zuordnen. So hat der EGMR anerkannt, dass der Schutz der religiösen Auffassungen anderer133 wie auch der Schutz der Privat- und Intimsphäre anderer134 Eingriffe in die Meinungs- und in die Informationsfreiheit rechtfertigt. In Erwägung zu ziehen ist der Schutz der Rechte anderer auch im Zusammenhang mit der Verbreitung kommerzieller Informationen. Eingriffe auf der Grundlage von Regelungen über den unlauteren Wettbewerb lassen sich diesem Eingriffszweck zuordnen.135 Auch das Recht auf effektive Demokratie qualifiziert der EGMR als „Recht anderer“.136 Es ist nicht zu ver-
129 EGMR, Urt v 25.6.1992, 13778/88, HRLJ 1992, 440, § 59 – Thorgeirson (Ehrschutz öffentlicher Einrichtungen); Urt v 23.4.1992, 11798/85, Series A, Vol 236, § 46 – Castells (Ehrschutz der Regierung). 130 Hierfür spricht auch EGMR, Urt v 25.1.2007, 68354/01, ÖJZ 2007, 618, § 34 – Vereinigung Bildender Künstler; vgl ferner Urt v 6.12.2007, 19331/05, § 37 – Katrami. 131 EGMR, Urt v 25.11.1997, 24348/94, RJD 1997-VII, 2575, § 47 – Grigoriades; zur Geltung von Art 10 EMRK für Soldaten vgl Urt v 19.12.1994, 15153/89, Series A, Vol 302, § 36 – Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi. 132 So ausdrücklich Richter Jambrek in seinem Sondervotum: EGMR, Urt v 25.11.1997, 24348/94, RJD 1997-VII, 2595, §§ 3–4 – Grigoriades. Eingehend zur Beleidigungsfähigkeit von Streitkräften Nolte, AfP 1996, 313 ff. 133 EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87, HRLJ 1994, 371, §§ 47 f – Otto-Preminger-Institut; Urt v 25.11.1996, 17419/90, RJD 1996-V, 1937, §§ 52 ff – Wingrove; Urt v 25.10.2018, 38450/12 – E.S. 134 Dazu jetzt EGMR, Urt v 2.6.2000, 41205/98, RJD 2001-I, 263, §§ 68 f – Tammer; Urt v 24.6.2004, 59320/00, NJW 2004, 2647 §§ 63–66 – von Hannover (Nr 1) (entgegen BVerfGE 101, 361, 390 f). Zuvor schon Frowein in: ders/Peukert Art 10 EMRK Rn 33, unter Bezugnahme auf Art 8 EMRK. Zum Recht auf Schutz der Privatsphäre gegen die Veröffentlichung der eigenen Steuerdaten EGMR, Urt v 27.6.2017, 931/13 – Satakunnan Markkinapörssi Oy and Satamedia Oy, §§ 137, 139. 135 EGMR, Urt v 17.10.2002, 37928/97, EuGRZ 1985, 150 ff – Barthold; EGMR (Pl), Urt v 20.11.1989, 10572/ 83, EuGRZ 1996, 302 ff – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; Urt v 24.2.1994, 15450/89, HRLJ 1994, 184 ff – Casado Coca. 136 EGMR, Urt v 2.9.1998, 22954/93, RJD 1998-VI, 2356, § 54 – Ahmed; zuvor schon angedeutet in Urt v 19.2.1998, 24839/94, RJD 1998-I, 175, § 38 – Bowman; näher dazu Hoffmeister, EuGRZ 2000, 358 (360); Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 92.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
kennen, dass sich dieser Eingriffszweck damit zu einer Art Generalklausel entwickelt. 35 Im Hinblick auf die Zulässigkeit und Notwendigkeit politischer Kritik erweisen sich auch die Eingriffszwecke der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit und der öffentlichen Sicherheit als ausgesprochen sensibel. Das Verteilen von Flugblättern, die eine Aufforderung zur Fahnenflucht verbunden mit konkreten Hinweisen auf Desertionsmöglichkeiten enthalten, lässt sich als Gefahr für die nationale Sicherheit werten.137 Nichts anderes gilt für das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen,138 wobei diesbezüglich auch der Schutz der Rechte anderer in Erwägung zu ziehen ist. Eher zweifelhaft ist es, die Veröffentlichung der Erinnerungen eines früheren Mitglieds des Geheimdienstes139 als solche dem Schutz der nationalen Sicherheit zuzuordnen, insbesondere wenn man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es eher um den Schutz des Geheimdienstes als um den der nationalen Sicherheit geht.140 In einer Reihe von Fällen gegen die Türkei hat der EGMR ausdrücklich auf den Schutz der territorialen Unversehrtheit Bezug genommen und anerkannt, dass die Unterdrückung separatistischer pro-kurdischer Aussagen aus diesem Grund ebenso wie aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgen kann.141 36 Der Eingriffszweck der Aufrechterhaltung der Ordnung (und der Verbrechensbekämpfung) schützt nicht nur die öffentliche Ordnung als solche,142 sondern ermöglicht auch den Schutz der Ordnung spezifischer sozialer Gruppen oder von Institutionen.143 Zu denken ist in diesem Kontext etwa an den Schutz der Streitkräfte,144
137 EKMR, Entsch v 16.5.1977, 7050/75, DR 19, 5, 38 f – Arrowsmith. 138 EKMR, Entsch v 12.5.1988, 12194/86, DR 56, 205, 209 – Kühnen. 139 Hiervon zu unterscheiden sind die dem Schutz der nationalen Sicherheit zuzuordnenden Verbote der Veröffentlichung geheimdienstlicher Dokumente (EGMR, Urt v 9.2.1995, 16616/90, ÖJZ 1995, 469, § 36 – Weekblad Bluf!) oder militärischer Geheimnisse (EGMR, Urt v 16.12.1992, 12945/87, NJW 1993, 1697, § 43 – Hadjianastassiou). 140 So die zutr Kritik von Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 29 am EGMR im Fall Observer und Guardian, EuGRZ 1995, 16, §§ 56 und 69; vgl auch die Sondervoten der Richter Petitti (dem sich Richter Pinheiro Farinha anschloss) und Morenilla, zusammengefasst in EuGRZ 1995, 23 ff. 141 Vgl EGMR (GK), Urt v 8.7.1999, 23462/94, § 40 und §§ 48–49 – Arslan (mit kritischen Anmerkungen des EGMR zum konkreten Fall). Wenn Äußerungen mit einem Aufruf zur Gewalt verknüpft sind, lässt der EGMR einen größeren Beurteilungsspielraum zu; kritisch dazu, dass der EGMR bislang noch keine klaren Kriterien dafür entwickelt hat, wann von einem Aufruf zur Gewalt auszugehen ist, Hoffmeister, EuGRZ 2000, 358 (362); zahlreiche weitere Nachw aus der Rechtsprechung bei Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 87 (dort Fn 430). 142 Dazu EGMR, Urt v 25.8.1993, 13308/87, ÖJZ 1994, 173, § 28 – Chorherr. 143 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 30. 144 EGMR, Urt v 8.6.1976, 5700/71, 5101/71, 5102/71, 5354/72 u 5370/72, EuGRZ 1976, 221, § 98 – Engel.
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§ 5.1 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der EMRK
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den Schutz von Strafanstalten,145 aber auch an Standesregeln,146 die im Zusammenhang mit der Verbreitung kommerzieller Informationen bemüht wurden. Soweit sich die Verbreitung rassistischer Äußerungen147 oder auch der Auschwitzlüge148 nicht oder nur teilweise anderen Eingriffszwecken zuordnen lassen, ist ein Rückgriff auf die Aufrechterhaltung der Ordnung (gegebenenfalls auch kumulativ) in Erwägung zu ziehen. Die Ausgestaltung der Rundfunkordnung, die schon Art 10 I 3 EMRK insoweit ermöglicht, als in diesem Bereich tätige Unternehmen einem Genehmigungsverfahren unterworfen werden können, lässt sich, soweit es dabei um wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen geht, nur dann zweifelsfrei Art 10 II EMRK zuordnen, wenn in diesem Zusammenhang der Eingriffszweck der Aufrechterhaltung der Ordnung bemüht wird.149 Zu beachten ist dabei allerdings, dass im Rahmen der Gewährleistungen der Art 8–11 EMRK allein Art 8 II EMRK ausdrücklich auf „das wirtschaftliche Wohl des Landes“ Bezug nimmt. Zu den eher problematischen Eingriffszwecken, die sich eigentlich nur durch 37 eine strikte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf ein dem Schutz der Kommunikationsfreiheiten gerecht werdendes Maß reduzieren lassen, gehört der Schutz der Moral, der sich für staatliche Behörden als erheblich attraktiver erweist als der in unmittelbarem Zusammenhang damit genannte Schutz der Gesundheit. Der Schutz der Moral ist insbesondere im Zusammenhang mit pornographischen Schriften und Videofilmen bemüht worden. Gelegentlich tritt er gleichwertig neben den Schutz der Rechte anderer, etwa im Zusammenhang mit dem Schutz religiöser Überzeugungen. Die besondere Problematik beim Schutz der Moral liegt sicherlich darin, dass das Verständnis von „Moral“ stark von unterschiedlichen Vorstellungen geprägt ist, es keine europäische Konzeption davon gibt und der EGMR möglicherweise weniger zur Beurteilung der Lage geeignet ist als staatliche Behörden.150 Das Problem des an dieser Stelle in Gestalt eines den staatlichen Behörden und Gerichten verbleibenden Beurteilungsspielraums („margin of appreciation“/
145 EGMR, Urt v 21.2.1975, 4451/70, EuGRZ 1975, 91, § 45 – Golder (zu Art 8 II EMRK); vgl auch Laeuchli Bosshard Die Meinungsfreiheit gem Art 10 EMRK unter Berücksichtigung der neueren Entscheidungen und der neuen Medien, 1990, 165 ff. 146 EGMR, Urt v 24.2.1994, 15450/89, HRLJ 1994, 184 ff – Casado Coca. 147 EGMR, Urt v 23.9.1994, 15890/89, Series A, Vol 298, §§ 33–35 – Jersild. 148 EKMR, Entsch v 30.9.1968, 2625/65, DR 29, 194 ff – X; DR 82, 117 ff – Remer. Der Gerichtshof hat in einem obiter dictum festgestellt, dass das Leugnen der geschichtlichen Tatsache des Holocausts kraft Art 17 EMRK nicht dem Schutz von Art 10 EMRK unterfalle; EGMR, 24662/94, RJD 1998-VII, 2864, § 47 – Lehideux und Isorni. 149 Zum Verhältnis zwischen Art 10 I 3 und Art 10 II EMRK → vgl unten Rn 57. 150 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 48 – Handyside; Urt v 24.5.1988, 10737/84, EuGRZ 1988, 543, § 34 – Müller.
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„marge d’appréciation“)151 ist im Kontext des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu diskutieren (→ Rn 40). 38 Der Schutz der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten hat bislang in der Spruchpraxis keine besondere Rolle gespielt. Bei staatlichen Nachrichten liegt hier ein Zusammenhang mit dem Schutz nationaler Sicherheit nahe.152 Ob und inwieweit dieser Eingriffszweck auch zum Schutz der Vertraulichkeit privater Nachrichten herangezogen werden kann, dürfte in Anbetracht neuerer technischer Entwicklungen noch zu klären sein. Immerhin sehen nationale telekommunikationsrechtliche Regelungen den Vertraulichkeitsschutz auch für private Nachrichten vor. Zwar schützt Art 8 EMRK die private Kommunikation vor dem Zugriff Privater allenfalls in engen Grenzen, so dass ein (positiver) Schutzanspruch aus der EMRK nur unter bestimmten, hier nicht näher zu diskutierenden Voraussetzungen in Betracht kommt.153 Werden aber private Nachrichten durch die staatliche Gesetzgebung geschützt,154 so können sich diese Schutzmaßnahmen durchaus als Eingriffe in den Schutzbereich von Art 10 I EMRK darstellen, deren Rechtmäßigkeit anhand von Art 10 II EMRK zu prüfen ist. 39 Der Schutz des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung war aus der deutschen Perspektive lange von eher geringer Bedeutung, wurde dieser Grund doch in erster Linie zum Schutz des Rechtsinstituts des „contempt of court“, wie er in den Rechtsordnungen des common law bekannt ist, aufgenom-
151 Allgem zum Beurteilungsspielraum Brems, ZaöRV 1996, 240 ff; zum Beurteilungsspielraum im Kontext der Pressefreiheit Prepeluh, ZaöRV 2001, 771 ff. 152 So Laeuchli Bosshard Die Meinungsfreiheit gem Art 10 EMRK unter Berücksichtigung der neueren Entscheidungen und der neuen Medien, 1990, S 180; vgl im Übrigen die Kommissionsentscheidungen: v 10.7.1975, 6482/74, Yearbook of the European Convention on Human Rights 13, 888 ff – X und v 1.12.1994, 21830/93, DR 35, 224 ff – Z. 153 Zur Bedeutung von Art 8 EMRK für die Verwendung kryptographischer Verfahren vgl Diregger, DuD 1998, 28 ff. 154 EGMR, Urt v 21.1.1999, 29183/95, NJW 1999, 1315, § 43 – Fressoz und Roire. In der Entscheidung Big Brother Watch ua (Urt v 13.9.2018, 58170/13, 62322/14 u 24960/15, ua §§ 307, 423) hat der EGMR besonders das Ausmaß der Beeinträchtigung des Privatlebens einer Person, ie sich aus dem Abfangen und Überprüfen von Kommunikationsdaten (im Gegensatz zum Inhalt) ergeben könnte, berücksichtigt. Der EGMR hat auch berücksichtigt, dass Überwachungsregelungen das Potenzial haben, missbraucht zu werden und es schwerwiegende Folgen für die Privatsphäre des Einzelnen hat. Um dieses Risiko zu minimieren, hat der EGMR zuvor sechs Mindestgarantien festgelegt: 1) Das betreffende nationale Recht muss danach klar angeben: die Art der Straftaten, die zu einer Abhöranordnung führen können; 2) eine Definition der Kategorien von Personen, deren Kommunikation abgehört werden darf; 3) eine Begrenzung der Abhördauer; 4) das Verfahren zur Prüfung, Verwendung und Speicherung der erhaltenen Daten; 5) die Vorsichtsmaßnahmen, die bei der Übermittlung der Daten an andere Parteien zu treffen sind; 6) und die Umstände, unter denen abgefangene Daten gelöscht oder vernichtet werden können oder müssen.
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men.155 Allerdings ist dieser Eingriffszweck (neben dem der Aufrechterhaltung der Ordnung) heute im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Gerichtsverfahren zu beachten.156
c) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Wie bei den übrigen Einschränkungsklauseln der Art 8–11 EMRK ist auch bei der 40 Rechtfertigung von Eingriffen in die Schutzbereiche von Art 10 I EMRK nicht nur zu prüfen, ob ein zulässiger Zweck verfolgt wird. Vielmehr müssen Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, um den Anforderungen von Art 10 II EMRK zu genügen.157 Ob dies der Fall ist, entscheiden die Konventionsorgane.158 In Anbetracht der besonderen Bedeutung der Kommunikationsfreiheiten des Art 10 I EMRK für demokratisch verfasste Gesellschaften kommt der Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs und damit der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Art 10 II EMRK besondere Bedeutung zu (allgem zur Verhältnismäßigkeitsprüfung → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 100).159 Nicht nur müssen die oben genannten Eingriffszwecke als Ausnahmen eng interpretiert160 und ein Eingriff überzeugend begründet werden. Vielmehr besteht grundsätzlich sogar eine Vermutung für die Zulässigkeit einer Meinungsäußerung.161 Dies ist auf den ersten Blick überzeugend, hat aber eine nicht unproblematische Differenzierung zur Folge, die sich gerade aus dem zwischen demokratischer Ordnung und Meinungsäußerungsfreiheit bestehenden Zusammen-
155 EGMR (Pl), Urt v 26.11.1991, 13166/87, EuGRZ 1979, 386, §§ 56 f – Sunday Times (Nr 1). 156 So nunmehr EGMR, Urt v 29.8.1997, 22714/93, RJD 1997-V, 1534, § 49 – Worm; vgl auch die rechtsvergleichende Perspektive bei Gehring, ZRP 2000, 197 ff. 157 Trotz ausdifferenzierter Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt der EGMR regelmäßig ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis („pressing social need“), vgl statt aller EGMR, Urt v 10.12.2007, 69698/01, NJW-RR 2008, 1141, § 105 – Stoll; vgl auch Urt v 5.1.2016, 56328/10, § 25 – Erdtmann: hier weist der Gerichtshof darauf hin, dass Art und Schwere der verhängten Strafe bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu berücksichtigen sind. Er nimmt zur Kenntnis, dass bei der Strafzumessung die Verbesserung der Flughafensicherheit Gegenstand war und, dass er ein Fernsehjournalist war, der über eine Frage von allgemeinem öffentlichen Interesse berichtete, sowie dass das Messer sicher verstaut war und zu keiner konkreten Gefahr für die anderen Fluggäste geführt hatte. 158 So bspw EGMR, Urt v 8.7.2008, 33629/06 – Vajnai („roter Stern“). 159 So auch der EGMR, Urt v 25.6.1992, 13778/88, HRLJ 1992, 440, § 63 – Thorgeirson; Urt v 23.4.1992, 11798/85, Series A, Vol 236, § 42 – Castells. 160 So auch der EGMR, Urt v 15.10.2015, 27510/08 – Perinçek; Die Aufrechterhaltung der Ordnung muss eng verstanden werden. Es muss bewiesen werden, dass die Äußerung tatsächlich zu einer Störung der öffentlichen Ordnung führen konnte oder geführt hat, etwa durch öffentliche Unruhen, und dass dies der Grund für die Bestrafung war. 161 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 26.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
hang ergibt. Der EGMR privilegiert nämlich die politische Meinungsäußerung gegenüber anderen Meinungsäußerungen bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes162 und interpretiert Art 10 EMRK insoweit demokratisch-funktional.163 Auch wenn man die daraus resultierende Diskriminierung kommerzieller und anderer nicht-politischer Meinungsäußerungen nicht teilt, so wird man dem EGMR zumindest konzedieren müssen, dass die Differenzierung mit guten Gründen nicht schon am Schutzbereich ansetzt, sondern erst im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen zum Tragen kommt. Allein dieser Ansatz ist dogmatisch haltbar. Für eine Differenzierung des Schutzbereichs gibt Art 10 I EMRK insoweit nichts her. 41 Auch wenn die Straßburger Spruchpraxis bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes regelmäßig nicht zwischen der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit eines Eingriffs unterscheidet, so lassen sich doch Anhaltspunkte für eine Struktur der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art 10 II EMRK ausmachen.164 Dabei ist es trotz der Zurückhaltung des EGMR zu empfehlen, zunächst die Geeignetheit eines Eingriffs und dessen Erforderlichkeit zu prüfen. Der Maßstab variiert nach Maßgabe des Eingriffsziels.165 42 Schon an der Geeignetheit eines Veröffentlichungsverbots dürfte es fehlen, wenn – wie im Fall der Erinnerungen eines früheren Mitgliedes des britischen Geheimdienstes – das betreffende Werk im Ausland (im konkreten Fall in den Vereinigten Staaten) schon veröffentlicht worden war.166 Auch das Verbot, in Irland über Abtreibungsmöglichkeiten in Großbritannien zu informieren, wirft Fragen der Geeignetheit auf, wenn interessierte Frauen die Auskünfte ohne großen Aufwand auch anderweitig (etwa über britische Telefonbücher oder Zeitschriften) einholen können.167
162 So auch die Einschätzung von Villiger EMRK, S 433 f und Brems, ZaöRV 1996, 240 (274 f). Dazu, dass der weite Beurteilungsspielraum nationaler Behörden im Bereich des wirtschaftlichen Lebens in bestimmten Fallkonstellationen Einschränkungen erfahren hat, vgl Prepeluh, ZaöRV 2001, 771 (805 ff). Grabenwarter merkt hierzu an, dass in „jüngerer Zeit … Meinungsäußerungen von politischem oder allgemeinem Interesse der Presse gleichgestellt“ werden (Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 29). Dabei verkennt der EGMR allerdings nicht die Unterscheidung zwischen politischer und persönlicher Debatte, dazu nur EGMR, Urt v 27.2.2001, 26958/95, ÖJZ 2001, 693, § 40 – Jerusalem. Zum fast uneingeschränkten Schutz einer künstlerischen Meinungsäußerung mit politischer Ausrichtung vgl Urt v 25.1.2007, 68354/01, ÖJZ 2007, 618, §§ 26 ff – Vereinigung bildender Künstler. 163 Zum Zusammenhang zwischen Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation nach wie vor einschlägig: Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff. 164 Dazu Marauhn/Mengeler in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 7 Rn 48 ff. 165 Eingehend Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 100 ff. 166 Wenig überzeugend insoweit EGMR (Pl), Entsch v 21.3.1991, 13585/88, EuGRZ 1995, 16, §§ 66 ff – Observer und Guardian; vgl dazu die Kritik bei Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 27. 167 EGMR (Pl), Urt v 29.10.1992, 14234/88 u 14235/88, EuGRZ 1992, 484, § 55 – Open Door and Dublin Well Woman; eingehend zu dieser Entscheidung Zimmermann, NJW 1993, 2966 ff und Langenfeld/
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Die Erforderlichkeit von Eingriffen ist insbesondere in den Fällen indirekter 43 Sanktionen für Meinungsäußerungen ein Problem. In Betracht zu ziehen ist hier in erster Linie die Spruchpraxis zu den so genannten „Berufsverboten“. Wenig überzeugend hatte der EGMR zunächst in zwei Fällen die Auffassung vertreten, eine Verletzung von Art 10 EMRK liege deshalb nicht vor, weil es um den Zugang zum öffentlichen Dienst gehe, der von der Konvention nicht gewährleistet werde. Dabei übersah der Gerichtshof, dass es nicht um den Zugang zum öffentlichen Dienst ging (in einem Fall war die Ernennung einer Lehrerin auf Probe wegen Täuschung zurückgenommen,168 im anderen Fall ein Beamter wegen rechtsradikaler Äußerungen entlassen worden169), sondern um die Reichweite von an Beamte zu stellenden Loyalitätsanforderungen. Man wird annehmen müssen, dass der EGMR sich mit dem eigentlichen Problem in der Phase des Kalten Krieges nicht befassen wollte. Erst nach dem Ende des (ideologischen) Konflikts zwischen Ost und West setzte sich der EGMR kritisch mit den Loyalitätsanforderungen auseinander und entschied, dass die Festlegung einer Loyalitätspflicht zwar zulässig, ihre Anwendung aber ohne Berücksichtigung der vom Beamten ausgeübten Funktion und ohne Würdigung der Auswirkungen einer bloßen Parteimitgliedschaft auf die Erfüllung der Dienstpflichten unverhältnismäßig sei.170 Dem Erforderlichkeitsgrundsatz hätte im konkreten Fall allenfalls eine andere Maßnahme genügt. Als nicht erforderlich und deshalb unverhältnismäßig sind auch extrem hohe Schadensersatzsummen wegen Beleidigung anzusehen.171 Jenseits der Kriterien der Geeignetheit und der Erforderlichkeit sind im Rah- 44 men von Art 10 II EMRK einige Differenzierungen entwickelt worden, die Auswirkungen auf die Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeitsprüfung haben. Dabei geht es um die Privilegierung politischer Kommunikation, um Anforderungen an rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, um den staatlichen Beurteilungsoder Ermessensspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und um eigenständige Prüfungsmaßstäbe bei Eingriffen in die Rundfunk- und Fernsehfreiheit.
Zimmermann, ZaöRV 1992, 259 ff (hier auch zur einschlägigen Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit). 168 EGMR, Urt v 28.8.1986, 9228/80, EuGRZ 1986, 497 ff – Glasenapp. 169 EGMR, Urt v 28.8.1986, 9704/82, EuGRZ 1986, 509 ff – Kosiek. 170 EGMR, Urt v 26.9.1995, 17851/91, EuGRZ 1995, 590, §§ 59–61 – Vogt. 171 EGMR, Urt v 13.7.1995, 18139/91, HRLJ 1995, 295 ff – Tolstoy Miloslavsky; dazu, dass die Höhe von Strafen oder Schadenersatzbeträgen eine zentrale Rolle spielen kann, vgl auch Urt v 17.12.2004, 33348/96, RJD 2004-XI, 63, §§ 116 ff – Cumpănă u Masăre.
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Lösung Fall 3 Zunächst ist zu klären, ob überhaupt der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit betroffen ist. Im vorliegenden Fall hat S ein Spiegelei über der „Ewigen Flamme“ gebraten. Es handelt sich mithin um eine Realhandlung. Diese Realhandlung sollte mit ihrem gewissen Störungspotenzial auf den Verbrauch von Erdgas und auf die Lebensbedingungen von Veteranen hinweisen. Die Handlung lässt sich als solche also dem Schutzbereich von Art 10 I EMRK zuordnen. Der Eingriff liegt in der gerichtlichen Verurteilung und der Verhängung einer Haftstrafe. Eine Rechtfertigung ist grundsätzlich nur möglich, wenn der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruht. Die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wurde in den letzten Jahrzehnten von der innerstaatlichen Rechtsprechung des betroffenen Landes so präzisiert, dass es nun hinlänglich klar ist, dass eine solche Störung nur vorliegt, wenn das Verhalten einer Person einen Schaden gegenüber einer anderen Person oder Sache verursacht oder verursachen könnte. Es ist ebenso ausreichend klar, dass eine Person aus diesen Gründen festgenommen werden kann. Das von der Konvention verlangte Mindestmaß an Deutlichkeit innerstaatlicher Rechtsnormen ist demnach eingehalten. In Fall 3 wurde die Klägerin gerade nicht dafür verurteilt, dass sie ihre Ansichten oder Äußerungen in einer starken Sprache zum Ausdruck gebracht hatte. Ihre Verurteilung erfolgte vielmehr eng aufgrund eines bestimmten Verhaltens an einem bestimmten Ort, welches durch das ordentliche nationale Strafrecht verboten war. Damit unterlag der Eingriff einer gesetzlichen Grundlage als Teil der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Das Gericht führte darüber hinaus aus, dass es S möglich gewesen wäre, ihre Meinung ohne eine Störung des Gedenkens an die Opfer des Zweiten Weltkriegs zu äußern und zu verbreiten ohne hierbei gegen nationales Strafrecht zu verstoßen. Folglich ist Art 10 Abs 1 EMRK nicht verletzt.
d) Die Privilegierung politischer Kommunikation 46 Die politische Kommunikation wird dadurch besonders geschützt, dass Eingriffe,
die politische Kritik mehr oder weniger unmöglich machen, grundsätzlich als unverhältnismäßig und damit konventionswidrig angesehen werden müssen. So hat der EGMR in mehreren Entscheidungen das Erfordernis eines Wahrheitsbeweises bei Werturteilen im Rahmen politischer Auseinandersetzungen als unverhältnismäßig angesehen und gelegentlich Äußerungen, die von nationalen Gerichten als Tatsachenbehauptungen angesehen wurden, als Werturteile qualifiziert.172 Auch die Forderung, bei einem Bericht über Gerüchte und Erzählungen anderer von Poli-
172 Wird für Werturteile ein Wahrheitsbeweis verlangt, so liegt in aller Regel eine Verletzung von Art 10 EMRK vor; vgl EGMR, Urt v 26.3.1987, 9248/81, EuGRZ 1986, 424, § 46 – Lingens; Urt v 23.5.1991, 1162/85, EuGRZ 1991, 216, § 63 – Oberschlick; Urt v 1.12.2011, 8080/08, Series A, Vol 242-B, § 34 – Schwabe; Urt v 26.2.2002, 28525/95, ÖJZ 2002, 468, §§ 45–46 – Unabhängige Initiative Informationsvielfalt. Anders dagegen die Entscheidung im Fall Castells, Urt v 23.4.1992, 11798/85, Series A, Vol 236, § 48, wo es um Tatsachen ging, die prinzipiell dem Beweis zugänglich waren, die im konkreten Fall aber nicht in das Verfahren eingebracht werden konnten. Thilo Marauhn/Magdalena Jaś-Nowopolska
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zeibrutalität den Nachweis der Richtigkeit zu erbringen,173 und die Verurteilung eines dänischen Journalisten, der in einer Sendung rassistische Äußerungen von Interviewpartnern verbreitet, sich aber nach Auffassung des EGMR davon eindeutig distanziert hatte, ließ der EGMR am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheitern.174 Allerdings machte der EGMR auch deutlich, dass tatsächliche Äußerungen nicht ohne jede Grundlage oder gar böswillig gemacht werden dürfen.175 Steht eine Äußerung in einem wirtschaftlichen Kontext, findet ein weniger 47 strenger Maßstab Anwendung;176 der staatliche Beurteilungsspielraum ist deutlich weiter. So können etwa die Verbreitung richtiger Tatsachenbehauptungen177 oder die Übersendung von Zeitungsartikeln178 durch Regelungen des unlauteren Wettbewerbs beschränkt werden, ohne dass allein dadurch schon der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt wäre. Dies gilt nur eingeschränkt für Standesregeln und darauf gestützte Werbeverbote. Eine extensive Interpretation und Anwendung standesrechtlicher Bestimmungen kommen in diesem Zusammenhang wohl eher nicht in Betracht. Der EGMR betont mit Recht die besondere Bedeutung der Beteiligung fachlich kompetenter Personen an einer öffentlichen Diskussion und macht die Zulässigkeit eines Eingriffs in die Rechte des Art 10 I EMRK davon abhängig, ob der an den Standesregeln zu messende Werbeeffekt eines Diskussionsbeitrages (einer Anwaltskanzlei oder einer Arztpraxis) primär oder bloß sekundär ist.179
173 EGMR, Urt v 25.6.1992, 13778/88, HRLJ 1992, 440, § 65 – Thorgeirson. 174 EGMR, Urt v 23.9.1994, 15890/89, Series A, Vol 298, §§ 33–36 – Jersild; bestätigend EGMR, Urt, 14.12.2006, 10520/02, §§ 33 ff – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 2). 175 EGMR, Urt v 25.6.1992, 13778/88, HRLJ 1992, 440, §§ 63, 67 – Thorgeirson. 176 Calliess, AfP 2000, 248 ff und Grabenwarter, ÖZW 2002, 1 ff; dies gilt jedenfalls für Fälle kommerzieller Werbung, nicht für wirtschaftliche Äußerungen, die eine gesellschaftspolitische Ausrichtung haben, vgl EGMR, Urt v 15.2.2005, 68416/01, NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris und zuvor schon Urt v 17.1.2002, 53440/99, ÖJZ 1999, 614, § 50 – Hertel, wo allerdings auch die Wissenschaftsfreiheit zu berücksichtigen war. Zum Beurteilungsspielraum bei kommerziellen Interessen EGMR, Urt v 5.11.2002, 38743/97, EuGRZ 2003, 488, §§ 41 f – Demuth; krit dazu Scheyli, EuGRZ 2003, 455 (458). Dieser Aspekt wurde auch in EGMR, Urt v 30.1.2018, 69317/14, § 73 – Sekmadienis Ltd genannt. 177 EGMR (Pl), Urt v 20.11.1989, 10572/83, EuGRZ 1996, 302, §§ 35–36 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann. 178 EGMR, Urt v 23.6.1994, 15088/89, EuGRZ 1996, 306, §§ 26–30 – Jacubowski; krit dazu die Mindermeinung im Gericht; zur Kritik an dem den Staaten eingeräumten weiten Beurteilungsspielraum in der genannten Entscheidung sowie in EGMR (Pl), Urt v 20.11.1989, 10572/83, EuGRZ 1996, 302, §§ 35–36 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; vgl auch Calliess, EuGRZ 1996, 293 (295 ff). 179 So die zutreffende Würdigung durch Villiger EMRK, S 440 unter Bezugnahme auf EGMR, Urt v 17.10.2002, 37928/97, EuGRZ 1985, 150, § 58 – Barthold; vgl aber auch Urt v 24.2.1994, 15450/89, HRLJ 1994, 184, §§ 55–56 – Casado Coca, wo der EGMR angesichts der uneinheitlichen Situation in Europa eine weitere Lockerung der Standesregeln über Art 10 EMRK nicht durchsetzen wollte. In der Entscheidung Urt v 20.5.1998, 25405/94 u, RJD 1998-III, 1042, §§ 30–34 – Schöpfer, akzeptierte der EGMR
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e) Anforderungen an potentiell rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, insbesondere: Sorgfaltspflichten der Presse
48
Fall 4: (EGMR, Urt v 20.5.1999, 21980/93, EuGRZ 1999, 453 – Bladet Tromsø) Die B-Zeitung hatte den Bericht eines vom zuständigen Ministerium ernannten Robbenfanginspektors über seine Jagd-Saison-Beobachtung auf einem namentlich genannten Schiff abgedruckt. Der Inspektor stellte in diesem Bericht die Behauptung auf, einige nicht namentlich genannte Mannschaftsmitglieder hätten Robben lebendig gehäutet und eine bestimmte Robbenart vorschriftswidrig gefangen. Der Bericht war im Kontext einer längeren öffentlichen Debatte über den Robbenfang erschienen, in der alle vertretenen Interessen in der B-Zeitung zu Wort kamen. Allerdings war der Zeitung im Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannt, dass der in diesem Fall grundsätzlich gewährte Zugang der Öffentlichkeit zum Bericht vom Ministerium unterbunden worden war, weil die strafrechtlich relevanten Anschuldigungen gegen die Mannschaftsmitglieder geprüft werden sollten. Sowohl der Inspektor als auch die B-Zeitung wurden in der Folge zu Schadensersatzleistungen verurteilt, weil sie den Wahrheitsbeweis für die Tatsachenbehauptungen nicht führen konnten. Der Inspektor und die B-Zeitung behaupten eine Verletzung von Art 10 EMRK.
49 Der grundsätzliche Schutz auch heftiger Kritik an Politikern
180
durch Art 10 I EMRK erfährt zu Gunsten des Ehrschutzes insoweit eine erhebliche Einschränkung, als es eine ständige Straßburger Spruchpraxis gibt, die in diesen Fällen die Meinungsäußerung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzieht.181 Dies ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn es sollte eigentlich um die Verhältnismäßigkeit des zu rechtfertigenden staatlichen Eingriffs gehen und nicht um die Angemessenheit der Ausübung von Grundfreiheiten. Vor diesem Hintergrund ist die einschlägige Spruchpraxis insbesondere wegen der potentiellen Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen Grundfreiheit und zu rechtfertigendem Eingriff kritisch zu bewerten. 50 Besondere Bedeutung kommt den Fällen zu, in denen die durch Art 10 I EMRK gewährleisteten Rechte in Konflikt mit dem über Art 8 EMRK geschützten Persönlichkeitsrecht geraten,182 insbesondere bei der Berichterstattung über das Privatleben von Prominenten.183 Der EGMR knüpft dabei nicht an gegenständliche, sondern
eine einem Anwalt auferlegte Buße als verhältnismäßig, weil dieser in einer Pressekonferenz die Justiz in unangemessener Form angegriffen hatte, statt zu Gunsten seines Klienten zunächst den ordentlichen Rechtsweg zu beschreiten. 180 EGMR, Urt v 15.11.2007, 12556/03, ÖJZ 2008, 161, § 35 – Pfeifer. 181 StRspr seit EGMR, Urt v 26.3.1987, 9248/81, EuGRZ 1986, 424, § 46 – Lingens. 182 Vgl hierzu auch Lenski, NVwZ 2005, 50 ff. 183 Dazu insbesondere EGMR, Urt v 24.6.2004, 59320/00, EuGRZ 2004, 404 ff – von Hannover (Nr 1); Urt v 7.2.2012, 40660/08 u 60641/08, EuGRZ 2012, 278 ff – von Hannover (Nr 2); Urt v 7.2.2012, 39954/08,
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an verhaltensbezogene Kriterien an184 und fragt etwa nach dem Beitrag der Berichterstattung zur Meinungsbildung, nach dem Zusammenhang mit der Wahrnehmung einer öffentlichen Funktion der betroffenen Person und nach deren Verhalten im Umgang mit Medien im Übrigen.185 Auch in zeitlicher Hinsicht differenziert der EGMR.186 Generell gilt, dass der Schutz der Meinungsfreiheit abnimmt, je stärker die private und nicht die gesellschaftliche oder politische Rolle der von der Meinungsäußerung betroffenen Person, aber auch der Diskussion insgesamt betroffen ist.187 Der EGMR unterstreicht aber im Grundsatz deutlich die Gleichrangigkeit des Schutzes der Meinungsfreiheit und des Persönlichkeitsschutzes.188 Der EGMR prüft auch, ob die vom Grundrechtsträger geäußerte Meinung auf 51 andere Weise mit gleicher Wirkung hätte vorgetragen werden können. Vor allem mit Blick auf die Art und Weise der Äußerung, insbesondere deren Schärfe, soll abgewogen werden, ob persönliche Angriffe unbedingt notwendig waren.189 Für den Gerichtshof sind unwahre Tatsachen, ehrenrührige Behauptungen, nicht notwendige Schärfen sowie Werturteile, denen jegliche Faktengrundlage fehlt, daher im Ergebnis nicht geschützt, weil Eingriffe auf dieser Grundlage regelmäßig verhältnismäßig sein dürften.190 Während die einzelnen Fallbeispiele aus der Rechtsprechung im Ergebnis durchaus zu überzeugen vermögen, ist das methodische Vorgehen des EGMR nicht durchgängig nachvollziehbar. Im Zusammenhang mit der Wiedergabe fremder Tatsachenbehauptungen oder 52 Materialien hat der EGMR eine Reihe von Sorgfaltspflichten für die Presse191 ent-
EuGRZ 2012, 294 ff – Axel Springer; Urt v 22.2.2018, 72562/10 – Alpha Doryforiki Tileorasi Anonymi Etairia. 184 Das erläutern Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 111. 185 EGMR, Urt v 24.6.2004, 59320/00, EuGRZ 2004, 404 ff, §§ 63–66 – von Hannover (Nr 1) (entgegen BVerfGE 101, 361, 390 f). 186 Hierzu mwN Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 111 ff. 187 EGMR, Urt v 21.1.1999, 25716/94, NJW 1999, 1318, § 18 – Janowski; Urt v 7.12.2006, 35841/02, ÖJZ 2007, 472, §§ 68 und 71 – Österreichischer Rundfunk; vgl auch Urt v 19.9.2006, 42435/02, §§ 20 und 29 – White. 188 EGMR, Urt v 7.2.2012, 40660/08 u 60641/08, EuGRZ 2012, 278 ff, § 106 – von Hannover (Nr 2); ähnlich Urt v 7.2.2012, 39954/08, EuGRZ 2012, 294 ff, § 87 – Axel Springer. 189 EGMR, Urt v 22.2.1989, 11508/85, Series A, Vol 149, §§ 33–35 – Barfod; krit hierzu Frowein in: ders/ Peukert, EMRK, Art 10 Rn 25. 190 EGMR, Urt v 24.2.1997, 19983/92 u 7/1996/626/809, ÖJZ 1997, 912, § 47 – De Haes und Gijsels; Urt v 26.2.2002, 28525/95, ÖJZ 2002, 468, § 47 – Unabhängige Initiative Informationsvielfalt. Im letzten Fall wurde eine hinreichende Basis für den Vorwurf „rassistischer Agitation“ gegenüber der FPÖ im Zusammenhang mit einem von ihr veranstalteten Volksbegehren zur Begrenzung der Immigration bejaht. 191 EGMR, Urt v 20.10.2015, 11882/10, § 90 – Pentikäinen, Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass der den Journalisten durch Art 10 EMRK gewährte Schutz von der Voraussetzung abhängt, dass sie
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wickelt, die sich unmittelbar auf die Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe auswirken.192 Einerseits hat der EGMR anerkannt, dass für eine im Umlauf befindliche Information kein dringendes Geheimhaltungsinteresse mehr besteht.193 Bei anonymen Informanten dürfte das Quellenschutzinteresse jedenfalls dann überwiegen, wenn dem Betroffenen auf der anderen Seite nur ein geringer Schaden droht.194 Insoweit ist die Presse von Sorgfaltspflichten noch weitgehend freigestellt. Wird der Presse Material anonym zugesandt, so stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich der Journalist vergewissern muss, dass die Informationen zutreffend sind. Grundsätzlich können solche Informationen wohl nur veröffentlicht werden, wenn der Journalist deren Authentizität überprüft hat,195 es sei denn es gibt besondere Gründe, die Presse von dieser Verpflichtung zu entbinden, wie etwa die Vertrauenswürdigkeit der erlangten Informationen.196 Festzuhalten ist, dass der Abdruck ehrenrühriger Tatsachenbehauptungen selbst dann zulässig sein kann, wenn deren Wahrheitsgehalt auch nachträglich nicht bewiesen werden kann.197
53
Lösung Fall 4: Weitgehend unproblematisch zu bejahen sind die Einschlägigkeit des Schutzbereichs, das Vorhandensein eines Eingriffs sowie die Einschlägigkeit des Ehrschutzes als eines zulässigen Eingriffszwecks. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob der Eingriff einem zwingenden sozialen Bedürfnis entsprach, ob er in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Zweck stand und ob die Begründung der innerstaatlichen Behörden nach Art 10 II EMRK ausreichend war. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Zeitung nicht nur diesen einen Artikel über die Robbenjagd veröffentlicht hat-
in gutem Glauben handeln, um richtige und verlässliche Informationen entsprechend den Grundsätzen des verantwortlichen Journalismus zur Verfügung zu stellen. (...) Das Konzept des verantwortlichen Journalismus, als eine den Schutz von Art 10 EMRK genießende berufliche Aktivität, ist allerdings nicht auf den Inhalt einer Information beschränkt, die mit journalistischen Mitteln gesammelt und/oder verbreitet wird. Dieses Konzept umfasst auch ua die Rechtmäßigkeit des Verhaltens eines Journalisten, einschließlich seiner öffentlichen Interaktion mit den Behörden bei der Ausübung seiner journalistischen Funktionen – was für den vorliegenden Fall relevant ist. Wenn sich ein Journalist nicht an die Rechtsvorschriften hält (in diesem Fall eine Anordnung der Polizei, den Platz zu verlassen), ist das ein entscheidender Faktor für die Beurteilung, ob "verantwortungsvoller Journalismus" vorliegt, der den Schutz des Art 10 EMRK genießt. 192 Ausführlich dazu EGMR, Urt v 30.3.2004, 53984/00, RJD 2004-II, 119, § 39 – Radio France und Urt v 19.9.2006, 42435/02, § 21 – White. 193 EGMR, 13585/88, Series A, Vol 306-A, §§ 44 ff – Vereniging Weekblad Bluf!. 194 EGMR, Urt v 27.3.1996, 17488/90, RJD 1996-II, 483, §§ 42–45 – Goodwin; zum Informanten- und Quellenschutz vgl auch 27.11.2007, 20477/05, NJW 2008, 2565 – Tillack; Urt v 10.12.2007, 69698/01, NJW-RR 2008, 1141 – Stoll; Urt v 5.10.2017, 10795/1 – Becker. 195 EGMR, Urt v 21.1.1999, 29183/95, EuGRZ 1999, 5, §§ 53–55 – Fressoz und Roire. 196 EGMR, Urt v 20.5.1999, 21980/93, EuGRZ 1999, 453, § 66 – Bladet Tromsø. 197 Prepeluh, ZaöRV 2001, 771 (801); Hoffmeister, EuGRZ 2000, 358 (366).
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te, sondern über einen längeren Zeitraum alle unterschiedlichen Standpunkte zu Wort kommen ließ. Die umstrittenen Artikel sollten demnach nicht einzelne Personen diffamieren, sondern eine ausgewogene Berichterstattung gewährleisten. Das Recht der Journalisten, Informationen zu Fragen von allgemeinem Interesse zu verbreiten, wird von Art 10 EMRK jedoch nur insoweit geschützt, als sie sich im guten Glauben und auf Grundlage exakter Tatsachen äußern, die journalistische Berufsethik gewahrt ist sowie zuverlässige und sachliche Informationen liefern. Zu prüfen ist, ob im vorliegenden Fall besondere Gründe vorlagen, die die Zeitung von der Verpflichtung, Tatsachenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, entbunden hätten. Diese Frage hängt etwa auch von der Art und Intensität der gemachten Äußerungen ab. Obwohl manche Anschuldigungen schwerwiegend waren, wurde deren potentielle nachteilige Wirkung auf Ruf und Rechte jedes einzelnen Robbenjägers dadurch abgeschwächt, dass die Kritik nicht gegen die gesamte Besatzung oder einzelne namentlich genannte Besatzungsmitglieder gerichtet war. Zudem konnte die B-Zeitung zum damaligen Zeitpunkt dem Bericht des Inspektors vernünftigerweise vertrauen, handelte es sich doch um einen offiziellen Bericht, hinsichtlich dessen im Übrigen auch nicht absehbar war, dass die Veröffentlichung eventuell rechtswidrig wäre. Würde man der Presse hier noch die Pflicht zu eigenen Recherchen auferlegen, könnte sie ihre „Kontroll“Funktion in öffentlichen Angelegenheiten nicht mehr ohne weiteres erfüllen. Wägt man den vergleichsweise geringen Schaden für die einzelnen Besatzungsmitglieder und den Kenntnisstand der B-Zeitung ab, so kann man nicht daran zweifeln, dass diese in gutem Glauben handelte. Der Eingriff stellt sich damit als unverhältnismäßig dar.
f) Der staatliche Beurteilungsspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und zum Schutz religiöser Überzeugungen Der EGMR hat stets betont, dass es keine europäische Konzeption von Moral gibt 54 und dass die staatlichen Behörden grundsätzlich in der Lage seien, die Angemessenheit von diesen Zwecken dienenden Eingriffen in die von Art 10 I EMRK gewährleisteten Rechte zu beurteilen. So hielt er die englischen Gerichte für berechtigt, schädliche Wirkungen für die Moral von Kindern und Heranwachsenden bei der Beurteilung eines umstrittenen Buches zu bejahen.198 In ähnlicher Weise hat der EGMR religiösen Vorstellungen Raum gelassen. Ausdrücklich stellte er fest, dass es nicht möglich sei, in Europa Einvernehmen über den Stellenwert bestimmter religiöser Überzeugungen in der Gesellschaft zu erzielen.199 Obwohl für Beschränkungen der Meinungsfreiheit im Rahmen politischer und sonstiger öffentlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich wenig Raum bleibt, ist es zum Schutz religiöser Überzeugungen vor allem auch in Ermangelung europaweit einheitlicher Wertvorstellungen in erster Linie Sache staatlicher Behörden, die Verhältnismäßigkeit von
198 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 52 – Handyside. 199 EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87, HRLJ 1994, 371, § 50 – Otto-Preminger-Institut; vgl auch Grabenwarter, ZaöRV 1995, 128 ff.
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Eingriffen zu beurteilen. Der EGMR begründet dies auch damit, dass die staatlichen Behörden direkten und ständigen Kontakt mit den gesellschaftlichen Kräften ihrer Länder haben.200 Illustrativ für die Zurückhaltung der Straßburger Organe ist der Fall eines Belgiers, der für die Verteilung einer in den Niederlanden frei erhältlichen Zeitschrift verurteilt wurde. Die Kommission hielt selbst diesen Eingriff für verhältnismäßig.201 55 Nicht überzeugend ist die Entscheidung des EGMR im Fall eines Künstlers, der Bilder pornographischen Inhalts gemalt und ausgestellt hatte. Der Künstler sollte nicht nur bestraft werden, sondern es sollten auch seine Bilder vernichtet werden. Während die Kommission nur die Verurteilung für verhältnismäßig hielt, erachtete der EGMR sowohl diese als auch die angedrohte Vernichtung als verhältnismäßig.202 Obwohl die Bilder tatsächlich noch nicht vernichtet und dem Beschwerdeführer dann in der Tat wenige Monate vor dem Urteil des Gerichtshofs zurückgegeben worden waren, hat es der EGMR in diesem Fall versäumt, eine umfassende Angemessenheitsprüfung in Anbetracht des von den Maßnahmen verfolgten Zieles vorzunehmen. Begründen lässt sich diese Entscheidung nur damit, dass der EGMR überfordert wäre, wenn er einheitliche Moralvorstellungen für alle Vertragsstaaten herbeiführen müsste. Immer dann, wenn es um Eingriffe geht, die dem Schutz der Moral oder der Religion dienen, greift der vom EGMR stets betonte staatliche Beurteilungsspielraum, der die Kontrolldichte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung erheblich lockert.
g) Der Prüfungsmaßstab bei Eingriffen in die Rundfunk- und Fernsehfreiheit 56 Für die Rundfunk- und Fernsehfreiheit kommt es im Wesentlichen darauf an, wel-
che Vorgaben Art 10 I 3 EMRK für die Regelung der Rundfunkorganisation macht. Ohne Zweifel verbleibt den Mitgliedstaaten eine gewisse Freiheit, die technischen Aspekte von Radio und Fernsehen zu regeln. In diesem Zusammenhang bietet Satz 3 die Grundlage für die Durchsetzung völkerrechtlicher Bestimmungen des Telekommunikationsrechts.203 Dabei ist allerdings der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. So hielt der EGMR die Verweigerung einer behördlichen Genehmigung durch schweizerische Behörden zum Empfang eines Rundfunkprogramms für unverhältnismäßig, weil – abgesehen von einer fehlenden Einwilligung in den Empfang eines sowjetischen Rundfunkprogramms seitens der damaligen UdSSR – keine 200 EGMR, Urt v 25.11.1996, 17419/90, RJD 1996-V, 1937, § 58 – Wingrove; vgl dazu auch Kolonovits in: Grabenwarter/Thienel, Kontinuität und Wandel der EMRK, 1998, 169 ff. 201 EKMR, Entsch v 22.4.1997, 21830/93, DR 9, 13 ff X, Y und Z. 202 EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/84, EuGRZ 1988, 543, §§ 35–36 und 43 – Müller. 203 EGMR (Pl), Urt v 28.3.1990, 10890/84, EuGRZ 1990, 255, §§ 60 f – Groppera Radio AG.
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Gründe ersichtlich waren, den Empfang eines unverschlüsselten, für die Allgemeinheit in der UdSSR bestimmten Programms zu verbieten.204 In ähnlicher Weise dürfte die Beschränkung der Errichtung individueller Empfangsanlagen auf der Grundlage denkmalschutzrechtlicher und baurechtlicher Vorschriften jedenfalls dann einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen, wenn eine Kollektivantenne kein gleichwertiges Empfangsangebot ermöglicht.205 Daraus ergibt sich gleichzeitig ein Anspruch auf freien Empfang der Sendungen206. Soweit die Bestimmung nicht nur technische Aspekte regelt, hat der Gerichtshof 57 das Genehmigungsverfahren den Bedingungen von Art 10 II EMRK unterstellt. Mit dieser – dogmatisch nicht ohne weiteres nachvollziehbaren, teleologisch aber überzeugenden, weil dem technischen Fortschritt und den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragenden – Interpretation von Art 10 I 3 EMRK gehört die Freiheit des Privatrundfunks und Privatfernsehens207 nicht nur zum Schutzbereich des Grundrechts, sondern ein staatliches Radio- und Fernsehmonopol erscheint auch als unverhältnismäßig.208 Jedenfalls dann, wenn ein an die EMRK gebundener Staat das (überkommene) Radio- oder Fernsehmonopol gelockert und Genehmigungen für private Sender eingeführt hat, ist die Erteilung und die Verteilung der Genehmigungen an Art 10 II EMRK zu messen. Dies hindert die Staaten nicht daran, andere als technische Aspekte bei der Erteilung einer Genehmigung zu berücksichtigen, wie beispielsweise Natur und Ziele einer Station, den kulturellen Pluralismus,209 Besonderheiten der staatlichen Organisation (wie zB bundesstaatliche Eigenheiten) oder auch nicht-technische Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen.210 Soweit damit Einschränkungsziele verfolgt werden, die nicht nach Art 10 II EMRK gerechtfertigt sind, hält der Gerichtshof dies grundsätzlich für unschädlich und für durch
204 EGMR (Pl), Urt v 22.5.1990, 12726/87, EuGRZ 1990, 261, § 63 – Autronic; Villiger EMRK, S 456. 205 EGMR (Pl), Urt v 22.5.1990, 12726/87, EuGRZ 1990, 261, § 47 – Autronic; vgl außerdem die nachfolgenden Kommissionsentscheidungen v 17.5.1984, DR 37, 236 – Radio X; v 5.3.1985, 10248/83, DR 41, 141 – A; v 13.12.1988, 12726/87 – Autronic, § 49; Urt v 6.6.1991, 13253/87, § 3 – Ebner. 206 Villiger EMRK, S 457. 207 Vgl allgem Engel Privater Rundfunk vor der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1993. 208 EGMR, Urt v 24.11.1993, 13914/88, EuGRZ 1994, 549, §§ 39 und 41–43 – Informationsverein Lentia; vgl auch die friedliche Streitbeilegung im Fall Telesystem Tirol Kabeltelevision, Urt v 9.6.1997, 19182/ 91, RJD 1997-III, 970, sowie die Entscheidung v 20.10.1997, 19736/92, RJD 1997-VI, 2188, §§ 31–33 – Radio ABC. Der EGMR (Urt v 21.9.2000, 32240/96, ÖJZ 2001, 156 ff – Tele 1 Privatfernsehgesellschaft MBH) hielt ein Monopol für terrestrisches Fernsehen bei gleichzeitig vorhandener Möglichkeit der Verbreitung von Fernsehprogrammen über Kabel allerdings nicht für unverhältnismäßig und damit nicht für konventionswidrig. 209 Der EGMR hat es sogar nicht beanstandet, dass ein Konventionsstaat einseitige kommerzielle Spartenprogramme verhindert, EGMR, Urt v 5.11.2002, 38743/97, EuGRZ 2003, 488 – Demuth. 210 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 19.
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Art 10 I 3 EMRK gedeckt,211 verlangt jedoch die Beachtung der anderen Voraussetzungen von Art 10 II EMRK, insbesondere das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage sowie die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.212 58 Weitere Vorgaben für die Regelung der Rundfunkorganisation ergeben sich nicht ausdrücklich aus dem Wortlaut der Vorschrift, lassen sich aber in der Spruchpraxis der Konventionsorgane ausmachen. Insbesondere hat der EGMR das Gebot des Medienpluralismus anerkannt und dieses im Zusammenhang mit Art 10 II EMRK und dem „Schutz der Rechte anderer“ berücksichtigt.213 Allerdings haben die Konventionsorgane – anders als die nicht immer überzeugenden „Fernsehurteile“ des Bundesverfassungsgerichts214 – eine begrüßenswerte Zurückhaltung insoweit geübt, als sie der Versuchung widerstanden haben, auf der Grundlage der Rundfunk- und Fernsehfreiheit eine umfassende Rechtsordnung für die Massenmedien zu entwickeln. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der EGMR der Rundfunk- und Fernsehfreiheit gar einen Gestaltungsauftrag für den Gesetzgeber entnehmen würde. Damit besteht für Straßburg auch keine Gefahr, dass grundrechtsdogmatisch eine Metamorphose der Medienfreiheit hin zur Pflicht stattfindet.215
III. Versammlungsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 21.6.1988, 10126/82, EuGRZ 1989, 522 ff – Plattform „Ärzte für das Leben“; Urt v 26.4.1991, 11800/85, HRLJ 1991, 185 – Ezelin; Urt v 2.10.2001, 29221/95 u 29225/95, RJD 2001-IX, 273 – Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden; Urt v 9.4.2002, 51346/99, RJD 2002-III, 1 – Cisse; Urt v 29.6.2006, 76900/01, ÖJZ 2007, 79 – Öllinger; EKMR, Entsch v 19.10.1979, 8191/ 78, EuGRZ 1980, 36 ff – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne; EGMR, Urt v 15.5.2014, 19554/ 05 – Taranenko; EGMR, Urt v 15.10.2015, 37553/05 – Kudrevičius; EGMR, Urt v 15.11.2018, 29580/12 – Navalny.
Schrifttum: Bröhmer in: EMRK/GG, Kap 19; Fitzpatrick/Taylor Trespassers Might be Prosecuted: The European Convention and Restrictions on the Right to Assemble, EHRLR 1998, 292 ff; Grabenwarter/ Pabel EMRK, 458 ff; Peters/Altwicker EMRK, §§ 15, 16.
59 Ebenso wie das Recht der Meinungsfreiheit gehört das Recht der Versammlungs-
freiheit, das in Art 11 I EMRK gewährleistet wird, zu den für ein demokratisch ver-
211 EGMR, Urt v 24.11.1993, 13914/88, EuGRZ 1994, 549, § 32 – Informationsverein Lentia. 212 EGMR (Pl), Urt v 28.3.1990, 10890/84, EuGRZ 1990, 255, § 61 – Groppera Radio AG; Urt v 24.11.1993, 13914/88, EuGRZ 1994, 549, §§ 32 f – Informationsverein Lentia. 213 EGMR (Pl), Urt v 28.3.1990, 10890/84, EuGRZ 1990, 255, §§ 69 und 70 – Groppera Radio AG; zustimmend Probst Art 10 EMRK – Bedeutung für den Rundfunk in Europa, 1996, S 26. 214 Vgl dazu Stock, JZ 1997, 583 ff. 215 Vgl die Kritik an der Rspr des BVerfG bei Engel, AfP 1994, 185 ff.
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fasstes Gemeinwesen grundlegenden Freiheiten. Die Versammlung ist nicht nur eine besondere Form der Meinungsäußerung. Sie löst Isolierung auf, vermittelt ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und ermöglicht die Bildung und Äußerung individueller wie auch kollektiver Meinungen. Damit trägt die Versammlungsfreiheit zur Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit bei und sichert als bedeutender Faktor im Vorfeld institutionalisierter politischer Entscheidung die Demokratie.216 Der EGMR betont, dass die Versammlungsfreiheit von grundlegender Bedeutung für Toleranz und Pluralismus ist.217 Geschützt sind sowohl die Organisatoren von Versammlungen als auch deren Teilnehmer. Fall 5: (EGMR, Urt v 2.10.2001, 29221/95 u 29225/95, RJD 2001-IX, 273 ff – Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden)
S war Vorsitzender einer Organisation, die mit dem Ziel gegründet worden war, eine spezifische ethnische Minderheit auf einer religiösen und kulturellen Basis zu einigen und deren Anerkennung als Minderheit in B zu erreichen. Nachdem der Organisation die Eintragung als Vereinigung von den Gerichten mit der Begründung verweigert worden war, dass ihre Ziele in Wahrheit gegen die Einheit der Nation und auf die Förderung von ethnischem Hass gerichtet wären und sie eine Gefahr für die territoriale Integrität des Staates darstellen würde, wurde dem S und seiner Organisation über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg wiederholt die Abhaltung von Versammlungen oder Gedenkfeiern an historischen Plätzen behördlich untersagt. Die dagegen angerufenen Gerichte wiesen die Rechtsmittel jeweils mit der Begründung ab, dass aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Organisation um eine verbotene Vereinigung handle, begründete Bedenken bestanden hätten, dass die Versammlungen oder Gedenkfeiern die öffentliche Ordnung und die Rechte und Freiheiten anderer gefährden würden. S und die Organisation sehen sich in ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit nach Art 11 EMRK verletzt.
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1. Schutzbereich Der Begriff der Versammlung wird in Art 11 I EMRK nicht definiert. Auch der EGMR 61 hat den Begriff nicht definiert und dies mit der Gefahr einer zu restriktiven Auslegung des Versammlungsbegriffs begründet218. In Übereinstimmung mit Rechtsprechung und Literatur ist darunter das Zusammenkommen von Menschen mit dem Zweck, untereinander oder gegenüber Dritten Meinungen mitzuteilen, zu dis-
216 EGMR, Urt v 13.8.1981, 76011/76 u 7806/77, EuGRZ 1981, 559, § 57 – Young, James u Webster; Urt v 26.4.1991, 11800/85, HRLJ 1991, 185, § 37 – Ezelin. 217 EGMR, Urt v 3.5.2007, 1543/06, § 62 – Bączkowski. 218 EGMR, Urt v 15.11.2018, 29580/12, § 98 – Navalny. Zur engen Auslegung vom Recht auf Versammlungsfreiheit: Urt v 15.10.2015, 37553/05, § 91 – Kudrevičius; EGMR, Urt v 15.5.2014, 19554/05, § 65 – Taranenko. Thilo Marauhn/Magdalena Jaś-Nowopolska
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kutieren oder ihnen symbolischen Ausdruck zu geben, zu verstehen.219 Fehlt einer Gruppe von Menschen das Bewusstsein, der gemeinsame Zweck oder ein Mindestmaß an Organisation, so kann man kaum von einer Versammlung sprechen. Ein Menschenauflauf ist keine Versammlung. Trotz des Beitrags, den die Versammlungsfreiheit zur Demokratie leistet, sollte der Schutzbereich nicht auf politische Zusammenkünfte beschränkt werden. Es ist nicht ersichtlich, warum Versammlungen zu gesellschaftlichen Zwecken nur den Schutz von Art 8 EMRK genießen sollen,220 obwohl sie im Einzelfall durchaus eine kommunikative Zwecksetzung aufweisen können.221 62 Art 11 I EMRK schützt unterschiedliche Erscheinungsformen von Versammlungen, deren Vorbereitung und deren Durchführung: Zusammenkünfte mit öffentlichem oder privatem Charakter, Versammlungen unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen, ortsgebundene Veranstaltungen und Umzüge sowie Veranstaltungen von kurzer oder unbegrenzter Dauer. Die Versammlungsfreiheit ist nicht nur in privaten Räumen oder auf privaten Grundstücken geschützt. Vielmehr sind im Besonderen auch öffentliche Plätze für die Realisierung der Versammlungsfreiheit von Bedeutung, kann doch gerade dort die kollektive Meinungsäußerung ihre Wirkung entfalten.222 Art 11 I EMRK gewährleistet daher nicht nur die (engere) Versammlungsfreiheit, sondern auch die (weitere) Demonstrationsfreiheit, in deren Schutzbereich beispielsweise auch „sit-ins“ fallen.223 So ist auch die von der Kirchenleitung geduldete Besetzung einer Kirche durch eine Gruppe von Ausländern ohne Aufenthaltsgenehmigung als Versammlung angesehen worden.224 63 Schon von ihrer Funktion als unentbehrlicher Bestandteil einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung her ist allein die gewaltfreie Kommunikation in einer demokratischen Gesellschaft geschützt. Der Wortlaut von Art 11 I EMRK bezieht ausdrücklich nur friedliche Versammlungen in den Schutzbereich ein. Da insbesondere bei Demonstrationen auch die gezielte Provokation ein wesentliches Ausdrucksmittel ist, dürfen lediglich krasse Fälle der Gewalttätigkeit dazu führen, Versammlungen a priori vom Schutzbereich des Art 11 I EMRK auszunehmen. Unfriedlich sind in erster Linie solche Versammlungen, die von Anfang an von den Veranstaltern zur gewaltsamen Durchsetzung von Zielen geplant sind. Nicht ausrei-
219 EGMR, Urt v 21.6.1988, 10126/82, EuGRZ 1989, 522, § 12 – Plattform „Ärzte für das Leben“. 220 So aber Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 2 und Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 69. 221 Müller Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl 2008, S 580 f. 222 EKMR, Entsch v 19.10.1979, 8191/78, EuGRZ 1980, 36, § 3 – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. 223 EKMR, Entsch v 13.12.1963, 1747/62, DR 60, 256, § 2 – X. 224 EGMR, Urt v 9.4.2002, 51346/99, RJD 2002-III, 1, §§ 35–39 – Cisse.
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chend sind unfriedliche Ereignisse am Rande einer Demonstration oder der Versuch von Extremisten, Versammlungen zu unterlaufen.225 In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass Art 11 I EMRK den Staaten 64 auch die positive Verpflichtung auferlegt, für den Schutz von Demonstrationen zu sorgen.226 Sonst könnte aus Furcht vor gewaltsamen Gegendemonstrationen die Ausübung des Rechtes aus Art 11 I EMRK praktisch verhindert werden.227 Dabei obliegt dem Staat allerdings die Wahl der Mittel. Diese positive Schutzpflicht hat auch Auswirkungen auf die Zulässigkeit von Gegendemonstrationen. Es ist durchaus vertretbar, diese jedenfalls dann nicht mehr dem Schutzbereich von Art 11 I EMRK zuzuordnen, wenn sie ausschließlich darauf abzielen, eine andere Demonstration zu stören. Vorzugswürdig dürfte allerdings eine Bewertung von Gegendemonstrationen anhand von Art 11 II EMRK sein.
2. Eingriff Während ein Genehmigungserfordernis für die Durchführung von Veranstaltungen 65 auf öffentlichen Plätzen nicht als Eingriff zu werten ist, stellt ein Versammlungsverbot ohne Zweifel einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Auch andere Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, die sich auf die Vorbereitung, Organisation und Durchführung von Versammlungen beziehen, lassen sich ohne Probleme als Eingriff qualifizieren. Ebenso stellen spätere disziplinarische oder strafrechtliche Sanktionen wegen der Teilnahme an einer Demonstration einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar.228
225 EGMR, Urt v 26.4.1991, 11800/85, HRLJ 1991, 185, § 39 – Ezelin; EKMR, Entsch v 16.7.1980, 8440/78, EuGRZ 1981, 216, § 4 – Christians against Racism and Facism; EGMR, Urt v 15.10.2015, 37553/05, § 94 – Kudrevičius: Einem Demonstranten geht das Recht auf Versammlungsfreiheit nicht wegen einzelner Gewalttaten oder Straftaten verloren, die andere begangen haben, wenn er dabei selbst friedlich geblieben ist. 226 Dazu Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 19 Rn 92 ff. 227 EGMR, Urt v 21.6.1988, 10126/82, EuGRZ 1989, 522, § 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“. 228 EGMR, Urt v 26.4.1991, 11800/85, HRLJ 1991, 185, § 39 – Ezelin. In einem anderen Fall wurden die Teilnehmer eines Kirchenasyls in Folge der Räumung teilweise festgenommen, abgeschoben oder ausgewiesen. Auch darin sah der EGMR einen Eingriff in das Recht aus Art 11 EMRK; EGMR, Urt v 9.4.2002, 51346/99, RJD 2002-III, 1, § 40 – Cisse.
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3. Rechtfertigung 66 Art 11 II 1 EMRK folgt dem Muster der Eingriffsrechtfertigungen der Art 8 bis 10
EMRK.229 Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind danach gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen230, einen der in Art 11 II 1 EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Diese Bedingungen müssen kumulativ vorliegen.
a) Zulässige Eingriffszwecke 67 Unter den in Art 11 II 1 EMRK genannten Zwecken, die der Rechtfertigung von Eingriffen in die Versammlungs-, die Vereinigungs- und die Koalitionsfreiheit dienen, kommen Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit und zur Aufrechterhaltung der Ordnung für die Versammlungsfreiheit besondere Bedeutung zu. Die übrigen Eingriffszwecke (nationale Sicherheit,231 Verbrechensverhütung, Schutz der Gesundheit232 und der Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) haben in der Praxis bislang allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt.
b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 68 Der Prüfung der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen kommt im Rahmen
von Art 11 II 1 EMRK entscheidende Bedeutung zu.233 Dabei ist zwischen direkten und indirekten Eingriffen sowie zwischen Versammlungsverboten und milderen Eingriffen zu unterscheiden. 69 Indirekte Eingriffe unterliegen insofern einer strengen Prüfung, als disziplinarische und strafrechtliche Sanktionen nur unter engen Voraussetzungen und nur in Bezug auf die Personen angewendet werden dürfen, die selbst vorwerfbare Akte be-
229 EGMR, Urt v 5.10.2006, 72881/01, EuGRZ 2007, 24, § 60 – Moskauer Zweig der Heilsarmee. 230 Eingriffe bedürfen zunächst einer gesetzlichen Grundlage, die rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht – die Gebote der Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit spielen eine wichtige Rolle; vgl EGMR, Urt v 14.11.2017, 41226/09, §§ 56 ff – Işıkırık; Urt v 10.7.2018, 46713/10, §§ 53 ff – Bakir ua. 231 Vgl auch EKMR, Urt v 13.12.2007, 39051/03, DR 36, 187 ff – Vereinigung X und Y; EGMR, Urt v 2.10.2001, 29221/95 u 29225/95, RJD 2001-IX, 273 – Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden. 232 Ein aktuelles Beispiel sind entsprechende Beschränkungen aus Gründen des Gesundheits- und Infektionsschutzes im Rahmen der Maβnahmen gegen SARS-CoV-2. Entscheidungen des EGMR bleiben noch abzuwarten. 233 Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 19 Rn 86.
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gehen. Für andere Personen darf das Recht zur friedlichen Versammlung in Anbetracht seiner Bedeutung nicht auf diesem Wege eingeschränkt werden.234 Direkte Eingriffe sind in der Gestalt von Versammlungsverboten nur aus- 70 nahmsweise zulässig. Ein allgemeines Veranstaltungsverbot über einen Zeitraum von zwei Tagen im Zusammenhang mit den teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Bildung des Kantons Jura wurde von der früheren Kommission als verhältnismäßig angesehen.235 Auch ein sehr viel weiter gehendes, für zwei Monate geltendes Demonstrationsverbot in der Londoner Innenstadt wurde als verhältnismäßig angesehen. Allerdings betonte die frühere Kommission in diesem Fall den Ausnahmecharakter eines solchen generellen Verbots.236 Unterhalb der Schwelle von Versammlungsverboten ist die Verhältnismäßig- 71 keit direkter Eingriffe anhand einer Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen zu beurteilen, bei der die mit der Durchführung der Veranstaltung verbundenen Beeinträchtigungen der in Art 11 II 1 EMRK genannten Schutzgüter, das Ausmaß des Eingriffs und die Möglichkeit weniger weitgehender Maßnahmen in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen sind. In Anbetracht erheblicher Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung ist es etwa zulässig, die Wahl des Ortes einer Versammlung237 oder der Route einer Demonstration zu beschränken.238 Als unverhältnismäßig stufte der EGMR dagegen die präventive mehrtägige Ingewahrsamnahme von Personen ein, die an einer Demonstration während des G8-Gipfels teilnehmen wollten und von denen die Polizei Gewaltanwendungen befürchtete.239 Die Verhältnismäßigkeit muss die Behörde auch beachten, wenn eine Anmeldung oder Genehmigung einer Demonstration fehlt. Es muss festgestellt werden, weshalb die Genehmigung fehlt, welches öffentliche Interesse betroffen ist und welche Gefahren die Demonstration mit sich bringt. Eine Rolle bei der Prüfung
234 EGMR, Urt v 26.4.1991, 11800/85, HRLJ 1991, 185, § 53 – Ezelin; vgl auch EKMR, Entsch v 13.12.1963, 1747/62, DR 29, 194, § 2 – X. 235 EKMR, Entsch v 19.10.1979, 8191/78, EuGRZ 1980, 36, § 11 – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. 236 EKMR, Entsch v 16.7.1980, 8440/78, EuGRZ 1981, 216, § 5 – Christians against Racism and Facism. 237 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung EGMR, Urt v 6.5.2003, 44306/98, RJD 2003-VI, 185 §§ 25 ff – Appleby, die zwar zu Art 10 EMRK ergangen ist, deren Grundsätze aber auf Art 11 EMRK übertragbar sind. Der EGMR hat dort betont, dass aus der Meinungsäußerungsfreiheit keine Freiheit der Wahl des Ortes, an dem die Meinungsäußerung erfolgen soll, folgt. Eingehend dazu Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 19 Rn 83 ff. 238 Zum Verbot einer Demonstration auf dem Trafalgar Square in London vgl EKMR, DR 81-A, 146 ff – „Negotiate Now“. 239 EGMR, Urt v 1.12.2011, 8080/08, EuGRZ 2012, 141 ff – Schwabe und M.G.
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der Verhältnismäßigkeit spielt, wie die Polizei die Protestierenden von ihrem Vorhaben abgebracht hat und ob die Demonstration aufgelöst wurde.240
c) Besondere Einschränkungen für staatliche Bedienstete 72 Die besonderen Einschränkungen für staatliche Bedienstete, die in Art 11 II 2 EMRK
vorgesehen sind, haben bislang nur geringe praktische Bedeutung erlangt – und dies auch eher im Kontext der Vereinigungsfreiheit, wo sie näher behandelt werden (→ Rn 80 f), als bei der Prüfung von Eingriffen in die Versammlungsfreiheit. In einem Verfahren, bei dem es um die Verhältnismäßigkeit disziplinarischer Maßnahmen gegenüber niederländischen Soldaten ging, konnte der EGMR sich darauf zurückziehen, dass die Betroffenen nicht wegen ihrer Teilnahme an einer Versammlung bestraft worden waren.241
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Lösung Fall 5: Da nicht ersichtlich ist, dass die Organisatoren der Versammlungen oder Gedenkfeiern gewalttätige Absichten gehabt hätten, ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit eröffnet. In Gestalt der Versammlungsverbote liegt ein Eingriff in das Recht auf Versammlungsfreiheit vor. Eine gesetzliche Grundlage unterstellt, verfolgte der Eingriff das legitime Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Fraglich ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Ausgehend von dem engen Zusammenhang zwischen Art 10 EMRK und Art 11 EMRK242 ist es in diesem Fall besonders problematisch, dass die Eingriffe in die Versammlungsfreiheit zumindest teilweise in Reaktion auf die von den Teilnehmern vertretenen Ansichten erfolgten. Es besteht kein Zweifel, dass die Einwohner einer Region eines Landes berechtigt sind, Vereinigungen zur Förderung der speziellen regionalen Charakteristika zu bilden. Insbesondere ist die Tatsache, dass eine solche Vereinigung ein „Minderheitenbewusstsein“ geltend macht, für sich allein noch kein Grund für einen Eingriff in die Rechte des Art 11 EMRK. Auch die Verweigerung der Eintragung genügt nicht, um eine Praxis von systematischen Verboten bezüglich der Abhaltung von Versammlungen zu rechtfertigen. Weder der behauptete Einsatz von Waffen noch eine Gefahr für die öffentliche Ordnung ließen sich hinreichend belegen. Allenfalls die Verbreitung separatistischer Ideen ließ sich im konkreten Fall nachweisen. Dies reicht aber nicht aus, um ein Versammlungsverbot zu rechtfertigen. In einer demokratischen Gesellschaft, die auf dem Rechtsstaatsprinzip beruht, muss politischen Ideen, welche die bestehende Ordnung angreifen und deren Verwirklichung durch friedliche Mittel angestrebt wird, angemessene Gelegenheit zur Verbreitung, wie etwa durch Versammlungen oder andere gesetzliche Mittel, gegeben werden. Insgesamt stellt sich der Eingriff daher als in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig dar. Art 11 EMRK ist verletzt.
240 EGMR, Urt v 12.6.2014, 17391, § 119 – Primov; Urt v 15.10.2015, 37553/05, § 151– Kudrevičius. 241 EGMR, Urt v 8.6.1976, 5100/71, 5102/71 u 5102/71, EuGRZ 1976, 221, § 108 – Engel. 242 Im Taranenko-Urteil (EGMR, Urt v 15.5.2014, 19554/05, §§ 68 ff – Taranenko) wurden die Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit eng miteinander verbunden.
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IV. Vereinigungsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 23.6.1981, 8876/75 u 7238/75, EuGRZ 1981, 551 ff – Le Compte, Van Leuven and De Meyere; Urt v 30.1.1998, 19392/92, RJD 1998-I, 1 ff – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei; Urt v 29.4.1999, 25088/94, 28331/95 u 28443/95, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou; Urt v 15.9.2011, 17080/07, NuR 2008, 489 ff – Schneider; Urt v 13.2.2003, 41340/98, 41342/98, 41343(98 u 41344/98, EuGRZ 2003, 206 ff – Refah Partisi, Erbakan, Kazan und Tekdal.
Schrifttum: Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, EGMR/GG, Kap 19; Grabenwarter/Pabel EMRK, 468 ff; Klein, Parteiverbotsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, ZRP 2001, 397 ff; Koch, Parteiverbote, Verhältnismäßigkeitsprinzip und EMRK, DVBl 2002, 1388 ff; Pabel, Parteiverbote auf dem europäischen Prüfstand, ZaöRV 2003, 921 ff; Tomuschat in: MacDonald ua, The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 493 f; Wildhaber Politische Parteien, Demokratie und Art 11 EMRK, FS Schefold, 2001, S 257 ff.
Fall 6: (EGMR, Urt v 13.2.2003, 41340/98, 41342/98, 41343/98 u 41344/98, EuGRZ 2003, 206 ff – Refah Partisi, Erbakan, Kazan und Tekdal)
Die W wurde 1983 als politische Partei in der Türkei gegründet. Nachdem sie in den Parlamentswahlen 1995 mit ca 22 % der Stimmen zur stärksten Partei im türkischen Parlament wurde, war sie an einer Koalitionsregierung beteiligt. Anfang 1998 wurde die W vom türkischen Verfassungsgerichtshof aufgelöst, da die Partei ein „Zentrum von Aktivitäten gegen das Prinzip des Säkularismus“ sei. In seiner Urteilsbegründung betonte der Verfassungsgerichtshof das Prinzip des Säkularismus als unverzichtbare Voraussetzung der Demokratie. Vertreter der Partei hätten in öffentlichen Reden wiederholt die Trennung von Staat und Religion in Frage gestellt. Zudem hätten Parlamentsabgeordnete der Partei zu einem „heiligen Krieg“ gegen ihre politischen Gegner und zur Einführung der Scharia aufgerufen. Zusätzlich entzog der Verfassungsgerichtshof den Parlamentsabgeordneten der W das Mandat und verbot ihnen, für die Dauer von fünf Jahren irgendeine Funktion in einer anderen Partei zu übernehmen.
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1. Schutzbereich Die Vereinigungsfreiheit schützt den freien Zusammenschluss von Personen zu 75 rechtmäßigen Zwecken. Der Staat muss also in seiner Rechtsordnung Möglichkeiten zum Zusammenschluss vorsehen, ohne dass daraus ein Anspruch auf bestimmte Rechtsformen resultieren würde.243 Grundsätzlich steht es den Staaten frei, die Voraussetzungen für die Gründung juristischer Personen zu regeln. Insbesondere schützt Art 11 I EMRK nicht die Gründung öffentlich-rechtlicher Institutionen. Selbst wenn es sich dabei um Zwangskörperschaften handeln sollte, liegt ein Eingriff in
243 Hierzu EGMR, Urt v 5.10.2006, 72881/01, EuGRZ 2007, 24, § 60 – Moskauer Zweig der Heilsarmee. Thilo Marauhn/Magdalena Jaś-Nowopolska
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den Schutzbereich nach Auffassung des EGMR nur vor, wenn gleichzeitig die Bildung freier einschlägiger Vereinigungen ausgeschlossen ist.244 76 Ob und inwieweit die Vereinigungsfreiheit Auswirkungen auf das Gesellschaftsrecht – etwa im Sinne einer Einführung neuer Organisationsformen – hat, ist im Einzelnen umstritten.245 Dagegen hat die Vereinigungsfreiheit in den letzten Jahren als Parteienfreiheit zunehmend Bedeutung für das Parteienrecht erlangt.246 Parteien sind vom Schutzbereich des Art 11 I EMRK auch dann erfasst, wenn sie nach nationalem Recht einem Sonderregime unterstehen. Restriktive staatliche Maßnahmen gegen aus Sicht des betroffenen Staates als verfassungsrechtlich eingestufte Parteien entziehen diesen nicht den Schutz der Vereinigungsfreiheit.247 77 In den Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit fällt neben dem Zusammenschluss auch die Tätigkeit der Vereinigung, soweit sich dies aus der Konkretisierung in Gestalt der Koalitionsfreiheit ergibt.248 Nicht gewährleistet ist damit allerdings auch schon die Erreichung des Zwecks, für den die Vereinigung gegründet wurde.249 78 Obwohl Art 11 I EMRK (anders als Art 20 II der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) keine allgemeine Aussage über die so genannte negative Vereinigungsfreiheit, also die Freiheit, aus einer Vereinigung auszutreten oder ihr fernzubleiben, enthält, geht der EGMR davon aus, dass diese Freiheit Bestandteil von Art 11 I EMRK ist.250 Diese Freiheit ist vor allem für die so genannte negative Koalitionsfreiheit, auf die noch zurückzukommen ist, von Bedeutung.
244 EGMR, Urt v 23.6.1981, 8876/75 u 7238/75, EuGRZ 1981, 551, § 65 – Le Compte, Van Leuven and De Meyere. 245 Vgl dazu Marauhn, RabelsZ 1999, 537 (550 ff). 246 Der EGMR betont hier gelegentlich die Bedeutung von Art 10 EMRK für die Auslegung von Art 11 EMRK, vgl EGMR, Urt v 3.2.2005, 46626/99, RJD 2005-I, 209, § 44 – Partidul Comunistilor. 247 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 91 f unter Bezugnahme auf EGMR, Urt v 30.1.1998, 19392/92, RJD 1998-I, 1, § 27 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei; vgl auch Urt v 25.5.1998, 21237/93, RJD 1998-III, 1233, § 29 – Sozialistische Partei ua. 248 EGMR, Urt v 27.10.1975, 4464/70, EuGRZ 1975, 562, §§ 38–39 – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft. 249 EKMR, Entsch v 13.12.2007, 39051/03, DR 9, 5, § 52 – Vereinigung X. 250 EGMR, Urt v 30.6.1993, 16130/90, Series A, Vol 264, § 35 – Sigurdur Sigurjónsson; vgl auch Urt v 29.4.1999, 25088/94, 28331/95 u 28443/95, NJW 1999, 3695, § 103 – Chassagnou und die Folgeentscheidung v 15.9.2011, 17080/07, NuR 2008, 489 – Schneider; EGMR (GK), Urt v 11.1.2006, 52562/99 u 5260/99, ÖJZ 2006, 550, § 54 – Sørensen u Rasmussen.
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2. Eingriff Eingriffe können sowohl eine breite Vielfalt von Adressaten betreffen als auch sehr 79 unterschiedliche Formen annehmen. Das Verbot von Vereinigungen und die Unterbindung bestimmter Aktivitäten dieser Vereinigungen lassen sich unproblematisch als Eingriffe qualifizieren. Ebenfalls als Eingriff zu werten ist darüber hinaus nationales Recht, das an die Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft in Vereinigungen Sanktionen knüpft. Dies gilt sowohl für gewerkschaftliche Beschäftigungsmonopole („closed shop“)251, auf die im Zusammenhang mit der Koalitionsfreiheit näher einzugehen ist (→ Rn 87), als auch für die Nicht-Beschäftigung im oder Entlassung aus dem Staatsdienst wegen Mitgliedschaft in einer (nicht verbotenen) politischen Partei.252 Ohne eine Aussage zur möglichen Drittwirkung zu treffen, hat der EGMR jüngst klargestellt, dass die Vereinigungsfreiheit den Staaten auch positive Pflichten auferlegt.253
3. Rechtfertigung Wie im Fall der Versammlungsfreiheit sind Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit 80 dann gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen,254 einen der in Art 11 II 1 EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind.255 Nicht unproblematisch ist die Bezugnahme auf „die nationale oder öffentliche Sicherheit“ im Zusammenhang mit der Verteidigung nationaler kultureller Traditionen und nationaler historischer und kultureller Symbole. Dies dürfte grundsätzlich unzulässig sein, auch wenn der EGMR in einer Griechenland betreffenden Entscheidung das Vereinsverbot erst am
251 EGMR, Urt v 13.8.1981, 76011/76 u 7806/77, EuGRZ 1981, 559, §§ 49 und 51–53 – Young, James und Webster; jetzt auch EGMR (GK), Urt v 11.1.2006, 52562/99 u 5260/99, ÖJZ 2006, 550 ff – Sørensen u Rasmussen. 252 EGMR, Urt v 26.9.1995, 17851/91, EuGRZ 1995, 590, § 44 – Vogt. Ein Eingriff liegt auch in dem Verbot für Parteivorsitzende, in Zukunft kein ähnliches Amt in einer anderen Partei zu bekleiden; EGMR (GK), Urt v 8.12.1999, 23885/94, RJD 1999-VIII, 293, § 27 – ÖZDEP. 253 EGMR, Urt v 20.10.2005, 74989/01, §§ 37 und 43–44 – Ouranio Toxo. 254 EGMR, Urt v 2.8.2001, 37119/97, RJD 2001-IX, 1, §§ 26, 31 f – N.F. In diesem Fall hielt der EGMR ein Gesetz, auf dessen Grundlage der Beitritt eines Richters zu einer Freimaurerloge sanktioniert wurde, für so vage und damit für den Betroffenen nicht vorhersehbar, dass letztlich vom Fehlen einer gesetzlichen Grundlage auszugehen war. Vgl auch die ähnlich gelagerte Entscheidung des EGMR, Urt v 17.2.2004, § 42 – Maestri. 255 Ausführlich zu dieser Voraussetzung EGMR, Urt v 11.10.2011, 48848/07, §§ 81 ff – Verein Rhino ua.
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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheitern ließ.256 Im Übrigen kann hinsichtlich der zulässigen Eingriffszwecke auf die Ausführungen zur Versammlungsfreiheit verwiesen werden. 81 Besondere Bedeutung hat die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Bildung und dem Fortbestand politischer Parteien erlangt. Weder kann eine Partei allein aufgrund ihres Namens257 noch allein aufgrund ihres regierungskritischen Engagements für die Rechte von Minderheiten verboten werden.258 Etwas anderes kann freilich dann gelten, wenn eine Partei verfassungsfeindliche, insbesondere anti-demokratische und menschenrechtswidrige Ziele verfolgt und dabei gewaltsame Mittel zur Erreichung dieser Ziele nicht ausschließt. Dann kommt dem Staat ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu, innerhalb dessen der EGMR die Rechtfertigung von Eingriffen nicht im Einzelnen überprüft.259 Im Fall Vogt stellte der EGMR eine Verletzung der Vereinigungsfreiheit fest, weil die Beschwerdeführerin wegen ihrer Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei aus dem Staatsdienst entlassen worden war, das Bundesverfassungsgericht diese Partei jedoch nicht verboten hatte.260 Zwar hat der EGMR ausdrücklich offen gelassen, ob Art 11 I 2 EMRK auch auf deutsche Lehrer im Beamtenverhältnis Anwendung findet. Ein aus der Treuepflicht staatlicher Bediensteter (soweit der personelle Anwendungsbereich dieser Vorschrift reicht) resultierendes Verbot, einer bestimmten Vereinigung beizutreten, dürfte aber in Ausnahmefällen jedenfalls dann von der besonderen Einschränkung gedeckt sein, wenn das Verbot auf gesetzlicher Grundlage beruht und ohne Willkür angewendet wird.261
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Lösung Fall 6: Unstreitig ist der Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit eröffnet. Auch ist unproblematisch, dass die Auflösung262 der W und die damit einhergehenden Maßnahmen einen Eingriff darstellen. Ein solcher Eingriff ist dann gerechtfertigt, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, eines der in Art 11 II EMRK genann-
256 EGMR, Urt v 10.7.1998, 26695/95, RJD 1998-IV, 1595, § 47 – Sidiropoulos. 257 EGMR, Urt v 30.1.1998, 19392/92, RJD 1998-I, 1, § 54 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei. 258 EGMR, Urt v 9.4.2002, 22723/93, 22724/93 u 22725/93, RJD 2002-II, 369, §§ 56–57 und 60 – Yazar, Karatas¸, Aksoy u Arbeitspartei des Volkes (HEP). 259 EGMR (GK), Urt v 13.2.2003, 41340/98, 41342/98 u 41343/98 u 41344/98, EuGRZ 2003, 206, §§ 80–83 – Refah Partisi (Nr 2); dazu näher Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 19 Rn 123. 260 EGMR, Urt v 26.9.1995, 17851/91, EuGRZ 1995, 590, §§ 60 f und 66 ff – Vogt; diese Entscheidung ist zu unterscheiden von Urt v 2.9.1998, 22954/93, RJD 1998-VI, 2356 – Ahmed. 261 EKMR, Entsch v 20.1.1987, 11603/85, DR 50, 228, 240 – Council of Civil Service Unions. 262 Die Auflösung einer Vereinigung als radikale Maßnahme, die unter Art 11EMRK nur in besonders schwerwiegenden Fällen gerechtfertigt sein könnte, wurde in folgendem Urteil vorgestellt: EGMR, Urt v 8.10.2020, 77400/14, §§ 118,121 – Ayoub ua.
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ten legitimen Ziele verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft zur Durchsetzung dieser Ziele notwendig (also verhältnismäßig) ist. Der türkische Verfassungsgerichtshof ist gesetzlich befugt, eine Partei aufzulösen, die gegen Verfassungsprinzipien verstößt. Zu den Verfassungsprinzipien gehören auch der Gleichheitssatz und der Grundsatz einer demokratischen und säkularen Republik. Der Eingriff ist daher gesetzlich vorgesehen. Auch verfolgt der Eingriff mehrere der in Art 11 II EMRK genannten legitimen Ziele, nämlich den Schutz der nationalen und öffentlichen Sicherheit, die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Nach stRspr müssen ausreichende Beweise für eine Gefährdung der Demokratie vorliegen. Die Handlungen der Funktionäre der Partei sind dieser zurechenbar, soweit sich aus ihnen ein Gesamtbild des von der Partei angestrebten Gesellschaftsmodells ergibt. Der türkische Verfassungsgerichtshof begründete die Verfassungswidrigkeit der W in diesem Zusammenhang vor allem mit der angestrebten Einführung verschiedener Rechtssysteme für die Angehörigen unterschiedlicher Religionen sowie der damit verbundenen Anwendung der Scharia und dem möglichen Rückgriff auf Gewalt als politischem Mittel. In der Tat kann die Einführung verschiedener Rechtssysteme nicht als vereinbar mit der EMRK betrachtet werden. Ein solches System würde die Rolle des Staates als Garant individueller Rechte und Freiheiten weitgehend abschaffen. Überdies würde es dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK widersprechen. Auch ist die Scharia unvereinbar mit den grundlegenden Prinzipien der Demokratie, die in der Konvention festgeschrieben sind. Die Feststellung der Unvereinbarkeit der von der W angestrebten Einführung der Scharia mit der Demokratie durch den Verfassungsgerichtshof war daher gerechtfertigt. In Anbetracht der Unvereinbarkeit ihrer Ziele mit der Demokratie und der Tatsache, dass sie auch die Anwendung von Gewalt zum Erreichen dieser Ziele nicht ausgeschlossen hat, entspricht die Auflösung der W und der vorübergehende Entzug bestimmter politischer Rechte einzelner Funktionäre einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis und ist verhältnismäßig zum verfolgten Ziel. Der Eingriff ist daher notwendig in einer demokratischen Gesellschaft.
V. Koalitionsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 27.10.1975, 4464/70, EuGRZ 1975, 562 ff – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft; Urt v 6.2.1976, 5614/72, EuGRZ 1976, 62 ff – Schwedischer Lokomotivführerverband; Urt v 13.8.1981, 76011/76 u 7806/77, EuGRZ 1981, 559 ff – Young, James u Webster; Urt v 25.4.1996, 155737/89, HRLJ 1996, 118 ff – Gustafsson; EGMR (GK), Urt v 11.1.2006, 52562/99 u 5260/99, ÖJZ 2006, 550 ff – Sørensen u Rasmussen; Urt v. 12.11.2008, 34503/97, NZA 2010, 1425 ff – Demir u Baykara; EKMR, Entsch v 20.1.1987, 11603/85, DR 50, 228 ff – Council of Civil Service Unions; EGMR, Urt v 8.4.2014, 31045/10, Rn 87 – National Union of Rail, Maritime and Transport Workers; EGMR, Urt v 15.5.2018, 2451/16, Rn 23 – Association of Academics
Schrifttum: Hendy, The Human Rights Act, Article 11 and the right to strike, EHRLR 1998, 582 ff; Marauhn, Die wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit zwischen menschenrechtlicher Gewährleistung und privatrechtlicher Ausgestaltung. Zur Bedeutung von Art 11 EMRK für das kollektive Arbeitsrecht und das Gesellschaftsrecht, RabelsZ 1999, 537 ff; Wildhaber FS Vischer, 1983, S 349 ff; ders, GYIL, 1976, 239 ff; Fütterer, Das Koalitions- und Streikrecht im EU-Recht nach dem Wandel der Rechtsprechung des EGMR zur Koalitionsfreiheit gemäß Art 11 EMRK (Demir und Baykara ua), EuZA 2011, 505 ff.; Widmaier, Das bundesverfassungsgerichtliche Beamtenstreikverbot – „Rechtfertigung“ nach Art 11 II EMRK?, DVBl 2020, 229
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83 Neben der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit gewährleistet Art 11 I
EMRK in Anlehnung an Art 20 und Art 23 Nr 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Recht, Gewerkschaften zum Schutz ihrer Mitglieder zu bilden und diesen beizutreten263. Die ausdrückliche Gewährleistung der Koalitionsfreiheit ist keine Privilegierung dieses wichtigen Bestandteils des allgemeinen Rechts der Vereinigungsfreiheit gegenüber anderen Teilgewährleistungen.264 Vielmehr handelt es sich dabei um eine Klarstellung mit dem Ziel, die Gewerkschaftsfreiheit unabhängig davon zu gewährleisten, ob Koalitionen nach nationalem Recht als Vereinigungen anzusehen sind.265 Fall 7: (EGMR, Urt v 25.4.1996, 155737/89, HRLJ 1996, 118 ff – Gustafsson) G war Inhaber eines Restaurants. Er verweigerte die Mitgliedschaft im Hotel- und Gaststättenverband, so dass die Arbeitsverträge seiner Angestellten nicht den Kollektivverträgen unterlagen. Die Unterzeichnung eines entsprechenden Zusatzabkommens lehnte G ebenfalls ab. Daraufhin boykottierten ihn die Gewerkschaften, ua durch die Einstellung von Lieferungen an sein Restaurant. G ersuchte daraufhin die Regierung darum, auf die Gewerkschaften zwecks Einstellung der Boykottmaßnahmen einzuwirken. Diese verwies ihn auf die Zuständigkeit ordentlicher Gerichte. Rechtsmittel gegen die Untätigkeit der Regierung blieben erfolglos. Aufgrund von durch den Boykott verursachten finanziellen Schwierigkeiten musste G schließlich sein Restaurant verkaufen. G sieht sich durch die Untätigkeit der Regierung in seinen Rechten aus Art 11 EMRK verletzt.
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1. Schutzbereich 85 Die in Art 11 I EMRK gewährleistete Koalitionsfreiheit schützt sowohl den einzelnen
Staatsbürger als auch die Vereinigung selbst und ist daher ein Doppelgrundrecht. Speziell für die Tätigkeit der Gewerkschaften ergibt sich darüber hinaus unmittelbar aus der Formulierung „zum Schutze ihrer Interessen“ eine Gewährleistung für die Ausübung ihrer Tätigkeit. Verpflichtungsadressat ist der Staat. Art 11 I EMRK entfaltet keine unmittelbare Drittwirkung. Allerdings kann man von einer mittelbaren Drittwirkung in dem Sinne sprechen, dass eine staatliche Schutzverpflich-
263 Der Gerichtshof spricht vom Recht „to protect the occupational interests of trade-union members“, EGMR, Urt v 15.5.2018, 2451/16 § 23 – Association of Academics; auch so ua Urt v 4.4.2017, 35009/05, §§ 32, 34 ff – Tek Gida İş Sendikasi. 264 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 9. 265 Broeksteeg in: van Dijk ua, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 5. Aufl 2018, S 831 ff; Tomuschat in: MacDonald ua, The European System for the Protection of Human Rights, S 493, 494.
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tung gegenüber Beeinträchtigungen durch Dritte besteht.266 Ist der Staat selbst Arbeitgeber, so greift Art 11 EMRK unmittelbar.267
a) Individuelle Koalitionsfreiheit Zur individuellen Koalitionsfreiheit des Art 11 I EMRK gehört zunächst das Recht, 86 eine Gewerkschaft zu gründen und ihr beizutreten. Arbeitgebervereinigungen werden nicht ausdrücklich benannt. Es ist aber unstreitig, dass deren Bildung durch die allgemeine Vereinigungsfreiheit geschützt wird.268 Der EGMR billigte auch freien Ärztevereinigungen den Schutz des Art 11 I EMRK zu.269 Öffentlich-rechtliche Zwangszusammenschlüsse fallen dagegen – wie schon dargelegt – nicht unter Art 11 EMRK.270 Das Recht, einer Koalition beizutreten, besteht nur im Rahmen der Statuten dieser Koalition, die insoweit aufgrund von Art 11 I EMRK Autonomie genießt.271 Die eigentliche Bedeutung der Straßburger Spruchpraxis zur individuellen Ko- 87 alitionsfreiheit liegt in der Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit.272 Diese Spruchpraxis wurde zunächst in der Auseinandersetzung mit so genannten „closed shop“-Regelungen entwickelt. Zwar ist der Abschluss einer Vereinbarung zwischen einem privaten Arbeitgeber und einer Gewerkschaft, wonach nur Arbeitnehmer mit einer bestimmten Gewerkschaftszugehörigkeit bei dem betreffenden Arbeitgeber beschäftigt werden dürfen, grundsätzlich von der Vertragsfreiheit beider Seiten gedeckt und fällt mangels unmittelbarer Drittwirkung des Art 11 I EMRK nicht in dessen Schutzbereich. Sanktioniert der Staat jedoch dieses System, indem er Ent-
266 Vgl dazu eingehend Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 15; Tomuschat in: MacDonald ua, The European System for the Protection of Human Rights, S 504 f; Broeksteeg in: van Dijk ua, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 5. Aufl 2018, S 835; EGMR, Urt v 13.8.1981, 76011/76 u 7806/77, EuGRZ 1981, 559, § 49 – Young, James u Webster; vgl hierzu auch Wildhaber FS Vischer, 1983, S 349 (358 f). 267 EGMR, Urt v 6.2.1976, 5614/72, EuGRZ 1976, 62, § 37 – Schwedischer Lokomotivführerverband; Urt v 6.2.1976, 5587/72, EuGRZ 1976, 68, § 33 – Schmidt u Dahlström. 268 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 1; Tomuschat in: MacDonald ua, The European System for the Protection of Human Rights, S 494. 269 EGMR, Urt v 23.6.1981, 8876/75 u 7238/75, EuGRZ 1981, 551, § 65 – Le Compte, Van Leuven and De Meyere. 270 EGMR, Urt v 23.6.1981, 8876/75 u 7238/75, EuGRZ 1981, 551, §§ 62 ff – Le Compte, Van Leuven and De Meyere; Urt v 10.2.1983, 7299/75 u 7496/76, EuGRZ 1983, 190, §§ 43 f – Albert und Le Compte. 271 EKMR, Entsch v 12.5.1985, 10550/83, DR 42, 178, 185 f – Ernest Dennis Cheall. 272 Vgl dazu auch die wichtige Entscheidung zur Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft, EGMR, Urt v 29.4.1999, 25088/94, 28331/95 u 28443/95, NJW 1999, 3695, § 103 – Chassagnou und die Folgeentscheidung v 15.9.2011, 17080/07, NuR 2008, 489 – Schneider. Dazu Dietlein, Agrarrecht, 2000, 76 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
lassungen durch private Arbeitgeber wegen fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit zulässt und in diesen Fällen keinen oder nur eingeschränkten Kündigungsschutz gewährt, so stellt sich unmittelbar die Frage nach der negativen Koalitionsfreiheit des betroffenen Arbeitnehmers.273 In ihrer Spruchpraxis betonten die Straßburger Instanzen, sie hätten nicht zur Konventionskonformität des „closed shop“ als solchem Stellung genommen.274 Keine Verletzung von Art 11 I EMRK sah der Gerichtshof in einem Fall, in dem der Arbeitnehmer an einem ihm von seinem Arbeitgeber angebotenen anderen Arbeitsplatz hätte weiterarbeiten können.275 Art 11 I EMRK ist nach Auffassung des Gerichtshofs auch auf Boykottmaßnahmen von Gewerkschaften anwendbar, die das Ziel verfolgen, einen Arbeitgeber zur Mitgliedschaft in einem Berufsverband oder zur Teilnahme an einem Kollektivvertragssystem zu zwingen.276 Derartige Maßnahmen berühren den Schutzbereich der negativen Vereinigungsfreiheit. Allerdings soll der Staat nur dann zum Eingreifen verpflichtet sein, wenn die Boykottmaßnahmen tatsächliche Auswirkungen auf die Vereinigungsfreiheit zeigten.
b) Kollektive Koalitionsfreiheit, insbesondere Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit 88 Art 11 EMRK schützt nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Koalitionsfreiheit. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm. Die kollektive Koalitionsfreiheit wurde von den Konventionsorganen erstmals in den 1970er Jahren ausdifferenziert.277 Dabei vertrat der Gerichtshof lange die Auffassung, Art 11 I EMRK gewährleiste weder ein spezifisches Konsultationsrecht der Gewerkschaften gegenüber privaten oder staatlichen Arbeitgebern in Berufsangelegenheiten noch einen Anspruch auf den Abschluss bestimmter Tarifverträge.278 Erst 2008 hat er ausdrücklich entschieden, dass das Recht auf kollektive Vertragsverhandlungen mit den Arbeitgebern ein wesentliches Element der von Art 11 I EMRK gewährleisteten Koalitionsfreiheit ist.279 Der Gerichtshof begründet dies mit völker- und europa-
273 So zutreffend dargelegt bei Tomuschat in: MacDonald ua, The European System for the Protection of Human Rights, S 502 f. 274 EGMR, Urt v 13.8.1981, 76011/76 u 7806/77, EuGRZ 1981, 559, § 61 – Young, James u Webster. 275 EGMR, Urt v 20.4.1993, 14327/88, Series A, Vol 258-A, § 29 – Sibson. 276 EGMR, Urt v 25.4.1996, 155737/89, HRLJ 1996, 118 ff – Gustafsson. 277 Eingehend Wildhaber, GYIL 1976, 238 ff. 278 EGMR, Urt v 27.10.1975, 4464/70, EuGRZ 1975, 562, § 38 – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft; Urt v 6.2.1976, 5614/72, EuGRZ 1976, 62, § 39 – Schwedischer Lokomotivführerverband. 279 EGMR, Urt v 12.11.2008, 34503/97, NZA 2010, 1425, § 154 – Demir und Baykara, bestätigend EGMR, Urt v 3.5.2016, 65397/13, § 54– Unite the Union.
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rechtlichen Weiterentwicklungen und verweist zudem auf das innerstaatliche Recht der Vertragsstaaten.280 Schon deutlich früher hatte der Gerichtshof dagegen das Streikrecht als eine 89 der wichtigsten Kollektivmaßnahmen bezeichnet; er verwies dabei allerdings auf die Einschränkungsmöglichkeiten, die auch in der Europäischen Sozialcharta vorgesehen sind, und betonte, dass dem Staat ein weiter Spielraum hinsichtlich der Zulässigkeit einzelner Eingriffe verbleibe.281 Danach garantiert Art 11, dass einer Gewerkschaft Gehör verschafft wird, damit die Interessen der Gewerkschafter gewährleistet werden.282 In der Folge anerkannte der EGMR zwar (noch) kein generelles Streikrecht, entschied jedoch, dass ein Streikverbot einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Rechte der Gewerkschaften283 darstellen könne.284 Ein paar Jahre später stellte der Gerichtshof285 fest, dass ein Streik vom Schutzbereich des Art 11 EMRK „klar“ umfasst sei286 und das Verbot eines geplanten Streiks ein Eingriff in das Recht auf Vereinigungsfreiheit sei287. Allerdings sei das Streikrecht kein absolutes Recht288; es könne nach Maßgabe des Art 11 II von Voraussetzungen abhängig gemacht und insoweit eingeschränkt werden. Bei seiner Bewertung der Zulässigkeit staatlicher Beschränkungen berücksich- 90 tigt der Gerichtshof die Gesamtheit der Maßnahmen des betreffenden Staates zur Sicherung der Gewerkschaftsfreiheit im Rahmen des diesem zustehenden Ermessensspielraums289. Aufgrund des enormen Umfangs potentieller Konflikte sozialer und politischer Natur zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sei dieser Spielraum grundsätzlich weit ausgestaltet; im Einzelfall bestimme sich sein konkreter
280 EGMR, Urt v 12.11.2008, 34503/97, NZA 2010, 1425, § 147 ff – Demir und Baykara. 281 EGMR, Urt v 6.2.1976, 5587/72, EuGRZ 1976, 68, §§ 68 ff – Schmidt und Dahlström; zum Streikrecht Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 19 Rn 129. 282 So die Einschätzung von Villiger EMRK, 474 f. 283 Streikverbot für eine Polizeigewerkschaft als keine Verletzung von Art 11 EMRK, EGMR, Urt v 21.4.2015, 45892/09 – Junta Rectora del Ertzainen Nazional Elkartasuna. 284 EGMR, Urt v 10.1.2002, 53574, ÖJZ 2003, 276, § 1 – Unison. 285 EGMR, Urt v 8.4.2014, 31045/10, §§ 83 ff. – National Union of Rail, Maritime and Transport Workers. 286 EGMR, Urt v 21.4.2009, 68959/01, § 24 – Enerji Yapi-Yol Sen; EGMR Urt v 8.4.2014, 31045/10§ 84 – RMT; EGMR, Urt v 8.4.2014, 31045/10, §§ 83 ff – National Union of Rail, Maritime and Transport Workers. Im Urteil National Union of Rail, Maritime and Transport Workers hat der EGMR auf eine Reihe von Entscheidungen verwiesen, in denen staatliche Eingriffe in Arbeitskampfmaßnahmen als Verletzung des Art 11 EMRK gewertet wurden. Als Beispiel: EGMR, Urt v 27.03.2007, 6615/03 – Karaçay; Urt v 17.7.2007, 74611/01, 26876/02 and 27628/02 – Dilek ua; Urt v 17.7.2008, 23018/04 – Urcan ua; vgl Widmaier, DVBl 2020, 229. 287 EGMR, Urt v 2.10.2014, 48408/12, § 77 –Tymoshenko. 288 EGMR, Urt v 21.4.2009, 68959/01, § 32– Enerji Yapi-Yol Sen. 289 Arndt/Engels/von Oettingen in: Karpenstein/Mayer, EMRK Art 11 Rn 55.
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Umfang nach dem Inhalt der staatlichen Beschränkung: Umfasse die Beschränkung den Kern einer gewerkschaftlichen Tätigkeit, sei dem nationalen Gesetzgeber nur ein geringer Ermessensspielraum zuzubilligen und die Schwelle zur Rechtfertigung des Eingriffs in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit vergleichsweise hoch. Sei jedoch nicht der Kern, sondern ein sekundärer oder akzessorischer Aspekt der gewerkschaftlichen Tätigkeit betroffen, falle der seitens des EGMR zugestandene Ermessensspielraum deutlich größer. Auch sei in einem solchen Fall eher von einem verhältnismäßigen Eingriff auszugehen.290 Darüber hinaus gesteht der EGMR den Staaten zu, ihr Rechtssystem so auszugestalten, dass repräsentativen Gewerkschaften eine besondere rechtliche Stellung zukommt.291
2. Eingriff 91 In die Koalitionsfreiheit kann auf unterschiedliche Art und Weise eingegriffen wer-
den. In der Spruchpraxis der Straßburger Organe hat neben direkten Eingriffen, wie einem Gewerkschaftsverbot292, in erster Linie die staatliche Sanktionierung der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses wegen fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit eine Rolle gespielt293. Auch die Zwangsmitgliedschaft in einer privatrechtlichen Vereinigung für Selbstständige wurde im Fall eines Taxifahrers, dem in der Folge seines Austritts aus einer Berufsvereinigung seine Taxikonzession entzogen worden war, als Eingriff angesehen.294 Darüber hinaus sind – wie schon dargelegt – auch gewerkschaftliche Boykottmaßnahmen, die einen Arbeitgeber zur Teilnahme an einem Kollektivvertragsystem veranlassen sollen, als Eingriffe zu werten.295
3. Rechtfertigung 92 Weder die individuelle noch die kollektive Koalitionsfreiheit werden von Art 11
EMRK unbegrenzt gewährleistet. Eingriffe sind gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 11 II 1 EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“
290 291 292 293 294 295
EGMR, Urt v 8.4.2014, 31045/10, § 87 – National Union of Rail, Maritime and Transport Workers. Arndt/Engels/von Oettingen in: Karpenstein/Mayer, EMRK Art 11 Rn 58. EGMR, Urt v 2.10.2014, 10609/10, §§ 57, 68 ff – Matelly. Vgl EGMR, Urt v 4.4.2017, 35009/05 –Tek Gida İş Sendikasi. EGMR, Urt v 30.6.1993, 16130/90, Series A, Vol 264, § 35 – Sigurdur Sigurjónsson. EGMR, Urt v 25.4.1996, 155737/89, HRLJ 1996, 118, §§ 44–45 – Gustafsson.
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sind. Hinsichtlich der zulässigen Eingriffszwecke kann auf die Ausführungen zur Versammlungsfreiheit verwiesen werden (→ Rn 67). Besondere Bedeutung kommt bei der Koalitionsfreiheit der Beschränkungsklau- 93 sel des Art 11 II 2 EMRK zu. Diese Bestimmung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst stellt sich die Frage, wer zu den Mitgliedern der Staatsverwaltung zu rechnen ist, die neben denen der Streitkräfte und der Polizei genannt werden. Die offene Formulierung birgt Unsicherheiten hinsichtlich des Anwendungsbereichs. Die frühere Kommission stellte darauf ab, dass es sich um Personen handeln muss, die lebensnotwendige Funktionen zum Schutz der nationalen Sicherheit wahrnehmen296 und nahm damit eine funktionale Betrachtung vor.297 Dementsprechend wurde das Gewerkschaftsverbot für Angehörige eines britischen Telekommunikationszentrums für militärische und andere amtliche Nachrichtensendungen unter Bezugnahme auf Art 11 II 2 EMRK für konventionsgemäß gehalten.298 In Bezug auf verbeamtete deutsche Lehrer ließ der Gerichtshof zunächst ausdrücklich offen, ob sie unter die besondere Einschränkung fallen.299 Allerdings sah der EGMR zuletzt in disziplinarrechtlichen Sanktionen gegen Mitglieder einer Gewerkschaft von Staatsbediensteten wegen der Teilnahme an einem Streik eine unverhältnismäßige Beschränkung der Koalitionsfreiheit, weil das Streikverbot im konkreten Fall alle Mitglieder des öffentlichen Dienstes betraf.300 Die Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf das deutsche Beamtenrecht sind noch nicht ausdiskutiert;301 allerdings ist der deutsche Beamtenstatus rechtlich enger gefasst als der Begriff „civil servant“.302 Der Wortlaut der Vorschrift legt es nahe, zwischen der Ausübung der Rechte und 94 ihrer Inhaberschaft zu unterscheiden: In einer frühen unveröffentlichten Kommission Entscheidung wurde offensichtlich das gegenüber einem belgischen Polizeibeamten verhängte Koalitionsverbot unter Bezugnahme auf Art 11 II 2 EMRK für konventionsgemäß gehalten. Diese Entscheidung ist deshalb kritisiert worden, weil sie den betroffenen Personen die Koalitionsfreiheit vorenthält, obwohl es eigentlich ausreichen sollte, die Modalitäten der Ausübung dieser Freiheit zu beschränken.303 Nur
296 EKMR, Entsch v 20.1.1987, 11603/85, DR 50, 228, 239 – Council of Civil Service Unions. 297 Tomuschat in: MacDonald ua, The European System for the Protection of Human Rights, S 511. 298 Zu den in diesem Zusammenhang bei der Internationalen Arbeitsorganisation eingelegten Beschwerden vgl Mills, EHRLR 1997, 35 (41 ff). 299 EGMR, Urt v 26.9.1995, 17851/91, EuGRZ 1995, 590, § 68 – Vogt. 300 EGMR, Urt v 21.4.2009, 68959/01, NZA 2010, 1423, § 24 und 32 – Enerji Yapı-Yol Sen (Nr 1). 301 Statt aller dazu Lindner, DÖV 2011, 305 ff. 302 Zutreffender Hinweis bei Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 19 Rn 134. 303 Broeksteeg in: van Dijk ua, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 5. Aufl 2018, S 832.
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ein Anknüpfen der staatlichen Beschränkung an die Ausübung ermöglicht eine differenzierte Lösung.304 Eine vollständige Untersagung der Ausübung kann dann im konkreten Fall gerechtfertigt werden, sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt bleibt;305 andererseits dürfte aber ein Entzug des Rechts als solches kaum zulässig sein. 95 Schließlich stellt sich mit Blick auf Satz 2 noch die Frage, ob für derartige staatliche Beschränkungen der Koalitionsfreiheit eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist. Nicht zu überzeugen vermag eine von der früheren Kommission geäußerte Auffassung, diese Beschränkungen müssten lediglich den allgemeinen Rechtsmäßigkeitsanforderungen genügen.306 Art 11 I 2 EMRK ersetzt nämlich lediglich die Zweckbestimmung der Beschränkungsklausel des Satzes 1, nicht aber die übrigen Anforderungen an staatliche Beschränkungen.307 Dies gilt in jedem Fall für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.308 Darüber hinaus wird man trotz des unterschiedlichen Wortlauts im Vergleich zu den in Art 8 bis 10 und Art 11 I 1 EMRK verwendeten Beschränkungsklauseln für Art 11 I 2 EMRK auch eine ähnlich klare Rechtsgrundlage fordern müssen,309 wenn man nicht den grundsätzlich auch diesen Trägern staatlicher Funktionen zustehenden Schutz der Versammlungs-, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit erheblich relativieren will.
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Lösung Fall 7: Zunächst ist zu prüfen, ob der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit überhaupt betroffen ist. Die Boykottmaßnahmen der Gewerkschaften zielten darauf ab, G zur Teilnahme am Kollektivvertragssystem zu zwingen. G standen dafür zwei Möglichkeiten offen: entweder die Mitgliedschaft im Hotel- und Restaurantverband oder die Unterzeichnung eines Zusatzabkommens. Darin liegt eine Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit des G, die in den Schutzbereich von Art 11 EMRK fällt. Ein Eingriff liegt nur vor, wenn der Staat zum Handeln verpflichtet ist. Eine solche positive Pflicht gemäß Art 11 EMRK ist dann gegeben, wenn die gerügten Handlungen tatsächliche Auswirkungen auf die Vereinigungsfreiheit zeigen. Die Ausübung von Zwang allein – auch wenn dies wie hier wirtschaftliche Schäden verursachte – bedingt diese Pflicht noch nicht. Auch wenn man die Bedeutung der Kollektivverträge im Arbeitsrecht berücksichtigt und somit der Auffassung ist, dass die umstrittenen Boykottmaßnahmen der Gewerkschaften einen legitimen Zweck verfolgten, bestehen doch er-
304 Velu/Ergec La convention européenne des droits de l’homme, 2. Aufl 2014, Rn 659. 305 So wohl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 18. 306 EKMR, Entsch v 20.1.1987, 11603/85, DR 50, 228, 240 – Council of Civil Service Unions. 307 So überzeugend Tomuschat in: MacDonald ua, The European System for the Protection of Human Rights, S 512. 308 Ausdrücklich Broeksteeg in: van Dijk ua, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 5. Aufl 2018S 839. 309 Davon geht offensichtlich auch Villiger Handbuch der EMRK, 2. Aufl 1999, S 419 aus. Thilo Marauhn/Magdalena Jaś-Nowopolska
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hebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit. In der Untätigkeit der Regierung kann man eine Verletzung des Untermaßverbotes sehen.310
VI. Zusammenfassung Die hohe Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK kommt 97 in dem umfassenden Schutz, der durch differenzierte Teilgewährleistungen sichergestellt werden soll, zum Ausdruck. Das Nebeneinander vieler Teilfreiheiten in Art 10 und 11 EMRK soll Schutzlücken verhindern. Dabei geht der Gerichtshof davon aus, dass die Gewährleistungen des Art 11 I EMRK gegenüber denen aus Art 10 I EMRK die spezielleren sind und deshalb vorrangig zu prüfen sind, weil die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit besondere Formen der Meinungsäußerung schützen.311 Innerhalb der Freiheiten des Art 11 I EMRK ist die Koalitionsfreiheit ein besonderer Fall der Vereinigungsfreiheit. Abgesehen von der Koalitionsfreiheit, bei der sich eine Reihe von Besonderhei- 98 ten aus dem Verhältnis zur Europäischen Sozialcharta und zu anderen völkerrechtlichen Gewährleistungen gewerkschaftlicher Aktivitäten ergeben, sind die Schutzbereiche der Kommunikationsgrundrechte grundsätzlich weit auszulegen. Nur so lässt sich der demokratischen Funktion dieser Grundrechte Rechnung tragen, obwohl Art 10 und 11 EMRK nicht auf diese Funktion beschränkt sind. Eingriffe in die Kommunikationsgrundrechte können auch indirekt erfolgen. Zu differenzieren ist dann bei der Prüfung der Rechtfertigung, bei der regelmäßig strenge Maßstäbe sowohl an die Eingriffszwecke als auch an die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzulegen sind. Ob und inwieweit beide Grundrechte auf wirtschaftliche Sachverhalte ange- 99 wendet werden können, ist nach wie vor in der Diskussion. Trotz des offenen Wortlauts vertritt eine Reihe von Autoren die Auffassung, dass die Kommunikationsgrundrechte wirtschaftliche Freiheiten eher nicht gewährleisten. Nicht nur habe die Konvention ursprünglich keine erwerbswirtschaftlichen Freiheitsrechte gewährleistet, auch schützten die Kommunikationsgrundrechte nicht bestimmte Inhalte, sondern in erster Linie bestimmte Kommunikationsformen. Beide Argumente vermögen nicht zu überzeugen, zumal sich Art 11 I EMRK sowohl der Kategorie der politischen als auch dem Bereich der wirtschaftlichen Rechte zuordnen lässt. Zur wirtschaftlichen Dimension der in Art 10 I EMRK gewährleisteten Rechte liegt nun-
310 Der EGMR hat im konkreten Fall allerdings keine Verletzung festgestellt, vgl EGMR, Urt v 25.4.1996, 155737/89, HRLJ 1996, 118, §§ 54–55 – Gustafsson. 311 EGMR, Urt v 26.4.1991, 11800/85, HRLJ 1991, 185, § 35 – Ezelin. Thilo Marauhn/Magdalena Jaś-Nowopolska
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mehr in ausreichendem Maße Rechtsprechung vor, die klarstellt, dass Art 10 EMRK auch Informationen wirtschaftlicher Natur schützt.312 Die Kommunikationsgrundrechte lassen sich eben nicht auf bloße Ausübungsrechte reduzieren, auch wenn etwa im Rahmen der Vereinigungsfreiheit die Erreichung des Vereinigungszwecks nicht gewährleistet wird.313 Letztlich vermag keines der Argumente für eine restriktive, auf nicht-wirtschaftliche beschränkte Interpretation der Kommunikationsgrundrechte zu überzeugen. So ist davon auszugehen, dass Art 10 und 11 EMRK mit ihrem offenen Wortlaut auch die wirtschaftliche Dimension der Kommunikation schützen.
312 EGMR, EuGRZ 1996, 302, § 26 – markt intern Verlag GmbH Klaus Beermann; vgl auch Urt v 24.2.1994, 15450/89, HRLJ 1994, 184, § 35 – Casado Coca. 313 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 7 mwN – Interessant ist die verfassungsrechtliche Parallele: Nach Auffassung des BVerfGs schützt Art 9 I GG auch die werbewirksame Selbstdarstellung eines Vereins (BVerfGE 84, 372 ff).
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§ 5.2 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der GRCh I. Bedeutung und Rechtsgrundlagen Der Mensch ist als „zoon politikon“ auf ein Leben mit anderen angelegt.1 Für das Zu- 1 sammenleben ist Kommunikation existenziell. Deshalb erstaunt es nicht, dass in Art 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die freie Äußerung von Meinungen und Gedanken als „un des droits les plus précieux de l’homme“ bezeichnet wird.2 Als Mittel zur „Wahrheitsfindung“ auf dem „marketplace of ideas“3 ist der Kampf der Meinungen auch für die Gemeinschaft wichtig, denn „es zeigt sich“ – so Hegel –, „dass es ein anderes ist, was sich jemand zu Hause bei seiner Frau oder seinen Freunden einbildet, und wieder ein anderes, was in einer großen Versammlung geschieht, wo eine Gescheitheit die andere trifft“.4 Der Verstand der anderen ist – so Kant – der „Probierstein“ für die eigenen Ansichten.5 Zu Recht betont der EuGH, dass die Freiheit der Meinungsäußerung „eines der wesentlichen Fundamente einer demokratischen Gesellschaft und eine der wichtigsten Voraussetzungen für deren Fortschritt und für die Verwirklichung jedes einzelnen Individuums“ ist.6 Die Bedeutung der geistigen Auseinandersetzung für den Einzelnen und die Gesellschaft hat sich auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 29 ff) niedergeschlagen. Die Union ist eben nicht nur auf die Errichtung eines Binnenmarktes mit freiem Waren- und Dienstleistungsverkehr ausgerichtet, sondern auch auf kulturellen Austausch und politische Verbindung. Die Meinungs- und Informationsfreiheit wird einschließlich der Medienfreiheit und -pluralität in Art 11 GRCh geschützt (dazu II). Als kollektiv ausgeübte Fortsetzung der individuellen Freiheiten erfasst Art 12 GRCh die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit (III.). Spezifische Formen der Meinungsäußerung schützt schließlich die durch Art 13 GRCh garantierte Freiheit der Kunst und der Wissen
1 Aristoteles Politik, Buch I, 2; Buch III, 6. 2 Vgl a BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth. Zur Bedeutung der Kommunikationsfreiheit im Überbl etwa Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, 86 ff mwN. 3 Vgl die „dissenting opinion“ des Supreme Court Justice Holmes in: Abrams v United States, 250 US, 616, 630 (1919): „(T)he ultimate good desired is better reached by free trade in ideas – that the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competition of the market“. 4 Hegel Philosophie des Rechts, 1821, § 315. 5 Kant Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798/1800, 395, 535 f. Zum Ganzen Wegener Der geheime Staat, 2006, 140 f. 6 EuGH, Rs C-274/99, Slg 2001, I-1611 (erster Leitsatz) – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1 (→ Rn 4).
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schaft. Hierauf wird gesondert eingegangen (→ Pünder § 7.2). Zentrale Grundlagenregelung für die europäischen Grundrechte und damit auch für die Kommunikationsgrundrechte ist Art 6 EUV (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 10 f). In Art 6 I EUV wird die GRCh als eine dem sonstigen Primärrecht gleichrangige Rechtsquelle benannt. Weitere Rechtsquellen sind nach Art 6 III EUV die EMRK (im vorliegenden Zusammenhang kommt es auf die Art 10 ff EMRK, → Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1, an) und die – durch eine „wertende Rechtsvergleichung“ zu ermittelnden7 – „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen“ der Mitgliedstaaten.8 Der Beitritt der EU zur EMRK wird in Art 6 II 1 EUV als verbindliches Ziel festgelegt und kompetenzrechtlich abgesichert. Dazu ist es freilich noch nicht gekommen9. Auf die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen hatte der EuGH vor Inkrafttreten der GRCh – gestützt auf die Kompetenz zur „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ (früher: Art 220 EG, jetzt: Art 19 EUV) – für die Herleitung und Konkretisierung der Unionsgrundrechte zurückgegriffen. Auf dieser Grundlage haben sich als Teil des Primärrechts die „Grundrechte aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ herausgebildet, die sich zum Teil mit den Charta-Grundrechten überschneiden und gem Art 6 III EUV gleichberechtigt neben diesen stehen.10 2 Kommunikationsgrundrechte sind ein Rechtmäßigkeitsmaßstab für das Handeln der – wie es in Art 51 I GRCh heißt – „Organe und Einrichtungen der Union“ und der Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“.11 Allerdings ist die
7 Grundl Zweigert, RabelsZ 1964, 601 (610 f). Aufgabe der Rechtsvergleichung ist es danach nicht nur, die verschiedenen Lösungen des nationalen Rechts zusammenzustellen, sondern a die „beste Lösung“ zu ermitteln. Zur Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode vgl etwa Häberle in: Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst u Recht im In- u Ausland, 1994, S 37, 49 f. 8 Für die Aufhebung der Vorschrift nach Inkrafttreten der GRCh (weil sonst ein „lawyers paradise“ entstünde) Engel, ZUM 2000, 975 (1002). 9 Mit dem Beitritt der Union zur EMRK – der dazu führen würde, dass die EMRK Bestandteil des Unionsrechts und der EGMR höchstes Gericht in Bezug auf den Grundrechtsschutz in Europa werden würde – ist auch in absehbarer Zukunft nicht zu rechnen, da der EuGH 2015 in seinem Gutachten 2/13 (EuGRZ 2015, S 56 ff) die vorgeschlagene Übereinkunft über den Beitritt zur EMRK als nicht vereinbar mit Art 6 Abs 2 EUV und dem Protokoll Nr 8 zu Art 6 Abs 2 EUV angesehen hat. Vgl Breuer, EuR 2015, 330 ff; Castán, DÖV 2016, 12 ff; Schmahl, JZ 2016, 921 ff; Schorkopf, JZ 2015, 781 ff; Wendel, NJW 2015, 921 ff. 10 Näher etwa Schneiders Die Grundrechte der EU und die EMRK, 2010, 266 ff. 11 Vgl für die EU-Verwaltung EuGH, Rs C-340/00, Slg 2001, I-10269, Rn 12 – Cwik (→ Rn 12); Rs C-274/ 99, Slg 2001, I-1611, Rn 37 ff – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1 (→ Rn 4); verb Rs C-193/87 u C-194/87, Slg 1990, I-95, Rn 12 ff – Maurissen (→ Rn 42); Rs C-100/88, Slg 1989, 4285, Rn 16 – Oyowe u Traore; für legislative Tätigkeiten Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn 153 ff – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4 (Rn 5); Rs C-479/04, Slg 2006, I-8089, Rn 60 ff – Laserdisken (Rn 27); Rs C-219/91, Slg 1992, I-5485, Rn 34 ff – Ter Voort (→ Rn 20); C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 67 ff – RTL Television.
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Formulierung „Durchführung des Rechts der Union“ missverständlich. Die Grundrechtecharta erfasst nicht nur den (indirekten) Vollzug des Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten und die Umsetzung des Unionsrechts in nationales Recht, sondern alle mitgliedstaatlichen Maßnahmen im Anwendungsbereich des Unionsrechts (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 59 ff). Der EuGH geht insofern recht weit.12 Insbesondere sind die Gewährleistungen nach der Rechtsprechung „Schranken-Schranken“ (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 125), wenn sich Mitgliedstaaten zur Beschränkung der Grundfreiheiten auf primärrechtlich vorgesehene Rechtfertigungsgründe (Art 36, 52 und 62 AEUV) oder „zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls“ (im Sinne der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 82, 10713) berufen.14 Insofern werden die Grundfreiheiten, die die Kommunikationsgrundrechte im wirtschaftlichen Bereich ohnehin parallel schützen,15 verstärkt. Allerdings können Kommunikationsgrundrechte als „Schranken“ (→ Ehlers/ 3 Germelmann § 12 Rn 127) auch eine Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten rechtfertigen.16 Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die Unionsgrundrechte den gleichen Rang genießen wie die Grundfreiheiten.17 Es ist eine Art „praktische Konkordanz“ herzustellen; die Grundfreiheiten genießen keinen Vorrang.18 Schließlich kommt den Kommunikationsgrundrechten eine objektiv-recht
12 Wie die Entscheidung des EuGH, Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10, EuZW 2013, 302 ff – Åklagare = Ehlers, JK 2013, GRCh Art 51/1, in der es um die Mehrwertsteuer ging, zeigt, genügt es dem Gerichtshof schon, dass die einem Streit zugrundeliegenden Normen in irgendeinem Zusammenhang mit europäischem Primär- oder Sekundärrecht stehen. Vgl zu der angreifbaren Akten aus Sicht der Kommunikationsgrundrechte etwa Engel, ZUM 2000, 975 (990 f); Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, 108 ff; Kühling, EuGRZ 1997, 296 (297 ff). 13 Grundl EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649, Rn 8 – Rewe-Zentral-AG (Cassis de Dijon). 14 Vgl EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = Erichsen, JK 98, EGV Art 30/1 (→ Rn 18); Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT; Rs C-60/00, Slg 2002, I-6279, Rn 40 – Carpenter = Ehlers, JK 2002, EGV Art 49/6; verb Rs C-482/01 u C-493/01, Slg 2004, I-5257, Rn 97 – Orfanopoulos u Oliveri, z Recht auf Achtung des Familienlebens; Rs C-441/02, Slg 2006, I-3449, Rn 107 f – Kommission/ Deutschland. 15 Vgl im Überbl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 8; sowie V Schmitz Die kommerzielle Kommunikation im Binnenmarkt im Lichte der neueren Rspr zur Warenverkehrsfreiheit, 2000, 89 ff; Schwarze, ZUM 2000, 779 (782 ff). 16 Vgl EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 74 ff – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3 (→ Rn 38); Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779, Rn 45 – International Transport Workers’ Federation (→ Rn 43); Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767, Rn 93 – Laval (→ Rn 52); Rs C-353/89, Slg 1991, I-4069, Rn 30 – Kommission/Niederlande (→ Rn 18); Rs C-288/89, Slg 1991, I-4007, Rn 22, 23 – Stichting Collectieve (→ Rn 17); Rs C-148/91, Slg 1993, I-487, Rn 9 f – Veronica Omroep (→ Rn 18); Rs C-244/06, Slg 2008, I-505, Rn 42 – Dynamic Medien Verlag = Ehlers, JK 2008, EGV Art 28/10. 17 Vgl etwa Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2003, 693 (696). 18 Jarass GRCh, Einl Rn 13 f, Art 53 Rn 12 f; vgl a Gramlich, DÖV 1996, 801 (808 ff); Preedy Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten, 2005, 177 f; Schulenberg in: Kämmerer/Wyrzykowski
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liche Bedeutung zu (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 45). Das Unionsrecht und das darauf beruhende nationale Recht müssen stets so ausgelegt werden, dass sie mit den Gewährleistungen der Kommunikationsgrundrechte im Einklang stehen.19 Im Gegensatz zum EGMR hat der EuGH eine Pflicht zum Schutz der Unionsgrundrechte – anders als hinsichtlich der Grundfreiheiten (→ Walter § 1 Rn 51) – bislang noch nicht anerkannt.20 Dass für die Union nicht unmittelbar auf die Unionsgrundrechte zurückgegriffen werden kann, macht Art 51 I GRCh deutlich.21 Nötig ist ein anderswo verankerter Kompetenztitel (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 40).22 Wenn es eine EUKompetenz gibt, können Kommunikationsgrundrechte aber Schutzpflichten begründen. Bei deren Wahrnehmung kann die Rechtsprechung des BVerfG und des Straßburger Gerichtshofs Anregungen bieten.23
II. Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489 ff – RTL Television; Rs C-274/99, Slg 2001, I1611 ff – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1; Rs C-340/00, Slg 2001, I-10269 ff – Cwik; Rs C-150/98 P, Slg 1999, I-8877 ff – Wirtschafts- und Sozialausschuss; Rs C-6/98, Slg 1999, I-7599 ff – ARD; Rs C-368/ 95, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = Erichsen, JK 98, EGV Art 30/1; Rs C-23/93, Slg 1994, I-4795 ff – TV 10; Rs C-148/91, Slg 1993, I-487 ff – Veronica Omroep Organisatie; Rs C-219/91, Slg 1992, I-5485 ff – Ter Voort; Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925 ff – Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT); Rs C-288/89, Slg 1991, I4007 ff – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda; Rs C-353/89, Slg 1991, I-4069 ff – Kommis
(Hrsg) Verfassungsgebung für Europa, 2005, 287 (299 ff); anders Groß in: Vieweg (Hrsg) Perspektiven des Sportrechts, 2005, 37, 58 f; Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), 6 (26 ff). 19 EuGH, Rs C-101/01, Slg 2003, I-12971, Rn 87 – Lindqvist (→ Rn 13, 20); Rs C-150/98 P, Slg 1999, I-8877, Rn 14 ff – Wirtschafts- und Sozialausschuss; Rs C-274/99, Slg 2001, I-1611, Rn 47 ff, 129 f, 147 f – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1 (→ Rn 4); Rs C-305/05, Slg 2007, I-5305, Rn 28 – Ordre des barreaux francophones et germanophone; Rs C-499/04, Slg 2006, I-2397, Rn 32–35 – Werhof. 20 Allenfalls lassen sich einige Entscheidungen – wie etwa das Urt in der Rs Schmidberger (EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 74 ff = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3) – iS einer grundrechtlichen Begründung v Schutzverpflichtungen deuten. Vgl Jarass/Kment GR, § 5 Rn 4; Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 127 ff. 21 Vgl zum rechtspolitischen Hintergrund Engel, ZUM 2000, 975 (984 ff). 22 Näher etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 28 f; sowie ausf Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen u europäischem Recht, 2002, 549 ff In gewissen Umfang Schutzpflichten befürwortend Suerbaum, EuR 2003, 390 (405 ff). Im Hinblick auf die Kommunikationsgrundrecht der Versammlungsfreiheit Mann/Ripke, EuGRZ 2004, 125 (131), zur Medienfreiheit Engel, ZUM 2000, 975 (996 f); Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 123 ff. Zur Kompetenzverteilung im Medienbereich und zu Reformvorschlägen Schwarze, AfP 2003, 209 (213 ff). 23 Allgem etwa Classen, JÖR 36 (1987), 29 ff; Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992; Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 133 ff.
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§ 5.2 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der GRCh
sion/Niederlande; Rs 100/88, Slg 1989, 4285 ff – Oyowe u Traore; verb Rs 60/84 u 61/84, Slg 1985, 2605 ff – Cinéthèque; verb Rs 43/82 u 63/82, Slg 1984, 19 ff – VBVB u VBB („flämische Bücher“); Rs C470/03, Slg 2007, I-2749 ff – A.G.M.-COS.MET Srl = JK 2008, EGV Art 28/2; Rs C-159/90, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan; Rs T-91/09 P, Slg 2004, II-1477 ff – Meister; Rs C-101/01, Slg 2003, I-12971 ff – Lindqvist; Rs C-71/ 02, Slg 2004, I-3025 ff – Karner; Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4; Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3; Rs C-479/04, Slg 2006, I-8089 ff – Laserdisken; Rs C-421/07, Slg 2009, I-2629 ff – Damgaard; Urt v 16.2.2012, Rs C-360/10, EuZW 2012, 261 ff – SABAM = Ehlers, JK 2012, GrCh Art 17 II/1; Urt v 8.4.2014, verb Rs C-293/12 u C-594/12, EuZW 2014, 459 ff – Digital Rights Ireland = Eifert, JK 8/14, AEUV Art 267; GRCh Art 7, 8; Urt v 4.5.2016, Rs C-547/14, EuZW 2016, 582 ff – Philip Morris = Kingreen, JK 2016, EUV Art 5 III, IV; AEUV Art 114; GrCh Art 11; Urt v 21.12.2016, verb Rs C-203/15 u C-698/15, EuZW 2017, 153 ff – Tele2 Sverige = Kingreen, JK 5/17, GRCh Art 7, 8, 52; Urt v 24.9.2019, Rs C-136/17, EuZW 2019, 906 ff – ED ua; BVerfG, EuZW 2019, 1035 – Recht auf Vergessenwerden II.
Schrifttum: Arning/Moosl/Scherz, Vergiss(,) Europa!, CR 2014, 447 ff; Bär Freiheit und Pluralität der Medien nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2005; Bernreuther, Zur Interessenabwägung bei anonymen Meinungsäußerungen im Internet, AfP 2011, 218 ff; Dörr Der öffentlichrechtliche Rundfunk im Kontext des neuen EU-Verfassungsvertrages, FS Kiefer, 2005, 90 ff; Engel, Die Europäische Grundrechtscharta und die Presse, ZUM 2000, 975 ff; Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006; Groß/Platzer, Whistleblowing: Keine Klarheit beim Umgang mit Informationen und Daten, NZA 2017, 1097 ff; Hong, Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, ZaöRV 2010, 73 ff; Institut für Europäisches Medienrecht Nizza, die GrundrechteCharta und ihre Bedeutung für die Medien in Europa, 2001; Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999; ders, Grundrechtekontrolle durch den EuGH: Kommunikationsfreiheit und Pluralismussicherung im Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1997, 296 ff; ders Kommunikationsfreiheit, Medienfreiheit in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27, § 28; ders, Rückkehr des Rechts: Verpflichtung von „Google & Co.“ zu Datenschutz, EuZW 2014, 527 ff; Schmitt, Whistleblowing revisited – Anpassungs- und Regelungsbedarf im deutschen Recht, RdA 2017, 365 ff; Schmittmann/Luedtke, Die Medienfreiheit in der Europäischen Grundrechtscharta, AfP 2000, 533 ff; Schwarze, Medienfreiheit und Medienvielfalt im Europäischen Gemeinschaftsrecht, ZUM 2000, 779 ff; ders, Die Medien in der europäischen Verfassungsreform, AfP 2003, 209 ff; Selmer Die Medien- und Informationsfreiheit in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, FS Nicolaysen, EUR 2002 (Beiheft 3), 29 ff; Sporn, Das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit in einer Europäischen Grundrechtscharta, ZUM 2000, 537 ff; Stieper, Der Trans Europa Express ist aus Luxemburg zurück – auf dem Weg zu einer Vollharmonisierung der urheberrechtlichen Schranken, ZUM 2019, 713 ff; Stock Medienfreiheit in der EU-Grundrechtscharta: Art 10 EMRK ergänzen und modernisieren!, 2000; ders, Eine Grundrechtscharta für die Europäische Union: Wie sollte die Medienfreiheit darin ausgestaltet werden?, ZUM 2000, 533 ff; ders, Medienfreiheit in der EU nur „geachtet“ (Art 11 Grundrechtecharta) – Ein Plädoyer für Nachbesserungen im Verfassungskonvent, EuR 2002, 566 ff.
Fall 1 (gelehnt an EuGH, Rs C-274/99, Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1):
C, der Leiter des Kommissionsreferats für nationale und gemeinschaftliche Währungspolitik, veröffentlichte während eines längeren Urlaubs ein Buch, das unter dem Titel „The rotten heart of Europe. The dirty war for Europe’s money“ die Währungspolitik der Union und einzelne KommissionsmitHermann Pünder
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glieder heftig kritisierte. Da C die nach Art 17 des Beamtenstatuts erforderliche Zustimmung nicht beantragt hatte, wurde er von der Kommission ohne Aberkennung seines Ruhegehaltsanspruchs aus dem Dienst entfernt. C meint, dass die Entscheidung ihn in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt habe. Nachdem das EuG die Klage gegen die Disziplinarstrafe abgewiesen hatte, wandte sich C an den EuGH.
Fall 2 (gelehnt an EuGH, Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4): Die RL 2003/33, ABl 2003 Nr L 152/16, verbietet – von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen – vollständig die Werbung für Tabakerzeugnisse in den Bereichen der Presse und des Rundfunks. Zudem wird Tabakunternehmen das Sponsoring für Veranstaltungen, die eine grenzüberschreitende Wirkung haben, untersagt. Deutschland hält die Richtlinie unter anderem wegen eines Verstoßes gegen die Presse- und Meinungsfreiheit für unionsrechtswidrig.
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1. Die Normierung des Art 11 GRCh im Überblick 6 Nach Art 11 I 1 GRCh hat „jeder Mensch das Recht auf freie Meinungsäußerung“.
Art 11 I 2 GRCh betont, dass dieses Recht „die Meinungsfreiheit und die Freiheit (einschließt), Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben“. Schließlich erklärt Art 11 II GRCh, dass „die Freiheit der Medien und ihre Pluralität geachtet“ werden. In den als Anleitung für die Auslegung der Charta verfassten (allerdings nicht verbindlichen) Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents wird hervorgehoben, dass sich die Gewährleistung der Meinungsfreiheit bewusst an Art 10 EMRK orientiert.24 Da dies gem Art 52 III GRCh zur Folge hat, dass die Freiheiten in beiden Kodifikationen „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben, kommt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der im Interesse von Pluralismus und Toleranz den Schutzbereich der Kommunikationsgrundrechte weit fasst und Eingriffe nur unter engen Voraussetzungen als gerechtfertigt anerkennt (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1), eine besondere Bedeutung zu. Das Unionsrecht darf den Mindeststandard der EMRK-Gewährleistungen jedenfalls nicht unterschreiten.25 7 Die Freiheit der Medien und die Achtung ihrer Pluralität werden in Art 10 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt, sondern als Bestandteil der allgemeinen Mei-
24 Vgl Nr 1 der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003. 25 Näher zu dem umstrittenen Verhältnis von GRCh und EMRK Jarass/Kment GR, § 6 Rn 48 ff; Schneiders Die Grundrechte der EU und die EMRK, 2011, 145 ff; Ziegenhorn Recht der EU-Grundrechtecharta – Genuin chartarechtlicher Grundrechtsschutz gemäß Art 52 Abs 3 GRCh, 2009.
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§ 5.2 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der GRCh
nungs- und Informationsfreiheit geschützt (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 17). Obwohl diese Konzeption auch der EuGH-Rechtsprechung26 und der Grundrechtserklärung des Europäischen Parlaments27 zugrunde liegt, setzte sich im Laufe der Verhandlungen zur Grundrechtecharta die Einschätzung durch, dass die Medienfreiheit vor allem wegen ihrer Bedeutung für die Demokratie eigenständig zu regeln ist.28 Dass es nicht bloß um die Übernahme der Judikatur des EGMR geht, wird auch dadurch deutlich, dass das Präsidium des Konvents auf die Rechtsprechung des EuGH bezüglich des Fernsehens29, das Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten30 und auf die der Förderung eines freien Informationsflusses und des Meinungsaustausches in der Union dienende Fernsehrichtlinie 89/552, ABl 1989 Nr L 298/2331 verweist.32 Die in Art 11 GRCh gewährleisteten Kommunikationsgrundrechte gehören zur 8 „gemeinsamen Verfassungstradition“ der Mitgliedstaaten, auf die die Präambel zur Grundrechtecharta in Abs 5 verweist. Die Informationsfreiheit wird in den Mitgliedstaaten zumeist als Bestandteil der Meinungsfreiheit angesehen; während sich für die Medienfreiheit, namentlich für die Rundfunkfreiheit, in allen Mitgliedstaaten spezielle verfassungsrechtliche und/oder einfachgesetzliche Verbürgungen finden.33 Schließlich sind für die Interpretation von Art 11 GRCh die in der Präambel hervorgehobenen „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitglied-
26 Vgl etwa EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 18 – Familiapress = Erichsen, JK 98, EGV Art 30/1. Dazu Kühling, EuGRZ 1997, 296, 301 ff. 27 Europ Parlament Erklärung der Grundrechte u Grundfreiheiten v 12.4.1989, ABl EG 1989 Nr C, 51 (Art 5). Dazu Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 355 ff. 28 Vgl zur Entstehungsgeschichte Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 8 ff; Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 32 ff; Selmer, EUR 2002 (Beiheft 3), 29, 34 ff; Sporn, ZUM 2000, 537 ff; von Coelln in: Stern/Sachs, GRCh, Art 11 Rn 5; Stock, EuR 2002, 566 ff (571 f). 29 Verwiesen wird auf EuGH, Rs C-288/89, Slg 1991, I-4007 ff – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua. 30 ABl EG 1997 Nr C 340, 109. Dazu etwa Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 67 ff; Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, 213 ff; Schwarze, ZUM 2000, 779 (796 ff); Selmer, EUR 2002 (Beiheft 3), 29 (33 ff). 31 Richtlinie zur Koordinierung bestimmter Rechts- u Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (RL 89/552, ABl 1989 Nr L 298/23). Vgl Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 70 ff; Schwarze, ZUM 2000, 779 (793 ff). 32 Nr 2 der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Vgl dazu etwa Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 48 ff. 33 Vgl für Nachw Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 2. Ausf Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 207 ff.
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staaten“ von Bedeutung. Dies gilt nicht nur für die EMRK. Zu denken ist auch an Art 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), an Art 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) und an den „free flow of information“ als allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts.34
2. Schutzbereich 9 Auf die Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit kann sich „jeder Mensch“, al-
so auch jeder Angehörige von Staaten, die nicht Mitglied der Union sind, berufen.35 Drittstaatenangehörigen gegenüber sind jedoch Einschränkungen im Bereich der politischen Betätigung entsprechend Art 16 EMRK möglich.36 Dass Kindern das Kommunikationsgrundrecht zusteht, stellt Art 24 I 2 GRCh klar. Berechtigt sind auch juristische Personen (allgemein → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 54).37 Dies gilt vor allem für Medienunternehmen. Der Staat selbst ist kein Träger von Grundrechten. Er kann sich auch nicht auf die Meinungsfreiheit seiner Bediensteten berufen, sofern diese für ihn handeln.38 Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die in einer „dualen Rundfunkordnung“ einen Auftrag zur „Grundversorgung“ haben,39 kommt die Medienfreiheit allerdings zu, soweit sie staatsfern sind und somit gegen hoheitliche Übergriffe geschützt werden müssen.40 Öffentlich-rechtlich korporierte Religionsgemeinschaften sind dem staatlichen Bereich von vornherein nicht zuzuordnen.
34 Vgl Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 3 mwN. 35 Vgl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 30. Implizit a EuGH, Rs 100/88, Slg 1989, 4285, Rn 15 f – Oyowe u Traore. 36 Jarass GRCh, Art 11 Rn 28. 37 Für eine Anwendung der Wertung des Art 19 III GG Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S 251. 38 EuGH, Rs C-470/03, Slg 2007, I-2749, Rn 72 – A.G.M.-COS.MET Srl = JK 2008, EGV Art 28/2 39 Vgl BVerfGE 73, 118 (157 f) – 4. Rundfunkurteil; BVerfGE 83, 238 (296 ff) – 6. Rundfunkurteil; BVerfGE 119, 181 (215 ff). Vgl a dem Schrifttum Berg, AfP 1987, 457 ff; Degenhart, K&R 2018, 149 ff; Herrmann Fernsehen und Hörfunk in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S 322 (332 f); Kresse, ZUM 1996, 59 ff; Kühling/Kellner, ZUM 2018, 875 ff; Starck, NJW 1992, 3257 ff. 40 S Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 17 f; Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 106 f; Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 31; ders Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 377 ff; sowie etwa Dörr Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa, 1997.
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a) Meinungs- und Informationsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta In sachlicher Hinsicht schützt Art 11 I 1 GRCh zunächst die Meinungsäußerungs- 10 freiheit, zu der selbstverständlich auch die negative Freiheit gehört, seine Meinung nicht zu äußern.41 Schutz genießt grundsätzlich jede Äußerung ohne Rücksicht auf die Qualität und den Themenbereich.42 Ausdrücklich betont der EGMR, dass im Interesse einer offenen und pluralen geistigen Auseinandersetzung auch „verletzende, schockierende oder beunruhigende“ Meinungsäußerungen in den Schutzbereich fallen.43 Ob dies auch für rassistische Äußerungen gilt, ist in der Rechtsprechung des EGMR nicht klar.44 Nach manchen Entscheidungen ist in diesen Fällen – wegen des Missbrauchsverbots in Art 17 EMRK – der Schutzbereich schon gar nicht eröffnet.45 Damit werden freilich die Grenzen zwischen dem Schutzbereich und den Schranken der in Art 11 GRCh gewährleisteten Rechte verwischt.46 Zu Recht berücksichtigt der EGMR in anderen Entscheidungen den diskriminierenden Gehalt einer Äußerung erst auf der Rechtfertigungsebene.47 Dogmatisch führt auch die in Art 1 S 1 GRCh hervorgehobene Menschenwürde nicht zu einer tatbestandlichen Einschränkung. Es besteht kein Anlass von dem herkömmlichen dreistufigen Aufbau der Grundrechtsprüfung abzuweichen. Allerdings folgt aus Art 1 S 2 GRCh, wonach die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ ist, eine Schutzpflicht der Grundrechtsadressaten (→ Schorkopf § 3 Rn 6). Im Übrigen beschränkt sich der Schutz nicht auf den politischen Bereich, sondern erfasst etwa auch – der Straßburger Spruchpraxis (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 8)48 und der Judika-
41 Vgl z negativen Kommunikationsfreiheit Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 23 f. 42 S z Rspr d EGMR → Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 4 ff, sowie zusammenfassend mit Blick auf Art 11 GRCh etwa Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 12 Fn 11; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 5 ff; Vgl a BVerfGE 61, 1 (7) – Wahlkampf. 43 Grundl EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 49 – Handyside. S a EGMR, Urt v 23.5.1991, 11662/85, EuGRZ 1991, 216, §§ 57 ff – Oberschlick; Urt v 10.5.2011, 1685/10, NJW 2012, 746 § 18 – Karttunen. 44 S zu dieser Frage ausf Hong, ZaöRV 2010, 73 ff. 45 Vgl etwa EGMR, Urt v 23.9.1994, 15890/89, Series A Nr 298, § 35 – Jersild; Urt v 23.9.1998, 24662/94 u 55/1997/839/1045, ÖJZ 1999, 656 – Lehideux; Urt v 6.4.2010, 45130/06, NJW-RR 2011, 981 – Ruokanen ua. 46 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 5. 47 EGMR, Urt v 1.2.2000, 32307/96, ÖJZ 2000, 817 – Schimanek; Urt v 20.4.2010, 18788/09, NJW-RR 2011, 984 – Le Pen. 48 EGMR, Urt v 17.10.2002, 37928/97, EuGRZ 2002, 589, §§ 38 ff – Stambuk; Urt v 20.11.1989, 10572/83, EuGRZ 1996, 302, § 26 – markt intern Verlag GmbH u Beermann; Urt v 28.3.1990, 10890/84, EuGRZ 1990, 255, § 55 – Groppera Radio AG; Urt v 24.2.1994, 15450/89 u 8/1993/403/481, HRLJ 1994, 184, §§ 35 f – Casado Coca (Werbeverbot für Anwälte); Urt v 22.4.2013, 48876/08, ECHR 2001-VI, 243 – VGT Verein gegen Tierfabriken.
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tur des UN-Menschenrechtsausschusses49 entsprechend – kommerzielle Äußerungen.50 Zur sog commercial speech gehören alle Formen der Werbung, des Direktmarketings, des Sponsoring, der Verkaufsförderung und der Öffentlichkeitsarbeit.51 Kritische Äußerungen zu politischen Fragen und Stellungnahmen von Politikern sind besonders geschützt (Rn 23, 44 ff). Auf die Art der Meinungsäußerung kommt es nicht an. Geschützt werden alle denkbaren Kommunikationsformen, also auch Realhandlungen, die einen kommunikativen Gehalt haben (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 9).52 Für künstlerische Ausdrucksmittel ist die Kunstfreiheit nach Art 13 GRCh (→ Pünder § 7.2) lex specialis. Dass sich die Grundrechtsgewährleistungen nicht auf das sog forum externum beschränken, macht Art 11 I 2 GRCh deutlich, wonach die Meinungsäußerungsfreiheit die Meinungsfreiheit einschließt. Gemeint ist der – auch von der Gedankenfreiheit in Art 10 GRCh gewährleistete (→ Classen § 4.3.1 Rn 8) – innere Prozess der Meinungsbildung im sog forum internum.53 Dies bietet einen Schutz vor gezielter Indoktrination durch die öffentliche Hand.54 11 Meinungen sind Werturteile.55 Allerdings werden auch Tatsachenäußerungen als „Informationen“ iSv Art 11 I 2 GRCh sowie Konzepte und Pläne als „Ideen“ geschützt.56 Da der Schutzbereich des Art 11 I GRCh „Meinungen, Informationen und Ideen“ umfasst, braucht – anders als im deutschen Recht57 – auf der Ebene des
49 MRA, Mitteilung v 31.3.1993, Nr 359/1989 u 385/1989, UN Doc CCPR/C/47/D/359/1989 u 385/1989/Rev 1 (1993), §§ 11.3–11.4 – Ballantyne, Davidson u McIntyre. 50 Vgl zur Wirtschaftswerbung Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 464 ff; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 708 ff, 724. Zur dt Verfassungslage BVerfGE 102, 347 (359 f) – Benetton Schockwerbung, Schroeder, ZLR 2012, 405 (416); sowie etwa Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S 311 ff; s zur Arzneimittelwerbung EuGH, Rs C-421/07, Slg 2009, I-2629, Rn 26 – Damgaard. 51 Vgl das Grünbuch der Kommission Kommerzielle Kommunikation im Binnenmarkt, KOM (96), 192 endg, und das Nachfolgedokument KOM (98) 121 endg. Zum betriebs- und gesamtwirtschaftlichen Kontext V Schmitz Die kommerzielle Kommunikation im Binnenmarkt im Lichte der neueren Rspr zur Warenverkehrsfreiheit, 2000, S 29 ff. 52 Zu den geschützten Kommunikationsmitteln Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 388 ff. 53 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 12. 54 Vgl EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71 u 5920/72 u 5926/72, EuGRZ 1976, 478, § 53 – Kjeldsen, Busk Madsen u Pedersen (Indoktrinierungsverbot in Schulen); Urt v 24.11.1993, 13914/88 u 15041/89 u 15717/89, 15779/89 u 17207/90, EuGRZ 1994, 549, § 38 – Informationsverein Lentia; sowie etwa Astheimer Rundfunkfreiheit – ein europ Grundrecht, 1990, 53. 55 Vgl BVerfGE 61, 1 (7) – Wahlkampf. 56 Jarass GRCh, Art 11 Rn 10 ff. 57 Vgl z Frage, ob und inwieweit a Tatsachenbehauptungen unter die Meinungsfreiheit nach Art 5 GG fallen, BVerfGE 61, 1 (7) – Wahlkampf („Die Mitteilung einer Tatsache ist im strengen Sinne keine Äußerung einer Meinung […]. Durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt ist sie, weil
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Schutzbereichs grundsätzlich nicht zwischen Meinungen und Tatsachenmitteilungen unterschieden zu werden (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 5).58 Der Wahrheitsgehalt von Informationen wird erst auf der Schrankenebene relevant; unwahre Äußerungen verdienen weniger Schutz.59 Dies ist vor allem für das Gegendarstellungsrecht von Bedeutung, wenn es um den „Schutz des guten Rufes“ geht (Rn 22). Ausdrücklich werden nur der „Empfang“ und die „Weitergabe“ von Informationen und Ideen geschützt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die aktive Informationsbeschaffung keinen Schutz genießt, denn diese ist eine grundlegende Voraussetzung für Meinungsbildung, Meinungsäußerung und Informationsverbreitung (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 12).60 Die Informationsfreiheit umfasst den gesamten Informationsprozess, also auch die Aufbereitung und Speicherung von Informationen bis hin zur Beschaffung und Nutzung von Anlagen, die den Empfang von an die Allgemeinheit gerichteten Informationen ermöglichen.61 Eine dem Informationsrecht korrespondierende behördliche Pflicht zur Information hat der EGMR abgelehnt.62 Der Schutzbereich der Informationsfreiheit wurde – wie im deutschen Recht (Art 5 I 1 GG)63 – auf den Empfang allgemein zugänglicher Informationen beschränkt (→ krit Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 10 f).64 Ein Recht auf Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission wird allerdings in Art 42 GRCh normiert.65
und soweit sie Voraussetzung der Bildung einer Meinung ist“); sowie Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S 344 ff; Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 652 ff. 58 Vgl Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S 253 („kein Raum für die deutsche Merkwürdigkeit“). 59 Vgl etwa BVerfGE 90, 241 (247 f) – Auschwitzlüge = Kunig, JK 94, GG Art 5 I 1/22; 99, 185 (197) – Scientology. Vgl zur Rspr des BVerfG und des EGMR, Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 148 f, 215 f. 60 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 14. 61 EGMR, Urt v 22.5.1990, 12726/87, EuGRZ 1990, 261, § 47 – Autronic AG; Urt v 29.10.1992, 14234/88 u 14235/88, EuGRZ 1992, 484, § 55 – Open Door and Dublin Well Woman (vgl dazu EuGH, Rs C-159/90, Slg 1991, I-4685, Rn 25 u 31 f – Grogan). 62 EGMR, Urt 19.2.1998, 116/1996/735/932, NVwZ 1999, 57, §§ 53 ff – Guerra ua. 63 Vgl etwa BVerfGE 90, 27 (32 f) – Parabolantenne = Kunig, JK 94, GG Art 5 I 1/21 ; 103, 44, 60 f – Gerichtsfernsehen = JK 2001, GG Art 5 I /28. 64 EGMR, Urt v 8.7.1986, 9815/82, EuGRZ 1986, 424, § 41 – Lingens. Ausf Rengeling/Szczekalla GR, Rn 713 ff, 725. Krit Sporn, ZUM 2000, 537 (540 f). 65 Vgl a Nowak, DVBl 2004, 272 ff. Umfassend zur „Arkantradition“ und dem Informationsfreiheitsrecht Wegener Der geheime Staat, 2006, insb S 396 ff (zur Informationsfreiheit im Recht der EU).
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bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 12 In der naturgemäß kasuistischen Rechtsprechung des EuGH werden der Schutzbereich und die Grenzen der Meinungs- und Informationsfreiheit wenig klar bestimmt. Regelmäßig stellt der EuGH nur in knappen Worten die Betroffenheit des Grundrechts fest, um dann dessen Beschränkung zu bejahen. Erst im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs setzt sich das Gericht mit den Umständen des Falles auseinander. Nichtsdestotrotz lassen sich den Entscheidungen einige genauere Aussagen zum Schutzbereich der Meinungs- und Informationsfreiheit entnehmen. Wichtige Entscheidungen betrafen das Dienstrecht der Union.66 In der Rs Oyowe und Traore hatte es die Kommission abgelehnt, die Kläger zu Kommissionsbeamten zu ernennen, weil sie gleichzeitig Redakteure des „AKP-Kurier“ waren. Diese Tätigkeit sei mit der Treuepflicht eines Beamten nicht vereinbar. Der EuGH verwarf diese Argumentation. Die Treuepflicht dürfe nicht so ausgelegt werden, dass sie im Widerspruch zur Freiheit der Meinungsäußerung stehe. Die Meinungsfreiheit sei ein Grundrecht, „dessen Wahrung der Gerichtshof innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung zu sichern hat und das besonders wichtig ist, wenn es sich (…) um Journalisten handelt, deren wichtigste Aufgabe es ist, völlig unabhängig (…) zu schreiben.“67 In weiteren Entscheidungen ging es um die Konkretisierung der allgemeinen Treuepflicht in Art 17 des Beamtenstatuts, wonach es Kommissionsbediensteten verboten ist, Texte, die sich auf die Tätigkeit der Union beziehen, ohne Zustimmung der Anstellungsbehörde zu veröffentlichen. In der Rs Connolly (Rn 4, Fall 1) machte das Gericht deutlich, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit auch eröffnet ist, wenn Unionsbedienstete „mündlich oder schriftlich Ansichten äußern, die sich von denjenigen unterscheiden, die das Gemeinschaftsorgan, bei dem sie beschäftigt sind, vertritt, oder die diesen gegenüber Minderheitsmeinungen darstellen.“68 In der Rs Cwik ging es um einen ähnlichen Fall: Der Kläger hatte mit Zustimmung seiner Vorgesetzten einen Vortrag über die „wirtschaftspolitische Feinsteuerung“ in der Wirtschafts- und Währungsunion gehalten. Die Veröffentlichung des Manuskripts wurde ihm mit der Begründung verboten, dass die Auffassungen nicht der Kommissionslinie entsprächen. Dem trat der EuGH unter Berufung auf die Meinungsfreiheit entgegen (Rn 30).69 Dass grundsätzlich auch die Kritik an Vorgesetzten geschützt ist, selbst wenn sie einen aggressiven und unsachlichen Ton hat, hob der Gerichtshof in der Rs Wirtschafts- und Sozialaus-
66 Vgl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 73 ff; dens Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 428 ff. 67 EuGH, Rs 100/88, Slg 1989, 4285, Rn 16 – Oyowe u Traore. 68 EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 43 – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1. 69 EuGH, Rs C-340/00 P, Slg 2001, I-10269, Rn 14 ff u 23 ff – Cwik. Vgl a schon EuG, Slg ÖD 2000, I-A-155 u II-713, Rn 66 ff – Cwik.
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schuss/E hervor (Rn 30).70 Schließlich entschied der Gerichtshof in der Rs Herbert Meister, dass die Meinungsfreiheit auch die Kritik an geplanten Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb einer Dienststelle erfasst.71 Die Beispiele zeigen, dass die Meinungsfreiheit in der Union weitreichend geschützt ist. Allgemein formulierte der Gerichtshof in der Rs Connolly unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des EGMR, dass die Gewährleistung nicht nur „für Informationen und Ideen (gilt), die Zustimmung erfahren oder die als harmlos oder unerheblich betrachtet werden, sondern auch für sämtliche Informationen und Ideen, die den Staat oder einen Bereich der Bevölkerung beleidigen, aus der Fassung bringen oder stören. Dies erfordern nämlich die pluralistische Gesellschaft, die Toleranz und die Weite des Geistes, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht zu haben ist“.72 Dass die Meinungsäußerungsfreiheit nicht nur für Beamte, sondern vielmehr für das Arbeitsleben ganz allgemein gilt und mithin auch von Arbeitsgerichten zu beachten ist, hat der EGMR hervorgehoben und entschieden, dass eine Strafanzeige zum Zwecke des „Whistleblowing“73 – also um Missstände beim Arbeitgeber offenzulegen – vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst wird.74 Abseits von Fällen zu den Dienstverhältnissen der Union hat sich der EuGH nur 13 vereinzelt zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit geäußert. Der Entscheidung Lindqvist, in der es um ein schwedisches Strafverfahren ging, lässt sich entnehmen, dass auch die Verbreitung personenbezogener Daten im Internet in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt.75 Zu Recht hat der BGH – gelehnt an die weite Schutzbereichsdefinition des EuGH – in seiner Entscheidung AnyDVD auch das Setzen von „Links“ als geschützte Berichterstattung iSv Art 11 I GRCh anerkannt.76 In der Rs Ter Voort wurde vom EuGH die Versendung von Informationen über die therapeutische Wirkung von eingeführten Kräutertees als Ausübung der Meinungs-
70 EuGH, Rs C-150/98 P, Slg 1999, I-8877, Rn 14 f – Wirtschafts- u Sozialausschuss. 71 EuG, Slg 2004, II-1477, Rn 157 ff – Meister. 72 EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 39 – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1. 73 Siehe hierzu auch die Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (RL 2019/1937, ABl 2019 Nr L 305/17; sog. „Whistleblower-Richtlinie“). 74 EGMR, Urt v 21.7.2011, 28274/08, EuGRZ 2011, 555, §§ 43 f – Heinisch = Schoch, JK 2012, EMRK Art 10/3; Urt v 13.1.2015, 79040/12, NZA 2016, 1009, §§ 67 ff – Rubins; Urt v 27.2.2018, 1085/10, NJW 2019, 1273, §§ 47 ff – Guja; EuGöD, Urt v 11.9.2013, Rs F-126/11, BeckRS 2013, 81966, Rn 77 – Carvalho; EuG, Urt v 8.10.2014, Rs T-530/12 P, BeckRS 2015, 8144, Rn 148 – Garde. Aus der deutschen Rechtsprechung BVerfG, NZA 2001, 888 (889 f); BAG, BAGE 107, 36 (41 ff); NZA 2007, 502 (503). Vgl aus dem Schrifttum zum Whisteblowing etwa Groß/Platzer, NZA 2017, 1097 ff; Reithmann, EuR 2015, 763 (775 f); Schmitt, RdA 2017, 365 ff; Thüsing/Rombey, NZG 2018, 1001 ff. 75 EuGH, Rs C-101/01, Slg 2003, I-12971, Rn 73, 86 ff – Lindqvist. 76 BGH, BGHZ 187, 240, Rn 22 f – AnyDVD. Siehe insofern nunmehr auch EuGH, Urt v 8.9.2016, Rs C160/15. EuZW 2016, 785, Rn 45 – GS Media. Vgl dazu Grünberger, ZUM 2016, 905 ff.
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freiheit angesehen (Rn 20).77 Dass auch kommerzielle Meinungsäußerungen von der Meinungsfreiheit geschützt sind, veranschaulicht die Rs Karner, in der es um das österreichische Verbot ging, beim Verkauf von Waren aus einer Konkursmasse auf die Herkunft hinzuweisen, wenn die Waren zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht mehr zum Bestand der Konkursmasse gehören. Mit dieser Regelung im Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb sollen Verbraucher vor dem Irrtum geschützt werden, dass die Waren wegen der Auflösung der Konkursmasse besonders günstig sind. Der EuGH lehnte eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit ab, indem er die Werbebeschränkungen als Verkaufsmodalität iSd Keck-Rechtsprechung (→ Epiney § 13 Rn 46 ff)78 bezeichnete. Stattdessen wurde eine Verletzung der „Meinungsfreiheit im Geschäftsverkehr“ untersucht.79 Um den Umfang des grundrechtlichen Schutzes kommerzieller Kommunikation ging es auch in dem von Deutschland ua unter Berufung auf die Meinungsfreiheit angestrengten Verfahren über die Rechtmäßigkeit der sog Tabakwerbe-RL 98/43, ABl 1998 Nr L 213/9, die jede Form von Werbung für Tabakerzeugnisse in der Gemeinschaft verbot (Rs Deutschland/Parlament und Rat). In den Schlussanträgen betonte GA Fennelly unter Berufung auf den EGMR80, dass Informationen wirtschaftlicher Natur zwar nicht in derselben Weise wie politische, journalistische, literarische oder künstlerische Meinungen in einer liberalen Gesellschaft zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele beitragen. Die Grundrechte würden jedoch nicht nur wegen ihrer instrumentalen, gesellschaftlichen Funktion anerkannt, sondern auch deswegen, weil sie für die Autonomie, die Würde und die Persönlichkeitsentwicklung erforderlich seien. Die Freiheit der Bürger, ihre wirtschaftliche Betätigung durch Äußerungen zu fördern, flösse daher nicht nur aus ihrem Recht auf wirtschaftliche Betätigung und aus der allgemeinen Verpflichtung auf eine auf den freien Wettbewerb gestützte Marktwirtschaft, sondern auch aus ihrem ursprünglichen Anspruch als Menschen, Ansichten zu jeder Frage einschließlich der Qualität der Waren oder Dienstleistungen, die sie verkaufen oder erzeugen,
77 EuGH, Rs C-219/91, Slg 1992, I-5485, Rn 33, 36–38 – Ter Voort. 78 EuGH, verb Rs C-267/91 u C-268/91, Slg 1993, I-6097 ff – Keck. 79 EuGH, Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 51 – Karner. Indirekt können a die Urt des EuGH Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 37, 68 – RTL Television, Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4, u Urt v 17.12.2015, Rs C-157/14, EuZW 2016, 160, Rn 67 – Neptune Distribution, als Bestätigung für die Einbeziehung von Werbung in den Schutzbereich herangezogen werden, da die Kläger in diesen Fällen, in denen es um Vorgaben an die Werbung in den Medien ging, die Werbung als kommerzielle Form der Meinungsäußerung geltend machten und der EuGH nur ganz pauschal eine Beschränkung der Meinungsfreiheit annahm. A in der Rspr des EGMR ist anerkannt, dass die Meinungsfreiheit a Werbung schützt. S EGMR, Urt v 17.10.2002, 37928/97, EuGRZ 2002, 589 – Stambuk. 80 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38, § 49 – Handyside.
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auszudrücken und zu empfangen.81 Zu einer Stellungnahme des EuGH kam es nicht, weil der Gerichtshof die Richtlinie bereits wegen einer ungeeigneten Rechtsgrundlage für nichtig erklärte und die weiteren Klagegründe nicht mehr prüfte.82 In dem zweiten Tabakwerbeurteil, das die nach der ersten Entscheidung revidierte RL 2003/33, ABl 2003 Nr L 152/16, zum Gegenstand hatte (Rn 5, Fall 2), betonte der EuGH, dass die Presse- und Meinungsfreiheit mit den Zielen des Gesundheitsschutzes abgewogen werden müsse. Dabei komme den zuständigen Stellen ein Beurteilungsspielraum zu, der je nach Art der Tätigkeit, um die es geht, und je nach den verfolgten Zielen unterschiedlich sei. Im Ergebnis wurde das Werbeverbot als gerechtfertigt angesehen, da es nur die kommerzielle Freiheit der Meinungsäußerung im Geschäftsverkehr betrifft und zudem die inhaltlichen Beiträge der Journalisten von dem Verbot nicht berührt werden.83 Fragen der negativen Meinungsfreiheit warf eigentlich die Tabakprodukt-RL 2001/37, ABl 2001 Nr L 194/26, auf, die es den Mitgliedstaaten ermöglicht zu entscheiden, ob bei den Warnhinweisen die Behörde genannt wird, von der die Warnung stammt. In dem dazu ergangenen Urteil sprach der Gerichtshof die Meinungsfreiheit allerdings mit keinem Wort an.84 Dass die Meinungsfreiheit bei einer gemeinsamen Ausübung nicht gegenüber der Versammlungsfreiheit zurücktritt, sondern beide Unionsgrundrechte parallel anzuwenden sind (näher Rn 37), macht die Entscheidung in der Rs Schmidberger deutlich, in der es um eine Versammlung ging, die die Brennerautobahn für mehrere Stunden lahm legte, um auf die Gefahren für den Lebensraum und die Gesundheit der Bevölkerung durch den Transitverkehr hinzuweisen (Rn 38).85 Die Informationsfreiheit hatte in der Rechtsprechung zunächst ein kümmerli- 14 ches Dasein gefristet. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert. Der Gerichtshof hatte zwar schon in der Rs Grogan die Gelegenheit, sich zur Reichweite des Schutz-
81 Schlussantrag GA Fennelly, EuGH, verb Rs C-376/98 u C-74/99, Slg 2000, I-8423, Rn 153, vgl a Schroeder, ZLR 2012, 405 (410). 82 EuGH, Rs 376/98, Slg 2000, I-8498 ff – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2001, EGV Art 95/1. 83 EuGH, Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn 155 f – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4. 84 EuGH, Rs C-491/01, Slg 2002, I-11453 ff – British American Tobacco u Imperial Tobacco. Ausf Koenig/Kühling EWS 2002, 12 ff. Vgl z dt Umsetzungsakt gegen die vorherige Etikettierungsrichtlinie (RL 89/662, ABl 1989 Nr L 395/13), geänd durch RL 92/41, ABl 1992 Nr L 158/30, BVerfGE 95, 173, 181 ff = Erichsen, JK 97, GG Art 12 I/45. Auch im Hinblick auf die jüngste Tabakrichtlinie (RL 2014/40, ABl 2014 Nr L 127/1) geht der Gerichtshof (Urt v 4.5.2016, Rs C-547/14, EuZW 2016, 582, Rn 164 ff – Philip Morris = Kingreen, JK 2016, EUV Art 5 III, IV; AEUV Art 114; GrCh Art 11), was die Warnhinweise angeht, nicht auf die negative Meinungsfreiheit ein. 85 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 69 ff – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3. Vgl zum Verhältnis der beiden Unionsgrundrechte a Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 90.
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bereiches dieses Grundrechts zu äußern.86 Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens war das irische Verbot, Informationen über Kliniken zu verbreiten, die Schwangerschaftsabbrüche in anderen Mitgliedstaaten vornehmen. GA van Gerven betonte in seinen Schlussanträgen, dass aus der Dienstleistungsfreiheit in Übereinstimmung mit Art 10 EMRK das Recht folge, sich im eigenen Mitgliedstaat ungehindert Informationen über in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Erbringer von Dienstleistungen zu beschaffen.87 Der Gerichtshof ging der Beantwortung der Frage nach einer Verletzung der Informationsfreiheit jedoch mit der (zweifelhaften) Begründung aus dem Weg, dass das Verhalten der Studentinnen und Studenten, die entgegen dem Verbot solche Informationen veröffentlicht hatten, mit den ärztlichen Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten „zu lose“ verbunden sei, um in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit zu fallen. Da es nicht um die Anwendung von Gemeinschaftsrecht gehe, sei der Gerichtshof für die Prüfung mit den Grundrechten der Gemeinschaft nicht zuständig.88 Betroffen war die Informationsfreiheit dann aber in der Rs Laserdisken. Streitgegenstand war eine aus der Umsetzung von Sekundärrecht entstandene dänische Vorschrift, wonach sich das Recht der Urheber, über eine Verbreitung ihrer Werke in der EG zu entscheiden, nur dann erschöpft, wenn der Erstverkauf in der Gemeinschaft mit Zustimmung der Rechteinhaber erfolgt ist. Die Firma Laserdisken sah sich in ihrem Geschäftsmodell bedroht, weil sie Vervielfältigungsstücke von Filmen aus Drittstaaten an Privatkunden verkaufte. Um die Regelung zu Fall zu bringen, berief sich die Firma auf die Meinungsfreiheit der Unionsbürger. Der EuGH erkannte grundsätzlich an, dass die „Freiheit, Informationen zu empfangen“, in der Gemeinschaft geschützt ist, ließ die Informationsfreiheit allerdings im Ergebnis hinter dem Recht am geistigen Eigentum zurücktreten.89 Zu einem anderen Ergebnis kam der Gerichtshof in der Rs Sabam, in der es um die dem sozialen Netzwerk Netlog auferlegte Pflicht ging, ein Filtersystem für musikalische und audiovisuelle Werke einzurichten. Diese Pflicht hielt der EuGH ua wegen eines Verstoßes gegen die Informationsfreiheit aus Art 11 I GRCh für unzulässig. In der Abwägung maß er dem Recht am geistigen Eigentum eine geringere Bedeutung zu.90 Im digitalen Kontext wird die Nutzung eines öffent-
86 EuGH, Rs C-159/90, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan. 87 Schlussanträge GA van Gerven, EuGH, Rs C-159/90, Slg 1991, I-4685, Rn 19 – Grogan. 88 EuGH, Rs C-159/90, Slg 1991, I-4685, Rn 31 f – Grogan. Vgl dazu die Entscheidung des EGMR, Urt v 29.10.1992, 14234/88 u 14235/88, EuGRZ 1992, 484 – Open Door and Dublin Well Woman. Aus der Lit etwa Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 124 ff. 89 EuGH, Rs C-479/04, Slg 2006, I-8089, Rn 64 f – Laserdisken. 90 EuGH, Urt v 16.2.2012, Rs C-360/10, EuZW 2012, 261, Rn 50 f – SABAM = Ehlers, JK 2012, GrCh Art 17 II/1. Vgl zu Filterpflichten vor dem Hintergrund der aktuellen „DSM-Richtlinie“ a Holznagel, ZUM 2020, 1 ff; Senftleben, ZUM 2019, 369 ff.
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lichen WLAN-Zugangs von der Informationsfreiheit geschützt, wie der Gerichtshof in der Rs McFadden feststellte.91 Wenn der Anbieter eines solchen Netzwerks aufgrund einer behördlichen Anordnung eine Passwortsicherung einführen muss, wird dadurch in die Informationsfreiheit der Empfänger eingegriffen. Dieser Eingriff kann jedoch gerechtfertigt werden. Darüber hinaus entschied der EuGH in der Rs UPC Telekabel, dass die Informationsfreiheit zu berücksichtigen ist, wenn zum Schutz geistigen Eigentums eine Verfügung an einen Internetprovider ergeht, wonach dieser Webseiten sperren muss, die das geistige Eigentum der Rechteinhaber verletzen.92 Bei einer solchen Sperrungsverfügung müsse sichergestellt werden, dass „den Internetnutzern nicht unnötig die Möglichkeit vorenthalten (wird), in rechtmäßiger Weise Zugang zu (…) verfügbaren Informationen zu erlangen“.
b) Freiheit und Pluralität der Medien aa) Schutz in der Grundrechtecharta Art 11 II GRCh enthält ein ausdrückliches Gebot zur Achtung der Freiheit und Plu- 15 ralität der Medien und unterscheidet sich damit von Art 10 EMRK, der die Freiheit der Medien – wie erwähnt (Rn 7) – nur implizit als Ausdrucksform der Meinungsäußerungsfreiheit garantiert. Der Oberbegriff „Medien“ umfasst nicht nur Presse, Rundfunk und Film,93 sondern auch die neuen Medien der Massenkommunikation (Versand und Empfang elektronischer Nachrichten, Präsentation von Informationen und Meinungen auf Internetseiten, sog. Blogs, interaktive Diskussionsforen) und ist damit offen für mediale Weiterentwicklungen.94 In den Schutzbereich von Art 11 II GRCh fallen in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR alle Tätigkeiten, die mit der Medienarbeit in Zusammenhang stehen. Vor allem sind Journalistinnen und Journalisten nicht gehalten, Angaben zu ihren Quellen zu machen.95
91 EuGH, Urt v 15.9.2016, Rs C-484/14, EuZW 2016, 821, Rn 82, 90 ff – McFadden. 92 EuGH, Urt v 27.3.2014, Rs C-314/12, EuZW 2014, 388, Rn 63 – UPC Telekabel. 93 Vgl dazu etwa Dörr Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa, 1997; dens FS Kiefer, 2005, S 90 ff; Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 19 ff. Zum Fernsehen als „psychologischer Sonderfall“ Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S 302 f. 94 S nur Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 18. Für eine Abgrenzung z Telekommunikation, die sich auf die bloß technischen Aspekte der Kommunikationsübertragung beschränkt, Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 14 f. Kritisiert wird mit Blick auf EuGH, Urt v 8.4.2014, verb Rs C-293/12 u C-594/12, EuZW 2014, 459 ff – Google Spain = Eifert, JK 9/14, RL 95/46/EG Art. 12, dass nicht auch Suchmaschinenbetreiber in den Schutz der Medienfreiheit aufgenommen wurden. Vgl. Arning/Moosl/ Scherz, CR 2014, 447 (453); Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 15; ders, EuZW 2014, 527 (529). 95 EGMR, Urt v 14.9.2010, 38224/03, NJW-RR 2011, 1266, §§ 59 ff mwN – Sanoma Uitgevers B.V.; Urt v 27.3.1996, 17488/90, Nr 16/1994/463/544, Rep 1996-II, § 39 – Goodwin. Aus dt Sicht etwa BVerfGE 20, 162, 176, 187 – Spiegel; 66, 116, 134 – Wallraff = von Mutius, JK 84, GG Art 5 I 2/3.
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Selbstverständlich schützt die Medienfreiheit nicht nur die reine Informationsvermittlung, sondern auch wertende Stellungnahmen.96 Andernfalls könnten die Medien ihre Rolle als „public watchdog“ nicht erfüllen.97 In den Schutzbereich fallen auch unterhaltende Beiträge. Die Medienfreiheit hat – entgegen der Rechtsprechung des BVerfG98 – nicht nur eine „dienende“ Funktion für die Meinungsbildung. Wie bei der Meinungsfreiheit (Rn 4 ff) und bei der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Rn 33 ff) kommt es für die Schutzbereichseröffnung auf den Zweck der Medientätigkeit nicht an. Zu Recht hat das BVerfG im Hinblick auf die Berichterstattung über Caroline von Monaco aber erkannt, dass es auf der Rechtfertigungsebene im Rahmen der Abwägung mit kollidierenden Persönlichkeitsrechten von Bedeutung ist, „ob Fragen, die die Öffentlichkeit wesentlich angehen, ernsthaft und sachbezogen erörtert oder lediglich private Angelegenheiten, die nur die Neugier befriedigen, ausgebreitet werden.“99 16 Art 11 II GRCh verlangt, dass die „Pluralität“ der Medien „geachtet“ wird, und macht damit den – auch schon vom EuGH anerkannten (Rn 18) – objektiv-rechtlichen Gehalt des Unionsgrundrechts als Instrument zur Sicherung der Meinungsvielfalt deutlich. Der Pluralismus ist ein „medienrechtliches Leitmotiv“ in Europa.100 Ohne Medienvielfalt ist eine freiheitliche Demokratie nicht denkbar. Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität sind nach dem Wortlaut von Art 11 II GRCh bloß zu „achten“ („shall be respected“, „sont respectés“). Ursprünglich war von „Gewährleistung“ die Rede. Die Änderung, die vor allem auf den Druck der deutschen
96 S etwa Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 23. 97 Vgl EGMR, Urt v 26.4.1979, 6538/74, EuGRZ 1979, 386, §§ 23, 50 – Sunday Times; Urt v 25.6.1992, 13778/88, HRLJ 1992, 440, § 63 – Thorgeirson; Urt v 26.11.1991, 13585/88, EuGRZ 1995, 16, § 59 – Observer u Guardian; Urt v 24.6.2004, 59320/00, NJW 2004, 2647 (2650) – v Hannover Nr 1 = Ehlers, JK 2005, EMRK Art 8/4; Urt v 18.1.2011, 39401/04, NJOZ 2012, 335 § 141 – Campbell. Zur Bedeutung der Presse in historischer Perspektive Wegener Der geheime Staat, 2006, S 258 ff. 98 Vgl z Rundfunkfreiheit BVerfGE 83, 238 (295 f) – 6. Rundfunkurteil; Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 679. 99 BVerfGE 101, 361, 389 ff – Caroline v Monaco II. Vgl a BVerfGE 120, 180 ff. – Caroline v Monaco III sowie EGMR, Urt v 24.6.2004, 59320/00, NJW 2004, 2647 ff – v Hannover Nr 1= Ehlers, JK 2005, EMRK Art 8/4; Urt v 7.2.2012, 40660/08 u 60641/08, EuGRZ 2012, 278 – v Hannover Nr 2; Urt v 19.9.2013, 8772/10, NJW 2014, 1645 ff – v Hannover Nr 3, und EGMR, Urt v 18.1.2011, 39401/04, NJOZ 2012, 335 §§ 142 ff – Campbell; Urt v 7.2.2012, 39954/08, EuGRZ 2012, 294, §§ 91 ff – Axel Springer AG. Krit etwa Haug Bildberichterstattung über Prominente, 2011. 100 Dörr Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa, 1997, S 38 ff. Ebenso Rengeling/ Szczekalla GR, Rn 731. Vgl a Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 40 ff; dens Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 363 ff; Schellenberg Rundfunk-Konzentrationsbekämpfung zur Sicherung des Pluralismus im Rechtsvergleich, 1997. Aus dt Sicht zur „institutionellen Garantie“ der Pressefreiheit bereits BVerfGE 20, 162 (176) – Spiegel.
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Bundesländer zurückzuführen ist,101 darf nicht als Minderung des Schutzes der Medienfreiheit interpretiert werden.102 Vor allem ändert die Formulierung nichts an der subjektiv-rechtlichen Qualität der Medienfreiheit. Es sollte nur dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Schutz der Medienpluralität vor Verflechtungs- und Konzentrationsprozessen eine Aufgabe der Mitgliedstaaten bleibt.103 Die geänderte Begrifflichkeit hat nur eine klarstellende Funktion, da schon Art 51 II GRCh betont, dass die Charta weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union begründet und die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben nicht ändert.104
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der EuGH orientiert sich bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Medienfrei- 17 heit an den wirtschaftlichen Grundfreiheiten.105 Daraus den Schluss zu ziehen, dass es nur um den Schutz kommerzieller Interessen geht, ist verfehlt. Die Medienfreiheit ist keine reine Unternehmerfreiheit, sondern ein umfassendes Kommunikationsgrundrecht.106 Um die vom EuGH sog Veröffentlichungsfreiheit ging es in der Rs Flämische Bücher. Verleger- und Buchhändlervereinigungen hatten eine vertikale Preisbindung und Alleinvertriebsrechte vereinbart. Dies wurde von der Kommission für mit dem Kartellverbot unvereinbar erklärt.107 Die Klägerinnen machten geltend, dass ihre Vereinbarung die Vielfalt der veröffentlichten Titel fördere, indem sie die Veröffentlichung schwer verkäuflicher Titel sicherstelle. Der EuGH wies diese Argumentation zwar zurück, machte aber deutlich, dass die Veröffent-
101 S Stock, EuR 2002, 566 (575 f). 102 AA Schmittmann/Luedtke, AfP 2000, 533 (534). Vgl zu solchen Befürchtungen a Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473 (481); Selmer, EUR 2002 (Beiheft 3), 36 ff; Stock, EuR 2002, 566 (577). Wie hier etwa Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 120 ff; Schwarze, AfP 2003, 209, 210 f; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 17. 103 Nach Art 167 II AEUV darf nur die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in diesem Sektor gefördert werden. Vgl im Zusammenhang mit Art 11 II GRCh etwa Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 20. 104 Insofern krit gegenüber der Änderung des Wortlauts Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 27. 105 Vgl EuGH, Rs C-288/89, Slg 1991, I-4007, Rn 23 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua; Rs C-148/91, Slg 1993, I-487, Rn 9 ff – Veronica Omroep Organisatie; Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 18, 26 f – Familiapress = Erichsen, JK 98, EGV Art 30/1. 106 S etwa Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 17; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 16; sowie Stock Medienfreiheit in der EU-Grundrechtscharta: Art 10 EMRK ergänzen und modernisieren!, 2000, 21 ff. 107 Die Kommission entschied auf Grundlage der alten Kartellverordnung 17. Die Regelung des Art 81 I EGV galt damals noch als Art 85 EGV.
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lichungsfreiheit grundsätzlich sowohl Verleger als auch Vertriebsunternehmen schützt.108 In der Rs Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT) stritt man um die Frage, inwiefern das Fernsehmonopol in Griechenland mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Der Gerichtshof entschied, dass die Rechtfertigungstatbestände zur Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit im Lichte der in Art 10 EMRK verbürgten Meinungsfreiheit auszulegen seien.109 Um die in der Fernsehrichtlinie vorgesehenen Maßnahmen gegen übermäßige Werbung ging es in der Rs RTL Television. Der EuGH erkannte an, dass die Ausstrahlung von Fernsehfilmen von der Meinungsfreiheit geschützt ist. Die Begrenzung der Werbeblöcke wurde allerdings als verhältnismäßig erachtet (Rn 28).110 Schon vorher hatte der Gerichtshof in den Rs Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda111 und ARD112 entschieden, dass der Schutz der Verbraucher vor einem Übermaß an kommerzieller Werbung und die Erhaltung einer bestimmten Programmqualität im Rahmen der Kulturpolitik Ziele seien, die Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen können. Um Werbung ging es schließlich auch in der Rs Deutschland/Parlament und Rat, in der das Verbot zur Werbung für Tabakwaren in Rundfunk und Presse in Frage stand (Rn 5, Fall 2). Indem der Gerichtshof die „Freiheit zur journalistischen Meinungsäußerung“ prüfte, erkannte er indirekt an, dass die Medienfreiheit zugleich auch die Finanzierung der Presse- und Rundfunkerzeugnisse schützt.113 18 Dass in der Union nicht nur die individuellen Rechte geschützt sind, sondern auch ein pluralistisches Mediensystem, in dem sich die verschiedenen gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und geistigen Strömungen entfalten, zeigen Gerichtsentscheidungen, in denen es um Anforderungen an Rundfunkbetreiber in den Niederlanden ging (Rs Stichting Collectieve, Kommission/Niederlande und Veronica Omroep).114 Der EuGH betonte, dass die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch eine auf ein pluralistisches Rundfunksystem ausgerichtete Kulturpolitik ge-
108 EuGH, verb Rs 43/82 u 63/82, Slg 1984, 19, Rn 34 – VBVB u VBB („flämische Bücher“). Dazu etwa Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S 238. 109 EuGH, Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925, Rn 42 ff – Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT). 110 EuGH, Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 70 ff – RTL Television. 111 EuGH, Rs C-288/89, Slg 1991, I-4007, Rn 27 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua. Ein Verweis auf die Entscheidung ist a in den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003 (Nr 2) enthalten. 112 EuGH, Rs C-6/98, Slg 1999, I-7599, Rn 50 – ARD. Dazu etwa Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S 233 ff. 113 EuGH, Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn 153, 156 – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4. 114 EuGH, Rs C-288/89, Slg 1991, I-4007, Rn 22, 23 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua; Rs C-353/89, Slg 1991, I-4069, Rn 29 ff – Kommission/Niederlande; Rs C-148/91, Slg 1993, I-487, Rn 9 f – Omroep. Siehe hierzu in jüngerer Zeit auch EuGH, Urt v 22.1.2013, Rs C-283/11, EuZW 2013,
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rechtfertigt werden könne, weil das System „in einem Zusammenhang mit der durch Art 10 (EMRK) garantierten Meinungsfreiheit“ stehe. Die Pluralität der Presse rückte in der Rs Familiapress in den Vordergrund. Der Gerichtshof erklärte, dass das Verbot von Preisausschreiben in Presseerzeugnissen einen Verdrängungswettbewerb unter den Verlagen verhindern und damit die Medienvielfalt garantieren sowie die Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs unter Umständen rechtfertigen könne.115
3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs Beim Grundrechtseingriff gelten keine Besonderheiten. Die Kommunikationsgrund- 19 rechte schützen – wie es in Art 51 I GRCh heißt – vor Beeinträchtigungen durch die Organe und Einrichtungen der Union und vor mitgliedstaatlichen Maßnahmen, wenn es um die „Durchführung von Unionsrecht“ (Rn 2) geht. Vor allem können die Grundfreiheiten nur im Einklang mit der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit beschränkt werden. Während der EuGH unter bestimmten Voraussetzungen eine Bindung von Privatpersonen an die Grundfreiheiten angenommen hat (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 73 f), kann dies für die Kommunikationsgrundrechte nicht gelten. In Art 51 I GRCh wird der Kreis der Grundrechtsverpflichteten abschließend bestimmt. Eine unmittelbare Drittwirkung gibt es grundsätzlich116 nicht (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 65). Ist ein Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater in die Kommunikationsgrundrechte geboten, muss dem durch Schutzpflichten Rechnung getragen werden (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 40), was allerdings eine anderweitig begründete Kompetenz der Normadressaten voraussetzt (Rn 3). Als rechtfertigungsbedürftige Eingriffe sind nicht nur präventiv wirkende Ver- 20 bote und nachträgliche Sanktionen zu werten, sondern jegliche Behinderungen der Kommunikation.117 Nur so kann sichergestellt werden, dass die Anforderun
347, Rn 51 f – Sky Österreich = Kingreen, JK 1/14, AEUV Art. 267/1 und Urt v 18.7.2013, Rs C-201/11 P, EuZW 2013, 833, Rn 11 – UEFA. 115 EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 27 f – Familiapress = Erichsen, JK 98, EGV Art 30/1. Ausf dazu Kühling, EuGRZ 1997, 296 ff. 116 Anderes gilt, wenn Private wie etwa Berufsverbände eine staatsähnliche (etwa monopolartige) Stellung haben und die Verpflichtung staatlicher Instanzen keine angemessene Abhilfe schaffen kann. S EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. Vgl Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 114 ff; Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 377 ff. 117 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 28; Engel, ZUM 2000, 975 (992); Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 144 ff; Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 162 f, 392 f.
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gen an den Schutz der in Art 11 GRCh garantierten Kommunikationsgrundrechte nicht umgangen werden. Allgemein formulierte der EuGH unter Rückgriff auf Art 10 II EMRK in der Rs Connolly (Rn 4, Fall 1), dass die Freiheit zur Meinungsäußerung „mit Pflichten und Verantwortung“ verbunden ist und daher „Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen“ unterworfen werden kann.118 Dass der Beschränkungsbegriff weit zu fassen ist, verdeutlicht die Entscheidung in der Rs Ter Voort, in der es um eine Richtlinie ging, die die Zulassungsanforderungen für Arzneimittel regelt. Da die Bezeichnung des Produkts als Arznei zur Folge hat, dass die Ware nur unter erschwerten Bedingungen auf den Markt gebracht werden kann, prüfte der Gerichtshof das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Rn 13) und machte damit deutlich, dass die Gewährleistung grundsätzlich auch vor mittelbaren Beeinträchtigungen (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 78) schützt.119 Ansonsten lassen sich der Rechtsprechung nur wenige Aussagen über das eine Grundrechtsprüfung auslösende Ausmaß der Beeinträchtigung entnehmen. Häufig wird das Vorliegen einer Beschränkung unterstellt oder nur kurz angeprüft.120 Der Schwerpunkt der Untersuchung verlagert sich damit auf die Abwägung der widerstreitenden Interessen auf der Rechtfertigungsebene. Dass es bei Rechtsakten, die selbst Mechanismen zur Abwägung der widerstreitenden Interessen und Rechte vorsehen, von vornherein an einer Beeinträchtigung fehlt, macht die Entscheidung in der Rs Lindqvist deutlich, in der es um den Schutz vor der Verarbeitung und Verbreitung personenbezogener Daten ging. Der Gerichtshof hob hervor, dass die einschlägige Richtlinie viele Ausnahmen zulässt und zudem die Mitgliedstaaten zu Ausnahmeregelungen ermächtigt. Die Mitgliedstaaten müssten bei der Umsetzung der Richtlinie zwar darauf achten, dass die Grundrechte im konkreten Fall gewahrt werden, „die Bestimmungen der Richtlinie als solche“ würden jedoch „keine Beschränkung“ enthalten.121
118 EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 40 – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1. 119 EuGH, Rs C-219/91, Slg 1992, I-5485, Rn 36 ff – Ter Voort. Dies gilt etwa für die Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung für die Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste. In Urt v 8.4.2014, verb Rs C-293/12 u C-594/12, EuZW 2014, 459, Rn 28 – Digital Rights Ireland = Kingreen, JK 8/14, AEUV Art. 267; GRCh Art 7, 8 und Urt v 21.12.2016, verb Rs C-203/15 u C-698/15, EuZW 2017, 153, Rn 92, 101 – Tele2 Sverige = Kingreen, JK 5/17, GRCh Art 7, 8, 52 betont der EuGH, dass die Nutzer solcher Dienste durch eine derartige Verpflichtung von der Wahrnehmung ihrer Meinungsfreiheit abgeschreckt werden können. 120 Vgl nur EuGH, Rs C-479/04, Slg 2006, I-8089, Rn 64 – Laserdisken; Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 68 – RTL Television. 121 EuGH, Rs C-101/01, Slg 2003, I-12971, Rn 84 f, 87, 90 – Lindqvist.
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4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta Art 11 GRCh enthält – anders als Art 10 II EMRK – keine ausdrückliche Normie- 21 rung von Schranken. Daher ist Art 52 GRCh heranzuziehen. Allerdings ist für Beeinträchtigungen der in Art 11 I GRCh geschützten Meinungs- und Informationsfreiheit nicht die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 I GRCH einschlägig, sondern als lex specialis Art 52 III GRCh.122 Da Art 11 I GRCh – wie erwähnt (Rn 6) – Rechte gewährleistet, die Art 10 I EMRK entsprechen und damit „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben, finden die speziell auf das Sachgebiet abgestimmten Rechtfertigungsanforderungen des Art 10 II EMRK Anwendung.123 In den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents wird ausdrücklich betont, dass die Einschränkungen der Unionsgrundrechte nicht über die in Art 10 II EMRK vorgesehenen Einschränkungen hinausgehen dürfen.124 Dem entspricht Art 53 GRCh. Allerdings stellt Art 52 III 2 GRCh klar, dass ein weitergehender Schutz prinzipiell möglich ist. Nach Art 10 II EMRK ist „die Ausübung dieser Freiheiten mit Pflichten und Ver- 22 antwortung verbunden“ und „kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafandrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind.“ Daraus ergibt sich ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt.125 Als legitime Eingriffszwecke werden die „nationale Sicherheit“, „territoriale Unversehrtheit“ und „öffentliche Sicherheit“, die „Aufrechterhaltung der Ordnung“, die „Verhütung von Straftaten“, der „Schutz der Gesundheit oder der Moral“, der „Schutz des guten Rufs“ (was für Schutzeingriffe durch Gegendarstellungsrechte von Bedeutung ist126) und der „Schutz der Rechte
122 Das Verhältnis zwischen Art 52 I und III GRCh ist allerdings umstritten. Wie hier Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 15; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 30; Selmer, EUR 2002 (Beiheft 3), S 38; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 13; Ziegenhorn Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta – Genuin chartarechtlicher Grundrechtsschutz gemäß Art 52 Abs 3, 2009, 149 f. Für eine kumulative Anwendung Hilf in: HGR, Band VI/1, § 164 Rn 47; Jarass GRCh, Art 11 Rn 26; Schneiders Die Grundrechte der EU und der EMRK, 2010, S 22. 123 Vgl für eine rechtspolitische Perspektive Engel, ZUM 2000, 975 (993 ff). 124 Nr 1 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003. 125 Der EGMR versteht allerdings den Gesetzesbegriff weit; es sollen a untergesetzliche Normen und Richterrecht umfasst sein, sofern die Vorgaben zugänglich, vorhersehbar und bestimmt sind sowie ggf verfahrensrechtliche Absicherungen vorsehen. Siehe EGMR, Urt v 14.9.2010, 38224/03, NJWRR 2011, 1266 §§ 81 ff – Sanoma Uitgevers B.V.; zum Richterrecht EGMR, Urt v 21.7.2011, 28274/08, EuGRZ 2011, 555 § 47 – Heinisch = Schoch, JK 2012, EMRK Art 10/3. 126 Vgl zur negativen Meinungsfreiheit bereits oben Rn 13; zum Gegendarstellungsrecht als „Schutzeingriff im Online-Zeitalter“ und zu den internationalprivatrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse („Rom II“) Rengeling/Szczekalla
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anderer“ (was sich in der Straßburger Spruchpraxis zunehmend als eine Art Generalklausel darstellt, → Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 33 f)127 sowie die „Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen“ und die „Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung“ genannt.128 Allerdings ist die EMRK auf nationale Maßnahmen gerichtet. Bei Eingriffsmaßnahmen der Union muss der Eingriffszweck unionsrechtlich legitim sein, dh im Unionsrecht wurzeln oder zumindest angelegt sein.129 Geht es um Einschränkungsziele, die von Art 10 II EMRK nicht vorgesehen sind, ist ein erhöhter Argumentationsaufwand zu fordern.130 23 Zudem muss die Maßnahme verhältnismäßig – dh in den Worten von Art 10 II EMRK „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ – sein.131 Zu prüfen sind die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Grundrechtseingriffs (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 86). Insofern sind die Güter der Meinungsfreiheit und des verfolgten legitimen Zwecks gegeneinander abzuwägen, wobei eine Vermutung für die Zulässigkeit einer Meinungsäußerung spricht (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 40). Dabei sollten anonymen Stellungnahmen im Verhältnis zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein geringeres Gewicht zukommen als offenen Meinungsäußerungen.132 Der Verweis auf das in einer demokratischen Gesellschaft Notwendige hebt die politische Bedeutung der Meinungsfreiheit hervor. Politische Kommunikation wird privilegiert.133 Kommerzielle Äußerungen können – der Straßburger Spruchpraxis folgend (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 46 f) – weitergehenden Beschränkungen unterworfen werden. Dass – wie es in Art 20 IPbürgR heißt – das „Eintreten für nationalen, rassistischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt angestachelt wird“, zum Ausgangspunkt der Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen genommen werden
GR, Rn 728 ff. Zu Konflikten zwischen der Meinungsfreiheit und dem Ehrschutz aus dt Sicht etwa BVerfGE 90, 241 (248) – Auschwitzlüge = Kunig, JK 94, GG Art 5 I 1/22. 127 Vgl z den Konflikten der Pressefreiheit mit anderen Grundrechten Engel, ZUM 2000, 975 (1000 ff). 128 Vgl im Zusammenhang mit dem Unionsgrundrecht Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 60 ff. 129 S etwa Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 15; Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 399 ff. 130 Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 47. 131 Ausf Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 48 ff; ders Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 400 ff. 132 S Bernreuther, AfP 2011, 218 ff. 133 EGMR, Urt v 20.4.2010, 18788/09, NJW-RR 2011, 984 – Le Pen; vgl EGMR, Urt v 8.7.1986, 9815/82, EuGRZ 1986, 424, § 42 – Lingens; Urt v 23.4.1992, 11798/85, Nr 2/1991/254/325, Series A/236, Rn 42 – Castells, sowie Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 52 ff.
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darf, ist selbstverständlich und wird durch den Verweis auf die „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ in der Präambel der GRCh bestärkt.134 Sicherzustellen ist auch, dass die nach Art 1 GRCh „unantastbare Menschenwürde“ nicht durch Meinungsäußerungen verletzt wird.135 Die Schutzpflicht der Grundrechtsadressaten lässt sich – soweit eine Kompetenznorm gegeben ist (Rn 19) – auf Art 1 S 2 GRCh stützen, wonach die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ ist. Dass unwahre Äußerungen weniger Schutz verdienen, wurde bereits gezeigt (Rn 11). Was die in Art 11 II GRCh verankerte „Achtung der Freiheit der Medien und 24 ihrer Pluralität“ angeht, fehlt es – wie erwähnt (Rn 15) – an einer wörtlichen Entsprechung in Art 10 EMRK. Die für Art 11 I GRCh einschlägige Schrankenregelung des Art 10 II EMRK könnte als spezielle Grundrechtsschranke iSv Art 52 III 1 GRCh nur zur Anwendung kommen, wenn man die Medienfreiheit als Teil der Meinungsäußerungsfreiheit ansieht.136 Dies würde freilich der Intention des Konvents, die Medienfreiheit gerade in Abgrenzung zu Art 10 EMRK als eigenständiges Grundrecht zu garantieren (Rn 6), nicht gerecht. Art 10 II EMRK, der ohnehin mit Blick auf die neuen Medien als „rückständig“ angesehen wird,137 ist damit nicht der richtige Maßstab für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Medien. Vielmehr bestimmen sich die Voraussetzungen und Grenzen eines Grundrechtseingriffs nach den allgemeinen Schrankenregelungen des Art 52 I GRCh.138 Dies bedeutet, dass die zulässigen Eingriffszwecke nicht iSd Art 10 II EMRK beschränkt sind. Die Gründe müssen nur „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen“ (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 82).139 Bei der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als „Schranken-Schranke“ sind ggf die Wertungen des Protokolls über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten und der Fernsehrichtlinie einzubeziehen (Rn 17). Zudem ist zu berücksichtigen, dass die
134 Hinsichtlich rassistischer Meinungsäußerungen ist der EGMR insoweit deutlich restriktiver als das BVerfG, s dazu Hong, ZaöRV 2010, 73 (125). 135 Vgl zur Abwehr rassistischer und neonazistischer Aussagen und zum Schutz der Menschenwürde Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 70 ff. 136 Für die Anwendung v Art 52 III S 1 GRCh Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, S 156 ff; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 702. 137 Vgl Stock, ZUM 2000, 533 (534); dens Medienfreiheit in der EU-Grundrechtscharta: Art 10 EMRK ergänzen und modernisieren!, 2000, S 77 ff. Dem folgend Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 11 GRCh Rn 33. 138 So a etwa Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 11 Rn 22; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 11 GRCh Rn 33. 139 Vgl zu den verschiedenen legitimen Zielen im Überbl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 73 ff.
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freie politische Medientätigkeit – wie das BVerfG zur Presse erklärt hat140 – „für die moderne Demokratie unentbehrlich ist“. In der oft nur schwierig durchschaubaren europäischen Politik haben die Medien „als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern“ eine sogar noch größere Bedeutung als auf nationaler Ebene. Ohne Medien ist die europäische Integration nicht zu haben. Bei der Herleitung von Schutzpflichten zur Pluralismus-Sicherung ist freilich Vorsicht geboten. Die Gewährleistung in Art 11 II GRCh kann die politischen Ermessensspielräume der Gesetzgeber in der Union und in den Mitgliedstaaten nicht aushebeln.141
b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 25 Der Europäische Gerichtshof betont, dass die Kommunikationsgrundrechte „be-
stimmten durch Ziele des Allgemeininteresses gerechtfertigten Beschränkungen unterworfen werden (können), sofern diese gesetzlich vorgesehen sind, einem oder mehreren der nach Art 10 (EMRK) legitimen Zielen entsprechen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, dh durch ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt sind und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen.“142
aa) Gesetzliche Grundlage zur Verfolgung eines legitimen Ziels 26 Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage wurde in der Rechtsprechung bis-
her kaum problematisiert. Lediglich in der Rs Connolly, in der es – wie erwähnt (Rn 4) – um dienstrechtliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit von EG-Bediensteten ging, mahnte der EuGH die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots an und betonte, dass nur solche Einschränkungen rechtmäßig seien, „die so genau formuliert sind, dass die Betroffenen ihr Verhalten, gegebenenfalls nach Einholung sachkundigen Rates, einrichten können“.143 Dass nur ansonsten rechtmäßige Rechtsakte der Union und der Mitgliedstaaten die Grundrechte beschränken können, verdeutlicht die erste Entscheidung zum Verbot der Werbung mit Tabakerzeugnissen (Rs Deutschland/Rat und Parlament). Die Prüfung einer Verletzung der Mei-
140 BVerfGE 20, 162 (174 f) – Spiegel. 141 Näher etwa Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 54 ff. 142 EuGH, Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 50 – Karner; ebenso Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 79 – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3; Rs C-479/04, Slg 2006, I-8089, Rn 64 – Laserdisken; Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn 154 – Deutschland/Parlament u Rat. 143 EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 42 – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1. Allgem zu den formellen Anforderungen Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 63.
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nungsfreiheit hielt der EuGH für überflüssig, nachdem er festgestellt hatte, dass der EG in diesem Fall die Kompetenz für den Erlass des Verbots fehlt.144 Als legitime Eingriffsziele erkannte der Gerichtshof den Verbraucherschutz 27 (Rs RTL145, Karner146 und Stichting Collective147), das Interesse der Zuschauer an Zugang zu Programmen guter Qualität (RTL148), die Lauterkeit des Handels (Karner149) und die Bekämpfung schwerer Straftaten (Tele2 Sverige150) an. Zudem können andere Unionsgrundrechte eine Einschränkung der Meinungs- und Informationsfreiheit rechtfertigen. Hier sind aus der Rechtsprechung insbesondere das Recht am geistigen Eigentum (Laserdisken151), Persönlichkeitsrechte (Lindqvist152) und der Gesundheitsschutz (Tabakurt in der Rs Deutschland/Rat und Parlament153) zu nennen. Schließlich wurden als unionsrechtlich legitime Eingriffszwecke die Durchsetzung der Grundfreiheiten (Schmidberger154), beamtenrechtlicher Treuepflichten (Oyowe und Traore155, Rn 12, Connolly156, Rn 4, Cwik157, Rn 12, Wirtschafts- und Sozialausschuss158, Rn 12) und vor allem die Aufrechterhaltung der Meinungsvielfalt (Familiapress159) angesehen.
bb) Abwägung Nach der Rechtsprechung muss die getroffene Regelung „in einem angemessenen 28 Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel stehen.“160 Betont wird, dass die Mei-
144 EuGH, Rs C-376/98, Slg 2000, I-8498, Rn 118 – Deutschland/Rat u Parlament. 145 EuGH, Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 70 – RTL Television. 146 EuGH, Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 52 – Karner. 147 EuGH, Rs C-288/89, Slg 1991, I-4007, Rn 27 – Stichting Collective Antennevoorziening Gouda ua. 148 EuGH, Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 71 – RTL Television. 149 EuGH, Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 52 – Karner. 150 EuGH, Urt v 21.12.2016, verb Rs C-203/15 u C-698/15, EuZW 2017, 153, Rn 108– Tele2 Sverige = Kingreen, JK 5/17, GRCh Art 7, 8, 52. 151 EuGH, Rs C-479/04, Slg 2006, I-8089, Rn 65 – Laserdisken. 152 EuGH, Rs C-101/01, Slg 2003, I-12971, Rn 79 ff – Lindqvist. 153 EuGH, Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn 155 f – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4. Zum Gesundheitsschutz a EuGH, Urt v 4.5.2016, Rs C-547/14, EuZW 2016, 582, Rn 152 – Philip Morris = Kingreen, JK 2016, EUV Art 5 III, IV; AEUV Art 114; GrCh Art 11. 154 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 78 – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3. 155 EuGH, Rs 100/88, Slg 1989, 4285 ff – Oyowe u Traore. 156 EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1. 157 EuGH, Rs C-340/00 P, Slg 2001, I-10269 ff – Cwik. 158 EuGH, Rs C-150/98 P, Slg 1999, I-8877, Rn 15 – Wirtschafts- u Sozialausschuss. 159 EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 24 ff – Familiapress = Erichsen, JK 98, EGV Art 30/1. 160 EuGH, Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 50 – Karner; ebenso Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 79 – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3; Rs C-479/04, Slg 2006, I-8089, Rn 64 – Laserdisken; Rs
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nungsfreiheit in ihrem „Wesensgehalt“ nicht „angetastet“ werden darf (vgl dazu → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 85).161 Hier wird eine „Schranken-Schranke“ deutlich, die in der Rechtsprechung bisher allerdings noch nicht zur Anwendung gekommen ist. Eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie sie das deutsche Recht kennt, führt der Gerichtshof nicht immer durch.162 In der Vergangenheit waren bloß Ansätze erkennbar.163 Häufig begnügte sich der EuGH damit, „die bestehenden Interessen abzuwägen“ und „anhand sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls“ festzustellen, ob das „rechte Gleichgewicht“ zwischen den widerstreitenden Interessen gewahrt worden ist.164 Dies hat sich in jüngerer Zeit geändert. Zunehmend finden sich dogmatisch differenziertere Verhältnismäßigkeitsprüfungen.165 Maßgeblich ist für den EuGH die Intensität der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit. So wurde in der Rs RTL die Begrenzung der Werbepausen als geringfügig angesehen, weil die Anforderungen nicht den Inhalt der Werbung beträfen und der Sender den Zeitpunkt der Werbung selbst bestimmen könne.166 Ähnlich argumentierte das Gericht in der Rs Deutschland/Rat und Parlament (Rn 5, Fall 2). Das Werbeverbot für Tabakprodukte wurde als ein geringer Eingriff in die Meinungsfreiheit angesehen, weil der Inhalt der journalistischen Beiträge nicht berührt sei.167 Auf
C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn 156 – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4; ähnlich Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 49 – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1; Urt v 16.2.2012, Rs C-360/10, EuZW 2012, 261, Rn 43, 51 – SABAM = Ehlers, JK 12, GrCh Art 17 II/1. 161 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 80 – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3; Im Zusammenhang mit den Kommunikationsgrundrechten Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 85 ff. 162 Krit zu dieser Vorgehensweise etwa Classen, EuR 2008, 627 ff; Nettesheim, EuZW 1995, 106 ff; Schulenberg in: Kämmerer/Wyrzykowski (Hrsg) Verfassungsgebung für Europa, 2005, 287 (290 ff). Relativierend Kischel, EuR 2000, 380 ff. 163 Vgl EuGH, Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 72 – RTL Television (hier spricht der EuGH v „Verhältnismäßigkeit“); Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 27 – Familiapress = Erichsen, JK 98, EGV Art 30/1 (Erforderlichkeitserwägungen). 164 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 81 – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3; ähnlich EuG, Slg 2004, II-1477, Rn 157 ff – Meister; EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 48 – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1. 165 Siehe etwa EuGH, Urt v 8.4.2014, verb Rs C-293/12 u C-594/12, EuZW 2014, 459, Rn 38 ff – Digital Rights Ireland = Kingreen, JK 8/14, AEUV Art. 267; GRCh Art 7, 8; Urt v 4.5.2016, Rs C-547/14, EuZW 2016, 582, Rn 152 ff – Philip Morris = Kingreen, JK 2016, EUV Art 5 III, IV; AEUV Art 114; GrCh Art 11. Vgl hierzu a Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 48 f. Ausf Christian G. H. Riedel Die Grundrechtsprüfung durch den EuGH – Systematisierung, Analyse und Kontextualisierung der Rechtsprechung nach Inkrafttreten der EU-Grundrechtecharta, 2020. 166 EuGH, Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 72 – RTL Television. 167 EuGH, Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn 156 – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4.
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der anderen Seite hebt der EuGH das Gewicht der durch einen Eingriff geförderten Gemeinwohlbelange hervor. Dies gilt etwa für den Gesundheitsschutz.168 Grundsätzlich erkennt der EuGH einen Entscheidungsspielraum der zuständi- 29 gen Stellen bei der Abwägung an.169 In der Rechtsprechung endete die Rechtfertigungsprüfung früher häufig mit der Bestimmung des den Eingriff legitimierenden Ziels und der Feststellung, dass die dazu ergriffenen Maßnahmen nicht offensichtlich ungeeignet waren. Diese bloße Evidenzkontrolle, die auf eine sorgfältige Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung verzichtet, wird zu Recht kritisiert. Immerhin lässt sich inzwischen bei einigen Entscheidungen des Gerichtshofs eine strukturierte Abwägung finden.170 Die Intensität der Gerichtskontrolle hängt für den EuGH von den Umständen ab, in denen die Meinungsfreiheit ausgeübt wird. Der Gerichtshof betont, dass der Entscheidungsspielraum „je nach dem Ziel, das eine Beschränkung dieses Rechts rechtfertigt, und je nach der Art der Tätigkeit, um die es geht“, unterschiedlich sei. Wenn die Ausübung der Meinungsfreiheit nichts zu einer „Debatte von allgemeinem Interesse“ beitrage, beschränke sich die Kontrolle auf die Prüfung, ob der Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen steht.171 Vor allem wenn es um die „Meinungsfreiheit im Geschäftsverkehr“ geht, widmet der Gerichtshof der Abwägung mit den widerstreitenden Interessen des Verbraucher- und Gesundheitsschutzes unter Hinweis auf den Entscheidungsspielraum der zuständigen Stellen nur wenige Worte. Dies zeigen die Entscheidungen in den Rs RTL (Werbebeschränkung),172 Karner (Verbot missverständlicher Werbung),173 Deutschland/Rat (Verbot von Tabakwerbung, Rn 12, Fall 2)174 und Damgaard175, in denen eine Verletzung der Meinungsfreiheit jeweils verneint wurde. Im Fall Laserdisken wurde eine Verletzung der Informationsfreiheit mit der knappen 168 EuGH, Urt v 4.5.2016, Rs C-547/14, EuZW 2016, 582, Rn 153 ff – Philip Morris = Kingreen, JK 2016, EUV Art 5 III, IV; AEUV Art. 114; GrCh Art 11. 169 EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 49 – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1; Rs C-340/ 00 P, Slg 2001, I-10269, Rn 19 – Cwik; ebenso der EGMR: Urt v 10.5.2011, 1685/10, NJW 2012, 745 Rn 20 – Karttunen; Urt v 18.1.2011, 39401/04, NJOZ 2012, 335, Rn 130, 150 – Campbell. 170 Siehe etwa EuGH, Urt v 8.4.2014, verb Rs C-293/12 u C-594/12, EuZW 2014, 459, Rn 46 ff – Digital Rights Ireland = Kingreen, JK 8/14, AEUV Art 267; GRCh Art 7, 8; Urt v 21.12.2016, verb Rs C-203/15 u C-698/15, EuZW 2017, 153, Rn 94 ff – Tele2 Sverige = Kingreen, JK 5/17, GRCh Art 7, 8, 52. Vgl hierzu a Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 49. 171 EuGH, Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 51 – Karner; vgl a Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 71 – RTL Television; Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn 155 – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4. 172 EuGH, Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489, Rn 72 – RTL Television. 173 EuGH, Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 52 – Karner. 174 EuGH, Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn 156 – Deutschland/Parlament u Rat = Ehlers, JK 2007, EGV Art 95 I/4. 175 EuGH, Rs C-421/07, Slg 2009, I-2629 ff – Damgaard.
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Begründung abgelehnt, dass die Beschränkung der Informationsfreiheit „durch die Notwendigkeit gerechtfertigt (ist), die Rechte des geistigen Eigentums wie das Urheberrecht zu schützen“.176 In der Rs Ter Voort sah sich der EuGH nicht einmal mehr genötigt, die widerstreitenden Interessen gegeneinander abzuwägen. Er beließ es dabei, die Schranke des Art 10 II EMRK zu nennen und dabei als legitimes Ziel den Schutz der Gesundheit hervorzuheben.177 30 Zu einer umfassenden Abwägung unter dezidierter Betrachtung der Umstände des Einzelfalls kam es demgegenüber schon früh in Entscheidungen zur Meinungsfreiheit der EG-Beamten. In der Rs Connolly (Rn 4, Fall 1) betonte der Gerichtshof, dass die beamtenrechtliche Ermächtigung der Organe, die Zustimmung für Veröffentlichungen zu versagen, die Rechtsgrundlage für einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung schaffe. Da die Meinungsäußerungsfreiheit „eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft“ darstelle, dürfe die Zustimmung nur versagt werden, wenn die Veröffentlichung geeignet sei, „den Interessen der Gemeinschaften einen schweren Schaden zuzufügen“.178 Dass dieses Kriterium eng ausgelegt und den Unionsorganen nur ein sehr eingeschränkter Beurteilungsspielraum zugestanden wird, zeigt die Entscheidung in der Rs Cwik. Klargestellt wurde, dass der Schutz der Gemeinschaftseinrichtungen nur dann die Verweigerung der Zustimmung zur Veröffentlichung des Beamten rechtfertigen kann, wenn eine „konkrete anhand objektiver Umstände dargelegte tatsächliche Gefahr einer schweren Beeinträchtigung der Interessen der Gemeinschaft“ vorliegt. Der Gerichtshof verneinte dies im Fall, weil der Kläger keine Leitungsverantwortung getragen, sich mit seinem Manuskript an ein Fachpublikum gerichtet und sich die Kommission zu dem in Rede stehenden Zeitpunkt bereits öffentlich auf einen Standpunkt festgelegt habe.179 In der Rs Wirtschafts- und Sozialausschuss/E entschied der EuGH, dass die Meinungsfreiheit die Pflicht des Beamten zur Zurückhaltung nur dann nicht überwiege, wenn bei den Anmerkungen zu der Beurteilung des Vorgesetzten „grob beleidigende oder solche Ausdrücke verwendet werden, die den dem Beurteilenden geschuldeten Respekt in erheblichem Maße vermissen lassen.“180 Einer Abwägung der Informationsfreiheit und der Medienvielfalt mit dem Schutz der unternehmerischen Freiheit gem Art 16 GRCh (→ Ruffert § 6.1) und dem Eigentumsrecht nach Art 17 GRCh (→ Calliess § 6.2.2) bedurfte es in der Rs Sky/Österreichischer Rundfunk. Dabei räumte der EuGH der Informationsfreiheit
176 EuGH, Rs C-479/04, Slg 2006, I-8089, Rn 65 – Laserdisken. 177 EuGH, Rs C-219/91, Slg 1992, I-5485, Rn 38 – Ter Voort. 178 EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 53 – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1. 179 EuGH, Slg 2001, I-10269, Rn 23 – Cwik (vgl a schon EuG, Slg ÖD 2000, I-A-155 u II-713, Rn 66 ff – Cwik). Ähnlich EuGH, Rs C-274/99 P, Slg 2001, I-1611, Rn 62 – Connolly = Ehlers, JK 2001, EGV Art 220/1. 180 EuGH, Rs C-150/98 P, Slg 1999, I-8877, Rn 15 – Wirtschafts- u Sozialausschuss/E.
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und Medienvielfalt Vorrang ein.181 Hinsichtlich der Löschung von Einträgen in Suchmaschinen betonte der Gerichtshof in einer Reihe von Entscheidungen, dass die Informationsfreiheit der Internetnutzer mit den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten aus Art 7 und Art 8 GRCh abgewogen werden muss.182 In der Rs Funke Medien NRW GmbH ging es um die Veröffentlichung geheimer Regierungsdokumente (sog Verschlusssachen) durch Internetportale deutscher Medien.183 Die Pressefreiheit geriet mit dem durch die Urheberrechtsrichtlinie 2001/29, ABl 2001 Nr L 167/10, ausgestalteten Recht am geistigen Eigentum in Konflikt. Der Gerichtshof entschied, dass die Medienfreiheit außerhalb der in der RL vorgesehenen Ausnahmen keine Abweichung von den ausschließlichen Rechten der Urheber rechtfertigt. Eine umfassende Interessenabwägung nimmt der Gerichtshof schließlich auch vor, wenn sich Grundfreiheiten und Grundrechte gegenüberstehen. Dies zeigt etwa – worauf später unter dem Gesichtspunkt der Versammlungsfreiheit näher einzugehen ist (Rn 37 f) – die Entscheidung in der Rs Schmidberger.
Lösung Fall 1: Die Disziplinarmaßnahme der Kommission greift in den Schutzbereich des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung ein. Zu Recht stellte der Gerichtshof in der dem Fall zugrunde liegenden Rs Connolly fest, dass die Beamten und Bediensteten der Union diese Freiheit „auch auf den Gebieten (genießen), die von der Tätigkeit der Organe der Gemeinschaft erfasst werden“. Sie dürften daher „mündlich oder schriftlich Ansichten äußern, die sich von denjenigen unterscheiden, die das Gemeinschaftsorgan, bei dem sie beschäftigt sind, vertritt“. Allerdings kann die Meinungsäußerungsfreiheit iSd Art 10 II EMRK durch und aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das einen zulässigen Zweck verfolgt und verhältnismäßig ist. Gesetzliche Grundlage für den Grundrechtseingriff ist Art 17 des als Verordnung (Art 249 II EG; jetzt: Art 288 II AEUV) erlassenen Beamtenstatuts. Danach ist für die Veröffentlichung von Texten, die sich auf die Tätigkeit der Gemeinschaft beziehen, eine Zustimmung erforderlich, die nur versagt werden darf, wenn die geplante Veröffentlichung geeignet ist, die Interessen der Gemeinschaft zu beeinträchtigen. Die Regelung dient der Funktionsfähigkeit der Institutionen der Union und damit dem
181 EuGH, Urt v 22.1.2013, Rs C-283/11, EuZW 2013, 347 Rn 51 ff – Sky Österreich = Kingreen, JK 2014, AEUV Art 267/1. 182 Angedeutet in EuGH, Urt v 13.5.2014, Rs C-131/12, EuZW 2014, 541, Rn 81 – Google Spain = Eifert, JK 9/ 14, RL 95/46/EG Art. 12 und weiter ausgeführt in EuGH, Urt v 24.9.2019, Rs C-136/17, EuZW 2019, 906, Rn 53, 57, 59, 66, 68, 75 ff – ED ua und Urt v 24.9.2019, Rs C-507/17, EuZW 2019, 913, Rn 45, 60, 67 – Google LLC. Siehe auch BVerfG, EuZW 2019, 1035, Rn 110, 140 – Recht auf Vergessenwerden II. Vgl aus dem Schrifttum ua Boehme-Neßler, NVwZ 2014, 825 ff; Gomille, ZUM 2020, 123 ff; Kühling, NJW 2020, 275 ff. 183 EuGH, Urt v 29.7.2019, Rs C-469/17, EuZW 2019, 704, Rn 55 ff – Funke Medien NRW GmbH. Siehe zum Konflikt von Pressefreiheit und geistigem Eigentumsrecht auch EuGH, Urt v 29.7.2019, Rs C516/17, EuZW 2019, 703, Rn 40 ff – Spiegel Online. Vgl aus dem Schrifttum ua Goldhammer, ZUM 2019, 727 ff; Stieper, ZUM 2019, 713 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Schutz „der Rechte anderer“ iSv Art 10 II EMRK. Der EuGH betonte, dass die Vorschrift eng auszulegen ist, weil sie „die Möglichkeit eines schwerwiegenden Eingriffs in die Freiheit der Meinungsäußerung schafft, die eines der wesentlichen Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt“. Die Zustimmung dürfe nur versagt werden, wenn die Veröffentlichung geeignet ist, den Interessen der Gemeinschaft einen „schweren Schaden“ zuzufügen. Zu untersuchen bleibt, ob die Kommission Art 17 des Beamtenstatuts im konkreten Fall grundrechtskonform angewendet hat. Der EuGH erklärte, dass die Kommission die Meinungsfreiheit und die widerstreitenden Interessen „gegeneinander abwägen und dabei insbesondere den Grad der Beeinträchtigung der Interessen der Gemeinschaften berücksichtigen muss“. Wegen der besonderen Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung kann allein darin, dass C die vorherige Zustimmung zur Veröffentlichung nicht beantragt oder eine abweichende Auffassung zum Ausdruck gebracht hat, kein schwerer Schaden für die Interessen der Union gesehen werden. Der Gerichtshof stellte darauf ab, dass C Mitglieder der Kommission „heftig kritisiert oder sogar beleidigt“ und „die grundlegenden Leitlinien der Politik der Gemeinschaft, (…) zu deren Umsetzung loyal beizutragen er von der Kommission gerade beauftragt worden war, in Frage gestellt“ habe. C habe „in nicht wiedergutzumachender Weise das Vertrauen zerstört, das die Kommission in ihre Beamten setzen darf, und somit die Aufrechterhaltung jeder Arbeitsbeziehung zu dem Organ unmöglich gemacht“. Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof die Entfernung aus dem Dienst als verhältnismäßig angesehen. Folglich war der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit gerechtfertigt. Da die Nichtigkeitsklage unbegründet war, ist das Rechtsmittel abgewiesen worden.
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Lösung Fall 2: Das Verbot der Tabakwerbung und des Sponsoring beeinträchtigt die Finanzierung der Unternehmen und greift damit in den Schutzbereich der Presse- und Rundfunkfreiheit ein. Nach st Rechtsprechung können diese Freiheiten aber unter den Voraussetzungen des Art 10 II EMRK aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das einen legitimen Zweck verfolgt und verhältnismäßig ist. Das Werbeverbot für Tabak dient zum einen dem legitimen Ziel des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung der Europäischen Union, indem es den Anreiz zum übermäßigen Rauchen verhindert. Zum anderen soll das einheitliche Verbot der Werbung den grenzüberschreitenden Verkehr von Presse- und Rundfunkerzeugnissen sicherstellen. Indem die RL die unterschiedlichen nationalen Vorschriften über die Zulässigkeit von Tabakwerbung vereinheitlicht und dabei von einem hohen Schutzniveau hinsichtlich der Gesundheit ausgeht, ist sie geeignet, die legitimen Ziele zu verfolgen. Bei der Frage der Erforderlichkeit der Regelung und bei der Abwägung der legitimen Ziele mit dem Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit kommt dem Parlament und dem Rat ein Entscheidungsspielraum zu. In der dem Fall zugrundeliegenden Rs Deutschland/Parlament und Rat betonte der Gerichtshof, dass dieser „je nach dem Ziel“, das mit der Regelung verfolgt wird, und „je nach der Art der Tätigkeit, um die es geht“, unterschiedlich sei. Ein Ermessensspielraum bestehe gerade „für den Gebrauch der Freiheit der Meinungsäußerung im Geschäftsverkehr, in einem Bereich, der so komplex und wandelbar ist, wie die Werbung.“ Mit dem Schutz der Gesundheit verfolgen das Europäische Parlament und der Europäische Rat ein Ziel von hohem Rang. Der Gerichtshof erklärte, dass der Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit gering sei, da „die Freiheit der journalistischen Meinungsäußerung als solche unberührt“ bleibe und redaktionelle Beiträge der Journalisten nicht betroffen seien. Zudem werde nur eine bestimmte – wenn auch bedeutende – Art von Werbung verboten und nicht die Werbung an sich, so dass die Finanzierung der Unternehmen nicht gefährdet sei. Die RL verstößt damit nicht gegen die Presse- und Rundfunkfreiheit. Hermann Pünder
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§ 5.2 Schutz der Kommunikationsgrundrechte nach der GRCh
III. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3; Rs C-235/92 P, Slg 1999, I-4539 ff – Montecatini; Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; verb Rs C-193/87 u C-194/87, Slg 1990, I-95 ff – Maurissen u Gewerkschaftsbund; Rs 18/74, Slg 1974, 933 ff – Allgemeine Gewerkschaft; Rs 175/73, Slg 1974, 917 ff – Gewerkschaftsbund; EuG, verb Rs T-222/99 u T-327/99 u T-329/99, Slg 2001, II-2823 ff – Martinez; EuGH, Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = Erichsen, JK 99, EGV Art 30/2; verb Rs C-51/96 u C-191/97, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège; Rs C-519/04 P, Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina; Rs C-309/99, Slg 2002, I-1577 ff – Wouters; Rs C-67/ 96, Slg 1999, I-5751 ff – Albany; Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779 ff – International Transport Worker’s Federation; Rs C-499/04, Slg 2006, I-2397 ff – Werhof; Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767 ff – Laval; verb Rs 116/ 88 u C-149/88, Slg 1990, I-599 ff – Hecq; Rs C-176/96, Slg 2000, I-2681 ff – Lethonen; Rs C-271/08, Slg 2010, I-7091 ff – Kommission/Deutschland; Rs C-151/09, Slg 2010, I-7591 ff – UGT-FSP.
Schrifttum: Däubler Die Koalitionsfreiheit im EG-Recht, in: FS Hanau, 1999, 489 ff; Hatje, Parteiverbote und Europarecht, DVBl 2005, 261 ff; Huber, Die politischen Parteien als Partizipationsinstrument auf Unionsebene, EuR 1999, 579 ff; Kadelbach/Petersen, Europäische Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten – Anmerkung zum EuGH-Urt in der Rs Schmidberger/Republik Österreich (Brennerblockade), EuGRZ 2003, 693 ff; Lange/Schütz, Grundstrukturen des Rechts der europäischen politischen Parteien iSd Art 138a EGV, EuGRZ 1996, 299 ff; Mann Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, in: Heselhaus/Nowak, GR, § 31, § 32; ders/Ripke, Überlegungen zur Existenz und Reichweite eines Gemeinschaftsgrundrechts der Versammlungsfreiheit, EuGRZ 2004, 125 ff; Neßler, Deutsche und europäische Parteien, EuGRZ 1998, 191 ff; Piepenschneider Die Rolle der europäischen Parteien, in: Franzius/Preuß (Hrsg), Europäische Öffentlichkeit, 2004, 237 ff; Ripke Europäische Versammlungsfreiheit, 2012; Tsatsos, Europäische politische Parteien? – Erste Überlegungen zur Auslegung des Parteienartikels des Maastrichter Vertrages – Art 138a EGV, EuGRZ 2004, 45 ff.
Fall 3 (gelehnt an EuGH, Rs C-499/04, Slg 2006, I-2397 ff – Werhof):
E hat ein Unternehmen gekauft. Der Arbeitsvertrag des dort tätigen Arbeitnehmers W verweist im Hinblick auf die Rechte und Pflichten in der Arbeitsbeziehung auf die Bestimmungen des zwischen dem Arbeitgeberverband und der Gewerkschaft geschlossenen Tarifvertrages. E ist nicht Mitglied des Arbeitgeberverbandes. Nach Art 3 der RL 77/187, ABl 1977 Nr L 61/26, zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen gehen jedoch „die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs … bestehenden Arbeitsvertrag … auf den Erwerber über“. Als der Arbeitgeberverband der Branche und die Gewerkschaft nach dem Unternehmenskauf eine Änderung des Tarifvertrages vereinbaren, die den betroffenen Arbeitnehmern einen erheblichen Lohnanstieg beschert, will W davon profitieren. Er meint, dass die Richtlinie „dynamisch“ ausgelegt werden müsse. Demgegenüber ist E der Überzeugung, dass eine solche Auslegung gegen seine negative Koalitionsfreiheit verstößt.
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Fall 4 (gelehnt an EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman):
Der belgische Berufsfußballspieler B möchte zu einem Verein in der französischen Liga wechseln. Die durch die Sportverbände aufgestellten Regelungen sehen allerdings vor, dass der aufnehmende VerHermann Pünder
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
ein in einem solchen Fall dem bisherigen Verein eine Transfer-, Ausbildungs- oder Förderungsentschädigung zahlen muss. Angesichts der hohen Ablöseforderung möchte der ursprünglich an der Beschäftigung von B interessierte französische Verein den Wechsel nicht mehr durchführen. B meint, dass ihn die Regelungen der Sportverbände in seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigen. Demgegenüber pochen die Sportverbände auf die ihnen aus der grundrechtlichen Vereinigungsfreiheit zukommende Autonomie. Zudem betonen sie, dass die Transferregeln durch das Bestreben gerechtfertigt seien, das finanzielle und sportliche Gleichgewicht zwischen den Vereinen aufrecht zu erhalten und die Suche nach Talenten sowie die Ausbildung junger Spieler zu unterstützen. Die Cour d’appel Lüttich legt dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gem Art 267 I lit a AEUV die Frage vor, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Transferregelung der Sportverbände entgegensteht.
1. Die Normierung des Art 12 GRCh im Überblick 35 Art 12 GRCh garantiert die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Formen
einer kollektiv ausgeübten Meinungsäußerungsfreiheit. Nach Art 12 I GRCh hat „jede Person das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen“. Hervorgehoben wird, dass dies „das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“. Die Normierung orientiert sich an Art 11 EMRK. Das Präsidium des Grundrechtekonvents betont, dass beide Bestimmungen „die gleiche Bedeutung“ haben.184 Hinsichtlich der Koalitionsfreiheit wird auch auf Art 11 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer verwiesen.185 Art 12 II GRCh erklärt, dass „politische Parteien auf der Ebene der Union“ dazu beitragen, „den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen“. Insofern wird vom Präsidium des Grundrechtekonvents auf Art 224 AEUV (früher: 191 EGV) Bezug genommen (Rn 45).186 Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gehört iSd Präambel der Grundrechtecharta zur „gemeinsamen Verfassungstradition“ der Mitgliedstaaten. Zum Teil wird im nationalen Recht nicht nur die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, sondern auch die Koalitionsfreiheit ausdrücklich geschützt und der Mitwirkungsauftrag der politischen Parteien geregelt.187 Im Übrigen spiegeln die Gewährleistungen des Art 12 GRCh die in der Präambel erwähnten „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ wider. Dies gilt nicht nur für Art 11
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Nr 1 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/2003 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Nr 2 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/2003 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Nr 3 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/2003 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Ausf hierzu mit Nachw Ripke Europäische Versammlungsfreiheit, 2012, S 266 ff.
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EMRK, sondern auch für Art 20 und Art 23 Nr 4 AEMR, Art 21 und 22 IPbürgR sowie hinsichtlich der Koalitionsfreiheit für Art 8 I lit a des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR).
2. Schutzbereich Da auch die in Art 12 GRCh erwähnten Kommunikationsgrundrechte „jeder Person“ 36 garantiert werden, können sich auch Drittstaatsangehörige darauf berufen (Rn 9). Für die Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs kann auf die Rechtsprechung des EGMR (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 59 ff) zurückgegriffen werden, weil Art 12 I GRCh die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie Art 11 EMRK haben soll.
a) Versammlungsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta Die in Art 12 I GRCh garantierte Versammlungsfreiheit erfasst die Vorbereitung 37 und Durchführung privater wie öffentlicher Zusammenkünfte mehrerer Menschen.188 Bloße Ansammlungen genießen freilich keinen Schutz.189 Die Zusammenkommenden müssen einen gemeinsamen Zweck verfolgen. Es werden ortsfeste Versammlungen geschützt oder auch Umzüge, vor allem Demonstrationen. Die Zusammenkunft muss nicht organisiert sein. Auch Spontanversammlungen sind schutzwürdig.190 Im Unterschied zu Art 11 EMRK betont Art 12 GRCh ausdrücklich, dass die Versammlungsfreiheit „im politischen Bereich“ garantiert ist. Dies ist freilich selbstverständlich; denn Versammlungen sichern die Demokratie im Vorfeld der institutionellen politischen Entscheidungen (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 59).191 Weiter werden der – später unter dem Aspekt der Koalitionsfreiheit zu diskutierende (Rn 41 ff) – „gewerkschaftliche“ und schließlich noch der „zivilgesellschaftliche Bereich“ genannt. Der Verweis auf den zivilgesellschaftlichen Bereich macht klar, dass es nicht um gesellschaftlich wichtige Fragen gehen muss. Versammlungen können wirtschaftliche, wissenschaftliche, kulturelle, soziale „oder andere Angelegenheiten“ zum Gegenstand haben.192 Deutlich wird, dass die Grund
188 EGMR, Urt v 16.7.1980, Nr. 8840/78, EuGRZ 1980, 36, § 6 – Rassemblement jurassien u Unité jurassienne. 189 Rixen/Scharl in: Stern/Sachs, GRCh, Art 12 Rn 6. 190 S Mann/Ripke, EuGRZ 2004, 125 ff. 191 Vgl z Art 11 EMRK EGMR, Urt v 13.8.1981, 7601/76 u 7806/77, EuGRZ 1981, 559, § 57 – Young, James u Webster. 192 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 12 Rn 13; Jarass GRCh, Art 12 Rn 10.
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rechtecharta von einem weiten Versammlungsbegriff ausgeht.193 Genauso wie bei der oben erörterten Meinungsfreiheit (Rn 10) kommt es auf die Qualität und Thematik der Versammlung nicht an. Obwohl die Versammlungsfreiheit zu den Kommunikationsgrundrechten zählt, ist es – anders als viele meinen (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 61, mit Verweis auf EGMR, Urt v 21.6.1988, 10126/82, EuGRZ 1989, 522 Rn 12 – Plattform „Ärzte für das Leben“)194 – auch unerheblich, ob die Zusammenkommenden untereinander oder gegenüber Dritten Meinungen mitteilen, diskutieren oder symbolisch Ausdruck verleihen wollen. Wie bei der Vereinigungsfreiheit (Rn 39) genügt es, dass irgendein gemeinsamer Zweck verfolgt wird.195 Die Versammlungsfreiheit erfasst damit auch rein gesellschaftliche Zusammenkünfte. Auch einem gemeinsamen Happening – wie etwa der Love-Parade – darf der Grundrechtsschutz nicht versagt werden.196 Schutz genießen auch provozierende Versammlungen (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 60, 73 Fall 5).197 Allerdings darf die Zusammenkunft nicht gewalttätigen Zielen dienen oder einen gewalttätigen Verlauf nehmen, da nur „friedliche“ Versammlungen geschützt sind.198 Unfriedliche Ereignisse am Rand einer Demonstration oder Versuche von Extremisten, Versammlungen zu unterlaufen, reichen freilich nicht aus, um der Versammlung den Schutz zu entziehen.199 Im Gegenteil ist für den Schutz von Demonstrationen vor gewaltsamen Gegendemonstrationen zu sorgen.200 Insofern ist freilich zu beachten, dass eine unionsgrundrechtliche Schutzpflicht einen anderweitig begründeten Kompetenztitel voraussetzt (Rn 19). Schließlich muss das Treffen „frei“ sein.201 Staatlich angeordnete Versammlungen werden nicht geschützt. Im Übrigen umfasst Art 12 I GRCh die sog negative Versammlungsfreiheit, also das Recht, sich nicht mit anderen zu versam-
193 Rengeling/Szczekalla GR, Rn 737. Dies entspricht dem weiten Versammlungsbegriff der EMRK, vgl dazu: EGMR, Urt v 21.10.2010, 4916/07 u 25924/08 u 14599/09, NVwZ 2011, 1375 ff – Alekseyev = Ehlers, JK 2012, EMRK Art 11/1. 194 S etwa Rixen/Scharl in: Stern/Sachs, GRCh, Art 12 Rn 6. 195 Vgl Mann/Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 31 Rn 14. 196 Krit gegenüber dem engen Versammlungsbegriff d BVerfG (etwa BVerfGE 104, 92 (104) – Sitzblockade III) zB Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 810 ff. 197 EGMR, Urt v 2.10.2001, 29221/95 u 29225/95, RJD 2001-IX § 86 – Stankov. 198 Vgl dazu EGMR, Urt v 1.12.2011, 8080/08 u 8577/08, NVwZ 2012, 1089 – Schwabe u M G; Mann/Ripke, EuGRZ 2004, 125 (129 f); Rixen/Scharl in: Stern/Sachs, GRCh, Art 12 Rn 9. 199 Vgl EGMR, Urt v 26.4.1991, 11800/85, HRLJ 1991, 185, §§ 39 ff – Ezelin; Urt v 16.7.1980, 8440/78, EuGRZ 1981, 216, § 4 – Christians against Racism and Facism. 200 EGMR, Urt v 21.6.1988, 10126/82, EuGRZ 1989, 522, § 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“. Zu Art 12 GRCh Rixen/Scharl in: Stern/Sachs, ChGR, Art 12 Rn 13. Gegen eine Schutzpflicht noch Mann in: Heselhaus/Nowak, GR (1. Aufl), § 27 Rn 20. Nunmehr eine Schutzpflicht bejahend Mann/Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 31 Rn 24. 201 Ebenso Jarass GRCh, Art 12 Rn 11.
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meln.202 Im Verhältnis zur Meinungsfreiheit ist zu differenzieren. Im Hinblick auf die Tätigkeit des Sich-Versammelns ist Art 12 I GRCh lex specialis, während in Bezug auf die Meinungsbildung und -äußerung im Laufe der Versammlung Art 11 I GRCh spezieller ist.203
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der Europäische Gerichtshof hat die Versammlungsfreiheit recht detailliert in der 38 Rs Schmidberger behandelt. Ein Transportunternehmer hatte vom Staat Österreich Ersatz für Schäden verlangt, die ihm dadurch entstanden waren, dass er die Brennerautobahn aufgrund einer genehmigten Demonstration für knapp 30 Stunden nicht nutzen konnte. Der Gerichtshof sah in dem Umstand, dass Österreich die Versammlung nicht verhindert hatte, eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs in der Gemeinschaft und nahm eine Abwägung mit der Versammlungsfreiheit der Demonstranten vor (Rn 13).204 Konkrete Aussagen zum Umfang des Schutzbereiches fehlen zwar. Deutlich wird immerhin, dass Versammlungen besonders geschützt sind, bei denen es um für das öffentliche Leben Wichtiges – im konkreten Fall: um die Folgen des zunehmenden Transitverkehrs für die Gesundheit und die Umwelt – geht. Dass grundsätzlich auch Versammlungen mit ökonomischen Interessen geschützt sind, zeigt die Rs Montecatini, in der eine Geldstrafe der Kommission für Unternehmen aus dem Bereich der Polypropylen-Herstellung in Streit stand. Der Gerichtshof hob freilich hervor, dass die Versammlungsfreiheit ihre Grenze findet, wenn Zusammenkünfte einen Zweck verfolgen, der mit dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft nicht vereinbar ist.205 Auf der anderen Seite lässt sich der Entscheidung in der Rs Kommission/Frankreich entnehmen, dass Versammlungen, die vor allem den Handel zwischen den Mitgliedstaaten stören wollen, nicht in der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fallen sollen. Obwohl festgestellt wur-
202 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 12 Rn 17; Rixen/Scharl in: Stern/Sachs, GRCh, Art 12 Rn 5. 203 Jarass GRCh, Art 12 Rn 12; Ripke Europäische Versammlungsfreiheit, 2012, S 607. Entsprechend differenziert a der EGMR. Vgl Urt v 12.9.2011, 28955/06, 28957/06, 28959/06, 28964/06 – Sanchez ua. Der EuGH wendet die Grundrechte hingegen parallel an (EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3). 204 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 64, 72 ff, 78 ff – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3. 205 EuGH, Rs C-235/92 P, Slg 1999, I-4539, Rn 137 f – Montecatini; diese Entscheidung bestätigt insoweit EuG, Slg 1992 II-1155, Rn 319 f – Montedipe, welches ausdrücklich die Versammlungsfreiheit für einschlägig hält, obwohl die Vereinigungsfreiheit ebenfalls ein möglicher Rechtmäßigkeitsmaßstab hätte sein können. Der EuGH stellt in seinem Urt konsequent auf beide Grundrechte ab.
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de, dass Frankreich den innergemeinschaftlichen Handel dadurch beeinträchtigt hat, dass es die dauerhaften Attacken französischer Bauern auf Lebensmitteltransporte aus Spanien nicht verhinderte,206 wurde eine mögliche Rechtfertigung über die Versammlungsfreiheit vom Gerichtshof noch nicht einmal angesprochen. Dogmatisch überzeugend ist dies nicht.
b) Vereinigungsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta 39 Die in Art 12 I GRCh garantierte Vereinigungsfreiheit schützt – im Unterschied zur Versammlungsfreiheit – jeden freiwilligen Zusammenschluss in Organisationen von gewisser Stabilität und einiger Dauer. Dies gilt selbstverständlich auch für wirtschaftliche Vereinigungen. Auf den Zweck des Zusammenschlusses kommt es nicht an. Gewährleistet ist nicht nur die Freiheit der Einzelnen, eine Vereinigung zu gründen. Vielmehr liegt ein Doppelgrundrecht vor, das auch die sog kollektive Vereinigungsfreiheit – dh die Tätigkeit der Vereinigung selbst – garantiert, soweit keine speziellen Grundrechtsnormen eingreifen.207 Dass dies auch dann gilt, wenn es nicht um die Koalitionsfreiheit geht,208 ergibt sich schon daraus, dass in Art 12 I GRCh der „gewerkschaftliche Bereich“ neben dem „politischen“ und „zivilgesellschaftlichen Bereich“ genannt wird. Zudem macht die Formulierung deutlich, dass die Vereinigungsfreiheit zwar in einem engen Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip steht,209 aber etwa auch bloß wirtschaftliche Zusammenschlüsse schützt. Da die Vereinigung „frei“ sein muss, werden öffentlich-rechtliche Zwangsvereinigungen nicht geschützt.210 Obwohl die sog negative Vereinigungsfreiheit in Art 12 I GRCh wie auch in Art 11 I EMRK nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist die Freiheit, aus einer Vereinigung auszutreten oder ihr fernzubleiben, Bestandteil der Vereinigungsfreiheit.211 In Art 20 II AEMR wird ausdrücklich betont, dass niemand gezwungen werden darf, einer Vereinigung anzugehören. Allerdings soll die Freiheit,
206 EuGH, Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = Erichsen, JK 99, EGV Art 30/2. 207 S etwa Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 12 Rn 13; Mann/Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 32 Rn 16; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 11, 14. 208 Missverständlich insofern → Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 77 mit Hinw auf EGMR, Urt v 27.10.1975, 4464/70, EuGRZ 1975, 562, §§ 38 f – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft. 209 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 10. 210 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 12 Rn 13. Differenzierend Rixen/Scharl in: Stern/ Sachs, GRCh, Art 12 Rn 11. 211 EGMR, Urt v 30.6.1993, 16130/90, 24/1992/369/443, § 35 – Sigurjónsson; Urt v 29.4.1999, 25088/94 u 28331/95 u 28443/95, NJW 1999, 3695, § 103 – Chassagnou; Urt v 23.6.1981, 6878/75 u 7238/75, EuGRZ 1981, 551, § 65 – Le Compte, Van Leuven u De Meyere.
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öffentlich-rechtlichen Korporationen fernzubleiben, wie im deutschen Recht nicht vom Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit umfasst sein.212
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Zur Vereinigungsfreiheit gibt es eine vielfältige Judikatur. Dies liegt vor allem 40 daran, dass der EuGH den Grundfreiheiten eine sog Drittwirkung zuspricht (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 73 f). Weil sozial mächtige Vereinigungen – in der Rechtsprechung ging es vor allem um Sportverbände, aber auch um Berufsvereinigungen und Gewerkschaften – an die Grundfreiheiten gebunden sind,213 stellt sich die Frage, ob Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten unter Berufung auf die Vereinigungsfreiheit gerechtfertigt werden können. In der Rs Bosman ging es um die Arbeitnehmerfreizügigkeit von Profisportlern (Rn 34, Fall 4). Man stritt um Verbandsregelungen, die den Vereinswechsel im Fußball von der Zahlung einer Ablösesumme abhängig machten, und um das Verbot, mehr als drei Ausländer pro Mannschaft in einem Spiel einzusetzen. Der EuGH betonte, dass sich der Sportverband auf die Vereinigungsfreiheit berufen kann. Allerdings seien die in Streit stehenden Verbandsregeln weder „erforderlich (…), um die Ausübung dieser Freiheit durch die genannten Verbände (…) zu gewährleisten“, noch stellten sie „eine unausweichliche Folge dieser Freiheit“ dar.214 In der Rs Deliège ging es um Regeln, die die Auswahl von Sportlern zu einem internationalen Turnier festlegen. Hier erkannte der EuGH die Verbandsautonomie an, ohne freilich – was eigentlich nahe lag – die Vereinigungsfreiheit anzusprechen. Die Grundfreiheiten der klagenden Sportlerin seien nicht beeinträchtigt, weil es die „natürliche Aufgabe der betroffenen Stellen“ sei, „geeignete Regeln aufzustellen und in Anwendung dieser Regeln eine Auswahl zu treffen.“215 In der Rs Meca-Medina wurden die Anti-Doping-Regelungen des Internationalen Olympischen Komitees am Wettbewerbsrecht der Union gemessen. Auch hier sprach der Gerichtshof die Vereinigungsfreiheit allerdings nicht ausdrücklich an. Das Interesse der Verbände an einem fairen Ablauf der Wettkämpfe und am Schutz der Gesundheit der Sportler wurde aber herangezogen, um eine Ausnahme
212 Vgl Mann/Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 32 Rn 18; Rixen/Scharl in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 11. Zur EMRK s EGMR, Urt v 23.6.1981, 6878/75 u 7238/75, EuGRZ 1981, 551, § 65 – Le Compte, Van Leuven u De Meyere. Zum deutschen Recht etwa Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 848 ff. 213 Näher zu den Sportverbänden als Adressaten der Grundfreiheiten Trennt Die Vergabe internationaler Sportveranstaltungen, 2012, S 55 ff. 214 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 79, 80 – Bosman. 215 EuGH, verb Rs C-51/96 u C-191/97, Slg 2000, I-2549, Rn 67 – Deliège.
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vom Kartellverbot zu begründen.216 Dass bei der Anwendung von Art 81 I EG (jetzt: Art 101 AEUV) der Gesamtzusammenhang und die Zielsetzung von Verbandsregeln gewürdigt werden müssen, hatte der Gerichtshof bereits in der Rs Wouters erkannt, wo es um eine Verordnung der niederländischen Rechtsanwaltskammer ging, die gemeinsame Sozietäten von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern verbot. Die Verordnung wurde trotz ihrer wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen nicht dem Kartellverbot unterworfen, da die Regelung für das legitime Ziel der ordnungsgemäßen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs als erforderlich angesehen wurde.217
c) Koalitionsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta 41 Die Koalitionsfreiheit wird in Art 12 I GRCh, soweit es um die Arbeitnehmerseite geht, gleich zweimal angesprochen. Betont wird, dass die Vereinigungsfreiheit auch für den „gewerkschaftlichen Bereich“ gilt und „das Recht jeder Person (umfasst), zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“. Die Hervorhebungen bedeuten nicht, dass die Gegenseite schutzlos ist. Vielmehr fällt auch die Bildung und Betätigung von Arbeitgebervereinigungen in den Schutzbereich der allgemeinen Vereinigungsfreiheit.218 Aus Gründen der „Waffengleichheit“ ist eine einheitliche Auslegung geboten. Auch Art 28 GRCh setzt die Freiheit der Bildung von Arbeitgebervereinigungen voraus. Die Koalitionsfreiheit ist wie die allgemeine Vereinigungsfreiheit (Rn 39) ein Doppelgrundrecht. Sie umfasst einerseits das individuelle Recht, sich in Koalitionen zusammenzuschließen und sich entsprechend zu betätigen, sowie das Recht, Koalitionen fernzubleiben (Rn 33, Fall 3, sowie → § 5.1 Rn 84, 96). Andererseits wird das Recht der Gewerkschaften selbst geschützt, über ihre Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung der Geschäfte nach innen und außen selbst zu bestimmen (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 88 ff).219 Die kollektive Koalitionsfreiheit beinhaltet vor allem die Tarifautonomie, die aber in Art 28 GRCh spezieller geschützt ist, wonach „die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht (haben), Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen,
216 EuGH, Rs C-519/04 P, Slg 2006, I-6991, Rn 42 ff – Meca-Medina. 217 EuGH, Rs C-309/99, Slg 2002, I-1577, Rn 97 ff – Wouters. 218 S nur Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 12 Rn 16; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 15. 219 Vgl Däubler Die Koalitionsfreiheit im EG-Recht, in: FS Hanau, 1999, S 489 (495).
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sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen“.
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit hat der Europäische Gerichtshof bereits in 42 den Rs Gewerkschaftsbund und Allgemeine Gewerkschaft bestimmt. Betont wurde, dass die Vereinigungsfreiheit das Recht der europäischen Beamten umfasst, „frei Vereinigungen ihrer Wahl zu gründen“, und dass sich die Vereinigungen „zur Verteidigung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder jeder erlaubten Tätigkeit widmen“ dürfen. Die Möglichkeit der Gewerkschaften, Rechte ihrer Mitglieder vor Gericht einzuklagen, wurde besonders hervorgehoben.220 Deutlich wird, dass auch die Koalitionsfreiheit – wie erwähnt (Rn 41) – ein Doppelgrundrecht ist. Konkrete Ausführungen zum Schutzumfang der Koalitionsfreiheit enthält die Entscheidung in der Rs Maurissen. Der Gerichtshof erklärte, „dass die Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen ihren Beamten weder verbieten können, Mitglied einer Gewerkschaft oder eines Berufsverbandes zu werden und an der Gewerkschaftsarbeit teilzunehmen, noch sie in irgendeiner Form wegen dieser Mitgliedschaft oder dieser Arbeit benachteiligen dürfen.“ Insbesondere dürfe der durch die Wahrnehmung gewerkschaftlicher Tätigkeit entstehende Ausfall an Dienstzeit nicht negativ bei einer Bewertung des Beamten wirken. Gemeinschaftsorgane müssten grundsätzlich hinnehmen, dass Gewerkschaftsangehörige „die ihnen zustehende Aufgabe wahrnehmen, nämlich unter anderem Aktionen zur Unterrichtung der Beamten und sonstigen Bediensteten durchführen, diese bei den Organen und Einrichtungen vertreten und an der Konzertierung mit diesen Organen und Einrichtungen in allen das Personal interessierenden Bereichen teilnehmen.“ Entscheidend sind freilich die Umstände des Einzelfalls. So entschied das Gericht, dass die Vereinigungsfreiheit noch nicht betroffen ist, wenn einem Beamten die Nutzung des internen Botendienstes zur Verbreitung von Gewerkschaftsinformationen untersagt wird. Auf der anderen Seite erklärte der Gerichtshof, dass die Vereinigungsfreiheit beeinträchtigt wird, wenn die Beamten zu wichtigen Gewerkschaftsversammlungen keine Dienstbefreiung erhalten.221 Der EGMR, dessen Auslegung der Vereinigungsfreiheit nach Art 11 EMRK gem. Art 52 III GRCh auch für Art 12 I GRCh Bedeutung hat (Rn 50), leitet aus der Vereinigungsfreiheit ein Recht zur Gründung von Gewerkschaften und
220 EuGH, Rs 175/73, Slg 1974, 917, Rn 14, 17 – Gewerkschaftsbund; Rs 18/74, Slg 1974, 933, Rn 10, 13 – Allgemeine Gewerkschaft. 221 EuGH, verb Rs 193/87 u C-194/87, Slg 1990, I-95, Rn 14, 15, 21, 30 ff – Maurissen; bestätigt durch EuG, Slg 1992, II-2377, Rn 13 – Maurissen.
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zum Streik ab.222 Ein generell statusbezogenes Streikverbot für Beamte lehnt der Gerichtshof ab. Gefordert wird eine funktionsbezogene Differenzierung.223 Das Streikverbot lässt sich danach nur für Personen rechtfertigen, die überwiegend hoheitliche Befugnisse ausüben – etwa als Polizeibeamte oder Richter.224 Der EGMR betont, dass die Vereinigungsfreiheit in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfe und dass die Einschränkungen für „Angehörige der Staatsverwaltung“ nach Art 11 II 2 EMRK eng auszulegen seien.225 Das BVerfG hält allerdings – was auf Kritik gestoßen ist226 – am bisherigen Beamtenstreikverbot fest.227 Das Verbot sei ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums iSd Art 33 V GG. Eine Kollision mit den Gewährleistungen der EMRK sieht das Gericht nicht. 43 Die besondere Stellung der Koalitionsfreiheit wird auch in der Rs Albany deutlich. Der Gerichtshof entschied, dass Vereinbarungen, die zwischen den Sozialpartnern im Rahmen von Tarifverhandlungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen geschlossen worden sind, nicht unter die Bestimmungen des Wettbewerbsrechts fallen. Anlass war die Klage eines Textilunternehmens, das sich gegen den Antrag der Tarifparteien wandte, wonach der Staat die Mitgliedschaft in einem von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ins Leben gerufenen Betriebsrentenfonds für alle Unternehmen im Textilgewerbe verbindlich erklären sollte. Der Gerichtshof berief sich zwar nicht ausdrücklich auf die Koalitionsfreiheit, um Tarifverträge vom Wettbewerbsrecht freizustellen, betonte aber, dass das Unionsrecht den Dialog zwischen den Sozialpartnern und „ein hohes Maß an sozialem Schutz“ fördern wolle.228 In der Rs Kommission/Deutschland ging der Gerichtshof allerdings davon aus, dass tarifvertragliche Klauseln dem Anwendungsbereich von Richtlinien
222 EGMR, Urt v 12.11.2008, 34503/97, NZA 2010, 1425 – Demir u Baykara. 223 EGMR, Urt v 21.4.2009, 68959/01, NZA 2010, 1423 – Enerji Yapi-Yol Sen. Die Entscheidung betraf Gemeindebedienstete in der Türkei, deren Status freilich nicht mit dem deutschen Beamtenstatus identisch ist. 224 So die Schlussfolgerungen bei Buchholtz Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, 2014, S 451. 225 EGMR, Urt v 12.11.2008, 34503/97, NZA 2010, 1425 – Demir u Baykara. 226 Vgl Buchholtz in: Schlachter/Heuschmid/Ulber (Hrsg) Arbeitsvölkerrecht, 2019, S 465 (487 f); Jacobs/Payandeh, JZ 2019, 19. 227 BVerfGE 148, 296. An der Vereinbarkeit des nationalen Beamtenstreikverbots mit Art. 11 EMRK (zuvor) zweifelnd dagegen BVerwG, ArbuR 2013, 104; NdsOVG, NVwZ 2012, 1272 und OVG NW, NVwZ 2012, 890. Für das Fortbestehen des deutschen Streikverbots Lindner, DÖV 2011, 305 ff; Schubert, AöR 2012, 92 ff; Kaiser, AöR 142 (2017), 417. Dagegen etwa Lörcher, AuR 2009, 229 (241 f); Schlachter, RdA 2011, 341; Gooren, ZBR 2011, 400 (405 f); Werres, DÖV 2011, 873 (880); Polakiewicz/Kessler, NVwZ 2012, 841; Buchholtz Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, 2014, S 443 ff. 228 EuGH, Rs C-67/96, Slg 1999, I-5751, Rn 54 ff, 64 ff – Albany. Eine pauschale Übertragung dieser Rspr auf die Grundfreiheiten lehnte der Gerichtshof jedoch ab, vgl EuGH, Rs C-438/05, Slg 2007, I10779, Rn 49 ff – International Transport Worker’s Federation.
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zum Schutz der Freizügigkeit nicht entzogen seien und dass das Grundrecht grundsätzlich im Einklang mit dem übrigen Unionsrecht auszuüben sei.229 In der Rs Werhof ging es um eine Richtlinie zur Fortgeltung von Kollektivverträgen bei einem Betriebsübergang (Rn 33, Fall 3). Der Gerichtshof erklärte unter Berufung auf die negative Vereinigungsfreiheit, dass der Erwerber des Unternehmens die nach dem Betriebsübergang erfolgten Veränderungen des Tarifvertrages nicht beachten müsse.230 In den Rs Laval und International Transport Worker’s Federation standen schließlich kollektive Maßnahmen von gewerkschaftlichen Organisationen in Streit, die ergriffen wurden, um Unternehmen zum Abschluss eines Tarifvertrages zu zwingen. Unter expliziter Berufung auf Art 28 GRCh (Rn 41) betonte der Gerichtshof in beiden Fällen, dass „das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme als Grundrecht der Gemeinschaft anzuerkennen“ sei.231 Im Ergebnis waren die konkreten Maßnahmen aber nicht mit dem Unionsrecht vereinbar, da sie die Grundfreiheiten der betroffenen Unternehmen unverhältnismäßig beschränkten (Rn 53).
d) Politische Parteien aa) Schutz in der Grundrechtecharta Indem Art 12 I GRCh hervorhebt, dass das Recht, sich zu versammeln und mit ande- 44 ren zusammenzuschließen, „insbesondere im politischen Bereich“ geschützt ist, vollzieht die Grundrechtecharta eine Entwicklung nach, die der EGMR bereits vorgezeichnet hatte (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 81). Art 12 II GRCh betont darüber hinaus die besondere Bedeutung „politischer Parteien auf der Ebene der Union“, da diese „den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck bringen.“232 Der von der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ohnehin vermittelte Grundrechtsschutz der Parteien wird durch diese Normierung verstärkt.233 Weil die Vorschrift politischen Parteien im zusammenwachsenden Europa einen hohen Stellenwert einräumt, sind Eingriffe und insbesondere
229 EuGH, Rs C-271/08, Slg 2010, I-7091 ff – Kommission/Deutschland. 230 EuGH, Rs C-499/04, Slg 2006, I-2397, Rn 33 ff – Werhof. In der Entscheidung EuGH, Urt v 18.7.2013, Rs C-426/11, EuZW 2013, 747 ff – Alemo Herron wird dieses Ergebnis – wenngleich unter Berufung auf Art 16 GRCh – bestätigt und erweitert. Vgl hierzu Lobinger, NZA 2013, 945 ff. 231 EuGH, Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767, Rn 91 – Laval; Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779, Rn 44 – International Transport Worker’s Federation. 232 Allgem Pünder, VVDStRL 72 (2013), 191 (203 f). 233 Vgl Rengeling/Szczekalla GR, § 18 Rn 747. Anders Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 12 Rn 21; Knecht in: Schwarze, EU-Komm Art 12 GRCh Rn 9; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 15 („geringer rechtlicher Gehalt“).
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Parteiverbote nur unter strengen Voraussetzungen möglich.234 Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass von den Parteien ein erheblicher Beitrag zum Ausgleich des „demokratischen Defizits“ der Union zu erwarten ist, das seine Ursache nicht nur, aber vor allem in einer mangelhaften politischen Kommunikation auf europäischer Ebene hat.235 45 Um der Vielfalt politischer Interessenzusammenschlüsse in Europa, der Funktion der Parteien „als Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union“ und ihrem Beitrag zur Herausbildung „eines europäischen politischen Bewusstseins“ (Art 10 IV EUV) gerecht zu werden,236 muss der Begriff der politischen Partei weit gefasst werden.237 Allerdings geht es in Art 12 II GRCh nur um die – bislang in der Bevölkerung noch wenig profilierten – „Parteien auf der Ebene der Union“. Zu denken ist etwa an die Europäische Volkspartei, die Sozialdemokratische Partei Europas, die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, die Europäische Grüne Partei, die Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten, die Identität und Demokratie Partei oder die Partei der Europäischen Linken.238 Bei der Begriffsbestimmung liegt die Berücksichtigung der Definition in Art 2 und 3 der Verordnung über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen (VO 2014/1141, ABl 2014 Nr L 317/1) nahe.239 Allerdings ist die sekundärrechtliche Beschränkung auf Parteien, die in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten durch EP-Mitglieder oder in nationalen oder regionalen Vertretungskörperschaften repräsentiert sind oder dort mindestens 3 % bei der Europawahl erhalten haben (Art 3 I lit b VO 2014/1141, ABl 2014 Nr L 317/1), schon im Hinblick auf die Finanzierung aus dem Unionshaushalt (Art 17 ff VO 2014/1141, ABl 2014 Nr L 317/1) bedenklich.240 Für den grundrechtlichen Schutz kann es darauf nicht ankommen. Auch Parteien, die nur in einem einzigen Mitgliedstaat aktiv sind, müssen geschützt sein, wenn sie an Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen. Nicht von Art 12 II GRCh erfasst werden freilich Parteien, die sich nicht an den Wahlen zum EP beteiligen, sondern ausschließlich auf nationaler Ebene tätig sind. Angesichts des eindeutigen Wortlauts („Parteien auf der
234 Ebenso Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 17. 235 Vgl zu diesen Fragen etwa Neßler, EuGRZ 1998, 191 (195 ff). 236 Vgl zur Bedeutung dieser Vorschrift Huber, EuR 1999, 579 ff; Neßler, EuGRZ 1998, 191 (192 ff). 237 Vgl Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 12 Rn 22; Hatje, DVBl 2005, 261 ff; Huber, EuR 1999, 579 (591); Lange/Schütz, EuGRZ 1996, 299 (300); Tsatsos, EuGRZ 2004, 45 ff. Zu den Funktionen der Parteien Piepenschneider in: Franzius/Preuß (Hrsg), Europäische Öffentlichkeit, 2004, S 237 (240 ff). 238 Zur Entwicklung d europ Parteien etwa Neßler, EuGRZ 1998, 191 ff. 239 VO 2014/1141, ABl 2014 Nr L 317/1, zuletzt geänd durch VO 2018/673, ABl 2018 Nr L 114 I/1. 240 Vgl etwa zur insoweit ähnlichen Vorgängerregelung in Art 3 und Art 4 ff VO 2004/2003 Ruffert in: Calliess/Ruffert, Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art I-46 Rn 13 ff.
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Ebene der Union“) steht dem nicht entgegen, dass auch rein nationale Parteien auf die europäische Politik einen mittelbaren Einfluss haben, da sie über die nationalen Parlamente ihre Regierungen kontrollieren, die im Ministerrat und im Europäischen Rat die Geschicke der Union maßgebend bestimmen.241 Bloße Interessenverbände können sich nur auf die allgemeine Vereinigungsfreiheit (Rn 39 ff) nicht aber auf den besonderen Schutz als „politische Parteien“ berufen, da Interessenverbände den „politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ nicht umfassend, sondern nur im Hinblick auf Sonderinteressen zum Ausdruck bringen.242
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der EuGH hat sich mit der Anwendung der Versammlungs- und Vereinigungs- 46 freiheit auf politische Parteien bislang nicht befasst.243 Allerdings stand in der Rs Martinez die Frage in Streit, ob sich Parlamentarier auch dann zu Fraktionen zusammenschließen können, wenn sie keine politische Zusammengehörigkeit aufweisen. Der EuGH bestätigte die Entscheidung des EuG, wonach das Interesse an einem funktionsfähigen Parlament die Beeinträchtigung der Vereinigungsfreiheit rechtfertigen kann.244 Dem ist zuzustimmen, wenn man bedenkt, dass es Hauptaufgabe der Fraktionen ist, die unterschiedlichen nationalen Interessen in den transnationalen Parteien zu bündeln und mit den europäischen Interessen in Einklang zu bringen.245
3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs Hinsichtlich der eine Grundrechtsprüfung auslösenden Beeinträchtigungen kann 47 auf die Erörterungen zur Meinungsfreiheit verwiesen werden (Rn 19 f). Wie sich Art 51 I GRCh entnehmen lässt, kann es um Beeinträchtigungen durch die Organe und Einrichtungen der Union und um mitgliedstaatlichen Maßnahmen bei der
241 S Hatje, DVBl 2005, 261 (263). 242 Vgl Lange/Schütz, EuGRZ 1996, 299 (302). 243 Vgl aber zur Verteilung von Mitteln für Informationskampagnen des EP EuGH, Rs 294/83, Slg 1986, 1339, Rn 20 ff – Parti ecologiste „Les Verts“. 244 EuGH, Rs C-488/01 P, Slg 2003, I-13355, Rn 78 ff – Martinez; EuG, verb Rs T-222/99 u T-327/99 u T329/99, Slg 2001, II-2823, Rn 145 ff, 230 ff – Martinez. Vgl zum Problemkreis a Rengeling/Szczekalla GR, Rn 750. 245 Zur Funktion und Rechtsstellung der Fraktionen Neßler, EuR 1997, 311 ff. Allgem Pünder, VVDStRL 72 (2013), 191 (257 ff).
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„Durchführung“ von Unionsrecht gehen. Der Kreis der Normadressaten ist damit abschließend bestimmt. Eine unmittelbare Drittwirkung gibt es nicht, auch nicht – anders als im deutschen Recht (Art 9 III GG) – für die Koalitionsfreiheit. Allerdings können sich aus den in Art 12 GRCh gewährleisteten Rechten – unter den oben erwähnten Voraussetzungen (Rn 3) – Schutzpflichten für die Grundrechtsverpflichteten ergeben, Störungen der Versammlungsfreiheit sind zu verhindern.246 Entsprechendes gilt für Beeinträchtigungen der Koalitionsfreiheit (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 85 mwN).247 Freilich werden in Art 153 V AEUV ohnehin wichtige Bereiche – das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht – dem Einfluss der in Titel X AEUV geregelten europäischen Sozialpolitik entzogen.248 48 Dass der EuGH wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten von einem weiten Eingriffsbegriff ausgeht, zeigt sich daran, dass er in seiner Rechtsprechung die Grundrechtsbeschränkung nur sehr kurz prüft oder gar überhaupt nicht explizit anspricht. Der Schwerpunkt der gerichtlichen Untersuchung liegt bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen auf der Rechtfertigungsebene. Die in Art 12 gewährleisteten Rechte schützen vor unmittelbaren und mittelbaren Beeinträchtigungen. Die Darlegungslast für das Vorliegen einer Grundrechtsbeeinträchtigung trägt allerdings der Kläger. So wies der EuGH in der Rs Hecq die Klage eines Beamten der EG gegen seine Umsetzung nach Luxemburg ua mit dem Argument ab, dass der Kläger nichts vorgetragen habe, was zu der Annahme berechtigen würde, dass die Umsetzung seine Gewerkschaftsarbeit in Brüssel beeinträchtigen und ihn damit in seiner Koalitionsfreiheit verletzen würde.249 Ebenso ging der Gerichtshof in der Rs UGT-FSP nicht davon aus, dass durch die Eingliederung eines neuen Betriebsteils mit eigener Arbeitnehmervertretung die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmervertreter des Stammbetriebes beeinträchtigt wird.250 Die Versammlungsfreiheit kann durch Aus- und Einreiseverbote beeinträchtigt werden.251 Manche meinen, dass Genehmigungserfordernisse keine Beschränkungen seien (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 65).252 Die Abkehr vom sonst gültigen weiten Eingriffsbegriff ist aller-
246 Ebenso Jarass GRCh, Art 12 Rn 21. 247 Vgl EGMR, Urt v 13.8.1981, 7601/76 u 7806/77, EuGRZ 1981, 559 §§ 55 f – Young, James u Webster. Zu Art 12 GRCh Rixen/Scharl in: Stern/Sachs, GRCh, Art 12 Rn 13. 248 Zu den Regelungsbefugnissen der Union Däubler Die Koalitionsfreiheit im EG-Recht, in: FS Hanau, 1999, S 489 (498 ff). 249 EuGH, verb Rs 116/88 u C-149/88, Slg 1990, I-599, Rn 30 – Hecq. 250 EuGH, Rs C-151/09, Slg 2010, I-7591, Rn 55 – UGT-FSP. 251 Näher Rengeling/Szczekalla GR, Rn 740 ff. 252 S mit Hinw auf EGMR, Urt v 16.7.1980, Nr. 8840/78, EuGRZ 1980, 36, § 3 – Rassemblement jurassien u Unité jurassienne.
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dings unnötig, denn Vorkehrungen für einen störungsfreien Ablauf der Zusammenkunft lassen sich ohne weiteres rechtfertigen.253 In die Vereinigungsfreiheit wird mittelbar eingegriffen, wenn an die Mitgliedschaft – etwa in Gewerkschaften und Parteien –254 Nachteile geknüpft werden.255 Unionsrechtliche Grenzen gibt es auch für nationale Parteiverbote und sons- 49 tige Beschränkungen, wenn es um die Teilnahme an Wahlen zum Europäischen Parlament geht. In dem später eingestellten Verbotsverfahren vor dem BVerfG (vgl Art 21 II GG) hatte die NPD beantragt, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob das Verbot mit dem Unionsrecht vereinbar wäre. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die Entscheidung darüber, welche Parteien sich an der Wahl beteiligen dürfen, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle.256 Tatsächlich bestimmt sich gem Art 7 des „Direktwahlaktes“ das Wahlverfahren zum EP nach den „innerstaatlichen Vorschriften“. Dabei müssen die Mitgliedstaaten jedoch den Grundsatz der Loyalität gem Art 4 III EUV beachten, der die praktische Wirksamkeit des europäischen Wahlrechts, die Repräsentationsfähigkeit des EP und damit auch die „politischen Parteien auf der Ebene der Europäischen Union“ vor nicht vertragslegitimen und unverhältnismäßigen Einschränkungen schützt.257 Auf der anderen Seite kann sich aus dem Loyalitätsgebot sogar eine – nach Art 7 EUV zu sanktionierende – Pflicht der Mitgliedstaaten ergeben, im Sinne einer „streitbaren Demokratie“ gegen Parteien einzuschreiten,258 die die in Art 6 I EUV genannten Werte nicht achten.259 Gemeint sind die in der GRCh niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze.
4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechtecharta Für die Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Versammlungs- und Vereini- 50 gungsfreiheit ist – wie bei Art 11 GRCh (Rn 21) – nicht die allgemeine Schrankenrege-
253 Vgl Mann/Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 31 Rn 33. 254 Zu möglichen Konflikten mit der Koalitionsfreiheit im Unionsrecht Däubler Die Koalitionsfreiheit im EG-Recht, in: FS Hanau, 1999, S 489 ff. 255 Vgl Mann/Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 32 Rn 21. 256 BVerfGE 104, 214 (218 ff). Ebenso BVerfGE 144, 20 (243 ff) – NPD II = Eifert, JK 5/17, GG Art 21 II. Kritisch hierzu Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 32 Rn 12, 17. 257 Ausf Hatje, DVBl 2005, 261 (263 ff). 258 Zu den möglichen Maßnahmen zur Umsetzung des Konzepts einer streitbaren Demokratie Schorkopf Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, 2001, S 125 ff. 259 Hatje, DVBl 2005, 261 (266 f); Schorkopf Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, 2001, S 131. Nicht so weitgehend Lange/Schütz, EuGRZ 1996, 299 (301).
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lung des Art 52 I GRCh maßgeblich, sondern als lex specialis Art 52 III GRCh.260 Da Art 12 I GRCh Rechte gewährleistet, die Art 11 I EMRK entsprechen und damit „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben, finden die Rechtfertigungsanforderungen des Art 11 II EMRK Anwendung.261 Wie bei den in Art 10 GRCh gewährleisteten Rechten gilt ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt (Rn 22). Legitime Eingriffszwecke sind nach Art 11 II 1 EMRK die „nationale und öffentliche Sicherheit“, die „Aufrechterhaltung der Ordnung“, die „Verhütung von Straftaten“, der „Schutz der Gesundheit oder Moral“ sowie der „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“. Geht es nicht um mitgliedstaatliche Maßnahmen, sondern um Beeinträchtigungen durch Einrichtungen der Union muss der Eingriffszweck unionsrechtlich legitim sein, dh im Unionsrecht wurzeln oder zumindest angelegt sein.262 Zudem muss die Maßnahme verhältnismäßig sein (Rn 23 f). Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit für Angehörige der Polizei, der Streitkräfte und der Staatsverwaltung sind nach Art 11 II 2 EMRK – der Straßburger Spruchpraxis folgend (→ Marauhn/ Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 81, 93 ff) – unter weniger strengen Voraussetzungen möglich; der sog Beamtenvorbehalt gilt auch für Unionsbedienstete. Allerdings ist angesichts der Bedeutung der Grundrechte eine restriktive Auslegung angebracht. Zudem müssen Beschränkungen eine gesetzliche Grundlage haben und verhältnismäßig sein. 51 Für Beschränkungen zulasten der politischen Parteien auf Unionsebene gelten – wie erwähnt (Rn 44 ff) – wegen der Normierung in Art 12 II GRCh besonders strenge Anforderungen. In den Mitgliedstaaten können vor allem solche Parteien verboten werden, die gegen Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte kämpfen, insbesondere wenn sie rassistische, nationalsozialistische bzw faschistische Ziele verfolgen.263 Dagegen ist aus Sicht des Unionsrechts (vgl Art 6 I EUV) grundsätzlich nichts einzuwenden.264 Eine Verletzung des Loyalitätsprinzips (Rn 49) kommt erst in Betracht, wenn ein Mitgliedstaat sein Ermessen offenkundig und schwerwiegend überschreitet.265 Eine unionsrechtliche Verbotsregelung könnte sich auf Art 224
260 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 12 Rn 18; Rixen/Scharl in: Stern/Sachs, GRCh, Art 12 Rn 15; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 12 GRCh Rn 13. 261 Dies wird teilweise and gesehen mit der Folge, dass dort, wo die GRCh und die EMRK nicht deckungsgleich sind, die allgem Schrankenregelung des Art 52 I GRCh greift. S etwa Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 12 Rn 18. 262 Ähnlich Rixen/Scharl in: Stern/Sachs, GRCh, Art 12 Rn 15. 263 Vgl Hatje, DVBl 2005, 263 (266); Schorkopf Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, 2001, S 124 ff (mwN). 264 Zur Rspr des EGMR Schorkopf Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, 2001, S 128 f. 265 So Hatje, DVBl 2005, 263 (266).
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AEUV stützen.266 Maßgeblich müssten die in der GRCh verbrieften Rechte, Freiheiten und Grundsätze sein (Art 6 I EUV). Der Umstand, dass Parteien die europäische Integration nicht oder nur in einem geringeren Umfang anstreben, genügt vor dem Hintergrund des Demokratieprinzips für sich genommen zur Begründung eines Parteiverbots nicht (Rn 49).267
b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Als „dem Gemeinwohl dienende Ziele der Gemeinschaft“ wurden die Durchsetzung 52 der Grundfreiheiten (Rs Bosman268, Lethonen269, Deliège270, Laval271, International Transport Worker’s Federation272, Schmidberger273) und des Wettbewerbsrechts der Union (Polypropylen-Kartell274, Meca-Medina275) sowie das ordnungsgemäße Funktionieren des EU-Beamtentums (Rs Maurissen276 und Hecq277) und des Europäischen Parlaments (Rs Martinez278) anerkannt. Die Rs Schmidberger, in der es um eine Kollision der Versammlungsfreiheit 53 mit Grundfreiheiten ging, macht deutlich, dass der EuGH – wenn auch ohne eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung – wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten (Rn 28 ff) „die bestehenden Interessen“ abwägt und „anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls“ prüft, ob das „rechte Gleichgewicht“ zwischen den widerstreitenden Interessen gewahrt worden ist. Die Intensität der durch die Versammlung auf der Brennerautobahn entstehenden Beeinträchtigungen des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten wurde mit dem Zweck, der Dauer und der Bedeutung der Versammlung abgewogen. Für den Vorrang der Versammlungsfreiheit war ausschlaggebend, dass die Demonstration zum Ziel hatte, über die gesundheitlichen Folgen des zunehmenden Transitverkehrs zu informieren und damit
266 Vgl Schorkopf Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, 2001, S 131 ff; AA Rixen/Scharl in: Stern/Sachs, GRCh, Art 12 Rn 14. 267 And Hatje, DVBl 2005, 263 (268). 268 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. 269 EuGH, Rs C-176/96, Slg 2000, I-2681 ff – Lethonen. 270 EuGH, verb Rs C-51/96 u C-191/97, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège. 271 EuGH, Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767 ff – Laval. 272 EuGH, Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779 ff – International Transport Worker’s Federation. 273 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3. 274 EuGH, Rs C-235/92 P, Slg 1999, I-4539 ff – Montecatini. 275 EuGH, Rs C-519/04 P, Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina. 276 EuGH, verb Rs 193/87 u C-194/87, Slg 1990, I-95 ff – Maurissen. 277 EuGH, verb Rs 116/88 u C-149/88, Slg 1990, I-599 ff – Hecq. 278 EuG, verb Rs T-222/99 u T-327/99 u T-329/99, Slg 2001, II-2823, Rn 233, 145 ff – Martinez; EuGH, Rs C-488/01 P, Slg 2003, I-13355, Rn 78 ff – Martinez.
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eine im „öffentlichen Leben wichtig erscheinende Meinung“ betraf. Zudem wurde hervorgehoben, dass die Versammlung zeitlich begrenzt war und es sich um eine einmalige, von den staatlichen Stellen genehmigte Aktion handelte.279 Für die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit sind die Rs Viking, Laval, International Transport Worker’s Federation und Kommission/Deutschland charakteristisch. Festgestellt wird zunächst, dass das „Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme als Grundrecht anzuerkennen ist“ und dass der Grundrechtsschutz für sich genommen „geeignet ist, eine Beschränkung (…) einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit“ zu rechtfertigen. Bei Laval und International Transport Worker’s Federation fand die Koalitionsfreiheit dann aber bei der Prüfung der Rechtfertigung keine Erwähnung mehr. Für den Gerichtshof war nur noch der Umstand von Bedeutung, dass die „kollektive (…) Maßnahme, die den Schutz der Arbeitnehmer (…) gegen ein etwaiges Sozialdumping zum Ziel hat, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs“ ist.280 Entsprechend wurden die Beschränkungen der Grundfreiheiten, die mit von Sportverbänden erlassenen Regelungen einhergehen, in den Rs Bosman (Rn 34, Fall 4) und Lethonen nicht direkt mit dem Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit abgewogen, sondern allein mit den hinter den Regelungen stehenden Zielen (Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Wettkampfablaufs, Wahrung eines Gleichgewichts zwischen den Vereinen, Förderung junger Spieler).281 Dass der Gerichtshof nicht die grundrechtliche Vereinigungsfreiheit als solche mit gegenläufigen Interessen abwägt, sondern nur solche Vereinsinteressen berücksichtigt, die zugleich „zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls“ darstellen, ist misslich, da die spezifischen Eigeninteressen der Verbände – insbesondere die wirtschaftlichen Interessen – auf diese Weise auf der Rechtfertigungsebene unberücksichtigt bleiben.282 Das Gericht verkennt, dass die Verbandsautonomie als solche grundsätzlich geschützt ist. Wie bei der Versammlungsfreiheit sollte der Schutz des Grundrechtes der Vereinigungsfreiheit unmittelbar in der Abwägung Berücksichtigung finden;
279 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 81, 83 ff – Schmidberger = Schoch, JK 2003, EGV Art 28/3. Vgl zum Fall etwa Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S 242 ff; Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2003, 693 ff; Mann/Ripke, EuGRZ 2004, 125 ff. Aus österreichischer Sicht Krist, ÖJZ 1999, 241 ff. 280 EuGH, Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767, Rn 91, 93, 103 – Laval; Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779, Rn 43 f, 45, 77, 90 – International Transport Worker’s Federation. 281 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 104, 106 – Bosman; Rs C-176/96, Slg 2000, I-2681, Rn 53 ff – Lethonen. Vgl zur Berücksichtigung der von den Sportverbänden vertretenen öffentlichen Interessen im Rahmen der Rechtfertigungsgründe Streinz, SpuRt 2000, 221 (227). 282 Vgl zur Kritik etwa Groß in: Vieweg (Hrsg) Perspektiven des Sportrechts, 2005, S 37 (54); Röthel, EuR 2001, 908 (917); Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), 6 (30 ff); Trennt Die Vergabe internationaler Sportveranstaltungen, 2012, S 214 (217 ff).
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Verbandsnormen können nicht nur aus Gründen des Allgemeininteresses, sondern auch durch „zwingende Verbandsinteressen“ gerechtfertigt werden. Dagegen wurde in der Rs Kommission/Deutschland die Dienstleistungsfreiheit als Grundfreiheit mit der Vereinigungsfreiheit aus Art 12 GRCh abgewogen.283 Der zugrunde liegende Sachverhalt betraf eine tarifvertragliche Norm, die öffentliche Arbeitgeber zur Einführung einer betrieblichen Altersversorgung verpflichtete. Dabei sollte nach dem Tarifvertrag ein bestimmter privater Versorgungsträger beauftragt werden, ohne zuvor ein Vergabeverfahren nach den – die Dienstleistungsfreiheit konkretisierenden – Vergaberichtlinien durchzuführen. Der EuGH stellte fest, dass das von den Sozialpartnern im Tarifvertrag verfolgte Ziel der angemessenen Altersversorgung auch ohne Verstoß gegen das europäische Vergaberecht hätte erreicht werden können. Daher wurde die Durchführung der vergaberechtswidrigen tarifvertraglichen Bestimmungen als Verstoß gegen das Unionsrecht angesehen und somit der Dienstleistungsfreiheit Vorrang gegenüber der aus der Koalitionsfreiheit fließenden Tarifautonomie eingeräumt.284 Um die Rechtfertigung eines Eingriffs in die kollektive Vereinigungsfreiheit ging es schließlich in der Rs Kommission/Ungarn.285 Gegenstand des Verfahrens war die Einführung von Registrierungs- und Offenlegungspflichten für Zuwendungen, die ungarische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus dem Ausland erhalten. Der EuGH ging davon aus, dass die Maßnahmen des ungarischen Transparenzgesetzes eine abschreckende Wirkung auf ausländische Spender entfalten. Dadurch werde die Tätigkeit ungarischer Vereinigungen beeinträchtigt. Dieser Eingriff sei u. a. deshalb unverhältnismäßig, weil die Registrierungs- und Offenlegungspflichten pauschal für sämtliche Organisationen im Anwendungsbereich des Gesetzes gelten und nicht nur für solche, die tatsächlich in der Lage sind, das öffentliche Leben erheblich zu beeinflussen.
Lösung Fall 3: Bei der Auslegung einer Richtlinie ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH dem Grundsatz der „Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung“ Rechnung zu tragen. Dies verlangt insbesondere, dass das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß den „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ ausgelegt wird. In der dem Fall zugrunde liegenden Rs Werhof betont der Gerichtshof, dass die Vereinigungsfreiheit in Art 11 EMRK (jetzt auch Art 12 I GRCh) verankert sei und zu den Grundrechten gehöre, die in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden. Vor diesem Hintergrund wurde eine „dynamische Auslegung“ der in Streit stehenden Richtlinienregelung mit Hinweis auf das „Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit“ verworfen, weil andernfalls künftige Kollektivverträge auch für Unternehmenskäufer gelten würden, die dem Kollektivvertrag nicht angehören. E ist
283 EuGH, Rs C-271/08, Slg 2010, I-7091 ff – Kommission/Deutschland. 284 EuGH, Rs C-271/08, Slg 2010, I-7091 ff – Kommission/Deutschland. 285 EuGH (GK), Urt v 18.6.2020, Rs C-78/18, EuZW 2020, 858, Rn 110 ff, 139 ff, 79 ff– Kommission/Ungarn.
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damit nicht an die Änderung des Tarifvertrags nach dem Betriebsübergang gebunden. W kommt die vereinbarte Lohnsteigerung nicht zugute.
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Lösung Fall 4: Zunächst müsste das Unionsrecht auf die in Streit stehenden Regelungen der Sportverbände überhaupt anwendbar sein. Insofern betonte der EuGH in der dem Fall zugrunde liegenden Rs Bosman, dass „nach den Zielen der Gemeinschaft die Ausübung des Sports insoweit unter das Gemeinschaftsrecht fällt, als sie zum Wirtschaftsleben iSv Art 2 EG gehört“ (jetzt: Art 3 III, IV EUV). Dies trifft auf die Tätigkeit von professionellen Fußballspielern zu. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV) verbietet sämtliche Regelungen, die die grenzüberschreitende Ausübung einer unselbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit verhindern, erschweren oder weniger attraktiv machen. Um die effektive Wirksamkeit der Grundfreiheit zu gewährleisten, gilt die Normierung nach Ansicht des EuGH „nicht nur für behördliche Maßnahmen“, sondern erstreckt sich „auch auf Vorschriften anderer Art, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit dienen.“ Betont wird, dass „die Beseitigung der Hindernisse für die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten gefährdet wäre, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse zunichte gemacht werden könnte, die sich daraus ergeben, dass nicht dem öffentlichen Recht unterliegende Vereinigungen von ihrer rechtlichen Autonomie Gebrauch machen“. Damit sind Sportverbände, obwohl sie keine staatlichen Einrichtungen sind, in unmittelbarer Drittwirkung an die Arbeitnehmerfreizügigkeit gebunden. Die Verpflichtung zur Zahlung einer Ablösesumme beschränkt den Zugang der betroffenen Profisportler zu den Märkten in anderen Mitgliedstaaten, weil die Transfersummen Vereine davon abhalten können, bestimmte Spieler zu verpflichten. Fraglich ist, ob die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gerechtfertigt ist. Insofern kommt die Vereinigungsfreiheit als Grundrecht der Sportverbände ins Spiel. Der EuGH erklärt zunächst, dass sich der in Art 11 EMRK verankerte Grundsatz aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und zu den in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehört. Dann untersucht der Gerichtshof, ob die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt ist. Der Prüfungsmaßstab überzeugt nicht, weil sich Verbände auch dann auf die Vereinigungsfreiheit berufen können, wenn sie nur im Interesse der Verbandsmitglieder handeln. Im konkreten Fall machten die Sportverbände allerdings Gründe geltend, die zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Ausdrücklich betonte der EuGH, dass „die Zwecke berechtigt sind, die darin bestehen, die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen den Vereinen unter Wahrung einer bestimmten Chancengleichheit und der Ungewissheit der Ergebnisse zu gewährleisten sowie die Einstellung und Ausbildung junger Spieler zu fördern“. Demgemäß stellte sich die Frage, ob die Regelungen hinsichtlich der verfolgten Ziele mit Blick auf die damit verbundene Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit verhältnismäßig waren. Insofern entschied der Gerichtshof, dass die Transferregelung „kein geeignetes Mittel“ sei, um die Chancengleichheit zwischen den Vereinen sicherzustellen, da sie nicht verhindere, dass „die verfügbaren finanziellen Mittel ein entscheidender Faktor beim sportlichen Wettkampf sind“. Allerdings könne die Aussicht auf die Zahlung von Ablösesummen geeignet sein, Vereine zur Ausbildung junger Spieler zu ermutigen. In dieser Hinsicht stellte der EuGH jedoch darauf ab, dass die sportliche Zukunft junger Spieler kaum vorhersehbar sei und die Ablösezahlungen daher einen „Zufallscharakter“ hätten. Unter diesen Umständen könne „die Aussicht auf die Erlangung solcher Entschädigungen weder ein ausschlaggebender Faktor sein, um zur Einstellung und Ausbildung junger Spieler zu erHermann Pünder
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mutigen, noch ein geeignetes Mittel, um diese Tätigkeiten, insbesondere im Fall der kleinen Vereine, zu finanzieren“. Folgt man dem, lässt sich die mit den Transferregelungen verbundene Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch unter dem Gesichtspunkt der Vereinigungsfreiheit der Sportverbände nicht rechtfertigen.
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§ 6 Wirtschaftsgrundrechte § 6.1 Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit Leitentscheidungen: EuGH, Rs 4/73, Slg 1974, 491 ff – Nold = JK 99, EGV Art 215 II/1; Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 185/2, 186/2; Urt v 6.12.2012, Rs C-544/10, Rn 54 – Deutsches Weintor; Urt v 22.1.2013, Rs C-283/11, Sky Österreich = JK 2014, AEUV Art 267/11; Urt v 30.6.2016, Rs C-134/ 15 – Lidl; Urt v 14.3.2017, Rs C-157/15 – Achbita; Urt v 17.10.2013, Rs C101/12 – Schaible; Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15 – AGET; Urt v 15.7.2021, verb Rs C-341/19 u C-804/18 – MH Müller Handel und IX/Wabe.
Schrifttum: Borrmann Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002; Cloppenburg Erwerbsgrundrechte im Unionsrecht, 2020; Glos Die deutsche Berufsfreiheit und die europäischen Grundfreiheiten, 2003; Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998; Gundel Der Schutz der unternehmerischen Freiheit durch die EU-Grundrechtecharta, ZHR 180 (2016), 323; ders, Der Schutz der – in der EMRK nicht normierten – Berufsfreiheit in der Rechtsprechung des EGMR und seine Konsequenzen für das Unionsrecht, DVBl 2020, 1042; Jarass Berufs- und Unternehmensfreiheit im Unionsrecht, FS Müller-Graff, 2015, S 1410; Mohr Das unionsrechtliche Verbot von Diskriminierungen wegen der Religion im Spannungsfeld zwischen Unternehmer- und Religionsfreiheit, NZA-Beilage 2019, 34; Rengeling Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl 2004, 453; Michl Unionsgrundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, 2018; Sasse Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen durch die unternehmerische Freiheit gemäß Art 16 der Europäischen Grundrechtecharta, EuR 2012, 628; Schmidt Die unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, 2010; Schwarze Der Schutz der unternehmerischen Freiheit nach Art 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, FS Stern, 2012, S 945; Schwier Der Schutz der „unternehmerischen Freiheit“ nach Artikel 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2008; Towara Das Recht auf Bildung gemäß Art 14 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: Odendahl (Hrsg) Europäische (Bildungs-)Union, 2011, S 75; Wahl The Freedom to Conduct a Business, in: Amtenbrink/Davies/Kochenov/Lindeboom (Hrsg): The Internal Market and the Future of European Integration, Essays in Honour of Laurence W. Gormley, 2019, S. 273; Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000.
I. Schutzbereich 1. Funktion, Bedeutung und Quellen des Unionsgrundrechts der Berufsfreiheit 1 Neben der Gewährleistung des Eigentums (→ Calliess § 6.2.2) ist das Grundrecht der
Berufsfreiheit1 das zentrale wirtschaftliche Grundrecht.2 Nach dem vom dt Verfas-
1 Der Text nimmt Elemente meiner Kommentierung zu Art 15 und 16 GRCh in Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 6. Aufl 2021; sowie punktuell von derjenigen zu Art 12 GG in Epping/Hillgruber (Hrsg), GG, 2020, auf. 2 Sehr zutreffend Wahl Essays in Honour of Laurence W. Gormley, S 273; ferner Jarass GRCh, Art 15 Rn 2. Matthias Ruffert https://doi.org/10.1515/9783110716740-016
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sungsrecht genährten Vorverständnis, das sich jedoch durchaus rechtsordnungsübergreifend fassen lässt, gewährleistet das Grundrecht jedem die Freiheit, seinen Lebensunterhalt durch eine dauerhafte Tätigkeit zu verdienen, mithin die wirtschaftliche Seite des „Strebens nach Glückseligkeit“ (pursuit of happiness) amerikanischer Herkunft. Indes lassen sich genauer Inhalt und Schranken der Gewährleistung in jeder durch Grundrechte geprägten oder beeinflussten Rechtsordnung nur unter Rückgriff auf ihre historisch gewachsene Wirtschaftsverfassung ermitteln.3 Das Schutzniveau des Grundrechts der Berufsfreiheit hängt von Sach- und Normstrukturen ab, die gleichsam im Vorfeld des Verfassungsrechts entstanden sind, was umso mehr für eine Grundrechtsordnung gilt, die lange ohne verbindlichen, geschriebenen Grundrechtskatalog auskommen musste. Im Unionsrecht entfaltet sich das Grundrecht der Berufsfreiheit in einem Spannungsfeld verschiedener normativer Grundentscheidungen, die sich bisweilen kaum miteinander vereinbaren lassen und eine effektive Gewährleistung des Grundrechts erschweren. Erster und wichtigster Ausgangspunkt ist das Binnenmarktziel. Grundfreihei- 2 ten und Rechtsangleichung bezwecken die Herstellung (binnen-)grenzüberschreitender Privatautonomie im gesamten Unionsgebiet, mithin die freie ökonomische Entfaltung der Wirtschaftssubjekte in der Union.4 Die Grundfreiheiten erreichen dies dadurch, dass sie einen grundsätzlichen Rechtfertigungszwang für solche mitgliedstaatlichen Regelungen hervorrufen, die zu einer Beschränkung grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivität – Warenhandel, unselbständige Tätigkeit, Dienstleistung, Niederlassung, Kapitalfluss – führen.5 Mit Hilfe der Rechtsangleichung werden Hindernisse minimiert, die infolge der legitimen Wahrnehmung von Gemeinwohlbelangen durch mitgliedstaatliche Regelungen entstehen. Darüber hinausgehend soll die Wettbewerbspolitik Störungen der Wirtschaftsfreiheit durch private Übermacht auf dem Markt verhindern. Flankiert wird dieser Schutz grenzüberschreitender ökonomischer Betätigung schließlich durch die Währungsunion. Konsequent ist die Wirtschaftsverfassung der Union/Gemeinschaft seit dem Vertrag von Maastricht ausdrücklich dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet (Art 119 I, 120 S 2 AEUV); seit dem Vertrag von Lissabon explizit der sozialen Marktwirtschaft.6 Diese Orientierung verstärkt sich noch durch die Einbindung in die Welthandelsorganisation WTO (Art 11 I WTO-Übk), deren Ziel
3 Vgl Pitschas Berufsfreiheit und Berufslenkung, 1983, S 249 ff, 253 ff; Uber Freiheit des Berufs, 1952, S 113 ff; Papier in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts; 2. Aufl 1994, § 18 Rn 5 ff und 34–36. 4 Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, vor Art 34–37 AEUV Rn 3. 5 S dazu Feger, RdA 1987, 13 (16); Notthoff, RIW 1995, 541 (544 f). 6 S nur Schliesky Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl 2014, S 22 ff; Hatje in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 801 (809 ff); Ruffert in: EnzEuR, Bd 5, § 1 Rn 1 ff. Zur Diskussion einer Schwächung durch den
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ebenfalls im Abbau von Handelsschranken besteht, wenn auch die einzelnen Wirtschaftssubjekte aus dem WTO-Recht keine Individualberechtigungen ableiten können und die gegenwärtige Schwäche der WTO nur zu einem geringen Teil durch bilaterale oder neuartige multiregionale Handelsabkommen kompensiert wird. Elemente der Berufsfreiheit sind außerdem in wichtigen Menschenrechtsinstrumenten garantiert,7 und vor allem gewährleistet auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Art 15 I das Recht, einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben, sowie in Art 16 die unternehmerische Freiheit – unter Rückgriff auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten8. In ihrer Gesamtschau könnten sämtliche beschriebene Grundentscheidungen des Europarechts den idealen Nährboden für eine weitreichende Gewährleistung der Berufsfreiheit bieten. 3 Gerade weil der Boden für die Berufsfreiheit so sicher scheint, musste sich lange Zeit keine der Leitentscheidungen des EuGH zum Grundrecht der Berufsfreiheit mit dem dargestellten Themenkreis befassen, sondern die überwiegende Spruchpraxis der Unions-/Gemeinschaftsgerichtsbarkeit, die auf die Berufsfreiheit Bezug nimmt, betraf die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP).9 In ihr liegt der zweite Ausgangspunkt für den sachlich-normativen Rahmen der Gewährleistung eines Grundrechts der Berufsfreiheit im Unionsrecht. Kern der GAP sind die europäischen Marktordnungen nach Art 40 I UAbs 2 lit c AEUV. Die vollständige hoheitliche Regulierung der Agrarmärkte, wie sie diese Marktordnungen vor allem durch Preisfestsetzungen, Interventionen und die Zuteilung von Referenzmengen bewirken, sind grundsätzlich nicht verträglich mit einer übergreifenden und vorrangigen Gewährleistung privater wirtschaftlicher Betätigung, wie sie im Grundrecht auf Berufsfreiheit enthalten ist.10 Gleiches galt – mit Modifikationen – für die regulierten Kohleund Stahlmärkte nach dem EGKSV.11 Dieser Systembruch12 hat dazu geführt, dass
Vertrag von Lissabon Kotzur in: Pernice (Hrsg), Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung?, 2008, S 197. 7 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (GA Res 217A (III), GAOR, 3rd Sess, Part I, S 71 – Sart II Nr 19): Art 12 (Abwehrrecht gegen Eingriffe in Beruf), Art 23 Nr 1 (Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, befriedigende Arbeitsbedingungen, Schutz vor Arbeitslosigkeit). Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNTS 993, 3 – Sart II Nr 21): Art 6 I (Recht, Lebensunterhalt durch frei gewählte Arbeit zu verdienen), Art 7 lit c (Möglichkeit beruflichen Aufstiegs). Vgl Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 100 ff. 8 S Tettinger, NJW 2001, 1010 (1014). 9 Vgl Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 18. 10 Vgl Kluth, Jura 2001, 371 ff. 11 Dazu nur die Leitentscheidung EuGH, Rs 4/73, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold = JK 99, EGV Art 215 II/1. 12 Historische Deutung bei Patel Projekt Europa, 2018, S 132: Agrarpolitik als zentraler Pfeiler der EG-Sozialpolitik zur Abmilderung des Strukturwandels im ländlichen Raum; dort S 125 auch zu den gesamtökonomischen Wohlfahrtsverlusten durch die GAP.
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der EuGH bislang keine unions-/gemeinschaftsrechtliche Regelung im Rahmen der GAP wegen eines Verstoßes gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit aufgehoben hat. Namentlich im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation unterliege die Berufsfreiheit Beschränkungen.13 Die Konzentration auf das europarechtliche Sonderproblem GAP lenkte zugleich bis vor wenigen Jahren die Aufmerksamkeit von der grds Kollision zwischen Berufsfreiheit einerseits und nichtwirtschaftlichen sowie sozialen Gemeinwohlbelangen andererseits ab. Die neuere Rechtsprechung hebt – zu Recht – das Gewicht des dritten Aus- 4 gangspunktes hervor. Als Wirtschaftsgrundrecht steht die Berufsfreiheit in einem engen Bezug zu den sozialen Gewährleistungen. Das aus der historischen Situation zu erklärende Unvermögen, soziale Fragen in der Formulierung von Menschenrechten und Grundfreiheiten aufzuarbeiten, führte nicht nur dazu, dass die Eigentumsgarantie erst im Zusatzprotokoll von 1952 Eingang in die EMRK fand, sondern auch, dass das Grundrecht der Berufsfreiheit überhaupt nicht in die EMRK aufgenommen wurde14 – sieht man von dem Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit ab, das nur einen Teilaspekt (ähnlich Art 12 II GG) betrifft,15 nicht jedoch die Berufsfreiheit allgem schützt. Zu berücksichtigen sind allerdings einzelne Gewährleistungen durch andere Rechte der EMRK16. So ist die Eigentumsgarantie des Art 1, 1. ZP EMRK weiter mit Blick auf die Erwerbsseite wirtschaftlicher Betätigung als etwa Art 14 GG. Art 10 EMRK schützt kommerzielle Kommunikation, und ergänzend kann Art 8 EMRK herangezogen werden, wenn sich private Lebensgestaltung und berufliche Betätigung berühren oder Berufs- und Geschäftsgeheimnisse in Rede stehen. Hinzu treten manche Garantien der Europäischen Sozialcharta (1961), die, obwohl in Art 6 III EUV nicht ausdrücklich erwähnt, zum Gemeingut der europäischen Grund-
13 EuGH, Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; verb Rs C-143/88 u C-92/89, Slg 1991, I-415, Rn 73 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen = JK 92, EWGV Art 177/2; Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 185/2, 186/2; Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 22 – SMW Winzersekt; Rs C-44/94, Slg 1995, I-3115, Rn 55 – Fishermen’s Organisations; Rs C-183/95, Slg 1997, I-4315, Rn 42 – Affish. EuG, T19/01, Slg 2005, II-315 – Chiquita Brands. Mit Recht krit Rengeling, DVBl 2004, 453 (458). Differenzierend Nowak in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 40. 14 Golsong in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, 1977, S 7, 9; Bartsch, EuR 1979, 105 (109); Partsch in: Bettermann/Neumann/Nipperdey, Die Grundrechte I/1, 1966, S 235 (351); Nußberger in: HStR Bd X, 3. Aufl 2012, § 209 Rn 29; Borrmann Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S 150 f. Zu möglichen für die Berufsfreiheit relevanten Inhalten Blanke in: Stern/Sachs, GRCh, Art 15 Rn 14 ff. 15 Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 105 f. Die EKMR hat es abgelehnt, die Vorschrift im Sinne einer allgem Garantie der Berufsfreiheit auszulegen, vgl EKMR, Entsch v 17.12.1963, 1468/62, Jahrbuch VI, S 278 (328) – Iversen/Norwegen; kritisch Partsch in: Bettermann/Neumann/Nipperdey, Die Grundrechte I/1, 1966, S 347 f. 16 Hierzu und zum folgenden mit Nachweisen im Einzelnen Gundel, DVBl 2020, 1042.
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rechtsüberlieferung gezählt werden muss (s a Art 151 I AEUV), freilich unter Beachtung ihrer nur relativen Verbindlichkeit nach Art 20 I Sozialcharta (→ Kingreen § 8.1 Rn 2).17 Die damit angesprochenen Gewährleistungsinhalte (Recht auf Arbeit, gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, Arbeitsentgelt, Bildung von Vereinigungen, Kollektivvereinbarungen, Jugendschutz, Schutz von Arbeitnehmerinnen, Berufsberatung, Ausbildung, soziale Sicherheit im weitesten Sinne) haben einen evidenten Bezug zur Idee sozialer Grundrechte. In dieser Weise ist auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union orientiert. Sie enthält in Art 15 I nicht nur das Grundrecht der Berufsfreiheit im klassischen Sinne, sondern überdies das „Recht zu arbeiten“. Drittstaatsangehörigen wird der Anspruch eingeräumt, unter Bedingungen wie die Unionsbürger zu arbeiten, sofern sie legalen Zugang zu den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten haben. Eine ganze Reihe sozialer Rechte flankiert diese Gewährleistungen:18 Anhörung von Arbeitnehmern (Art 27), Kollektivverhandlungen bzw -maßnahmen (Art 28), Arbeitsvermittlung (Art 29), Kündigungsschutz (Art 30), gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Art 31), Verbot der Kinderarbeit bzw Jugendschutz (Art 32) sowie Mutterschutz (Art 33). Auch jenseits sozialpolitischer Vorgaben und Ziele19 ist an den Ausgleich zwischen Berufsfreiheit und Gemeinwohlbelangen zu denken, etwa im Bereich des Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzes20 sowie der Koordinierung von Berufszugangsregeln im Binnenmarkt.21 5 Vor diesem Hintergrund sind die Gewährleistungen des Grundrechts der Berufsfreiheit in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als Rechtserkenntnisquellen (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 171) einzubeziehen.22 Nahezu alle geschriebenen Verfassungen der Mitgliedstaaten enthalten das Grundrecht.23 Ebenso ist
17 Birk in: Richardi/Wlotzke (Hrsg), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht I, 2. Aufl 2000, § 17 Rn 94 (in der 3. Aufl 2009 nicht mehr erörtert); Gomien/Harris/Zwaak Law and practice of the European Convention on Human Rights and the European Social Charter, 1996, S 379; Blumenwitz, NJW 1989, 621 (624). 18 Vgl nur Mahlmann, ZEuS 2000, 419 (432 f). 19 In diese Richtung etwa EuGH, verb Rs C-248/95 u C-249/95, Slg 1997, I-4475, Rn 73 – SAM Schiffahrt u Stapf. 20 Umweltschutz: EuGH, Rs 240/83, Slg 1985, 531, Rn 13 – ADBHU; Rs C-370/88, Slg 1990, I-4071, Rn 28 – Marshall; Verbraucherschutz: Rs 234/85, Slg 1986, 2897, Rn 14 – Keller; Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 25 – SMW Winzersekt; Schutz der Volksgesundheit: Rs C-183/95, Slg 1997, I-4315, Rn 43 – Affish; Rs C-210/03, Slg 2004, I-11893 ff – Swedish Match; Klimaschutz: EuG, Rs T-216/05, Slg 2007, II-1507, Rn 87 f – Mebrom. 21 Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (272), im Anschluss an Bleckmann ER, Rn 590. 22 Allein auf diese zurückgreifend Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (271). Ausf Rechtsvergleich bei Schmidt Die unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, 2010, S 70 ff. 23 Art 23 I iVm III Nr 1 Verf Belgiens; Art 48 III bulgV; § 74 Reichsgrundgesetz Dänemarks; § 29 estnV; § 18 Verf Finnlands; Art 5 I und Art 22 Verf Griechenlands; Art 40 III iVm Art 45 II, III irV; Art 4
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die Berufsfreiheit in den Verfassungen wichtiger 2004 beigetretener Länder garantiert.24 In Frankreich wird die Unternehmerfreiheit (liberté d’entreprendre) in Art 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verortet, dem Recht, alles tun zu dürfen, was anderen nicht schadet.25 Aus zwei revolutionären Gesetzen von 1791 wurde der heute gültige allgem Rechtsgrundsatz der liberté du commerce et de l’industrie abgeleitet.26 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die effektive Gewährleistung der beiden Freiheiten daran leidet, dass Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit Gesetzgeber und Behörden einen weiten Spielraum gewähren und die Verhältnismäßigkeitskontrolle reduzieren, wobei in der Tendenz die Kontrolldichte bei der liberté du commerce et de l’industrie höher ist als bei der liberté d’entreprendre.27 Auch das common law Englands verbürgt die Berufsfreiheit mit unterschiedlichen Bezeichnungen – right to work, right to earn a living, interest in pursuing a livelihood28; nach dem Brexit wird das common law freilich seine prä-
und 41 Verf der italienischen Republik; Art 49 I iVm Art 50 II, sowie Art 55 II, III kroatV; §§ 106, 107 lettV; Litauen: Art 46, 48 litV; Art 11 IV-VI Verf des Großherzogtums Luxemburg; Art 7, 12 I, 18, 19, 32 maltV; Art 19 III Verf des Königreiches der Niederlande; Art 6 I, Art 18 Staatsgrundgesetz Österreich 1867 (s Art 149 I BVG); Art 20, 22, 24, 65 polnV; Art 47 I, Art 61 I Verf der Portugiesischen Republik; Art 38 I rumänV; Kap 2 § 17 schwedV; Art 18, 35 slowakV; Art 49, 66 slowenV; Art 35 I, 38 spanische Verf; Art 3, 112 I tschechV iVm Art 9, 26 EGF; Art XII ungV; Art 25 zyprV. Die einzelnen Bestimmungen sind allerdings in Geltungskraft und Tragweite heterogen: Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 223; ausf und gegliedert Cloppenburg Erwerbsgrundrechte im Unionsrecht, S 25 ff; Blanke in: Gesellschaft für Rechtspolitik/Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier (Hrsg): Bitburger Gespräche in München, S 13. Zweifelnd – ohne umfassenden Rechtsvergleich – Besselink, CMLRev 35 (1998) 629 (636 f), Fn 9, und – ihm folgend – Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (270). Ausführlicher Rechtsvergleich bei Nowak in: Heselhaus/Nowak, GR, § 34 Rn 10 ff. 24 Bulgarien: Art 48 III Verf 1991; Polen: Art 65 Verf 1997; Rumänien: Art 38 Verf 1991; Tschechien: Art 26 Grundrechts-Charta 1991. 25 S Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 52 ff. Der Conseil constitutionnel hat in der Entscheidung n° 98–401 DC vom 10.6.1998 die gesetzlich angeordnete Arbeitszeitverkürzung (Loi d’orientation et d’incitation relative à la réduction du temps de travail) für gerechtfertigt erklärt, weil der Gesetzgeber sich am „Recht auf Arbeit“ in der Präambel der Verfassung von 1946 orientiert habe. Insgesamt entspricht es einer ständigen Rspr des Conseil constitutionnel, zwischen unternehmerischer Freiheit und dem entsprechenden Gemeinwohlbelang abzuwägen („à la condition qu’il n’en résulte pas d’atteintes disproportionnées au regard de l’objectif poursuivi“); s zuletzt 2012-659 DC, 13 décembre 2012, Journal officiel du 18 décembre 2012, p 19861, texte n°4, cons 55. 26 Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 75; Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 265 ff; Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 54 f. 27 Ausf Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 152 ff. 28 S Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 46 f m Nachw aus der Rspr. Zur Rechtsnatur der Gewährleistungen Günter Berufsfreiheit und
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gende Kraft für die gemeineuropäische Entwicklung weitgehend einbüßen. In Deutschland gewährt Art 12 I GG allen Staatsangehörigen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen; die Verbote von Arbeitszwang und Zwangsarbeit in Art 12 II, Art 12 III GG haben nur geringe Bedeutung erlangt. Im Rahmen des Regelungsvorbehalts des Art 12 I 2 GG hat das BVerfG dem Gesetzgeber bisweilen einen außerordentlich weiten Spielraum zuerkannt und die Wahl der grundrechtsbeschränkenden Gemeinwohlbelange kaum kritisch hinterfragt.29 In neuerer Zeit entwickelte das BVerfG weitere Dimensionen der Berufsfreiheit aus Art 12 I GG. Bedeutsam ist das Teilhaberecht aus Art 12 I, Art 3 I GG bei der Vergabe von Studienplätzen.30 Was die Schutzfunktion betrifft, so geht das BVerfG in einzelnen Fällen über den rechtsstaatlichen Schutz der Berufsfreiheit hinaus und betreibt – rechtspolitisch motiviert – kompetenzwidrig sozialen Ausgleich zwischen widerstreitenden Rechtspositionen (Arbeitnehmer – Arbeitgeber), ohne dass es eine entsprechende gesetzgeberische Entscheidung, verfassungsrechtliche Grundlage oder methodisch-dogmatische Absicherung gäbe.31 6 Ist der Normbestand nicht vollständig homogen, wird die Entscheidung für ein bestimmtes Schutzkonzept in der Tendenz zu einer politischen Frage. Das wirtschaftspolitische Vorverständnis bestimmt die konkrete Form des Schutzes der Berufsfreiheit erheblich, sei es bereits bei der inhaltlichen Ausfüllung des Schutzbereichs, sei es auf der Schrankenebene oder bei der Bestimmung der Grundrechtsfunktionen. Diese Entscheidung zu treffen ist nicht Sache des Europarechtlers, wohl aber, ihre normative Grundlage transparent zu machen. Unter dieser Prämisse gehen die folgenden Ausführungen von der Notwendigkeit aus, dem abwehrrechtlichen Inhalt der Berufsfreiheit ein angemessenes Gewicht zu verschaffen, um ihn auf der Ebene der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen mit anderen Gemeinwohlbelangen in Abwägung zu bringen, seien diese sozialer oder anderer Natur. Unmittelbar aus der Berufsfreiheit sollen keine sozialen Grundrechte hergeleitet werden: Ein Recht auf Arbeit ist bewusst nicht in die Grundrechte-Charta (2000/
Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 52 ff, sowie Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 323 ff; zum Schutzniveau Ehlermann FS Budde, 1995, S 157 (171); ihm folgend Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 45. Ähnlich das ungeschriebene Recht aus Art 40 III Nr 1 und 2 der irischen Verfassung (right to earn a living), vgl Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 70 ff; Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 282 ff. 29 S z Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers Manssen in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd I, 7. Aufl 2018, Art 12 Rn 127. 30 BVerfGE 33, 303 ff. 31 Ruffert Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S 434 ff (462 ff).
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2007) aufgenommen worden32 und in der Europäischen Sozialcharta stark relativiert. Die Beweggründe gegen seine Einführung, namentlich die Gefahr einer Schwächung der Grundrechte bei mangelnder Realisierbarkeit und die zwingende Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, sind hinreichend bekannt. Soziale Einzelgewährleistungen enthält die Charta im Solidaritätskapitel. Außerdem sind wesentliche Schutzansprüche in den Sozialvorschriften des AEUV und vor allem im auf seiner Grundlage ergangenen Sekundärrecht verbrieft: Gleichberechtigung, Arbeitsschutz, angemessene Arbeitsbedingungen, um nur einige Stichworte zu nennen.33 Das „Recht zu arbeiten“ in Art 15 I der Charta lässt sich so keinesfalls in ein „Recht auf Arbeit“ umdeuten.34 Dennoch ist es nicht inhaltsleer. Unbeschadet der allenfalls sehr begrenzten rechtlichen Verbindlichkeit der Charta enthält es das abwehrrechtlich wirkende Verbot hoheitlich veranlasster Behinderungen selbständiger oder unselbständiger Arbeit, verstärkt also den Rechtfertigungsdruck für hoheitliche Regelungen von Berufswahl und Ausübung.35 Im sozialpolitischen Kontext schreibt die Vorschrift den deutlichen, wenn auch kaum justitiablen Auftrag an die aus der Charta Verpflichteten (Art 51 GRCh) fest, für die realen Möglichkeiten der Berufsausübung zu sorgen, mithin das Ziel der Vollbeschäftigung anzustreben (in diese Richtung auch Art 145 ff AEUV36). Wählt man den abwehrrechtlichen Inhalt des Grundrechts der Berufsfreiheit 7 als Ausgangspunkt, so erweist sich die planwirtschaftliche Organisation von Märkten nach Art der GAP als der eigentliche Anachronismus. Die Beharrungskräfte sind hier stark; selbst in der Pandemiekrise ist es nicht gelungen, Haushaltsmittel aus dem Agrarsektor in zukunftsträchtigere Bereiche (Klimaschutz, Digitalisierung) zu verlagern. Für die Analyse des Grundrechts Berufsfreiheit liefern agrarrechtliche Konstellationen aber nicht mehr das quantitativ wesentliche Fallmaterial.
32 Grabenwarter, DVBl 2001, 1 (5); Schmitz, JZ 2001, 833 (841); Tettinger, NJW 2001, 1010 (1014). Zudem ist nur in einigen Mitgliedstaaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Finnland) die soziale Gewährleistung mit dem Freiheitsrecht verbunden; vgl die Nachw in Fn 23. S auch umfassend Körner Das internationale Menschenrecht auf Arbeit, Völkerrechtliche Anforderungen an Deutschland, 2004. 33 Oetker in: Kiel/Lunk/Oetker (Hrsg) Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band I: Individualarbeitsrecht I, 5. Aufl 2021, § 12 Rn 32 ff. 34 So auch Grabenwarter, DVBl 2001, 1 (5); Jarass/Kment GR § 20 Rn 219; Folz in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EUV/AEUV/GRCh/EAGV Art. 15 GRCh, Rn 4; Ebenso wenig erscheint es möglich, aus dem Freiheitsrecht des Art 16 ein Recht auf Mittelstandsförderung abzuleiten; so aber Tettinger, NJW 2001, 1010, (1014). 35 Z primär abwehrrechtlichen Gehalt des Art 15 GRCh Frantziou/Mantouvalou in: Peers/Hervey/ Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2. Aufl 2021, Rn 15.27. 36 Vgl Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 145 AEUV Rn 8 (differenzierend).
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2. Sachlicher Schutzbereich Fall 1: (EuGH, verb Rs 133-136/85, Slg 1987, 2289 ff – Rau) Die Kommission trifft im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse die Entscheidung, 900 Tonnen Butter aus Interventionsbeständen in 250 g-Packungen kostenlos mit jeweils einer Packung Markenbutter desselben Gewichts zu verteilen. Ziel der Maßnahme ist es, Erkenntnisse über das Verhalten der Verbraucher bei einer Senkung des Butterpreises zu gewinnen. Letztlich soll der „Butterberg“ abgebaut werden. M ist ein großer Margarineproduzent. Er wendet sich gegen die Entscheidung, weil sie gegen die Grundsätze freier Berufsausübung, die allgemeine Handlungsfreiheit und die Wettbewerbsfreiheit verstoße.
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a) Inhalt und Einzelgewährleistungen 9 Der Inhalt des sachlichen Schutzbereichs des Grundrechts der Berufsfreiheit ist
vom EuGH bislang nicht abstrakt definiert worden,37 doch lässt sich eine solche Definition aus der Gesamtschau der bisherigen Rspr sowie der Grundrechts-Charta als Rechtserkenntnisquelle gewinnen. 10 Danach enthält das Grundrecht der Berufsfreiheit im Unionsrecht die umfassende Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit.38 Dies wird durch die Garantien der Grundrechts-Charta unterstrichen, die nicht nur das Recht zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben enthält (Art 15 I GRCh), sondern auch die unternehmerische Freiheit anerkennt (Art 16 GRCh). Die Abgrenzung zwischen beiden ist umstritten; nicht zuletzt auf der Schrankenebene (s u Rn 34). Nur vereinzelt gibt es Anzeichen für eine Abgrenzung nach persönlichkeitsbezogener Wahlfreiheit in Art 15 und Ausübungsfreiheit in Art 1639. Letztlich setzt sich aber die bereits vor der Charta praktizierte umfassende Gewährleistung beruflicher Freiheit zu Recht fort,40 so dass nennenswerte Gewährleistungsunterschiede nicht bestehen.41 Nicht zuletzt die Charta macht deutlich,
37 S Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 105. 38 Ausdrücklich EuGH, verb Rs 63 u 147/84, Slg 1985, 2857, Rn 23 – Finsider. 39 EuGH, Urt v 30.6.2016, Rs C-134/15, Rn 26 – Lidl, dazu Schlussantr GA Bobek v 16.3.2016, Rn 26; ebenso Gundel, ZHR 2016, 323 (336 f); zum Ganzen Jarass FS Müller-Graff, 2015, S 1410; Streinz in: ders (Hrsg), EUV/AEUV, Art 15 GRCh, Rn 7; ders, JuS 2017, 798. 40 Wie hier Drechsler, EuR 2016, 691; ders Die Unionsgrundrechte unter dem Einfluss des Prozessrechts, 2019, S 104 f; Kühling in: Frankfurter Komm, Art 15 GRCh, Rn 25; Wollenschläger in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Vorb zu Art 15/16 GRCh; sowie Burgi BK GG, Art 12 Rn 15 und 21. 41 Umfassender dogmatischer Versuch einer Abgrenzung bei Cloppenburg Erwerbsgrundrechte im Unionsrecht, S 164 ff: Art 15 – subjektive Merkmale; Art 16 – objektive Rahmenbedingungen.
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dass es um eine eigenständige Gewährleistung und nicht lediglich um eine Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit geht.42 Kennzeichnendes Merkmal für die der Garantie zuzuordnenden Tätigkeiten ist 11 die Erwerbsabsicht. Dieses Merkmal findet sich parallel in der Rspr, die den Anwendungsbereich der allein wirtschaftsbezogenen Grundfreiheiten umschreibt, wobei der EuGH dort keine hohen Anforderungen stellt und eine Tätigkeit, die einen irgendwie gearteten ökonomischen Bezug aufweist, unter die einschlägige Grundfreiheit subsumiert (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 4 ff).43 Auf die Dauer der Tätigkeit kommt es nur insoweit an, als der in der Charta gebrauchte Begriff des „Berufs“ auch in anderen Sprachen (occupation/profession/profesión/professione/ profissão/beroep/erhverv) ein mehr als nur einmaliges oder kurzfristiges Tätigwerden suggeriert. Unternehmerische Freiheit geht darüber hinaus, so dass insgesamt der Dauerhaftigkeit ein geringeres Gewicht zukommt als bei der Interpretation des Berufsbegriffs nach Art 12 I GG.44 Wiederum parallel zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Bagatellgrenze anzunehmen.45 Auf das Erlaubtsein kann es indes nicht ankommen. Erlaubnis und Verbot beruflicher Tätigkeit sind eine Frage von Beschränkungen und deren Rechtfertigung.46 Dieser umfassenden Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigung lassen 12 sich die in der Rspr des EuGH bislang formulierten Einzelgewährleistungen zuordnen. Namentlich die Handelsfreiheit sieht der EuGH als geschütztes Grundrecht an.47 Nicht ganz konsequent wird die notwendige Zuordnung der erwerbsbezoge-
42 And noch Schilling, EuGRZ 2000, 3 (12); Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 106 f (ähnlich Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 23), weist nach, dass die einzelnen Ausprägungen wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit nach der Rspr zur Berufsfreiheit gehören und keine bes Gewährleistungen enthalten (deutlich etwa EuG, Rs T-521/93, Slg 1996, II-1707, 63 – Atlanta). Der Rückgriff auf die Rspr des BVerfG zur Abgrenzung zwischen Berufs- und Handlungsfreiheit (so Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 36 ff) sollte im Unionsrecht vermieden werden. Den Zusammenhang zwischen Art 15 und 16 verdeutlicht ausf Schmidt Die unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, 2010, S 184 ff, sowie Schwarze in: ders, EU-Komm, Art 15 GRCh Rn 2. 43 S Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 9 ff, z insofern weiten Arbeitnehmerbegriff des EuGH. 44 Hier sind die Anforderungen ohnehin gering, vgl Wieland in: Dreier, GG, Bd I, Art 12 Rn 41. 45 Vgl dazu Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 12. 46 In diesem Sinne auch Penski/Elsner, DÖV 2001, 265, (271). Differenzierend Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 72 f. And in der Tendenz Steindorff, NJW 1982, 1902 (1904). 47 EuGH, Rs 4/73, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold; Rs 240/83, Slg 1985, 531, Rn 9 – ADBHU. Zutr stellt GAin Stix-Hackl, Schlussantr zu verb Rs C-37/02 u C-28/02, Slg 2004, I-6911 – Dilexport, Ziff 110, fest, dass es hier nur um terminologische Fragen, nicht um unterschiedliche Gewährleistungen geht.
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nen Vertragsfreiheit zur Berufsfreiheit vorgenommen.48 Hier geht der Gerichtshof vereinzelt noch von einer eigenständigen Verbürgung aus,49 sieht aber zutreffend die freie Wahl des Vertrags-(= Geschäfts) Partners als Bestandteil der Berufsfreiheit an50. Zum Grundrecht auf Berufsfreiheit gehört auch die Wettbewerbsfreiheit.51 Angesichts der Bedeutung des freien Wettbewerbs im EG-Recht sollten zurückhaltendere Äußerungen des EuGH jedenfalls auf der Schutzbereichsebene nicht überbewertet werden.52 Bedeutsam ist die Berufsfreiheit einschließlich der unternehmerischen Freiheit auch im Arbeitsrecht. Hier wirkt beispielsweise Art 16 als Grundlage des Direktionsrechts des Arbeitgebers, wenn in einem Betrieb (zB einem Einzelhandelsgeschäft) das Tragen religiöser Symbole vom Arbeitgeber untersagt wird, wobei der konkrete Inhalt des Direktionsrechts Ergebnis einer Abwägung mit den gegenläufigen Grundrechten, namentlich der in Art 10 geschützten Religionsfreiheit ist.53 13 Zusammengefasst formuliert, schützt das Unionsgrundrecht der Berufsfreiheit die freie wirtschaftliche Betätigung in allen ihren Ausprägungen.
b) Abgrenzung zu anderen unionsrechtlichen Gewährleistungen aa) Eigentumsschutz 14 In seiner Rspr differenziert der EuGH nicht immer präzise zwischen Eigentumsschutz (→ Calliess § 6.2.2) und Schutz der Berufsfreiheit.54 Dies überzeugt methodisch angesichts der unterschiedlichen Rechtserkenntnisquellen nicht (Art 1 ZP 1 EMRK, Art 345 AEUV).55 Im Schrifttum wird überwiegend eine Abgrenzung am Maßstab der aus dem dt Verfassungsrecht stammenden Faustformel Bestandsschutz – 48 Hierzu Ruffert Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S 297 f mwN. 49 Sehr andeutungsweise in EuGH, Rs C-151/78, Slg 1979, 1, Rn 20 – Sukkerfabriken Nykøbing; Rs C240/97, Slg 1999, I-6571, Rn 99 – Spanien/Kommission. 50 EuGH, verb Rs C-90/90 u C-91/90, Slg 1991, I-3617, Rn 13 – Neu. 51 EuGH, verb Rs 133-136/85, Slg 1987, 2289, Rn 15 – Rau, sowie auch Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 28 – Metronome Musik, und ferner Urt v 22.1.2013, Rs C-283/11, Rn 41 ff – Sky Österreich = JK 2014, AEUV Art 267/1. 52 And wohl Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 109. 53 EuGH, Urt v 14.3.2017, Rs C-157/15, Rn 38 – Achbita, mit Anhaltspunkten zur Abwägung Rn 43; Urt v 15.7.2021, verb Rs C-341/19 u C-804/18, Rn 63 ff und Rn 83 f. – MH Müller Handel u IX/Wabe. S auch EuGH, Urt v 14.3.2017, Rs C-188/15 – Bougnaoui; zum Ganzen Mohr, NZA-Beilage 2019, 34. 54 EuGH, Rs C-63/93, Slg 1996, I-569, Rn 30 – Duff; Rs C-84/95, Slg 1996, I-3953, Rn 21 f – Bosphorus; verb Rs C-248/95 u C-249/95, Slg 1997, I-4475, Rn 72 ff – SAM Schiffahrt u Stapf; Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik. Zweifelhaft auch Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 32 – Hauer. Vgl Beutler in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 6 Rn 57. 55 Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (267).
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Erwerbsschutz vorgeschlagen.56 Wenn man die Selbständigkeit der unionsrechtlichen Systembildung nicht aus den Augen verliert, ist gegen diese Parallelität nichts einzuwenden. Berufsfreiheit und Eigentumsgewährleistung stehen zueinander in Idealkonkurrenz. Der Schutzbereich der Eigentumsgarantie ist – gegebenenfalls neben dem der Berufsfreiheit – eröffnet, wenn es um die Nutzung der Produktionsstätte bzw Produktionsmittel geht. Allein die Berufsfreiheit steht im Raum, wenn Pflichten oder Verbote handlungs-, nicht substanzbezogener Art normiert werden. Abgabenverpflichtungen misst der EuGH nicht am Maßstab der Eigentumsgarantie.57 Folgt man dieser – im dt Verfassungsrecht jenseits von Erdrosselungssteuer und Halbteilungsgrundsatz anerkannten – Prämisse, ist jedenfalls eine Prüfung des Grundrechts der Berufsfreiheit veranlasst.58
bb) Andere Grundrechte Abgrenzungsschwierigkeiten im Verhältnis zu den unionsrechtlichen Kommunika- 15 tionsgrundrechten (insbesondere Meinungsäußerungsfreiheit; → Pünder § 5.2) treten im Bereich der Werbung auf. Hier spricht wenig gegen ein differenzierendes Vorgehen, das beide Gewährleistungen im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes nebeneinander bestehen lässt, wenn die Werbung auch eine wertende Meinungsäußerung enthält.59 In Deutschland zeigt die Benetton-Rspr, welche Probleme die Ausklammerung der Kommunikationsfreiheiten aus der Wirtschaftswerbung bereitet hätte.60 Das hier vertretene Konzept entspricht auch der Rspr des EGMR, der die Werbung unter Art 10 EMRK subsumiert und nicht gänzlich vom Gewährleistungsinhalt der EMRK ausschließt, die kein Grundrecht der Berufsfreiheit kennt.61
56 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 131; ihm folgend Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 127. 57 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 15 GRCh Rn 20. 58 Wie hier Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (271), sowie – für das dt Verfassungsrecht – Hohmann, DÖV 2000, 406 ff. Daher im Ansatz korrekt: EuGH, Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder. 59 Schlussantr GA Fennelly zu EuGH, Rs C-376/98, Slg 2000, I-8419, Rn 152 ff – Tabakwerbung (der EuGH hat den grundrechtlichen Aspekt nicht aufgegriffen) = JK 2001, EGV Art 95/1; Jarass GRCh, Art 15 Rn 5; krit Hilf/Frahm, RIW 2001, 128 (133); Hatje Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 1993, S 62; Perau Werbeverbote im Gemeinschaftsrecht, 1997, S 269 f; aA Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 129 f – Umfassend zur Beurteilung der Wirtschaftswerbung Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S 464 ff. 60 BVerfGE 102, 347 (359 f). 61 Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 59 ff; Calliess, EuGRZ 1996, 293 ff.
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Keine schwerwiegenden Probleme ergeben sich im Verhältnis zum Unionsgrundrecht der Vereinigungsfreiheit, das in Art 12 GRCh gewährleistet ist und das der EuGH in Orientierung an Art 11 EMRK schon seit langem anerkennt.62 Grundrechtskollisionen zwischen der Berufsfreiheit des einen (zB Arbeitnehmer) und der Vereinigungsfreiheit des anderen (zB Arbeitgeber) sind auf der Rechtfertigungsebene auszutarieren. Bei der in begrenztem Maße zulässigen Ableitung von Schutzpflichten aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit ist zu berücksichtigen, dass die mit der Vereinigungsfreiheit verbundene Koalitionsfreiheit einen spezifischen Mechanismus zum Schutz von Arbeitnehmerrechten vorhält.63 17 Das Grundrecht der Berufsfreiheit ist schließlich als Freiheitsrecht neben unionsrechtlich gewährten Gleichheitsrechten anwendbar.64 Dies gilt für das spezielle Diskriminierungsverbot in Art 40 II AEUV65 ebenso wie für den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 20 GRCh; schon vorher als allgem Rechtsgrundsatz anerkannt).66 Das Konkurrenzverhältnis zu Art 18 AEUV richtet sich nach den für die Grundfreiheiten geltenden Grundsätzen (Rn 21 ff). Zu Art 157 AEUV und dem in dessen Zusammenhang ergangenen Sekundärrecht besteht kein echtes Konkurrenzverhältnis, weil Art 157 AEUV und die dazugehörigen Richtlinien keine Grundrechte ieS enthalten, sondern bes Vorgaben für die Ausgestaltung des mitgliedstaatlichen Rechts normieren, die unter bestimmten Voraussetzungen allerdings unmittelbare Wirkung entfalten. Gleiches gilt für Maßnahmen nach Art 19 AEUV, die vielmehr umgekehrt gemessen am Grundrecht der Berufsfreiheit verhältnismäßig sein müssen, um Bestand zu haben.67
62 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 79 – Bosman. 63 Fischinger in: Kiel/Lunk/Oetker (Hrsg), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band I: Individualarbeitsrecht I, § 7 Rn 28. 64 Jarass GRCh, Art 15 Rn 5. 65 EuGH, Rs 113/88, Slg 1989, 1991, Rn 19 – Leukhardt; Rs C-370/88, Slg 1990, I-4071, Rn 19 ff – Marshall; verb Rs C-143/88 u C-92/89, Slg 1991, I-415, Rn 66 ff – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Rs C177/90, Slg 1992, I-35, Rn 18 – Kühn; Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 64 ff – Deutschland/Rat. 66 EuGH, Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 30 ff – SMW Winzersekt; Rs C-44/94, Slg 1995, I-3115, Rn 44 ff – Fishermen’s Organisations; Rs C183/95, Slg 1997, I-4315, Rn 41 ff – Affish; verb Rs C-248/95 u C-249/95, Slg 1997, I-4475, Rn 50 ff – SAM Schiffahrt u Stapf; EuG, Rs T-521/93, Slg 1996, II-1707, Rn 41 ff, 59 ff – Atlanta. S bereits Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 36. 67 Auf dem Prüfstand stehen hier: RL 2000/43, ABl 2000, Nr L 180/22 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft; RL 2000/78, ABl 2000, Nr L 303/16 zur Festlegung eines allgem Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.
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cc) Vertrauensschutz Für den EuGH ist der Vertrauensschutz ein neben den Grundrechten geltender all- 18 gem Rechtsgrundsatz.68 Das Vertrauen auf eine bestehende Regelungsstruktur könnte aber auch innerhalb des Grundrechts der Berufsfreiheit bedeutsam sein.69 Insbesondere lehnt der EuGH ab, dass der einzelne Wirtschaftsteilnehmer auf den Fortbestand bestimmter Regelungen einer europäischen Marktordnung im Rahmen der GAP vertrauen kann, dass also einschneidende und verlustbringende Änderungen einer Marktordnung, die durch sie vorher gewährte Vorteile entziehen, als Eingriffe in die Berufsfreiheit zu bewerten sind.70 Die Unvereinbarkeit von planwirtschaftlich konzipierten Marktordnungen 19 einerseits und der Gewährleistung der Berufsfreiheit als Abwehrrecht andererseits wurde eingangs aufgezeigt. Sie lässt sich auf der Stufe des Schutzbereichs nur so verarbeiten, dass zur Berufsfreiheit auch berufliche Betätigung gezählt wird, die durch Marktordnungen erheblich beeinflusst oder sogar erst ermöglicht wird. Richten sich Wirtschaftssubjekte auf einem hochgradig regulierten Markt ein, so wird das Maß ihrer Berufsfreiheit auch durch die vorhandene Regelungsstruktur bestimmt.71 Dies ist nicht gleichzusetzen mit einem absoluten Bestandsschutz: Notwendige Reformen in der Agrarpolitik werden immer auch zu Eingriffen in wirtschaftliche Positionen führen, die dann über das hinter der jeweiligen Reform stehende Gemeinwohlziel gerechtfertigt werden müssen.72 Eine gänzlich andere Situation ist gegeben, wenn erhebliche Einbußen durch 20 die Einführung einer europäischen Marktordnung entstehen, wie dies 1993 auf dem Bananenmarkt der Fall war.73 Hier geht es nicht darum, dass Marktteilnehmer auf eine bestimmte Regelungsstruktur vertraut haben, sondern hier wird eine grds vorhandene Freiheit wirtschaftlicher Betätigung durch hoheitliche – gemeinschaftsrechtliche – Regelung genommen.74 Eine Minderung der Rechtsposition des
68 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 EUV Rn 27 . 69 Prüfung von Vertrauensschutz neben Berufsfreiheit: EuGH, Rs C-177/90, Slg 1992, I-35, Rn 13 ff – Kühn. 70 EuGH, Rs 230/78, Slg 1979, 2749, Rn 22 – Eridiania; verb Rs 133-136/85, Slg 1987, 2289, Rn 18 – Rau. 71 Ähnlich Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 19; Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (271 f, 275); Jarass GRCh, Art 16 Rn 16. Für Wirtschaftssubjekte außerhalb einer konkreten Marktordnung Hilf/Willms, EuGRZ 1989, 189 (191). 72 So auch Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 118. 73 So Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 22. And im Ausgangspunkt Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 117 f. 74 Daher prüft der EuGH auch einen Verstoß gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit: EuGH, Rs C280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 78 ff – Deutschland/Rat.
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Wirtschaftssubjekts ist allenfalls in der Abwägung auf Rechtfertigungsebene anzuerkennen, weil im Agrarsektor wegen Art 38 III AEUV mit Anh I stets mit einer hohen marktfernen Regulierungsdichte gerechnet werden muss.
c) Konkurrenzverhältnis zu den Grundfreiheiten 21 Die Grundfreiheiten, die in der Rspr des EuGH den Charakter von Beschränkungs-
verboten erhalten haben, wirken in diesem Sinne als besondere Berufsfreiheit der Marktbürger,75 so dass die Frage nach ihrem Verhältnis zum allgem Grundrecht der Berufsfreiheit aufgeworfen wird. Dieses Verhältnis kann sich nicht nach dem Adressaten beurteilen, denn anerkanntermaßen können beim gegenwärtig erreichten Stand des Unionsrechts sowohl die Mitgliedstaaten Verpflichtete der Unionsgrundrechte76 als auch die Union Verpflichtete der Grundfreiheiten sein (→ Ehlers/ Germelmann § 12 Rn 74).77 Die Konkurrenz zwischen beiden Gewährleistungsformen ergibt sich vielmehr aus dem überragenden Gewicht des Binnenmarktziels für das gesamte Unionsrecht. Zur Herstellung grenzüberschreitender Privatautonomie sind die Grundfreiheiten lex specialis.78 Dies muss auch dann gelten, wenn man der im Schrifttum vertretenen Auffassung folgt, die die Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte ansieht.79 Das Ziel der Gewährleistung, Hindernisse in den grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen abzubauen, ändert sich durch diesen Perspektivenwechsel im Grundsatz nicht. 22 Der Befund einer Spezialität der Grundfreiheiten vor dem Grundrecht der Berufsfreiheit gibt den gegenwärtigen Stand der europ Rechtsordnung wieder. Entspr greift Art 15 II der Charta die einschlägigen Grundfreiheiten auf.80 Ohne die Grund75 S EuGH, Rs 222/86, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens. Explizit Pernice Grundrechtsgehalte im Gemeinschaftsrecht, 1979, S 174 f; Riegel, AöR 102 (1977), 410 (430 ff). Zu weitgehend Borrmann Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S 29 ff: Identität von Grundfreiheiten und Berufsfreiheit. 76 Für die Berufsfreiheit EuGH, Rs C-63/93, Slg 1996, I-569, Rn 28 ff – Duff. 77 Grundl Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995. Zu Einzelnachweisen in der Rspr des EuGH und in Schlussantr der Generalanwälte s Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 93 f. 78 Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 104. AA Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 66: Grundfreiheiten als Zusatzgarantie zur Freizügigkeit. Ähnlich auch EuGH, Urt v 30.4.2014, Rs C-390/12, Rn 57–60 – Pfleger, dazu Ruffert, JuS 2014, 662. 79 Explizit Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; differenzierend hingegen Hoffmann Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, S 29 ff. 80 Entgegen Grabenwarter, DVBl 2001, 1 (5) sollte aus dem Wortlaut kein Verzicht auf einen grenzüberschreitenden Bezug hergeleitet werden; gemeint sind die Grundfreiheiten des AEUV (vorher:
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freiheiten und die ihnen durch den EuGH über Anwendungsvorrang und unmittelbare Wirkung verliehene Dynamik wäre die Integration nicht erreichbar gewesen. Auf einem höheren Integrationsstand ist es denkbar, die Grundfreiheiten durch eine allgem Berufsfreiheit zu substituieren, so dass Eingriffe in grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeit nur eine besondere Form von Eingriffen in die Berufsfreiheit wären. Dann müsste die Berufsfreiheit jedoch ähnlich sicheren Schutz bereithalten wie gegenwärtig die Grundfreiheiten, und auch die Sicht auf den Verbund von unionaler und mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt würde sich grundlegend ändern. Lösung Fall 1: Die Produktion von Margarine ist eine wirtschaftliche Betätigung, so dass der Schutzbereich der Berufsfreiheit in der besonderen Ausprägung der Unternehmensfreiheit eröffnet ist. Der EuGH sieht zwar wirtschaftliche Positionen, die den Wirtschaftssubjekten aus einer Marktorganisation erwachsen, nicht als geschützt an. Zum Schutz der Berufsfreiheit von Unternehmen, die sich auf die GAP einrichten, sollte diese Argumentation jedoch aufgegeben und geprüft werden, ob die Beeinträchtigung des Schutzbereichs durch das Ziel der Maßnahme – hier: Untersuchung der Wirkungen einer bestimmten Vermarktungsform – gerechtfertigt ist.
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3. Persönlicher Schutzbereich a) Unionsbürger Alle Unionsbürger sind Träger des Grundrechts der Berufsfreiheit. Die Charta stellt 24 klar, dass der gemeineuropäische Bestand nicht zwischen selbständiger und unselbständiger Tätigkeit differenziert, auch wenn die Berufsfreiheit in einigen Mitgliedstaaten nur auf Selbständige bezogen ist und der EuGH sich bislang nur zur selbständigen Betätigung geäußert hat.81 Schon die Existenz der Arbeitnehmerfreizügigkeit bringt den grundsätzlichen Schutz nichtselbständiger Tätigkeit im Unionsrecht unzweifelhaft zum Ausdruck. Allein Angehörige des Öffentlichen Dienstes, die unter die Bereichsausnahmen der Art 45 IV, 51 mit 62 AEUV fallen, sind in Ermangelung einer Unionszuständigkeit aus dem persönlichen Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Grundrechts der Berufsfreiheit ausgenommen.82
EGV) mit den entsprechenden Voraussetzungen, vgl die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONVENT 49 vom 11.10.2000, Dok Charte 4473/00, 17. 81 Wie hier Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 111; Jarass GRCh, Art 15 Rn 6. 82 Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 344; Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 120. Matthias Ruffert
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b) Juristische Personen 25 Der Blick in die Charta zeigt auch, dass es fernliegend wäre, juristische Personen des Privatrechts aus dem persönlichen Schutzbereich des Grundrechts der Berufsfreiheit herauszunehmen, denn die unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) muss auch Personen- und Kapitalgesellschaften gewährt werden, um sich als sinnvolle Gewährleistung darzustellen. In der Rspr des EuGH steht diese Erkenntnis außer Frage83. 26 Was juristische Personen betrifft, die in engem Bezug zu einem Hoheitsträger – im dt Recht: juristische Personen des öffentlichen Rechts – stehen, so ist die Betrachtung zu differenzieren. Das die Grundrechtsberechtigung ausschließende „Konfusionsargument“ (kein Ineinsfallen von Grundrechtsträger und Grundrechtsverpflichtetem) gilt jedenfalls dann eindeutig, wenn es um eine durch die Union konstituierte rechtsfähige Einheit geht (zB eine selbständige Agentur84). Handelt es sich um eine juristische Person, hinter der mitgliedstaatliche Hoheitsgewalt steht, so ist zu beachten, dass durch die Gewährleistung von Grundrechtspositionen das Kompetenzgefüge zwischen Union und Mitgliedstaaten nicht vertragswidrig verschoben werden darf. Die Grundrechtsberechtigung lässt sich daher kaum begründen. Dies gilt auch für staatliche oder staatlich dominierte gemischt-wirtschaftliche Unternehmen, damit die präzisen primärrechtlichen Vorgaben (Art 14, 101–102, 106, 107–109 AEUV) nicht durch ein ungeschriebenes Freiheitsrecht überspielt werden.85
c) Drittstaatsangehörige (einschließlich juristischer Personen) 27 Im persönlichen Schutzbereich ist schließlich die Zuordnung von Drittstaatsange-
hörigen fraglich, insb, wenn man aus der Perspektive des dt Verfassungsrechts argumentiert, das die Berufsfreiheit nur als Deutschengrundrecht gewährleistet und Ausländer auf die allgem Handlungsfreiheit verweist.86 Die Antwort auf diese – in der Praxis der EuGH-Rspr bislang kaum relevant gewordene – Streitfrage enthält
83 Umfassend Sasse, EuR 2012, 628. 84 Zur Kompetenz der EU für ihre Errichtung Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 EUV Rn 47 ff. 85 AA Notthoff Novellierungsversuche des Energiewirtschaftsrechts vor dem Hintergrund grundrechtlicher Normen, 1994, S 241 ff; Tettinger FS Börner, 1992, S 625 (637 ff); Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 122 f; Schwarze in: ders, EUKomm, Art 16 GRCh Rn 4; wohl auch Bleckmann/Pieper HdbEU-WirtschR Bd I, Rn 152 f. Das Argument der Gleichbehandlung im Wettbewerb trägt aufgrund der besonderen öffentlich-rechtlichen Bindungen öffentlicher und gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen nicht. 86 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 15 GRCh Rn 9, ähnlich Borchardt in: Lenz/ders, EUV/ EGV, Art 220 EGV Rn 33. AA Bleckmann/Pieper HbEUWirtschR Bd I, Rn 154 mwN. Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 verweisen das Problem auf die Schrankenebene.
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Art 15 III GRCh:87 Staatsangehörige dritter Länder haben grds keinen unbegrenzt freien Zugang zum Binnenmarkt kraft Primärrechts oder einer Regelung der Charta.88 Dies ist völkerrechtskonform, denn das GATS gewährt Marktzugang gemäß Art XVI nur über ein System sektorspezifischer Positivlisten.89 Wenn Drittstaatsangehörige aber „im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen“, so haben sie die gleichen Ansprüche wie Unionsbürger.90 Die Trennungslinie zwischen Grundrechtsberechtigung und ihrer Abwesenheit verläuft also nicht an der Außengrenze der Union, sondern zeichnet die Legalität der wirtschaftlichen Betätigung im Unionsgebiet nach.91 Dieses Konzept durchbricht möglicherweise entgegenstehende mitgliedstaatliche Traditionen, zumal es allein um das Unionsgrundrecht der Berufsfreiheit geht, das zuvörderst die Union, die Mitgliedstaaten jedoch nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts bindet.
II. Beeinträchtigung Fall 2: (EuGH, Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555 ff – SMW Winzersekt)
Theo Trierweiler (T) ist Moselwinzer und stellt Sekt nach der „méthode champenoise“ her, dh, der Grundwein wird in der Flasche durch manuelles Rütteln versektet. Diese Methode ist aufwendiger als andere (zB die Versektung in Tanks), so dass T auf das Etikett den Hinweis „méthode champenoise“ aufdrucken lässt. Eine Ratsverordnung verbietet die Verwendung dieser Bezeichnung für Schaumwein, der nicht aus der Champagne (Frankreich) kommt. T sieht hierin einen Eingriff in seine Berufsfreiheit.
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Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit sind zunächst durch normative Regelungen 29 möglich. Dabei sollte darauf verzichtet werden, die für das dt Verfassungsrecht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf das Unionsrecht zu übertragen.92 Der EuGH hat den Unterschied zwischen Regelungen der Berufswahl und solchen der Berufsaus-
87 S bereits Art 153 I lit g AEUV (Amsterdam: Art 137 III, 4. Spstr EGV, Nizza: Art 137 I lit g EGV); dazu Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 153 AEUV Rn 21; Jarass GRCh, Art 15 Rn 9. Krit zu den Erläuterungen des Präsidiums in diesem Zusammenhang Folz in: Vedder/Heintschel von Heinegg EUV/ AEUV/GRCh/EAGV Art 15 GRCh Rn 10. 88 Jarass GRCh, Art 15 Rn 29 f, sieht in Abs 3 eine selbständige Verbürgung. 89 S Art XVI ff GATS (ABl 1994 Nr L 336/184); dazu Koehler Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), 1999, S 116 ff. 90 Erläuterungen des Präsidiums zu Art 15 III; Jarass GRCh, Art 15 Rn 30 f. 91 Noch weitergehend Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 123 ff. 92 So aber Notthoff, RIW 1995, 541 (543).
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übung nur angedeutet.93 Losgelöst von der dt Grundrechtsdogmatik kann man unterschiedlich starken Eingriffen in die Berufsfreiheit durch eine differenzierte Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung tragen, die auch beachtet, inwieweit der Grundrechtsträger von der Ausübung eines bestimmten Berufes gänzlich ausgeschlossen wird. Das Drei-Stufen-Konzept mag auf diese Weise eine heuristische Funktion entfalten, jedoch keine dogmatischen Kategorien zwingend vorgeben. Normative Regelungen können auch mittelbar beeinträchtigend wirken – was für die Aktivierung des Rechtfertigungszwanges hinreichend ist94 – wenn sie beispielsweise die Wettbewerbsposition eines Wirtschaftssubjekts verschlechtern. 30 Auf dieser Grundlage sind auch nicht-normative Eingriffe denkbar, wie zB die Zahlung von Subventionen an Konkurrenten oder von Unionsorganen ausgesprochene Warnungen und Empfehlungen. Außerdem könnte durch unionsrechtlich veranlasste Konkurrenz öffentlicher Unternehmen (s Art 14 AEUV: Zugang zu Dienstleistungen von allgem wirtschaftlichen Interesse) in die Berufsfreiheit von privaten Wirtschaftssubjekten eingegriffen werden. Solcherlei Eingriffe haben allerdings die Rspr bislang noch nicht beschäftigt, weil das normativ hochgradig verdichtete Agrarrecht die Problemfälle dominiert. Schließlich ist die Unterscheidung von unmittelbaren und mittelbaren Eingriffen so wenig ergiebig, dass sie nicht vertieft werden sollte. Jede Beeinträchtigung, auch die nicht „berufsspezifische“, ist rechtfertigungsbedürftig.
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Lösung Fall 2: Herstellung und Vermarktung von Sekt ist eine wirtschaftliche Betätigung, die unter das Grundrecht der Berufsfreiheit fällt. Verpflichtungen zur Gestaltung des Etiketts greifen in die Freiheit der Berufsausübung ein, weil sie die Vermarktung des Sekts einschränkend regeln. Die Verpflichtung ist jedoch nicht unverhältnismäßig: Sie dient dem Verbraucherschutz, und es ist nicht ersichtlich, dass der Rat im Rahmen seines Rechtsetzungsermessens ein milderes Mittel zum Verbraucherschutz übersehen hätte. Der Wesensgehalt der Berufsfreiheit ist nicht berührt, da der Bestand der Berufsausübung erhalten bleibt.
93 EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 32 – Hauer; Rs 116/82, Slg 1986, 2519, Rn 27 – Kommission/ Deutschland; Rs 234/85, Slg 1986, 2897, Rn 9 – Keller; Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 24 – SMW Winzersekt. Zu weitgehend daher Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (271); Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, S 345 ff, und – in der Tendenz – Bleckmann/Pieper in: HdbEUWirtschR B I, Rn 98; wie hier hingegen: Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 112 f. 94 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 15 GRCh Rn 10 aE; Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 113 ff.
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III. Rechtfertigung Fall 3: (EuGH, Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953 ff – Metronome Musik)
Art 1 I der RL 2006/115 (ABl 2006 Nr L 376/28; im Ausgangsfall: RL 92/100, ABl 1992 Nr L 346/6) verpflichtet die Mitgliedstaaten, zugunsten des Inhabers des Urheberrechts das Recht vorzusehen, die Vermietung und das Verleihen von Originalen und Vervielfältigungsstücken urheberrechtlich geschützter Werke zu verbieten. Die Richtlinie ist in Deutschland ordnungsgemäß umgesetzt. Die „Metronome Musik GmbH“ ist Plattenfirma der Gruppe „Die Ärzte“ und beantragt vor dem zuständigen Landgericht, der „Music Point Hokamp GmbH“, die CDs gewerblich vermietet, im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die CD „Planet Punk“ zu vermieten. Die „Music Point Hokamp GmbH“ macht im Vorlageverfahren eine Verletzung ihrer Berufsfreiheit geltend.
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Fall 4: (EuGH, Urt v 22.1.2013, Rs C-283/11, Rn 41 ff – Sky Österreich = JK 2014, AEUV Art 267/11)
BolzplatzTV (B) ist ein privates PayTV-Unternehmen, das im Mitgliedstaat M die Exklusivrechte für die Ausstrahlung der Champions-League innehat. B schließt mit dem Staatsfernsehen von M einen Vertrag, der dem Staatsfernsehen die Kurzberichterstattung gegen Entgelt (€ 700/Minute) einräumt. Auf diese Weise können in Nachrichtensendungen kurze Ausschnitte aus Fußballspielen gezeigt werden. Nach einem Jahr tritt eine Richtlinie in Kraft und wird von M umgesetzt, die den Inhabern von Exklusivübertragungsrechten auferlegt, die unentgeltliche Kurzberichterstattung zu ermöglichen. B macht ua ihre unternehmerische Freiheit geltend. Das zuständige mitgliedstaatliche Gericht legt die Sache dem EuGH vor, weil es die betreffende Richtlinie für nicht unionsrechtskonform hält.
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1. Schranken der Berufsfreiheit Schranken der Berufsfreiheit lassen sich im inhaltlichen Einklang mit der Rspr des 33 EuGH aus der Gesamtschau der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, der EMRK sowie der GRCh (Art 52 I) formulieren. Danach sind Einschränkungen zulässig, wenn sie sich auf eine gesetzliche Regelung stützen können, dem Gemeinwohl (einschließlich der Rechte anderer) entsprechen, verhältnismäßig sind und den Wesensgehalt der Berufsfreiheit nicht beeinträchtigen.95
95 EuGH, Rs 234/85, Slg 1986, 2897, Rn 8 – Keller; Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Rs C-370/ 88, Slg 1990, I-4071, Rn 27 – Marshall; verb Rs C-143/88 u C-92/89, Slg 1991, I-415, Rn 73 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Rs C-177/90, Slg 1992, I-35, Rn 16 – Kühn; Rs C280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat; Rs C-44/94, Slg 1995, I-3115, Rn 55 – Fishermen’s Organisations; Rs C-183/95, Slg 1997, I4315, Rn 42 – Affish; verb Rs C-248/95 u C-249/95, Slg 1997, I-4475, Rn 72 – SAM Schiffahrt u Stapf; Rs C200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; EuG, Rs T-113/96, Slg 1998, II-125, Rn 74 – Dubois et Fils; EuGH, verb Rs C-154/04 u C-155/04, Slg 2005, I-6451 ff – Alliance for Natural Health (Nahrungsergänzungsmittel); verb Rs C-184/02 u C-223/02, Slg 2004, I-7789, Rn 51 ff – Spanien u Finnland/Par
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Der generelle Verweis auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Art 16 hat die Frage aufgeworfen, ob die unternehmerische Freiheit anders bzw leichter einzuschränken sei als die Berufsfreiheit in Art 15 bzw als andere Freiheiten des Titels II der GRCh. Die komplexe Genese des Art 16 im Konvent spiegelt wider, dass sich dort, kaum überraschend, das politische Konfliktpotential der Gewährleistung unternehmerischer Freiheit etwa im Verhältnis zu Arbeitnehmerrechten in unterschiedlichen Positionen manifestiert hat. Zwischenzeitlich sollte die unternehmerische Freiheit unter den Grundsätzen des Titels IV verortet werden, erfuhr den dort gängigeren Verweis (s Art 27, 30, 34–36), wurde dann aber einschließlich des Verweises schlussendlich in Titel II normiert.96 Niederschlag hat die Debatte auch in einer merkwürdigen Formulierung in den Erläuterungen des Präsidiums gefunden: Die unternehmerische Freiheit werde „natürlich“ unter Einhaltung des Unions- und mitgliedstaatlichen Rechts ausgeübt.97 Ein solcher Entstehungshintergrund lässt sich von der Rechtsprechung nicht durchweg konsistent verarbeiten.98 Der Verweis des Gerichtshofs auf die gesellschaftliche Funktion der unternehmerischen Freiheit, aber auch der Berufsfreiheit99 und die Wortlautparallele zu Bestimmungen des Titels IV100 wird vereinzelt tatsächlich als Einschränkung der unternehmerischen Freiheit schon im Tatbestand verstanden.101 Überwiegend gelingt es jedoch, die legitimen Überlegungen zur (sozial-)politischen Gestaltungsfreiheit der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber der allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprüfung in Art 52 I zuzuordnen.102 Teilweise kommt auch die
lament u Rat; verb Rs C37/02 u C-38/02, Slg 2004, I-6911, Rn 82 ff – Di Lenardo. S bereits Rs 4-73, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold. 96 Die Entstehungsgeschichte wird ausführlich dokumentiert bei Michl Unionsgrundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, S 234 ff. 97 Erläuterung des Präsidiums zu Art 16. S Rengeling/Szczekalla GR, § 20, Rn 796. 98 Michl Unionsgrundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, S 251, meint gar, die Rechtsprechung gebe „aus dogmatischer Sicht ein desaströses Bild ab“; sei im Einzelfall gar „wirr“. 99 EuGH, Urt v 6.12.2012, Rs C-544/10, Rn 54 – Deutsches Weintor; EuGH, Urt v 31.1.2013, Rs C-12/11, Rn 60 – McDonagh; Urt v 22.1.2013, Rs C-283/11, Rn 46 – Sky Österreich. 100 EuGH, Urt v 28.11.2013, Rs C-348/12 P, Rn 123 – Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft. 101 Namentlich Schlussantr GA Bobek v 16.3.2016 zu EuGH, Rs C-134/15, Rn 23 – Lidl. 102 S vor allem EuGH, Urt v 22.1.2013, Rs C-283/11, Rn 47 ff – Sky Österreich, sowie auch Urt v 16.2.2012, Rs C-360/10, Rn 44 – SABAM; Urt v 17.10.2013, Rs C-101/12, Rn 27 ff – Schaible; Urt v 27.3.2014, Rs C-314/12, Rn 47 ff – UPC Telekabel Wien, allerdings ohne expliziten Rückgriff auf Art 52 I; Urt v 4.5.2016, Rs C-477/14, Rn 157 ff – Pillbox 38; Urt v 23.11.2016, Rs C-442/14, Rn 98 f – Bayer CropScience; Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15, Rn 82 ff – AGET; Urt v 26.10.2017, Rs C-534/16, Rn 36 ff – Finančné riaditeľstvo Slovenskej republiky; Urt v 20.12.2017, Rs C-277/16, Rn 51 – Polkomtel; Urt v 8.2.2018, Rs C380/16, Rn 65 – Kommission/Deutschland; Urt v 12.7.2018, Rs C-540/16, Rn 38, 40 u 51 – Spika.
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§ 6.1 Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit
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Wesensgehaltsgarantie des Art 16 zum Tragen (su Rn 37).103 Anders ließe sich auch kaum verarbeiten, dass Art 16 sich ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums auch auf Art 119 I und III AEUV (offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb) stützen soll. Weil die EU als Grundrechtsadressatin weder mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften setzen noch auf einzelstaatliche Gepflogenheiten rekurrieren kann, steht in der gesamten Debatte ohnehin die mitgliedstaatliche Bindung über Art 51 I im Mittelpunkt.
2. Anforderungen an eine unionsrechtskonforme Beschränkung der Berufsfreiheit a) Rechtsgrundlage Beschränkungen des Grundrechts der Berufsfreiheit bedürfen einer Rechtsgrund- 35 lage (Art 52 I 1 GRCh).104 Dieses grundrechtsspezifische Erfordernis berührt das kompetenzorientierte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.105 Es ist bislang in der Rspr noch nicht ausdrücklich aufgegriffen worden, weil in keinem Fall Eingriffe ohne Rechtsgrundlage vorgenommen wurden.106 Unionsrecht muss generell so ausgelegt werden, dass es die Berufsfreiheit nicht beeinträchtigt.107
b) Verwirklichung des Gemeinwohls Das Gemeinwohlerfordernis füllt der EuGH in früheren Fallgestaltungen über- 36 wiegend mit den Zielen der GAP (Art 39 I AEUV) aus. Auch im Übrigen ist eine strikte Orientierung an eindeutig normierten Unionszielen (Art 3 EUV) oder anderen unionsrechtlichen Normen angezeigt.108 Dient eine Regelung einem Unionschaftsziel nicht, obwohl die Unionsorgane dies vorgeben, so verstößt sie deswegen gegen die Berufsfreiheit.109 Hinzu treten völkerrechtliche Verpflichtungen der
103 Wie hier Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 797; Jarass/Kment GR § 21 Rn 17; Wollenschläger in: GSH, EU-Recht, Art 16 GRCh Rn 1. Anders Cloppenburg Erwerbsgrundrechte im Unionsrecht, S 197 ff. 104 EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst; Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (272). 105 Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 186. Umfassend Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007. 106 Vgl Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 185 f. 107 EuGH, verb Rs C-90/90 u C-91/90, Slg 1991, I-3617, Rn 12 – Neu. 108 EuGH, Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 23 – Metronome Musik: Art 30, 151 EGV (Art 36, 167 AEUV); Tendenziell enger Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 197. 109 Schlussantr GA Fennelly zu EuGH, Rs C-376/98, Slg 2000, I-8419, Rn 151 – Tabakwerbung.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Union.110 Grundrechte anderer, die durch die GRCh (früher als allgem Rechtsgrundsätze) gewährleistet sind, können nur im Rahmen einer bestehenden Unionskompetenz geschützt werden (vgl → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 130). Gemeinwohlbelange, die sich nur aus der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung ergeben, vermögen ein Handeln der Unionsorgane nicht zu rechtfertigen und können daher nur im Bereich der Bindung der Mitgliedstaaten Wirkungen entfalten.111 Missverständlich ist die vom EuGH verwendete Formulierung, wonach sich die Beschränkung der Berufsfreiheit aus ihrer gesellschaftlichen Funktion ergebe.112 Daran ist allein richtig, dass kein Grundrecht in seiner Ausübung losgelöst von den Rechten anderer, von der gesamten Rechtsordnung und von der Verfolgung legitimer (gesellschafts-)politischer Ziele gewährleistet werden kann. Unzutreffend wäre es, die Berufsfreiheit in eine „dienende Freiheit“ zu verwandeln, die nur im gesellschaftlich erwünschten Sinne ausgeübt werden könnte.113
c) Wesensgehaltsgarantie 37 Äußerste Grenze für Beschränkungen des Grundrechts der Berufsfreiheit ist dessen
Wesensgehalt (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 132). Diese Schranken-Schranke ist bereits in der ständigen Rechtsprechung des EuGH etabliert114 und hat – für alle Grundrechte – Eingang in die Grundrechts-Charta gefunden (Art 52 I 1 GRCh). Um der Wesensgehaltsgarantie eine eigenständige Bedeutung zu erhalten, wie sie nicht zuletzt in der Charta ihren Ausdruck findet, ist sie vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz getrennt zu prüfen. In der neueren Rspr des EuGH gibt es punktuell Anhaltspunkte für einen spezifischen Wesensgehalt des Art 16.115 Durchgesetzt hat sich dies nicht. 110 EuGH, Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 25 – Metronome Musik. 111 Zurückhaltend wie hier auch Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 190 f; Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 23 f, differenziert zwischen mitgliedstaatlichen und gemeinschaftlichen Gemeinwohlzielen, geht aber auf den Kompetenzaspekt nicht ein. 112 EuGH, Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Rs C-177/90, Slg 1992, I-35, Rn 16 – Kühn; Rs C280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat; Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 22 – SMW Winzersekt; Rs C-183/95, Slg 1997, I-4315, Rn 42 – Affish; verb Rs C-248/95 u C-249/95, Slg 1997, I-4475, Rn 72 – SAM Schiffahrt u Stapf; Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; verb Rs C-37/02 u C38/02, Slg 2004, I6911, Rn 82 – Di Lenardo; verb Rs C-184/02 u C-223/02, Slg 2004, I-7789, Rn 52 – Spanien u Finnland/Parlament u Rat; EuG, Rs T-113/96, Slg 1998, II125, Rn 74 – Dubois et Fils. S bereits EuGH, Rs 4-73, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold; Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 32 – Hauer. 113 Zu weitgehend Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 195. Wie hier bereits Meier, DVBl 1974, 674 ff. 114 S o Fn 95. 115 EuGH, Urt v 6.12.2012, Rs C-544/10, Rn 54 ff – Deutsches Weintor; ausf Michl Unionsgrundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, S 242 ff zu den anderen Sprachfassungen des Urteils.
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d) Verhältnismäßigkeitsprüfung Bereits in der Rspr des EuGH entfaltet sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip so- 38 wohl als eigenständiges Prinzip als auch als Grundsatz im Rahmen der Grundrechtsschranken.116 Nunmehr ist es in Art 52 I 2 GRCh ausdrücklich als SchrankenSchranke verankert. Im Zusammenhang mit der Berufsfreiheit ist auf dieser Ebene eine Verhältnismäßigkeitsprüfung geboten und wird grds vom EuGH vorgenommen.117 Maßstäbe sind das Grundrecht der Berufsfreiheit auf der einen und der die Beschränkung rechtfertigende Grundsatz auf der anderen Seite. Die Prüfung folgt dem überkommenen dreigliedrigen Schema Geeignetheit-Erforderlichkeit-Angemessenheit.118 Innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann die geringere Eingriffsschwere von Ausübungsregelungen – verglichen mit Berufswahlbeschränkungen – berücksichtigt werden, ohne dass man die dt Grundrechtsdogmatik dem Unionsrecht überstülpen müsste. Auch bei der unternehmerischen Freiheit steht die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Mittelpunkt (so Rn 34). In dem Bestreben, Regelungen der GAP aufrechtzuerhalten, die strukturell im 39 Gegensatz zu freier wirtschaftlicher Betätigung und damit zum Grundrecht der Berufsfreiheit stehen (Rn 1 ff), hat der EuGH den potentiellen Verstoß gegen das Grundrecht oft nur kursorisch geprüft und das individuelle, hinter dem Grundrechtsschutz stehende Interesse häufig nicht ausreichend berücksichtigt.119 Besonders eklatante Defizite offenbaren sich auf der Ebene der Kontrolldichte. Der EuGH erkennt den Unionsorganen einen grundsätzlich weiten Ermessens- und Prognosespielraum zu, dessen Weite im Rahmen wirtschaftspolitischer Maßnahmen, insbes solchen der GAP, besonders hervorgehoben wird.120 Nach diesem Kontrolldichtemaßstab können nur offensichtlich ungeeignete121 oder eindeutig nicht erforderliche122 Beschränkungen als unionsrechtswidrig gekennzeichnet werden,
116 Miteinander verbunden in EuGH, Rs C-44/94, Slg 1995, I-3115, Rn 55 ff – Fishermen’s Organisations; Rs C-183/95, Slg 1997, I-4315, Rn 29 ff – Affish. Vgl Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, 399 ff; Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (273). 117 S zB EuGH, Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 18 – Schräder; verb Rs C-143/88 u C-92/89, Slg 1991, I-415, Rn 76 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Rs C-84/95, Slg 1996, I-3953, Rn 23 ff – Bosphorus. 118 Jarass/Kment GR § 20 Rn 15. 119 ZB EuGH, Rs C-63/93, Slg 1996, I-569, Rn 30 – Duff; Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 26 f; Pernice in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 164 EGV Rn 62b. 120 EuGH, Rs 113/88, Slg 1989, 1991, Rn 19 – Leukhardt; Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 89 ff – Deutschland/Rat; Rs C-306/93, Slg 1994, I5555, Rn 21 – SMW Winzersekt. Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 15 GRCh Rn 5, spricht von einem fast schrankenlosen Ermessen. 121 EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 94 – Deutschland/Rat; Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 22 – SMW Winzersekt. 122 EuGH, Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 27 – SMW Winzersekt.
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was bislang noch in keinem Fall aus der Rspr zur Berufsfreiheit vorgekommen ist. Dieser weite Spielraum soll sogar für mitgliedstaatliche Behörden gelten, wenn diese in den Vollzug des Unionsrechts einbezogen sind.123 40 Die deutliche Kritik an dieser Weite des Ermessens- und Prognosespielraums, wie sie vor allem im Anschluss an das Bananenmarkturteil124, aber auch an andere Entscheidungen, formuliert wurde,125 ist nicht unberechtigt. Die Kontrolldichte darf nicht in einer Weise reduziert werden, die dazu führt, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung ins Leere geht. Letztlich nimmt der Gerichtshof hier ein Rechtsschutzkonzept auf, das sich vornehmlich am Erhalt einer funktionsfähigen Verwaltung ohne übermäßige gerichtliche Einmischung orientiert.126 Die Festlegung der Kontrolldichte ist nicht mit Hilfe abstrakter, allgemeingültiger Formeln möglich. Der Evidenzmaßstab ist jedoch durch eine Kontrolle zu ersetzen, die an den Unionsgesetzgeber differenzierte Anforderungen der Plausibilität und konsistenten Begründung stellt. In diesen Kontext gehört auch die Einbeziehung von Härtefallregelungen auf der Ebene der Erforderlichkeit, wie sie der Gerichtshof bereits vollzieht.127 Die Gleichwertigkeit des Grundrechtsschutzes auf Unionsebene im Verhältnis zum Grundrechtsschutz auf der Ebene des GG ist nur deswegen gewahrt, weil auch das BVerfG dem Gesetzgeber im wirtschaftsrechtlichen Bereich einen erheblichen Gestaltungsspielraum gewährt.128
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Lösung Fall 3: Die gewerbliche Vermietung von CDs ist eine wirtschaftliche Betätigung im Schutzbereich des Grundrechts der Berufsfreiheit. Wird ihr Verbot kraft Gemeinschaftsrechts angeordnet, so beeinträchtigen die handelnden Gemeinschaftsorgane den Schutzbereich. Dies gilt auch, wenn sich das Verbot aus Richtlinienrecht ergibt, sofern dieses das mitgliedstaatliche Recht – wie im vorliegenden Fall – mit hinreichender Bestimmtheit vorzeichnet, so dass der Verstoß nicht dem Mitgliedstaat allein zugerechnet werden kann. Die Beeinträchtigung lässt sich jedoch unter Rückgriff auf das Gemeinwohlerfordernis des Schutzes geistigen Eigentums rechtfertigen. Dieses Gemeinwohlerfordernis findet
123 EuGH, Rs C-44/94, Slg 1995, I-3115, Rn 57 f – Fishermen’s Organisations. 124 EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat. 125 Berrisch, EuR 1994, 461 (466 ff); Everling, CMLRev 33 (1996), 401 (419 f); ders ZHR 162 (1998), 403 (417 ff); Heitsch, EuGRZ 1997, 461 (467); Hohmann, EWS 1995, 381 ff; Huber EuZW 1997, 517 (521); Kokott AöR 121 (1996), 599 (607 f); Nettesheim, EuZW 1995, 106 ff; Pauly, EuR 1998, 242 (256 ff); Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (273 f); Stein, EuZW 1998, 262 ff; Storr, Der Staat 36 (1997), 546 (565 ff). And in der Beurteilung Dony, CDE 1995, 461 (486, 491). 126 Breuer, VVDStRL 61 (2002), 430. 127 EuGH, Rs C-68/95, Slg 1996, I-6065, Rn 26 ff – T. Port = JK 98, EGV Art 189/2; dazu Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S 211 f. 128 Classen, JZ 1997, 454 (455); Heitsch, EuGRZ 1997, 461 (467 f); Zuleeg, NJW 1997, 1201 (1203). Hier handelt es sich um ein gemeineuropäisches Phänomen: s o Fn 29, sowie Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S 227 ff.
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seine Verankerung in Art 36 AEUV sowie auch in Art 167 II 4. Spstr AEUV, der die Förderung künstlerischen Schaffens vorsieht. Auch völkerrechtliche Verpflichtungen der Gemeinschaft aus dem TRIPS stützen die rechtfertigende Argumentation. Angesichts der offensichtlichen Gefahr des unberechtigten Kopierens ist die Regelung nicht unverhältnismäßig, und weil eine Lizenz zum Vermieten mit dem Schutzrechtsinhaber ausgehandelt werden kann, ist auch nicht jede Möglichkeit der Vermietung ausgeschlossen, die Wesensgehaltsgarantie also nicht verletzt.
Lösung Fall 4: Zur unternehmerischen Freiheit gehören die Vertragsfreiheit und die freie Wahl des Geschäftspartners, ferner die Freiheit, einen Preis für gewerbliche Leistungen festzulegen. In diese Elemente der unternehmerischen Freiheit greift die Richtlinie ein. Art 52 I ermöglicht jedoch die Rechtfertigung des Eingriffs. Der Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit wird nicht angetastet, denn sie bleibt als solche weiter möglich – einschließlich der entgeltlichen Übertragung des betreffenden Sportereignisses oder der Veräußerung der Rechte an ein anderes Unternehmen, zB an einen anderen Fernsehveranstalter. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann das öffentliche Interesse an Sportereignissen aufgrund des Schutzes durch Art 11 I und II – Informationsfreiheit und Medienpluralität – der unternehmerischen Freiheit als legitimes Ziel im Allgemeininteresse entgegengehalten werden. Zur Erreichung dieses Ziels ist das Gebot der kostenfreien Kurzberichterstattung geeignet, denn jedem Fernsehveranstalter ist diese ohne besondere Marktmacht und Finanzkraft erlaubt. Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung wäre eine Kostenbeteiligung der Fernsehveranstalter, die Kurzberichte senden, denkbar gewesen, jedoch wäre dadurch das erstrebte Ziel nicht gleichermaßen erreichbar gewesen, denn im Einzelfall könnte sich eine Kostenerstattung als Hindernis für den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen erweisen. Jedenfalls lag es im Entscheidungsspielraum des Unionsgesetzgebers, die Erforderlichkeit in dieser Weise zu beurteilen und die kollidierenden Rechte entsprechend zu gewichten. Außerdem ist die Kurzberichterstattung durch bestimmte Anforderungen begrenzt (zB durch die Begrenzung der Kurzberichterstattung auf allgemeine Nachrichtensendungen, die Beschränkung auf maximal 90 Sekunden sowie die Quellenangabe mit entsprechender Werbewirkung für den Rechteinhaber), wodurch die Interessen des Rechteinhabers geschützt werden.
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IV. Exkurs: Von der berufsbezogenen Bildung zum Grundrecht auf Bildung129 Über den Zugang zu beruflicher Aus- und Weiterbildung hinaus gewährleistet 43 Art 14 I GRCh ein Recht auf Bildung und bezieht damit auch den schulischen Unterricht ein.130 Der Pflichtschulunterricht muss zudem nach der ausdrücklichen Regelung in Abs 2 kostenlos sein. Inhaltlich kann auf das Recht auf Bildung in Art 2 ZP 1
129 Ergänzung zu Pünder, § 7.2. 130 Ausf Caspar, RdJB 2001, 165. Zur Entstehungsgeschichte instruktiv Kempen in: Stern/Sachs, GRCh, Art 14 Rn 1 ff.
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EMRK Bezug genommen werden131. In diesem Kontext ist das Recht aus Art 14 I teilhaberechtlich zu verstehen.132 44 Ergänzend enthält Abs 3 die Freiheit zur Gründung von Privatschulen als lex specialis zu Art 16 GRCh,133 wobei die nähere Ausgestaltung dem mitgliedstaatlichen Recht überantwortet wird. Das Gebot, dabei demokratische Grundsätze zu achten, zielt offenbar darauf ab, dass keine Unterscheidung nach dem sozialen Status der Eltern erfolgen soll,134 wenngleich diese – selbstverständliche – Forderung an dieser Stelle nur in Grenzen mit dem Demokratieprinzip im Zusammenhang steht. Über den Ausgestaltungsvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten werden schließlich auch Elternrechte im Bildungswesen allgemein gesichert. 45 Trotz der umfangreichen grundrechtlichen Gehalte des Art 14135 ist das Potential der Gewährleistung gering angesichts der Verpflichtungsadressaten der Charta (einschließlich ihres Art 14) gemäß Art 51 I. Ein Eingriff durch die EU-Organe ist nur in Ausnahmefällen denkbar, und die mitgliedstaatliche Bindung wird vor allem in der Fallgruppe der Einschränkung von Grundfreiheiten relevant,136 die aber gerade im Rahmen von Art 51 I höchst umstritten ist (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 92).137 Der EuGH nimmt in seiner neueren bildungsbezogenen Rechtsprechung nicht auf Art 14 Bezug.138
131 Zu den Schwierigkeiten bei der Herausarbeitung des Rechtfertigungstatbestandes s Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 9. 132 Statt vieler vd Decken in: Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 38. 133 Erläuterungen des Präsidiums zur Charta der Grundrechte, ABl EG 2007, Nr C 303/17, 22; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 10. 134 S Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 12 aE. 135 Diese können hier nicht vollständig dargestellt werden; s nur Jarass GRCh, Art 14. 136 Vgl Folz in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EUV/AEUV/GRCh/EAGV, Art 14 GRCh, Rn 3. 137 Ruffert, EuR 2004, 165 (176 ff). Auch vd Decken in: Heselhaus/Nowak GR, § 43 Rn 32 nimmt an, dass es selten zu einer Bindung der Mitgliedstaaten kommen wird. 138 Vgl nur EuGH, Rs C-318/05, Slg 2007, I-6957 ff – Kommission/Deutschland sowie EuGH, Rs C-76/05, Slg 2007, I-6849 ff – Schwarz u Gootjes-Schwarz (z einkommenssteuerlichen Abzugsrecht von Schulgeldzahlungen an Privatschulen).
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§ 6.2 Schutz des Eigentums § 6.2.1 Schutz des Eigentums nach der EMRK Leitentscheidungen: EGMR (Pl), Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside; Urt v 23.9.1982, 7151/75 ua, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth; Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James ua; Urt v 8.7.1986, 9006/80 ua, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; EGMR, Urt v 24.10.1986, 9118/80, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI; Urt v 7.6.1989, 10873/84, RUDH 1989, 578 ff – Tre Traktörer AB; Urt v 29.11.1991, 12742/87, HRLJ 1992, 36 ff – Pine Valley; Urt v 22.1.2004, 46720/99, EuGRZ 2004, 57 ff; NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2.
Schrifttum: Condorelli in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg) La Convention Européenne des droits de l’homme, 1999, S 971 ff; v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 215 ff; Fiedler Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz des Eigentums, EuGRZ 1996, S 354 ff; European Court of Human Rights (ECHR), Guide on Article 1 of Protocol No. 1 to the European Convention on Human Rights Protection of property Updated on 31 August 2022, https://www.echr.coe.int/Documents/Guide_Art_1_Protocol_1_ENG.pdf; Fischborn Enteignung ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010; Frowein Der Eigentumsschutz in der Europäischen Menschenrechtskonvention in: FS Rowedder, 1994, S 49 ff; Frowein/Peukert EMRK-Kommentar, 2009; Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996; Grabenwarter/Pabel Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl 2021; Hartwig Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, RabelsZ 63 (1999), S 561 ff; Harris/O’Boyle/Warbrick Law of the European convention on human rights, 1995, S 516 ff; Karpenstein/Mayer, EMRK, 2022; Kriebaum Eigentumsschutz im Völkerrecht, 2008; Malzahn Bedeutung und Reichweite des Eigentumsschutzes in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2007; Michl, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in Deutschland und Europa, JuS 2019,343; Mittelberger Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Organe, 2000; ders Die Rechtsprechung des ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Eigentumsschutz, EuGRZ 2001, 364 ff; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S 62 ff; Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003; Peukert Der Schutz des Eigentums nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, EuGRZ 1981, 97 ff; Reininghaus Eingriffe in das Eigentumsrecht nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 2002.
I. Einführung Der internationalrechtliche Schutz der Wirtschaftsgrundrechte ist keine Selbstver- 1 ständlichkeit. Im Gegenteil verzichten völkerrechtliche Regelungen des Grundrechtsschutzes nicht selten auf die Normierung entsprechender Garantien. Zwar normierte schon die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 in Art 17 eine Gewährleistung des Eigentums.1 Anlässlich der Verhandlungen über die
1 „1. Jeder hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben. 2. Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden.“ Zur ursprünglichen Absicht Bernhard W. Wegener https://doi.org/10.1515/9783110716740-017
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Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) konnte man sich aber zunächst nicht auf einen Schutz der Eigentumsfreiheit verständigen, so dass diese 1950 ohne eine entsprechende Garantie verabschiedet wurde. Bereits zwei Jahre später einigte man sich dann aber auf ihre Aufnahme in das am 20. März 1952 unterzeichnete 1. Zusatzprotokoll zur EMRK.2 Jenseits der Eigentumsgarantie fehlt es der EMRK bis heute nahezu völlig an weitergehenden Gewährleistungen wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte.3 Insbesondere verzichtet sie auf eine eigenständige Normierung der Garantie der Berufsfreiheit.4 2 Motive dieser Zurückhaltung waren – neben dem historisch überwundenen Systemgegensatz – vor allem die Unterschiede in den nationalen Vorstellungen über die Ausgestaltung der eigenen Wirtschaftsordnung sowie die Sorge vor ihrer zu weitgehenden völkerrechtlichen Überformung und vor einem Verlust einzelstaatlicher Gestaltungsfreiheit zugunsten eines grundrechtlich angeleiteten „gouvernement des juges“ im Bereich der Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik.5 Angesichts der im europäischen und globalen Maßstab wachsenden Angleichung der Wirtschaftsund Sozialordnungen haben sich diese Motive in den letzten Jahrzehnten sicherlich relativiert. In der Vergangenheit aber prägte die Zurückhaltung bei der Normierung internationaler Garantien der Wirtschaftsfreiheit, die ihren Niederschlag auch in einer betont eingeschränkten Formulierung der entsprechenden Garantien gefunden hat,6 die eher vorsichtige und tastende Entwicklung der Spruchpraxis des EGMR.7
des Rechtsausschusses der Beratenden Versammlung des Europarates, eine Eigentumsgarantie der EMRK in Form der Bezugnahme auf Art 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorzuschlagen und zu weiteren Einzelheiten der Vorgeschichte von Art 1 1. ZP EMRK: Peukert, EuGRZ 1981, 97 f mwN. 2 Zur Entstehungsgeschichte von EMRK und 1. ZP EMRK vgl Robertson Human Rights in Europe, 1977, S 5 ff; v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 220 ff. 3 Frowein The Protection of Property in: MacDonald/Matscher/Petzold (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S 515; Kaiser in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 ZP I Rn 1. 4 Näher dazu u Rn 14 und 64. 5 Vgl dazu mit Blick auf die Garantie der Eigentumsfreiheit: Fiedler, EuGRZ 1996, 354: „rechtspolitisch delikat“, „ureigene Dispositionsbereich des Staates“, „existentiellen Lebensnerv“. 6 Vgl die entsprechende Bewertung der Garantie des Eigentumsrechts in Art 1 1. ZP EMRK durch Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, 1. Aufl 1995, S 516: „a much qualified right, allowing the state a wide power to interfere with property“. 7 Kritischer noch spricht Mittelberger, EuGRZ 2001, 364, 366 mit Blick auf die Rspr zu Art 1 1. ZP EMRK von einer „Phase …, während welcher der Gerichtshof größtenteils zu Ergebnissen kam, die dem Eigentumsschutz in Europa nicht unbedingt dienlich waren“; vgl zur Kritik im Übrigen: Fromont GS Geck, 1990, S 213 f; Dolzer FS Zeidler, 1987, S 1679.
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In jüngster Zeit nimmt die Zahl der festgestellten Grundrechtsverstöße jedoch deutlich zu.8
II. Schutz des Eigentums Art 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, das bislang von 45 der 47 Mitgliedstaaten 3 des Europarates ratifiziert wurde,9 garantiert den „Schutz des Eigentums“10 wie folgt: „Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigen- 4 tums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Die vorstehenden Bedingungen beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern, sonstiger Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“11 Das hier gewährleistete Grundrecht unterscheidet sich von den entsprechen- 5 den Garantien des nationalen Verfassungsrechts vor allem durch seine fehlende
8 Kritisch zur älteren Rspr zu Art 1 1. ZP EMRK: Clements European Human Rights – Taking A Case Under The Convention, 1994, S 201: „Article 1 of the First Protocol is frequently invoked, but violations are seldom found“. Tendenziell aA Frowein FS Rowedder, 1994, S 49, wonach die Rspr seit den achtziger Jahren stärkere Konturen gewonnen habe. 9 Die zwei Staaten, die bis heute (Stand 30.05.2023) das 1. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert haben, sind die Schweiz (Mitglied seit 1963) und Monaco (Mitglied seit 2004), vgl auch EuGRZ 2008, 439. In Deutschland wurde das 1. Zusatzprotokoll 1957 ratifiziert, vgl BGBl II 1956, 1880. 10 Überschrift des Art 1 1. ZP EMRK. 11 Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952, BGBl II 1956, 1879. Die authentische englische Fassung lautet: “Every natural or legal person is entitled to the peaceful enjoyment of his possessions. No one shall be deprived of his possessions except in the public interest and subject to the conditions provided for by law. The preceding provisions shall not, however, in any way impair the right of a State to enforce such laws as it deems necessary to control the use of property in accordance with the general interest or to secure the payment of taxes or other contributions or penalties.” Mit der vielfach kritisierten Verwendung der unterschiedlichen Begriffe „possessions / property“ bzw „propriété / biens“ in den engl bzw franz Originalfassungen verbindet sich kein unterschiedlicher Sinngehalt. Schon in seiner ersten Entscheidung zum Eigentumsrecht betonte der EGMR, dass jeweils das Eigentum in einem einheitlichen Sinne gemeint sei, vgl dazu EGMR (Pl), Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside sowie später EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx; näher dazu Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 4 ff.
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Anbindung an eine konkrete rechtlich konstituierte Eigentums- und Wirtschaftsordnung. Es ist daher weniger „normgeprägt“ als die Garantien des nationalen Rechts.12 Daraus folgt allerdings – entgegen einer gelegentlich vertretenen Meinung13 – nicht, dass Art 1 1. ZP EMRK zugleich der Charakter einer Institutsgarantie abzusprechen wäre. Ein weiterer, wesentlicher Unterschied liegt darin, dass in der Eigentumsgarantie der EMRK keine Junktimklausel wie in Art 14 III GG enthalten ist, sondern die Frage nach dem Ob und Wie der Entschädigung in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einfließt.14 6 Das Eigentumsrecht nach Art 1 1. ZP EMRK ist zunächst ein klassisches negatives Abwehrrecht. Zugleich legt es den Vertragsstaaten nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR aber auch positive Schutzpflichten auf. So hat der Gerichtshof in Öneryildiz/Türkei15, in dem es um die Zerstörung von Eigentum des Beschwerdeführers durch eine Gasexplosion ging, festgestellt, dass die wirkliche und wirksame Ausübung des von Art 1 1. ZP geschützten Rechts nicht nur von der Verpflichtung des Staats abhänge, Eingriffe zu unterlassen, sondern auch positive Schutzmaßnahmen erfordern könne. Gerade in den Beziehungen zwischen Privatpersonen können staatliche Schutzpflichten für einen effektiven Eigentumsschutz bestehen.16 Art und Umfang der positiven Handlungspflichten des Staats sind allerdings je nach den Umständen unterschiedlich. Eine staatliche Schutzpflicht und eine entsprechende Entschädigungspflicht bei deren Missachtung können insbesondere bei offenkundigen Nachlässigkeiten der Behörden gegenüber sehr gefährlichen Situationen und dem daraus resultierenden Verlust des Eigentums bestehen.17 Dagegen können die positiven Handlungspflichten wesentlich geringer sein, wenn es um normale wirtschaftliche Beziehungen zwischen Privatpersonen geht. So hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass Art 1 1. ZP nicht so ausgelegt werden könne, dass er dem Staat allgemein die Verpflichtung auferlege, für die Schulden Privater zu haften.18 Der Gerichtshof hat aber auch entschieden, dass die Bestimmung unter bestimmten Voraussetzungen „Maßnahmen (erfordern kann), die notwendig sind, das Eigentum zu schützen …, sogar in Fällen, in denen zwischen
12 Ähnlich Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2; zur Eigenständigkeit des Eigentumsbegriffs der EMRK gegenüber dem der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten des Europarates: EGMR, Urt v 09.12.1994, 1309/87 u 13984/88, EuGRZ 1993, 607, 609 – Heilige Klöster. 13 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2. 14 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2. 15 EGMR, Urt v 22.06.2004, 31443/96, ECHR 2004-V Nr. 143= NJW 2005, 2521 – Broniowski/Polen. 16 EGMR, Urt v 22.06.2004, 31443/96, ECHR 2004-V Nr. 143= NJW 2005, 2521 – Broniowski/Polen. 17 EGMR, Urt v 30.11.2004, 4839/99, ECHR 2004-XII Nr. 134– Öneryildiz/Türkei. 18 EGMR, Urt v 18.6.2002, 48757/99 – Shestakov/Russland; EGMR, Urt v 28.09.1995, 1286/87, Series A, 315, 44 – Scollo/Italien; s. insb. die Begründung des Gerichtshofs im Urt v 31.5.2007, 25867/02 – Anokhin/Russland. Bernhard W. Wegener
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natürlichen und juristischen Personen Streit besteht“.19 Dieser Grundsatz ist vielfach bei Vollstreckungsverfahren gegen private Schuldner angewendet worden.20 Zu den Abhilfemaßnahmen, zu denen der Staat unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet sein kann, gehören angemessene Rechtsbehelfe, mit denen der Geschädigte sein Recht wirksam durchsetzen kann.21 Die Prüfung einer Verletzung des in Art 1 1. ZP EMRK gewährleisteten Grund- 7 rechts kann grundsätzlich entsprechend dem aus dem deutschen Recht vertrauten Dreischritt von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung erfolgen.22
1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie Fall 1: (nach EGMR, Urt v 16.9.1996, 17371/90, JZ 1997, 405 ff – Gaygusuz)
G ist türkischer Staatsangehöriger und arbeitete als sozialversicherter Arbeitnehmer elf Jahre in Österreich. Nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes bezog er Arbeitslosenunterstützung. Nach deren Auslaufen beantragt er die Gewährung der sich anschließenden sog „Notstandshilfe“, die nach österreichischem Recht zeitlich unbefristet an diejenigen gezahlt wird, die keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mehr haben. Sein Antrag wird mit dem Hinweis darauf abgewiesen, Notstandshilfe werde nach der gesetzlichen Regelung allein österreichischen Staatsangehörigen gewährt.
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a) Allgemeines Eigentum im Sinne des Art 1 1. ZP EMRK meint nicht allein das Eigentum an beweg- 9 lichen und unbeweglichen Sachen. Erfasst werden vielmehr grundsätzlich alle wohlerworbenen vermögenswerten Rechte (acquired rights, droits acquis).23 Der
19 EGMR, Urt v 25.07.2002, 48553/99, ECHR 2002-VII §§ 96 – Sovtransavto Holding/Ukraine. 20 EGMR, Urt v 7.6.2005, 71186/01, §§ 89 ff. – Fuklev/Ukraine; Urt v 19.10.2006, 36496/02, §§ 79 f. – Kesyan/Russland; Urt v 20.4.2010, 12312/05, § 84 – Kin-Stib u Majkić/Serbien; Urt v 30.10.2007, 17556/05, § 56 – Marĉić u a/Serbien; mutatis mutandis EGMR, Urt v 31.3.2005, 62740/00, §§ 68 ff. – Matheus/ Frankreich. 21 Zu Vorschriften über die Verschmelzung von Aktiengesellschaften und die dabei zu wahrenden Rechte von Minderheitsaktionären: EGMR, Urt v 19.7.2007, 71440/01, §§ 52–56 – Freitag/Deutschland; zusammenfassend zur eigenen Schutzpflichtrechtsprechung: EGMR, Urt v 3.4.2012, 54522/00, §§ 109 ff – Kotov/Russland. 22 Zur Möglichkeit einer solchen Übertragung, ihren Funktionen und ihren Grenzen → Ehlers/Germelmann § 2.1 Rn 67. 23 Frowein FS Rowedder, 1994, S 49, 50; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 2; vgl auch umfassend zum Schutzbereich Fischborn Enteignung ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010, S 5 ff.
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EGMR legt den Begriff des Eigentums nicht allein rechtsvergleichend, sondern grundsätzlich autonom24 aus. Der Schutz nach Art 1 1. ZP EMRK muss deshalb nicht mit dem nationalen Standard eines Konventionsstaats übereinstimmen.25 Zu den vermögenswerten Rechten zählen etwa auch Anteile an Handelsgesellschaften26, Anteile an einer Erbengemeinschaft27 und ähnliche geldwerte Vermögenspositionen28. Auch ein Erstattungsanspruch, der auf Grund der unmittelbaren Anwendbarkeit einer EG-Richtlinie besteht, kann unter die Eigentumsgarantie fallen.29 Die Rechtsprechung der Konventionsorgane bezieht in ihre weite und autonom konventionsrechtliche Auslegung auch solche Rechte mit ein, die nach der Rechtsordnung des Staates, gegen den Beschwerde geführt wird, nicht geschützt sind.30 Unter den konventionsrechtlichen Begriff des Eigentums können deshalb auch unauthorisierte aber geduldete Gebäude oder Landnutzungen fallen.31 Gleiches kann unter besonderen Umständen für etablierte aber rechtlich unsichere sonstige Anprüche gelten.32 Mit Hinweis auf die wirtschaftliche und finanzielle Prägung des Eigentumsgrundrechts hat es der EGMR dagegen abgelehnt, menschliche Embryonen als Eigentum im Sinne der Vorschrift zu begreifen.33
24 ECHR, Guide on Article 1, 2021, S 7 f.; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 2; EGMR, Urt v 14.5.2013, 66529/11, § 33 – N.K.M. 25 Meyer-Ladewig EMRK, Art 1 1. ZP, § 9; Kaiser in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 ZP I, Rn 2; EGMR, Urt v 14.5.2013, 66529/11, § 33 – N.K.M. 26 Vgl dazu EGMR, Urt v 8.7.1986, 9006/80 ua, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow. 27 EGMR, Urt v 8.12.2011, 35023/04, NJOZ 2012, 2235, § 37 – Göbel. 28 Zur Frage, ob auch das Vermögen als solches in den Anwendungsbereich des Art 1 1. ZP EMRK fällt, s Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S 69; aA v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 233 f. 29 EGMR, Urt v 16.4.2002, 36677/97, EuGRZ 2007, 671 ff – S. A. Dangeville; Cremer in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 22 Rn 41, 45. 30 EGMR (Pl), Urt v 23.9.1983, 7152/75, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth; EGMR, Urt v 7.7.1989, 10873/84, RUDH 1989, 578 ff – Tre Traktörer AB; Urt v 23.11.2000, 25701/94, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König; Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, 1. Aufl. 1995, S 516, 517 f; Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 200. 31 EGMR, Urt v 29.3.2010, 34044/02, § 85 – Depalle/Frankreich; Urt v 30.11.2004, 48939/99, § 129 – Öneryildiz/Türkei; Urt v 29.6.2017, 20086/13, §§ 68–71 – Kosmas ua/Griechenland. 32 Vgl EGMR, Urt v 5.1.2000, 33202/96, §§ 100 ff – Beyeler/Italien (Gemälde); Urt v 24.11.2020, 75414/10, §§ 63 ff – Kurban/Türkei (annullierter öffentlicher Auftrag). 33 EGMR, Urt v 27.8.2015, 46470/11, § 215 – Parillo/Italien.
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Träger des Eigentumsrechts sind nach der ausdrücklichen Formulierung des 10 Art 1 I 1. ZP EMRK nicht allein natürliche, sondern auch juristische34 Personen.35 Ob angesichts dieses Umstandes die Interpretation des Eigentumsrechts der EMRK allein an seinem Charakter als einem „Menschenrecht“ orientiert werden kann,36 erscheint zumindest zweifelhaft.37 In zeitlicher Hinsicht ist zu beachten, dass Art 1 1. ZP EMRK erst ab dem Tag der 11 Ratifikation des 1. ZP durch einen Konventionsstaat gilt.38 Vor diesem Zeitpunkt erlassene Maßnahmen können nur dann an den Vorgaben von Art 1 1. ZP EMRK gemessen werden, wenn sich diese fortdauernd auswirken.39 Daher schützt Art 1 1. ZP EMRK nicht vor Enteignungen, die vor der Ratifikation des 1. ZP erfolgten, weil Enteignungen einen einmaligen Eingriff darstellen und keinen fortdauernden Zustand begründen.40 Überdies verpflichtet Art 1 1. ZP EMRK einen Staat nicht dazu, Unrecht wieder gut zu machen, das vor der Ratifikation des ZP bzw. der Konvention als solcher geschehen ist.41
b) Schutz des Bestandes, nicht des Erwerbs Vom Begriff des Eigentums nicht umfasst werden bloße Erwartungen und Chancen, 12 die sich noch nicht zu einer vermögenswerten und rechtlich gesicherten Position verfestigt haben.42 Gewissermaßen spiegelbildlich stellt auch die bloße Hoffnung, ein ehemals bestehendes und in den Zeitläufen entwertetes und bestrittenes Eigentumsrecht werde wieder erstarken, oder ein bedingter Anspruch, der infolge des Nichteintritts der Bedingung erloschen ist, als solche kein Eigentum dar.43 Insoweit
34 Zum Schutz des Eigentums juristischer Personen des Öffentlichen Rechts s Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 8 sowie § 13 Rn 13; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S 70. 35 Zur (zweifelhaften) Bedeutung der Bestimmung für die kollisionsrechtliche Frage nach Sitz- oder Gründungstheorie des internationalen Gesellschaftsrechts: Engel, ZEuP 1993, 150 ff. 36 So aber Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 36 ff; zu diesem Ansatz im Übrigen: Riedel Theorie des Menschenrechtsstandards, 1986, 65 ff, 118 f. 37 Ähnlich Frowein FS Rowedder, 1994, S 49; van Dijk/van Hoof Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 2006, S 864. 38 EGMR, Urt v 7.10.2008, 47550/06, NJW 2009, 3775, § 55 – Preußische Treuhand-GmbH u Co KG. 39 Kaiser in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 1 ZP I Rn 26. 40 EGMR, Urt v 8.3.2006, 59532/00, NJW 2007, 347, Rn 86 – Blecic; Urt v 7.10.2008, 47550/06, NJW 2009, 3775 § 57 – Preußische Treuhand-GmbH u Co KG. 41 Meyer-Ladewig/v Raumer in: Meyer-Ladewig/v Raumer, EMRK, Art 1 1. ZP, Rn 55 f; EGMR, Urt v 7.10.2008, 47550/06, NJW 2009, 3775, § 64 – Preußische Treuhand-GmbH u Co KG. 42 Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, 1. Aufl 1995, S 517. 43 EGMR, Urt v 12.7.2001, 42527/98, EuGRZ 2001, 466 ff – Fürst Hans-Adam II. von u zu Liechtenstein; Urt v 28.9.2004, 44912/98, NJOZ 2005, 2912 ff – Kopecky.
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kann in Übereinstimmung mit der Spruchpraxis der Kommission44 davon gesprochen werden, ein Recht zum Eigentumserwerb werde nicht geschützt.45 Vom Schutzbereich umfasst sind grundsätzlich alle erworbenen Rechte mit Vermögenswert.46 Geschützt sind jedenfalls privatrechtliche Vermögenspositionen. Dazu gehören bestehende Eigentumsrechte nach nationalem Recht und unbedingt entstandene Ansprüche47 auf vermögenswerte Leistungen bzw Forderungen, sofern diese durchsetzbar sind („sufficiently established to be enforceable“).48 Dies sind Forderungen, die bereits durch eine endgültige und verbindliche gerichtliche Entscheidung anerkannt wurden.49 Auch „berechtigte Erwartungen“ („legitimate expectations“) können schutzwürdige Positionen darstellen, wenn der Inhaber einer Forderung auf deren Erfüllung legitimerweise vertrauen kann50. Der EGMR bejaht dies, wenn die Forderung auf einer ausreichenden Grundlage im innerstaatlichen Recht beruht. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung der zuständigen Gerichte bestätigt wird.51 Geschützt sind also verfestigte schuldrechtliche Positionen,52 da diese als vermögenswerte Rechte Eigentum iSd Art 1 1. ZP EMRK sind.
c) Goodwill 13 Vom Schutzbereich des Eigentums nach Art 1 1. ZP EMRK werden auch die geschäft-
lichen Beziehungen erfasst, die sich ein Unternehmen oder ein Unternehmer in der Vergangenheit erarbeitet hat und die den Vermögenswert des Geschäfts über den
44 Vgl dazu die Nachw bei Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Fn 11. 45 So Villiger EMRK, Rn 669; Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 22 Rn 31; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 3. 46 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 3. 47 EGMR, Entsch v 30.9.2010, 6754/05, ÖJZ 2011, 188 ff – 92.9 Hit FM Radio GmbH; Peukert in: Frowein/ Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 4. 48 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 3. 49 Meyer-Ladewig/v Raumer in: Meyer-Ladewig/v Raumer, EMRK, Art 1 Rn 12 f. 50 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 3; EGMR, Urt v 8.3.2012, 5631/05, NVwZ 2012, 1455, Rn 39 – Althoff; Urt v 31.5.2011, 24120/06, EuGRZ 2011, 477, Rn 77 – Sfountouris = JK 2012, EMRK Art 1 1. ZP/4; Urt v 14.5.2013, 66529/11, §§ 34 f – N.K.M. 51 EGMR, Urt v 28.9.2004, 44912/98, NJOZ 2005, 2912 ff – Kopecky; Urt v 8.3.2012, 5631/05, NVwZ 2012, 1455, § 39 – Althoff; Urt v 31.5.2011, 24120/06, EuGRZ 2011, 477, Rn 77 – Sfountouris = JK 2012, EMRK Art 1 1. ZP/4. 52 Dazu v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 227 f; s auch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 3; Rebhahn, AcP 210 (2010), 489 (526); EGMR, Urt v 14.5.2013, 66529/11, § 35 – N.K.M.
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reinen Substanzwert hinaus beeinflussen.53 Bedeutung hat der Schutz dieses sogenannten „goodwill“54 vor allem für die wenig durchsichtige Entscheidungspraxis der Konventionsorgane hinsichtlich der Entziehung von Gewerbeerlaubnissen gewonnen. Danach kann eine solche Entziehung jedenfalls dann, wenn die Erteilung der Erlaubnis von Anfang an an zwischenzeitlich entfallene Bedingungen geknüpft war, keine Eigentumsverletzung darstellen. Ein eigentumsrechtlicher Schutz gegenüber den entsprechenden Maßnahmen soll sich aber aus einer mit der Entziehung einhergehenden Beeinträchtigung des dem Erlaubnisinhaber entgegengebrachten „goodwill“ ergeben können.55 Auch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb wird wie jede durch legalen Einsatz persönlicher Mittel und Fähigkeiten unter Übernahme persönlicher Risiken im Wirtschaftsleben geschaffene vermögenswerte Position als schutzfähig nach Art 1 1. ZP EMRK angesehen.56 In dieser eigentümlich weiten Interpretation des als Eigentum geschützten 14 „goodwill“ manifestiert sich das Bemühen des EGMR, im Sinne eines möglichst umfassenden und effektiven Grundrechtsschutzes den sehr begrenzten Katalog der durch die EMRK geschützten Wirtschaftsgrundrechte ausgreifend zu verstehen. So werden Schutzbereiche dem Eigentumsschutz zugeschlagen, die nach herkömmlichem nationalem Verständnis eher den – von der Konvention nicht gewährleisteten – Garantien der Berufsfreiheit oder der allgemeinen wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit zuzuordnen wären.57
53 Nach Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 28 findet sich eine Anerkennung dieser Rechtsfigur der Sache nach erstmals in EGMR, EuGRZ 1988, 35 ff – van Marle; zum eigentumsrechtlichen Schutz der „Kundenstämme“ eines Rechtsanwalts und eines Steuerberaters, vgl Urt v 9.11.1999, 37595/97, NJW 2001, 1556 – Döring und Urt v 25.5.1999, 37592/97, NJW 2001, 1558 – Olbertz; für wN zur Rechtsprechung zum Schutz des Kundenstamms, vgl ECHR, Guide on Article 1, 2021, S 14; vgl umfassend zum Goodwill als Schutzgut iSd Art 1 1. ZP EMRK Kriebaum Eigentumsschutz im Völkerrecht, 2008, 152 ff. 54 Kritisch zur Anerkennung des „goodwill“ als geschütztes Eigentum: Hartwig, RabelsZ 63 (1999), 566, der eine Transformierung der Eigentumsgarantie zu einer Absicherung künftiger Gewinnerwartungen befürchtet. S dazu auch v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 233. 55 EGMR, Urt v 7.7.1989, 10873/84, RUDH 1989, 578 ff – Tre Traktörer AB; vgl auch Urt v 18.2.1991, 12033/86, HRLJ 1991, 93 ff – Fredin (Nr 1); zum Ganzen eingehender Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 27 ff. 56 Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 7; EGMR, Urt v 26.06.1986, 8543/79 ua, EuGRZ 1988, 35, 38 – van Marle. 57 Ebenso: Michl, JuS 2019, 343 (346).
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d) Öffentlich-rechtliche Ansprüche 15 Von besonderer praktischer Bedeutung – aber auch in besonderer Weise umstritten – ist die Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Ansprüche in den Schutzbereich des Eigentumsrechts. Zu diesen Ansprüchen zählen etwa Ansprüche aus der Sozialversicherung, besoldungsrechtliche Ansprüche der Beamten oder Ansprüche auf Rückerstattung zu Unrecht bezahlter Abgaben. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennt einen Schutz sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche dann an, wenn diese „nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet“ sind, „auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten“ beruhen und „der Sicherung seiner Existenz“ dienen.58 16 Die Spruchpraxis der EKMR zeigte sich dagegen gegenüber einer Einbeziehung öffentlich-rechtlich begründeter vermögenswerter Positionen in den Schutzbereich des Eigentumsrechts eher zurückhaltend.59 Auch solche Ansprüche, die – wie etwa Pensionsansprüche – wenigstens zum Teil aus einer eigenen Leistung der Anspruchsinhaber resultierten, sollten danach grundsätzlich keinen Schutz genießen.60 Eine Ausnahme sollte nur insoweit gelten, als zwischen der Höhe der geleisteten Beiträge und der Höhe der Pensions- oder Rentenansprüche eine unmittelbare Verbindung dergestalt bestand, dass dem Berechtigten ein „identifizierbarer Anspruch auf einen Anteil am Versicherungsfonds“ zustand. Daran sollte es fehlen, wenn das Versicherungssystem dem Gedanken einer generationenübergreifenden Solidargemeinschaft verpflichtet sei.61 17 Auch ein nach diesen Kriterien dem Grunde nach in den Schutzbereich des Eigentumsrechts fallender öffentlich-rechtlicher Anspruch ist nach der Spruchpraxis der Kommission aber nicht unbedingt geschützt. Vielmehr soll mit Rücksicht auf haushaltspolitische Erfordernisse allein eine erhebliche nachträgliche Reduktion der einmal erworbenen Ansprüche als vom Schutzbereich der Eigentumsfreiheit umfasst angesehen werden können.62
58 BVerfGE 69, 272 (300); vgl auch BVerfGE 53, 257; 72, 9 (18); 75, 78; 76, 220 (235); zur traditionell weitaus zurückhaltenderen Rspr des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs: Pech in: Grabenwarter/ Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK, 1998, 233 f. 59 Kritisch dazu Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 29 ff, 36 ff; Pech in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK, 1998, S 233 ff. 60 Zur abweichenden Sicht vgl van Dijk/van Hoof Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 2006, S 867 f. 61 EKMR, Entsch v 20.7.1971, 4130/69, CD 38 (1972), 9 ff – X/Niederlande; bestätigt in: Entsch v 10.7.1985, 10971/84, DR 43 (1985), 190 (191 f) – Vos; Entsch v 16.05.1985, DR 42 (1985), 162 (166) – Kleine Staarmann; zu Recht kritisch zu der dem zugrunde liegenden und zu formal anmutenden Unterscheidung zwischen Kapitalhäufungs- und intergenerationellem Umlageverfahren: v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 235. 62 EKMR, Entsch v 1.10.1975, 5849/72, DR 3 (1976), 31, 32 – Müller.
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Wenn der Spruchpraxis der EKMR dennoch schon in der Vergangenheit zu- 18 mindest eine Tendenz zu einer weitergehenden Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Ansprüche in den Schutzbereich des Eigentumsrechts entnommen worden ist,63 so wird diese Auffassung durch die zwischenzeitliche Rechtsprechungspraxis des EGMR bestätigt. Zwar räumt auch der Gerichtshof den Vertragsstaaten generell ein weites Ermessen bei der Bewertung oder Überprüfung der im Rahmen von Sozialsystemen verfügbaren finanziellen Leistungen ein.64 Dennoch sollen auf Zahlung von staatlichen Pensionen und sonstigen Sozialleistungen gerichtete Ansprüche von Art 1 1. ZP jedenfalls dann geschützt werden, wenn Beiträge in eine Versicherungskasse eingezahlt wurden.65 Auch soweit Art 1 1. ZP Sozialleistungen schützt, die aufgrund vorheriger Beitragszahlung zahlbar sind, soll sich die konkrete Höhe des zu zahlenden Betrags nach Auffassung des EGMR aber grundsätzlich nicht durch Heranziehung der Vorschrift ermitteln lassen. Sie gewährleiste weder einen Anspruch auf eine Rente in einer bestimmten Höhe noch garantiere sie einen Anspruch auf Altersrente als solche.66 Eine Eigentumsverletzung kann sich aber ergeben, wenn ein sozialversicherungsrechtlicher Rentenanspruch in seinem Wesen beeinträchtigt wird.67 Insbesondere, wenn sozialversicherungsrechtliche Ansprüche in einem vollstreckbaren Titel festgestellt worden sind, genießen sie konventionsrechtlichen Eigentumsschutz.68 Kürzungen oder Streichungen entsprechender Leistungen stellen deshalb regelmäßig einen im Allgemeininteresse zu rechtfertigenden Eingriff in das Eigentumsrecht dar.69 Bei der Beurteilung der Verhältnis-
63 Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 11 f. 64 EGMR, Urt v 23.4.2002, 56869/00 – Larioshina/Russland; Urt v 11.2.2020, 82968/17, § 32 – Šeiko/Litauen. 65 EGMR, Urt 12.10.2004, 60669/00 – Asmundsson/Island; Urt v 12.10.2004, 60669/00, NJW 2003, 2441 ff – Lenz. 66 EGMR, Urt v 1.6.1999, 39860/98 – Skórkiewicz/Polen; Urt v 12.10.2000, 43440/98, – Janković/Kroatien; Urt v 10.4.2001, 52449/99 – Kuna/Deutschland; Urt v 27.9.2001, 40862/98 – Lenz/Deutschland; Urt v 18.6.2002, 64100/00 – Blanco Callejas/Spanien; Urt v 12.10.2004, 60669/00, § 39 – Ásmundsson/Island; Urt v 22.10.2009, 39574/07, § 36 – Apostolakis/Griechenland; , Urt v 8.12.2009, 18176/05 § 57 – Wieczorek/Polen; Urt v 8.2.2011, 52273/08 – Poulain/Frankreich; Urt v 25.10.2011, 2033/04 ua, § 84 – Valkov/ Bulgarien; Urt v 15.3.2001, 30517/96, – Aunola/Finnland; Urt v 1.9.2015, 13341/14 § 30 – Da Silva Carvalho Rico/Portugal. 67 EGMR, Urt v 12.10.2004, 60669/00 – Ásmundsson/Island. 68 EGMR, Urt v 30.6.2005, 11931/03 – Teteriny. Zusammenfassend zur einschlägigen Rechtsprechungspraxis: EGMR, Urt v 13.12.2016, 53080/13, §§ 80–89 – Béláné Nagy/Ungarn; Urt v 5.3.2019, 36366/06, §§ 39–43 – Yavaş ua/Türkei. 69 EGMR, Urt v 12.10.2004, 60669/00, §§ 39–40 – Ásmundsson/Island; Urt v 28.4.2009, 38886/05, § 71 – Rasmussen/Polen; Urt v 15.9.2009, 10373/05, §§ 51, 64 – Moskal/Polen; Urt v 17.4.2012, 31925/08, § 72 – Grudić/Serbien; Urt v 6.1.2005, 58641/00, – Hoogendijk/Niederlande; Urt v 25.10.2011, 2033/04 ua, § 84 – Valkov/Bulgarien; Urt v 14.6.2016, 71148/10, § 59 – Philippou/Zypern.
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mäßigkeit von Kürzungen von Sozialversicherungsansprüchen berücksichtigt der Gerichtshof deren Zielsetzung, die verbleibenden Ansprüche, eventuelle diskriminierende Wirkungen,70 die Rückwirkung,71 das Fehlen von Übergangsfristen72 und die angemessene Berücksichtigung der jeweiligen Beitragsleistungen.73 Soweit die Rente vollständig entzogen wird, stellt dies regelmäßig einen Verstoß gegen Art 1 1. ZP EMRK dar.74
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Lösung Fall 1: Einen Anspruch aus Art 1 1. ZP EMRK (iVm dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK75) kann G nur dann erfolgreich geltend machen, wenn es sich bei der beantragten „Notstandshilfe“ um Eigentum im Sinne dieser Bestimmung handelt. Öffentlich-rechtliche Ansprüche können aber wenigstens nach der älteren Rechtsprechung der Konventionsorgane nur dann als Eigentum angesehen werden, wenn sie zumindest auch auf einer eigenen Leistung des Versicherten beruhen und diesem insoweit ein identifizierbarer Teilanspruch zusteht. Auch wenn dies im Fall der Notstandshilfe nach österreichischem Recht durchaus als fraglich angesehen werden kann,76 hat der EGMR im konkreten Fall – wohl mit Rücksicht auf die in der Verweigerung liegende Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit – eine Verletzung des Eigentumsrechts bejaht.77
e) Geistiges Eigentum 20 Die allgemein zum geistigen Eigentum gezählten Immaterialgüterrechte wie Urhe-
ber-, Patent-, Verlags-, Marken- und andere Schutzrechte dienen der wirtschaftlichen Nutzung unter Ausschluss von Dritten und können veräußert werden. Auch diese Rechte unterfallen daher nach allgemeiner Meinung dem Eigentumsbegriff
70 EGMR, Urt v 12.10.2004, 60669/00, § 43 – Ásmundsson/Island. 71 EGMR, Urt v 18.4.2007, 69524/01, § 47 – Bulgakova/Russland. 72 EGMR, Urt v 13.12.2011, 27458/06 ua, § 72 – Lakićević/Montenegro und Serbien; Urt v 15.9.2009, 10373/05, § 74 – Moskal/Polen. 73 EGMR, Urt v 5.3.2019, 36366/06, §§ 47–50 – Yavaş/Türkei; Urt v 10.4.2012, 26252/08, § 17 – Richardson/UK; Urt v 16.3.2010, 42184/05, §§ 85–89 – Carson/UK. 74 EGMR, Urt v 15.4.2014, 21838/10 ua, § 59 – Stefanetti/Italien; 39574/07, Urt v 22.10.2009, 39574/07, § 41 – Apostolakis/Griechenland. 75 Zur rechtlichen Konstruktion und Funktion dieser Verbindung, s u Rn 60. 76 Vgl Hailbronner, JZ 1997, 397, 398, der die Leistung mit Rücksicht auf ihre teilweise Finanzierung nicht allein aus Versicherungsbeiträgen, sondern auch aus staatlichen Mitteln als Element der Sozialfürsorge begreift. (Nur) insoweit erscheint – wie Hailbronner zu Recht ausführt – eine Einordnung als eigentumsrechtlich geschützte Forderung kaum gerechtfertigt. Für eine Einbeziehung von Ansprüchen auf Arbeitslosengeld in den Schutzbereich des Eigentumsrechts nach Art 14 GG vgl etwa BVerfGE 72, 9, 18; 74, 203, 213. 77 EGMR, Urt v 16.9.1996, 17371/90, JZ 1997, 405 ff – Gaygusuz.
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des Art 1 1. ZP EMRK.78 Die Kommission hat dementsprechend den Eigentumscharakter eines nach niederländischem Recht begründeten Patents bejaht.79 In einer jüngeren Entscheidung hat der EGMR ausdrücklich festgestellt, dass geistiges Eigentum von Art 1 1. ZP EMRK geschützt ist. Das gilt auch für eine eingetragene Marke. Bereits die Antragstellung, die auf Eintragung einer Marke gerichtet ist, kann Gegenstand entgeltlicher Rechtsgeschäfte sein, hat deshalb wirtschaftlichen Wert und vermittelt folglich eine Rechtsposition. Das genügt nach Ansicht der Großen Kammer des EGMR, um Art 1 1. ZP EMRK anzuwenden.80 Selbst das Nutzungsrecht an einer Internetdomainadresse, das an Firmen verkauft werden kann und somit kommerziellen Wert hat, unterfällt dem Schutzbereich von Art 1 1. ZP EMRK.81
f) Erbrecht Anders als Art 14 GG nimmt Art 1 1. ZP EMRK das Erbrecht nicht ausdrücklich in 21 Bezug. Dennoch sieht der EGMR das Recht des Eigentümers, über sein Vermögen von Todes wegen zu verfügen, als vom Schutzbereich des Art 1 1 ZP EMRK umfasst an.82 Er hat es aber ausdrücklich abgelehnt, eine gesetzliche Regelung der Erbfolge auf Antrag des potentiellen Erben am Eigentumsrecht zu messen. Art 1 1. ZP EMRK schütze allein das aktuelle Eigentum lebender Personen, nicht aber bloße Erbanwartschaften.83 Abzugrenzen ist diese Konstellation von dem Fall, in welchem die Anteile an einer Erbengemeinschaft schon erworben wurden. Bereits erworbene Anteile fallen unstreitig unter Art 1 1. ZP EMRK.84
2. Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts Fall 2: (nach EGMR, Urt v 23.9.1982, 7151/75 ua, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth)
Für Grundstücke der S besteht eine staatliche Enteignungsgenehmigung zugunsten der Kommune. Die Enteignungsgenehmigung ist mit einem Bauverbot verknüpft, das Neubauten auf den Grundstücken untersagt. Eine Entschädigung für zwischenzeitlich getätigte Renovierungen der vorhandenen Bebauung oder für Vermögenseinbußen, die aus der ungewissen Lage hinsichtlich der betroffenen
78 Peukert EuGRZ 1981, 97, 103; Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 32; Riedel Theorie des Menschenrechtsstandards, 1986, S 69; Seiler, KuR 2012, 104, 105. 79 EGMR, Urt v 4.10.1990, 12633/87, DR 66 (1990), 70 (79) – Smith Kline. 80 EGMR, Urt v 11.1.2007, 73049/01, GRUR 2007, 696 ff – Anheuser-Busch Inc. 81 EGMR, Urt v 18.9.2007, 25379/04 ua, MMR 2008, 29 ff – Paeffgen GmbH. 82 EGMR, Urt v 13.6.1979, 6833/74, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx. 83 EGMR, Urt v 13.6.1979, 6833/74, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx. 84 EGMR, Urt v 8.3.2012, 35023/04, NJOZ 2012, 2235, § 37 – Göbel.
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Grundstücke resultieren, wird in den einschlägigen nationalen Vorschriften ausgeschlossen. Die zunächst auf drei Jahre befristete Enteignungsgenehmigung wird von der Kommune nicht in Anspruch genommen, aber auf ihr Drängen sukzessive verlängert. Erst nach einem Zeitraum von über zwanzig Jahren werden die Genehmigung und das Bauverbot aufgehoben, weil sich die ursprünglich verfolgten Stadtentwicklungspläne zwischenzeitlich verändert haben. S, die zwischenzeitlich mehrfach vergeblich versucht hat ihre Grundstücke zu verkaufen, die notwendige Renovierungen zurückgestellt hat und Mietausfälle beklagt, sieht sich in ihrem Eigentumsrecht verletzt.
23 Zumindest die ältere Spruchpraxis der Konventionsorgane EGMR und EKMR unter-
scheidet zwischen drei verschiedenen Eingriffsformen: Enteignungen, nutzungsregelnden Maßnahmen und sonstigen Eingriffen.85 Maßgeblich für die Unterscheidung sind die Zielrichtung der jeweiligen Maßnahme und die Eingriffsintensität. Ohne Bedeutung ist, ob der Eingriff gezielt erfolgte oder sich als unbeabsichtigte Nebenfolge staatlichen Handelns darstellt. Auch seine Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit nach nationalem Recht spielt für die Einordnung keine Rolle.86 Fall 3: (nach EGMR, Urt v 24.10.1986, 9118/80, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI) Die deutsche Goldhandelsfirma A verkauft dem britischen Staatsbürger X im Jahre 1975 KrügerrandGoldmünzen im Wert von 120000 £. Das Eigentum bleibt bis zur Bezahlung vorbehalten. Weil die Bezahlung nicht erfolgt und A den Kaufvertrag später erfolgreich anficht, bleiben die Münzen Eigentum der A. X transportiert die Münzen ohne Wissen der A nach Großbritannien. Bei der nach britischem Recht illegalen Einfuhr werden die Münzen vom Zoll beschlagnahmt. Ein Herausgabeverlangen der A wird von den britischen Behörden abgelehnt. Die Münzen seien rechtmäßig beschlagnahmt worden und das Eigentum an ihnen nach den einschlägigen Vorschriften verfallen.
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a) Enteignungen 25 Während das BVerfG den Begriff der Enteignung nach Art 14 III GG tendenziell eng
versteht,87 neigt der EGMR dazu, die Position des Eigentümers gegenüber staatlichen Eingriffen zu stärken,88 indem er den Anwendungsbereich des Art 1 I 2 1. ZP
85 Zur älteren Entscheidungspraxis, die von einer eigenständigen Kategorie „sonstiger Eingriffe“ ausgeht, zu der an ihr geäußerten Kritik und zu neueren Tendenzen in der Rspr des EGMR sogleich u Rn 35 ff, vgl umfassend zum Eingriffsbegriff Fischborn Enteignung ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010, S 24 ff und Kriebaum Eigentumsschutz im Völkerrecht, 2008, S 190 ff. 86 Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 200. 87 Vgl etwa BVerfG, Beschl v 6.10.2000, WM 2001, 775 ff. 88 Zu sonstigen Unterschieden zwischen der Garantie des Art 14 GG und der des Art 1 1. ZP EMRK vgl Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2, die zu Recht auch auf Momente eines schwächeren Eigentumsschutzes nach Art 1 1. ZP EMRK aufmerksam machen.
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EMRK großzügig auslegt. Der Gerichtshof kleidet dies in die Formulierung, die Konvention solle „konkrete und wirksame“ Rechte schützen.89 Die Prüfung einer nationalen Maßnahme am Maßstab der Enteignungsnorm des 26 Art 1 I 2 1. ZP EMRK setzt nicht voraus, dass ein formeller Eigentumstransfer stattgefunden hat. Zur Sicherung eines effektiven Eigentumsschutzes werden vielmehr auch faktische Eigentumsentziehungen einbezogen.90 Für die Abgrenzung zu Nutzungsregelungen nach Art 1 II 1. ZP EMRK kommt es vor allem darauf an, ob von den betroffenen Vermögenswerten weiterhin in wirtschaftlich sinnvoller Weise Gebrauch gemacht werden kann.91 Darüber hinaus können auch nutzungsregelnde nationale Maßnahmen an der Enteignungsnorm des Art 1 I 2 1. ZP EMRK zu messen sein, wenn die Maßnahmen der Vorbereitung einer Enteignung dienen und es deshalb an einer bloß nutzungsregelnden Intention des nationalen Hoheitsträgers fehlt.92 In jüngster Zeit beschäftigt den EGMR vermehrt die Rechtmäßigkeit von Enteig- 27 nungen im Rahmen der europäischen Nachkriegsordnung. Das Ende des Kalten Krieges und der Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa stellen die Staaten vor erhebliche Probleme bei der Bewältigung des hier geübten (Un‑)Rechts. Fall 4: (nach EGMR, Urt v 22.1.2004, 46720/99, 72203/01 u 72552/01, EuGRZ 2004, 57 ff; EGMR, (GK), Urt v 30.6.2005, 46720/99, 72203/01 u 72552/01, NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2)93
A hatte noch vor der Wende 1989 nach dem Recht der DDR kraft Erbfolge Eigentum an einem Grundstück aus der sog Bodenreform erlangt. Die Bodenreform hatte von 1945 bis 1949 in der sowjetischen Besatzungszone stattgefunden. Dabei waren Großgrundstücke enteignet und in einen Bodenfonds übergeführt worden, aus dem anschließend kleine Parzellen landlosen oder landarmen Bauern sog „Neubauern“ zugeteilt worden waren. Das „Eigentum“ an diesen Grundstücken war nach dem Recht der DDR zwar grundsätzlich vererblich, im Übrigen jedoch in vielfacher Hinsicht beschränkt. Über die Grundstücke durfte nicht frei verfügt werden. Zur Zeit der DDR erlassene Besitzwechselverordnungen regelten die Fälle der Rückführung der Grundstücke in den Bodenfonds und erlaubten die Zuteilung an Dritte nur unter der Voraussetzung, dass diese sich verpflichteten, die Grundstücke landwirtschaft-
89 EGMR, Urt v 22.1.2004, 46720/99 ua, EuGRZ 2004, 57 ff – Jahn. 90 Vgl etwa EGMR, Urt v 22.1.2004, 46720/99, 72203/01, 72552/01, EuGRZ 2004, 57 ff – Jahn; zur Unterscheidung zwischen formellen und de facto – Eingriffen s Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 10 ff. 91 Zur Abgrenzung der formellen Enteignung von der Nutzungsregelung s auch Mittelberger Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Organe, 2000, 92 ff; zur Abgrenzung der de facto-Enteignung von der Nutzungsregelung s ders, 86 ff; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S 74 f. 92 Allgemein zur Enteignung nach Art 1 I 2 1. ZP EMRK: Peukert, EuGRZ 1988, 510 ff; Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 42 ff. 93 Das „Jahn-Urteil“ wird in der deutschen Literatur kontrovers diskutiert, s etwa Cremer, EuGRZ 2004, 134 ff; Kämmerer, DVBl 2004, 995 ff; Hornickel, NVwZ 2004, 567 ff; Nußberger, DÖV 2006, 454 ff; Fischborn Enteignung ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010, S 98 ff.
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lich zu nutzen. Das am 16. März 1990 in Kraft getretene Modrow-Gesetz hob sämtliche Verfügungsbeschränkungen für die Grundstücke aus der Bodenreform auf und machte deren Besitzer zu vollwertigen Eigentümern. Die ersten freien Wahlen fanden in der DDR am 18. März 1990 statt. Am 22. Juli 1992 trat das vom bundesdeutschen Gesetzgeber verabschiedete Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz über die Abwicklung der Bodenreform in den Ländern im Gebiet der ehemaligen DDR in Kraft. Nach den danach in Art 233 EGBGB eingefügten §§ 11 ff geht das Eigentum an Bodenreformgrundstücken kraft Gesetzes grds auf die Person über, die bei Ablauf des 15.3.1990 im Grundbuch als Eigentümer eingetragen war, oder an deren Erben. Letzteres allerdings nur dann, wenn es keine „besserberechtigte“ Person gibt, die einen Anspruch auf unentgeltliche Auflassung des Grundstücks hat und diesen auch erhebt. War der im Grundbuch eingetragene Eigentümer bereits bei Inkrafttreten des Modrow-Gesetzes verstorben, gilt der Fiskus des Landes, in dem das Grundstück liegt, als besserberechtigt, wenn nicht der Erbe bei Ablauf des 15.3.1990 in der Land- oder Forstwirtschaft tätig war. 1994 ließ A, der zu keinem Zeitpunkt in der Land- oder Forstwirtschaft tätig war, sich in das Grundbuch eintragen. 1996 wurde A dazu verurteilt, sein Grundstück an das Land L unentgeltlich aufzulassen.
b) Nutzungsregelnde Maßnahmen 29 Grundsätzlich werden als Nutzungsregelung Maßnahmen angesehen, die zwar in
die Eigentümerposition eingreifen, dieser jedoch noch eine „Substanz“ lassen.94 So hat der EGMR etwa den gesetzlichen Ausschluss polizeilicher Mithilfe bei der Räumung einer zu Recht gekündigten Wohnung als Art 1 II 1. ZP EMRK verletzende Nutzungsregel beurteilt.95 In einem anderen Verfahren entschied der EGMR, dass es sich bei der Aufnahme eines Grundstücks in das Verzeichnis historischer Denkmäler mit der Folge, dass eine Bebauung des Grundstücks nur mit behördlicher Genehmigung möglich sei, nicht um eine Enteignung, sondern lediglich um eine nutzungsregelnde Maßnahme iSd Art 1 II 1. ZP EMRK handelt.96 30 Allerdings hat der EGMR auch solche Maßnahmen als Nutzungsregelung nach Art 1 II 1. ZP EMRK begriffen, die eine vollständige Entziehung des Eigentums zur Folge hatten. Dafür soll es ausreichen, wenn die entziehenden Maßnahmen sich als Sanktion der Verletzung einer Nutzungsregelung darstellen.97
94 Zum Begriff und den Voraussetzungen für die Nutzungsregelung s auch Hartwig, RabelsZ 63 (1999), S 569 f; v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 243 ff; Mittelberger Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Organe, 2000, S 66, 69 f, der auch zahlreiche Beispiele für typische Anwendungsfälle der Nutzungsänderung erwähnt, S 66 ff. 95 EGMR, Urt v 28.7.1999, 22774/93, ECHR 1999-V, 73 ff – Immobilare Saffi, vgl dazu näher Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S 197. 96 EGMR, Urt v 15.9.2011, 33949/05, NVwZ 2012, 353, § 63 – Potomska u Potomski. 97 Vgl dazu das – im Übrigen viel kritisierte – Urteil in der Sache EGMR, Urt v 24.10.1986, 9118/80, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI. Hinsichtlich der Einordnung solcher „Konfiskationen“ in die Kategorie
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Art 1 II 1. ZP EMRK enthält neben den Nutzungsregelungen als weitere Unter- 31 gruppe Ermächtigungen zur Auferlegung von Abgaben, insbesondere Steuern, und von Geldstrafen.98 Besteuerung ist danach zwar einerseits regelmäßig als Eingriff in das Eigentumsrecht zu begreifen,99 aber als solcher ebenso regelmäßig rechtfertigungsfähig.100 Anderes kann gelten, wenn die Besteuerung eine exzessive und/ oder überraschende101 Belastung des Eigentums bewirkt oder in anderer Weise die finanzielle Leistungsfähigkeit Betroffener fundamental beeinträchtigt.102 Der EGMR billigt den Vertragsstaaten einen erheblichen und vergleichsweise besonders weiten Spielraum hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer Steuerregime zu.103 Sie können die Steuertatbestände und Steuersätze grundsätzlich frei bestimmen. Gleiches gilt für Fragen der Durchsetzung der Besteuerung.104 Verletzungen des Eigentumsrechts durch Besteuerung hat der EGMR ausnahmsweise dort angenommen, wo es sich um Verzögerungen105 oder (Rechtschutz-)Verweigerungen106 bei der Rückerstattung zu viel gezahlter Steuern handelte. Dagegen soll eine rückwirkende Einführung von Steuern für sich genommen noch kein Grund für eine Verletzung des Eigentums sein.107 Eine ausgebaute Rechtsprechung kennt der EGMR auch zur Frage staatlicher Re- 32 gulierung des Eigentums an Wohnraum. Auch hier betont der Gerichtshof in besonderer Weise den weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des staatlichen Gesetzgebers. Unzulässig sind deshalb nur solche eigentumsbeschränkenden staatli-
der Nutzungsregelung zustimmend Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 47 f, 54. 98 Dazu v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 246; Mittelberger Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Organe, 2000, S 71; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S 73; EGMR, Urt v 29.4.2008, 13378/05, NJW-RR 2009, 1606, § 59 – Burden/UK. 99 EGMR, Urt v 29.4.2008, 13378/05, § 59 – Burden/UK; Urt v 9.11.1999, 26449/95, § 39 – Spacek/Tschechien. 100 EGMR, Urt v 23.2.1995, 15375/89, § 59 – Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH/Niederlande; Urt v 29.9.2020, 73601/14, § 43 – Christian Religious Organization of Jehovah’s Witnesses/Armenien, 73601/14. 101 EGMR, Urt v 14.5.2013, 66529/11, §§ 66–74 – N.K.M./Ungarn. 102 EGMR, Urt v 3.7.2003, 38746/97, § 32 – Buffalo S.r.l. in liquidation/Italien. 103 EGMR, Urt v 29.9.2020, 73601/14, § 50 – Christian Religious Organization of Jehovah’s Witnesses/ Armenien. 104 EGMR, Urt v 16.1.2018, 60633/16, § 25 – Cacciato/Italien; Urt v 16.1.2018, 50821/06, § 44 – Guiso und Consiglio/Italien. 105 EGMR, Urt v 3.7.2003, 38746/97, § 39 – Buffalo S.r.l. in liquidation/Italien. 106 EGMR, Urt v 16.4.2002, 36677/97, § 61 – S.A. Dangeville/Frankreich. 107 EGMR, Urt v 10.6.2003, 27793/95, – MA und 34 andere/Finnland. Bernhard W. Wegener
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chen Regelungen, die das Eigentum an Wohnraum ungerechtfertigt und ganz substantiell entwerten. Der Gerichtshof hat dies angenommen für Regelungen, die Mieterhöhungen auf besonders niedrigem Niveau für unbegrenzte Zeiträume ausschließen108 und zugleich den aktuellen Mietern eine Weitervermietung erlauben.109 Als unzulässig hat er es auch angesehen, wenn dem Eigentümer durch eine Zwangseinquartierung über einen mehr als 30-jährigen Zeitraum jede Verfügungsbefugnis hinsichtlich der Auswahl seiner Mieter und hinsichtlich des zu erzielenden Mietpreises genommen wird.110 Strukturell ähnliche Fälle resultierten aus Schwierigkeiten der Eigentümer, bei der Durchsetzung von Räumungsansprüchen.111 Dagegen hat der EGMR Regelungen, nach denen langfristige Pachtverhältnisse unter besonderen sozialen Bedingungen zu einer zwangsweisen Übertragung des Eigentums führen können, für rechtfertigungsfähig angesehen.112 Als rechtfertigungsfähig erwiesen sich auch österreichische Beschränkungen der Miethöhe für Wohnraum.113 33 Nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht zur Entschädigung für nutzungsregelnde Eingriffe in das Eigentum gemäß Art 1 II 1. ZP EMRK verpflichtet. Hierin konkretisiert sich die auch aus dem deutschen Recht vertraute Sozialbindung des Eigentums.114 Wie nach Art 14 I 2 GG können aber auch unter der Geltung der EMRK zulässige Inhaltsbestimmungen ausnahmsweise entschädigungspflichtig sein, sofern unbillige Härten anders nicht vermieden werden können. Dies legt schon die Herleitung der Entschädigungspflicht aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nahe.115
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Lösung Fall 3: Der Verfall der Krügerrand-Goldmünzen stellt einen Eingriff in das von Art 1 I 1. ZP EMRK geschützte Eigentum dar. Obwohl der Verfall der Münzen diese der Eigentümerin dauerhaft entzieht, sieht der EGMR darin keine Enteignung, sondern nur die rechtliche Folge des Verbots der Einfuhr. Weil letzteres lediglich eine Nutzungsregelung darstelle, sei auch der Verfall als „Nutzungsregel“ gemäß Art 1 II 1. ZP EMRK zu beurteilen.116
108 Vgl dazu auch EGMR, Urt v 19.6.2006, 35014/97, §§ 223 ff – Hutten-Czapska/Polen. 109 EGMR, Urt v 12.6.2012, 13221/08 u 2139/10, §§ 128–134 – Lindheim und andere/Norwegen. 110 EGMR, Urt v 24.10.2006, 17647/04, § 78 – Edwards/Malta. 111 EGMR, Urt v 28.7.1999, 22774/93, § 56 – Immobiliare Saffi/Italien; Urt v15.9.2009, 47045/06, § 63 – Amato Gauci/Malta. 112 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, § 46 – James und andere/UK; näher dazu unten Rn 48 ff. 113 EGMR, Urt v 19.12.1989, 10522/83 ua, § 57 – Mellacher/Österreich. 114 Zu dieser Parallele Frowein FS Rowedder, 1994, S 49 (50). 115 Vgl dazu u Rn 47 ff. 116 EGMR, Urt v 24.10.1986, 9118/80, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI. Nach Auskunft von Frowein FS Rowedder, 1994, S 49 (65) bekam die Firma im Anschluss an das Urteil die Hälfte des Wertes der Münzen erstattet.
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§ 6.2.1 Schutz des Eigentums nach der EMRK
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c) „Sonstige“ Beeinträchtigungen Die Anerkennung einer eigenständigen Kategorie sonstiger Eingriffe nach Art 1 I 1 35 des 1. ZP EMRK durch den EGMR117 wird in der Literatur vielfach abgelehnt. Der Eingangssatz des Art 1 1. ZP EMRK beschreibe allein den Schutzbereich der Eigentumsgarantie und mache die nachfolgend eröffneten Eingriffsmöglichkeiten rechtfertigungspflichtig. Er habe insoweit eingriffsbeschränkende, nicht aber eingriffsermöglichende Funktion.118 In seiner jüngeren Rechtsprechung scheint sich der EGMR dieser Auffassung zumindest insoweit anzunähern, als er eine explizite Unterscheidung zwischen einzelnen Eingriffsarten jedenfalls in komplexen Sachverhalten als entbehrlich ansieht und den Eingriff an der die Eigentumsfreiheit begründenden Grundnorm des Art 1 I 1 1. ZP EMRK misst.119 In jüngeren Entscheidungen ist außerdem nunmehr von drei in Art 1 1. ZP EMRK enthaltenen „Regeln“ die Rede120, von denen sich die zweite (enteignende Eingriffe gem Art 1 I 2 1. ZP EMRK) und die dritte (nutzungsregelnde Eingriffe gem Art 1 II 1. ZP EMRK) mit spezifischen Begrenzungen des Rechts auf Achtung des Eigentums beschäftigten, die im Lichte des allgemeinen Grundsatzes der ersten Regel (Art 1 I 1 1. ZP EMRK) auszulegen seien.121 Auch soll eine Prüfung „sonstiger Eingriffe“ allein anhand der ersten Regel nur dann in Frage kommen, wenn für eine Anwendung der Eingriffsnormen der zweiten und dritten Regel kein Raum ist.122 Soweit der EGMR sonstige Eigentumsbeeinträchtigungen für zulässig erachtet, 36 gelten diese nur dann als mit Art 1 I 1 1. ZP EMRK vereinbar, sofern eine Entschädigungsregelung existiert oder aber das nationale Recht anderweitige Vorkehrungen zum Ausgleich der erlittenen Nachteile vorsieht. An die Rechtfertigung sons-
117 Vgl dazu EGMR, Urt v 23.9.1982, 7151/75 u 7152/75, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth; vgl aber auch die schon zu diesem Urteil insoweit geäußerte abweichende Ansicht von acht Richtern Vgl aus jüngerer Zeit: EGMR, Urt v 5.1.2000, 33202/96, NJW 2003, 654 ff – Beyerle. Zur Unterscheidung auch Mittelberger, EuGRZ 2001, 364, 366. 118 Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 86 ff; aA Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S 198, die dem Grundgedanken der Schaffung eines Auffangtatbestandes grundsätzlich positiv gegenübersteht. 119 EGMR, Urt v 5.1.2000, 33202/96, RJD 2000-I, Ziff 106 – Beyeler; späte Ausübung eines Vorkaufsrechts für ein Gemälde von Vincent van Gogh; s auch EGMR, Urt v 22.6.2004, 31443/96, EuGRZ 2004, 472 ff – Broniowski. 120 EGMR, Urt v 29.3.2011, 33949/05, NVwZ 2012, 353, § 61 – Potomska u Potomski; Meyer-Ladewig/v Raumer in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/v Raumer, EMRK, Art 1 1. ZP Rn 2 f; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 19; EGMR, Urt v 14.05.2013, 66529/11, § 42 – N.K.M. 121 Vgl dazu etwa EGMR, Urt v 23.11.2000, 25701/94, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König; Urt v 26.6.2012, 9300/07, NJW 2012, 3629, § 74 – Herrmann; Urt v 8.12.2011, 5631/05, NVwZ 2012, 1455, § 50 – Althoff; Urt v 20.9.2011, 14902/04, NJOZ 2012, 2000, § 554 – OAO Neftyanaya Kompaniya Yukos; Urt v 28.6.2011, 28979/07, NJW 2012, 743, § 25 – Ruspoli Morenes. 122 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James.
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tiger Eingriffe werden damit höhere Anforderungen gestellt als an die nutzungsregelnder Maßnahmen.123
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Lösung Fall 2: Die Enteignungsgenehmigung stellt keine Enteignung iSv Art 1 I 2 1. ZP EMRK dar. Eine solche hat zu keinem Zeitpunkt stattgefunden und ist nach Aufhebung der Genehmigung auch nicht mehr zu erwarten. Die Beschränkung der Eigentumsrechte der S erreichte auch während der Gültigkeit der Enteignungsgenehmigung nicht ein solches Ausmaß, dass sie in ihren Wirkungen einer Enteignung gleichzusetzen gewesen wäre. Der EGMR sieht sich allerdings auch gehindert, die Enteignungsgenehmigung nach ihren Wirkungen als eine Regelung der „Nutzung des Eigentums“ iSv Art 1 II 1. ZP EMRK einzuordnen. Die Genehmigung habe zu keinem Zeitpunkt darauf abgezielt, die Nutzung zu beschränken oder zu kontrollieren. Als (später nicht verwirklichte) Anfangsstufe einer Enteignung könne sie als „sonstige Beschränkung“ allein an Art 1 I 1 1. ZP EMRK gemessen werden.124 In der Sache erweist sich die Enteignungsgenehmigung wegen ihrer unangemessen langen Dauer und wegen des Ausschlusses eines Ersatzes der aus ihr resultierenden Vermögensschäden als Verletzung des Eigentumsrechts der EMRK.125
3. Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen 38 Nach dem Text des Art 1 1. ZP EMRK und der Rechtsprechung der Konventionsorga-
ne bemisst sich die Rechtfertigung von Eingriffen in das Eigentumsrecht an drei kumulativen Voraussetzungen. Die entsprechenden staatlichen Maßnahmen müssen gesetzmäßig erfolgen, dem öffentlichen Interesse dienen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.126
123 Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 203. 124 Zur Kritik an dieser dogmatischen Einordnung bereits soeben Rn 35 f. 125 EGMR, Urt v 23.9.1982, 7151/75, 7152/75, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong u Lönnroth. Dazu, dass die unangemessen lange Dauer eines Flurbereinigungsverfahrens sich als eine neben einer Verletzung von Art 6 I EMRK selbständige Verletzung auch des Art 1 I 1. ZP EMRK erweisen kann: Urt v 24.3.1987, 9816/82, NJW 1989, 650 ff – Poiss; zu einer Verneinung einer überlangen Verfahrensdauer hinsichtlich eines eigentumsrechtlichen Entschädigungsverfahrens: Urt v 25.3.1999, 31423/96, EuGRZ 1999, 319 – Papachelas. 126 Ob diese Voraussetzungen allerdings einheitlich auf alle drei Eigentumseingriffe angewendet werden können, wird unterschiedlich beurteilt. Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 17 ff sowie Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S 78 ff differenzieren bei der Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen nochmals zwischen den einzelnen Eigentumseingriffen. Dem Erfordernis der Einhaltung der „durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen“ bei Enteignungen, s Art 1 I 1. ZP EMRK, kommt jedoch keine besondere Bedeutung zu, so dass sich die Voraussetzungen der Rechtfertigung von Nutzungsregelungen und Enteignungen insofern gleichen. Ob allerdings an die Voraussetzungen teilweise unterschiedliche Anforderungen zu stellen sind, ist ebenfalls str. S dazu und insb zu dem Streit, ob
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§ 6.2.1 Schutz des Eigentums nach der EMRK
Fall 5: (nach EGMR (Pl), Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside)
Der britische Verleger H will die englische Fassung eines dänischen Buches mit dem Titel „The little Red Schoolbook“ auf den Markt bringen. Das Buch behandelt als Nachschlagewerk für Schüler allgemeine Fragen von Erziehung und Unterricht und thematisiert in einem Umfang von etwa 10 % seines Inhalts Fragen der Sexualkunde. Das Buch wird von der britischen Polizei beschlagnahmt. In den nachfolgenden Verfahren vor britischen Gerichten wird H wegen Verstoßes gegen den Obscene Publications Act zu einer Geldstrafe verurteilt. Zudem wird die Einziehung und Vernichtung der beschlagnahmten Bücher angeordnet.
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a) Gesetzmäßigkeit der Beeinträchtigung Nach Art 1 I 2 1. ZP EMRK ist eine Enteignung nur unter den durch Gesetz und durch 40 die Allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts127 vorgesehenen Bedingungen zulässig. Auch Art 1 II 1. ZP EMRK erlaubt nur eine gesetzmäßige Regelung der Nutzung des Eigentums. Der Entzug oder die Ausgestaltung des Inhalts des Eigentums verlangt dabei nach einer hinreichend bestimmten rechtlichen Grundlage, die insb eine hinreichende Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit der staatlichen Eingriffe ermöglichen muss.128 Nach der jüngeren Rechtsprechungspraxis des EGMR ist die Gesetzmäßigkeit des Eigentumseingriffes die erste und bedeutendste Voraussetzung zu seiner Rechtfertigung.129 So hat der EGMR entschieden, dass eine fortdauernde Entziehung von Eigentum konventionswidrig sei, wenn diese im Widerspruch zu Normen des nationalen Rechts erfolgt sei oder aufrechterhalten werde.130 Allerdings re-
das „Öffentliche Interesse“ (Abs 1) mit dem „Allgemeininteresse“ (Abs 2) gleichzusetzen ist, Mittelberger Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Organe, 2000, S 115 ff. Ähnlich wie hier: v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 250 ff; im Übrigen vgl umfassend zur Rechtfertigung Fischborn Enteignung ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010, S 54 ff und Kriebaum Eigentumsschutz im Völkerrecht, 2008, S 430 ff. 127 Diesem Merkmal kommt in der Entscheidungspraxis des EGMR allerdings schon deshalb eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu, weil das Völkerrecht Regeln für die Enteignung nur hinsichtlich des Eigentums von Ausländern kennt. Eine einfache Übertragung der im Völkerrecht anerkannten und mit der Formulierung des Art 1 I 2 1. ZP EMRK in Bezug genommenen (vgl dazu Weiß Die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1954, 20) Beschränkungen und Kompensationserfordernisse auf die Enteignung der eigenen Staatsangehörigen lehnt der EGMR aus teleologischen Gründen ab, vgl EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 128 Mittelberger, EuGRZ 2001, 364 (367). 129 EGMR, Urt v 25.3.1999, 31107/96, EuGRZ 1999, 317 ff – Iatridis; Urt v 23.11.2000, 25702/94, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König; Urt v 28.6.2011, 28979/07, NJW 2012, 743, § 32 – Ruspoli Morenes. 130 EGMR, Urt v 25.3.1999, 31107/96, EuGRZ 1999, 317 ff – Iatridis, Aufrechterhaltung der Wirkungen einer Zwangsräumung trotz gegenteiliger Entscheidungen der nationalen Gerichtsbarkeit.
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klamiert der Gerichtshof angesichts der Besonderheiten des jeweiligen nationalen Rechts insoweit nur eine begrenzte eigene Prüfungskompetenz.131 In erster Linie sei es Aufgabe der innerstaatlichen Behörden und Gerichte, das nationale Recht auszulegen und anzuwenden und ggf über seine Verfassungsmäßigkeit zu entscheiden.132 Der Gerichtshof beschränkt seine Prüfung der Gesetzmäßigkeit deshalb auf die Frage, ob die Auslegung der anwendbaren Normen „willkürlich“ sei.133 Der EGMR übt mithin nur eine Missbrauchskontrolle aus und prüft lediglich, ob die Art und Weise, in der das innerstaatliche Recht interpretiert und angewendet wurde, mit den Konventionsprinzipien vereinbar ist.134 Unklarheiten des anwendbaren nationalen Rechts müssen dabei dennoch nicht zwangsläufig zu Lasten des jeweiligen Beschwerdeführers gehen. Im Gegenteil verlangt gerade das Kriterium der Gesetzmäßigkeit des Eingriffs nach einer für den Betroffenen hinreichend zugänglichen, präzisen und vorhersehbaren Ausgestaltung des nationalen Rechts.135 Die öffentliche Hand muss dabei nach den Grundsätzen der guten Verwaltung136 in angemessener Frist, Art und Konsistenz handeln.137
b) Schutz des öffentlichen Interesses 41 Art 1 I 2 1. ZP EMRK erlaubt Enteignungen im „öffentlichen Interesse“. Art 1 II des
1. ZP EMRK spricht von der Möglichkeit der Rechtfertigung von nutzungsregelnden Eigentumsbeschränkungen durch das „Allgemeininteresse“. Beide Begriffe werden in Rechtsprechung und Literatur als deckungsgleich verstanden.138 Auch für „sonstige Eingriffe“ verlangt der EGMR eine Legitimation durch ein im öffentlichen
131 EGMR, Urt v 21.1.1990, 11855/85, EuGRZ 1992, 5 ff – Håkansson u Sturesson; Urt v 28.6.2011, 28979/ 07, NJW 2012, 743, § 32 – Ruspoli Morenes. 132 EGMR, Urt v 23.11.2000, 25702/94, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König; Urt v 28.6.2011, 28979/ 07, NJW 2012, 743, § 32 – Ruspoli Morenes. 133 EGMR, Urt v 22.1.2004, 46720/99, 72203/01, 72552/01, EuGRZ 2004, 57 ff, (GK), Urt v 30.6.2005, 46720 ua, NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2; im Urt v 14.5.2013, 66529/11, § 46 ff – N.K.M. bejahte der Gerichtshof zwar zunächst die Gesetzmäßigkeit einer Steuer von maximal 98 % auf Abfindungszahlungen an entlassene öffentliche Bedienstete, hielt die Ausgestaltung der Steuer dann aber im konkreten Fall für unverhältnismäßig. 134 Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 49. 135 EGMR, Urt v 22.9.1994, 13616/88, EuGRZ 1996, 593 ff – Hentrich; Urt v 8.7.1986, 9006/80 ua, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; Urt v 5.1.2000, 33202/96, RJD 2000-I, Ziff 109 – Beyeler. 136 EGMR, Urt v 15.9.2009, 10373/05, § 51 – Moskal/Polen; näher dazu Stelkens, VerwArch 2021, 309 ff; mwN. 137 EGMR, Urt v 5.1.2000, 33202/96, § 120 – Beyeler/Italien. 138 Dazu EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 1 1. ZP Rn 42; Mittelberger, EuGRZ 2001, 364 (367).
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Interesse liegendes Ziel der jeweiligen Maßnahme.139 Dabei formuliert der EGMR zurückhaltend, die innerstaatlichen Stellen verfügten aufgrund ihrer „unmittelbaren Kenntnis“ der lokalen Situation oder der „jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse“ über einen weiten Einschätzungsspielraum bei der Bestimmung des Allgemeininteresses an einer Beschränkung des Eigentums.140 Die gerichtliche Prüfung durch den EGMR beschränkt sich allein darauf, zu prüfen, ob die entsprechenden Motive des Gesetzgebers sich als „offensichtlich unbegründet“ darstellen.141 So hat der EGMR im Bereich des Steuerrechts die Umsetzung einer EU-Richtlinie an sich, ohne Berücksichtigung des Inhalts, als legitimes Ziel angesehen.142 Ganz ähnlich hat der Gerichtshof im Umweltrecht betont, dass die Umsetzung einer EU-Richtlinie, die dem Staat einen Umsetzungsspielraum belässt, trotz der Bosphorus-Rechtsprechung143 zwar der Kontrolle durch den EGMR unterfällt, zugleich aber wegen der unionsrechtlichen Umsetzungspflicht eine im öffentlichen Interesse liegende und deshalb regelmäßig gerechtfertigte staatliche Tätigkeit darstellt.144 Genauso stellt das kulturelle Erbe, nämlich die Erhaltung der historischen, kulturellen und künstlerischen Wurzeln eines Gebiets und seiner Einwohner, ein öffentliches Interesse iSd Art 1 I 2 1. ZP EMRK dar.145 In einer neueren Entscheidung erkannte der EGMR zudem den gesellschaftlichen Gerechtigkeitssinn („sense of social justice of the population“) und das Interesse, die öffentliche Last zu verteilen, als schützenswertes Interesse an146. Bezüglich der Beschlagnahme eines Flugzeugs, die auf einer EG-Verordnung beruhte, hat der EGMR in dem für das Verhältnis zum Unionsrecht grundlegenden Fall Bosphorus entschieden, dass die Beachtung des Gemeinschaftsrechts einem öffentlichen Interesse von erheblichem Gewicht dient.147 Damit ist nach dem EGMR allerdings in Einklang zu bringen, dass jeder Vertragsstaat nach Art 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen seiner Organe verantwortlich
139 EGMR, Urt v 5.1.2000, 33202/96, RJD 2000-I, § 111 – Beyeler. 140 Vgl etwa EGMR, Urt v 30.10.1991, 11796/85, RUDH 1991, 551 ff – Wiesinger, unter Hinweis auf Urt v 23.2.1994, 18928/91, HRLJ 1991, 93 ff – Fredin (Nr 1); sowie Urt v 22.2.1994, 12954/87, RUDH 1994, 21 ff – Raimondo; Urt v 8.12.2011, 5631/05, NVwZ 2012, 1455, § 60 – Althoff; Urt v 20.9.2011, 14902/04, NJOZ 2012, 2000, § 566 – OAO Neftyanaya Kompaniya Yukos; Urt v 14.5.2013, 66529/11, § 55 – N.K.M. 141 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James; Urt v 8.12.2011, 5631/05, NVwZ 2012, 1455, § 60 – Althoff. 142 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 19; EGMR, Urt v 16.4.2002, 36677/97, EuGRZ 2007, 671 ff – S. A. Dangeville. 143 EGMR, Urt v 30.6.2005, 45036/98 – Bosphorus/Irland, näher dazu sogleich. 144 EGMR, Urt v 7.6.2018, 44460/16, §§ 110 ff, 125, 130 – O’Sullivan McCarthy Mussel Development Ltd/ Irland. 145 EGMR, Urt v 29.3.2011, 33949/05, NVwZ 2012, 353 Rn 64 – Potomska u Potomski. 146 EGMR, Urt v 14.5.2013, 66529/11, § 59 – N.K.M. 147 EGMR, Urt v 30.6.2005, 45036/98, NJW 2006, 197 § 150 – Bosphorus = JK 2006, EMRK Art 1/3.
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bleibt, auch wenn er Hoheitsbefugnisse auf eine internationale Organisation übertragen hat.148 Wenn die internationale Organisation gleichwertigen Grundrechtsschutz bietet, gilt aber die Vermutung, dass sich ein Staat den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, wenn er rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich aus seiner Mitgliedschaft in der Organisation ergeben. Der EGMR erachtet den im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Grundrechtsschutz als gleichwertig und deshalb die Beschlagnahme als konventionsgemäß.149 Ferner kann auch die Begünstigung privater Dritter im „öffentlichen Interesse“ liegen. Unzulässig ist eine solche Begünstigung allerdings dann, wenn sie den alleinigen Zweck der hoheitlichen Maßnahme darstellt und eine Förderung sonstiger öffentlicher Interessen nicht erkennbar ist.150 42 Verlangt wird im Übrigen keine Übertragung des Eigentums in den Gemeingebrauch. Vielmehr können sozial- oder wirtschaftspolitische Erwägungen den Gesetzgeber auch zu einer Umverteilung von Eigentum zugunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen berechtigen.151 Soweit erkennbar, ist in Anwendung dieser Maßstäbe erst in einer Entscheidung des EGMR ein öffentliches Interesse hinsichtlich einer Eigentumsbeeinträchtigung verneint worden.152
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Lösung Fall 5: Die Beschlagnahme der Bücher wie die Anordnung ihrer Einziehung und Vernichtung greifen in das in Art 1 1. ZP EMRK geschützte Eigentumsrecht des H ein. Weil die Beschlagnahme, Einziehung und Vernichtung sich als konfiskatorische Konsequenz eines Publikationsverbots für obszöne Schriften darstellen, werden sie vom EGMR einheitlich als Ergebnis der Anwendung einer nationalen Vorschrift begriffen, die nicht der Entziehung, sondern lediglich der Regelung der Benutzung des Eigentums iSv Art 1 II 1. ZP EMRK dient.153 Nach Auffassung des EGMR setzt dieser zweite Absatz aber „die Vertragsstaaten als alleinige Richter über die ‚Notwendigkeit‘ eines Eingriffs ein“ und eröffnet ihnen einen besonders weiten Beurteilungsspielraum. An einer von der der nationalen Instanzen abweichenden Beurteilung der moralischen Verwerflichkeit des Schulbuches sieht sich der Gerichtshof deshalb gehindert.154
148 EGMR, Urt v 30.6.2005, 45036/98, NJW 2006, 197 § 153 f – Bosphorus = JK 2006, EMRK Art 1/3. 149 EGMR, Urt v 30.6.2005, 45036/98, NJW 2006, 197 § 165 – Bosphorus = JK 2006, EMRK Art 1/3. 150 Vgl dazu VerfGH Wien, EuGRZ 1990, 425 ff, wonach die Verweigerung einer Ausfuhrbewilligung für Kupferdrahtabfälle nicht allein damit begründet werden kann, durch sie ginge einem inländischen Produzenten eine vergleichsweise günstige inländische Bezugsquelle für Kupfer verloren, das er deshalb auf dem Weltmarkt zu deutlichen höheren Preisen beschaffen müsse. 151 EGMR, Urt 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 152 EGMR, Urt v 22.2.1994, 12954/87, RUDH 1994, 21 ff – Raimondo, kein öffentliches Interesse an der Verzögerung einer gerichtlich angeordneten Restitution zuvor zu Unrecht konfiszierten Eigentums. 153 Vgl dazu schon Rn 30, insb Fn 97. 154 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside.
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c) Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung Wesentlichste155 Frage und damit zentrales richterliches Instrument bei der Beur- 44 teilung von staatlichen Eigentumsbeeinträchtigungen ist auch für den Grundrechtsschutz nach der EMRK die allgemeine Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.156 Der EGMR begreift das Verhältnismäßigkeitserfordernis in ständiger Rechtsprechung als ungeschriebene Rechtfertigungsvoraussetzung des Art 1 1. ZP EMRK.157
aa) Legitimer Zweck Nach der Rechtsprechung des EGMR muss jede eigentumsbeeinträchtigende Maß- 45 nahme einen berechtigten Zweck verfolgen.158 Die Prüfung dieses Punktes deckt sich inhaltlich mit der Frage nach dem die Maßnahme rechtfertigenden „öffentlichen Interesse“ iSv Art 1 I 2 1. ZP EMRK.159
bb) Erforderlichkeit Dem Kriterium der Erforderlichkeit einer eigentumsbeschränkenden staatlichen 46 Maßnahme ist in der Spruchpraxis der Konventionsorgane wegen des den Mitgliedstaaten insoweit zugebilligten weiten Prognosespielraums160 bislang noch keine besondere Bedeutung zugewachsen.161 Die Kommission hat kurz vor Ende ihrer Tätigkeit sogar noch festgestellt, Art 1 1. ZP EMRK enthalte überhaupt kein Erforder-
155 Vgl v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 252, zur insoweit wachsenden Bedeutung des Gesetzmäßigkeitsprinzips. Auch dieser betont aber die ganz wesentliche Bedeutung, die dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit als Abwägungskriterium zukommt, S 253. 156 Dazu Cremona FS Bernhardt, 1995, S 323; Eissen in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg) La Convention Européenne des droits de l’homme, 1999, 65 ff; Fiedler, EuGRZ 1996, 354, 355; EGMR, Urt v 26.6.2012, 9300/07, NJW 2012, 3629, § 74 – Herrmann; Urt v 28.6.2011, 28979/07, NJW 2012, 743, § 26 – Ruspoli Morenes. 157 Mittelberger, EuGRZ 2001, 364, 368 f. 158 EGMR, Urt v 5.1.2000, 33202/96, RJD 2000-I, Ziff 111 – Beyeler; Urt v 28.6.2011, 28979/07, NJW 2012, 743, § 34 – Ruspoli Morenes. 159 Vgl dazu schon o Rn 41. 160 Vgl dazu insb EGMR, Urt v 5493/72, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside; Urt v 8.12.2011, 5631/05, NVwZ 2012, 1455, § 62 – Althoff; Urt v 28.6.2011, 28979/07, NJW 2012, 743, §§ 26, 39 – Ruspoli Morenes; Urt v 29.3.2011, 33949/05, NVwZ 2012, 353 § 67 – Potomska u Potomski. 161 Mittelberger, EuGRZ 2001, 364, 368 spricht gar davon, das Kriterium der Erforderlichkeit sei „nicht von Bedeutung“; ebenso Malzahn Bedeutung und Reichweite des Eigentumsschutzes in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2007, 192, 255.
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lichkeitskriterium.162 Auch dem EGMR ist der Vorwurf gemacht worden, er berücksichtige in seiner Rechtsprechung nicht hinreichend, ob die konkret gerügten Eigentumsbeeinträchtigungen nicht durch eingriffsmildernde Maßnahmen hätten vermieden werden können.163 In der Tat hat der EGMR ausdrücklich festgestellt, in Art 1 1. ZP EMRK könne kein „Erfordernis einer strikten Notwendigkeit“ hineingelesen werden. Die bloße Möglichkeit alternativer Verfahrensweisen mache für sich genommen eine nationale Maßnahme noch nicht ungerechtfertigt. Sie biete lediglich „einen Gesichtspunkt unter anderen“, der berücksichtigt werden müsse, um festzustellen, ob die gewählten Mittel als vernünftig und angemessen zur Erzielung des legitimen Zwecks erachtet werden könnten. Innerhalb dieser Grenzen sei es dem Gerichtshof „verwehrt festzustellen“, ob eine Maßnahme „die beste Lösung des Problems“ darstelle oder ob das den nationalen Stellen einzuräumende Ermessen anders hätte ausgeübt werden müssen.164
cc) Gerechter Ausgleich der Interessen 47 Zum zentralen Argumentationstopos avanciert dabei in der Rechtsprechung der
Konventionsorgane die Frage, ob zwischen den Forderungen des Allgemeininteresses und den Erfordernissen eines effektiven Individualrechtsschutzes ein „gerechter Ausgleich“ oder auch ein „Gleichgewicht“ besteht.165 Die Rechtsprechung erstreckt die eigene Prüfung nationaler Maßnahmen, die der Sache nach einer Prüfung ihrer Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nach deutschem Rechtsverständnis weithin entspricht, mit Hilfe dieses Abwägungstopos auch auf die tatsächlichen Einzelheiten des konkret zu beurteilenden Einzelfalles.166 Bei der Entscheidung darüber, ob bei einer Benutzungsregelung iSd Art 1 II 1. ZP EMRK der notwendige gerechte Ausgleich zwischen dem Allgemeininteresse und dem Schutz der Grundrechte des Einzelnen hergestellt worden ist, muss vor al-
162 Vgl EGMR, Urt v 23.11.2000, 25701/94, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. 163 Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 203 unter Hinweis auf die Entscheidung in der Sache EGMR, Urt v 24.10.1986, 9118/80, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI. 164 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 165 Engl/franz: „proper balance“/„juste équilibre“, vgl etwa EGMR, Urt v 30.10.1991, 11796, RUDH 1991, 551 ff – Wiesinger; ähnlich für die Beurteilung des Verhältnisses von Enteignung und Kompensation EGMR, Urt v 9.12.1994, 1309/87 u 13984/88, HRLJ 1995, 30 ff – Heilige Klöster: „fair balance“. Zu den aus der Verwendung dieses Begriffs drohenden „Gefahren beliebig steuerbarer Ergebnisse“ Fiedler, EuGRZ 1996, 354, 355; EGMR, Urt v 26.6.2012, 9300/07, NJW 2012, 3629, § 74 – Herrmann; Urt v 29.3.2011, 3394/05, NVwZ 2012, 353 § 65 – Potomska u Potomski. 166 Vgl dafür EGMR, Urt v 22.9.1994, 13616/88, EuGRZ 1996, 593 ff – Hentrich. In einer Gesamtbetrachtung aber dennoch kritisch gegenüber der in der Rspr (nicht) erreichten Kontrollintensität: Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 202 f.
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lem berücksichtigt werden, ob der Eigentümer beim Erwerb der Sache bestehende oder mögliche spätere Einschränkungen kannte oder hätte kennen müssen.167 Berücksichtigung findet auch, ob der Erwerber hinsichtlich der Benutzung des Eigentums berechtigte Erwartungen hatte oder im Gegenteil beim Erwerb ein Risiko in Kauf genommen hat. Zu berücksichtigen ist weiterhin, in welchem Ausmaß und wie lange die staatlichen Beschränkungen die Benutzung des Eigentums verhindern und welche Ausgleichsmaßnahmen der Staat getroffen hat.168
dd) Kompensationserfordernis Fall 6: (nach EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James)
Durch Gesetz werden sog „Langzeitpächter“ berechtigt, die von ihnen bewohnten und instand gehaltenen Häuser zu gesetzlich festgelegten Konditionen zu erwerben und so den vertraglich vereinbarten „Heimfall“ an den Verpächter zu verhindern. Die den ehemaligen Verpächtern zu zahlenden Kaufpreise liegen dabei deutlich unter den am Markt zu erzielenden Preisen.
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Art 1 1. ZP EMRK enthält – anders als Art 14 GG – keine ausdrückliche Bestimmung 49 zur Notwendigkeit einer Entschädigung. Die „durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen“, auf die die Norm verweist, beinhalten eine Entschädigungspflicht nur für solche staatlichen Maßnahmen, die sich gegen das Eigentum von Ausländern richten.169 Dennoch hält der EGMR seit der Entscheidung in der Sache James die Enteig- 50 nung oder die sonstige (faktische) vollständige Wegnahme des Eigentums auch von Inländern ohne Entschädigung unter Hinweis auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit170 für nur in Ausnahmefällen rechtfertigungsfähig.171 Sei der Eigentums-
167 So auch EGMR, Urt v 8.12.1011, 35023/04, NJOZ 2012, 2235 §§ 49, 51 – Göbel. 168 EGMR, Urt v 29.3.2011, 33949/05, NVwZ 2012, 353, § 67 – Potomska u Potomski. 169 Zu den dogmatischen Schwächen dieser Argumentation v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/ Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 221, 255 mwN; vgl umfassend zur Entschädigungspflicht Fischborn Enteignung ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010, S 140 ff. 170 v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 256. 171 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James: „the protection of the right of property … would be largely illusionary and ineffective in the absence of any equivalent principle“; vgl auch EGMR, Urt v 9.12.1994, 1309/87 u 13984/88, HRLJ 1995, 30 ff – Heilige Klöster; Urt 23.11.2000, 25701/94, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. Näher zur Bedeutung des Kompensationserfordernisses auch für die Fälle der de-facto-Enteignung: Frowein FS Rowedder, 1994, S 49, 58 ff; Fiedler, EuGRZ 1996, 354, 355 f; EGMR, Urt v 8.12.2011, 5631/05, NVwZ 2012, 1455, § 63 – Althoff; 8.12.2011, 35023/04, NJOZ 2012, 2235, § 45 – Göbel.
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eingriff gesetzmäßig erfolgt und nicht willkürlich gewesen, mache das Fehlen einer Entschädigung nicht eo ipso und stets den Eigentumsentzug unzulässig.172 Es bleibe zu ermitteln, ob die Beschwerdeführer im Rahmen einer gesetzmäßigen Eigentumsentziehung eine unverhältnismäßige und übermäßige Last zu tragen hatten. 51 Umgekehrt kann eine gesetzlich vorgesehene Entschädigung die Härten eines Eigentumsentzugs oder einer Eigentumsbeschränkung so weit abmildern, dass sich die Maßnahmen insgesamt als verhältnismäßig erweisen.173 Voraussetzung ist allerdings, dass die vorgesehene Kompensation den betroffenen Eigentümern auch tatsächlich zukommt und für sie der Sache nach nicht völlig ohne Wert ist. So hat der EGMR die Berechtigung zur Jagd auf fremden Grundstücken als untaugliche Kompensation der gesetzlich auferlegten Pflicht zur Duldung der Jagd durch Dritte auf dem eigenen Grundstück angesehen. Wer – wie die Beschwerdeführer – die Jagd aus ethischen Gründen ablehne, für den sei die Einräumung eines solchen kompensatorischen Rechts ohne Wert.174 52 Die Entschädigungspflicht175 gilt gegenüber Inländern wie gegenüber Ausländern.176 Auch für die Ermittlung der Höhe der damit notwendigen Kompensation ziehen EGMR und Kommission das Kriterium des gerechten Ausgleichs heran. Dabei muss nicht in jedem Fall der volle Verkehrswert des entzogenen Eigentums gezahlt werden.177 So kann unter Umständen auf einen Ausgleich für inflationsbedingte Vermögenseinbußen verzichtet werden, die sich bis zum Zeitpunkt der Auszahlung der Entschädigung ergeben.178 Insgesamt begründet sich nach der Rechtsprechung des EGMR allein eine Pflicht zur „angemessenen“ Entschädigung.179 Ablehnend steht der
172 EGMR, Urt v 22.1.2004, 46720/99, 72203/01, 72552/01, EuGRZ 2004, 57, § 83 – Jahn; (GK), Urt v 30.6.2005, 46720 ua, NJW 2005, 2907, § 95 – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2. 173 EGMR, Urt v 23.11.2000, 25701/94, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. 174 EGMR, Urt v 29.4.1999, 25088/94, 28331/95, 28443/95, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou; vgl auch das Urt v 26.6.2012, 9300/07 – Herrmann. Der EGMR stellte eine Verletzung der EMRK durch § 3 I BJagdG fest, soweit Grundstückseigentümer verpflichtend Mitglieder in der Jagdgenossenschaft sind und deshalb die Jagd auf ihrem Grundstück auch gegen ihr Gewissen dulden müssen, vgl Ziebarth NuR 2012, 693 ff; Maierhöfer NVwZ 2012, 1521 ff. 175 Zu ihr eingehend Riedel, EuGRZ 1988, 333 ff. 176 Allerdings lehnt der EGMR eine Übertragung der für die Enteignung von Ausländern geltenden strengen kompensationsrechtlichen Regeln, wie sie sich aus den in Art 1 I 1 1. ZP EMRK in Bezug genommenen „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ ergeben, auf die Enteignung von Inländern ab. Eine „Inländerdiskriminierung“ im Bereich der Enteignungsentschädigung ist deshalb zulässig; vgl dazu EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 177 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 178 EGMR, Urt v 8.7.1986, 9006/80, 9262/81, 9263/81, 9265/81, 9266/81, 9405/81, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; näher dazu Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996, S 144 ff. 179 Wie hier: Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S 195 f.
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Gerichtshof allerdings solchen rechtlichen Regelungen gegenüber, die die zu leistende Entschädigung unter Hinweis auf unwiderlegliche gesetzliche Fiktionen pauschal mindern. Verworfen wurde deshalb eine griechische Entschädigungsregelung, nach der der Bau einer Nationalstraße für die betroffenen Anwohner stets als eine Wertsteigerung anzusehen sei, die bei der Berechnung der Entschädigung für die teilenteigneten Grundstücke pauschal in Anrechung zu stellen sei. Auch Argumente der Verwaltungspraktikabilität sollen ein solches System wegen seiner „exzessiven Starrheit“ nicht rechtfertigen können.180 Im Übrigen verlangt der EGMR lediglich, dass die Höhe der Entschädigung in 53 einem „vernünftigen Zusammenhang“ zum Wert des enteigneten Objekts steht.181 Dabei billigt der EGMR den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum bei der Festsetzung der Entschädigung zu. So soll insbesondere auch der „soziale“ oder auch „sozialisierende“ Charakter182 der staatlichen Maßnahme Berücksichtigung finden können, sofern er den Grundsätzen einer „demokratischen Gesellschaft“ noch entspricht.183 Enteignende Maßnahmen zum Zwecke der Durchsetzung von Wirtschafts- und Agrarreformen können demnach auch bei geringer oder fehlender Kompensation eher auf Akzeptanz stoßen als sonstige, eher im Einzelfall veranlasste Enteignungen. Eine jüngere Entscheidung184 nimmt Bezug auf die Entscheidungen James und Broniowski, wonach bei berechtigten Zielen „öffentlichen Interesses“, wie Maßnahmen bei einer Wirtschaftsreform oder zur Herbeiführung größerer sozialer Gerechtigkeit, eine Entschädigung unter dem vollen Marktwert ausreichend sein kann.185 Jedoch verletzt eine Enteignung, die nicht im Rahmen einer wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Reform stattfindet oder durch sonstige besondere Umstände veranlasst ist, Art 1 1. ZP, wenn die Entschädigung unter dem Marktwerkt liegt.186
180 EGMR, Urt v 25.3.1999, 31423/96, EuGRZ 1999, 319 ff mwN – Papachelas. 181 EGMR, Urt v 8.7.1986, 9006/80 ua, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow: „an amount reasonably related to its value“/„raisonnablement en rapport avec la valeur du bien“; für eine weitere Ausdifferenzierung der angewandten Kriterien vgl Condorelli in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg) La Convention Européenne des droits de l’homme, 1999, S 990 ff. 182 Vgl dafür schon EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James: „greater social justice“/„justice social“. 183 Für diese Formeln vgl EGMR, Urt v 8.7.1986, 9006/80, 9262/81, 9263/81, 9265/81, 9266/81, 9313/81, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; unter Berufung darauf ablehnend zu einer „klassenspezifisch orientierten Kollektivierung“ und zur Perpetuierung der Wirkungen der kommunistischen Bodenreform zwischen 1945 und 1949 in Ostdeutschland: Fiedler, EuGRZ 1996, 354, 356. 184 EGMR, Urt v 29.3.2006, 36813/97, NJW 2007, 1259 ff – Scordino Nr 1 = JK 2007, EMRK Art 1 1. ZP/1. 185 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James; Urt v 22.6.2004, 31443/96, EuGRZ 2004, 772 ff – Broniowski. 186 EGMR, Urt v 29.3.2006, 36813/97, NZW 2007, 1259 ff – Scordino Nr 1 = JK 2007, EMRK Art 1 1. ZP/1.
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Lösung Fall 6: Der durch Gesetz begründete Zwang zum Verkauf der ursprünglich bloß verpachteten Häuser stellt sich als Eigentumsentziehung nach Art 1 I 2 1. ZP EMRK dar. Diese Enteignung liegt, auch wenn sie private Dritte begünstigt, im von der Vorschrift vorausgesetzten „öffentlichen Interesse“. Die Enteignungen werden auch nicht dadurch konventionswidrig, dass sie keine vollständige Entschädigung der betroffenen Alteigentümer vorsehen. Zwar hält der EGMR eine Entschädigung für grundsätzlich geboten. In ihrer Höhe müsse sie jedoch nicht dem Marktpreis entsprechen. Insbesondere sind die Härten, die sich aus der Anwendung einer allgemeinen Enteignungsmaßnahme im Einzelfall ergeben können, im Interesse der Gleichförmigkeit, Rechtssicherheit und Schnelligkeit der Enteignung insgesamt grundsätzlich hinzunehmen.187
55 Die Herleitung der Entschädigungspflicht aus dem Grundsatz der Verhältnismäßig-
keit macht die Anerkennung einer Fallgruppe der entschädigungspflichtigen Nutzungsbestimmung wahrscheinlich. Noch hat der EGMR dazu aber – soweit erkennbar – noch nicht entschieden.188 56 Wenn der EGMR auch durchaus gewillt ist, nationale Besonderheiten wie etwa die deutsche Wiedervereinigung mit ihren Schwierigkeiten zu berücksichtigen,189 so stellt er doch hohe Anforderungen an einen Eingriff in das Eigentumsrecht, die allerdings in dem Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 30. Juni 2005 etwas gesenkt wurden.190 In der vorherigen Entscheidung191 hatte die dritte Sektion des EGMR nicht nach der Art und Weise differenziert, auf die das Eigentum erworben wurde, sondern nur danach gefragt, ob überhaupt Eigentum zu dem Zeitpunkt vorgelegen hat, in dem die EMRK Geltung erlangt hat. Dies führte zu Differenzen zwischen der Rechtsprechung des BVerfG zu Art 14 GG und der des EGMR zu Art 1 1. ZP EMRK.192 In 187 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341 ff – James; vgl auch Urt v 8.7.1986, 9006/80, 9262/ 81, 9263/81, 9265/81, 9266/81, 9313/81, 9405/81, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow, für die Beschränkung des Maßes der Entschädigung in Fällen der Verstaatlichung bestimmter Industriezweige. 188 Ähnlich wie hier: Weber Anrechnung von (mittelbaren) Enteignungsvorteilen? in: Bröhmer (Hrsg) Der Grundrechtsschutz in Europa, 2002, S 115. Einstweilen hält Weber aber wie Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S 194 an der gerade durch die Entschädigungspflicht konstituierten Unterscheidung von Enteignung und Nutzungsbeschränkung fest. 189 EGMR, Urt v 22.1.2004, 46720/99, 72203/01, 72552/01, EuGRZ 2004, 57, § 89 – Jahn. 190 EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 46720/99, 72203/01, 72552/01, NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2. 191 EGMR, Urt v 22.1.2004, 46720/99, 72203/01, 72552/01, EuGRZ 2004, 57 – Jahn. 192 Anders als der EGMR, der eine Entziehung des Eigentums nach Art 1 I 2 1. ZP bejaht, hatte das BVerfG eine Enteignung im Sinne des Art 14 III GG im vorliegenden Fall verneint (BVerfG, Beschl v 6.10.2000, WM 2001, 775 ff). Das BVerfG sieht in Art 233 §§ 11 III, 12 II, III EGBGB eine Regelung über die Bestimmung von Inhalt und Schranken des (Grundstücks-) Eigentums im Sinne von Art 14 I 2 GG. Enteignung sei der staatliche Zugriff auf das Eigentum des Einzelnen. Ihrem Zweck nach sei sie auf die vollständige oder partielle Entziehung konkreter subjektiver, durch Art 14 I 1 GG geschützter Po
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dem Urteil vom 30. Juni 2005193 hingegen stellt die Große Kammer darauf ab, dass die Beschwerdeführer unter den von tiefgreifenden Veränderungen und Ungewissheiten gekennzeichneten Umständen, unter denen das Modrow-Gesetz verabschiedet wurde, nicht sicher sein konnten, ihre formale Rechtsposition zu behalten. Lösung Fall 4: Bei der Verpflichtung zur unentgeltlichen Auflassung des Grundstücks durch A an das Land L handelt es sich um eine Entziehung des Eigentums gemäß Art 1 I 2 1. ZP EMRK. A ist nach dem Wegfall der Beschränkungen hinsichtlich der Bodenreformgrundstücke durch das Modrow-Gesetz rechtmäßig vollwertiger Eigentümer geworden. Dieses Eigentumsrecht ist durch die deutsche Wiedervereinigung Bestandteil des Rechts der Bundesrepublik Deutschland geworden, wodurch es in den Geltungsbereich der EMRK gelangte. Die Rechtmäßigkeit des auf diese Weise erworbenen vollwertigen Eigentums kann nicht dadurch in Zweifel gezogen werden, dass die Bundesregierung anschließend dieses Eigentum als unrechtmäßig erworben beurteilt. Allein entscheidend ist, dass A nach der deutschen Wiedervereinigung in das Grundbuch eingetragen worden war und zunächst frei über sein Eigentum verfügen konnte. Der so festgestellte Eigentumsentzug ist gesetzmäßig. Auch sind mit der gesetzlichen Regelung die Kriterien der Zugänglichkeit, Genauigkeit und Vorhersehbarkeit gewahrt; die Auslegung der einschlägigen Normen durch die deutschen Gerichte und die Bejahung der Verfassungsmäßigkeit durch das BVerfG ist nicht willkürlich. Außerdem hegt der EGMR keinen Zweifel daran, dass der Wille des Gesetzgebers, die Eigentumsfragen im Zusammenhang mit der Bodenreform zu klären und die Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren, dem öffentlichen Interesse dient.
sitionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet. Demgegenüber gehe es bei Art 233 §§ 11 bis 16 EGBGB um die nachträgliche Korrektur der durch das Modrow-Gesetz erfolgten ersatzlosen Aufhebung der Besitzwechselvorschriften und um die Schaffung klarer Eigentumsverhältnisse an den aus der Bodenreform stammenden Grundstücken. Der Gesetzgeber dürfe im Rahmen seiner Regelungsbefugnis nach Art 14 I 2 GG bei der generellen Neugestaltung eines Rechtsgebietes unter bestimmten Voraussetzungen auch bestehende, durch die Eigentumsgarantie geschützte Rechtspositionen beseitigen. Die Verhältnismäßigkeit der Inhalts- und Schrankenbestimmung sieht das BVerfG hauptsächlich deswegen gewahrt an, da A nicht in schützenswerter Weise darauf vertrauen konnte, das Eigentum an dem nur wegen der unterbliebenen Umsetzung der Besitzwechselverordnungen der DDR erlangten Grundstück behalten zu dürfen. Vertrauen in den Fortbestand von Rechtsvorschriften der DDR habe sich in der Zeit nach der Wende mit Blick auf eine mögliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht allgemein bilden können, sondern nur dort, wo besonderer Anlass für die Erwartung bestand, dass das Recht der DDR ausnahmsweise in Kraft bleiben werde. Das Vertrauen in die grundsätzliche Anerkennung von vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet erworbenen Grundrechtspositionen könne nicht denselben weitgehenden Schutz beanspruchen wie das Vertrauen in den Fortbestand von Rechten, die unter der Geltung des Grundgesetzes erlangt worden seien. 193 EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 46720/99, 72203/01, 72552/01, NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2.
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Insoweit stimmen das Urteil der dritten Sektion des EGMR vom 22. Januar 2004194 und das Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 30. Juni 2005195 überein. Die Große Kammer sieht jedoch abweichend von der dritten Sektion die Verhältnismäßigkeit als gewahrt an. Die dritte Sektion hatte entschieden, der Eingriff sei nicht verhältnismäßig, da A kein Anspruch auf Entschädigung zustehe. Zwar erklärte sie, sie sei sich der „unendlich großen Aufgabe“, die der deutsche Gesetzgeber hinsichtlich des Eigentums beim Übergang von einem sozialistischen Eigentumssystem zu einem Marktwirtschaftssystem zu bewältigen hatte, bewusst. Dennoch hielt die Sektion es nicht für gerechtfertigt, das Eigentum des A als „illegitim“ zu betrachten. Nach ihrer Ansicht hatte A mit Inkrafttreten des Modrow-Gesetzes rechtmäßig vollwertiges Eigentum an dem Grundstück erlangt. Der deutsche Gesetzgeber durfte das Modrow-Gesetz zwar noch zwei Jahre später korrigieren. Er durfte aber eine solche Eigentumsentziehung zu Gunsten des Staates nicht vornehmen, ohne eine angemessene Entschädigung für die Betroffenen vorzusehen. Im Gegensatz zu dem Urteil der dritten Sektion erachtet die Große Kammer den Eingriffs trotz des Fehlens jeglicher Entschädigung als verhältnismäßig.196 Eine Enteignung unter Ausschluss jeglicher Entschädigung ließe sich zwar nur unter außergewöhnlichen Umständen rechtfertigen. Diese sieht die Große Kammer hier aber als gegeben an, wobei drei Faktoren entscheidend seien. Erstens, dass das Modrow-Gesetz in einer Zeit des Regimewechsels verabschiedet wurde, die durch tiefgreifende Veränderungen und Ungewissheiten gekennzeichnet war.197 Unter diesen Umständen konn-
194 EGMR, Urt v 22.1.2004, 46720/99, 72203/01, 72552/01, EuGRZ 2004, 57 ff – Jahn. 195 EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 46720/99, 72203/01, 72552/01, NJW 2005, 2907 ff – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2. 196 EGMR (GK), Urt v 30.6.2005, 46720/99, 72202/01, 72552/01, NJW 2005, 2907 ff § 116 f – Jahn = JK 2006, EMRK Art 1 1. ZP/2; vgl aber anders den polnischen Fall Urt v 22.6.2004, 31443/96, EuGRZ 2004, 472 ff – Broniowski. Die Große Kammer des EGMR hatte bereits zuvor die Beschwerden der ehemaligen Eigentümer, die zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen Besatzungszone oder nach 1949 in der DDR enteignet wurden, in einer Entscheidung vom 2.3.2005 (EGMR – von Maltzan ua) für unzulässig erklärt. Diese Eigentümer sahen sich durch das Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz von 1994 und ein bereits ergangenes Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22.11.2000 (BVerfGE 102, 254) in ihrem Recht auf Eigentum gemäß Art 1 1. ZP verletzt, da sie der Meinung waren, dass die Ausgleichsbeträge, die sie erhalten hatten, weit unter dem tatsächlichen Wert ihrer unrechtmäßig enteigneten Güter lagen. Der EGMR verneint eine berechtigte Erwartung der Beschwerdeführer auf einen gegenwärtigen und einklagbaren Anspruch auf Rückgabe der Güter oder auf Ausgleichsleistungen für Enteignungen zwischen 1945 und 1949 bzw Entschädigungszahlungen für die Enteignungen nach 1949 in einer bestimmten, in einem angemessenen Bezug zum tatsächlichen Grundstückswert stehenden Höhe. Eine berechtigte Erwartung, die konkret und auf eine gesetzliche Grundlage gestützt werden oder eine solide Grundlage in der Rspr haben muss, habe nicht vorgelegen. Die Beschwerdeführer hätten nicht dargelegt, dass sie Inhaber von hinreichend nachgewiesenen und mithin klagbaren Ansprüchen waren. Der EGMR verneint seine Zuständigkeit, die Umstände der Enteignungen oder ihre bis heute fortwirkenden Folgen zu untersuchen. Denn die Bundesrepublik sei weder für die von der sowjetischen Besatzungsmacht veranlassten Handlungen noch für die der DDR verantwortlich, auch wenn sie später die Rechtsnachfolge der DDR angetreten habe. Im Übrigen billigt der EGMR der Bundesrepublik auch hier einen weiten Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung der Entschädigungsregelungen zu. 197 Kritisch zu diesem Argument Nußberger, DÖV 2006, 454, 460: Zu bedenken sei, dass dieses Argument für alle ehemals sozialistischen Konventionsstaaten gelte. Verallgemeinere man diese Sicht
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ten die Beschwerdeführer, auch wenn sie eine formale Eigentumsposition erworben hatten, nicht sicher sein, diese zu behalten. Zweitens der kurze Zeitraum zwischen dem Wirksamwerden der deutschen Wiedervereinigung und der Verabschiedung des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes. Drittens dessen Begründung: Unter Berücksichtigung des „glücklichen Zufalls“ („windfall“), der den Beschwerdeführern dank des Modrow-Gesetzes zugute gekommen ist, war der Umstand, dass die Korrektur ohne Entschädigung erfolgte, nach Ansicht der Großen Kammer nicht unverhältnismäßig. Angesichts all dessen, insbesondere der Unsicherheit der Rechtslage der Erben und der von den deutschen Behörden angeführten Gründe der sozialen Gerechtigkeit, kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass in dem einzigartigen Zusammenhang der deutschen Wiedervereinigung der Ausschluss jeglicher Entschädigung Art 1 1. ZP nicht verletzt hat.198
4. Eigentumsrecht und andere Garantien der EMRK Fall 7: (nach EGMR, Urt v 29.11.1991, 12742/87, HRLJ 1992, 36 ff – Pine Valley)
Die Firma H erwirbt ein Gelände, das außerhalb der normalen Bauzonen liegt, für das aber eine besondere Planungsgenehmigung zum Bau eines Kaufhauses existiert. Die Planungsgenehmigung ist in ein öffentliches Register eingetragen. Nach Erwerb des Grundstückes wird die Planungsgenehmigung in einem Musterprozess vom Obersten Gerichtshof des Landes für nichtig erklärt. Während für eine Vielzahl vergleichbarer anderer Fälle ein Gesetz die Nichtigkeit nachträglich beseitigt und die Wirkung der ursprünglich rechtswidrig erteilten besonderen Planungsgenehmigungen wiederherstellt, unterbleibt dies für das Grundstück der H.
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Der durch Art 1 1. ZP EMRK garantierte Schutz des Eigentums erfährt in besonderen 59 Fällen eine Verstärkung durch weitere Garantien der EMRK. Eine solche Funktion hat etwa das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK.199 60 Zwar soll der Bestimmung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „keine eigenständige Bedeutung“ zukommen. Sie soll vielmehr den Einzelnen nur vor einer unberechtigten Ungleichbehandlung hinsichtlich des Gebrauchs seiner in anderen Vor-
weise, würde dies den eigentumsrechtlichen Schutz in diesen Ländern „grundsätzlich unterminieren“. Auch Richter Ress bezeichnet in seinem Sondervotum die Anerkennung außergewöhnlicher Umstände als gefährlichen Schritt in der Entwicklung der Auslegung der Konvention. Das Sondervotum ist – im Anschluss an das Urteil – abrufbar unter www.echr.coe.int. Dem zustimmend Malzahn Bedeutung und Reichweite des Eigentumsschutzes in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2007, S 386 ff. 198 Die Richter Barreto und Pavlovschi weichen teilweise, die Richter Costa, Borrego Borrego, Botoucharova und Ress vollständig ab. 199 EGMR, Urt v 1.2.2000, 34406/97, NJOZ 2005, 1048, § 43 – Mazurek.
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schriften der Konvention und der ergänzenden Protokolle normierten Freiheiten schützen.200 Soweit der Gerichtshof bereits auf eine Verletzung der in Art 1 1. ZP EMRK garantierten Eigentumsfreiheit erkennt, hält er es deshalb regelmäßig für entbehrlich, auch noch eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes zu prüfen. Anderes soll nur gelten, wenn eine klare Ungleichbehandlung bei der Ausübung des Eigentumsrechts einen wesentlichen Aspekt des Streitfalles darstellt. Als einen solchen gerade in der Ungleichbehandlung sich manifestierenden Verstoß gegen Art 1 I 1. ZP EMRK iVm Art 14 EMRK hat der Gerichtshof eine französische Gesetzgebung gewertet, die lediglich die Eigentümer kleiner Grundstücke verpflichtete, den Zutritt Dritter zum Zwecke der Jagd zu dulden, Eigentümer größerer Grundstücke aber von dieser Verpflichtung ausnahm.201 Ein Konkurrenzverhältnis kann auch zu Art 8, 9 und 11 EMRK entstehen.202 61 Eine den Eigentumsschutz verstärkende Funktion kann daneben vor allem der Bestimmung über das faire Verfahren in Art 6 EMRK zukommen.203 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn bestehende Eigentumspositionen in einem Konventionsstaat gerichtlich anerkannt wurden, diese jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgesetzt oder Enteignungsentschädigungen erst später ausgezahlt wurden.204
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Lösung Fall 7: Obwohl die Planungsgenehmigung von Anfang an nichtig war, sieht der EGMR in der dies feststellenden gerichtlichen Entscheidung einen Eingriff in das Eigentum der H. Mit Rücksicht auf die Rechtswidrigkeit der Genehmigung und auf die Kenntnis der H von den insoweit bestehenden rechtlichen Zweifeln hält der Gerichtshof die Nichtigerklärung allerdings für verhältnismäßig und als solche für nicht entschädigungspflichtig. Eine Entschädigungspflicht ergibt sich allerdings angesichts der nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung aus Art 1 I 1, II 1. ZP EMRK iVm dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK.205
200 EGMR, Urt v 7.7.2011, 37452/02, NJOZ 2012, 1897, § 81 – Stummer; Urt v 15.1.2019, 3356/15, NJOZ 2012, 2238, § 81 – Zammit Maempel; Urt v 31.5.2011, 24120/06, EuGRZ 2011, 477, § 89 – Sfountouris = JK 2012, EMRK Art 1 1. ZP/4. 201 Vgl EGMR, Urt v 29.4.1999, 25088/94, 28331/95, 28443/95, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou. 202 Kaiser in: Karpenstein/Mayer EMRK, Art 1 ZP 1 Rn 53 mwN. 203 Zur Bedeutung des Art 6 I EMRK für eigentumsrelevante Verfahren, vgl o in Fn 125. Speziell zur Funktion des Art 6 EMRK im EG-Kartellrecht: Weiß, EWS 1997, 253, 255 f; dort auch zum Schutz von Geschäftsräumen durch Art 8 EMRK. 204 Kaiser in: Karpenstein/Mayer EMRK, Art 1 ZP 1 Rn 52; Meyer-Ladewig/v Raumer in: Meyer-Ladewig/v Raumer, EMRK, Art 1 1. ZP, Rn 63. 205 EGMR, Urt v 29.11.1991, 12742/87, HRLJ 1992, 36 ff – Pine Valley.
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III. Sonstige wirtschaftsrechtliche Garantien Neben dem Eigentumsrecht kennt die EMRK im Unterschied zur Universellen Erklä- 63 rung der Menschenrechte der UN keine weiteren Wirtschaftsgrundrechte. Lediglich einen eher unbedeutenden Sonderfall normiert Art 1 des 4. ZP: Danach darf „niemandem … die Freiheit allein deshalb entzogen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen.“ Die Regelung, nach der das Instrument des „Schuldturms“206 konventionswidrig ist, macht die Beugehaft, die Art 5 I lit b EMRK ausdrücklich anerkennt, nicht unzulässig.207 Die Anordnung der Haft zur Erzwingung einer eidesstattlichen Versicherung gemäß § 802g ZPO und ähnliche Vorschriften werden durch Art 1 des 4. ZP nicht berührt.208 Im Übrigen fehlt es an der Gewährleistung wichtigerer Wirtschaftsgrundrech- 64 te, etwa der Berufs- oder Gewerbefreiheit.209 Letztere soll sich auch nicht im Wege der Ableitung einer allgemeinen Handlungsfreiheit ergeben können. Auch für sie findet sich jedenfalls nach herrschender Meinung in der Konvention kein hinreichender Anhaltspunkt.210 Bislang haben die Konventionsorgane den gelegentlichen Bemühungen um eine Erweiterung des Kreises der Wirtschaftsgrundrechte weithin widerstanden.211 Allerdings unterfallen nach der Rechtsprechung des EGMR wirtschaftliche Interessen, die im Zusammenhang mit einem Gewerbebetrieb bestehen, dem Eigentumsgrundrecht aus Art 1 1. ZP EMRK. Erfasst werden damit unter Umständen auch Konstellationen, die im nationalen Recht in den Schutzbereich der Berufsfreiheit fallen würden.212 Umgekehrt enthält die EU-GRC in Art 17 eine Eigentumsgarantie, welche im Wesentlichen Art 1 1. ZP EMRK entspricht.213
206 Der entsprechende Sinn der Bestimmung ergibt sich nicht zuletzt aus dem 1. ZP, das für sie die Überschrift: „Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden“ eingeführt hat. 207 Villiger EMRK, Rn 682. 208 EGMR, Urt v 4.7.2019, 57939/18, YB 14, 692, 697 f – X/Deutschland; hier zit nach Frowein/Peukert in: dies EMRK, Art 1 4. ZP. 209 Frowein in: Frowein/Peukert EMRK, Art 4 Rn 1. 210 Laule, EuGRZ 1996, 357, 362; Peukert in: Frowein/Peukert EMRK, Art 5 Rn 9 f. 211 Vgl dazu insb Melchior Rights Not Covered by the Convention in: MacDonald/Matscher/Petzold (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S 593 (599 f). 212 Michl, JuS 2019, 343, 346. 213 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 25 Rn 2.
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IV. Einfluss der Europäischen Sozialcharta Fall 8: (nach BVerwGE 91, 327 ff – Landeserziehungsgeld) Die T, eine türkische Staatsangehörige, wohnt seit mehreren Jahren zusammen mit ihrem türkischen Ehemann, der als Arbeitnehmer tätig ist, in Baden-Württemberg. Sie beantragt für das gemeinsame Kind Landeserziehungsgeld. Ihr Antrag wird von der zuständigen Behörde abgelehnt, weil die einschlägigen Richtlinien des Landesministeriums eine Auszahlung des Erziehungsgelds nur für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der EU vorsehen.
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66 Die EMRK verzichtet nach dem Gesagten weithin auf den Schutz anderer als der klas-
sischen wirtschaftlichen Freiheitsgrundrechte. Insb enthält sie keine sozialen Leistungsrechte. Solche enthält auch die vom Europarat als „sozialrechtliches Pendant zur EMRK“214 beschlossene Europäische Sozialcharta (ESC)215 von 1961 nur in einer strukturell abgeschwächten Variante.216 Die Rechte der Sozialcharta, wie etwa das Recht auf Arbeit (Art 1 ESC), auf ein gerechtes Arbeitsentgelt (Art 4 ESC), auf soziale Sicherheit (Art 12 ESC) und auf Fürsorge (Art 13 ESC) oder das Vereinigungs- (Art 5 ESC) und Streikrecht (Art 6 IV ESC) sind lediglich als Programmbestimmungen ausgestaltet, die von den Vertragsstaaten in ihr nationales Recht umgesetzt werden müssen. 67 Dies folgt aus Teil III des Anhangs zur ESC.217 Danach enthält die Charta „rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters …, deren Durchführung ausschließlich der in ihrem Teil IV vorgesehenen Überwachung unterliegt.“ Die in Art 21 bis 29 ESC geregelte „Überwachung“ sieht aber – anders als die EMRK – weder behördliche noch gerichtliche Kontrollen innerhalb der einzelnen Vertragsstaaten, sondern lediglich ein Berichts-, Prüfungs- und Empfehlungsverfahren auf zwischenstaatlicher Ebene vor. Die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates angeregte Schaffung eines Europäischen Sozialgerichtshofs oder einer für die Kontrolle der Einhaltung der in der ESC enthaltenen Bestimmungen zuständigen Kammer des EGMR ist auch im Rahmen der unlängst erfolgten Revision der ESC nicht umgesetzt worden.218 Unmittelbar aus den Bestimmungen der ESC
214 Hailbronner, JZ 1997, 397(398). 215 Vgl BGBl II 1964, 1262, Sart II Nr 115. 216 Allgemein zur ESC vgl Agnelli/Berenstein ua Die Europäische Sozialcharta – Wege zu einer europäischen Sozialordnung, 1978. Zur gewerkschaftlichen Kritik an der rechtlichen Schwäche der ESC vgl Gabaglio/Fonteneau/Lörcher, ArbuR 1997, 345 ff. 217 Der Anhang ist nach Art 38 ESC verbindlicher Bestandteil der Charta selbst. 218 Dazu und zu den Veränderungen durch die am 1.7.1999 in Kraft getretene, von Deutschland am 29.6.2007 unterzeichnete, aber noch nicht ratifizierte „Revidierte Europäische Sozialcharta“ vgl Dötsch, AuA 2001, 27 ff.
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lassen sich nach herrschender Meinung deshalb keine individuellen Rechte ableiten.219 Nicht nur ihrer gerichtlichen Durchsetzungsschwäche wegen, sondern auch in- 68 haltlich wird die Wirkkraft der in der ESC normierten Rechte wenigstens zum Teil als stark beschränkt angesehen. Die ESC umschreibe „primär und wesentlich den bereits als vorhanden vorausgesetzten Mindeststandard von Rechtsinstitutionen sozialer Sicherheit“ und ziele anders als das Sozialrecht der EG nicht auf die Veränderung des Rechts der Mitgliedstaaten.220 Ob sich diese Bewertung angesichts der umfangreichen Verpflichtungstatbestände der ESC und der Vorbehalte, die selbst Vertragsstaaten wie die Bundesrepublik für erforderlich hielten221, aufrechterhalten lässt, mag allerdings bezweifelt werden.222 Lösung Fall 8: 69
Die T hat keinen Anspruch auf die Zahlung des Landeserziehungsgeldes. Ein solcher Anspruch ergibt sich insbesondere nicht aus Art 16 ESC. Zwar verpflichtet die Bestimmung die Vertragsstaaten, den wirtschaftlichen, gesetzlichen und sozialen Schutz des Familienlebens, insbesondere durch Sozialund Familienleistungen zu fördern. Einen individuell einklagbaren Anspruch auf konkrete Fördermittel begründet die Vorschrift aber angesichts des bloß völkerrechtlichen Charakters der ESC nicht. Der Umstand, dass sowohl die Türkei als auch Deutschland als Signatarstaaten der ESC die entsprechende Verpflichtung als für sich verbindlich anerkannt haben, verpflichtet die Landesbehörden auch in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 3 I GG nicht, die Regelungen über das
219 Vgl dazu BVerwGE 65, 188, 196; 66, 268, 274; BAG, JZ 1985, 445 ff mit ablehnender Besprechung Konzen, JZ 1986, 157 ff; VGH Mannheim, DÖV 2000, 874; Wengler Die Unanwendbarkeit der Europäischen Sozialcharta im Staat, 1969, S 11 f; Pischel Die Bedeutung der europäischen Sozialcharta für das Recht in der Bundesrepublik Deutschland, 1966; Harris The European Social Charter, 2001, S 290 f, 404; Zuleeg, ZaöRV 35 (1975) 341, 352; Swiatkowski Charter of Social Rights of the Council of Europe, 2007, S 42. Für den tastenden Versuch der Begründung einer abweichenden Ansicht vgl Lörcher, EuZW 1991, 395 f. 220 So Eichenhofer in: Oetker/Preis (Hrsg) EAS, B 1200, 1995, Rn 4; konsequent wird in dieser Darstellung des Europäischen Sozialrechts denn auch auf Ausführungen zur ESC weitestgehend verzichtet. 221 Die Bundesrepublik hat von der in Art 20 ESC vorgesehenen Möglichkeit einer nur eingeschränkten Ratifikation der Charta Gebrauch gemacht und den Art 4 IV (Recht auf angemessene Kündigungsfrist), Art 7 I (Mindestbeschäftigungsalter 15 Jahre), Art 8 II (Verbot der Kündigung während Mutterschaftsurlaubs) und Art 8 IV (Sonderregelungen für Nachtarbeit und gefährliche Arbeiten von Arbeitnehmerinnen) sowie Art 10 IV (finanzielle Unterstützung der beruflichen Bildung) ESC nicht zugestimmt; vgl dazu Art 1 des Zustimmungsgesetzes zur ESC: BGBl II 1964, 1262, Sart II Nr 115. 222 Für eine positivere, allerdings auch schon ältere, Einschätzung der „praktischen Auswirkungen der Europäischen Sozialcharta“ vgl Fuchs in: Agnelli/Berenstein ua, Die Europäische Sozialcharta – Wege zu einer europäischen Sozialordnung, 1978, S 289 ff mwN.
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von ihr auf freiwilliger haushaltsrechtlicher Basis gewährte Landeserziehungsgeld so auszugestalten, dass sie auch türkische Staatsangehörige erfassen.223
223 So BVerwGE 91, 327 (330) mwN; anders noch die Vorinstanz: VGH BW, NVwZ-RR 1993, 83 ff.
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§ 6.2.2 Schutz des Eigentums nach der GRCh Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-44/79, Slg 1979, 3727 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Rs C-368/96, Slg 1998, I8001 ff – Generics; Rs C-293/97, Slg 1999, I-2603 ff – Nitratrichtlinie; Rs C-20/00, Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd; Rs C-363/01, Slg 2003, I-11893 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen; verb Rs C402/05 u 515/05 P, Slg 2008, I-6351– Kadi.
Schrifttum: Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der EU, 1998; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997; Rengeling Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl 2004, 453 ff; Jarass, Der grundrechtliche Eigentumsschutz im EURecht, NVwZ 2006, 1089; Becker, Market Regulation and the „Right to Property“ in the European Economic Constitution, YEL 2007, 254; Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008; ders Zu den Grenzen der Überformung mitgliedstaatlichen Eigentums durch den Unionsgesetzgeber – Überlegungen im Lichte von 345 AEUV in: Wittinger/Wendt/Ress (Hrsg) Festschrift für Wilfried Fiedler, 2012, 463; Kreuter-Kirchhof, Personales Eigentum im Wandel, 2017; Ruffert, Zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsverfassung, AöR 134 (2009), 198.
I. Einführung 1. Stellung und Bedeutung des Eigentumsgrundrechts im Unionsrecht Das unionsrechtliche Eigentumsgrundrecht hat seine ausdrückliche Formulierung 1 in Art 17 GRCh gefunden: „Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist“. Art 17 II GRCh erweitert den Schutzbereich explizit durch die Formulierung: „Geistiges Eigentum wird geschützt“. Das europäische Eigentumsgrundrecht zählt im europäischen Staaten- und 2 Verfassungsverbund, den EU und Mitgliedstaaten bilden1, zu den zentralen Grundrechten. Dies nicht zuletzt aufgrund seiner Ausformung im Kontext der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), deren Integrationsansatz stark wirtschaftlich ausgerichtet war.2 Ohne die marktwirtschaftliche Vorbedingung eines gesicherten
1 Hierzu Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 1 EUV Rn 41 ff. 2 Zur Bedeutung und Entwicklung der Eigentumsfreiheit in der EU: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 10 ff; Winkler Die Grundrechte der Europäischen Union, 2006, 442; Schwarze in: ders, EUKomm, Art 17 GRCh Rn 1; Jarass, NVwZ 2006, 1089 f; Frenz GR, § 3 Rn 2771 ff; Cremer in: Dörr/Grote/
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Privateigentums liefe eine Vielzahl der Bestimmungen des europäischen Wirtschaftsverfassungsrechts3 in die Leere. Bereits im EWGV hatte das Schutzgut des Eigentums, so wie es in den Mitgliedstaaten gewährleistet ist, Anerkennung gefunden, indem schon damals der heutige Art 345 AEUV die Unberührtheit der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen garantierte und der heutige Art 36 AEUV eine Ausnahme von der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs ua zum Schutz des geistigen und kommerziellen Eigentums festschrieb.4 Freilich konnte diesen Bestimmungen keine Eigentumsgarantie im Sinne eines subjektiven Rechts gegen Eigentumsbeeinträchtigungen durch die Union entnommen werden5, so dass der EuGH das Eigentumsgrundrecht schon früh als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannte und ausformte (dazu sogleich unter Rn 13). 3 Inhaltlich entspricht Art 17 GRCh – trotz einiger Unterschiede in der Formulierung des Grundrechts – der Norm des Art 1 1. ZP EMRK. Vermittelt über die Rechtsprechung lässt sich bis heute eine „enge Verzahnung“ feststellen.6 Funktionell ist das unionale Eigentumsgrundrecht zuvorderst als Abwehrrecht gegen hoheitliche Eingriffe ausgestaltet, weist aber auch eine Schutzdimension gegenüber privaten Übergriffen auf.7 Ergänzend garantiert Art 345 AEUV die Unberührtheit der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen während Art 36 AEUV eine Ausnahme von der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs ua zum Schutz des geistigen und kommerziellen Eigentums zulässt.8
Marauhn, EMRK/GG, Kap 22 Rn 1 ff; s zum Eigentumsschutz im Völkerrecht Kriebaum Eigentumsschutz im Völkerrecht, 2008; Schreuer/Kriebaum The concept of property in Human Rights Law and International Law in: LA Wildhaber, 2007, S 743. 3 Dazu Ruffert Die Wirtschaftsverfassung im Vertrag über eine Verfassung für Europa, Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht, Vorträge und Berichte, Nr 144, Bonn 2004; Kreuter-Kirchhof Personales Eigentum im Wandel, 2017, S 473 ff. 4 Vgl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 2, 6 ff; Vosgerau in: Stern/Sachs GRCh, Art 17 GRCh Rn 16 ff mwN. 5 Ausf zur Grundrechtsqualität der Vorgängervorschrift des Art 295 EGV (mit negativem Ergebnis) Thiel, JuS 1991, 274 ff; ebenso Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 4; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, S 34 f. 6 Vgl die (freilich unverbindlichen) Erläuterungen zu Art 17 GRCh, ABl 2007 Nr C 303/02; s a Folz in: Vedder/Heintschel v Heinegg, EUV/AEUV/GRCh/EAGV, Art 17 GRCh Rn 2; vertiefend Kreuter-Kirchhof Personales Eigentum im Wandel, 2017, 413 ff, 481 ff und 521 ff. 7 Jarass GRCh, Art 17 Rn 3, 23 f; ders NVwZ, 2006, 1089 (1090). 8 Vosgerau in: Stern/Sachs GRCh, Art 17 Rn 16 mwN; s dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2782 ff.
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2. Abgrenzung zwischen Eigentums(grund)recht und Eigentumsordnung Im Zusammenspiel zwischen Art 345 AEUV und der Eigentumsgarantie des Art 17 4 GRCh muss zwischen Eigentumsrecht und Eigentumsordnung unterschieden werden.9 Während das Eigentumsrecht als Unionsgrundrecht in Art 17 GRCh unionsrechtlich konkretisiert ist, lässt der AEUV gemäß Art 345 AEUV „die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt“. Fraglich ist jedoch, welcher Aussagegehalt Art 345 AEUV konkret entnommen 5 werden kann, bzw welche rechtlichen Aspekte unter den Begriff der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen fallen, die zu bestimmen die Mitgliedstaaten ausweislich des Wortlauts des Art 345 AEUV alleinig kompetent sind. Bei der Lösung dieser Frage ist zu bedenken, dass sich in Art 345 AEUV das höchst problematische Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der Harmonisierung des EU-Binnenmarktes über die entsprechenden Kompetenzgrundlagen einerseits sowie der fortbestehenden Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Eigentumsordnungen andererseits manifestiert.10 Fall 1: Nachdem die sog „Elektrizitätsrichtlinie“11 und die „Gasrichtlinie“12 nicht hinreichend zur angestrebten Belebung des Wettbewerbs der Energieversorgungsunternehmen (EVU) auf dem Strommarkt geführt haben, plant die Kommission weitere Entflechtungsmaßnahmen, um die Liberalisierung der Energiemärkte voranzutreiben. Insbesondere werden zwei Optionen zur Trennung der Energienetze von der Erzeugung diskutiert: Vorgeschlagen wird einerseits eine eigentumsrechtliche Entflechtung (sog Ownership Unbundling). Sie würde dazu führen, dass die Stromerzeugungssparte und das Stromversorgungsnetz nicht mehr ein- und demselben EVU gehören dürfen. Im Falle etwaiger Überlappungen wären deshalb – je nach unternehmerischer Opportunität – entweder die Eigentumsanteile am Stromnetz oder aber an der Stromerzeugungssparte zu veräußern. Andererseits käme die Einführung eines sog ISO-Modells (Independent System Operator) in Betracht. Es würde dem EVU anders als beim Ownership Unbundling die Möglichkeit bieten, das Eigentum am Stromversorgungsnetz zu behalten, ohne die Erzeugungssparte veräußern zu müssen. Das Netz wäre dann aber von einem (rechtlich wie wirtschaftlich) unabhängigen Systembetreiber (ISO) zu managen. Ihm obläge im Falle eines Netzausbaus zB die Planung, Konstruktion und Inbetriebnahme der neuen Infrastruktur, während der Netzeigentümer die dadurch erforderlich werdenden Investi-
9 Vgl auch Streinz in: ders EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 4; differenzierend: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 28 ff; ausf Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 28 ff; Akkermans/Ramaekers, ELJ 2010, 292. 10 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 6 ff. 11 RL 96/92 des Europäischen Parlaments und des Rates v 19.12.1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt – „Elektrizitätsrichtlinie“, ABl 1997 Nr L 27/20. 12 RL 98/30 des Europäischen Parlaments und des Rates v 22.6.1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt – „Gasrichtlinie“, ABl 1998 Nr L 204/1.
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tionen zu tragen und etwaige Sicherheiten zu stellen hätte, ohne jedoch über die Notwendigkeit dieser Aufwendungen mitentscheiden zu dürfen. Freilich soll der Netzbetreiber dem Netzeigentümer aber einen angemessenen Anteil am erwirtschafteten Netzzugangsentgelt als Gegenleistung für die Netznutzung zukommen lassen. In den Mitgliedstaaten regt sich Widerstand gegen die vorgesehenen Maßnahmen. So sei insbesondere das geplante „Ownership Unbundling“ nicht unionskonform, da ein Zwang zur eigentumsmäßigen Trennung eines (staatlichen oder privaten) EVU von seinem Stromversorgungsnetz entgegen Art 345 AEUV die nationalen Eigentumsordnungen berühre. Aber auch das ISO-Modell verstoße gegen diese Vorschrift, da bei dessen Verabschiedung das Eigentum am Netz nicht mehr selbstständig genutzt werden dürfe und dadurch zu einer leeren Hülle ohne jeden Wert werde. Das ISO-Modell komme deshalb einer de-facto-Enteignung gleich und berühre die mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen somit ebenfalls in unzulässiger Weise. Sind die geplanten Maßnahmen mit Art 345 AEUV vereinbar?13
7 In der – bzgl Art 345 AEUV wenig ergiebigen – Rechtsprechung des EuGH , findet sich 14
wiederholt die Aussage, dass die Mitgliedstaaten bei der Regelung des Eigentumsrechts an die unionsrechtlichen Vorgaben gebunden seien.15 Dies bedeutet, dass selbst wenn bestimmte eigentums(ordnungs)rechtliche Aspekte in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen (bspw der Betrieb öffentlicher Fernmeldeanlagen16, die Ausübung mitgliedstaatlicher Befugnisse beim Erwerb von Eigentum17, die nicht marktgerechte Vergütung öffentlicher Postunternehmen mit Monopolstellung zugunsten privatrechtlicher Tochtergesellschaften18 oder Flughafengebühren19), jene nicht von den materiellen Vorgaben des Primärrechts befreit sind.20 Der Gerichtshof betrachtet Art 345 AEUV mithin nicht isoliert, sondern eingebettet in den Kontext der jeweils einschlägigen Vertragsbestimmungen.21 Die Norm wird damit
13 Zur Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz als Unionsgrundrecht vgl Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008. 14 Ausf dazu Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 31 ff. 15 Vgl EuGH, Rs C-235/89, Slg 1992, I-777, Rn 14 – Kommission/Italien; Rs C-30/90, Slg 1992, I-829, Rn 18 f – Kommission/Vereinigtes Königreich; Rs C-92/92, Slg 1993, I-5145, Rn 22 – Phil Collins ua; EuGH, Urt v 6.3.2018, verb Rs C-52/16 u C-113/16, Rn. 51 – SEGRO; EuGH, Urt v 27.2.2019, Rs C-563/17, Rn 45 f – APP/Conselho de Ministros; dazu Ruffert in: Henneke (Hrsg) Kommunale Perspektiven im zusammenwachsenden Europa, 2002, S 10 (19); vertiefend Calliess in: FS Fiedler, 2012, S 463 ff. 16 EuGH, Rs 41/83, Slg 1985, 873, Rn 21 f – Italien/Kommission. 17 EuGH, Rs C-302/97, Slg 1999, I-3099, Rn 38 – Konle; bekräftigt in Rs C-300/01, Slg 2003, I-4899, Rn 39 – Salzmann; Rs C-491/01, Slg 2002, I-11453, Rn 69 – British American Tobacco und Imperial Tobacco. 18 EuG, Rs T-613/97, Slg 2000, II-4055, Rn 77 – Ufex ua. 19 EuGH, Rs C-163/99, Slg 2001, I-2613, Rn 58 f – Portugal/Kommission. 20 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 8. 21 Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 33.
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unter einen allgemeinen Vorbehalt der Kompatibilität mit dem Unionsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten und dem Nichtdiskriminierungsverbot gestellt.22 Im Schrifttum divergieren die Ansichten bezüglich der Auslegung des Art 345 8 AEUV.23 Eine weite Interpretation der Norm subsumiert unter den Begriff der Eigentumsordnung alle das Privateigentum betreffenden verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten, womit nicht nur die Vorschriften bzgl der Rechte des Eigentümers beim Entzug des Eigentums gemeint sind, sondern ebenfalls auch jene betreffend die Ausübung und Nutzung des Eigentums.24 Diese Ansicht überzeugt jedoch schon deshalb nicht, weil ein solches Verständnis auf eine Gleichsetzung der Begriffe „Eigentumsordnung“ und „Sachenrecht“ hinausliefe, womit letztlich jede das Eigentum berührende Maßnahme von Art 345 AEUV erfasst wäre.25 Dann aber würden der Union – insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten – Kompetenzen entzogen, die sie zur Verwirklichung des Binnenmarktzieles benötigt. So zeigt auch Art 36 AEUV im Hinblick auf das dort genannte kommerzielle Eigentum, dass mitgliedstaatliche Maßnahmen unverhältnismäßig sein können und damit der Einwirkung des Unionsrechts unterliegen.26 Eine andere Auffassung geht davon aus, dass der Union jede Entscheidung über 9 die Eigentumsordnung und damit jeder formale Entzug von Eigentumspositionen versagt sein soll.27 An diese Auslegung anknüpfend will eine weitere Ansicht auf Grundlage des Art 345 AEUV nicht nur die formale Eigentumsentziehung, sondern jeden gleichgewichtigen unionalen Eingriff in den Kern des mitgliedstaatlich konstituierten Eigentumsgrundrechts untersagen.28 Unberührt bleiben soll allein die Befugnis der Union zum Erlass nutzungsbeschränkender Maßnahmen.29 Dem stehe auch die in Art 17 I 2 GRCh vorgesehene Entschädigungsregelung für Eigentumsent-
22 Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 35; von einem weiteren Verständnis des Begriffs der „Eigentumsordnung“ ging GA Ruíz-Jarabo Colomer in seinen Schlussanträgen zu EuGH, verb Rs C-367/98, C-483/99 u C-503/99, Slg 2002, I-4731 ff Rn 56 – Kommission/Portugal = JK 2002, EGV Art 56/1 aus. Seiner Ansicht nach habe sich die von Art 295 EGV (Art 345 AEUV) geforderte Achtung der Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten auf alle Maßnahmen zu erstrecken, die es dem Staat erlauben, durch hoheitlichen Eingriff zur Gestaltung des Wirtschaftsgeschehens beizutragen. 23 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 9. 24 Bär-Bouyssière in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 345 AEUV Rn 8; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 345 AEUV Rn 2; Krajewski in: Frankfurter Komm, Art 345 AEUV Rn 8; Ludwigs Rechtsangleichung nach Art 94/95 EG-Vertrag, 2004, S 265; Stumpf, EuR 2007, 291 (295 ff). 25 Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 37. 26 Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 135. 27 Schmidt-Preuß, EuR 2006, 463 (475); Kühling in: Streinz, EUV/AEUV, Art 345 Rn 13. 28 Storr, EuZW 2007, 232 (235). 29 Schmidt-Preuß, EuR 2006, 463 (475); Linsmeier/Hamann, et 5/2007, 93 (96).
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ziehungen nicht entgegen, da sich diese Norm nur auf Enteignungen unionsrechtlicher Vermögenspositionen beziehe.30 Gegen diese Auffassung spricht aber schon, dass im Wortlaut des Art 17 GRCh keine Differenzierung zwischen mitgliedstaatlichen und unionalen Eigentumsrechten angelegt ist. Hinzu kommt, dass die wechselseitige Durchdringung und Verflechtung der mitgliedstaatlichen und europäischen Eigentumsordnungen innerhalb des unionalen Staaten- und Verfassungsverbunds zur Unerheblichkeit der genauen Herkunft der jeweiligen Rechtsposition führt.31 10 Im Ergebnis kann daher, insbesondere auch vor dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund32 des Art 345 AEUV der Begriff der „Eigentumsordnung“ in Art 345 AEUV nur als „Eigentumszuordnung“ zu verstehen sein.33 Inhaltlich und methodisch überzeugend sowie vor allem mit der EuGH-Rechtsprechung korrespondierend erscheint deshalb der auch vom überwiegenden Schrifttum geteilte Ansatz, den Begriff der Eigentumsordnung im Rahmen von Art 345 AEUV in dem Sinne eng auszulegen, dass er nicht die gesamte mitgliedstaatliche Eigentumsrechtsordnung oder den Entzug eines mitgliedstaatlich konstituierten Eigentumskerns vor unionalen Zugriffen schützt, sondern sich speziell auf die Frage der Eigentumszuordnung von Unternehmen in öffentlicher oder privater Trägerschaft konzentriert.34 Der Normzweck von Art 345 AEUV ist insoweit darin zu sehen, dass Privatisierungs- oder Sozialisierungsmaßnahmen den Mitgliedstaaten vorbehalten sind; sie allein entscheiden gemäß ihren jeweiligen wirtschaftspolitischen Vorstellungen über eine wettbewerbskonforme Zuordnung des Eigentums. Davon unberührt bleibt aber die Befugnis der Union, den Umfang der Sozialpflichtigkeit des Eigentums festzulegen und dabei auch in den Bestand des Eigentums einzugreifen.35 Unionsmaßnahmen können so gesehen sogar enteignenden Charakter haben,36 ohne damit die grundsätzliche Entscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten über die Eigentumszuordnung in Frage zu stellen.37 11 Art 345 AEUV untersagt daher nur solche Eigentumsentziehungen, die die Zuordnung in Privat- und Staatseigentum betreffen und sich dabei als Teilstücke eines Privatisierungs- bzw Verstaatlichungskurses gesamter Branchen oder gar einer ge-
30 Schmidt-Preuß, EuR 2006, 463 (475). 31 Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 135. 32 Dazu Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 134; vertiefend Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 2; Hatje in: v Bogdandy, Europ VfR, 2003, S 683 (735). 33 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 10 ff. 34 Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 41. 35 Vgl Schlussanträge GA Mischo, EuGH, Rs C-363/01, Slg 2003, I-11893, Rn 37 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen. 36 Vgl Rn 42 ff. 37 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 11.
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samten Volkswirtschaft darstellen.38 Die Norm beeinflusst jedoch nicht die Kompetenz des EuGH, Inhalt und Grenzen des unionsrechtlichen Eigentumsrechts nach Art 17 GRCh zu bestimmen.39 Lösung Fall 1: Eigentumsrechtliche Qualifizierung des Ownership Unbundling Das sog Ownership Unbundling führt zu einer weitgehenden Abspaltung des Stromversorgungsnetzes vom Mutterkonzern. Er darf keine Anteile mehr halten und muss folglich seine Netzbeteiligung zum Großteil an Dritte abgeben. Den EVU bleibt es somit nicht unbenommen über das Netz zu verfügen oder es einer anderen, nicht untersagten Nutzung zuzuführen, weil der weit überwiegende Teil zu veräußern ist; mithin liegt ein Eigentumsentzug vor.40 So hat auch der EGMR eine „zwangsweise Eigentumsübertragung von einem Individuum auf ein anderes“ bei übergeordnetem Gemeinwohlzweck als Enteignung qualifiziert.41 1. Eigentumsrechtliche Qualifizierung des ISO-Modells Im Falle des ISO-Modells verbleibt das Netzeigentum juristisch gesehen beim bisherigen Eigentümer und wird lediglich von einem unabhängigen Unternehmen (ISO) betrieben und gemanaged. Da die EVU in dieser Variante nach wie vor frei über ihr Netzeigentum verfügen können, handelt es sich bei dieser Maßnahme um eine Beschränkung der Nutzung des Netzeigentums. Es ist aber zu bedenken, dass das Energienetz üblicherweise gerade nur zu dem Zweck errichtet wurde, es auch zu betreiben. Wenn demnach das Eigentum an den Energienetzen zu einer bloßen Hülle ohne jeden Wert verkommt, ist es daher fraglich, ob hier überhaupt noch von einer Nutzungsbeschränkung gesprochen werden kann oder nicht vielmehr eine de-facto-Enteignung angenommen werden muss. Da jedoch der ISO nach Maßgabe der Kommission zumindest einen Teil seines Netzzugangsentgelts an den Netzeigentümer weiterzuleiten hat, ist das ISO-Modell im Ergebnis als bloße Nutzungsbeschränkung zu qualifizieren.42 2. Projektion auf Art 345 AEUV43 Auf dieser Grundlage ist nunmehr zu prüfen, ob das Ownership Unbundling als Eigentumsentzug bzw das ISO-Modell zumindest als Eigentumsbeschränkung unter Art 345 AEUV fallen. In diesem Zusammenhang ist zunächst im Wege einer abstrakten Betrachtung zu ermitteln, welche der obigen Eigentumsbeeinträchtigungen Teil der „Eigentumsordnung“ im Sinne des Art 345 AEUV sind. Vor dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund44 des Art 345 AEUV, wie auch der EuGHRechtsprechung korrespondierend, muss der Begriff der „Eigentumsordnung“ in Art 345 AEUV richti-
38 Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 42. 39 Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (268); Jarass/Kment, GR, § 22, Rn 5; eingehend Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 28 ff; Wieland in: Dreier, GG, Art 14 Rn 24. 40 Zur Unterscheidung Nutzungsbeschränkung/Eigentumsentzug seitens des EuGH siehe die im Urteil Hauer (EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1) gemachten Vorgaben (ausf s u Rn 13 ff). 41 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341, §§ 40 f – James. 42 Vgl auch EuGH, Rs C-363/01, Slg 2003, I-11893, Rn 55 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen. 43 Ausf dazu: Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 59 ff. 44 Dazu Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 134; vertiefend Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 2; Hatje in: v Bogdandy, Europ VfR, 2003, S 683 (735).
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gerweise als „Eigentumszuordnung“ verstanden werden45 und ist deshalb dahingehend auszulegen, dass er nicht die gesamte mitgliedstaatliche Eigentumsrechtsordnung oder den Entzug mitgliedstaatlich konstituierten Eigentums vor unionalen Zugriffen schützt, sondern sich speziell auf die Frage der Eigentumszuordnung von Unternehmen in öffentlicher oder privater Trägerschaft konzentriert.46 Der Sinn von Art 345 AEUV ist darin zu sehen, dass die EU mit ihren Maßnahmen keine Privatisierung oder Vergesellschaftung von Eigentum bezwecken oder bewirken darf. Davon unberührt bleibt aber die Befugnis der Union, den Umfang der Sozialpflichtigkeit des Eigentums festzulegen und dabei auch in den Bestand des Eigentums einzugreifen.47 Nach alledem wird der unionsrechtlich veranlasste Entzug von mitgliedstaatlich konstituiertem Eigentum somit nicht generell von Art 345 AEUV untersagt. Zu klären bleibt nun, welche Entflechtungsmaßnahmen Art 345 AEUV verbietet. a) Ownership Unbundling aa) Zwang privater Unternehmen zur Veräußerung an private Netzbetreiber Diese von der Kommission vorgeschlagene Option zur Liberalisierung des Energiemarktes führt nicht zu einem Wechsel von privater zu öffentlicher Trägerschaft. Sie ist mithin mit Art 345 AEUV vereinbar. bb) Zwang staatlicher Unternehmen zur Veräußerung an private Netzbetreiber Umgekehrt steht Art 345 AEUV aber einer unionsrechtlich veranlassten Privatisierung einer durch ein öffentliches Unternehmen abgedeckten Wirtschaftsbranche entgegen, da es sich hierbei um eine vom status quo abweichende Regelung über die Eigentums(zu)ordnung in denjenigen Mitgliedstaaten handelt, in denen das Netz bisher im Eigentum staatlicher Unternehmen stand. Auch wenn im Rahmen des Ownership Unbundling nicht das gesamte vertikal integrierte staatliche Unternehmen privatisiert werden soll, so wird doch ein wesentlicher Bestandteil, das Netz, aus einem Unternehmen herausgelöst; es liegt mithin eine Teilprivatisierung vor, die wie die Privatisierung des gesamten Unternehmens eine dem Art 345 AEUV unterfallende Eigentumszuordnung darstellt. cc) Zwang privater Unternehmen zur Veräußerung an staatliche Netzbetreiber Die Verpflichtung, die Netze an ein unabhängiges öffentliches Unternehmen (staatliche Netzbetreiber) zu übertragen, würde sich für die privaten EVU als Verstaatlichung und damit als Eigentumszuordnung im Sinne der herrschenden engen Auslegung des Art 345 AEUV darstellen. Auch dieser Weg ist damit dem Unionsgesetzgeber aufgrund der Kompetenzsperre des Art 345 AEUV verwehrt. dd) Zwang staatlicher Unternehmen zur Übertragung an staatliche Netzbetreiber Da das Eigentum an den Stromnetzen in dieser Konstellation nach wie vor in öffentlicher Hand bleibt, handelt es sich bei dieser „Entflechtungs-Option“ weder um eine Privatisierung noch um eine Verstaatlichung. Ein Zwang staatlicher Unternehmen zur Übertragung ihrer Netze an einen staatlichen Betreiber ist somit keine Eigentumszuordnung und mit Blick auf Art 345 AEUV nicht zu beanstanden. Allerdings wäre diese Maßnahmenvariante kein Fall eines zulässigen Ownership Unbundling im Sinne der Kommissionsvorschläge, weil der jeweilige Mitgliedstaat aufgrund seiner völkerrechtlichen Betrachtung als Einheit („ein- und dieselbe Person“) die Stromversorgungssparte und die Netzgesellschaft aufgrund seines hier wie dort beherrschenden Einflusses gleichermaßen kontrollieren würde.
45 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 345 AEUV Rn 10. 46 Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 41. 47 Vgl auch Schlussanträge GA Mischo, EuGH, Rs C-363/01, Slg 2003, I-11893, Rn 37 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen.
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b) ISO-Modell Wenn – wie von der Kommission geplant – das Entflechtungsvorhaben für Unternehmen in staatlichem Eigentum und in privatem Eigentum gleichermaßen gelten soll, kommt für EVU in öffentlicher Hand unter Berücksichtigung der dargestellten Vorgaben des Art 345 AEUV allein das ISO-Modell in Betracht. Wie vorstehend geklärt, handelt es sich bei der ISO-Modell-Maßnahme um eine bloße Nutzungsbeschränkung. Da das jeweilige EVU im Rahmen der ISO-Lösung rechtlich gesehen das Netzeigentum behält, fehlt es an einer Eigentumszuordnung, so dass die Kompetenzsperre des Art 345 AEUV auf Grundlage der herrschenden engen Auslegung insoweit nicht greifen kann.
II. Die Herleitung und dogmatische Struktur des unionsrechtlichen Eigentumsgrundrechts Fall 2: (EuGH, Rs C-44/79, Slg 1979, 3727 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1) Die deutsche Winzerin Liselotte Hauer beantragte im Juni 1975 die Genehmigung zur Anpflanzung von Weinreben auf ihrem Grundstück in Bad Dürkheim. Die Genehmigung wurde ihr vom Land Rheinland-Pfalz ua mit der Begründung verweigert, dass die in der Zwischenzeit erlassene EG-VO 1162/76 über Maßnahmen zur Anpassung des Weinbaupotentials an die Marktbedürfnisse48 jede Neuanpflanzung von Weinreben für einen längeren Zeitraum untersage. In ihrer Klage vor dem Verwaltungsgericht machte die Winzerin ua geltend, dass ihr die Bestimmungen der EG-VO auch deswegen nicht entgegengehalten werden könnten, weil sie die in den Art 12 und 14 GG normierten Grundrechte der freien Berufsausübung und des Eigentumsschutzes verletzten. Das Verwaltungsgericht bat den EuGH mit Blick auf diese Frage um Vorabentscheidung.
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Lösung Fall 2: Grundlegend für den unionsrechtlichen Eigentumsschutz war vor der ausdrücklichen Regelung in Art 17 GRCh das Urteil des EuGH in der Rs Hauer49. Denn hier erhob der EuGH erstmals einen „eigenen Anspruch bei der Formulierung einer gemeinschaftsspezifischen Eigentumsdogmatik“50. Obwohl es sich um eine ältere Entscheidung handelt, ist sie besonders geeignet, die – im Staaten- und Verfassungsverbund der EU auch weiterhin bedeutsame – methodische Vorgehensweise des EuGH bei der Herleitung des Eigentumsrechts und der Bestimmung seiner Schranken zu verdeutlichen. Denn letztlich wird sich der EuGH bei der Auslegung des Eigentumsgrundrechts, vor allem bei der Bestimmung seiner Reichweite und Grenzen, an den Rechtserkenntnisquellen des Art 1 1. ZP EMRK und den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen orientieren. Das legen nicht nur die Wurzeln des Art 17 GRCh nahe, vielmehr weist auch Art 6 III EUV, der nach wie vor diese Rechtserkenntnisquellen in Bezug nimmt, in diese Richtung.
48 VO 1162/76, ABl 1976 Nr L 135/32. 49 EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Kreuter-Kirchhof Personales Eigentum im Wandel, 2017, S 478 ff. 50 Beutler, EuR 1980, 130 (134).
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15 In seinem ersten Prüfungsschritt (unter Rn 14 des Urteils) nimmt der Gerichtshof
auf sein Urteil in der Rs Internationale Handelsgesellschaft51 Bezug und betont, dass die Frage einer etwaigen Verletzung der Grundrechte durch eine Handlung der Unionsorgane nicht anders als im Rahmen des Unionsrechts selbst beurteilt werden könne. Die Aufstellung besonderer, von der Gesetzgebung oder der Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaats abhängiger Beurteilungskriterien würde, so der EuGH, die materielle Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen und hätte daher unausweichlich die Zerstörung der Einheit des Gemeinsamen Marktes und eine Gefährdung des Zusammenhalts der Union zur Folge. Interessant erscheint, dass der EuGH in seinem ersten Prüfungsschritt maßgeblich auf die Wahrung des unionalen Besitzstandes und nicht auf den Grundrechtsschutz des Einzelnen abstellt. 16 Erst in seinem zweiten Prüfungsschritt (Rn 15 des Urteils) hebt der EuGH unter Bezugnahme auf das erwähnte Urteil in der Rs Internationale Handelsgesellschaft und das Urteil in der Rs Nold52 hervor, dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der Gerichtshof zu wahren habe. Der Gerichtshof „hat“ insoweit von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten „auszugehen“. Die in dem Wort „hat“ liegende Verpflichtung wird durch das Wort „auszugehen“ wieder abgeschwächt. Folglich muss der EuGH sich mit der Verbürgung des in Frage stehenden Eigentumsgrundrechts in den Verfassungen der Mitgliedstaaten auseinandersetzen. Der EuGH hat jedoch nur von diesen „auszugehen“ und ist mithin nicht an die konkreten Ausprägungen des Grundrechts in den Verfassungen der Mitgliedstaaten gebunden. Andererseits bieten gerade die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten einen geeigneten Ansatzpunkt, um den europäischen Gehalt des Eigentumsgrundrechts zu ermitteln. Dies gilt umso mehr, als der (Haupt)Gesetzgeber der Union, der Ministerrat, sich aus Vertretern der nationalen Regierungen zusammensetzt. Insofern sollte jenen nicht die Möglichkeit gegeben werden, sich über den Ministerrat den durch die nationalen Grundrechte gezogenen Schranken der Gesetzgebung zu entziehen. Welcher Standard an Eigentum aber soll europarechtlich geschützt werden? Insoweit herrscht heute weitgehend Übereinstimmung, dass sich inhaltlich weder ein Minimalstandard noch ein Maximalstandard an Grundrechtsschutz in der Union praktisch realisieren lässt.53 Einerseits führt das gemeinsame Minimum zu einem zu geringen Schutz, der geeignet ist, auf nationaler Ebene den Vorrang des Unionsrechts in Frage zu stellen.54 Andererseits ist ein wünschenswerter Maximalstandard mit Blick auf das jeweils
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EuGH, Rs 11/70, Slg 1970, 1125 ff – Internationale Handelsgesellschaft. EuGH, Rs 4/73, Slg 1974, 491 ff – Nold. Vgl Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, S 224 mwN; krit Bleckmann ER, S 29 ff. Vgl die Solange-Rspr des BVerfGE 37, 271 (285); 73, 339 (387); Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499 (504).
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unterschiedliche Grundrechtsverständnis in den einzelnen Mitgliedstaaten nur schwer durchsetzbar.55 Zur Lösung dieser Problematik wird bei der Gewinnung und Konkretisierung der europäischen Grundrechte ganz überwiegend auf die Methode der wertenden Rechtsvergleichung zurückgegriffen.56 Auch wenn der EuGH bisher die Methode, mit der er allgemeine Rechtsgrundsätze und damit Grundrechte entwickelt, nicht ausdrücklich benannt hat, so ergibt sich doch aus den Schlussanträgen der Generalanwälte57 und Stellungnahmen in der Literatur58, dass im Wege „wertender Rechtsvergleichung“ die „beste Lösung“ für das Unionsrecht auf Grundlage nationaler und internationaler Grundrechtsverbürgungen gefunden werden muss. Anknüpfungspunkt für den EuGH ist insofern die Feststellung, dass sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze in die Ziele und Strukturen des EU-Rechts einfügen müssen.59 Folglich tendiert der EuGH dazu, dass bei einer Divergenz zwischen den Normen der nationalen Rechtsordnungen diejenige Rechtsordnung heranzuziehen ist, deren Norm sich am besten in die Ziele und Strukturen des EU-Rechts einpasst.60 In einem dritten Schritt (Rn 17–19 des Urteils) prüft der EuGH dann auf dieser 17 dogmatischen Grundlage das europäische Grundrecht auf Eigentum: „Das Eigentumsrecht wird in der Gemeinschaftsrechtsordnung gemäß den gemeinsamen Verfassungskonzeptionen der Mitgliedstaaten gewährleistet, die sich auch im Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention widerspiegeln.“ Interessanterweise beginnt der EuGH seine Prüfung dann aber nicht mit einer Bezugnahme auf die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen, sondern mit der Prüfung von Art 1 1. ZP EMRK. Unter Bezugnahme auf Art 1 II 1. ZP EMRK stellt der Gerichtshof abschließend fest, dass das Protokoll Einschränkungen der Benutzung des Eigentums grundsätzlich zulasse, diese aber auf das von den Staaten im Hinblick auf den Schutz des „Allgemeininteresses“ für „erforderlich“ gehaltene Maß beschränke. Diese Bestimmung erlaube indessen noch keine hinreichend genaue Antwort auf die vom vorlegenden Verwaltungsgericht aufgeworfene Frage. Deutlich wird einerseits, dass sich der EuGH in gewisser (nicht rechtlicher) Weise an die
55 Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, S 224 mwN. 56 Ausf dazu Bleckmann ER, S 52 ff/Rn 99 ff. 57 Schlussanträge GA Gand, EuGH, verb Rs 5/66 ua, Slg 1967, 361 (367) – Firma Kampffmeyer; Schlussanträge GA Roemer, EuGH, Rs 5/71, Slg 1971, 987 (990) – Zuckerfabrik Schöppenstedt; ders, Rs 63/72, Slg 1973, 1254 (1258, 1273) – Werhahn; Schlussanträge GA Warner, Rs 92/75, Slg 1976, 352 – van de Roy. 58 Vgl nur Bleckmann ER, 52 ff/Rn 99 ff; Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499 (500, 502 f); Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, S 228 mwN. 59 Vgl etwa EuGH, Rs 11/70, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 60 Bleckmann ER, S 52 ff/Rn 99 ff.
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EMRK gebunden fühlt, obwohl die EU ihr (bisher) nicht beigetreten ist. Andererseits wird – insbesondere durch den abschließenden Satz – klargestellt, dass der EuGH die EMRK als bloßen Ausgangspunkt seiner Grundrechtsprüfung in Bezug nimmt. Sie ist nur eine „erste Hürde“, die die Unionsmaßnahme mit Blick auf den Grundrechtsschutz passieren muss. Die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen können als „zweite Hürde“ jedoch zusätzliche Anforderungen des Grundrechtsschutzes stellen. Spätestens in der Rs Hoechst hat der EuGH allerdings unzweideutig die Gleichrangigkeit der beiden Rechtsermittlungsquellen festgestellt,61 die sich solchermaßen auch im Wortlaut des Art 6 III EUV wiederfindet. 18 In einem vierten Prüfungsschritt (Rn 20–22 des Urteils) nimmt der EuGH nunmehr einen Vergleich der mitgliedstaatlichen Verfassungen mit Blick auf die Ausgestaltung des Eigentumsrechts vor: „Für die Beantwortung dieser Frage müssen auch die Hinweise beachtet werden, die den Verfassungsnormen und der Verfassungspraxis der Mitgliedstaaten zu entnehmen sind. Hierzu ist als erstes festzustellen, dass es dem Gesetzgeber nach diesen Normen und der erwähnten Praxis gestattet ist, die Benutzung des Privateigentums im Allgemeininteresse zu regeln.“ Die Bezugnahme auf alle Mitgliedstaaten und die Praxis verdeutlicht, dass der EuGH auch die britische ungeschriebene Verfassung sowie jene Verfassungen, die sich nicht ausdrücklich mit dem Problem befassen, einbezieht. Nachdem der EuGH auf drei ausdrückliche Verfassungsbestimmungen konkret Bezug genommen hat, stellt er fest, dass in sämtlichen Mitgliedstaaten zahlreiche Gesetzgebungsakte der sozialen Funktion des Eigentumsrechts konkreten Ausdruck verliehen hätten: „So gibt es in allen Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Land- und Forstwirtschaft, des Wasserrechts, des Umweltschutzes, der Raumordnung und des Städtebaus, die die Benutzung des Grundeigentums – zuweilen erheblich – einschränken. Insbesondere bestehen in allen Weinbauländern der Gemeinschaft zwar unterschiedlich strenge, aber zwingende Rechtsvorschriften in Bezug auf die Anpflanzung von Weinreben. In keinem der betreffenden Länder werden diese Vorschriften grundsätzlich als unvereinbar mit der Wahrung des Eigentumsrechts betrachtet.“ Das Ergebnis dieser vergleichenden Analyse dient dem EuGH dazu, festzustellen, dass der eigentumsbeschränkende Inhalt der VO 76/1162 eine in den Mitgliedstaaten vorkommende und in gleicher oder ähnlicher Form als rechtmäßig anerkannte Einschränkung darstellt. 19 In seinem fünften und sechsten Prüfungsschritt (Rn 23–30 des Urteils) untersucht der EuGH schließlich in einer die vorangegangene Prüfung ergänzenden Weise, ob a) „die in der umstrittenen Regelung enthaltenen Einschränkungen tatsäch-
61 EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 13 ff – Hoechst = JK 90, EWGV § 173/2; vgl Ress/ Ukrow, EuZW 1990, 499 (501).
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lich dem allgemeinen Wohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen“ und b) „ob sie nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff in die Vorrechte des Eigentümers darstellen, der das Eigentumsrecht in seinem Wesensgehalt antastet.“ Damit nimmt der EuGH auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip Bezug. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz – basierend auf den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten62 – ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip in ständiger Rechtsprechung des EuGH als ungeschriebener Bestandteil des Unionsrechts anerkannt. Nunmehr ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch ausdrücklich in Art 5 IV EUV verankert.63 Sodann prüft der EuGH mit Blick auf den konkreten Fall zunächst, ob die Maßnahme dem allgemeinen Wohl dient. Hierfür legt er einen europäischen Maßstab zugrunde. Unter Bezugnahme auf die Präambel der Verordnung und die allgemeinen Ziele der jeweiligen Politik, hier der Agrarpolitik, bejaht er dies. Sodann nimmt er hinsichtlich des so gefundenen Gemeinwohlbelangs (Eindämmung von Überschüssen, Förderung der Weinqualität) mit positivem Ergebnis eine sehr knapp gehaltene und dogmatisch unscharfe, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit nicht klar trennende, Verhältnismäßigkeitsprüfung vor.
III. Das europäische Eigentumsgrundrecht im Einzelnen 1. Vorüberlegungen Wie im deutschen Verfassungsrecht zeichnet sich auch das Eigentumsgrundrecht 20 auf Unionsebene durch einen sog normgeprägten Schutzbereich aus.64 Sein Schutzgegenstand muss – anders als zB im Falle der Meinungsfreiheit – normativ erst durch den Gesetzgeber (innerhalb bestimmter Grenzen, die vom BVerfG beispielsweise durch einen mit den Begriffen Privatnützigkeit und Institutsgarantie umschriebenen Kernbereich gezogen sind)65 geschaffen werden. Eigentum ist also eine Schöpfung der Rechtsordnung(en).66 Ganz in diesem Sinne macht auch Art 345 AEUV deutlich, dass die Inhaltsbestimmung dessen, was eigentlich zum Eigentum zählt, mithin vom Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts umfasst ist, im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund durch die mitgliedstaatlichen Rechtsord-
62 Vgl den Überblick bei Schwarze Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl 2005, S 690 ff. 63 Ausf Calliess Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, 2. Aufl 1999, S 116 ff mwN. 64 Vgl auch Jarass/Kment GR, § 22 Rn 5 u 15; Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV Art 17 Rn 4; Kreuter-Kirchhof, Personales Eigentum im Wandel, 2017, S 474 ff. 65 BVerfGE 58, 300 ff – Nassauskiesung. 66 Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 211 (214 ff); Huber Politische Studien, Sonderheft 1/2000, 45 (46 f, 49 f) mwN.
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nungen und die Normen des Unionsrechts gemeinsam bestimmt wird.67 Das unionsrechtliche Schutzgut des Eigentums setzt sich also, wie es Art 17 I 3 GRCh nahe legt, aus den Normen des nationalen und europäischen Rechts zusammen. Auch wenn Art 17 GRCh in Anlehnung an Art 1 1. ZP EMRK formuliert worden ist,68 so spielt die EMRK, respektive Art 1 1. ZP EMRK, bei der Bestimmung des Schutzbereichs eine untergeordnete Rolle. Denn mit Blick auf die Normprägung des Schutzbereichs kann die EMRK über den Wortlaut von Art 1 1. ZP EMRK hinaus nichts beisteuern; den Inhalt des Eigentums prägende Rechtsnormen können der EMRK mangels eines eigenen, das Eigentum ausgestaltenden Gesetzgebers nicht entnommen werden.
2. Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts a) Persönlicher Schutzbereich 21 Auf die Eigentumsfreiheit können sich nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl
natürliche als auch juristische Personen des Privatrechts berufen.69 Art 17 GRCh spricht insofern umfassend von „Person“. Die Frage, ob der Eigentumsschutz auch juristischen Personen des öffentlichen Rechts zusteht, wurde in der EuGH-Rechtsprechung bislang noch nicht thematisiert.70 In der Literatur wird dies unter bestimmten Voraussetzungen bejaht; zum Teil wird darauf abgestellt, ob Privatpersonen am Gesellschaftsvermögen beteiligt sind71 oder ob durch die betroffene juristische Person Hoheitsgewalt ausgeübt wird.72 Überzeugenderweise sollte aber auf die Vergleichbarkeit der Gefährdungslage abgestellt werden.73 Insoweit ist eine gewisse Distanz zum Staat ausschlaggebend, so wie dies etwa der Fall bei selbststän-
67 S a Jarass/Kment GR, § 22 Rn 4; anders Heselhaus, in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 30, 34 mwN, der auf der Grdl des Art 295 EGV (Art 345 AEUV) davon ausgeht, dass das EU-Eigentumsgrundrecht seine Normprägung im Wesentlichen durch die mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen erhält. 68 Vgl die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, wonach Art 17 GRCh Art 1 1. ZP EMRK entspr, ABl 2004 Nr C 310/436 f, 457; s zur Diskussion im Konvent Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 17 Rn 6 ff. 69 EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 14 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Rs 209/83, Slg 1980, 907, Rn 1, 88 ff – Valsabbia; Rs 59/83, Slg 1984, 4057, Rn 1, 21 ff – Biovilac; Rs C-265/87, Slg 1989, 2237, Rn 2, 13 ff – Schräder. 70 Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 53; ausf Korte FS Stober, 2008, S 127 ff. 71 v Milczewski Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1994, S 279 f. 72 Grabenwarter in: BK GG, Anh zu Art 14, S 15. 73 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 54 zu Verfahrensrechten; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, S 43.
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digen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder gemischtwirtschaftlichen Unternehmen ist, die nicht befugt sind, hoheitliche Gewalt auszuüben.74
b) Sachlicher Schutzbereich Fall 3: (EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2)
Durch die VO 404/93 wurde eine gemeinsame Marktorganisation für Bananen eingeführt. Nach deren Regelungen sollen Bananen aus den mit der EU über die Entwicklungspolitik assoziierten sog AKP-Staaten sowie solche, die innerhalb der EU einschließlich ihrer überseeischen Gebiete produziert wurden, den größten Teil des Bananenmarktes ausmachen; für aus Drittländern eingeführte Bananen werden Unionskontingente (Importquoten) festgelegt, die auf die Importeure aufgeteilt werden sollen. Gegen die Bananenmarktordnung erhob Deutschland Nichtigkeitsklage gem Art 263 AEUV ua mit der Begründung, dass diejenigen Importeure, die bisher Bananen in großem Umfang aus Mittelamerika eingeführt hätten, durch den mit den Importquoten verbundenen Entzug von Marktanteilen in ihrem Eigentumsgrundrecht verletzt seien.
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Art 17 GRCh schützt das Sacheigentum,75 aber auch nichtkörperliche Gegenstände, 23 etwa private Forderungsrechte76 und – wie Art 17 II GRCh deutlich macht – auch geistige Eigentumsrechte (Urheber-, Patent-, Verlags-, Marken- und sonstige Schutzrechte).77 Dabei werden die Konflikte rund um den Schutz des geistigen Eigentums immer relevanter.78 Gemäß seinem Wortlaut schützt Art 17 GRCh nur rechtmäßig erworbenes Ei- 24 gentum79. Es stellt sich daher die Frage, ob unrechtmäßig erlangtes Eigentum (bspw
74 So wie hier a Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 53. 75 Schon EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727 Rn 17 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Rengeling, DVBl 2004, 453 (459); Schwarze in: ders, EU-Komm, Art 17 GRCh Rn 3; zu Art 17 GRCh vgl Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 17 Rn 13; Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 6 ff; ausf Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der EU, 1998, S 33 f. 76 Vgl Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, S 66 zu Art 1 1. ZP EMRK; Frenz GR, § 3 Rn 2826 ff. 77 Schon EuGH, Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 21 ff – Metronome Musik; zuletzt EuGH, Rs C-275/06, Slg 2008, I-271 – Promusicae; Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der EU, 1998, S 34 ff; Rengeling/ Szczekalla GR, § 20 Rn 806; zu Art 1 1. ZP EMRK: Riedel EuGRZ 1988, 333 (334); Grabenwarter in: BK GG, S 13; Tettinger FS Bartenbach, S 43 ff; Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1091); eingehend Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 24 f. 78 Ausführlich Kühling in: Frankfurter Komm, EUV/GRC/AEUV, Art 17 GRC, Rn 33 ff; Wandtke/ Hauck, NJW 2017, 3422 (3425). 79 S dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2877 ff; vgl jüngst zum geistigen Eigentum EuGH, Urt v 16.2.2012, Rs C360/10, EuZW 2012, 261 – SABAM = JK 2012, GRCh Art 17 II/1; ausführlich Kreuter-Kirchhof Personales Eigentum im Wandel, 2017, 487 ff.
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durch eine Straftat) aus dem Schutzbereich herausfällt. Dies wird man auf Grund des klaren Wortlauts der Norm wohl bejahen müssen.80 Blickt man freilich auf Art 1 1. ZP EMRK, so stellt man fest, dass dort eine entsprechende Einschränkung nicht vorhanden ist. Da die EMRK aber wiederum den Erwerbsvorgang als solchen nicht schützt81, bleibt der Unterschied für Art 17 GRCh im Ergebnis folgenlos82. 25 Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH fällt das Vermögen als solches, etwa in Form von Geldleistungspflichten, nicht unter den Begriff des Eigentums.83 Hatte der EuGH zunächst noch offengelassen, ob Rechtspositionen öffentlich-rechtlicher Natur (zB Sozialleistungen84) vom Eigentumsschutz umfasst werden,85 so hat er dies in neuerer Rechtsprechung angenommen, wenn sie jedenfalls zum Teil auch auf Eigenleistungen des Berechtigten beruhen.86 Daran fehlt es bei kommerziellen Vorteilen als Folge von marktsteuernden Maßnahmen, wie der Zuteilung von Referenzmengen im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation.87 26 Auch bloße kaufmännische Interessen oder Aussichten, deren Ungewissheit zum Wesen wirtschaftlicher Tätigkeit gehört,88 wie etwa ein bestimmter Markt-
80 So auch Kühling in:, Frankfurter Komm, EUV/GRC/AEUV, Art 17 GRC, Rn 13; aA Bernsdorff in: Meyer, ChGr, Art 17 GRCh Rn 16; Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 16; Jarass GR, § 22 Rn 6; ders GRCh, Art 17 Rn 8, wenn es nach dem einschlägigen Recht zu einem wirksamen Erwerb der Rechtspostion gekommen ist, wobei die Rechtswidrigkeit des Erwerbs bei der Beurteilung der Rechtfertigung bedeutsam sei. Weitergehend Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 808, wonach im Streitfall die Rechtmäßigkeit zu unterstellen sei. 81 KomMR, ZE v 11.4.1996 – 28390/95 – Alzbeta Pezoldova/Tschechische Republik (n v). 82 Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1090). 83 Deutl EuGH, Rs C-143/88, Slg 1991, I-415, Rn 74 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen = JK 92, EWGV Art 177/2; aA Frenz GR, § 3 Rn 2856 ff; unklar hingegen EuGH, Rs C-265/87, Slg 1989, 2237, Rn 15 ff – Schräder; differenzierend Vosgerau in: Stern/Sachs, GRCh, Art 17 Rn 52 ff; Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1090); krit Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der EU, 1998, S 40 ff sowie Schilling, EuZW 1991, 310 f. 84 S dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2834 ff. 85 EuGH, verb Rs 41/79, 121/79 u 769/79, Slg 1980, 1979, Rn 22 – Testa; Rs 82/72, Slg 1991, I-323 ff – Rönfeldt; gegen eine Einbeziehung GA M Darmon im Schlussantrag zu dieser Entscheidung (Rn 16); ausf zum Schutz öffentlich-rechtlicher Rechtspositionen: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 43 ff. 86 EuGH, Rs 170/86, Slg 1991, I-5119, Rn 27 – von Deetzen; Rs C-2/92, Slg 1994, I-955, Rn 19 – Bostock; Rs C-38/94, Slg 1995, I-3875, Rn 14 – Country Landowners Association; EuG, verb Rs T-466/93, T-469/93, T473/93, T-474/93 u T-477/93, Slg 1995, II-2071, Rn 99 – O’Dwyer; Kühling in: Frankfurter Komm, Art 17 GRCh, Rn 18. 87 Nach EuGH, Slg 2003, I-14083, Rn 50 – Arcor unterfällt nur der entgeltliche Erwerb einer Referenzmenge dem Eigentumsgrundrecht; dazu Jarass/Kment GR, § 22 Rn 10 f; ders NVwZ 2006, 1089 (1091). 88 EuGH, Rs 4/73, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold; Rs 209/83, Slg 1980, 907, Rn 89 – Valsabbia.
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anteil,89 sind nach bisheriger Rechtsprechung vom unionsrechtlichen Eigentumsschutz nicht umfasst. Freilich macht die Abgrenzung, etwa im Falle von wettbewerbssteuernden Maßnahmen der Union (zB Festlegung von Erzeugerquoten und Vermarktungsregeln) Schwierigkeiten bereiten. Zumindest immer dann ist das Eigentumsgrundrecht beeinträchtigt, wenn die Nutzung der Produktionsstätten und -anlagen des Gewerbebetriebes unmittelbar betroffen ist. So liegt es etwa bei Quoten für die Erzeugung von Stahl.90 Anders liegt es wiederum bei Maßnahmen, die (wie zB Mindestpreisregelungen91) nur die Vermarktung des Produktes, nicht aber die Nutzung des Eigentums an den Produktionsstätten und -mitteln selbst betreffen.92 Schließlich umfasst das Eigentumsgrundrecht auch den sog Dispositions- und Bestandsschutz, mithin das Vertrauen des Eigentümers auf den Fortbestand der vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtslage, die ihm die Nutzung des Eigentums ermöglicht.93 Es handelt sich hierbei um die vom EuGH als „wohlerworbene Rechte“94 bezeichneten Rechtspositionen, die wiederum von den bloßen Erwartungen und Gewinnchancen abzugrenzen sind. Sie setzen einen auf Maßnahmen der Union oder der Mitgliedstaaten gegründeten Vertrauenstatbestand voraus.95 Ein solcher kann nach Auffassung des EuGH freilich dort nicht entstehen, wo Entscheidungen der Unionsorgane im Rahmen ihres Ermessens (insbesondere im Anwendungsbereich der Marktordnungen) verändert werden können.96 Die hiermit verbundene Relativierung des Eigentumsschutzes ist allerdings nicht unproblematisch. Denn der Umfang des Schutzes darf nicht davon abhängen, ob das Vertrauen auf die zukünftige Nutzung durch das Handeln der Union oder der Mitgliedstaaten durchbrochen werden kann. Von maßgeblicher Bedeutung muss das Gewicht des dem Eigentum entgegenstehenden Interesses sein, das im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung zu prüfen ist.97 89 EuGH, Rs 280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; s a EuG, Rs T254/97, Slg 1999, II-2743, Rn 74 – Fruchthandelsgesellschaft. 90 EuGH, Rs 258/81, Slg 1982, 4261, Rn 13 – Metallurgiki Halyps; verb Rs 172/83 u 226/83, Slg 1985, 2831, Rn 29 – Hoogovens Groep. 91 EuGH, Rs 209/83, Slg 1980, 907, Rn 90 – Valsabbia. 92 Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der EU, 1998, S 39. 93 Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, S 46. 94 EuGH, Rs 56/75, Slg 1976, 1097, Rn 18, 20 – Elz; Rs 230/78, Slg 1979, 2749, Rn 22 – Eridiana. Nach Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 40 bezeichnet die Figur der wohlerworbenen Rechte nicht den Vertrauensschutz als Aspekt eines Eingriffs in das Eigentumsgrundrecht, sondern werde separat von der Prüfung der Eigentumsfreiheit durch den EuGH angewandt. 95 EuGH, Rs C-177/90, Slg 1992, I-35, Rn 14 f – Kühn. 96 EuGH, Rs 230/78, Slg 1979, 2749, Rn 22 – Eridiana; Rs 52/81, Slg 1982, 3745, Rn 27 – Faust; Rs C-177/ 90, Slg 1992, I-35, Rn 13 – Kühn; Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2. 97 Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 9; ferner Besse, JuS 1996, 396 (400 f); Huber, EuZW 1997, 517 (521); Nettesheim, EuZW 1995, 106 f.
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Die Frage, ob der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb in seiner Gesamtheit (also über den Schutz der in ihm enthaltenen Produktionsmittel hinaus) von der Eigentumsgarantie umfasst ist, bleibt offen.98 Dies ist nicht weiter problematisch, vergegenwärtigt man sich, dass der Schutz des Gewerbebetriebes im Ergebnis nicht weiter reichen kann als der seiner im Einzelnen ja bereits vom Eigentumsgrundrecht geschützten Grundlagen, mithin in jedem Falle der Bestand des Unternehmens betroffen sein muss.99 Lösung Fall 3: In den Regelungen zur Bananenmarktordnung konnte der EuGH schon keine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Eigentumsgrundrechts feststellen. Denn kein Wirtschaftsteilnehmer könne ein Eigentumsrecht an einem Marktanteil geltend machen, den er zu einem Zeitpunkt vor Einführung der gemeinsamen Marktorganisation besessen habe.100 Marktanteile seien „augenblickliche wirtschaftliche Positionen, die den mit einer Änderung der Umstände verbundenen Risiken ausgesetzt sind.“101 Ein Wirtschaftsteilnehmer könne auch kein wohlerworbenes Recht bzw auch nur berechtigtes Vertrauen auf Beibehaltung einer bestehenden Situation geltend machen, solange die Unionsorgane im Rahmen ihres rechtmäßigen Ermessens handelten.102
3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs
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Fall 4: (EuGH, Rs 232/81, Slg 1984, 3881 – Agricola Commerciale Olio) Durch EG-VO 71/81 wurde der Kauf von Olivenöl, das die italienische Interventionsstelle A im Rahmen der Verpflichtungen aus der Gemeinsamen Agrarpolitik im Zuge von Interventionsmaßnahmen aufgekauft hatte und das von der EG bereits mehrfach erfolglos zum Verkauf auf dem Markt angeboten worden war, zu einem äußerst günstigen Festpreis ermöglicht. Der vorgesehene Festpreis war offen-
98 So Rengeling, DVBl 2004, 453 (460); Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 42; dafür: Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, S 36, 46 f; Wetter Die Grundrechts-Charta des EuGH, 1998, S 145 ff unter Hinw auf EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 21 ff – Biovilac; sowie Thiel, JuS 1991, 274 (279); Frenz GR, § 3 Rn 2806 ff; skeptisch mit Blick auf die zitierte Rspr Grabenwarter in: BK GG, S 13; Becker, YEL 2007, 267 (271). 99 Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, S 39 f; Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 809; auch EuGH, verb Rs 154/78 ua, Slg 1980, 907, Rn 90 – Valsabbia ua, scheint in diese Richtung zu tendieren. Nach Jarass/Kment GR, § 22 Rn 12 deutet EuGH, Rs C-363/01, Slg 2003, I-11893, Rn 55, 58 – Flughafen Hannover-Langenhagen darauf hin, dass Art 17 GRCh zum Tragen kommt, wenn die Existenz eines Unternehmens gefährdet ist. 100 EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2. 101 EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2. 102 EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 80 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2.
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bar so interessant, dass die Käufer unter den vielen Interessenten ausgelost werden mussten. K ging aus der Verlosung als Käufer hervor. Nachdem A und die Kommission sich nunmehr bewusst geworden waren, dass die Käufer infolge der nicht marktgerechten Festpreise für das Olivenöl mit außerordentlich hohen Gewinnen rechnen konnten, verzögerten sie zunächst die Übergabe der Ware. Sodann erließ die Kommission die VO 2238/81, mit der die VO 71/81 – und damit auch die Grundlage des Anspruchs von K auf Herausgabe des gekauften Olivenöls – „wegen der veränderten Marktlage und zur Vermeidung von schweren Störungen des Marktes aus übergeordnetem öffentlichen Interesse“ rückwirkend aufgehoben wurde. Durch VO 2239/81 wurde das Olivenöl dann erneut angeboten, diesmal aber nicht mehr zu einem Festpreis, sondern an den Meistbietenden unter Festsetzung eines Mindestverkaufspreises. Den ausgelosten Käufern, also auch K, wurde hierbei ein Vorkaufsrecht eingeräumt. Gegen die VO 2238/81 erhob K Nichtigkeitsklage.
Nach Art 17 GRCh liegt ein Eingriff vor, wenn eine eigentumsfähige Position entzo- 30 gen oder ihre Nutzung, Verfügung oder Verwertung Beschränkungen unterworfen wird.103 Dieser Definition liegt die bisherige Rechtsprechung des EuGH zugrunde, wobei der EuGH selbst die der EMRK zugrundeliegende Konzeption des Eigentumseingriffs (vgl Art 1 1. ZP EMRK) übernommen hat.104 Mit Blick auf die Normprägung des Eigentumsgrundrechts ist aber bei Maßnah- 31 men des Gesetzgebers zunächst zwischen eigentumskonstituierenden und eigentumsbeeinträchtigenden Normen zu unterscheiden, so dass nicht schon jede rechtliche Regelung, die das Eigentum betrifft, einen Eingriff darstellt. Wie eingangs bereits erwähnt, kann im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund das nationale Eigentum auch durch Unionsregeln mitgestaltet, -begrenzt und -erweitert werden.105 Dabei ist die generelle und pflichtneutrale Regelung der Nutzung des Eigentums durch den Unionsgesetzgeber solange kein Eigentumseingriff, wie sie sich nicht auf durch frühere eigentumskonstituierende Vorschriften entstandene Rechtspositionen erstreckt und die darin enthaltene Befugnis verkürzt.106
103 Rengeling, DVBl 2004, 453 (460); vgl zu Art 17 I 2, 3 GRCh: Grabenwarter BK GG, S 15 f; Dupp/ Grzeszick in: König/Rieger/Schmitt, Europa der Bürger, 1998, S 111 (119). 104 EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; vgl zur EMRK Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 1 1. ZP EMRK Rn 24 ff; Grabenwarter EMRK § 25 Rn 9 ff. 105 Vgl bereits Pernice Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S 185. 106 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 153.
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a) Beschränkungen des Eigentums 32 Beschränkungen sind Maßnahmen, die das Eigentum nicht (auch nicht nur teilweise) entziehen, sondern nur seine Nutzung zeitlich, räumlich oder sachlich einschränken.107 Entsprechend der Eigentumsgarantie der EMRK und den mitgliedstaatlichen Ausformungen des Eigentumsgrundrechts ist der Gesetzgeber auch nach Art 17 I 3 GRCh befugt, die Benutzung des Privateigentums im Allgemeininteresse zu regeln. Demgemäß kann auch die unionsrechtliche Eigentumsgarantie keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern muss in Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden.108 Auch im Unionsrecht findet die Gewährleistung des Eigentums also eine Ergänzung durch das Prinzip der Sozialpflichtigkeit.109 Seine gesellschaftliche Funktion ist zugleich Rechtfertigung und Grenze für Nutzungsbeschränkungen des Eigentums. Eine Eigentumsbeschränkung kann zunächst unmittelbar durch eine Einzelfallregelung, also konkret-individuell, grundsätzlich aber auch durch eine Norm, also abstrakt-generell, erfolgen.110 Wenn die beanstandete Maßnahme den Kläger wie alle anderen betrifft, ihn also nicht in irgendeiner Weise heraushebt, tendiert der Gerichtshof freilich dazu, einen Eingriff abzulehnen.111 33 Zum Problem wird damit die Beurteilung nur mittelbar belastender Maßnahmen:112 Veränderungen der äußeren Wettbewerbsbedingungen durch Maßnahmen der Union (etwa Interventionsverkäufe von Magermilchpulver zu Billigpreisen zum Nachteil anderer Marktteilnehmer)113 oder die Abschaffung bisher bereitgehaltener Vermarktungsmöglichkeiten114 sind vom EuGH bislang nicht als Eingriff qualifiziert worden. Auf der anderen Seite hat er aber wiederum die negativen Auswirkungen von Sanktionsmaßnahmen auf die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer als Eingriff angesehen.115 Sofern die mittelbaren Wirkungen der staatlichen Maßnahme zu einer unmittelbaren Nutzungs-, Verfügungs- oder Verwertungsbeschränkung führen, lässt
107 Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1093); zum Abgrenzungsproblem vgl etwa Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, S 74 f. 108 EuGH, Rs C-265/87, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Rs C-368/96, Slg 1998, I-7967, Rn 79 – Generics; EuG, Rs T-65/98, Slg 2003, II-4653, Rn 170 – Van den Bergh Foods. 109 Dazu: Orfanidis Eigentumsproblematik und Mitbestimmung hinsichtlich der Europäischen Verfassung, 2006, S 52. 110 Zu weiteren möglichen Klassifizierungsansätzen Frenz GR, § 3 Rn 2953 ff. 111 EuGH, Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 23 – SMW Winzersekt. 112 S dazu a Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 22 Rn 74; Kreuter-Kirchhof Personales Eigentum im Wandel, 2017, S 507 ff. 113 EuGH, Rs 59/83, Slg 1984, 4057, Rn 22 – Biovilac; Rs 281/84, Slg 1987, 49, Rn 25 ff – Zuckerfabrik Bedburg. 114 EuGH, verb Rs C-296/93 u C-307/93, Slg 1996, I-795, Rn 64 – Frankreich u Irland. 115 EuGH, Rs C-84/95, Slg 1996, I-3953, Rn 22 f – Bosphorus; Rs C-317/00 P, Slg 2000, I-9541, Rn 59 – Invest.
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sich daher durchaus ein Eingriff annehmen; eine Existenzgefährdung ist insoweit nicht erforderlich.116 Im Übrigen ist ein Eingriff in die Berufsfreiheit (Art 15 GRCh) zu prüfen.
b) Eigentumsentziehungen Der schärfstmögliche Eingriff, die Eigentumsentziehung als vollem und dauerhaf- 34 ten Verlust der Eigentümerstellung117, umfasst – wenn man sich an der EMRK orientiert – sowohl die formelle Enteignung durch Gesetz bzw aufgrund Gesetzes als auch sonstige Eigentumsbeschränkungen, die den Eigentümer faktisch ebenso wie eine formelle Enteignung treffen (de facto-Enteignungen).118 Es gibt bislang keine konkrete Rechtsprechung des EuGH zu Eigentumsent- 35 ziehungen.119 Ungeklärt ist überdies, ob im Rahmen der unionsrechtlichen Eigentumsgarantie neben dem formalen Entzug von Eigentum auf Grundlage einer hoheitlichen Maßnahme gegebenenfalls auch sonstige für einzelne Eigentümer unzumutbare Eigentumsbeschränkungen in unmittelbarer Folge einer Unionsmaßnahme als sog de-facto-Enteignung anzuerkennen wären.120 Daran schließt sich die Frage an, welche Intensität ein Eingriff erreichen müsste, um unionsrechtlich als sog de-facto-Enteignung zu gelten. Erschwerend wirkt insofern die Tatsache, dass der EuGH Wirkung und Ausmaß eines Eingriffs in der Regel erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung untersucht.121 In Ermangelung richtungsweisender Judikatur fragt man sich somit, wie eine Annäherung an den Enteignungsbegriff erfolgen kann.
116 So aber Grabenwarter BK GG, S 17; wie hier v Milczewski Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1994, S 78. 117 Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1092); vertiefend Kreuter-Kirchhof Personales Eigentum im Wandel, 2017, S 503 ff. 118 EGMR, Urt v 24.9.1981, 7151/75, Rn 63 – Sporrong u Lönnroth; ausf Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 1. ZP EMRK, 1996, S 56 ff; Mittelberger, EuGRZ 2001, 364; Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 12; Vosgerau in: Stern/Sachs, GRCh, Art 17 GRCh Rn 68 f; zum Begriff der de-facto-Enteignung im Recht der EMRK: Reininghaus Eingriffe in das Eigentumsrecht nach Art 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK, 2002, S 71. 119 Mit Verweis auf fehlende Enteignungsbefugnisse der EU Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 17 GRCh Rn 12; Becker YEL 2007, 267 (277). 120 Zu dieser Frage Stellung nehmend Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008, S 51; gegen die Annahme einer „dritten Eingriffskategorie“ neben Entziehung und Beeinträchtigung des Eigentumsrechts: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 32 f. 121 Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, S 47.
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aa) Negativabgrenzung 36 Möglich ist insofern zum einen eine Negativabgrenzung, denn ein Eingriff, der vom EuGH bereits als eine reine Nutzungsbeschränkung qualifiziert wurde, wird bei ähnlicher Sachlage erwartungsgemäß kaum eine Entziehung begründen können. So liegt nach jüngerer EuGH-Rechtsprechung in der hoheitlich angeordneten Vernichtung von Sacheigentum keine Eigentumsentziehung.122 Konkret ging es in diesem Fall um die durch einen Mitgliedstaat im Rahmen der in einer Richtlinie vorgesehenen Bekämpfung von Tierseuchen angeordnete sofortige Schlachtung und Vernichtung des Fischbestandes einer Fischzuchtanlage. In dieser für die Eigentümer der Fischzuchtanlage höchst eigentumsrelevanten Maßnahme sah der EuGH lediglich eine Nutzungsbeschränkung, die – unabhängig von einem Verschulden der Eigentümer am Ausbruch der Krankheit – auch ohne Entschädigung mit dem Grundrecht auf Eigentum vereinbar sei.
bb) Indirekte Aussagen des EuGH zur Abgrenzung 37 Zum anderen äußerte sich der EuGH in einigen Entscheidungen indirekt zu den An-
forderungen an eine Enteignung. Insoweit ist wiederum auf das schon mehrfach zitierte, für das Eigentumsgrundrecht grundlegende Urteil Hauer zu verweisen (→ ausf Rn 12 ff).123 Hier führte der EuGH aus: „Im vorliegenden Fall kann das Neuanpflanzungsverbot unbestreitbar nicht als eine Maßnahme zur Entziehung des Eigentums angesehen werden, da es dem Eigentümer unbenommen bleibt, über sein Gut zu verfügen und es jeder anderen, nicht untersagten Nutzung zuzuführen“124 Mit Bezug auf den Fall formuliert der EuGH hier also ein abstraktes Abgrenzungskriterium zwischen einer Eigentumsbeschränkung und einer Eigentumsentziehung. Demnach hält der EuGH offenbar erst dann die Schwelle zur Entziehung für überschritten, wenn das Recht des Eigentümers in der Form des Eigentumsgegenstandes selbst, der Verfügungsbefugnis oder aber sämtlicher Nutzungsmöglichkeiten dauerhaft beeinträchtigt ist. In zahlreichen weiteren Urteilen hat der EuGH diese grundlegenden Ausführungen bestätigt. So führte der Gerichtshof etwa in einem jüngeren Urteil, dass das Verbot einer bestimmten Bezeichnung für italienische Qualitätsweine zum Inhalt hatte, aus: „Dieses Verbot stellt keinen Entzug des Eigentums iSv Art 1 I 1. ZP EMRK dar, weil es nicht jede sinnvolle Art der Vermarktung der betroffenen italienischen Weine ausschließt“125
122 123 124 125
EuGH, Rs C-20/00, Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd. EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 19 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. EuGH, Rs C-347/03, Slg 2005, I-3785, Rn 122 – Tocai.
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cc) Förmliche Enteignung / de-facto-Enteignung Fraglich ist, ob der Gerichtshof ähnlich dem Europäischen Gerichtshof für Menschen- 38 rechte von der Möglichkeit einer sog de-facto-Enteignung ausgeht. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann eine Eigentumsentziehung im Sinne der EMRK nicht nur in einer förmlichen Enteignung (formal expropriation/expropriation formelle) begründet sein, sondern auch dann vorliegen, wenn zwar die formale Eigentümerstellung unberührt bleibt, dem Eigentümer aber alle damit verbundenen Rechte genommen werden und damit die Eigentumsposition faktisch verschwindet.126 Offen bleibt insoweit die Position des EuGH. Fraglich ist zum Beispiel, ob 39 gänzlich fehlende oder verlustbringende Entgelte Dritter für eine Eigentumsnutzung noch als Eigentumsbeschränkung anzusehen sind, oder aber hier die Grenze zu einer faktischen Enteignung überschritten ist. Für eine Einordnung als bloße Eigentumsbeschränkung könnte zwar die vorstehend zitierte Rechtsprechung des EuGH127 in der Rechtssache Hauer angeführt werden, da hier eine Eigentumsentziehung wie erwähnt abgelehnt wurde, weil der Inhaber das streitgegenständliche (Wein)Gut (wenn auch zu einem deutlich niedrigeren Preis128, so doch immerhin) noch verkaufen konnte. Zu bedenken ist freilich, dass es im Fall Hauer im Hinblick auf die untersagte Neuanpflanzung von Weinreben nicht um eine aktuell zur Ertragserwirtschaftung genutzte Eigentumsposition ging. Interessant sind daher zum Beispiel die Erwägungen des EuGH im Fall Flughafen Hannover-Langenhagen: „Was das Eigentumsrecht betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass die fehlende Befugnis des Leitungsorgans eines Flughafens zur Erhebung eines Zugangsentgelts entgegen der Auffassung des Flughafens nicht bedeutet, dass das Leitungsorgan aus seinen wirtschaftlichen Leistungen auf dem Markt der Bodenabfertigungsdienste, zu dem es Zugang zu gewähren hat, keinen Gewinn erzielen könnte. (…) Da die vom Flughafen vorgebrachte Rüge einer Verletzung des Eigentumsrechts somit auf der irrigen Prämisse beruht, dass ihm die Nutzung seines Flughafens zur Gewinnerzielung verwehrt werde, kann sie nicht durchgreifen.“129 Aus der Formulierung des EuGH, dass der Eigentümer „… nicht nur seine Kosten für das Zurverfügungstellen und den Unterhalt der Flughafeneinrichtungen decken, sondern auch eine Gewinnspanne erzielen kann“ lässt sich folgern, dass die Ermöglichung eines kostendeckenden und darüber hinaus (angemessen) gewinnbringenden Ertrags durch den Einsatz des Eigentums als Voraussetzung einer (zulässigen) Eigentumsnutzungsbeschränkung angesehen wird. Wäre dies nicht gewährleistet gewesen, hätte der EuGH wohl eine defacto-Enteignung angenommen.
126 127 128 129
EGMR, Urt v 23.9.1982, 7151/75, § 63 – Sporrong u Lönnroth; s dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2900 ff. EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 19 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. So JarassKment GR, § 22 Rn 18. EuGH, Rs C-363/01, Slg 2003, I-11893, Rn 55 – Flughafen Hannover-Langenhagen.
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dd) Zwischenergebnis 40 Obgleich der EuGH bislang in keinem der von ihm entschiedenen Fälle eine Eigentumsentziehung angenommen hat, ist von der Existenz des Instituts der Eigentumsentziehung auszugehen. Dieses Ergebnis lässt sich aus der EuGH-Rechtsprechung ableiten und wird zudem vom Wortlaut des Art 17 GRCh gestützt.
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Lösung Fall 4: Die Nichtigkeitsklage von K gem Art 263 IV AEUV ist zulässig, insbesondere ist er durch die von der VO 2238/81 bewirkte Aufhebung der ursprünglichen VO 71/81 unmittelbar und individuell betroffen130, da sie seinen Übergabeanspruch auf das gekaufte Olivenöl zum Erlöschen bringt. Im Rahmen der Begründetheit ist zunächst zu prüfen, ob der K hier überhaupt eine Verletzung des nach Art 6 III zur Unionsrechtsordnung zählenden Eigentumsgrundrechts geltend machen kann. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob K bereits Eigentum an dem Olivenöl erworben hat, da auch bereits vermögenswerte subjektive Rechte des öffentlichen Rechts als Eigentum anzusehen sind, wenn dadurch Rechtspositionen geschaffen sind, die denjenigen von Eigentümern nahe kommen. Ein solches wohlerworbenes Recht steht dem K in Form seines Übergabeanspruchs aus dem öffentlich-rechtlichen Vertrag gegen die Interventionsstelle zu. Der durch die angefochtene Verordnung bewirkte Entzug dieser Rechtsposition bewegt sich nicht mehr im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums, sondern ist, weil er dem K den erworbenen Anspruch völlig nimmt, als Enteignung anzusehen. Ein solcher Eingriff bedarf aber nach Art 1 1. ZP EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (Art 6 III EUV) einer gesetzlichen Grundlage, darf nur zum Wohle der Allgemeinheit vorgenommen werden und muss eine Entschädigungsregelung vorsehen. Dem K wurde zum Ausgleich zwar ein Vorkaufsrecht eingeräumt, aber zu wesentlich ungünstigeren Konditionen als im Ausgangsvertrag. Dieses kann daher die Enteignung nicht kompensieren bzw eine Entschädigungsregelung ersetzen.131
c) Kritik 42 An dieser Stelle offenbart sich bereits eine entscheidende dogmatische Schwäche
des bisherigen unionsrechtlichen Eigentumsschutzes: Aufgrund der mangelnden Normierung der Bedingungen für die Begrenzung von Eigentumsrechten verlagert sich die Überprüfung von Eigentumsbeeinträchtigungen in der Regel auf die Ebene der Rechtfertigung der beanstandeten Maßnahme.132 Es findet also gewissermaßen eine Flucht in die Verhältnismäßigkeitsprüfung statt, die der Entwicklung einer in Schutzbereich, Schranken und Rechtfertigung ausdifferenzierten europäischen Eigentumsdogmatik abträglich ist. Es ist zu hoffen, aber auch davon auszugehen,
130 Dazu ausf Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 263 AEUV Rn 33 ff und 39 ff. 131 Vgl hierzu Schlussanträge GA Lenz, EuGH, Rs 232/81, Slg 1984, 3900, 3911 f – Agricola Commerciale Olio; der EuGH, Rs 232/81, Slg 1984, 3881, Rn 12 ff – Agricola Commerciale Olio, selbst kommt schon vor Prüfung der Enteignung zur Rechtswidrigkeit der Verordnung. 132 So die Kritik von Schilling, EuZW 1991, 310 (311).
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dass der EuGH seine Eigentumsdogmatik auf der Grundlage des Art 17 GRCh verfeinern und präzisieren wird.
4. Rechtfertigung Fall 5: (EuGH, Rs C-293/97, Slg 1999, I-2603 – Nitratrichtlinie) Bauer B fährt auf seinen Feldern und Weiden reichlich „Dünger“ in Form von Gülle aus. Diese Form der allgemein üblichen „Düngung“ ist mitursächlich für die mitunter hohen, die menschliche Gesundheit belastenden Nitratwerte des Wassers. Dem will die Nitratrichtlinie 91/676/EG vorbeugen. Ihr zufolge müssen die Mitgliedstaaten Flächen als „gefährdete Gebiete“ ausweisen, die in mit Nitrat verunreinigte Gewässer (Maßstab ist insoweit eine Nitratkonzentration von 50 mg/l) auswässern und so zur Verunreinigung beitragen. Für diese sind nationale Aktionsprogramme aufzustellen, die ua zeitliche und mengenmäßige Beschränkungen für die Aufbringung von Düngemitteln auf landwirtschaftliche Flächen vorsehen müssen. Gegen diese Aktionsprogramme wendet sich B vor dem Verwaltungsgericht, zum einen mit dem Argument, dass seine Flächen als gefährdete Gebiete ausgewiesen wurden, obwohl nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch andere Emittenten zu der Überschreitung beitrügen. Zum anderen griffen ihre Reglungen unverhältnismäßig in sein Eigentumsgrundrecht ein und verstießen gegen das Verursacherprinzip. Das VG legt dem EuGH diese Fragen zur Vorabentscheidung vor.
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Fall 6: (EuGH, Rs C-84/95, Slg 1996, I-3953 – Bosphorus) Die F, eine türkische Flugzeugchartergesellschaft, hatte 1992 von der staatlichen jugoslawischen Flugzeuggesellschaft JAT Flugzeuge geleast. Eines der Luftfahrzeuge wurde von irischen Behörden auf dem Flughafen von Dublin in Anwendung der europäischen Sanktionenverordnung gegen Jugoslawien beschlagnahmt. Hiernach waren die mitgliedstaatlichen Behörden zur Beschlagnahme von Luftfahrzeugen berechtigt, wenn sich diese in jugoslawischem Eigentum befanden. Die F führte demgegenüber ihre Rechte aus dem Leasingvertrag an: Da sie weder einen Sitz in Jugoslawien habe, noch dort tätig sei, verletzte die Sanktion nicht nur ihre Eigentumsrechte, sondern sie sei auch offensichtlich unnötig und unverhältnismäßig, da der Eigentümer des fraglichen Luftfahrzeugs bereits durch das Einfrieren der von der klagenden Flugzeuggesellschaft gezahlten Leasingraten auf Sperrkonten bestraft worden sei.
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Bei der Prüfung der Rechtfertigung ist nach dem Wortlaut des Art 17 I 2 GRCh wie- 45 derum zwischen der Entziehung des Eigentums als schwerstem Eigentumseingriff und Beschränkungen seiner Nutzung zu unterscheiden.133
133 Ebenso Art 1 1. ZP EMRK; grundl EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 19 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. Christian Calliess
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a) Rechtfertigung von Enteignungen 46 Eine Enteignung ist unionsrechtlich – auch mit Blick auf Art 17 GRCh und Art 1 II 1. ZP EMRK – zunächst nur dann zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist und im öffentlichen Interesse liegt.134 Gesetzlich vorgesehen ist eine Enteignung, wenn sie durch einen der in Art 288 AEUV genannten Rechtsakte ermöglicht wird. 47 Auch wenn es gemäß Art 345 AEUV auf den ersten Blick so scheint, als fehle es der Union für Enteignungen an einer Gesetzgebungskompetenz (→ ausf dazu Rn 4 ff), so hat die EU doch in manchen Bereichen (zB in der Landwirtschaft) so weitreichende Kompetenzen erhalten, dass diese sich auf individuelle Eigentumspositionen auswirken und im Einzelfall auch den Grad eines (zumindest faktischen) Eigentumsentzuges erreichen können.135 Der Begriff des öffentlichen Interesses entspricht im Wesentlichen dem Begriff des Allgemeininteresses in Art 1 I 2 1. ZP EMRK.136 Hierunter soll, mit Blick auf die Judikatur der Mitgliedstaaten, auch der Entzug des Eigentums zugunsten Privater fallen, soweit damit zugleich öffentliche Interessen verwirklicht werden.137 Ob es für die Rechtfertigung einer Eigentumsentziehung auch einer gesetzlichen Entschädigungsregelung bedarf, war lange Zeit unklar, ist mit Inkrafttreten der Grundrechtecharta aber nunmehr verbindlich geregelt:138 Blickt man in Art 17 I 2 GRCh, so ist dies – abweichend vom Wortlaut des Art 1 1. ZP EMRK – der Fall.139 Der EuGH hatte diese Frage bis dahin nicht eindeutig beantwortet: Einerseits sollten in Übereinstimmung mit der vom EuGH im Fall Hauer entwickelten Linie durch die wirtschaftliche Lage gebotene Produktionsbeschränkungen, selbst wenn sie die Rentabilität und Substanz eines Unternehmens beeinträchtigen und somit enteignenden Charakter haben können, keinen Verstoß gegen das Eigentumsrecht darstellen,140 andererseits wies der Gerichtshof aber darauf hin, dass es mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes unvereinbar sei, wenn eine Maßnahme der Union den Betroffenen „entschädigungslos um die Früchte seiner Arbeit und der von ihm … vorgenommenen Investi
134 Vgl auch Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 818; Jarass/Kment GR, § 22 Rn 19 ff; Frenz GR, § 3 Rn 2910 ff; Kreuter-Kirchhof Personales Eigentum im Wandel, 2017, S 519 ff. 135 Vgl EuGH, Rs C-20/00, Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd; v Milczewski Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1994, S 30. 136 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 1 1. ZP EMRK Rn 51 f. 137 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341, §§ 40 ff – James; so a Jarass GR, § 22 Rn 21. 138 Zur neuen Rechtslage Frenz GR, § 3 Rn 2929 ff. 139 Trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Entschädigungsregelung in Art 1 I 2 1. ZP EMRK verlangt der EGMR idR eine Entschädigung bei staatlichen Enteignungen, vgl dazu Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 1 1. ZP EMRK Rn 68 ff; Cremer in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 22 Rn 70; ferner Fischborn Enteignungen ohne Entschädigung nach der EMRK?, 2010. 140 EuGH, Rs 258/81, Slg 1982, 4261, Rn 13 – Metallurgiki Halyps; verb Rs 172/83 u 226/83, Slg 1985, 2831, Rn 29 – Hoogovens Groep.
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tionen“141 bringt. Überdies prüfte der EuGH die Haftung der Union (damalig Gemeinschaft) für eine mögliche Eigentumsverletzung in anderen Fällen unter dem Gesichtspunkt der außervertraglichen Haftung nach Art 340 II AEUV.142 Auch vom EuG wurde offen gelassen, „ob es einen allgemeinen … Rechtsgrundsatz gibt, dass die Gemeinschaft denjenigen zu entschädigen hat, gegen den eine enteignende Maßnahme oder eine Maßnahme ergangen ist, durch die seine Freiheit, von seinem Eigentum Gebrauch zu machen, eingeschränkt wird“. Freilich hielt das Gericht eine Entschädigungspflicht im Hinblick auf enteignende Maßnahmen der Unionsorgane selbst für „vorstellbar“143. Nach der neuen Rechtslage sind Eigentumsentziehungen in Form von formellen Enteignungen schon beim Fehlen einer Entschädigungsregelung unverhältnismäßig und damit rechtswidrig.144 Hinsichtlich der – mit Blick auf die Kompetenzlage (ausf dazu Rn 4 ff) zuvorderst in Betracht kommenden – faktischen Enteignungen ist nach Art 17 I 2 GRCh eine gesetzlich vorgesehene Entschädigung zwar nicht Rechtfertigungsvoraussetzung145, jedoch kann aus der Rechtsprechung des EuGH zum Grundsatz des Vertrauensschutzes geschlossen werden, dass insoweit ein Entschädigungsanspruch aus Art 340 II AEUV in Betracht kommt.146
b) Rechtfertigung von bloßen Nutzungsbeschränkungen Bloße Nutzungsbeschränkungen des Eigentums sind nach ständiger Rechtspre- 48 chung des EuGH rechtmäßig, wenn sie „tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf die verfolgten Ziele unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“147 Blickt man auf den Wortlaut von Art 17 I 2 GRCh und Art 1 II 1. ZP EMRK, so müssen Nutzungsbeschränkungen „nur“ zur Wahrung des Allgemeininteresses erforderlich sein. Ergänzend ist jedoch die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 GRCh mitzulesen,148 sodass
141 EuGH, Rs C-5/88, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf. 142 EuGH, Rs 59/83, Slg 1984, 4057, Rn 11, 21 – Biovilac; Rs 281/84, Slg 1987, 49, Rn 25 ff – Zuckerfabrik Bedburg. 143 EuG, Rs T-113/96, Slg 1998, II-125, Rn 57 – Dubois et fils. 144 Vgl auch EuGH, Rs C-347/03, Slg 2005, I-3785, Rn 122 f – Tocai; EuG, Rs 59/83, Slg 1998, II-125, Rn 57 – Dubois et fils. 145 AA, da die hiesige Differenzierung nicht vornehmend, Jarass/Kment GR, § 22 Rn 24. 146 EuGH, Rs 74/74, Slg 1975, 533, Rn 44 – CNTA; Rs C-104/89, Slg 1992, I-3061, Rn 12 ff – Mulder; ausdrücklich offenlassend EuG, Rs 59/83, Slg 1998, II-125, Rn 57 – Dubois et fils. 147 StRspr, vgl nur EuGH, Rs C-200/96, Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; Rs C-368/96, Slg 1998, I-7976, Rn 79 – Generics. 148 Ausf dazu iZw mit dem Eigentumsgrundrecht: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 77.
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sich die Formel des EuGH auch hinsichtlich des Wesensgehalts – und damit in vollem Umfang – bestätigt sieht.149 49 Hinsichtlich der Rechtfertigung von Nutzungsbeschränkungen orientiert sich der EuGH an zwei Eckpunkten, zwischen denen die jeweilige Verhältnismäßigkeitsprüfung vermittelt. Er prüft die Nutzungsbeschränkung zunächst mit Blick auf ihr gemeinnütziges Ziel.150 Hierfür greift er neben den Regelungen des Rechtsakts auch auf dessen Begründungserwägungen zurück. Ob das so ermittelte, mit der jeweiligen Maßnahme verfolgte Ziel dem Allgemeinwohl dient, ist sodann anhand der Bestimmungen der Verträge zu überprüfen, generell etwa nach Art 3 EUV, ferner gemäß den besonderen Vorschriften über die verschiedenen Politikfelder der Union. Demgemäß hat der EuGH in seiner Rechtsprechung zum Eigentumsschutz als relevante Allgemeininteressen zB den Verbraucherschutz151, den Gesundheits- und Umweltschutz152, agrarmarktpolitischen Zielsetzungen der Union gem Art 39 AEUV153, sowie ua auch den Kampf gegen den internationalen Terrorismus154 anerkannt155. Ferner hat er im Fall Metronome die Rechtfertigung der aus urheberrechtlichen Erwägungen erfolgten Einführung eines ausschließlichen Verleihrechts für Compact Discs in der Union mit einem Verweis auf Art 34 AEUV untermauert, der den Schutz des Urheberrechts an Werken der Literatur und Kunst als Bestandteil des gewerblichen und kommerziellen Eigentums umfasse.156 Blickt man gem Art 6 II EUV zusätzlich auf die Rechtsprechung des EGMR, so dienen letztlich alle Maßnahmen, die legitime politische Ziele verfolgen, sei es auf wirtschaftlichem, sozialem oder sonstige öffentliche Belange betreffendem Gebiet, dem Allgemeininteresse.157 50 Der andere Eckpunkt ist die Antastung des Wesensgehalts des Eigentums.158 Der Wesensgehalt ist angetastet, wenn eine eigentumsbeschränkende Unionsmaßnahme zu einem Entzug des Eigentums oder dessen freier Nutzung führen würde159
149 So a Jarass/Kment GR, § 22 Rn 27; Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 823; anders Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 17 Rn 18. 150 Vgl EuGH, Rs C-295/03 P, Slg 2005, I-5673, Rn 86 – Alessandrini. 151 EuGH, Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 20 – SMW Winzersekt. 152 EuGH, Rs C-293/97, Slg 1999, I-2603, Rn 56 – Nitratrichtlinie; Tomuschat in: Ossenbühl (Hrsg) Eigentumsgarantie und Umweltschutz, 1989, S 47 ff. 153 EuGH, Rs 113/88, Slg 1989, 1991, Rn 20 – Leukhardt; Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 82 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 21 – SMW Winzersekt. 154 EuGH, verb Rs C-402/05 u 515/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 363 – Kadi. 155 S dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2977 ff. 156 Nachweise bei Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, S 49. 157 EGMR, Urt v 21.2.1986, 8793/79, EuGRZ 1988, 341, § 45 – James ua, zum insoweit übereinstimmenden Begriff „öffentlichen Interesse“ in Art 1 I 2 1. ZP EMRK; Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 74. 158 S dazu a Frenz GR, § 3 Rn 2992 ff. 159 EuGH, Rs 59/83, Slg 1984, 4057, Rn 22 – Biovilac.
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oder es dem Betroffenen durch die fragliche Beschränkung praktisch unmöglich gemacht würde, seiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.160 Unberührt bleibt der Wesensgehalt hingegen, wenn die Maßnahme „nur die Modalitäten der Ausübung (des Eigentumsrechts) betrifft, ohne dessen Bestand selbst zu gefährden“161, „wenn es den Wirtschaftsteilnehmern unbenommen bleibt, ihr Eigentum auf andere Weise zu nutzen.“162 Der Wahrung des Wesensgehalts korrespondiert also die Wahrung eines Kernbestands an Eigentum.163 Ein Eingriff in diesen Kernbestand wird vom EuGH danach bewertet, in welchem Umfang die Rechte des Eigentümers insgesamt beschränkt werden.164 Diese Beschränkungen dürfen insoweit keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen165, nicht tragbaren Eingriff darstellen.166 In diesem Zusammenhang ist auch die soziale Funktion des Eigentums zu berücksichtigen.167 Dieses genießt dort besonderen Schutz, wo es der Sicherung der persönlichen Freiheit des Einzelnen dient. Dementsprechend steigt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers aber in dem Maße, in dem das Eigentum einen sozialen Bezug aufweist168, wie dies etwa im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation der Fall ist.169 Mit Blick auf diese Kriterien wird im Schrifttum zutreffend kritisiert, dass der EuGH einem relativen Verständnis des Wesengehalts zuneigt, demzufolge nur unverhältnismäßige Eingriffe den Wesensgehalt eines Grundrechts verletzen. Dann aber verliert die Wesensgehaltsgarantie gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ihre eigenständige Funktion.170 Wenngleich die Frage nach einer Entschädigungspflicht bei Eingriffen in das Ei- 51 gentumsgrundrecht aufgrund der Rechtsverbindlichkeit der GRCh zumindest im Hinblick auf Eigentumsentziehungen geklärt ist (→ Rn 41), so bleibt das Problem doch bezüglich bloßer Nutzungsbeschränkungen bestehen. 160 EuGH, Rs C-368/96, Slg 1998, I-7976, Rn 85 – Generics. 161 EuGH, Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 24 – SMW Winzersekt. 162 EuGH, Rs C-177/90, Slg 1992, I-35, Rn 17 – Kühn. 163 Dazu a Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, S 52 f. 164 Etwas genauer geprüft wurde das Vorliegen von Eingriffen in den Wesensgehalt zB in den Urteilen des EuGH, Rs 170/86, Slg 1991, I-5119, Rn 29 – von Deetzen; Rs C-177/90, Slg 1992, I-35, Rn 17 – Kühn. 165 S zur Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EuGH auch Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1094). 166 Vgl EuGH, Rs C-368/96, Slg 1998, I-7967, Rn 79 – Generics; Rs C-295/03 P, Slg 2005, I-5673, Rn 86 – Alessandrini. 167 EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 20 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1. 168 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 155. 169 EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 23 – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Rs C-265/87, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Rs C-22/94, Slg 1997, I-1809, Rn 27 – Irish Farmers Association. 170 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 76; aA Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, S 53.
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Der ausdrückliche Wortlaut des Art 17 I 3 GRCh setzt für die Rechtmäßigkeit einer Nutzungsbeschränkung jedenfalls keine Entschädigungszahlung voraus. Dies ist auch insofern gerechtfertigt, als die Normierung bloßer Nutzungsregelungen der Sozialbindung des Eigentums entspricht.171 Offen bleibt jedoch, ob sich die Notwendigkeit zur Zahlung eines finanziellen Ausgleichs auch im Rahmen von Nutzungsbeschränkungen nicht uU dennoch mit Blick auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ergeben kann.172 Der EuGH hat diese Frage bislang unbeantwortet gelassen.173 Eine Nutzungsregelung kann aber im Ergebnis finanziell ausgleichsbedürftig sein, um die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit zu erfüllen, weil „Beschränkungen des Eigentums bei Fehlen einer Entschädigung einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen“.174 Lösung Fall 5: Im Kontext der nach Art 267 AEUV zulässigen Vorlage führt der EuGH, wie so oft, die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht im Rahmen der konkreten Grundrechtsprüfung (hier des Eigentums), sondern abstrakt vorweg durch. Später, bei der Prüfung des Eigentumsgrundrechts, verweist er nur noch auf deren Ergebnis.175 Da bei dieser Vorgehensweise der Prüfungsmaßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht auf das Verhältnis von Regelungsziel und Regelungseingriff bezogen wird, kann er für den zu entscheidenden Einzelfall keinen konkreten Gehalt gewinnen und seine Steuerungskraft nicht effektiv entfalten. So kann das Ergebnis des EuGH nicht verwundern, wonach die Vorschriften der Nitratrichtlinie den Mitgliedstaaten hinreichende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, um für eine verhältnismäßige Umsetzung zu sorgen.176 Dogmatisch und im Ergebnis überzeugender hätte die Prüfung (von Verursacherprinzip, Eigentumsgrundrecht und Rechtfertigung des Eingriffs177) wie folgt umgekehrt werden müssen: Zunächst hätte der EuGH den Eingriff in das Grundstückseigentum des B durch die Düngebeschränkungen prüfen und – wie geschehen – bejahen müssen. Diesen Eingriff hätte er dann im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Regelungsziel Umwelt- und Gesundheitsschutz konkret in Bezug setzen müssen. Sodann hätte er Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Regelung prüfen können. Interessant ist, wie der EuGH den Hinweis des B auf das Verursacherprinzip behandelt: Es genüge die Feststellung, dass die Landwirte „nach der Richtlinie nicht verpflichtet sind, Belastungen zu tragen, die mit der Beseitigung einer Verunreinigung verbunden sind, zu der sie nicht beigetragen haben“. Es obliege den Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Richtlinie die anderen Verunreinigungsquellen zu berücksichtigen und den Landwirten keine Kosten für die Beseitigung der Verunreinigung aufzuerlegen, die in Anbetracht der
171 Folz in: Vedder/Heintschel v Heinegg, EUV/AEUV/GRCh/EAGV, Art 17 GRCh Rn 9. 172 Dafür Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1095). 173 EuGH, Rs C-20/00, Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd.; Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1095). 174 EuGH, Rs C-20/00, Slg 2003, I-7411, Rn 79 – Booker Aquaculture Ltd; Frenz GR, § 3 Rn 2985 f; Jarass GRCh, Art 17 Rn 39. 175 EuGH, Rs C-293/97, Slg 1999, I-2603, Rn 46–50, 57 – Nitratrichtlinie. 176 EuGH, Rs C-293/97, Slg 1999, I-2603, Rn 50 – Nitratrichtlinie. 177 EuGH, Rs C-293/97, Slg 1999, I-2603, Rn 51 ff – Nitratrichtlinie.
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Gegebenheiten nicht erforderlich sind. Entgegen dem herrschenden Verständnis178 betrachtet der EuGH hiermit das umweltrechtliche Verursacherprinzip explizit als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips und verweist auf die dazu bereits gemachten Ausführungen.179
c) Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte Bemerkenswert ist immer wieder, dass den Zielen der Union im Rahmen der kon- 54 kreten Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH ein relativ hohes Gewicht eingeräumt wird.180 So erfahren zB die eigentumsrelevanten Unionsakte im Bereich der Agrarpolitik bei der konkreten Prüfung der Verhältnismäßigkeit eine stark eingeschränkte Kontrolle durch den EuGH, der seine eigenen politischen Erwägungen nicht an die Stelle der durch die Rechtsetzungsorgane getroffenen Entscheidungen setzen will. Als exemplarisch können insoweit die Ausführungen im Bananen-Urteil gelten: „Diese Einschränkung der Kontrolle des Gerichtshofs ist insbesondere dann geboten, wenn sich der Rat veranlasst sieht, bei der Verwirklichung einer gemeinsamen Marktorganisation einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen herbeizuführen und auf diese Weise im Rahmen der in seine eigene Verantwortung fallenden politischen Entscheidung eine Auswahl zu treffen“. Zwar, fuhr der Gerichtshof fort, sei nicht auszuschließen, „dass andere Mittel in Betracht kommen konnten, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen.“ Der Gerichtshof hält sich nach eigener Einschätzung aber nicht für befugt, „die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen, wenn der Beweis nicht erbracht ist, dass diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet waren.“181 Das weite Ermessen des Unionsgesetzgebers bei der Gestaltung der gemein- 55 samen Marktordnungen ist somit für die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung prägend: Eine Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung ist nur in einigen Entscheidungen und auch dort höchstens in Ansätzen zu erkennen.182 Häufig endet die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Prüfung der Geeignetheit bzw der Erforderlichkeit. Führt der EuGH (ausnahmsweise) unter dem Stichwort „angemessenes Verhältnis“ eine Güterabwägung durch, beschränkt sie sich
178 Dazu Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 38 ff und Delfs, ZUR 1999, 322 (323): Kostenzurechnungsprinzip, das Grundrechtseinschänkungen rechtfertigen kann. 179 EuGH, Rs C-293/97, Slg 1999, I-2603, Rn 51 f – Nitratrichtlinie. 180 Vgl auch Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 17 Rn 21; Jarass/Kment GR, § 22 Rn 32. 181 EuGH, Rs C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn 89 f, 91, 94 – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 21 – SMW Winzersekt; Rs C-265/87, Slg 1989, 2237, Rn 22 – Schräder. 182 Dazu Jarass/Kment GR, § 22 Rn 31 ff.
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auf die Prüfung der Berechtigung des verfolgten Eingriffsziels und lässt eine Auseinandersetzung mit dem Grad und der Intensität der individuellen Betroffenheit vermissen.183 Dies führt zu einer – jedenfalls im Vergleich zur deutschen Rechtsprechung184 – nicht unerheblichen Zurücknahme der grundrechtlichen Kontrolldichte185, mit der Folge, dass die Berufung auf das Eigentumsgrundrecht – soweit ersichtlich – bislang nur in wenigen Fällen erfolgreich war.186 Jener, dem Unionsgesetzgeber bei der Auswahl der politischen Ziele vom EuGH eingeräumte weite Beurteilungsspielraum, wird ebenso wie die damit verbundene Rücknahme des Kontrollmaßstabs von der überwiegenden Meinung des deutschen Schrifttums zum Teil heftig kritisiert.187 So zutreffend die Kritik mitunter ist, so darf nicht übersehen werden, dass auch das BVerfG im Bereich komplexer wirtschaftpolitischer Maßnahmen des Gesetzgebers in aller Regel eine eher zurückhaltende Kontrolle ausübt (Vertretbarkeits- bzw Evidenzkontrolle).188 Im Übrigen ist zu bedenken, dass die in Deutschland übliche Kontrolldichte im Rechtsvergleich eher einer Ausnahme als die Regel darstellt.189
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Lösung Fall 6: Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass die Sanktionsmaßnahme mittelbar eigentumsbeeinträchtigende Auswirkungen habe und dadurch F schädige, die für die Situation, die zum Erlass der Sank-
183 Vgl nur exempl EuGH, Rs 44/79, Slg 1979, 3727, Rn 23 ff – Hauer = JK 80, Gemeinschaftsrecht GR/1; Slg 1994, I-4973, Rn 64 ff – Deutschland/Rat = JK 94, EWGV Art 186/2; Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555, Rn 20 ff – SMW Winzersekt. 184 AA Kischel, EuR 2000, 380 ff, der sich um den Nachw bemüht, dass die Kontrolle des EuGH hinter jener durch das BVerfG nicht zurückstehe. 185 So a Jarass/Kment GR, § 22 Rn 34 ff; ausf – und differenzierend – hierzu v Bogdandy, JZ 2001, 157 (163 ff); zur Kontrolldichte im Gemeinschaftsrecht allgem Herdegen/Richter in: Frowein (Hrsg) Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993, S 209 ff; Schwarze in: ders/Schmidt-Aßmann (Hrsg) Das Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht, 1992, S 211 ff. 186 EuGH, verb Rs C-402/05 u 515/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 363 – Kadi; verb Rs C-399/06 P u C-403/06 P, Slg. 2009, I-11393, Rn 94 – Hassan – Ayadi; auf drei weitere Fälle mittelbar – erfolgreicher Berufung auf das Eigentumsgrundrecht vor dem EuGH verweist Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 36 Rn 12. 187 Vgl etwa Nettesheim, EuZW 1995, 106 (107); Huber, EuZW 1997, 517 ff; Stein, EuZW 1998, 261 f; v Danwitz in: ders/Depenheuer/Engel (Hrsg) Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S 215 (277 f); differenzierend v Bogdandy, JZ 2001, 157 (163 ff); Becker, YEL 2007, 267 (282 f); aA Zuleeg, NJW 1997, 1201 ff und Kischel, EuR 2000, 380 ff; Pache in: Bruha/Nowak/Petzold (Hrsg) Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, 2004, S 193 (220 ff). 188 Vgl etwa BVerfGE 30, 250 (263); 38 (61, 87 ff) sowie in gelungener Weise differenzierend BVerfGE 50, 290 (336 ff); näher Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S 262 ff, 276 f. 189 Hierzu die Beiträge in Frowein (Hrsg) Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993.
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tionen geführt hat, nicht verantwortlich sei. Die Bedeutung der mit der Verordnung verfolgten Ziele könne jedoch selbst erhebliche negative Konsequenzen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen. Angesichts eines für die internationale Völkergemeinschaft derart grundlegenden, dem Gemeinwohl dienenden Ziels, das dahin geht, den Kriegszustand in der Region und die massiven Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in der Republik BosnienHerzegowina zu beenden, könne die Beschlagnahme des fraglichen Luftfahrzeugs, das Eigentum einer Person mit Sitz oder Tätigkeitsort in Jugoslawien ist, nicht als unangemessen oder unverhältnismäßig angesehen werden.190
IV. Würdigung der Bonität des europäischen Eigentumsschutzes Feststellen lässt sich insgesamt, dass Inhalt, Umfang und Grenzen des unionsrecht- 57 lichen Eigentumsgrundrecht – trotz mancher nach wie vor unklarer Fragen, insbesondere im Kontext der Enteignungsproblematik – durch die Rechtsprechung des EuGH sowie den seit dem Vertrag von Lissabon verbindlichen Art 17 GRCh klarere Konturen gewonnen haben.191 Dennoch lässt sich der Schutzbereich des Grundrechts auch künftig nur schwer konkretisieren. Somit wird die Konkretisierung des Eigentumgrundrechts auch weiterhin von der Rechtsprechung geprägt bleiben. Aufgrund des nunmehr geltenden europäischen Grundrechtskataloges ist jedoch zu hoffen, dass der EuGH sich der in der Literatur bemängelten, zu geringen Methodentransparenz192 stellt und seiner Grundrechtsrechtsprechung mehr Schärfe verleiht. Insoweit hat der EuGH die durch Art 6 III EUV nahegelegte Möglichkeit, auf die Erfahrungen der Mitgliedstaaten und des Straßburger EGMR zurückzugreifen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sich mit Blick auf die Konkretisierung von 58 Grundrechten die Vorgehensweise des EuGH nicht grundlegend von derjenigen nationaler Verfassungsgerichte unterscheidet.193 So musste zB auch das BVerfG das Eigentumsgrundrecht des Art 14 GG in einer sich entwickelnden Rechtsprechung konkretisieren.194 Folglich lag das Problem bisher weniger in der Grundrechts-
190 EuGH, Rs C-84/95, Slg 1996, I-3953, Rn 22 ff – Bosphorus. 191 Vgl etwa mit Blick auf das Eigentumsrecht den Überblick bei Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, S 32 ff; Kühling in: Frankfurter Komm, EUV/GRC/AEUV, Art 17 GRCh, Rn 32. 192 Streinz Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S 384 ff; aA Nettesheim, EuZW 1995, 106 (107). 193 Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, S 228 mwN; vgl dazu Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S 269 ff. 194 Dazu Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 211, 214 ff; Wendt Eigentum und Gesetzgebung, 1985.
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konkretisierung durch den EuGH195, sondern vielmehr in der Verhältnismäßigkeitsprüfung, auf die der EuGH bislang – vielleicht wegen des unkonturierten Schutzbereichs – in der Regel zügig zusteuert.196 Zu Recht wurde auch insoweit immer wieder – zuletzt mit Blick auf das erwähnte Bananen-Urteil und das Schaumwein-Urteil – deutliche Kritik geübt. In beiden Entscheidungen hat der EuGH die Gründe, die der Unionsgesetzgeber zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs geltend machte, einfach (unkritisch) übernommen und ohne weitere Gewichtung zugrunde gelegt. Bevor der EuGH die vom europäischen Gesetzgeber behaupteten Belange des Gemeinwohls in die Abwägung einstellt, müsste er also zunächst ihre sachliche Gültigkeit ebenso wie ihre verfassungsrechtliche Maßgeblichkeit und Gewichtigkeit überprüfen. Daran anknüpfend sollte der EuGH im Rahmen der Eingriffsprüfung das individuelle Grundrechtsinteresse des Betroffenen einer echten Bewertung zuführen. Fehlt es daran, so ist es nicht verwunderlich, wenn eine wirkliche Abwägung gegen das Gemeinwohlinteresse in Entscheidungen des EuGH nur selten zu finden ist.197 Vielmehr überlässt der Gerichtshof die Einschätzung, ob ein Ziel dem Gemeinwohl der Union entspricht und die gewählte Maßnahme das mildeste geeignete Mittel darstellt, das noch im Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, grundsätzlich dem Gesetzgebungsermessen des zuständigen Unionsorgans. Der dem Rat bei der Auswahl der politischen Ziele vom EuGH eingeräumte weite Beurteilungsspielraum und die damit verbundene weitgehend undifferenzierte Rücknahme des Kontrollmaßstabs auf „offensichtlich unverhältnismäßige“ Grundrechtsbeeinträchtigungen, die die „Grenzen des Ermessens“ des Rates überschreiten, sind unter Aspekten der in Art 2 und 19 I EUV zum Ausdruck kommenden Rechtstaatlichkeit der EU198 nicht unproblematisch.199
195 Ebenso Nettesheim, EuZW 1995, 106 (107). 196 Kritisch auch: Aguilera Vaqués, Right of Property and Limits on its Regulation, in: García Roca/ Santolaya (Hrsg), Europe of Rights. A Compendium on the European Convention of Human Rights, 2012, S 545. 197 In der Hinsicht positive Ansätze zu finden in EuGH, verb Rs C-402/05 u 515/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 355 ff – Kadi. 198 Ausf dazu Calliess Die neue EU, S 288 ff; ders in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 2 EUV Rn 25 f. 199 So die zutr Kritik von Nettesheim, EuZW 1995, 106 (107); ähnlich Huber, EuZW 1997, 517 ff; Stein, EuZW 1998, 261 f; differenzierend v Bogdandy, JZ 2001, 157 (163 ff); aA Zuleeg, NJW 1997, 1201 ff und Kischel, EuR 2000, 380 ff.
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§ 7 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Recht auf Bildung § 7.1 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Recht auf Bildung nach der EMRK
I. Kunst, Wissenschaft und Bildung im Schutzsystem der EMRK Die Grundrechte der Kunstfreiheit, der Wissenschaftsfreiheit wie auch das Recht auf 1 Bildung haben im Text der Europäischen Menschenrechtskonvention zwar keinen prominenten Platz. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sind nicht ausdrücklich erwähnt; das Recht auf Bildung ist nur im 1. ZP zur EMRK verankert. Sie sind jedoch ebenso wie in den nationalen Rechtsordnungen sowie in der Grundrechtecharta der Europäischen Union (Art 13 GRCh) wichtige grundrechtliche Gewährleistungen, die in das Schutzsystem der Konventionsgrundrechte eng eingefügt sind. In Ermangelung spezifischer textlicher Garantien für die Kunst- und die Wissenschaftsfreiheit leitet der EGMR die Schutzgehalte aus den Grundrechten des Art 10 EMRK her. Dies bedeutet nicht nur, dass die Rechtsprechung des EGMR wie auch in anderen Bereichen1 textliche Lücken der EMRK im Wege der Auslegung schließt und so ein Schutzniveau garantiert, welches den nationalen und EU-Gewährleistungen entspricht. Durch diese Rechtsprechung ist vielmehr auch der enge sachliche und systematische Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft mit den Kommunikationsgrundrechten hervorgehoben, die in der Rechtsprechung zur EMRK stets eine erhebliche praktische Bedeutung besessen haben.2 Dies macht die inhaltliche Verflechtung dieser Grundrechtspositionen noch klarer erkennbar, als dies im Falle textlich ausdifferenzierterer Garantien im nationalen oder im Unionsrecht der Fall ist. Hieraus wird u. a. auch deutlich, dass Kunst und Wissenschaft nicht nur zentral wichtige Äußerungsformen menschlicher Erkenntnis und Kommunikation sind und in vielen Fällen zugleich auch Meinungen oder Meinungsgrundlagen transportieren. Ihre systematische Verknüpfung mit den übrigen Kommunikationsfreiheiten verdeutlicht vielmehr zudem, welche Bedeutung auch diesen speziellen Gewährleistungen in einem demokratischen und freiheitlichen Staatswesen zukommen.
1 S beispielsweise für die vielfältigen Anwendungsbereiche des Art 8 EMRK → Marsch § 4.2 Rn. 4. 2 Vgl nur EGMR (Pl), Urt v 7.12.1976, 5493/72 – Handyside/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 8.7.1986, 9815/82 – Lingens/Österreich. ferner Cornils, in: Gersdorf/Paal (Hrsg.), BeckOK InfoMedienR, Art 10 EMRK Rn 3 f.
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In praktischer Hinsicht bedeutet die systematische Zuordnung zu den Kommunikationsgrundrechten, dass die Prüfung einer Verletzung der Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit den gleichen Grundsätzen und Strukturen folgt wie bei der Verletzung der übrigen dieser Grundrechte, die von Art 10 EMRK garantiert sind.3 Anders als im deutschen Verfassungsrecht gelten für die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit dieselben Grundrechtsschranken, die auch für Meinungs- und Medienfreiheiten anwendbar sind und die sich im Konventionsrecht aus Art 10 II EMRK ergeben. Allerdings ist natürlich gerade im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung zu beachten, dass manche der Kommunikationsgrundrechte wie die Presseund Rundfunkfreiheit besonderen Rechtsprechungslinien folgen, deren Details auf die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sachlich nicht ohne Weiteres übertragbar sind. Das besondere Gewicht der Grundrechte des Art 10 I EMRK erfasst wegen der Verankerung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in der Norm allerdings auch diese Gewährleistungen. Auch wenn diese Grundrechte damit ebenso wie die anderen Kommunikationsgrundrechte nicht nach Art 15 EMRK notstandsfest sind, kommt ihnen doch in einer demokratischen Gesellschaft (Art 10 II EMRK) ein besonderes Gewicht im Rahmen der Abwägung mit konfligierenden Interessen zu.4 3 Zu den Gemeinsamkeiten der Grundrechte der Freiheit der Kunst und der Wissenschaft gehört ihre besondere Relevanz für die Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen. Sie unterscheiden sich hier nicht von den übrigen Kommunikationsfreiheiten. Sie sind hierin aber gleichzeitig mehr als bloße Ausprägungen der Meinungsfreiheit; denn sowohl wissenschaftliche wie auch künstlerische Betätigungen sind schon für sich genommen als individuelle Beschäftigungen und unabhängig von Ergebnissen oder deren öffentlicher Äußerung für die Persönlichkeitsentfaltung wesentlich. Außerdem bezeichnen sie besondere Kommunikationsformen. Gerade die Kunstfreiheit regt in ihren besonderen Ausdrucksformen in oft zugespitzter und hoch wirksamer Weise zu kritischer Erwägung und Beleuchtung auch grundlegender gesellschaftlicher und menschlicher Fragen an.5 Der Wissenschaft ihrerseits kommt durch ihre besondere Methodik und ihren Wahrheitsfindungsanspruch bei der Entwicklung belastbarer Erkenntnisse auch eine Grundlagenfunktion im kommunikativen Austauschprozess zu. 4 Das Recht auf Bildung ist in Art 2 1. ZP EMRK verankert. Das Konventionsrecht enthält damit eine Garantie, die ihrem Wortlaut nach in Deutschland nur in einzel-
3 Dazu ausführlich → Marauhn/Jaś-Nowopolska, § 5.1 Rn 24 ff. 4 Art 16 EMRK wird in den Fällen der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit typischerweise keine Anwendung finden, da die Norm ohnedies eng auszulegen ist und zudem direkt auf genuin politische Tätigkeiten abzielt. S dazu EGMR (GK), Urt v 15.10.2015, 27510/08, § 122 – Perinçek/Schweiz; näher Mensching in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 16 Rn 2 f mwN. 5 Vgl auch Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 611 f.
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§ 7.1 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: EMRK
nen Landesverfassungen, nicht aber im Text des Grundgesetzes enthalten ist,6 wohl aber auf Ebene der Union in Art 14 GRCh verankert ist. Auch hier ist das Recht sachlich umfassend zu verstehen und erstreckt sich auf Bildung und Ausbildung in ihren unterschiedlichen Anforderungsniveaus.7 In der Rechtsprechung des EGMR hat das Recht auf Bildung durchaus in der Praxis einige Bedeutung erlangt, wobei kasuistische Schwerpunkte nicht nur im Bereich der Schulbildung, sondern auch in der Hochschulbildung liegen. In seiner Struktur unterscheidet sich dieses Grundrecht von denen des Art 10 EMRK insbesondere, was die Schrankenregelung angeht.8 Auch das Recht auf Bildung besitzt insbesondere für die Entwicklung der Per- 5 sönlichkeit eine hohe Bedeutung.9 Es ist überdies für die effektive Wahrnehmung und Förderung der übrigen Grundrechte wesentlich.10 Der Bildung kommt auch für das funktionierende Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft besondere Wichtigkeit zu.11 Dieser teleologische Zusammenhang ist für die Gewichtung der Grundrechte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung erheblich, führt aber in aller Regel nicht zu der Notwendigkeit, neben den speziellen Grundrechtsgarantien auch allgemeine persönlichkeitsbezogene Rechtspositionen anzuführen. Für den Bildungssektor stellt sich das Recht auf Bildung in aller Regel als Spezialvorschrift dar.12
II. Menschenrechtsgarantien auf globaler Ebene Die textliche Zurückhaltung der EMRK gegenüber eigenständigen Grundrechten 6 der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit spiegelt sich auch in den Menschenrechts-
6 Näher Germelmann Kultur und staatliches Handeln, 2013, S 94 ff. Allerdings leitet das BVerfG neuerdings ein Recht auf schulische Bildung aus Art 2 I iVm Art 7 I GG ab: BVerfGE 159, 355 ff; dazu etwa Lindner, DÖV 2022, 733. Zuvor war es für das Grundgesetz offengelassen worden durch BVerfGE 45, 400 (417); NVwZ 1997, 781 (782); NVwZ 2018, 728 (730). Lediglich zum Teilhaberecht aus dem Benachteiligungsverbot aus Art 3 III 2 GG s BVerfGE 96, 288 (306) und zur schulischen (gymnasialen) Bildung als Teil der Ausbildung nach Art 12 GG BVerfGE 58, 257 (273). 7 S unten Rn 36. Aus Sicht des französischen Rechts s auch ausführl die Beiträge im Dossier „La liberté d’enseignement à la croisée des chemins ?“, in: RFDA 2021, 215 ff und insb Bioy/Egéa, RFDA 2021, 219 ff. 8 S dazu noch unten Rn 42. 9 Vgl Schabas EMRK, S 995. 10 EGMR (GK), Urt v 10.11.2005, 44774/98, § 137 – Leyla Şahin/Türkei. 11 S etwa Germelmann Kultur und staatliches Handeln, 2013, S 92 ff, 120 ff mwN; Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 4. 12 EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/06, § 59 – Lautsi ua/Italien.
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texten auf globaler Ebene, was sich auch durch die weltweit durchaus sehr unterschiedliche Stellung von Kunst und Wissenschaft in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen erklärt. Beide Garantien finden sich in ihrer vollen sachlichen Breite weder im Text des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte noch in der – rechtlich unverbindlichen – Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Art 27 AEMR benennt lediglich ein allgemeines kulturelles Teilhaberecht sowie den Urheberschutz, die beide ausdrücklich auch wissenschaftliche Erkenntnisse und künstlerische Werke umfassen. Die Teilhabe bezieht sich dabei auf den rezipierenden Teil („sich an den Künsten zu erfreuen“).13 Art 19 II IPbpR nimmt die Äußerungskomponente von „Kunstwerken“ im Zusammenhang mit der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit in seinen Schutzgehalt auf. Nicht ausdrücklich genannt, aber unter die Meinungs- und Informationsfreiheit nach Art 19 I, II IPbpR subsumierbar sind wissenschaftliche Erkenntnisse.14 Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind ebenfalls ein weniger spezifiziertes Teilhaberecht am kulturellen Leben (Art 15 I lit a IPwskR), der immaterielle und materielle Schutz des Urhebers wissenschaftlicher Werke (Art 15 I lit c IPwskR), die Forschungsfreiheit (Art 15 III IPwskR) sowie eine – freilich nicht näher spezifizierte – Gewährleistungsverantwortung der Vertragsstaaten für die Aufrechterhaltung und Ermöglichung wissenschaftlicher und allgemein kultureller Betätigung normiert (Art 15 II IPwskR).15 In diesem Zusammenhang hat die UNESCO unter Bezugnahme auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie Art 13 IPwskR ihrerseits ebenfalls rechtlich unverbindliche Empfehlungen hinsichtlich der Stellung des Hochschulpersonals abgegeben.16 7 Auf globaler Ebene schreibt Art 26 AEMR ferner das Recht auf Bildung als menschenrechtliche Gewährleistung fest. Sie ist rechtlich verbindlich zudem in Art 13 IPwskR normiert, der sich nach seinem Wortlaut in Abs 2 der Norm ua auf eine unentgeltliche Grundschulbildung, eine allgemein zugängliche höhere Schul-
13 Das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit nach Art 19 AEMR ist mit Blick auf Kunst und Wissenschaft nicht näher spezifiziert. 14 Vgl etwa den Fall eines französischen Universitätsprofessors, der Umfang und Methoden des Holocaust leugnete: MR-Komitee der VN, 8.11.1996, Comm. No. 550/1993, UN Doc. CCPR/C/58/D/550/1993 (1996) – Faurisson/Frankreich (Loi Gayssot). S dazu auch Wachsmann, RTDH 2001, 585 ff. 15 Vgl Prüm/Ergeç, RDP 2010, 3 (9). Art 13 IV IPwskR verweist ohne Formulierung einer bindenden Verpflichtung auf die internationale Kooperation in diesem Bereich. Für den Bereich der Wissenschaftsfreiheit und der diesbezüglichen Teilhabe Claude in: Chapman/Russell (Hrsg), Core Obligations: Building a Framework for Economic, Social and Cultural Rights, 2002, S 247 ff. 16 UNESCO Recommendation concerning the Status of Higher-Education Teaching Personnel vom 11.11.1997 (abrufbar unter https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000113234.page=2). Der Text fordert ua eine institutionelle Autonomie von Hochschulen und eine persönliche Freiheit der Hochschulangehörigen.
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bindung sowie den Hochschulunterricht mit gleichberechtigten, fähigkeitsabhängigen Zugangsbedingungen erstreckt. Hierbei hebt Art 13 I 2 IPwskR zu Recht die besondere Bedeutung des Rechts auf Bildung für die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Menschenwürde hervor.17 Eine entsprechende Garantie ist in Art 28 der Kinderrechtskonvention enthalten18, der zudem die Relevanz des Rechts auf Bildung für die Verwirklichung von Chancengleichheit betont. Das Verständnis der Bildung im Sinne der völkerrechtlichen Garantien ist daher weit gefasst.19
III. Kunstfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz; EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87 – Otto-Preminger-Institut/Österreich; EGMR (GK), Urt v 8.7.1999, 23168/94 – Karataş/Türkei; Urt v 29.3.2005, 40287/98 – Alinak/Türkei; Urt v 25.1.2007, 68354/01 – Vereinigung Bildender Künstler/ Österreich; Urt v 2.10.2008, 36109/03 – Leroy/Frankreich; Urt v 17.7.2018, 38004/12 – Mariya Alekhina ua/Russland; Urt v 27.2.2018, 39496/11 – Sinkova/Ukraine. Schrifttum: Ruet L’expression artistique au regard de l’article 10 de la Convention européenne des droits de l’homme, RTDH 2010, 917 ff; Wachsmann La religion contre la liberté d’expression : sur un arrêt regrettable de la Cour européenne des Droits de l’homme. L’arrêt Otto-Preminger-Institut du 20 septembre 1994, RUDH 1994, 441 ff; Würkner Kunst und Moral – Gedanken zur “Fri-Art 81”-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, NJW 1989, 369 ff.
1. Schutzbereich Fall 1: (vereinfacht nach EGMR (GK), Urt v 8.7.1999 – 23168/94 – Karataş/Türkei) K ist türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung. Er steht der Kurdenpolitik der türkischen Regierung sehr kritisch gegenüber. Daher veröffentlicht er eine Gedichtanthologie, in der er in künstlerisch verbrämter Form die Gewalt der türkischen Behörden in seiner Heimatregion anprangert, wobei er in einem Gedicht von „Grausamkeit“ und „Völkermord“ spricht. Es spricht allerdings auch von dem „jahrtausendealten Gesetz, dass Blut mit Blut abgewaschen werden müsse“, der „Freude, sich unter die kurdischen Märtyrer einzureihen“ und beschreibt am Ende das Wachsen einer „heimlichen Rebellion“. K wird wegen der Veröffentlichung des Buches vom zuständigen türkischen Gericht wegen separatistischer Propaganda und der Gefährdung der Einheit des Staates zu einer Haftstrafe von einem Jahr und einem Monat sowie zu einer Geldstrafe verurteilt; sein Werk wird eingezogen.
17 Näher Schmahl, RdJB 2020, 293 (294 ff). 18 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989, BGBl 1992 II 122. 19 Schmahl, RdJB 2020, 293 (294).
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9 Für eine grundrechtliche Garantie der Freiheit der Kunst findet sich im Text der
Konvention kein Anhalt. Dennoch gehört die Kunstfreiheit anerkanntermaßen auch im Konventionsrecht zu den geschützten Grundrechten und wird in Art 10 I EMRK verankert. Dies führt dazu, dass der Schwerpunkt der Argumentation des EGMR auf der künstlerischen Ausdrucksform der jeweiligen Meinungsäußerung beruht.20 Sie betrifft in der Terminologie der deutschen Grundrechtslehre21 daher vornehmlich den „Wirkbereich“ der Kunstfreiheit. Dies bedeutet indes nicht, dass nicht auch der stärker intern im künstlerischen Schaffen verankerte „Werkbereich“ der Kunst geschützt wäre; er ist die notwendige Voraussetzung der Veröffentlichung künstlerisch geformter Äußerungen und Meinungen. Allerdings führt dies umgekehrt nicht dazu, dass der Schutz der Kunstfreiheit nach der EMRK stets die Herausfilterung einer erkennbaren (politischen) Meinung erforderte.22 Im Gegenteil steht die künstlerische Äußerung an sich unter dem Schutz des Konventionsrechts; sie ist der Meinung gleichgestellt. Damit sind auch Äußerungen, die in ihren Deutungsmöglichkeiten facettenreich und mehrdimensional sind oder aber auch lediglich die Ausdruckform in den Mittelpunkt stellen, als von Art 10 I EMRK erfasst anzusehen. Die Rechtsprechung des EGMR lässt dabei sowohl offen, ob sie Kunst tatsächlich als ein aliud zur Meinung versteht, als auch nimmt sie keine dogmatisch klare Unterscheidung in Werk- und Wirkbereich vor. 10 Der Begriff der Kunst ist in sachlicher Hinsicht wie im Bereich der deutschen Dogmatik auch nach dem Konventionsrecht nicht eindeutig definiert. Die Rechtsprechung enthält sich auch hier einer abschließenden Bestimmung der Begrifflichkeit, was verständlich ist, da die tatbestandliche Verankerung in der Meinungsfreiheit ohnedies ein weites Feld an Ausdrucksformen eröffnet.23 Daher ist für den Kunstbegriff im Konventionsrecht letztlich ein entwicklungsoffenes Verständnis entscheidend, bei dem klassische, moderne, aber ebenso auch vollständig neu entstehende Kunstformen dem Schutzbereich unterfallen. Gerade bei Letzteren ist es nicht erforderlich, dass eine breite gesellschaftliche Anerkennung der künstlerischen Ausdrucksweise festzustellen ist. Im Gegenteil gehört es zu dem Wesen von
20 Vgl etwa EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz; dazu Würkner, NJW 1989, 369; EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87 – Otto-Preminger-Institut/Österreich; EGMR (GK), Urt v 8.7.1999, 23168/94, § 49 – Karataş/Türkei; deutlich auch EGMR, Urt v 29.3.2005, 40287/98, § 42 – Alinak/Türkei: Beitrag „zum Austausch von Ideen und Meinungen“. Für Literatur zB auch EGMR (GK), Urt v 23.1.2023, 61435/19, §§ 141 ff – Macatė/Litauen ohne gesonderte Prüfung der Kunstfreiheit. Ferner Schabas EMRK, S 451. 21 Dazu beispielhaft Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 853. 22 Richtig Schabas EMRK, S 464. 23 Vgl die Beispiele aus der Rspr bei Schabas EMRK, S 455.
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Kunst, durch auch provokante und verstörende Aussagen und Formen24 Gewissheiten zu erschüttern und etablierte Anschauungen zu kritisieren. Daher sind gerade auch in diesem Sinne extreme künstlerische Aussagen und Aktivitäten von der Kunstfreiheit nach Art 10 I EMRK geschützt.25 Ihnen erkennt der EGMR eine für die demokratische und pluralistische Gesellschaft wesentliche Bedeutung zu.26 Daher ist auch das schutzbereichsbegrenzende Missbrauchsverbot des Art 17 EMRK hier ebenso wie im Bereich der allgemeinen Meinungsfreiheit nur sehr restriktiv handzuhaben und Konflikte auf der Schrankenebene aufzulösen.27 Dies gilt in besonderem Maße im Falle der Satire, wobei freilich im Rahmen und unter den Voraussetzungen der Schranken des Art 10 II EMRK auch in derartige (künstlerische) Betätigungen eingegriffen werden kann.28 In gleicher Weise ist auch die kommerziell vermarktete Kunst vollwertiges Schutzobjekt der Kunstfreiheit nach der Konvention.29 Die Abgrenzung der sachlichen Schutzbereiche zwischen Meinungs- und 11 Kunstfreiheit ist nicht immer eindeutig,30 was wegen der gemeinsamen Verankerung in Art 10 I EMRK aber auch keine erheblichen Konsequenzen nach sich zieht. Entsprechendes gilt für die Pressefreiheit, wenn ein inkriminiertes Kunstwerk beispielsweise in der Presse veröffentlicht worden ist.31 Es erscheint in derartigen Zweifelsfällen dogmatisch denkbar, eine Schwerpunktbetrachtung vorzunehmen, die darauf abstellt, ob der Meinungsinhalt oder die künstlerische Ausdrucksform jeweils im Vordergrund des Schutzbedürfnisses steht. Die Rechtsprechung des EGMR geht häufig anders vor und führt keine präzise Abgrenzung innerhalb des Schutzbereichs des Art 10 I EMRK vor, sondern ordnet die Fälle allgemein der Meinungsfreiheit zu und berücksichtigt die künstlerische Komponente ebenso wie die Funktion der Presse später im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung.32
24 Vgl EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz; Urt v 29.3.2005, 40287/98 – Alinak/Türkei; Urt v 25.1.2007, 68354/01 – Vereinigung Bildender Künstler/Österreich. 25 EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87 – Otto-Preminger-Institut/Österreich. Allgemein zur Meinungsfreiheit des Art 10 I EMRK EGMR (Pl), Urt v 7.12.1976, 5493/72 – Handyside/Vereinigtes Königreich. 26 Vgl etwa deutlich EGMR (GK), Urt v 8.7.1999, 23168/94, § 49 f – Karataş/Türkei; EGMR, Urt v 25.1.2007, 68354/01 – Vereinigung Bildender Künstler/Österreich; jüngst auch erneut für Literatur EGMR (GK), Urt v 23.1.2023, 61435/19, §§ 202 ff – Macatė/Litauen. 27 So auch für Art 10 I EMRK allgemein Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 7. 28 EGMR, Urt v 2.10.2008, 36109/03 – Leroy/Frankreich. 29 Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 611. 30 Vgl. bspw für Performance-Kunst EGMR, Urt v 17.7.2018, 38004/12 – Mariya Alekhina ua/Russland; 27.2.2018, 39496/11 – Sinkova/Ukraine; dazu auch Burgorgue-Larsen, AJDA 2018, 1770 (1778 ff). 31 EGMR (GK), Urt v 22.10.2007, 21279/02 u 36448/02 – Lindon, Otchakovsky-Laurens u July/Frankreich; dazu Wachsmann, RTDH 2009, 491 ff; EGMR, Urt v 2.10.2008, 36109/03 – Leroy/Frankreich. 32 So etwa EGMR, Urt v 2.10.2008, 36109/03 – Leroy/Frankreich. S zur Rechtfertigungsdogmatik noch unten Rn 42.
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Der Fokus des Art 10 I EMRK auf dem Schutz der Äußerung verdeutlicht in personeller Hinsicht, dass nicht nur der Kunstschaffende selbst, sondern auch der Vermittler künstlerischer Aktivitäten von dem Grundrecht geschützt werden.33 Dies gilt unabhängig von der Form der Vermittlung, so dass klassische Ausstellungen ebenso erfasst sind34 wie moderne Formen elektronischer Verbreitung. In Hinblick auf die Übertragung im Rundfunk ist jedoch der Schutzbereich des Grundrechts der Rundfunkfreiheit nach Art 10 I EMRK als spezieller anzusehen. Der Grenzbereich zwischen dem neuen originären Schaffen und der (nachschaffenden) Interpretation künstlerischer Werke ist für den Schutz unerheblich, da sowohl der Kunstschaffende als auch der Interpret als Ausübender oder als bloßer Mittler von der Kunstfreiheit erfasst ist.
2. Grundrechtsfunktionen 13 Die Schutzfunktionen der Kunstfreiheit beziehen sich in erster Linie auf die ab-
wehrrechtliche Dimension. Ob daneben auch positive staatliche Pflichten zugunsten des Schutzes der Kunstfreiheit bestehen, ist in der Rechtsprechung nur insofern geklärt, als positive Pflichten für die Meinungsfreiheit nach Art 10 I EMRK grundsätzlich angenommen werden.35 Es liegt in Anbetracht der Verankerung des Grundrechts in der Zentralnorm der Kommunikationsfreiheiten des Art 10 I EMRK nahe, auch für die Kunstfreiheit eine Parallelität zur Meinungsfreiheit anzunehmen, zumal der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung den Äußerungsaspekt der Kunstfreiheit hervorhebt und in Bezug auf den eröffneten Schutzbereich keine exakte dogmatische Differenzierung zwischen den Freiheiten vornimmt.36 Dies bedeutet, dass die Kunstfreiheit auch in Hinblick auf die grundrechtlichen Funktionen wie die in Art 10 I EMRK genannten Kommunikationsfreiheiten zu behandeln ist. Eine positive staatliche Handlungspflicht ist für Art 10 I EMRK daher in Gänze anzunehmen. Eine unmittelbare Drittwirkung der Kunstfreiheit des Art 10 I EMRK unter Privaten wird man hingegen nicht annehmen können. Sie ist in der Rechtsprechung des EGMR auch nicht anerkannt.37 14 Institutionelle Garantien zugunsten der Kunstfreiheit sind im Angesicht von deren Freiheitsdimension und Staatsferne schon im nationalen Recht schwierig zu be-
33 EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87, §§ 55 f – Otto-Preminger-Institut/Österreich. 34 EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz. 35 Zu Schutzpflichten bei Art 10 EMRK s beispielsweise Sudre EMRK, Rn 541; Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 64 f mwN. 36 Oben Rn 9. 37 S allgemein → Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 68.
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§ 7.1 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: EMRK
gründen.38 Umso mehr gilt dies im europäischen Konventionsrecht, welches mangels textlicher Verankerung und unterschiedlichen Rechtstraditionen bei der Unterhaltung kultureller Einrichtungen den Mitgliedstaaten hier keine präzisen Vorgaben machen kann. In Bezug auf Leistungs- und Teilhaberechte kennt die EMRK zwar keine vergleichbare ausdrückliche Garantie einer kulturellen Teilhabe, wie sie in den Texten des internationalen Grundrechtsschutzes normiert ist (zB Art 15 IPwskR), wenngleich freilich auch dort die Präzision der Vorgaben gering ist.39 Dennoch erscheint es in Anbetracht der Bedeutung gerade auch der staatlichen Förderung von Kunst sachgerecht, in Konstellationen, in denen Fördermittel bereitgestellt werden, eine gleichberechtigte Teilhabe aus der Kunstfreiheitsgarantie des Art 10 I EMRK iVm der akzessorischen Diskriminierungsnorm des Art 14 EMRK abzuleiten. Die Versagung der Teilhabe aus Gründen, die an das Kunstwerk selbst anknüpfen und darauf abzielen, seine Entstehung oder Verbreitung zu verhindern oder zu behindern, kann sogar als Eingriff in das Abwehrrecht verstanden werden.
3. Eingriffe Eingriffe in die Kunstfreiheit können in unterschiedlicher Form erfolgen.40 Im 15 Zentrum stehen direkte Eingriffe. Sie können präventiv künstlerische Tätigkeiten untersagen, unmöglich machen oder behindern,41 ebenso aber auch als Sanktionen repressiv an diese anknüpfen.42 In Bezug auf indirekte Eingriffe ist die Rechtsprechung des EGMR zu Art 10 I EMRK allerdings nicht in gleicher Weise weitreichend wie das Verständnis mittelbarer Grundrechtseingriffe durch das BVerfG für das deutsche Grundgesetz. Die Grundsätze der EGMR-Rechtsprechung, die für alle Kommunikationsfreiheiten gelten,43 sind auch im Bereich der Kunstfreiheit anzuwen-
38 S hierzu im deutschen Recht Germelmann Kultur und staatliches Handeln, 2013, S 167 ff. 39 S zu den Konturen einer kulturellen Teilhabe hier etwa O’Keefe, ICLQ 47 (1998), 904 ff; Hansen in: Chapman/Russell (Hrsg), Core Obligations: Building a Framework for Economic, Social and Cultural Rights, 2002, S 279 (290 ff). 40 Allgemein Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 20, § 18 Rn 5 f. 41 Vgl EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz (Beschlagnahme von Bildern); EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87 – Otto-Preminger-Institut/Österreich (Beschlagnahme eines Films – „Das Liebeskonzil“). 42 Vgl EGMR, Urt v 2.10.2008, 36109/03 – Leroy/Frankreich (Verurteilung wegen Billigung des Terrorismus in satirischer Karikatur); EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz; EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87 – Otto-Preminger-Institut/Österreich. 43 Näher dazu → Marauhn/Jaś-Nowopolska, § 5.1 Rn 24; Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 32.
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den. In jedem Fall ist eine hinreichende Intensität des Eingriffs erforderlich, der darauf abzielt oder zumindest erkennbar geeignet ist, die grundrechtliche Freiheit zu verkürzen. Dann allerdings kommt es richtigerweise auf die Form des Eingriffs nicht mehr entscheidend an. Diese Sichtweise muss vielmehr im Interesse eines effektiven Schutzes des Grundrechts nicht nur für direkte, sondern auch für indirekte Eingriffe gelten. Gerade im Bereich von Sanktionen und deren Androhung für künstlerische Tätigkeiten sind die Grenzen ohnehin fließend.
4. Rechtfertigungsgründe 16 Die Rechtfertigungsdogmatik im Falle der Kunstfreiheit folgt im Wesentlichen
den allgemeinen Regeln, die auch für die Meinungsfreiheit im Rahmen des Art 10 II EMRK anerkannt sind.44 Stets erforderlich ist, dass der Eingriff in das Grundrecht gesetzlich vorgesehen ist, was nicht notwendigerweise ein geschriebenes Parlamentsgesetz erfordert; auch ungeschriebene, etwa gewohnheitsrechtliche Rechtsgrundlagen sind ausreichend. Allerdings wird von der Rechtsprechung insbesondere eine hinreichende Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der gesetzlichen Eingriffsgrundlage verlangt.45 Im Falle der Rechtfertigung von Eingriffen in Form der Unterlassung entgegen positiven staatlichen Handlungspflichten entfällt strukturell das Erfordernis der Rechtsgrundlage als Rechtfertigungsvoraussetzung.46 17 Zudem muss sie „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Dazu muss die Maßnahme zunächst einem legitimen Ziel im Sinne eines „dringenden sozialen Bedürfnis“ folgen.47 Die Maßnahme muss also eines der in Art 10 II EMRK genannten Ziele verfolgen. Von praktischer Bedeutung im Bereich der Kunstfreiheit sind etwa die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie die Verhütung von Straftaten, aber auch der Schutz der Moral, bei der freilich sowohl Entwicklungen der herrschenden Vorstellungen über die Zeit als auch besondere nationale Einschätzungen zu beachten sind. Auch der Schutz nationalen Kulturerbes kann einen legitimen Rechtfertigungsgrund darstellen.48 In Ermangelung einheitlicher europäischer Standards kommt in der Rechtfertigungsprüfung der Beurteilungsprärogative der mitgliedstaatlichen Gerichte eine nicht unwesentliche
44 Näher dazu → Marauhn/Jaś-Nowopolska, § 5.1 Rn 30; Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 21 ff. 45 EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz (Veröffentlichung von „unzüchtigem“ Material). 46 Schabas EMRK, S 454. 47 EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz; EGMR, Urt v 29.3.2005, 40287/98 – Alinak/Türkei. Parallel für die Pressefreiheit EGMR, Urt v 8.7.1986, 9815/82, § 39 – Lingens/Österreich. 48 EGMR, Entsch v 7.6.2011, 2777/10 – Ehrmann und SCI VHI/Frankreich.
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§ 7.1 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: EMRK
Bedeutung zu.49 Auch die „Rechte anderer“ sind im Interesse eines harmonischen Ausgleichs der unterschiedlichen Rechtspositionen der Konvention legitime Schranken, wie der Gerichtshof dies etwa für die Schutzwürdigkeit religiöser Gefühle und Überzeugungen Dritter50 oder auch für Persönlichkeitsrechte51 anerkannt hat. Auch bei der Bedeutung der Religion gesteht der Gerichtshof wegen der weiterhin erheblichen Unterschiede den Mitgliedstaaten Beurteilungsspielräume zu.52 Je nach den Umständen des Einzelfalls können sich unterschiedliche Rechtfertigungsgründe sachlich überschneiden und sind dann auch parallel zueinander anwendbar. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird seitens der Rechtspre- 18 chung des EGMR verglichen mit Fällen der allgemeinen Meinungsfreiheit der Umstand besonders berücksichtigt, dass es sich um eine künstlerische Aussage handelt. In diesen Fällen verlangt er eine „besonders sorgfältig[e]“ Prüfung des Eingriffs.53 Man wird dies auch dahingehend zu verstehen haben, dass neben der besonderen Bedeutung der Kunstfreiheit auch die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten eines Kunstwerks bei der Abwägung einbezogen werden müssen.54 Allerdings betont der Gerichtshof ebenso, dass allein der Umstand, dass es sich um eine künstlerische Äußerung handelt, diese nicht von „Pflichten und Verantwortung“ iSd Art 10 II EMRK entbindet.55 Diese Betonung, die im Wesentlichen eine textliche Referenz darstellt, dürfte allerdings im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Kunstfreiheit richtigerweise keine eigenständige argumentative Kraft besitzen; sie stellt lediglich klar, dass auch die Kunstfreiheit einschränkbar ist, fungiert aber nicht selbst als (pauschale) Schranke.56 Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art 10 II
49 EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz. Kritisch dazu Würkner, NJW 1989, 369 ff. Näher auch Schabas EMRK, S 474 f. 50 EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87 – Otto-Preminger-Institut/Österreich (blasphemischer Film). Krit Wachsmann, RUDH 1994, 441. 51 EGMR, Urt v 25.1.2007, 68354/01 – Vereinigung Bildender Künstler/Österreich (Darstellung eines Politikers in drastischer sexualisierter Pose). S im Vergleich zu deren Wertung die Entscheidung BVerfGE 75, 369 (379 ff), auf die das abweichende Sondervotum der Richter Spielmann und Jebens zu der genannten EGMR-Entscheidung ausdrücklich und unter Hervorhebung der Betroffenheit der Menschenwürde verweist. 52 EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87 – Otto-Preminger-Institut/Österreich. 53 EGMR, Urt v 25.1.2007, 68354/01, § 33 – Vereinigung Bildender Künstler/Österreich; Urt v 2.10.2008, 36109/03, § 44 – Leroy/Frankreich. 54 In diese Richtung EGMR, Urt v 29.3.2005, 40287/98 – Alinak/Türkei. 55 EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/81 – Müller/Schweiz; Urt v 25.1.2007, 68354/01 – Vereinigung Bildender Künstler/Österreich; Urt v 2.10.2008, 36109/03 – Leroy/Frankreich. 56 Vgl auch EGMR, Urt v 25.6.1992, 13778/88 – Thorgeir Thorgeirson/Island. Ebenso restriktiv Harris/ O’Boyle/Warbrick EMRK, S 660 ff mit einer Beschränkung auf die Meinungsäußerung bestimmter Personengruppen in öffentlichen Dienstverhältnissen wie Richtern, Beamten, Diplomaten etc und ggf anerkannte journalistische Sorgfaltspflichten.
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EMRK stellt das Gewicht einer künstlerischen Aktivität mit dezidiert politischer Aussage einen Sonderfall dar, weil hier der vom Gerichtshof stets betonte Schutz der politischen Auseinandersetzung im demokratischen Gemeinwesen in besonderem Maße zum Ausdruck kommt.57 Auch wenn man der Kunstfreiheit dogmatisch einen eigenständigen Schutzbereich im Rahmen des Art 10 I EMRK zuweist,58 muss bei der Prüfung hier wegen der Verankerung beider grundrechtlicher Gewährleistungen – einerseits der allgemeinen Meinungsfreiheit, andererseits der Kunstfreiheit – auf Schutzbereichsebene keine Differenzierung vorgenommen werden. In wechselseitiger Verstärkung wird hier der Meinungsaspekt neben dem Kunstaspekt bei der Eingriffsrechtfertigung Erwähnung finden. 19 Wenn der Gerichtshof auch im Bereich der Kunstfreiheit den nationalen Gerichten bei der Abwägung Beurteilungsspielräume gerade in Bereichen zugesteht, in denen keine einheitlichen europäischen Wertungen bestehen, so unterliegen sie doch den allgemeinen Grenzen durch die Konvention59 und müssen insbesondere deren Grundwertungen beachten.60 Diese Beurteilungsspielräume können nicht selten zur Zulässigkeit von Eingriffen in die Kunstfreiheit führen, die eine einheitliche Güterabwägung allein anhand der Konventionssystematik möglicherweise nicht getragen hätte und kann daher de facto das Schutzniveau der Kunstfreiheit in einzelnen Staaten verglichen mit liberaleren Ansätzen in anderen reduzieren.61 Dies muss aber nicht notwendigerweise zu einer Absenkung des Schutzniveaus der Kunstfreiheit insgesamt führen,62 deren abstrakt hohes Gewicht unberührt bleibt, auch wenn europaweit differenzierende Lösungen die Folge sind. Richtigerweise sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zunächst die gemeinsamen Grundwertungen der Konvention und die herauf beruhenden Abwägungsparameter herauszuarbeiten und erst auf deren Grundlage partikulare Gewichtungen, die ihrerseits nicht mit den Konventionswertungen im Konflikt stehen dürfen, in den Abwägungsprozess einzubringen. So ist bei Sanktionen insbesondere deren Schwere gegenüber dem in Rede stehenden Verstoß zu berücksichtigen.63 Im Falle
57 Vgl EGMR, Urt v 25.1.2007, 68354/01 – Vereinigung Bildender Künstler/Österreich. S allerdings auch Urt v 27.2.2018, 39496/11 – Sinkova/Ukraine. 58 Oben Rn 8. 59 Vgl EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87 – Otto-Preminger-Institut/Österreich; Urt v 29.3.2005, 40287/ 98 – Alinak/Türkei. 60 Vgl EGMR, Urt v 16.2.2010, 41056/04, § 30 – Akdaş/Türkei, unter Bezugnahme auf das „europäische Literaturerbe“; dazu Ruet, RTDH 2010, 917. 61 Vgl krit daher Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 613. S etwa EGMR, Urt v 27.2.2018, 39496/11 – Sinkova/Ukraine. 62 In diesem Sinne aber Britz, EuR 2004, 1 (7); v Arnauld, in: BK GG, Art 5 Abs 3 (Kunstfreiheit), Rn 11. 63 EGMR, Urt v 2.10.2008, 36109/03 – Leroy/Frankreich. Weitere Bsp bei Schabas EMRK, S 475 f.
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der Abwägung mit Rechten Dritter sind die tatsächlichen Auswirkungen der künstlerischen Aussage auf jene objektiv zu bestimmen und zu gewichten.64 Lösung Fall 1: Die Publikation der Gedichtanthologie stellt eine Meinungsäußerung im Sinne des Art 10 I EMRK dar und fällt daher unter den Schutzbereich des Grundrechts. K hat sich hierbei einer (klassischen) künstlerischen Ausdruckform bedient. Die Verurteilung und die Einziehung des Werkes stellen Eingriffe in den Abwehrgehalt des Grundrechts dar. Diese sind nur dann konventionskonform, wenn sie „gesetzlich vorgesehen“ sind, also auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, die insbesondere rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt, sie einen nach Art 10 II EMRK zulässigen Eingriffszweck verfolgen und sie verhältnismäßig, insbesondere „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. In Bezug auf die gesetzliche Grundlage gibt der Sachverhalt keine näheren Angaben; es ist daher davon auszugehen, dass die Strafnorm und die Rechtsgrundlage für die Einziehung hinreichend bestimmt sind. Legitime Schutzzwecke der gesetzlichen Regelungen sind hier die nationale Sicherheit und die territoriale Unversehrtheit des Staates. Der EGMR gesteht insofern den Staaten Beurteilungsspielräume zu, die auch hier angesichts der konfliktreichen und von gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägten Situation in den betreffenden Regionen der Türkei als nicht überschritten angesehen wurden. Anders beurteilte der EGMR die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, vor allem der Haftstrafe. In Bezug auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung begründen insbesondere der restriktive Maßstab der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, der für die demokratische Auseinandersetzung unabdingbare Schutz auch kontroverser Meinungen sowie der Umstand, dass K hier eine künstlerische Ausdrucksform wählte, nach Ansicht des Gerichtshofs Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bestrafung. Er stellt hierbei auf die Kontrollfunktion der freien Meinungsäußerung gegenüber staatlichem Handeln ab. Zudem misst er dem Umstand Bedeutung bei, dass künstlerisch und bildreich gefasste Aussagen zum einen unterschiedlicher Interpretation zugänglich und nicht notwendigerweise als Aufruf zu Gewalt und Sezession zu verstehen sind; zum anderen begründet die Wahl der Ausdrucksform des Gedichts sowie die Veröffentlichung als Buch nach seiner Auffassung keine hinreichende Breitenwirkung.65 Die letztere Einschätzung ist im Lichte moderner Kommunikationsformen und Massenmedien sicherlich nicht unzutreffend, allerdings wohl auch nicht zwingend verallgemeinerbar. Tragend erscheinen eher die Notwendigkeit demokratischer Kontrolle kontroverser staatlicher Politiken im Meinungskampf66 und die weitergehenden Interpretationsspielräume bei künstlerischen Äußerungen, solange kein klarer Aufruf zu Gewalt erkennbar ist. Auch die Dauer der Haftstrafe sieht der EGMR als unverhältnismäßig an.67 Folgt man der Ansicht des Gerichtshofs hinsichtlich der Strafsanktion, ist auch die Einziehung ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Meinungsund Kunstfreiheit des Art 10 I EMRK.
64 Vgl beispielhaft EGMR, Urt v 25.1.2007, 68354/01 – Vereinigung Bildender Künstler/Österreich. 65 AA ist insofern das Sondervotum (joint partly dissenting opinion) der Richter Wildhaber, Pastor Ridruejo, Costa und Baka. 66 In diese Richtung das Sondervotum der Richterinnen und Richter (joint concurring opinion) Palm, Tulkens, Fischbach, Casadevall und Greve. 67 Der Gerichtshof hatte zudem in Hinblick auf die Zusammensetzung des Gerichts noch über eine Rüge des Art 6 I EMRK zu befinden, die hier im Sachverhalt ausgeklammert worden ist; s EGMR (GK), Urt v 8.7.1999, 23168/94, §§ 55 ff – Karataş/Türkei.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
IV. Wissenschaftsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 25.8.1998, 25181/94 – Hertel/Schweiz; EGMR (GK), Urt v 28.10.1999, 28396/95 – Wille/Liechtenstein; EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05 – Lombardi Vallauri/Italien; Urt v 7.6.2011, 48135/08 – Gollnisch/Frankreich. Schrifttum: Germelmann Das europäische Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit, in: Funk/Gärditz/ Pallme König (Hrsg), Auf dem Weg zu einem europäischen Wissenschaftsrecht?, WissR-Beih. 24 (2016), 19 ff; Kuri/Marguénaud Le droit à la liberté d’expression des universitaires, Rec Dalloz 2010, 2921 ff.
Fall 2: (vereinfacht nach EGMR, Urt v 3.3.2009, 36458/02 – İrfan Temel u. a./Türkei) T ist als Student an einer türkischen staatlichen Universität eingeschrieben. In einer Petition, gerichtet an den Rektor der Universität, verlangt er die Einführung von Kursen in kurdischer Sprache als optionale Studienmodule. Er beruft sich darin auf das in der Verfassung verankerte Recht auf Bildung und fordert eine stärkere politische Öffnung für die Entwicklung von Sprachen und Kulturen der unterschiedlichen Volksgruppen des Landes. Er wird daraufhin auf der Basis der Disziplinarregeln für Hochschulen für zwei Semester von den Universitätsveranstaltungen ausgeschlossen, da er gegen das Verbot der Polarisierung aufgrund von Sprache, Rasse oder Religion verstoßen habe.
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1. Schutzbereich 22 Die Wissenschaftsfreiheit wird vom EGMR ebenfalls aus Art 10 I EMRK hergelei-
tet.68 Der EGMR erkennt das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit dabei als im Vergleich zur allgemeinen Meinungsfreiheit eigenständige schutzwürdige Garantie an,69 wenngleich die vorhandene Rechtsprechung zu diesem Grundrecht verhältnismäßig spärlich ist. Die Wissenschaftsfreiheit nach Art 10 I EMRK erfasst sowohl die Forschung als auch die Lehre,70 dh insbesondere die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen sowie allgemein die Äußerung wissenschaftlich begründeter
68 Aus der Rechtsprechung EGMR, Urt v 23.6.2009, 17089/03 – Sorguç/Türkei; Urt v 8.6.2010, 44102/ 04, § 34 – Sapan/Türkei; Urt v 25.8.1998, 25181/94 – Hertel/Schweiz. Aus der Lit Sudre, EMRK, Rn 539; Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 14. Diese Verbindung findet sich auch im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten; s dazu Barendt Academic Freedom and the Law, 2010, S 11 f, 173 ff. 69 Vgl etwa EGMR, Urt v 8.6.2010, 44102/04, § 34 – Sapan/Türkei. Ferner EGMR, Urt v 23.6.2009, 17089/03, § 35 – Sorguç/Türkei. 70 Zur Lehrfreiheit vgl EGMR (GK), Urt v 28.10.1999, 28396/95, §§ 36 ff – Wille/Liechtenstein; Grabenwarter/Pabel EMRK § 23, Rn 14.
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§ 7.1 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: EMRK
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Meinungen.71 Wie im Falle der Kunstfreiheit setzt der Schutz im Konventionsrecht bei der Äußerung an, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse, sonstige wissenschaftsbezogene Inhalte oder Lehrinhalte beziehen kann. Allerdings ist der Schutz der Wissenschaftsfreiheit ebensowenig wie bei der Kunstfreiheit auf den äußerungsbezogenen Teil des Grundrechts beschränkt. Während er im Falle der Lehre naturgemäß im Vordergrund steht, müssen im Falle der Forschung auch die der Veröffentlichung zugrundeliegenden Erkenntnisse und ihre Gewinnung geschützt sein.72 Anderenfalls wäre der Schutz unvollständig und könnte unterlaufen werden; auch im Falle der Meinungsfreiheit ist die Bildung der Meinung unabdingbare Voraussetzung des Schutzes ihrer Äußerung.73 Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit umfasst in sachlicher Hinsicht 23 jede wissenschaftliche Betätigung und jegliche Art der Verbreitung und des Austauschs. Sie garantiert ein freies wissenschaftliches Agieren, die Äußerung und den Austausch von Informationen sowie die freie methodische Suche nach wahren Erkenntnissen und deren Verbreitung.74 Ebenso wie in den übrigen Gewährleistungsgehalten des Art 10 I EMRK ist der Schutzbereich weit zu verstehen. Die Abgrenzung der Wissenschaftsfreiheit von der allgemeinen Meinungsfreiheit des Art 10 I EMRK erfolgt nach dem Inhalt der Äußerung.75 Dies wird insbesondere im Bereich der Lehre relevant. Entscheidend für die Einschlägigkeit der Wissenschaftsfreiheit sind neben dem Inhalt auch die angewandten Methoden hinsichtlich des Gegenstandes, auf den sich die Äußerung bezieht. Nach wissenschaftlichen Methoden entwickelte Erkenntnisse unterfallen also der Wissenschaftsfreiheit; Gleiches gilt für Äußerungen, die sich auf diese Erkenntnisse oder auf die Methodik und den Umgang mit ihr beziehen. Zur wissenschaftlichen Äußerungsfreiheit gehört es dabei insbesondere, kontroverse Thesen zu entwickeln und zu vertreten76 und sich gegebenenfalls auch
71 EGMR, Urt v 23.6.2009, 17089/03 – Sorguç/Türkei; Urt v 13.2.2001, 38318/97 – Lunde/Norwegen; s auch EGMR, Urt v 22.11.2001, 39793/98 – Petersen/Deutschland; EGMR (GK), Urt v 15.3.2012, 4149/04, §§ 62 ff – Aksu/Türkei. S auch Grabenwarter/Pabel EMRK § 23, Rn 14. 72 In diesem Sinne auch Cornils in BeckOK Informations- und Medienrecht, EMRK Art 10 Rn 32 f; Grabenwarter/Pabel EMRK § 23 Rn 14 dagegen Mensching in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 10 Rn 24. 73 Zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit näher → Marauhn/Jaś-Nowopolska, § 5.1 Rn 4; ferner Sudre, EMRK, Rn 537 ff. 74 Vgl EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05, § 43 – Lombardi Vallauri/Italien: „la liberté académique, qui doit garantir la liberté d’expression et d’action, la liberté de communiquer des informations, ainsi que celle de « rechercher et de diffuser sans restriction le savoir et la vérité »“. 75 Vgl für den Fall einer primär politischen Äußerung eines Universitätsangehörigen EGMR, Urt v 7.6.2011, 48135/08 – Gollnisch/Frankreich. 76 Vgl EGMR, Urt v 25.8.1998, 25181/94, § 50 – Hertel/Schweiz. Auch Laffaille, AJDA 2010, 215 (217); Kuri/Marguénaud, Rec Dalloz 2010, 2921 (2924). Bei der Bewertung wissenschaftlicher Debatten hält
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kritisch mit der Hochschule und ihrer Politik selbst auseinanderzusetzen.77 Ebenso ist wie im Bereich der Meinungs- und Kunstfreiheit auch für die Wissenschaftsfreiheit die Grundvoraussetzung der Pluralität im wissenschaftlichen Diskurs unabdingbar.78 Die Weite des Schutzbereichs bedeutet dabei natürlich ebensowenig wie bei anderen Grundrechten, dass Einschränkungen nicht durch die verhältnismäßige Wahrnehmung konfligierender Interessen möglich wären. 24 Vom personellen Schutzbereich des Art 10 I EMRK sind nicht nur natürliche Personen erfasst, die sich wissenschaftlich betätigen oder als Mittler wissenschaftlicher Erkenntnisse auftreten. Der Schutz erfasst auch Institutionen, deren Aufgabe die Pflege und Ermöglichung der Wissenschaft ist, wie insbesondere die Hochschulen. Diese können über das Grundrecht des Wissenschaftsfreiheit einen Anspruch auf Autonomie begründen, der sich insbesondere auf die Auswahl ihres Personals bezieht.79 Konflikte zwischen der Hochschule und dem Individualgrundrecht der Wissenschaftler sind im Wege der Abwägung anhand der Schrankenkriterien des Art 10 II EMRK zu lösen.80 Es ist dabei auch nach dem Konventionsrecht unerheblich, dass die Hochschule eine Rechtsform des öffentlichen Rechts besitzt, da sie unabhängig von dieser zur Erfüllung ihrer freiheitsermöglichenden und -sichernden Aufgabe eines grundrechtlichen Schutzes gegenüber dem Staat bedarf.81
sich der EGMR sachlich oft zurück; s etwa besonders prominent EGMR (GK), Urt v 15.10.2015, 27510/ 08, §§ 116 ff – Perinçek/Schweiz (zum Streit um die Einordnung der Verbrechen des osmanischen Reiches gegenüber den Armeniern als Völkermord). 77 Vgl EGMR, Urt v 23.6.2009, 17089/03 – Sorguç/Türkei; dazu Flauss, AJDA 2009, 1936 (1944); ferner Renucci EMRK, S 194. Vgl auch EGMR, Urt v 3.3.2009, 36458/02, § 44 – İrfan Temel ua/Türkei für die Verhängung unverhältnismäßiger Sanktionen für die Forderung nach der Einführung kurdischsprachiger Kurse an der Universität. 78 EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05 – Lombardi Vallauri/Italien. 79 EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05, § 41 – Lombardi Vallauri/Italien; Laffaille, AJDA 2010, 215 (218); Renucci EMRK, S 193. Im Fall Lombardi Vallauri/Italien kam die weltanschauliche Ausrichtung der katholischen Universität hinzu, die einen besonderen Tendenzschutz rechtfertigte. 80 S insb EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05, §§ 45 ff – Lombardi Vallauri/Italien; krit zum Ergebnis mit jeweils entgegengesetzten Gewichtungen der Freiheit des Wissenschaftlers und der Universität Flauss, AJDA 2010, 997 (1005 f); Laffaille, AJDA 2010, 215 (216 f). Der Gerichtshof stellte in seiner Entscheidung insbesondere auf die unzureichenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Verweigerung der Weiterbeschäftigung des Beschwerdeführers ab, so dass er sich einer abschließenden inhaltlichen Abwägung der betroffenen Rechtspositionen weitgehend enthielt (vgl va § 55); krit dazu Tavernier, JDI 2010, 1025 (1028); zust Kuri/Marguénaud, Rec Dalloz 2010, 2921 (2923 f). 81 Dies klingt in der Entscheidung EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05, § 41 – Lombardi Vallauri/Italien auf der Schrankenebene an. Eine genaue dogmatische Begründung liefert der EGMR nicht; in der Sache dient die Freiheit der Universität als Ganzer der Wissenschaftsfreiheit jedes einzelnen Wissenschaftlers, da sie die nötigen Rahmenbedingungen für eine Ausübung dieser Freiheit setzt.
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§ 7.1 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: EMRK
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2. Grundrechtsfunktionen Die Wissenschaftsfreiheit enthält unterschiedliche Schutzfunktionen. Sie ist in ers- 25 ter Linie ein Abwehrrecht. Das wird bereits aus ihrer Verankerung in Art 10 I EMRK und dem systematischen Vergleich mit der ebenfalls dort geschützten Meinungsfreiheit deutlich. Die Abwehrfunktion erfasst dabei jede Art der Beeinträchtigung. Darüber hinaus spricht der Zweck der Wissenschaftsfreiheit dafür, dem Staat positive Pflichten aufzuerlegen. Dem Staat kommt eine Garantenpflicht zu, den freien Austausch der wissenschaftlichen Meinungen und Erkenntnisinhalte zu ermöglichen und zu fördern.82 Bei der Erfüllung der Schutzpflicht steht dem Staat eine Einschätzungsprärogative zu, die durch die Wertungen der Schrankenbestimmung des Art 10 II EMRK sowie durch das wissenschaftsimmanente Erfordernis der Pluralität geleitet wird. Ergänzend ist in diesem Kontext die in der Rspr (freilich ohne dezidierte Inbezugnahme der Wissenschaftsfreiheit) auf das Eigentumsgrundrecht des Art 1 I 1. ZP EMRK gestützte positive Pflicht der Staaten, das geistige Eigentum an literarischen Werken hinreichend effektiv zu schützen,83 zu berücksichtigen. Eine Drittwirkung der Wissenschaftsfreiheit im Verhältnis zu Privaten ist in 26 der Rechtsprechung bislang nicht angenommen worden. Dies betrifft zum einen die Fälle privater Einflussnahmen auf Wissenschaftler, sei es etwa durch Individuen, Gruppen oder Unternehmen, wie auch zum anderen den Schutz der Wissenschaftsfreiheit gerade in Fällen privater Hochschuleinrichtungen. In allen diesen Fällen ist es erforderlich, dass die betroffenen Wissenschaftler die Möglichkeit haben, ihr Grundrecht effektiv wahrzunehmen und auch gegenüber Dritten bzw. der privaten Hochschule, an der sie angestellt sind, durchzusetzen. Entsprechendes hat der Gerichtshof für kirchliche Hochschulen anerkannt, die in öffentlich-rechtlicher Form organisiert waren;84 die Interessenlage ist bei privaten Hochschulen jedoch gleich. In derartigen Konfliktkonstellationen zwischen Hochschule und Wissenschaftler ist allerdings eine unmittelbare Drittwirkung unter Privaten nicht unabdingbar; ein konventionsgemäßes Ergebnis kann auch durch effektive staatliche Schutzpflichten gewährleistet werden.85 Eine Übertragung der diesbezüglichen Rechtsprechung zu
82 Vgl für die Meinungsfreiheit in diesem Sinne Sudre EMRK, Rn 538, 540 f. 83 Vgl EGMR, Urt v 19.1.2023, 74663/17 – Korotyuk/Ukraine (hier bezüglich eines Kommentars zum ukrainischen Notarrecht). 84 In diesem Sinne auch die Kernaussage der Entscheidung EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05, §§ 46 ff – Lombardi Vallauri/Italien. Hier ging es freilich um eine katholische Universität in öffentlich-rechtlicher Rechtsform. 85 Sudre EMRK, Rn 541.
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anderen Grundrechten wie insbesondere Art 8 EMRK86 ist bislang jedoch nicht sicher in der Rechtsprechung verankert. Insbesondere findet sich keine klare Definition der Reichweite einer solchen positiven Pflicht, die über die Schaffung eines angemessenen nationalen Rechtsrahmens und effektiver gerichtlicher Kontrollmöglichkeiten hinausgehen sollte.87 27 In institutioneller Hinsicht bleiben die Wirkungen der EMRK begrenzt. Die Autonomie der Hochschulen geht nicht mit konkreten organisationsrechtlichen Vorgaben einher. Sie ist in der Rechtsprechung des EGMR nicht eindeutig konturiert und beruht auch auf keinem gemeineuropäischen institutionellen Standard.88 Die Wissenschaftsfreiheit nach der EMRK bleibt in ihrem Kern eine abwehrrechtliche Garantie. Anhaltspunkte in institutioneller Hinsicht finden sich nur in der rechtlich unverbindlichen, aber vom EGMR in der Sache herangezogenen Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu diesem Thema,89 die neben der Freiheit der Forschung und der Lehre auch eine allgemeine institutionelle Unabhängigkeit der Hochschulen erwähnt. Eine Übertragung der ausdifferenzierten Rechtsprechung des BVerfG zum organisationsrechtlichen Gehalt des Art 5 III GG, welcher die Freiheit der Forschung absichern soll und dabei dem Staat konkrete rechtliche und tatsächliche Gestaltungspflichten hinsichtlich der Hochschule auferlegt, verbietet sich indes.90 28 In Bezug auf Leistungs- und Teilhaberechte, wie sie nach der deutschen Dogmatik zu Art 5 III GG in Grenzen anerkannt sind, findet sich in der Rechtsprechung des EGMR bislang keine eindeutige Aussage. Dies ist naheliegend, weil der Gerichtshof zu diesen das nationale Recht und die mitgliedstaatliche Hochschulorganisation spezifisch betreffenden Fragestellungen typischerweise weniger Gelegenheit zur Entscheidung haben wird als etwa das Bundesverfassungsgericht. Gleichwohl spricht auch wenig dafür, vergleichbar weitgehende Gewährleistungen
86 Vgl für entsprechende staatliche Schutzpflichten im Bereich des (insbesondere kirchlichen) Arbeitsrechts EGMR, Urt v 23.9.2010, 1620/03, §§ 54 ff – Schüth/Deutschland; ferner die Nachw bei Sudre EMRK, Rn 541. 87 Vgl EKMR, Urt v 6.9.1989, 12242/86 – Rommelfanger/Deutschland. 88 Grote/Wenzel in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 32. 89 Recommendation 1762 (2006) „Academic freedom and university autonomy“ der Parlamentarischen Versammlung vom 30.6.2006, die sowohl individuelle Rechtspositionen der Wissenschaftler als auch institutionelle Garantien der Universitäten postuliert und den Versuch unternimmt, sie in Beziehung zur gesellschaftlichen Aufgabe der Hochschulen zu stellen. Inbezugnahmen finden sich etwa in EGMR, Urt v 23.6.2009, 17089/03, §§ 21, 35 – Sorguç/Türkei; Urt v 20.10.2009, 39128/05, § 24, Lombardi Vallauri/Italien. Zu weiteren (rechtlich unverbindlichen) Erklärungen im internationalen Bereich, wie etwa seitens der UNESCO s Birtwistle, Education and the Law 16 (2004), 203 f. 90 So zutr. auch Gärditz Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S 433.
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wie im deutschen Verfassungsrecht in das Konventionsrecht zu übernehmen. Die nationale Organisationshoheit bezüglich der Hochschulen und der Ausstattung von Forschern und Hochschullehrern wird sich typischerweise einer vereinheitlichenden Betrachtung entziehen. Damit kann die EMRK insofern auch keine direkten Vorgaben für die Mitgliedstaaten machen und Leistungs- und Teilhaberechte aus Art 10 I EMRK begründen. Allenfalls können Extremfälle, in denen ein gezielter Entzug staatlicher Mittel Forschungsergebnisse verhindern oder behindern soll, als Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit gesehen werden. Diese Konstellation lässt sich dogmatisch aber auch als Fall des Abwehrgrundrechts begreifen. Diskriminierungskonstellationen können über Art 10 I EMRK iVm Art 14 EMRK abgedeckt werden und folgen dann den allgemeinen Regeln der Gleichheitsgrundrechte nach der EMRK.91
3. Eingriffe Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit folgen den allgemeinen Regeln;92 sie sind in 29 unterschiedlicher Form möglich. Klar ist die Eingriffswirkung direkter Sanktionen.93 Hierzu zählen bei Wissenschaftlern in Beschäftigungsverhältnissen mit öffentlich-rechtlichen Institutionen auch negative Folgen für ihre Weiterbeschäftigung94 oder Disziplinarmaßnahmen.95 Auch indirekte Eingriffe, die von der Wahrnehmung der Wissenschaftsfreiheit mit hinreichender Intensität abschrecken, müssen erfasst sein. Dies gilt namentlich für Situationen, in denen Sanktionen angedroht oder angekündigt werden oder aber auch nur Nachteile in Aussicht gestellt werden.96 Entscheidend ist auch hier die Absicht oder Eignung zur Verengung des wissenschaftlichen Freiheitsraums.
91 Dazu → Classen, § 9.1. 92 S schon oben Rn 16 mwN. 93 EGMR (GK), Urt v 15.10.2015, 27510/08 – Perinçek/Schweiz. 94 EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05 – Lombardi Vallauri/Italien; ferner auch EGMR, Urt v 22.11.2001, 39793/98 – Petersen/Deutschland. 95 EGMR, Urt v 7.6.2011, 48135/08, Gollnisch/Frankreich. 96 Vgl insbesondere EGMR (GK), Urt v 28.10.1999, 28396/95 – Wille/Liechtenstein. In diesem Fall widersprach der Fürst von Liechtenstein privat und öffentlich der geäußerten Meinung des Beschwerdeführers und kündigte an, ihn nicht mehr in ein öffentliches Amt ernennen zu wollen (wobei aus der EMRK auf eine derartige Ernennung freilich kein Anspruch folgt). Claas Friedrich Germelmann
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4. Rechtfertigungsgründe 30 Die Rechtfertigungsebene des Art 10 II EMRK unterscheidet sich auch im Falle der
Wissenschaftsfreiheit nicht von den Grundsätzen, die im Bereich der allgemeinen Meinungsfreiheit gelten. Die Rechtsprechung des EGMR zieht hier die entsprechenden Leitentscheidungen in entsprechender Weise heran.97 Dies liegt im Interesse einer möglichst weitreichenden Freiheitsausübung, da der Schrankenvorbehalt des Art 10 II EMRK für die Meinungsfreiheit besonders strenger Kontrolle unterliegt.98 Zwar liegt dies nach der Rechtsprechung insbesondere in ihrer Bedeutung für die demokratische Willensbildung begründet und privilegiert vornehmlich derartige politische Inhalte.99 Allerdings stellt gerade auch die wissenschaftliche Untersuchung und Betrachtung von Sachverhalten für eine informierte politische Diskussion eine unabdingbare Basis dar; auch sie bedarf daher besonderen Schutzes. Die besonders schutzintensive Konstruktion bloßer verfassungsimmanenter Schranken, wie sie das deutsche Grundgesetz in Art 5 III GG kennt, gibt es im Konventionsrecht indes aus systematischen Gründen nicht. 31 Die sachlichen Besonderheiten der wissenschaftlichen Tätigkeiten werden in diesem Rahmen in der Prüfung ebenso berücksichtigt100 wie die besondere Stellung von Wissenschaftlern in einem Arbeits- oder Dienstverhältnis zu einer öffentlichen Einrichtung. Zwar stellt die Aufnahme in den öffentlichen Dienst eines Mitgliedstaates keine Rechtsposition nach der EMRK dar, sondern unterliegt der mitgliedstaatlichen Organisationshoheit.101 Innerhalb des öffentlichen Dienstes genießen die Beschäftigten indes die Berechtigungen aus der EMRK wie die Wissenschaftsfreiheit in vollem Umfange; allenfalls sind sachlich begründete Loyalitätspflichten, die für das Funktionieren des öffentlichen Dienstes erforderlich sind, anzuerkennen.102 Hier führt auch die Verletzung von Verfahrensgarantien bei Eingriffen in das Beschäftigungsverhältnis zu einer Unverhältnismäßigkeit der Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit nach Art 10 I EMRK, die im gegebenen Fall parallel zu einer Verletzung des Grundrechts aus Art 6 I EMRK gerügt werden 97 Vgl beispielsweise EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05 – Lombardi Vallauri/Italien. 98 Vgl allgemein insb EGMR, Urt v 7.12.1976, 5493/72, §§ 49 ff – Handyside/Vereinigtes Königreich; EGMR (GK), Urt v 28.10.1999, 28396/95, §§ 57 ff – Wille/Liechtenstein; ferner Renucci EMRK, S 193. Beispielhaft für die Wissenschaftsfreiheit EGMR, Urt v 25.8.1998, 25181/94, §§ 35 ff – Hertel/Schweiz; EGMR (GK), Urt v 28.10.1999, 28396/95, §§ 61 ff – Wille/Liechtenstein; EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05, § 45 – Lombardi Vallauri/Italien; ferner auch EGMR, Urt v 7.6.2011, 48135/08 – Gollnisch/Frankreich. 99 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 28. Näher → Marauhn/Jaś-Nowopolska, § 5.1 Rn 8. 100 Vgl EGMR (GK), Urt v 15.3.2012, 4149/04, §§ 71 f – Aksu/Türkei. 101 EGMR, Urt v 28.8.1986, 9228/80 – Glasenapp/Deutschland; Urt v 28.8.1986, 9704/82 – Kosiek/ Deutschland. 102 Vgl EGMR, Urt v 26.9.1995, 17851/91, §§ 59 ff – Vogt/Deutschland.
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kann.103 Auch Begründungserfordernisse sind Bestandteil der Verhältnismäßigkeitskontrolle.104 Im Übrigen gesteht der Gerichtshof den mitgliedstaatlichen Stellen aber auch hier Beurteilungs- und Ermessensspielräume zu,105 die sich allerdings verengen, wenn eine generelle Fehlgewichtung der in der Abwägung betroffenen Rechtspositionen erkennbar ist.106 Auch hier bietet sich die bereits bei der Kunstfreiheit vertretene Abstufung der Prüfung107 zunächst der gemeinsamen Konventionswertungen und erst im Anschluss der auf deren Basis verbleibenden mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielräume an. Konfligierende Rechte und Interessen können wie im Fall der allgemeinen Mei- 32 nungsfreiheit sowie auch der Kunstfreiheit in unterschiedlicher Weise Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen. Auch für die Wissenschaftsfreiheit finden sich die legitimen Gründe für eine Eingriffsrechtfertigung im Katalog des Art 10 II EMRK. Sie bestehen in der Praxis insbesondere in Grundrechten Dritter, die im Konfliktfall eine Abwägung erforderlich machen, da eine Hierarchie der Konventionsgrundrechte im Grundsatz nicht anerkannt wird.108 Zu den abwägungsrelevanten Grundrechten Dritter gehören etwa Persönlichkeitsrechte109, religiöse Bekenntnisanforderungen bei Beschäftigungen in kirchlichen Einrichtungen110, aber auch wirtschaftliche Interessen111 sowie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.112 Von besonderer Bedeutung im Falle wissenschaftlicher Meinungsäußerungen ist dabei die ordnungsgemäße Recherche und Absicherung von Stellungnahmen,
103 EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05 – Lombardi Vallauri/Italien. 104 EGMR, Urt v 8.6.2010, 44102/04 – Sapan/Türkei. 105 EGMR, Urt v 25.8.1998, 25181/94 – Hertel/Schweiz; Urt v 22.11.2001, 39793/98 – Petersen/Deutschland. 106 EGMR (GK), Urt v 15.3.2012, 4149/04, § 67 – Aksu/Türkei; Urt v 15.10.2015, 27510/08, § 199 – Perinçek/Schweiz. 107 Oben Rn 18. 108 Vgl zB EGMR (GK), Urt v 15.3.2012, 4149/04 – Aksu/Türkei. Hier hatte der EGMR die staatliche Finanzierung eines wissenschaftlichen Werkes zu bewerten, dem der Beschwerdeführer diskriminierende Inhalte zulasten der Gruppe der Roma vorwarf und daher eine Verletzung des Art 8 EMRK rügte. Der Gerichtshof gestand den nationalen Gerichten in ihren Bewertungen Entscheidungsspielräume zu, sofern effektive Rechtsschutzmöglichkeiten gewährleistet waren. Dagegen plädierte das Sondervotum des Richters Gyulumyan für eine striktere inhaltliche Kontrolle. S auch EGMR, Urt v 23.6.2009, 17089/03 – Sorguç/Türkei für die Äußerung von Werturteilen über die wissenschaftliche Kompetenz anderer Personen. 109 EGMR, Urt v 8.6.2010, 44102/04 – Sapan/Türkei. Hierzu gehört auch die Würde von Opfern von Verbrechen; s EGMR (GK), Urt v 15.10.2015, 27510/08, §§ 155 ff – Perinçek/Schweiz. 110 EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05 – Lombardi Vallauri/Italien. 111 Vgl EGMR, Urt v 25.8.1998, 25181/94 – Hertel/Schweiz. 112 Vgl EGMR, Urt v 7.6.2011, 48135/08 – Gollnisch/Frankreich. Restriktive Interpretation in EGMR (GK), Urt v 15.10.2015, 27510/08, §§ 146 ff – Perinçek/Schweiz.
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die der Gerichtshof den besonderen „Pflichten und Verantwortlichkeiten“ der Wissenschaftler iSd Art 10 II EMRK zuordnet.113 Anders als im Fall der Kunstfreiheit114 kann das Verantwortungsmerkmal hier also mit einem (begrenzten) Inhalt gefüllt werden. Allerdings übt er eine inhaltliche Zurückhaltung bei der eigenen Bewertung wissenschaftlicher Debatten, was insbesondere im Bereich politisch sensibler historischer Bewertungen relevant wird; hier liegt – mit der Ausnahme der Sonderfälle von Aufstachelung zu Hass oder Intoleranz – der Schwerpunkt der Abwägung auf den Wirkungen der inkriminierten Äußerungen für die entgegenstehenden, durch die staatlichen Maßnahmen geschützten Rechtsgüter.115
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Lösung Fall 2 (Teil 1): Die Sanktion könnte sich als Verletzung der Meinungsfreiheit in Form der Wissenschaftsfreiheit nach Art 10 I EMRK und des Rechts auf Bildung des T nach Art 2 S 1 1. ZP darstellen. Das Verhältnis der beiden Gewährleistungen ist in der Konvention bzw im Zusatzprotokoll selbst nicht geregelt. In der Rechtsprechung des EGMR hat sich jedoch die Sichtweise herausgebildet, dass die jeweiligen Gewährleistungen in enger Verbindung zueinander stehen und somit letztlich als einheitlicher Schutz zu betrachten sind; daher müssen sie jeweils im Lichte voneinander gelesen werden. Hierbei sieht der Gerichtshof bei allen Fragen, die den Zugang zu Bildungsangeboten angehen, das Recht auf Bildung auch dann als vorrangig an, wenn gleichzeitig ein Eingriff in das Grundrecht auf Art 10 I EMRK gegeben ist. Art 2 S 1 1. ZP erfasst auch den Bereich der Hochschulbildung und ist damit als Spezialnorm auch gegenüber der Wissenschaftsfreiheit anzusehen. Deren Wertungen sind allerdings bei der Anwendung der anderen Grundrechtsgarantien zu berücksichtigen, was insbesondere im Bereich der Rechtfertigungsprüfung relevant werden kann.
V. Recht auf Bildung Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71, 5920/72 u 5926/72 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/Dänemark; EGMR (GK), Urt v 10.11.2005, 44774/98 – Leyla Şahin/Türkei; EGMR, Urt v 3.3.2009, 36458/02 – İrfan Temel ua/Türkei; Urt v 2.4.2013, 25851/09 ua – Tarantino ua/Italien; EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/06 – Lautsi ua/Italien; EGMR, Urt v 9.7.2013, 37222/04 – AltınayTürkei.
113 Vgl zu unwahren Tatsachenbehauptungen aufgrund unzureichender Recherche EGMR, Urt v 13.2.2001, 38318/97 – Lunde/Norwegen. Für den Fall von Relativierungen des nationalsozialistischen Unrechts EGMR, Urt v 7.6.2011, 48135/08 – Gollnisch/Frankreich. 114 Rn 18. 115 Vgl die eingehende Darstellung der Rechtsprechung in EGMR (GK), Urt v 15.10.2015, 27510/08, §§ 213 ff – Perinçek/Schweiz (strafrechtliche Sanktionierung der Leugnung des Genozids von 1915 an den Armeniern im Osmanischen Reich). Dezidiert kritisch zu dem zurückhaltenden Ansatz des Mehrheitsvotums das abweichende Sondervotum der Richter Spielmann, Casadevall, Berro, De Gaetano, Sicilianos, Silvis and Kūris.
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Schrifttum: Delbrück The Right to Education as an International Human Right, GYIL 35 (1992), 92 ff; Gonzalez Le droit à l’instruction au sens de la Convention européenne des droits de l’homme, RFDA 2010, 1003 ff; Schmahl Bildungsziele im Völkerrecht: Eine Analyse menschenrechtlicher Vorgaben, RdJB 2020, 293 ff.
1. Systematik Als ein eigenständiges Grundrecht ist im Konventionsrecht das Recht auf Bildung 34 nach Art 2 S 1 1. ZP EMRK verankert. Es ist ein echtes Grundrecht und kann im Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR gerügt werden. In Rspr und Lit wird ihm eine hohe Bedeutung für das Schutzsystem der EMRK zugesprochen.116 Seiner Struktur nach handelt es sich bei dem Recht auf Bildung in erster Linie um ein Teilhaberecht,117 welches insbesondere den Zugang zu Bildungseinrichtungen erfasst. Dies gilt unabhängig von dem Wortlaut, welcher eher die Situation einer Abwehr eines Eingriffs in das Recht nahelegt;118 dies hat allerdings vornehmlich historische und formulierungstechnische Gründe, da eine originäre Leistungspflicht der Staaten aus dem 1952 verabschiedeten, politisch damals durchaus kontroversen Protokoll119 vermieden werden sollte.120 Heute können indes in einer Teilhabesituation auch finanzielle Förderpflichten durch öffentliche Stellen mit dem Recht auf Bildung einhergehen; hier räumt die Rechtsprechung den Staaten allerdings weite Ermessensspielräume ein; Gleiches gilt für die Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen im Detail121 sowie auch die Struktur und die Bildungsinhalte.122 Das Recht auf Bildung steht innerhalb des 1. ZP in engem systematischem Zu- 35 sammenhang mit dem elterlichen Erziehungsrecht, das in Art 2 S 2 1. ZP EMRK verankert ist. Inhaltlich besteht hier insofern eine Verknüpfung, als es sich in beiden Fällen um die grundrechtliche Erwähnung der Vermittlung von Bildungsinhalten geht. Zu den übrigen Rechten, die das 1. ZP enthält (Art 1 – Eigentum, Art 3 –
116 Vgl EGMR, Urt v 7.12.1976, – 5095/71, 5920/72 u 5926/72, § 56 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/Dänemark; Gonzalez, RFDA 2010, 1003 (1004). 117 Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 11. 118 Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 898 f. 119 Zur Entstehungsgeschichte Bannwart-Maurer Das Recht auf Bildung und das Elternrecht. Art 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1975, S 1 ff. 120 Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 1, 5. Vgl auch Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 909 mit der Forderung einer Weiterentwicklung des Gewährleistungsgehalts. 121 Jacobs/White/Ovey EMRK, S 599. Für die Ausgestaltung eines numerus clausus s EGMR, Urt v 2.4.2013, 25851/09 ua – Tarantino ua/Italien, §§ 47 ff. 122 EGMR, Urt v 7.12.1976, – 5095/71, 5920/72 u 5926/72, § 53 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/ Dänemark; Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 16.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
freie und geheime Wahlen), besteht eine entsprechende sachliche Verwandtschaft nicht. Das Recht auf Bildung und das elterliche Erziehungsrecht stehen jedoch in einem rechtlichen Spannungsfeld. Denn das elterliche Erziehungsrecht, welches sachlich dem Recht auf Familien- und Privatleben nach Art 8 EMRK sowie der Religionsfreiheit nach Art 9 EMRK nahesteht, umfasst die rechtliche Garantie, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen an die Kinder weiterzugeben. Diese können mit den Inhalten, welche der Staat im Rahmen des öffentlichen Bildungswesens zur Verfügung stellt, durchaus kollidieren. Damit bedarf es für die Bestimmung des Umfangs des Rechts auf Bildung einer Abstimmung mit den Inhalten und Grenzen des elterlichen Erziehungsrechts.123 Zusammen stellen die beiden Garantien, die eine objektive und pluralistische Bildung garantieren sollen, aber auch eine Stütze des demokratischen Gemeinwesens dar.124
2. Sachlicher Schutzbereich 36 Der Schutzbereich des Grundrechts aus Art 2 S 1 1. ZP EMKR bezieht sich in sachli-
cher Hinsicht auf den gesamten Bereich der Bildung und alle öffentlich bereitgestellten Bildungsformen. Es erfasst dabei in Staaten mit verschiedenen Volksgruppen und unterschiedlichen Landessprachen auch das Recht, in der Schule in der Sprache der eigenen Volksgruppe unterrichtet zu werden.125 Das Recht auf Bildung erstreckt sich damit auf die Schulbildung in ihrer Gesamtheit einschließlich der höheren Schulbildung und zudem auf die Hochschulbildung.126 Es ist also nicht nur, sondern allenfalls auch als ein spezifisch auf die Bedürfnisse von Kindern abzielendes Recht. Was hierbei konkret inhaltlich unter dem Begriff der Bildung zu verstehen ist, definiert das Konventionsrecht nicht selbst; es überlässt dies den Bildungsverständnissen der Mitgliedstaaten und deren Bildungsangebot. Im Kern versteht sich Bildung dabei als Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten, wobei im frühkindlichen Bereich eine klare Abgrenzung zum Erziehungsbegriff127 im Recht der EMRK nicht durchgeführt wird. Der Persönlichkeitsbezug spricht hier für ein
123 S unten Rn 43. 124 Vgl EGMR, Urt v 20.10.2020, 47429/09, § 57 – Perovy/Russland. S auch Gonzalez, RFDA 2010, 1003 (1008 ff). 125 EGMR, Urt v 19.10.2012, 43370/04, 18454/06 u 8252/05, § 143 – Catan ua/Moldau und Russland (Russifizierung des Unterrichts im Landesteil Transnistrien). 126 Schabas EMRK, S 997 mwN; Gonzalez, RFDA 2010, 1003 (1006). 127 Dazu beispielhaft aus der deutschen Diskussion Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art 7 Rn 25 ff.; Wißmann, in: BK GG, Art 7 – III, Rn 63 ff.
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§ 7.1 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: EMRK
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weites Verständnis, das auch Erziehungselemente einbezieht.128 Da das Recht auf Bildung allgemein den Zugang zu Bildungseinrichtungen erfasst, erstreckt es sich nach seiner Zielrichtung im akademischen Bildungssektor auch auf den Zugang zu Universitäten sowie die Beschränkungen bei der Wahrnehmung des universitären Angebots.129 Hierdurch entstehen Abgrenzungsfragen zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit nach Art 10 I EMRK. Es erscheint zweckmäßig, eine Zuordnung nach der schutzwürdigen Tätigkeit vorzunehmen. Während forschende und lehrende Aktivitäten einschließlich ihrer staatlichen Rahmenbedingungen von der Wissenschaftsfreiheit erfasst sind, unterfallen Fragen der Rezeption und des Zugangs dem Schutzbereich des Art 2 S 1 1. ZP EMRK.130 Wenn hierdurch jedoch eigenständige wissenschaftliche Forschungstätigkeiten des Rezipienten des wissenschaftlichen Angebots behindert werden, kommt zusätzlich ein Eingriff in Art 10 I EMRK in Betracht. Die Abgrenzung ist insofern wichtig, als die Wissenschaftsfreiheit anders als das Recht auf Bildung dem strengen Schrankenvorbehalt des Art 10 II EMRK unterliegt.131 Das Grundrecht der Freiheit der Religion und Weltanschauung aus Art 9 EMRK ist gegenüber dem elterlichen Erziehungsrecht aus Art 2 S 2 1. ZP EMRK grundsätzlich nachrangig.132 Im Verhältnis zum Recht auf Bildung nach Art 2 S 1 1. ZP EMRK ist aber eine Parallelität möglich, wenn der Eingriff in das Recht auf Bildung zugleich auch einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellt.133
128 In diesem Sinne EGMR, Urt v 25.2.1982, 7511/76, 7743/76, § 33 – Campbell und Cosans/Vereinigtes Königreich; Schabas EMRK, S 996. So für den übrigen völkerrechtlichen Bereich auch Schmahl, RdJB 2020, 293 (299). 129 S etwa EGMR (GK), Urt v 10.11.2005, 44774/98, §§ 134 ff – Leyla Şahin/Türkei; EGMR, Urt v 3.3.2009, 36458/02 – İrfan Temel ua/Türkei; Urt v 2.4.2013, 25851/09 ua, §§ 34 ff – Tarantino ua/Italien; Urt v 9.7.2013, 37222/04 – Altınay; ferner Flauss, AJDA 2009, 1936 (1943); Novak, WissR 2002, 45 (63); Jacobs/White/Ovey EMRK, S 599. 130 Vgl anders etwa die abweichende Meinung des Richters Cabral Barreto in EGMR, Urt v 3.3.2009, 36458/02 – İrfan Temel ua/Türkei, der für eine Lösung über Art 10 EMRK plädierte. 131 Die strikte Kontrolle hebt der EGMR insbesondere auch in Fällen der Wissenschaftsfreiheit hervor; s etwa EGMR, Urt v 20.10.2009, 39128/05, § 45 – Lombardi Vallauri/Italien. 132 EGMR, Urt v 29.6.2007, 15472/02, § 54 – Folgerø ua/Norwegen; EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/ 06, § 59 – Lautsi ua/Italien. 133 EGMR (GK), Urt v 10.11.2005, 44774/98 – Leyla Şahin/Türkei (Regeln über die Zulässigkeit des Tragens eines islamischen Kopftuchs auf dem Universitätsgelände).
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3. Personeller Schutzbereich 37 In personeller Hinsicht berechtigt Art 2 S 1 1. ZP EMRK nur natürliche Personen.
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Dies ergibt sich aus der sachlichen Reichweite des Schutzbereichs. Mit Bildung im Sinne der Norm ist die persönliche Bildung des Einzelnen gemeint, die wegen ihrer Bedeutung für die menschliche Persönlichkeitsentwicklung sachlich einen hohen Stellenwert hat. Dabei steht das Recht auf Bildung jedem Einzelnen und im Bereich der Schulbildung insbesondere auch dem Kind selbst zu.135 Auch das hiervon zu unterscheidende Elternrecht aus Art 2 S 2 1. ZP EMRK kann nur durch die Eltern als natürliche Personen, nicht durch eine juristische Person oder Personenvereinigung geltend gemacht werden.136
4. Grundrechtsfunktionen 38 In funktionaler Hinsicht ist das Recht auf Bildung in erster Linie als Teilhaberecht
zu verstehen, wobei ihm auch abwehrrechtliche Elemente innewohnen, soweit es um Eingriffe des Staates in die Wahrnehmung von Bildungsangeboten durch den Einzelnen geht; hier sind die Grenzen der Grundrechtsfunktionen indes oft fließend.137 Da das Konventionsrecht das Recht auf Bildung als Spezialregelung des Bildungsbereichs versteht, können ihm auch abwehrrechtliche Situationen zugeordnet werden, die sich im Bildungsbereich ereignen, auch wenn sie nicht die Inanspruchnahme des Bildungsangebots im Kern in den Blick nehmen. Hierzu gehören etwa Disziplinarmaßnahmen in einer Bildungseinrichtung138 oder die Behinderung des Zugangs zu Bildung in der eigenen Muttersprache.139 Das elterliche Er-
134 Ebenso Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 9. 135 EGMR, Urt v 25.2.1982, 7511/76, 7743/76, § 40 – Campbell und Cosans/Vereinigtes Königreich; Urt v 13.12.2005, 55762/00 u 55974/00, §§ 63 ff – Timishev/Russland. 136 EKMR, Entsch v 7.4.1997, 34614/97 – Scientology Kirche Deutschland e.V./Deutschland. Ferner Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 22 f. Auch das Kind kann sich hierauf nicht berufen; s Schabas EMRK, S 1000 mwN. Für das Kind garantiert Art 2 S 1 1. ZP EMRK einen parallelen Schutz vor Indoktrination in der Bildung; s EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/06, § 78 – Lautsi ua/Italien. 137 Ähnlich Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 10 f. Vgl etwa EGMR, Urt v 13.12.2005, 55762/00 u 55974/00 – Timishev/Russland. 138 EGMR, Urt v 25.2.1982, 7511/76 u 7743/76 – Campbell und Cosans/Vereinigtes Königreich (Ausschluss vom Unterricht); EGMR, Urt v 25.3.1993, 13134/87 – Costello-Roberts/Vereinigtes Königreich (dieser Fall körperlicher Sanktionierung wurde allerdings im Kern über Art 3, 8 und 13 EMRK gelöst); EGMR, Urt v 12.12.2017, 50124/07, 53082/07, 53865/07, 399/08, 776/08, 1931/08, 2213/08 u 2953/08 – Çölgeçen ua/Türkei; Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 17. 139 EGMR, Urt v 19.10.2012, 43370/04, 18454/06 u 8252/05 – Catan ua/Moldau u Russland.
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§ 7.1 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: EMRK
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ziehungsrecht aus Art 2 S 2 1. ZP EMRK ist seiner Natur nach primär ein Abwehrrecht.140 Als Teilhaberecht geht das Recht auf Bildung aber über die Pflicht zur Unter- 39 lassung ungerechtfertigter punktueller Behinderungen der Inanspruchnahme von Bildungsangeboten hinaus. Das Recht auf Bildung garantiert nämlich allgemein die Möglichkeit eine Teilhabe an dem bestehenden staatlichen Bildungsangebot nach Maßgabe gleichheitsrechtlicher Gesichtspunkte. Dies bedeutet, dass nicht nur eine Teilnahme am Angebot an sich möglich ist, sondern diese Teilhabe auch gleichberechtigt erfolgen muss.141 Für einen Ausschluss vom Bildungsangebot oder für dessen Beschränkung müssen sachliche Gründe bestehen, die sich etwa bei höheren Bildungsangeboten aus Begabung, Befähigung und Leistung des Einzelnen ergeben können.142 Die Abgrenzung dieses gleichheitsrechtlichen Aspektes des Rechts auf Bildung von dem Inhalt des akzessorischen Gleichheitsrecht aus Art 14 EMRK ist dogmatisch in der Rechtsprechung nicht eindeutig durchgeführt; richtigerweise beinhaltet Art 2 S 1 1. ZP EMRK bereits den gleichheitsrechtlichen Gehalt, so dass ein Rückgriff auf eine Kombination mit Art 14 EMRK in aller Regel nicht erforderlich ist.143 Anders ist es, sofern die Diskriminierung direkt an eines der in Art 14 EMRK inkriminierten Kriterien anknüpft.144 Das Recht auf Bildung, welches den Staaten Ermessensspielräume bei der Bereit- 40 stellung von Angeboten einräumt, setzt also eine staatliche Ausgestaltung voraus, wobei auch die privaten Bildungseinrichtungen erfasst und in ihrer Rolle in einem pluralistischen staatlichen Bildungssystem geschützt sind.145 Es begründet aber, wie die Entstehungsgeschichte zeigt,146 im Grundsatz keine eigenständigen finanziellen Verpflichtungen der Staaten und keine positiven staatlichen (Leistungs-)Pflichten
140 Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 21. 141 EGMR (GK), Urt v 10.11.2005, 44774/98 – Leyla Şahin/Türkei, § 152. Zu Diskriminierungsfällen s näher Schabas EMRK, S 1004 ff mwN. 142 S schon EKMR, Entsch v 9.12.1980, 8844/80 – X/Vereinigtes Königreich. Vgl noch näher unten Rn 42. 143 Vgl EGMR, Urt v 29.6.2007 – 15472/02, § 105 – Folgerø ua/Norwegen; Urt v 19.10.2012, 43370/04, 18454/06 u 8252/05, § 160 – Catan ua/Moldau und Russland; Urt v 13.12.2005, 55762/00 u 55974/00, § 65 – Timishev/Russland. 144 Vgl etwa für die nationale Herkunft EGMR, Urt v 21.6.2011, 5335/05 – Ponomaryovi/Bulgarien; für ein ethnisches Kriterium EGMR, Urt v 16.3.2010, 15766/03 – Oršuš ua/Kroatien; Urt v 13.11.2007, 57325/ 00 – D.H. ua/Tschechien, §§ 124 ff. Weitergehend wohl EGMR, Urt v 23.2.2016, 51500/08 – Çam/Türkei (Ausschluss einer blinden Studienbewerberin); hier stellte der EGMR nur auf das Vorliegen einer Diskriminierung überhaupt ab. Vgl auch die Differenzierung in EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62 – Belgischer Sprachenfall. 145 Vgl Gonzalez, RFDA 2010, 1003 (1005). 146 Zu ihr Schabas EMRK, S 988 ff.
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etwa zur Schaffung bestimmter Bildungseinrichtungen, Bildungsangebote oder Zugangserleichterungen wie kostenlose Beförderungsangebote.147 Eine Basisinfrastruktur an Bildungsangeboten wird aber gemeinhin ebenso als von Art 2 S 1 1. ZP EMRK gewährleistet angenommen wie die Notwendigkeit staatlicher Regulierung,148 ohne dass die Reichweite der staatlichen Pflichten klar und konkret bestimmbar wäre. Auch in sachlicher Hinsicht ist der Staat durch das Recht auf Bildung nach Art 2 S 1 1. ZP EMRK nicht gehalten, bestimmte Bildungsinhalte vorzuhalten und anzubieten.149 Eine positive staatliche Schutzpflicht zugunsten der körperlichen Unversehrtheit von Schülern wird dem Recht auf Bildung hingegen auch gegenüber privaten Bildungseinrichtungen entnommen,150 was sachgerecht ist, da dieses Recht die Spezialnorm für bildungsbezogene Aktivitäten bildet und ein gleichberechtigter Zugang auch die persönliche Sicherheit vor Übergriffen im Schulkontext erfordert. Einen Sonderfall stellen strukturelle unterstützende Maßnahmen im Falle erkennbar benachteiligter Gruppen dar;151 diese Konstellation wird allerdings nur in besonders gravierenden Fällen anzunehmen sein und gewährt dem Staat in der Reaktion auf die Benachteiligung erneut weite Gestaltungsspielräume.
5. Eingriffe 41 Eingriffe in das Recht auf Bildung können durch die punktuelle Entziehung oder
Behinderung der Teilhabemöglichkeit oder durch eine gleichheitswidrige Ausgestaltung des Zugangs entstehen. Disziplinarmaßnahmen sind Eingriffe in die abwehrrechtliche Funktion.152 Auch eine Entziehung der Nutzungsmöglichkeiten
147 Vgl EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62 – Belgischer Sprachenfall; Entsch v 27.8.2013, 61145/09 – Huhle/Deutschland (Zulässigkeitsentscheidung). Für eine weitergehende Wirkung plädierend Gonzalez, RFDA 2010, 1003 (1005). 148 Vgl Langenfeld in Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 18 Rn 9; Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 10; Schabas EMRK, S 996. S auch EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62 – Belgischer Sprachenfall. 149 EKMR, Entsch v 15.7.1982, 9411/81 – X, Y und Z/Deutschland (moderner Mathematikunterricht); EGMR, Urt v 15.6.2010, 7710/02, § 104 – Grzelak/Polen (Ethikunterricht); Entsch v 30.11.2004, 46254/99, 31888/02 – Bulski/Polen (Zulässigkeitsentscheidung – Ethikunterricht). 150 EGMR, Urt v 25.3.1993, 13134/87, § 27 – Costello-Roberts/Vereinigtes Königreich. Vgl auch EGMR, Urt v 28.1.2014 – 35810/09, § 194 – O’Keeffe/Irland, wobei in diesem Fall die positive Verpflichtung des Staates direkt auf Art 3 EMRK zurückgeführt wurde. 151 EGMR, Urt v 16.3.2010, 15766/03, § 177 – Oršuš ua/Kroatien (hohe Schulabbruchsquote bei Kindern aus der Bevölkerungsgruppe der Roma). Der EGMR wendete in diesem Fall Art 2 S 1 1. ZP iVm Art 14 EMRK an. 152 Oben Rn 29, 38. Claas Friedrich Germelmann
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einer erfolgreich absolvierten Ausbildung kann einen Eingriff darstellen,153 wenngleich das Recht aus Art 2 S 1 1. ZP EMRK den Staat nicht dazu verpflichtet, bestimmte Anerkennungsregeln für ausländische Bildungsabschlüsse zu schaffen. Eine besondere Konstellation stellen Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht nach Art 2 S 2 1. ZP EMRK dar, die in der Ausgestaltung des staatlichen Bildungssystems liegen können.154 Hierher gehört auch die freilich ohne Weiteres legitime und damit rechtfertigungsfähige Schulpflicht an sich.155
6. Rechtfertigung Rechtfertigungsgründe für Eingriffe müssen sachlich legitim und verhältnismäßig 42 sein. Entscheidend ist die konkrete Situation des Beschwerdeführers.156 In Bezug auf die legitimen Gründe besteht kein numerus clausus;157 die Schrankenregelung der Art 8 bis 11 EMRK ist nicht anwendbar.158 In aller Regel werden Gründe, die sich auf objektiv oder subjektiv erforderliche Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Bildungsangebots beziehen, als Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen. Entscheidend ist dabei in der Diktion des EGMR, dass sie die Effektivität des Rechts auf Bildung nicht beeinträchtigen; das betrifft etwa bildungsmäßige Zugangsvoraussetzungen für einen höheren Bildungsweg,159 nachgewiesen etwa in der Form von Eingangsprüfungen.160 In der Sache erfordert dies eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der Zugangsvoraussetzungen. Kapazitätsgründe sind ebenfalls zulässige sachliche Erwägungen; die Erhebung sachlich gerechtfertigter und gleichheitsgerechter Gebühren ist mit Ausnahme der Schulausbildung der Primarstufe161 keine Verletzung des Rechts auf Bildung.162 Der EGMR betont die diesbezügliche Gestaltungsfreiheit der Staaten in Anbetracht der limitierten Ressourcen, zieht die Grenzen aber auf den Bildungsstufen, die für den Einzelnen elementare Bedeutung
153 Vgl EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62 – Belgischer Sprachenfall. 154 S noch unten Rn 43. 155 EGMR, Urt v 11.9.2006, 35504/03 – Konrad/Deutschland (Zulässigkeitsentscheidung). 156 EGMR, Urt v 21.6.2011, 5335/05 – Ponomaryovi/Bulgarien. 157 Bsp aus der Rspr etwa bei Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 899 ff. 158 EGMR (GK), Urt v 10.11.2005, 44774/98, § 154 – Şahin/Türkei. 159 Vgl EGMR, Urt v 9.7.2013, 37222/04, §§ 41 ff – Altınay/Türkei; Entsch v 5.3.2019, 29601/05, §§ 24 ff – Kılıç/Türkei. (Zulässigkeitsentscheidung). 160 EGMR, Urt v 2.4.2013, 25851/09, § 46 ff ua, Tarantino ua/Italien; Urt v 16.11.1999, 48041/99 – Lukach/Russland. 161 Vgl auch Art 28 I lit a der Kinderrechtskonvention. 162 Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 13 mwN aus der Rspr.
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haben, enger als etwa in der Hochschulbildung.163 Gestaltungsspielräume bestehen auch, wenn Bildungsangebote mangels hinreichender Nachfrage nicht vorgehalten werden.164 Auch andere sachliche Gründe wie die physische Möglichkeit einer Teilnahme an bestimmten Bildungsveranstaltungen sind denkbar, wobei eine staatliche Pflicht zur Schaffung von Erleichterungen wie Distanzlernen nicht ohne Weiteres besteht; sind die Möglichkeiten hingegen vorgesehen und vorhanden, muss die Möglichkeit zu ihrer Inanspruchnahme effektiv ausgestaltet sein.165 Allerdings bestehen gerade in Zusammenschau mit der UN-Behindertenrechtskonvention166 Verpflichtungen des Staates, für Schüler mit Behinderungen den Zugang durch zumutbare Hilfsvorrichtungen zu ermöglichen, um auch für diese die Effektivität des Rechts auf Bildung zu wahren.167 Eine umfassende und uneingeschränkte Verpflichtung zur Schaffung von inklusivem Schulunterricht anstelle von bedürfnisgerechten spezialisierten Angeboten folgt aus Art 2 S 1 1. ZP EMRK hingegen nicht; auch wenn der EGMR die Bedeutung inklusiven Schulunterrichts anerkennt, können gewichtige sachliche Gründe im Interesse des Schulerfolgs des betreffenden Kindes dagegen sprechen.168 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung findet sich zuweilen auch der Bezug auf den stets zu wahrenden Wesensgehalt und der Effektivität des Rechts auf Bildung;169 hierin muss aber kein zusätzliches Kriterium gesehen werden; die Eingriffstiefe in das Recht auf Bildung, seine zentralen Inhalte und seine Bedeutung können bereits im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erwogen werden.
163 EGMR, Urt v 21.6.2011, 5335/05, § 56 – Ponomaryovi/Bulgarien. 164 EGMR, Urt v 15.6.2010, 7710/02, § 104 – Grzelak/Polen. 165 Vgl EGMR, Urt v 24.9.2013, 29343/10, §§ 61 ff – Epistatu/Rumänien (erzwungener Schulabbruch durch Strafantritt); Urt v 10.11.2020, 37866/18, § 26 ff – Uzun/Türkei (Zulässigkeitsentscheidung – temporärer Ausschluss von einem Distanz-Lehrangebot); Urt v 18.6.2019, 47121/06, 13988/07 u 34750/07, §§ 60 ff – Arslan u Bingöl/Türkei (Verbot der Nutzung von Computer und Internet in der Haft). S im Übrigen die ausdifferenzierte Rechtsprechung zur Teilnahme an Bildungsangeboten aus der Untersuchungs- und Strafhaft: EGMR, Urt v 27.5.2014, 16032/07 – Velev/Bulgarien (Untersuchungshaft); Urt v 10.3.2019, 56443/11 – Flămînzeanu/Rumänien (Strafhaft); Urt v 18.1.2018, 30030/15, §§ 94 ff – Koureas ua/Griechenland. 166 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006, BGBl 2008 II 1420. 167 EGMR, Urt v 23.2.2016, 51500/08 – Çam/Türkei; Urt v 10.9.2020, 59751/15 – G.L./Italien, §§ 59 ff. 168 EGMR, Urt v 18.12.2018, 2282/17, §§ 29 ff – Dupin/Frankreich (Zulässigkeitsentscheidung); Urt v 10.9.2020, 59751/15, §§ 54 ff – G.L./Italien; Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 15 f mit näherer Nachzeichnung der Rspr. S auch EGMR, Urt v 23.2.2016, 51500/08, § 64 – Çam/Türkei; Urt v 13.11.2007, 57325/00, §§ 196 ff – D.H. ua/Tschechien. 169 So EGMR (GK), Urt v 10.11.2005, 44774/98, § 161 – Leyla Şahin/Türkei; EGMR, Urt v 2.4.2013, 25851/ 09 ua, § 45 – Tarantino ua/Italien.
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7. Die Beziehung zwischen dem Recht auf Bildung und dem elterlichen Erziehungsrecht Das Verhältnis des Rechts auf Bildung nach Art 2 S 1 1. ZP EMRK zum elterlichen 43 Erziehungsrecht nach Art 2 S 2 1. ZP EMRK170 ist in der Rechtsprechung als Beziehung innerhalb eines einheitlichen Rechts bezeichnet worden, welches unter Berücksichtigung beider Gewährleistungsinhalte sowie im Lichte der übrigen Konventionsrechte auszulegen sei, bei dem aber letztlich dem Recht auf Bildung grundsätzlich der Vorrang zukomme.171 Das elterliche Erziehungsrecht muss nach Art 2 S 2 1. ZP EMRK stets von einer belegbaren grundsätzlichen Überzeugung getragen sein, die über bloße abweichende Ansichten hinausgeht.172 Die Achtung dieser Rechtsposition erschöpft sich nicht in einer bloßen Kenntnisnahme und Berücksichtigung, sondern erfordert eine positive Auseinandersetzung mit ihr.173 Allerdings können die Eltern vom Staat ebensowenig bestimmte Inhalte der schulischen Bildung verlangen.174 Auch ist eine Mindestintensität des Eingriffs in des Elternrecht erforderlich.175 Sofern keine Kollision zwischen den Inhalten der geltend gemachten Rechte besteht, werden die beiden Garantien in der Rechtsprechung auch gemeinsam geprüft.176 Dies ist etwa der Fall, wenn wie bei der Frage des schulischen Unterrichts in der Sprache einer Volksgruppe das Recht auf Bildung des Kindes mit dem von einer Überzeugung im Sinne des Art 2 S 2 1. ZP EMRK getragenen Elternwunsch einhergeht. Das elterliche Erziehungsrecht beinhaltet das Recht, private Bildungseinrichtungen zu gründen und zu betreiben,177 wobei freilich keine staatliche Finanzierungspflicht besteht.178 Es beeinträchtigt auch nicht die Freiheit des
170 Zur Kontroverse im Rahmen der Entstehung Schabas EMRK, S 989 ff. 171 EGMR, Urt v 7.12.1976 – 5095/71, 5920/72 u 5926/72, § 52 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/ Dänemark; EGMR, Urt v 29.6.2007, 15472/02, § 84 – Folgerø ua/Norwegen. So auch Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, ZP I Art 2 Rn 2 mit dem Vorschlag, einen etwaigen Konflikt im Interesse des Kindeswohls aufzulösen. 172 Vgl Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 903 f mwN aus der Rspr. Zur Zulässigkeit von Prüfverfahren für diese Ernsthaftigkeit s EGMR, Urt v 31.10.2019, 4762/18, 6140/18 – Papageorgiou ua/Griechenland. 173 Vgl EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/06, § 61 – Lautsi ua/Italien; EGMR, Urt v 31.10.2019, 4762/18, 6140/18, § 76 – Papageorgiou ua/Griechenland. Näher auch Levinet, RTDH 2011, 481 ff. 174 Schabas EMRK, S 1001. 175 Vgl EGMR, Urt v 20.10.2020, 47429/09 – Perovy/Russland. 176 Vgl EGMR, Urt v 29.6.2007, 15472/02 – Folgerø ua/Norwegen. 177 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71, 5920/72 u 5926/72, § 50 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/Dänemark. Die Konvention erkennt also die Parallelität von öffentlichen und privaten Schulangeboten in den Mitgliedstaaten an; s auch EGMR, Urt v 25.3.1993, 13134/87, § 27 – Costello-Roberts/Vereinigtes Königreich. 178 Vgl EKMR, Entsch v 6.9.1995, 23419/94 – Verein Gemeinsam Lernen/Österreich.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Staates, die relevanten Unterrichtsinhalte für staatliche Bildungseinrichtungen festzulegen;179 allerdings muss er sich dabei jeglicher Indoktrinierung enthalten und ist verpflichtet, ein Bildungsangebot vorzuhalten, welches den Grundsätzen der Objektivität, der kritischen Auseinandersetzung und der Pluralität genügt und die Position von Minderheiten berücksichtigt.180 Gerade im Bereich der religiösen Erziehung billigt die Rechtsprechung dem elterlichen Erziehungsrecht weitergehende Freiräume zu und grenzt korrespondierend die diesbezügliche staatlichen Ermessensspielräume ein.181 Eine umfassende staatliche Neutralität verlangt Art 2 S 2 1. ZP EMRK in Bildungsangelegenheiten freilich nicht182 und gestattet die Verwendung religiöser Symbolik auch staatlicherseits, wenn dieser kein missionarischer, sondern ein eher passiver Charakter zukommt, dem die Eltern in der privaten Erziehung alternative Überzeugungen entgegensetzen können.183 Insofern sind die staatlichen Gestaltungsspielräume hier durchaus weit.
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Lösung Fall 2 (Teil 2): Der Ausschluss von den Universitätsveranstaltungen für ein akademisches Jahr könnte das Recht des T auf Bildung nach Art 2 S 1 1. ZP betreffen. Hochschulbildung unterfällt dem sachlichen Schutzbereich der Norm. Sie gewährleistet einen gleichberechtigten Zugang zu Bildungseinrichtungen und -veranstaltungen, die vom Staat bereitgestellt werden, wie dies für Universitätsvorlesungen der Fall ist. Der Ausschluss, der eine Disziplinarmaßnahme war und nicht auf unzureichenden kurrikularen Leistungen des T beruhte, die die Voraussetzungen für die (weitere) Teilnahme an universitären Lehrveranstaltungen darstellen, ist ein direkter hoheitlicher Eingriff in das Recht auf Bildung. Eine Rechtfertigung setzt voraus, dass das Recht nicht in seinem Kern vereitelt wurde, der Eingriff auf einer hinreichenden rechtlichen Grundlage beruhte, einen legitimen Sachgrund verfolgte und verhältnismäßig war. Hier ist der Kern des Rechts durch den einjährigen Ausschluss nicht betroffen, stellen die Disziplinarregeln eine hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage dar und liegt in dem Ziel der Aufrechterhaltung eines friedlichen und ordnungsgemäßen Universitäts- und Lehrbetriebs grundsätzlich ein legitimer Grund vor. Allerdings bestehen Zweifel an der Verhältnismäßigkeit, insbesondere wenn man die Maßnahme auch im Lichte der Wissenschaftsfreiheit betrachtet, die gerade auf einem pluralistischen Austausch von Lehrinhalten und Meinungen beruht und auch kontroverse Vor-
179 Vgl EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71, 5920/72 u 5926/72, § 53 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/ Dänemark; Urt v 18.12.1996, 21787/93, § 28 – Valsamis/Griechenland; Urt v 13.9.2011, 319/08 – Dojan ua/Deutschland (Zulässigkeitsentscheidung). 180 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71, 5920/72 u 5926/72, § 53 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/Dänemark; Urt v 18.12.1996, 21787/93, § 27 – Valsamis/Griechenland; Urt v 29.6.2007, 15472/02, § 84 – Folgerø ua/Norwegen; EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/06, § 59 – Lautsi ua/Italien; EGMR, Urt v 20.10.2020, 47429/09, § 57 – Perovy/Russland. 181 EGMR, Urt v 29.6.2007, 15472/02 – Folgerø ua/Norwegen (Befreiung vom Religionsunterricht); krit dagegen das abweichende Sondervotum der Richter Wildhaber, Lorenzen, Bîrsan, Kovler, Steiner, Borrego Borrego, Hajiyev und Jebens. S auch EGMR, Urt v 16.9.2014, 21163/11 – Yalçın ua/Türkei. 182 Einer solchen gegenüber krit Gonzalez, RFDA 2010, 1003 (1008 ff). 183 EGMR (GK), Urt v 18.3.2011, 30814/06, §§ 68 ff – Lautsi ua/Italien.
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§ 7.1 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: EMRK
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schläge schützt. Zwar verlangt das Recht auf Bildung vom Staat nicht die Bereitstellung bestimmter Bildungsinhalte, sondern gesteht ihm hier Gestaltungsspielräume zu. Jedoch widerspricht die Sanktionierung von entsprechenden Anregungen und Verlangen durch Ausschluss vom Bildungsangebot den Wertungen freier Bildung und Wissenschaft. Da weder die Form noch der Inhalt der Petition des T Hinweise auf eine beabsichtigte oder bewirkte Polarisierung der Studentenschaft geben, wäre ihre Ablehnung ausreichend gewesen, um die staatliche Entscheidungsfreiheit über die Bildungsinhalte zu wahren und seine Vorstellung von einem ordnungsgemäßen und gedeihlichen Universitäts- und Lehrbetrieb umzusetzen. Eine Verletzung des Rechts aus Art 2 S 1 1. ZP ist daher gegeben.
VI. Fazit Die Grundrechte der Kunstfreiheit und der Wissenschaftsfreiheit ebenso wie das 45 Recht auf Bildung nach dem Recht der EMRK sind geprägt durch eine systematisch enge Verknüpfung mit anderen Grundrechten und bilden dennoch den effektiven Kern der grundrechtlichen Absicherung von Kultur und kulturellen Aktivitäten im Konventionsrecht. Aus historischer Sicht erklärlich ist die weniger starke Ausdifferenzierung der Schutzbereiche der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit etwa im Verhältnis zum deutschen Grundgesetz. Die Ansiedelung im Rahmen der Kommunikationsgrundrechte des Art 10 EMRK führt indes nicht zu einem niedrigeren Schutzniveau insgesamt, sondern bringt im Gegenteil die Bedeutung dieser grundrechtlichen Gewährleistungen für den kommunikativen Prozess in einem freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesen zum Ausdruck. Allerdings kann der Schutz künstlerischer und wissenschaftlicher Aktivitäten nicht auf die jeweiligen Äußerungskomponenten begrenzt werden; denn gerade auch die Vorarbeiten oder die nicht unmittelbar mit konkreten Aussagen und Meinungen verbundenen Aktivitäten sind sowohl für die Kunst als auch für die Wissenschaft, ihr Bestehen und ihre Stellung in Staat und Gesellschaft unabdingbar. Der Schutz der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit wird in der Prüfungsabfolge 46 der Rechtsprechung insbesondere bei der Frage der Verhältnismäßigkeit relevant. Ihr kommt eine besondere Bedeutung zu, wobei die Eingriffs- und Rechtfertigungsprüfung im Übrigen nach den allgemeinen Maßstäben des Art 10 II EMRK verläuft. In diesem Zusammenhang sind auch die Beurteilungsspielräume zu beachten, die der EGMR den Mitgliedstaaten bei der Definition und Gewichtung von Interessen sowie der Eignung und Erforderlichkeit von staatlichen Maßnahmen zugesteht. Ein wesentlicher Parameter liegt hierbei darin, in welchem Umfange sich Wertungen und Grundverständnisse in Europa weiterhin unterscheiden. Gerade im kulturellen Sektor und auch im Bereich der Bildungsorganisation sind europaweit anerkannte Standards keineswegs die Regel.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Das Recht auf Bildung unterscheidet sich zwar strukturell von den Grundrechten der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit; es gehört jedoch ebenfalls zum Kernbereich der kulturellen Grundrechte und bildet ebenso wie die erstgenannten eine zentrale Voraussetzung für informierte Entscheidungsfindungen im demokratischen Staat und ist überdies eine Grundvoraussetzung für die menschliche Persönlichkeitsentwicklung. Das Konventionsrecht schafft das Recht auf Bildung als eigenständige Garantie, die auch zu einer umfangreichen und differenzierten Kasuistik betreffend die verschiedenen Stufen des Bildungswesens geführt hat. Sie vereint abwehrrechtliche Elemente mit positiven staatlichen Pflichten und Teilhaberechten. Obgleich auch hier die Rechtsprechung den Mitgliedstaaten nicht unwesentliche Gestaltungsspielräume gewährt, betont sie doch die Notwendigkeit eines effektiven, dh wirksamen Schutzes des Rechts auf Bildung und unterzieht Beschränkungen einer strengen Prüfung auf sachlich legitime Gründe und Verhältnismäßigkeit.
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§ 7.2 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie Recht auf Bildung nach der GRCh I. Bedeutung und Rechtsgrundlagen Während die Freiheiten der Kunst und der Wissenschaft in der Europäischen 1 Menschenrechtskonvention nicht textlich, sondern nur als Ausdruck der dort in Art 10 garantierten Meinungsfreiheit geschützt sind (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 14, 16 – Fall 1; Rn 24, 29 – Fall 2),1 hat sich in den Beratungen zur Schaffung der Grundrechtecharta die Einsicht durchgesetzt, dass eine ausdrückliche Gewährleistung dieser besonderen Kommunikationsgrundrechte (→ Pünder § 5.2 Rn 1) angebracht ist.2 Demgemäß heißt es in Art 13 GRCh: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet“. Allerdings hat auch das Präsidium des Grundrechtskonvents den engen Bezug zur Meinungsfreiheit hervorgehoben, indem es betonte, dass sich die Gewährleistungen „in erster Linie aus der Gedankenfreiheit und aus der Freiheit der Meinungsäußerung“ ableiten, und erklärte, dass die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit den Einschränkungen unterworfen werden kann, die sich für die Meinungsfreiheit aus Art 10 II EMRK ergeben (Rn 12).3 Die Gewährleistungen des Art 13 GRCh gehören zum gemeineuropäischen Grundrechtsstandard. Im Detail der Gewährleistung gibt es unter den Mitgliedstaaten Unterschiede.4 Dies gilt vor allem für die Wissenschaftsfreiheit: Während manche
1 Vgl zur Kunstfreiheit EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/84, EuGRZ 1988, 543 ff – Müller; Urt v 20.9.1994, 13470/87, Series A, Nr 295-A, §§ 42 ff – Otto-Preminger-Institut; Urt v 25.11.1996, 17419/90 u 19/1995/525/ 611, §§ 36 – Wingrove; Urt v 13.10.1983, 9870/82, NJW 1984, 2753 – Sprayer/Zürich; zur Wissenschaftsfreiheit EGMR, Urt v 25.8.1998, 25181/94, ECHR 1998-VI – Hertel; Urt v 28.10.1999, 28396/95, NJW 2001, 1195, §§ 36 ff – Wille; Urt v 29.6.2004, 64915/01 – Chauvy ua (aber mit Schwerpunkt auf die mit dem Verbot der Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Studie einhergehenden presserechtlichen Probleme). Für einen Überbl zu der Gewährleistung der EMRK etwa Mensching in: Karpenstein/Meyer, EMRK, Art 10 Rn 22 ff. Rechtsvergleichend z Zusammenhang von Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S 116 f. 2 Vgl zur Entstehungsgeschichte etwa Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, GRCh, Art 13 Rn 6 ff; Kempen in: Stern/Sachs, GRCh, Art 13 Rn 1 ff; Thiele in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30 Rn 12. 3 Vgl Nr 1 zu Art 11 GRCh der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1v 18.7.2003, S 14 f. 4 Vgl den Überbl von Thiele in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30 Rn 6 ff; Glaser, Der Staat 2008, 213 (221 ff); Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh Rn 1. Zur Freiheit der Kunst in rechtvergleichender Sicht Häberle Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, S 37 (49 ff). Ausf zur Wissenschaftsfreiheit Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992; Thiele in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30 Rn 28 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Staaten die Wissenschaft verfassungsrechtlich schützen, gibt es anderswo nur einfachgesetzliche Verbürgungen. Zudem garantieren einige Mitgliedstaaten nur die Freiheit der Forschung, nicht aber die Lehrfreiheit. Es wurde vor diesem Hintergrund die Frage aufgeworfen, ob die Wissenschaftsfreiheit überhaupt zu den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ gehört, auf die für die Herleitung der Unionsgrundrechte lange Zeit vornehmlich zurückzugreifen war (→ Pünder § 5.2 Rn 1).5 Nach dem Inkrafttreten der GRCh hat sich das Problem erledigt. Im Hinblick auf die in der Präambel der Charta hervorgehobenen „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ ist auf das Völkervertragsrecht hinzuweisen.6 In Art 19 II des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) wird die Kunstfreiheit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zugeordnet. Die Wissenschaftsfreiheit wird nicht erwähnt. Nach Art 15 I lit a und c des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) hat jeder das Recht, „am kulturellen Leben teilzunehmen“ und „den Schutz der geistigen und materiellen Interessen zu genießen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen“. Zudem verpflichtet Art 15 III IPwskR die Vertragsstaaten, „die zu wissenschaftlicher Forschung und schöpferischer Tätigkeit unerlässliche Freiheit zu achten“. Im Übrigen lassen sich dem Atomwaffensperrvertrag (1968), dem Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (1996), dem Antarktisvertrag (1959) mit dem Umweltschutzprotokoll (1991) sowie der Bioethik-Deklaration der UNESCO (1997) Anhaltspunkte für die Anerkennung der Forschungsfreiheit entnehmen.7 2 Das in Art 14 GRCh verankerte Recht auf Bildung ist eine Grundbedingung für die Persönlichkeitsentfaltung und für ein gelingendes Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft.8 Dies hat schon John Adams, der zweite Präsident der USA, hervorgehoben: „Liberty cannot be preserved without a general knowledge among the people who have a right from the frame of their nature to knowledge, as their great Creator who does nothing in vain, has given them understandings and a
5 Vgl Classen, WissR 28 (1995), 97 (99 f); Caspar, RdJB 2001, 165 (173); Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 283 („eher schwacher Schutz“); Fink, EuGRZ 2001, 193 ff; Thiele in: Heselhaus/Nowak, GR, § 26 Rn 49 f; Trute/Groß, WissR 27 (1994), 203 (236 f); Wagner, DÖV 1999, 129 ff. 6 S dazu im Überbl Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 13 Rn 3; Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 276 ff; Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S 177 ff; Haratsch in: Heselhaus/Nowak, GR, § 29 Rn 4; Kempen in: Stern/Sachs, GRCh, Art 13 Rn 25 ff; Thiele in: Heselhaus/Nowak, GR, § 26 Rn 20 ff; Ruffert, VVDStRL 65 (2006), 146 (166 ff). 7 Näher Wagner, DÖV 1999, 129 (133 ff). 8 Zu den ideengeschichtlichen Grundlagen des Rechts auf Bildung zusammenfassend Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 ZP I Rn 4. Vgl a Lindner, DÖV 2009, 306 f.
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§ 7.2 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: GRCh
desire to know.”9 Angesichts der Bedeutung der Bildung erstaunt, dass das Bildungsrecht ursprünglich keinen Eingang in die EMRK gefunden hatte. Immerhin wurde das Grundrecht aber schon 1952 in das erste Zusatzprotokoll zur Konvention aufgenommen (Art 2 1.ZP EMRK).10 Mit der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit hängt das Recht auf Bildung eng zusammen. Im Grundrechtskonvent wurde sogar diskutiert, beide Gewährleistungen in einem Artikel zusammenzufassen.11 Zu Recht sah man schließlich davon ab. In Art 14 I GRCh wird jedem Menschen ein Recht auf schulische Bildung und – insofern über die ausdrückliche Gewährleistung in der EMRK hinausgehend12 – auf Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung garantiert. In Art 14 II GRCh wird hervorgehoben, dass das Recht auf Bildung auch die Möglichkeit umfasst, unentgeltlich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen. Schließlich wird in Art 14 III GRCh einerseits – wieder über die ausdrücklichen EMRK-Gewährleistungen hinausgehend13 – die Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten und andererseits – insofern Art 2 S 2 ZP 1 EMRK fast wortgetreu folgend – das Recht der Eltern kodifiziert, „die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen“.14 Die in Art 14 GRCh normierten Gewährleistungen entsprechen – freilich in unterschiedlichem Umfang – den gemeineuropäischen Grundrechtsüberlieferungen.15 Die berufliche Aus- und Weiterbildung wird zudem durch Nr 15 der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitneh-
9 Adams Dissertation on the Canon and Feudal Law (1765), zit nach Peek (Hrsg) The Political Writings of John Adams, 1954, S 13. 10 Zur Entstehungsgeschichte Bannwart-Maurer Das Recht auf Bildung und das Elternrecht. Art 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1975, S 1 ff. 11 Vgl zur Diskussion Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 5 ff; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 93 ff; Kempen in: Stern/ Sachs, GRCh, Art 14 Rn 1 ff. 12 Das Recht auf Bildung in Art 2 S 1 ZP 1 EMRK wird zum Teil so verstanden, dass es nur die schulische Bildung umfasst. Vgl Bannwart-Maurer Das Recht auf Bildung und das Elternrecht. Art 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1975, S 70; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 138 f. Weitergehend – freilich nicht die berufliche Bildung einbeziehend – Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 ZP I Rn 10 f. 13 Zur Frage, ob die EMRK das Recht zur Errichtung von Privatschulen garantiert Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 248 ff. 14 In Art 2 S 2 ZP 1 EMRK fehlt der Hinweis auf die „erzieherischen“ Überzeugungen. 15 Näher Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 2; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 163 ff (zum Recht auf Bildung), 212 ff, 219 ff (zum Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung), 232 ff (zum unentgeltlichen Pflichtschulunterricht), 253 ff, 265 ff (zur Gründung von Lehranstalten), 307 ff (zum Elternrecht); Thiele in: Frankfurter Komm, Art 14 GRCh Rn 6; von der Decken in: Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 26 f.
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mer (GSGA) und Art 10 der Europäischen Sozialcharta (ESC) gewährleistet. Hinzu kommen völkervertragsrechtliche Verpflichtungen.16 Eine ausführliche Regelung findet sich in Art 13 IPwskR. Eine Garantie der Elternrechte enthält Art 18 IV IPbürgR. Im Übrigen sind für das Recht auf Bildung Art 28 I 1 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes (1989), Art 10 des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1979) und Art 5 des UN-Übereinkommens gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen (1960) von Bedeutung. 3 Die in Art 13 und 14 GRCh gewährleisteten Rechte binden gem Art 51 I GRCh nicht nur die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, sondern auch die Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“. Insofern ist der EuGH bekanntermaßen sehr großzügig; die GRCh soll schon dann einschlägig sein, wenn die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts agieren (im Hinblick auf die Kommunikationsgrundrechte → Pünder § 5.2 Rn 2). Allerdings verfügt die Union in den Bereichen von Kunst, Wissenschaft und Bildung nur über eingeschränkte Kompetenzen: Bildung, Förderung der Kulturvielfalt und Forschung sind lediglich als Ziele der Politik der Union in Art 165 f, 167, 179 ff AEUV genannt, so dass diese Bereiche vornehmlich im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten verbleiben.17 Das bedeutet nicht, dass die Gewährleistung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit und des Rechts auf Bildung in der GRCh nur eine geringe Bedeutung hat. Denn die Normierungen dienen nicht nur dem unmittelbaren Grundrechtsschutz im Unionsrecht, sondern machen auch – wie es in der Präambel heißt – die „Grundlage gemeinsamer Werte“ deutlich, zu der auch das Bekenntnis zur Kunstund Wissenschaftsfreiheit sowie zum Recht auf Bildung gehört. Die Gewährleistungen in der GRCh haben eine Vorbildfunktion. Im Übrigen mögen die Garantien bedeutsam werden, sofern es später einmal zu Kompetenzerweiterungen der Union kommt.
II. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art 13 GRCh) Leitentscheidungen: zur Kunstfreiheit EuGH, Rs 7/68, Slg 1968, 634 ff – Kommission/Italien; verb Rs 110/78 u 111/78, Slg 1979, 35 ff – ASBL; Rs 197/84, Slg 1985, 1819 ff – Steinhauser; Rs C-17/92, Slg 1993, I2239 ff – Fedicine; verb Rs C-92/92 u C-326/92, Slg 1993, I-5145 ff – Phil Collins; Rs C-360/00, Slg 2002, I5089 ff – Land Hessen; Rs C-144/00, Slg 2003, I-2921 ff – Hoffmann; Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489 ff – RTL Television GmbH; Urt v 29.7.2019, Rs C-476/17, NJW 2019, 2913 – Pelham ua; zur Wissenschafts
16 Im Überblick Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 3; von der Decken in: Heselhaus/ Nowak, GR, § 43 Rn 22 ff. Näher Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 195 ff, 312 ff. 17 Näher im Hinblick auf die Wissenschaftspolitik Sasse, VerwArch 104 (2013), 237 (240 ff).
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§ 7.2 Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Recht auf Bildung: GRCh
freiheit EuGH, Rs 35/72, Slg 1973, 679 ff – Kley; Rs 9/74, Slg 1974, 773 ff – Casagrande; Rs 53/72, Slg 1974, 791 ff – Guillot; Rs 293/83, Slg 1985, 593 ff – Gravier; Rs 33/88, Slg 1989, 1591 ff – Allué ua; verb Rs C-259/ 91 u C-331/91 u C-332/91, Slg 1993, I-4309 ff – Allué ua; Rs C-272/92, Slg 1993, I-5185 ff – Spotti; Rs C-274/ 99, Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = Ehlers, JK 2001 EGV Art 220/1; Rs C-162/00, Slg 2002, I-1049 ff – Land NRW; Rs C-287/00, Slg 2002, I-5811 ff – Mehrwertsteuerpflicht; Rs C-65/03, Slg 2004, I-6427 ff – Kommission/Belgien; Rs C-147/03, Slg 2005, I-5969 ff – Kommission/Österreich; Rs, C-40/05, Slg 2007, I-99 ff – Lyyski; Slg Rs C-281/06, 2007, I-12231 ff – Jundt.
Schrifttum: Britz, Die Freiheit der Kunst in der europäischen Kulturpolitik, EuR 2004, 1 ff; Classen, Forschungsförderung durch die EG und Freiheit der Wissenschaft, WissR 28 (1995), 97 ff; Fink, Gewährt das Recht der Europäischen Gemeinschaften den wissenschaftlichen Hochschulen grundrechtliche Freiheit?, EuGRZ 2001, 193 ff; Geißler Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995; Germelmann Das europäische Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit in: Funk/ Gärditz/König (Hrsg), Auf dem Weg zu einem europäischen Wissenschaftsrecht?, WissR Beiheft 24 (2016), 19 ff; Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992; Häberle Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, 37 ff; Hailbronner/Weber, Die Hochschulen vor Europäisierung, Zentralisierung, Regionalisierung, WissR 30 (1997), 298 ff; Lindner Die Europäisierung des Wissenschaftsrechts, 2009; Ruffert, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2006), 146 ff; Hoppe Die Kunstfreiheit als EU-Grundrecht, 2011; Sasse, Die primärrechtlichen Vorgaben unionaler Wissenschaftspolitik, VerwArch 104 (2013), 237 ff; Trute/Groß, Rechtsvergleichende Grundlagen der europäischen Forschungspolitik, WissR 27 (1994), 203 ff; Wagner Wissenschaftsfreiheit unter Regulierungsdruck, FS Meusel, 1997, 301 ff; Wagner, Gibt es ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht?, DÖV 1999, 129 ff; Wagner Rechtliche Rahmenbedingungen für die Wissenschaft und Forschung, 2000, 218 ff.
Fall 1 (gelehnt an OVG Münster, NVwZ-RR 2012, 682 = JK 2013, GRCh Art 13/1): Die E-GmbH möchte in China produzierte Glühlampen verkaufen, die nach der Haushaltslampen-VO 2009/224, ABl 2009 Nr L 74/1, zur Verringerung des Energieverbrauchs aus Gründen des Umweltschutzes in Europa nicht mehr vertrieben werden dürfen. Allerdings bezeichnet die E ihre Produkte als „Heatballs“ bzw „Kleinheizelemente“ und schreibt in der Produktinformation: “Heatball ist Aktionskunst! Heatball ersetzt die Glühbirne und ist Widerstand gegen den Bürger entmündigende Verordnungen.“ Die zuständige Behörde untersagt der E den Vertrieb der Produkte in Deutschland gem § 7 III S 2 Nr 6 EVPG. Hiergegen wendet sich die E mit dem Argument, der Vertrieb der „Heatballs“ sei eine grundrechtlich geschützte satirische Kunstaktion.
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Fall 2 (gelehnt an EuGH, Rs 35/72, Slg 1973, 679 ff – Kley):
K, ein habilitierter Diplomphysiker, war als Beamter der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM in der Forschungsanstalt im italienischen Ispra auf dem Gebiet der Neutronenforschung tätig. Er leitete die „Abteilung Physik“ mit einem bedeutenden Forschungsstab. Im Rahmen einer Reorganisation der Forschungsanstalt sollten wichtige Forschungsaufgaben von einer anderen Abteilung übernommen werden. Dies lehnte K ua mit Hinweis auf seine eigenen Forschungsschwerpunkte ab. Nachdem K erfolglos eine außergerichtliche Beschwerde beim Präsidenten der Kommission eingelegt hatte, erhob er Klage vor dem EuGH.
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1. Schutzbereiche a) Kunstfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta 6 Die unionsgrundrechtliche Garantie der Kunstfreiheit trägt dem Umstand Rechnung, dass Kunst nicht nur ein Wirtschaftsfaktor ist, der durch die Grundfreiheiten geschützt wird (Rn 7), sondern auch eine Freiheitsbetätigung, und darüber hinaus für die Union eine Integrationsfunktion hat.18 In anthropologischer Perspektive mag man auch den Menschenwürdegehalt der Kunstfreiheit hervorheben. Häberle betont: „Der Mensch verdankt seinen ‚aufrechten Gang‘ wesentlich der Kunstfreiheit.“19 Auf die Kunstfreiheit können sich nicht nur Künstler für ihren „Werkbereich“ berufen, sondern auch sog Kunstmittler, die etwa als Interpreten, Verleger, Galeristen und Produzenten im „Wirkbereich“ der Kunst tätig sind.20 Werk- und Wirkbereich stellen eine „unlösbare Einheit“ dar. Das hat das BVerfG zutreffend hervorgehoben.21 Alle Rechtsordnungen haben es schwer, das zu bestimmen, was als Kunst einen besonderen Schutz genießt. In einer pluralen Gesellschaft darf der Schutzbereich der Kunstfreiheit nicht zu eng gefasst werden. Der EGMR hat bisher vermieden, den Kunstbegriff zu definieren, aus der Gesamtbetrachtung seiner Rechtsprechung ergibt sich jedoch ein weites Begriffsverständnis, das von inhaltlicher Neutralität und formaler Offenheit geprägt wird.22 Dieses weite Schutzbereichsverständnis ist gem Art 52 III GRCh auch für die unionsrechtliche Kunstfreiheit maßgeblich. Die Definition des BVerfG im Mephisto-Beschluss bietet einen Anhaltspunkt (Rn 4, 14, Fall 1).23 Demnach ist das Wesentliche der künstlerischen Betätigung die „freie schöpferische Gestaltung“, in der „Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmen Formensprache zur unmittelbaren Anschauung
18 Vgl Britz, EuR 2004, 1 (2 ff); Sommermann, VVDStRL 65 (2006), 7 (24 ff). 19 Vgl Häberle Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, S 43 ff. 20 Vgl EGMR, Urt v 20.9.1994, 13470/87, Series A, Nr 295-A, §§ 55 f – Otto-Preminger-Institut, sowie etwa Haratsch in: Heselhaus/Nowak, GR, § 29 Rn 13 und Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh, Rn 4. Zur „offenen Gesellschaft der Kunstinterpreten“ Häberle Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, S 68 ff. 21 BVerfGE 30, 173 (189) – Mephisto-Beschluss; 67, 213 (224) – Anachronistischer Zug; 77, 240 (253 f) – Herrnburger Bericht. 22 S Hoppe Die Kunstfreiheit als EU-Grundrecht, 2011, S 48. 23 Sehr krit zur Zulässigkeit dieses Vorgehens Hoppe Die Kunstfreiheit als EU-Grundrecht, 2011, S 86, 231.
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gebracht werden“.24 Wertende Einengungen darf es nicht geben. Auch neue Kunstformen und -richtungen sind grundrechtlich geschützt. Die Offenheit des Kunstbegriffs korrespondiert allerdings mit der – gleich zu erörternden (Rn 12 f) – Möglichkeit, eine Beeinträchtigung der Kunstfreiheit zu rechtfertigen. Vom Präsidium des Grundrechtskonvents wurde ausdrücklich festgestellt, dass die von Art 13 GRCh geschützten Freiheiten nur unter Wahrung der in Art 1 GRCh gewährleisteten Menschenwürde ausgeübt werden dürfen.25 Dies führt freilich – wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten (→ Pünder § 5.2 Rn 10) – nicht zu einer tatbestandlichen Einschränkung des Schutzbereichs.26 Vielmehr ist aus Gründen der Transparenz auch insoweit an der herkömmlichen dreistufigen Prüfung der Unionsgrundrechte festzuhalten. Allerdings ergeben sich aus Art 1 S 2 GRCh, wonach die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ ist, innerhalb des Kompetenzbereichs der Normadressaten Schutzpflichten (Rn 10; zu den anderen Kommunikationsgrundrechten → Pünder § 5.2 Rn 3, 19).
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Die von Art 13 GRCh erfassten Grundrechte haben beim EuGH lange eine geringe 7 Rolle gespielt. Der Sache nach wird die Kunstfreiheit aber auch durch die wirtschaftlichen Grundfreiheiten geschützt.27 EuGH-Entscheidungen machen deutlich, dass Kunstgegenstände von der Warenverkehrsfreiheit (Art 34 ff AEUV) erfasst werden,28 künstlerische Darbietungen den Schutz der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 ff AEUV) genießen29 und die innergemeinschaftliche Mobilität der selbständigen oder abhängig beschäftigten Künstler und Kunstmittler von der Freiheit des Personenverkehrs (Art 45 ff, 49 ff AEUV) geschützt wird.30 Zudem gibt es einige Entscheidun
24 BVerfGE 30, 173 (188 f) – Mephisto-Beschluss. S a BVerfGE 67, 213 (226) – Anachronistischer Zug; 83, 130 (138) – Josefine Mutzenbacher. Ebenso für Art 13 GRCh etwa Haratsch in: Heselhaus/Nowak, GR, § 29 Rn 11; Kempen in: Stern/Sachs, GRCh, Art 13 Rn 10 f; Jarass GRCh, Art 13 Rn 5; Rengeling/ Szczekalla GR, Rn 759; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh Rn 3. 25 Vgl Erläuterung zu Art 13 GRCh des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1 v 18.7.2003, S 16. 26 Vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 754. Gegen immanente Schutzbereichsbegrenzungen aus dt Sicht Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 146 f. 27 Vgl im Überbl und zum Verhältnis der Kunstfreiheit zu den Grundfreiheiten Geißler Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995, S 189 ff; Haratsch in: Heselhaus/Nowak, GR, § 29 Rn 22 ff. 28 Vgl EuGH, Rs 7/68, Slg 1968, 634 (642) – Kommission/Italien. 29 Vgl EuGH, verb Rs 110/78 u 111/78, Slg 1979, 35 ff – Ministère Public u ASBL; Rs C-17/92, Slg 1993, I2239 ff – Fedicine. 30 Vgl EuGH, Rs 197/84, Slg 1985, 1819, Rn 3, 14 f – Steinhauser.
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gen, die sich mit dem Kunstsektor unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsverbots beschäftigten.31 Ein in den Medien besonders beachtetes Urteil zur Kunstfreiheit fällte der EuGH allerdings in der Rs Pelham ua.32 Es betraf den deutschen Musikproduzenten Moses Pelham, der für ein Musikstück („Nur mit mir“ von Sabrina Setlur) eine zweisekündige Rhythmussequenz des Titels „Metall auf Metall“ der Gruppe Kraftwerk ohne deren Einwilligung elektronisch kopierte und seinem Stück als Loop in fortlaufender Wiederholung unterlegte. Daraufhin verlangten Vertreter der Gruppe Kraftwerk Unterlassung und Schadensersatz. Der Gerichtshof führte aus, dass das sog. Sampling von Art 13 GRCh geschützt werde und die Kunstfreiheit bei der Auslegung der streitentscheidenden RL 2001/29, ABl 2001 Nr L 167/10, mit dem Recht des geistigen Eigentums aus Art 17 II abgewogen werden müsse. Grundsätzlich könnten sich Tonträgerhersteller gegen die – auch sehr kurze – Nutzung eines Audiofragments durch Dritte wehren. Die Kunstfreiheit sei aber höher zu bewerten, wenn das Fragment in geänderter und nicht wiedererkennbarer Form genutzt werde.
b) Wissenschaftsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechtecharta 8 Die Kunst- und die Wissenschaftsfreiheit sind als Ausdruck der Persönlichkeitsentfaltung eng miteinander verbunden.33 Entsprechend der vor allem auf Wilhelm v Humboldt zurückgehenden deutschen Tradition34 ist Wissenschaft der Oberbegriff für Forschung und Lehre.35 Was die Forschung angeht, die nach Art 13 S 1 GRCh „frei“ ist, kann man sich wieder an einer Definition des BVerfG orientieren, das „jegliches nie ganz abschließendes, nach Inhalt und Form ernsthaftes und planmäßiges
31 Vgl EuGH, verb Rs C-92/92 u C-326/92, Slg 1993, I-5145, Rn 27 f – Phil Collins; Rs C-360/00, Slg 2002, I5089, Rn 31 – Land Hessen; Rs C-144/00, Slg 2003, I-2921 ff – Hoffmann; Rs C-245/01, Slg 2003, I-12489 ff – RTL Television GmbH. S dazu etwa Rengeling/Szczekalla GR, Rn 755 f. 32 EuGH, Urt v 29.7.2019, Rs C-476/17, NJW 2019, 2913, Rn 26 ff, 66 ff – Pelham ua. Siehe hierzu Frenz, EuR 2020, 210 (218 ff); Leistner, GRUR 2019, 1008 ff; Wagner, MMR 2019, 727 ff. 33 Vgl Häberle Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, S 70 und Ruffert, VVDStRL 65 (2006), 146 (165 ff) („Wissenschaft als Lebensform“). 34 Vgl etwa E. R. Huber Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 1, 1957, S 285 ff; sowie im Hinblick auf die Wissenschaftsfreiheit im Unionsrecht Thiele in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30 Rn 1 ff. 35 BVerfGE 35, 79 (113) – Hochschulurteil. Zur dt Wissenschaftsfreiheit etwa Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 57 ff, 94 (zur Einheit von Forschung und Lehre); in rechtsvergleichender Perspektive Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S 37 ff.
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Bemühen um Wahrheit“ als schutzwürdig ansieht.36 Weniger idealistisch formuliert, geht es um die „methodisch geleitete Generierung neuen Wissens“.37 Erfasst wird auch die Forschung abseits des main stream.38 Zudem kommt es nicht darauf an, ob die Forscher in staatlichen oder staatlich anerkannten Einrichtungen tätig sind. Vielmehr sind auch rein private Forschungsaktivitäten (etwa wissenschaftliche Nebentätigkeiten von Anwälten und Ärzten) und Forschungsarbeiten in Unternehmen geschützt, soweit die dort Tätigen über hinreichende wissenschaftliche Unabhängigkeit verfügen.39 Die wissenschaftliche Lehre ist Teil der nach Art 13 S 2 GRCh zu achtenden „akademischen Freiheit“. Dieser Begriff verweist – in Abgrenzung von der in Art 14 GRCh geregelten „Ausbildung“ (Rn 17) – auf die in wissenschaftlichen Hochschulen („Akademien“) institutionalisierten Erscheinungsformen der Lehre.40 Daraus kann man freilich nicht den Schluss ziehen, dass sich die grundrechtlich geschützte Lehre darauf beschränkt. Wie bei der Forschungsfreiheit kommt es nicht darauf an, ob die wissenschaftlich Lehrenden in staatlichen oder staatlich anerkannten Einrichtungen agieren. Es werden auch rein private Aktivitäten erfasst. Zur grundrechtlich geschützten Lehre gehört in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG jede wissenschaftlich fundierte Übermittlung der durch Forschung gewonnenen Erkenntnisse.41 Alle, die eigenverantwortlich in wissenschaftlicher Weise tätig sind oder tätig werden wollen, können sich umfassend auf die in Art 13 GRCh gewährleistete Wissenschaftsfreiheit berufen. Der in Art 13 S 2 GRCh verwandte Begriff „akademische Freiheit“ macht weiter deutlich, dass sich die Wissenschaftsfreiheit als Doppelgrundrecht darstellt.42 Geschützt
36 BVerfGE 35, 79 (113) – Hochschulurteil. Wie hier Kempen in: Stern/Sachs, GRCh, Art 13 Rn 15. Im Hinblick auf das dt Recht Classen Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S 72 ff; Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 60 ff, 71 ff; Geis in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 3, 4. Aufl, 2021, § 85 Rn 2, 5; Ruffert, VVDStRL 65 (2006), 146 (152 ff); Schulte, VVDStRL 65 (2006), 110 (111 f). 37 So Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh Rn 6. 38 Vgl hierzu und zu den Grenzen BVerfGE 90, 1 (13 ff) – „Wahrheit für Deutschland – Die Schuldfrage des Zweiten Weltkrieges“. 39 S nur Kempen in: Stern/Sachs, GRCh, Art 13 Rn 15. Z dt Recht Classen Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994; Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 135 f; Geis in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 3, § 85 Rn 4; Ruffert, VVDStRL 65 (2006), 146 (179). Krit Kleindiek Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, 1998, S 261 ff. 40 Kempen in: Stern/Sachs, GRCh, Art 13 Rn 17. 41 Vgl BVerfGE 35, 79 (112 f) – Hochschulurteil; 95, 193 (209 f) – Hochschullehrer der DDR. Aus dt Sicht etwa Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 83 ff; Geis in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 3, § 85 Rn 3, 6, 77 ff. 42 Dies war bislang nicht ganz zweifelsfrei. Vgl Classen, WissR 28 (1995), 97 (99 f); Fink, EuGRZ 2001, 193 ff; Hailbronner/Weber, WissR 30 (1997), 298 (318); Trute/Groß, WissR 27 (1994), 203 (236 f). Für eine
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werden nicht nur Forschungs- und Lehrtätigkeiten einzelner Wissenschaftler, sondern auch die – öffentlichen oder privaten – Wissenschaftseinrichtungen als Institutionen.43 Dem entspricht, dass die Autonomie wissenschaftlicher Hochschulen in vielen Mitgliedstaaten üblich ist.44 In der Rs Kley, in der es um einen Beamten der Europäischen Atomgemeinschaft ging, der als habilitierter Diplomphysiker auf dem Gebiet der Neutronenforschung am Forschungsinstitut im italienischen Ispra arbeitete (Rn 5, 15, Fall 2), hat der Generalanwalt Trabucchi die „besonderen Erfordernisse für die Arbeit einer Forschungsanstalt“ hervorgehoben und verlangt, dass „sowohl die Beachtung der Rechte des Einzelnen als auch die erforderliche Eigenständigkeit des Organs sichergestellt werden“.45 Der EuGH ging auf die damit aufgeworfenen Fragen zum Ausmaß der Wissenschaftsfreiheit allerdings nicht ein.
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 9 Allgemein muss festgestellt werden, dass der Luxemburger Gerichtshof in Rechtssachen mit einem wissenschaftsrelevanten Sachverhalt das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit – anders als die Generalanwaltschaft – nicht heranzieht.46 Dass das Diskriminierungsverbot iVm dem Recht auf Freizügigkeit einen Anspruch darauf vermittelt, beim Zugang zu wissenschaftlichen Hochschulen nicht wegen der Staatsangehörigkeit benachteiligt zu werden, hat der EuGH mehrfach betont. Dabei geht es in grundrechtlicher Perspektive allerdings regelmäßig nicht um die Wissenschaftsfreiheit der Studierwilligen, sondern um den nunmehr in Art 14 GRCh gewährleisteten Zugang zur Ausbildung (Rn 17). Die Wissenschaftsfreiheit ist nur dann einschlägig, wenn Forschungsaktivitäten – wie bei Promotionsstudiengängen institutionelle Autonomie nach ausf Länderberichten Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S 175. 43 Germelmann in: Funk/Gärditz/König (Hrsg), Auf dem Weg zu einem europäischen Wissenschaftsrecht?, WissR Beiheft 24 (2016), 19 (42 f); Jarass GRCh, Art 13 Rn 10. 44 So Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 17. Zur verfassungsrechtlichen „institutionellen Gewährleistung“ der Universitäten in Deutschland etwa BVerfGE 15, 256 (262, 263 ff) – Universität Gießen; 35, 79 (114 ff) – Hochschulurteil; sowie Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 29 ff; Geis in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 3, § 85 Rn 9 ff. In rechtsvergleichender Perspektive Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S 40 ff. 45 EuGH, Rs 35/72, Slg 1973, 679, 693 – Kley. Dazu etwa Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S 173 ff; Thiele in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30 Rn 15. 46 Vgl EuGH, Rs 35/72, Slg 1973, 679 ff – Kley; Rs 53/72, Slg 1974, 791 ff – Guillot; Rs C-287/00, Slg 2002, I5811 ff – Kommission/Deutschland (Mehrwertsteuerpflicht); Urt v 8.5.2014, Rs C-15/13, EuZW 2014, 512 – TU Hamburg-Harburg/Datenlotsen Informationssysteme; sowie dazu Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S 173 ff; Thiele in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30 Rn 14 ff; Fink, EuGRZ 2001, 193 (197 ff).
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oder im Rahmen einer Habilitation – im Vordergrund stehen. Dann können die Erkenntnisse des EuGH zum Zugang zu universitären Bildungseinrichtungen auf die Forschungsfreiheit des wissenschaftlichen Nachwuchses übertragen werden. Ob die Freiheit der Wissenschaft durch die ausdrückliche Gewährleistung in Art 13 GRCh in Zukunft eine größere eigenständige Bedeutung erhalten wird, bleibt abzuwarten. Immerhin sieht sich die Forschungsfreiheit vor allem im Umwelt-, Gesundheits- und Technikrecht der Union vielfältigen Regulierungen ausgesetzt.47 Gelegenheit, die Wissenschaftsfreiheit – und auch die Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten (Art 14 III HS 1 GRCh) – direkt heranzuziehen, hatte der EuGH jüngst in der Rs Central European University48 (einer von George Soros, einem USamerikanischen Investor und Philanthropen, gegründeten Privatuniversität). Gegenstand des Verfahrens waren zwei Änderungen des ungarischen Hochschulgesetzes. Danach mussten ausländische Hochschulen auch in ihrem Herkunftsstaat eine Hochschulausbildung anbieten. Zudem mussten Hochschulen mit Sitz außerhalb des EWR für ihre Tätigkeit in Ungarn den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen ihrem Herkunftsstaat und Ungarn nachweisen. Nach Ansicht des Gerichtshofs ließen sich diese Eingriffe in Art 13 S 2 GRCh – und in Art 14 III HS 1 GRCh – nicht rechtfertigen.
2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche Hinsichtlich der möglichen Beeinträchtigungen der Kunst- und Wissenschaftsfrei- 10 heit ergeben sich keine Besonderheiten. Wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten (→ Pünder § 5.2 Rn 19, 47 ff) gilt ein weiter Eingriffsbegriff. Gem Art 51 I GRCh schützen die Freiheiten vor jeglichen Beeinträchtigungen, die von Organen und Einrichtungen der Union sowie von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts (→ Pünder § 5.2 Rn 2) ausgehen. Ggf. müssen die Hoheitsträger im Rahmen ihres Kompetenzbereichs (→ Pünder § 5.2 Rn 3) aufgrund einer Schutzpflicht einschreiten, wenn die Freiheit der Kunst oder der Wissenschaft durch Private (die allerdings ihrerseits auch Träger der Grundrechte sein kön
47 Vgl zur Bedeutung des Unionsrechts für die Forschung Wagner, DÖV 1999, 129 ff. 48 EuGH, Urt v 6.10.2020, Rs C-66/18, Rn. 208 ff, 222 ff, 235 ff – Central European University. Problematisch war, ob die Unionsgrundrechte überhaupt anwendbar sind. Erforderlich ist nach Art 51 I 1 GRCh, dass es um die „Durchführung des Rechts der Union“ durch die Mitgliedstaaten geht. Insofern verwies der EuGH auf die Erfüllung der Vorgaben von Art XVII GATS (Inländerbehandlung) durch die Mitgliedstaaten. Das von der EU unterzeichnete GATS ist nach Ansicht des Gerichtshofs Teil des Unionsrechts (aaO, Rn 71 ff).
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nen49) beeinträchtigt werden.50 Dabei ist das Spezifische der „Ressortforschung“ in außeruniversitären staatlichen Einrichtungen und der „Industrieforschung“ zu beachten.51 Zudem muss es Besonderheiten für das Nebentätigkeitsrecht geben.52 Im Hinblick auf die Kunstfreiheit wird von einer Verpflichtung zur „Vielfaltsvorsorge“ ausgegangen.53 Diese Einschätzung kann auf die Judikatur des EuGH zur Pluralität der Medien verweisen (→ Pünder § 5.2 Rn 17 f). Die „Gewährleistungsverantwortung“ in den Bereichen der Wissenschaft und Kunst liegt freilich vor allem bei den Mitgliedstaaten.54 11 Einen individualrechtlichen Anspruch auf Förderung verleihen die Rechte aus Art 13 GRCh nicht.55 Ausdrücklich betont Art 51 II GRCh, dass die Charta keine neuen Zuständigkeiten begründet. Allerdings gelten grundrechtliche Maßstäbe, wenn Kunst (vgl Art 6 II lit c, Art 167 AEUV) und Wissenschaft (vgl Art 179 ff AEUV) gefördert werden.56 Prinzipiell gefährden Fördermaßnahmen die grundrechtlichen Freiheiten zwar nicht, sondern nutzen ihnen.57 Bei der Gestaltung des Auswahlverfahrens ist der Grundrechtsschutz aber relevant.58 Um Willkür auszuschließen,
49 Vgl zur „janusköpfigen Grundrechtssituation“ aus dt Sicht Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 19. 50 Vgl Britz, EuR 2004, 1 (17 f); Germelmann in: Funk/Gärditz/König (Hrsg), Auf dem Weg zu einem europäischen Wissenschaftsrecht?, WissR Beiheft 24 (2016), 19 (44); Haratsch in: Heselhaus/Nowak, GR, § 29 Rn 15. Zu Fragen einer mittelbaren Drittwirkung aus dt Perspektive Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 51 ff. 51 Vgl Classen Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S 348 ff speziell zur Ressortforschung; Kleindiek Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, 1998, S 295 ff (zur Ressortforschung), 318 ff (zur Industrieforschung). 52 Vgl im Hinblick auf das dt Recht Classen Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S 301 ff, 353 ff. 53 S Britz, EuR 2004, 1 (17 f). Zur Verpflichtung des Staates zur Kunstförderung Geißler Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995, S 46 ff. 54 Grundl zur Kategorie der Gewährleistungsverantwortung Schmidt-Aßmann in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Schuppert, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S 11 (43 f). 55 So a Jarass GRCh, Art 13 Rn 12. Zur Wissenschaftsfreiheit Germelmann in: Funk/Gärditz/König (Hrsg), Auf dem Weg zu einem europäischen Wissenschaftsrecht?, WissR Beiheft 24 (2016), 19 (47). 56 Vgl zur Kunstfreiheit Britz, EuR 2004, 1 (7 ff, 21 ff); Geißler Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995, S 172 ff; Häberle Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, S 83 ff; zur Wissenschaftsfreiheit Classen, WissR 28 (1995), 97 (104 ff); Germelmann in: Funk/Gärditz/König (Hrsg), Auf dem Weg zu einem europäischen Wissenschaftsrecht?, WissR Beiheft 24 (2016), 19 (46); Mann in: Heselhaus/Nowak, GR (1. Aufl), § 26 Rn 51 ff; Schulte, VVDStRL 65 (2006), 110 (123 f); Trute/Groß, WissR 27 (1994), 203 (236 f, 242 ff); Wagner FS Meusel, 1997, S 301 (322 ff). 57 Zu den Bedenken gegenüber einer staatlichen Kunstförderung Geißler Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995, S 34 ff; Sommermann, VVDStRL 65 (2006), 7 (10 f). 58 Vgl Lindner Die Europäisierung des Wissenschaftsrechts, 2009, S 90 ff.
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müssen die Kriterien der Auswahlentscheidung vorab festgelegt werden.59 Zudem muss es Regeln über die sachverständige Besetzung der Auswahlgremien geben. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass inhaltlich-organisatorische Vorgaben in europäischen Forschungsförderungsprogrammen oder auch – was der sog BolognaProzess zeigt – hinsichtlich der Gestaltung von Studiengängen in Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit umschlagen können.60
3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen Obwohl Art 13 S 1 GRCh apodiktisch betont, dass Kunst und Forschung „frei“ sind, 12 lassen sich Eingriffe in die Freiheiten rechtfertigen. Legt man die als Anleitung für die Auslegung der Charta verfassten Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents zugrunde, sind gem Art 52 III GRCh die Schranken des Art 10 II EMRK, der einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt enthält (→ Pünder § 5.2 Rn 21 ff, 50), und die dazu ergangene Judikatur des EGMR heranzuziehen, soweit sich die Gewährleistungen in Art 13 GRCh mit den Gewährleistungen in Art 10 EMRK decken.61 Sonst gilt die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 I GRCh.62 Dass die akademische Freiheit nach Art 13 S 2 GRCh lediglich zu „achten“ ist, hat nicht einen schwächeren Schutz dieser Freiheit zur Folge. Entsprechend dem Schutz der Medienfreiheit (→ Pünder § 5.2 Rn 24) wird nur deutlich, dass insoweit die mitgliedstaatlichen Kompetenzen Vorrang haben.63
59 Näher zum Gestaltungsspielraum bei der Definition der Auswahlkriterien Germelmann in: Funk/ Gärditz/König (Hrsg), Auf dem Weg zu einem europäischen Wissenschaftsrecht?, WissR Beiheft 24 (2016), 19 (46). Allgemein zum Vergaberecht als „allgemeiner Teil“ eines „Verteilungsverwaltungsrechts“ Pünder in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 1, § 17 Rn 16 f. 60 Germelmann in: Funk/Gärditz/König (Hrsg), Auf dem Weg zu einem europäischen Wissenschaftsrecht?, WissR Beiheft 24 (2016), 19 (43, 46); Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh, Rn 12. Zum Bologna-Prozess etwa Geis in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 3, § 85 Rn 86 f; Hendler, VVDStRL 65 (2006), 238 (260 ff); Pelzer Die Kompetenzen der EG im Bereich der Forschung, 2004, S 70, 72, 77 ff; Mager, VVDStRL 65 (2006), 274 (306 ff). 61 Kritisch zu der Frage, ob Art 10 EMRK auch die Forschungstätigkeit erfasse, weil diese kein kommunikativer Akt sei Mensching in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 10 Rn 24; Kotzur in: Schulze ua HbER § 38 Rn 44. 62 Vgl Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 13 Rn 12; Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 286. Für eine einheitliche Schrankenregelung gem Art 52 I GRCh Haratsch in: Heselhaus/Nowak, GR, § 29 Rn 18; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 13 GRCh Rn 10 f. Für eine kumulative Anwendung von Art 52 I und III GRCh Jarass GRCh, Art 13 Rn 13. 63 S etwa Kempen in: Stern/Sachs, GRCh, Art 13 Rn 24; Sparr in: Schwarze, EU-Komm, Art 13 GRCh Rn 3; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 13 GRCh Rn 5.
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Insbesondere können Grundrechtskollisionen Beeinträchtigungen der Kunstund Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen. Vom EGMR ist die Freiheit der künstlerischen Äußerung gem Art 10 II EMRK zum Schutz der Moral und der religiösen Überzeugungen anderer für einschränkbar gehalten worden (→ Marauhn/Jaś-Nowopolska § 5.1 Rn 14 ff, Fall 1).64 Auch der Schutz der Ehre und der Schutz hoheitlicher Symbole können zu rechtmäßigen Einschränkungen der Kunstfreiheit führen.65 Regelungsbedürftig ist auch die Forschungsfreiheit, da die Wissenschaft Teil der heutigen „Risikogesellschaft“ ist.66 Die biomedizinische Forschung wird durch eine detaillierte Regelung in Art 3 II GRCh erfasst. Diese Normierung enthält ein Einwilligungserfordernis und verschiedene Verbote (eugenische Praktiken, Gewinnerzielung mit Teilen des menschlichen Körpers, reproduktives Klonen von Menschen).67 Weiter können Belange des Tierschutzes eine Rolle spielen.68 Zudem kann die Forschungsfreiheit zum Schutz personenbezogener Daten (Art 8 GRCh) eingeschränkt werden.69 Die Kommission hat eine „Europäische Charta für Forscher“ formuliert und als Empfehlung an die Mitgliedstaaten gerichtet.70 Der Hinweis des Präsidiums des Grundrechtekonvents auf die Menschenwürde (Rn 6) macht deutlich, dass sich aus deren Beachtung Eingriffe in die Kunst- und Wissenschaft rechtfertigen lassen.71 Insofern besteht innerhalb der Kompetenzen der Normadressaten (→ Pünder
64 Vgl EGMR, Urt v 24.5.1988, 10737/84, EuGRZ 1988, 543, §§ 34 ff – Müller; Urt v 20.9.1994, 13470/87, Series A, Nr 295-A, §§ 46 ff – Otto-Preminger-Institut (vgl dazu ausf Grabenwarter, ZaöRV 55 (1995), 128 ff). 65 Vgl Haratsch in: Heselhaus/Nowak, GR, § 29 Rn 19 mwN. Zum Schutz der Bundesflagge BVerfGE 81, 278 ff. 66 Vgl Kleindiek Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, 1998. Vgl a Ruffert, VVDStRL 65 (2006), 146 (193 ff) („Wissenschaftsfreiheit im Risikoverwaltungsrecht“). Zur Bewältigung von Risiken im Vorfeld einer Gefahr iSd Polizei- und Ordnungsrechts Pünder in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 3, § 69 Rn 69 f. 67 Vgl zu den Problemen etwa Ruffert, VVDStRL 65 (2006), 146 (196 ff). 68 Vgl etwa Richtlinie zur Annäherung der Rechts- u Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (RL 86/609, ABl 1986 Nr L 358/1). S a Herrer in: Caspar/Koch, Tierschutz für Versuchstiere – Ein Widerspruch in sich?, 1998, 33 ff. Aus dt Sicht Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 177. 69 Detaillierte Regelungen zum Verhältnis von Forschungsfreiheit und Datenschutz finden sich insbes in Erwägungsgrund 33 der DS-GVO und in den Art 5 I lit b, lit e, 6 II, III, 9 II lit j, 14 V lit b, 17 III lit d, 35, 36 und 89 I, II DS-GVO. Für einen Überblick siehe etwa Geminn, DuD 2018, 640 ff; Molnár-Gábor/ Korbel, ZD 2016, 274 ff; Rossnagel, ZD 2019, 157 ff; Weichert, ZD 2020, 18 ff. 70 ABl 2005 Nr L 75/67. Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 179 AEUV Rn 7, Art 13 GRCh Rn 13 sieht in der konkreten Ausgestaltung allerdings einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. 71 Vgl aus dt Sicht Fehling in: BK GG, 110. Ergänzungslieferung 2004, Art 5 III Rn 166.
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§ 5.2 Rn 3) sogar eine ausdrückliche Schutzpflicht, da nach Art 1 S 2 GRCh die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen“ ist.
Lösung Fall 1: Ermächtigungsgrundlage für das Verbot, die als „Heatballs“ deklarierten Glühlampen zu verkaufen, ist § 7 III S 2 Nr 6 EVPG. Die Norm beruht auf der Haushaltslampen-VO, einer Verordnung iSv Art 288 II AEUV, die die EU zur Energieeinsparung aus Gründen des Umweltschutzes erlassen hat und bei deren Umsetzung die EU-Mitgliedstaaten keinen Spielraum haben. Zu untersuchen ist, ob die Haushaltslampen-VO, die Normierung in § 7 III S 2 Nr 6 EVPG und die darauf fußende Untersagungsverfügung gegen die Kunstfreiheit verstoßen. Dabei ist nicht Art 5 III 1 GG maßgeblich; denn nach der Rechtsprechung des BVerfG kommt eine Prüfung am Maßstab der deutschen Grundrechte nicht in Betracht, solange die EU einen im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.72 Das GG gewährt nur noch insoweit Schutz, als der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung über einen Gestaltungsspielraum verfügt.73 Da dies hier nicht der Fall ist, kommt es allein auf die nach Art 51 I GRCh anwendbare Gewährleistung in Art 13 S 1 GRCh an.
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Fraglich ist allerdings, ob der Vertrieb der „Heatballs“ überhaupt in den Schutzbereich der unionsrechtlichen Kunstfreiheit fällt. Insofern hat das OVG Münster in der dem Fall zugrunde liegenden Entscheidung – allerdings zu Unrecht im Hinblick auf Art 5 III 1 GG – ausgeführt, dass weder „eine freie schöpferische Gestaltung und Eindrucksverarbeitung“ noch „ein unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers“ zu erkennen sei. Dass die Produktbeschreibung satirische Elemente aufweise, mache die Aktion selbst noch nicht zur Kunst. Selbst wenn man dem nicht folgt, wird die E nicht in ihrer Kunstfreiheit verletzt; denn die Freiheit der Kunst wird durch Art 13 S 1 GRCh nicht schrankenlos geschützt. Nach Einschätzung des Präsidiums des Grundrechtekonvents kann die Kunstfreiheit gem Art 52 III GRCh den Einschränkungen unterworfen werden, die sich für die Meinungsfreiheit aus Art 10 II EMRK ergeben, der ausdrücklich ua auf den Umweltschutz verweist (Rn 1). Wenn man das anders sieht, ergibt sich die Grundrechtsschranke aus Art 53 I GRCh, der Grundrechtseinschränkungen zu legitimen Zwecken unter den Voraussetzungen des Übermaßverbotes erlaubt. Nach beiden Auffassungen wäre die Beeinträchtigung der Kunstfreiheit gerechtfertigt. Die Haushaltslampen-VO ist zum Umweltschutz in der EU geeignet und erforderlich. Da dem Umweltschutz ein besonderes Gewicht zukommt, steht der Nachteil der E auch nicht außer Verhältnis zu den von der EU verfolgten Zielen.
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Lösung Fall 2: In der Fall 2 zugrunde liegenden Rs Kley hat der EuGH den Sachverhalt allein nach den Normen des Beamtenstatuts beurteilt und die Klage abgewiesen. Zu Recht wurde vom GA Trabucchi im Schlussantrag allerdings auch auf die Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit hingewiesen. Aus heutiger Sicht wäre Art 13 GRCh einschlägig, da die Forschungsstelle iSd Art 51 I GRCh eine „Einrichtung“ der Union ist. Die veränderte Aufgabenzuweisung beeinträchtigt die Wissenschaftsfreiheit des K. Zu Recht machte der GA aber deutlich, dass sich aus den „praktischen und funktionellen Erfordernissen“ der
72 BVerfGE 102, 147 (162 f); 118, 79 (95). 73 BVerfGE 121, 1 (15); 125, 260 (306 f).
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EURATOM „zwangsläufig Einschränkungen für die Freiheit der wissenschaftlichen Beamten in der Wahl ihrer jeweiligen Tätigkeit und für das Interesse ihrer persönlichen Forschungen ergeben müssen. Ihre Arbeitsstätten sind keine Akademien und haben auch nicht die reine Forschung zum Gegenstand, wie es vielleicht in einem Universitätslaboratorium denkbar ist“. Vor diesem Hintergrund wurde die Wissenschaftsfreiheit des K nicht verletzt.
III. Recht auf Bildung (Art 14 GRCh) Leitentscheidungen: EuGH, Rs 9/74, Slg 1974, 773 ff – Casagrande; Rs 152/82, Slg 1983, 2323 ff – Forcheri; Rs 293/83, Slg 1985, 593 ff – Gravier; Rs 24/86, Slg 1988, 379 ff – Blaizot; Rs 39/86, Slg 1988, 3161 ff – Lair; Rs 197/86, Slg 1988, 3205 ff – Brown; Rs 263/86, Slg 1988, 5365 ff – Humbel; verb Rs 389/87 u 390/ 87, Slg 1989, 723 ff – Echternach u Moritz; Rs 242/87, Slg 1989, 1425 ff – ERASMUS = Erichsen, JK 90, VEWG Art 128/1; Rs 56/86, Slg 1989, I-1615 ff – Petra-Programm; verb Rs C-51/89 u C-90/89 u C-94/89, Slg 1991, I-2757 ff – Comett II; verb Rs C-11/06 u C-12/06, Slg 2007, I-9161 ff – Morgan = Schoch, JK 2008, EGV Art 18/2; Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff – Bressol.
Schrifttum: Bannwart-Maurer Das Recht auf Bildung und das Elternrecht. Art 2. des ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1975; Caspar, Die EU-Charta der Grundrechte und das Bildungsrecht, RdJB 2001, 165 ff; Ennuschat, Organisation der öffentlichen Schule. Trägerschaft, Rechtsform, Alternativmodelle, Die Verwaltung 2012, 331 ff; Glaser, Die Studierfreiheit, Der Staat 2008, 213 ff; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007; Ruhs, Zugang zur Bildung und Gleichbehandlung – der EuGH als Motor der Europäischen Bildungspolitik, ÖJZ 2002, 281.
Fall 3 (gelehnt an EuGH, Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff – Bressol): Der Franzose B will im frankophonen Teil Belgiens Medizin studieren. Dort wurde aber, um den Zustrom französischer Studentinnen und Studenten in medizinischen Bachelor-Studiengänge zu begrenzen, ein Dekret erlassen, wonach an nicht in Belgien ansässige Studierende höchstens 30 % der Studienplätze vergeben werden dürfen. Infolge dieser Quotierung wurde B der Zugang zu dem begehrten Studienplatz verwehrt. Dagegen beschritt er den Rechtsweg. Der belgische Verfassungsgerichtshof hatte Zweifel, ob das Dekret mit dem Unionsrecht vereinbar ist, und rief im Vorlageverfahren gem Art 267 III AEUV den EuGH an.
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1. Schutzbereiche a) Zugang zu Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen (Art 14 I und II GRCh) aa) Schutz in der Grundrechtecharta Art 14 I GRCh gewährt ein Teilhaberecht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Bil- 18 dungs-, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen. Zudem besteht das Recht auf eine freie Wahl zwischen verschiedenen Bildungsarten.74 Der Begriff der „Bildung“ umfasst – in Abgrenzung zu beruflicher Aus- und Weiterbildung – nur den allgemeinen schulischen Unterricht.75 Erfasst wird der Zugang zu Vor-, Primar- und Sekundarschulen.76 Bei der „Ausbildung“ geht es demgegenüber um das, was auf eine berufliche Tätigkeit iSv Art 15 GRCh vorbereitet.77 Dazu gehört nicht nur die Ausbildung im Betrieb und in der Berufsschule („duales System“), sondern auch die universitäre (Grund-)Ausbildung etwa in Bachelor- und Master-Studiengängen, in denen die Studierenden – entgegen dem Humboldt’schen Ideal78 – kaum forschen.79 Anderes gilt für Promotionsstudentinnen und -studenten. Weil hier die Forschung im Vordergrund steht, hat die Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit in Art 13 GRCh Vorrang (Rn 9). Der Begriff „Weiterbildung“ umfasst Schulungen im Rahmen der Berufstätigkeit und die Umschulung auf einen anderen Beruf.80 Es wird dem Umstand Rechnung getragen, dass „lebenslanges Lernen“ ein Gebot unserer Zeit ist. Neben den Aktivitäten des Zugangs zu Bildungseinrichtungen sind auch die Tätigkeiten der Bildungseinrichtungen selbst geschützt, um die Aushöhlung des Zugangsrechts zu verhindern.81 Es liegt wieder ein Doppelgrundrecht vor. Ob Art 14 I GRCh nicht nur ein Teilhaberecht, sondern auch ein Leistungsrecht begründet, auf
74 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 12. 75 Glaser, Der Staat 2008, 213 (234); Jarass GRCh, Art 14 Rn 6 f; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 14 GRCh Rn 3. 76 AA Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 142, der die Schulen des Sekundarbereichs der beruflichen Ausbildung zurechnet. 77 Vgl Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 215; Jarass GRCh, Art 14 Rn 7; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 4. 78 Vgl Wilhelm v Humboldt Ueber die mit dem Koenigsberger Schulwesen vorzunehmende Reformen, 1809, in: Flitner/Giel, Wilhelm von Humboldt – Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, Bd 4, 6. Aufl 2002, S 170: „Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studirende (sic!) nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin.“ 79 Vgl – allerdings ohne Differenzierung hinsichtlich der Art der universitären Studien – Kempen in: Stern/Sachs, GRCh, Art 14 Rn 9; Glaser, Der Staat 2008, 213 (234). 80 Jarass GRCh, Art 14 Rn 7; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 4. 81 Jarass GRCh, Art 14 Rn 8.
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dessen Grundlage staatliche Leistungen – wie etwa die Schaffung weiterer Bildungsstätten – verlangt werden können, ist umstritten. Für berufliche Bildungseinrichtungen ist die Frage zu verneinen, da ausdrücklich nur der „Zugang“ zur Ausund Weiterbildung garantiert wird.82 Für den Schulunterricht legt der Wortlaut der Norm eine Auslegung als Leistungsrecht nahe; denn Art 14 I spricht umfassend von einem „Recht auf Bildung“.83 Daraus ergibt sich die Pflicht der Mitgliedstaaten, schulische Bildungseinrichtungen in ausreichendem Umfang vorzuhalten.84 Bei der Ausgestaltung des eigenen Bildungssystems ist den Mitgliedstaaten jedoch erheblicher Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Nur ein erheblicher Rückschritt hinter den bereits vorhandenen Standard verstieße gegen die Charta.85 19 Eng mit dem in Art 14 I GRCh normierten Recht auf schulische Bildung verbunden ist Art 14 II GRCh, der einen unentgeltlichen Pflichtschulunterricht garantiert. Es wird das in Art 21 GRCh verankerte Diskriminierungsverbot konkretisiert. Verhindert werden soll, dass Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomischen Gründen im Bildungsbereich benachteiligt werden.86 Gewährleistet wird allerdings nicht, dass auch das Unterrichtsmaterial kostenfrei zur Verfügung gestellt wird, solange alle diejenigen, die an dem Pflichtschulunterricht teilnehmen wollen, dies auch können.87 Zudem steht die Gewährleistung einem Schulgeld für Privatschulen nicht entgegen, auch wenn die Einrichtungen als „Ersatzschulen“ Pflichtunterricht anbieten.88 Obwohl Art 14 II GRCh in den Erläuterungen des Präsidiums rechtlich bloß als „Grundsatz“ iSv Art 52 V GRCh qualifiziert wird, liegt ein Grundrecht vor.89 In den Erläuterungen des Präsidiums heißt es dazu, der „Grundsatz“ besage lediglich, „dass in Bezug auf den Pflichtschulunterricht jedes Kind die Möglichkeit haben müsse, eine schulische Einrichtung zu besuchen, die unentgeltlichen Unterricht er-
82 Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 227; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 5. 83 Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 202; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 5; von der Decken in: Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 38. 84 Für ein entsprechendes Leistungsrecht Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 12; Jarass GRCh, Art 14 Rn 3; dag Caspar, RdJB 2001, 165 (168); Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 6. 85 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 12; anders Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 6. 86 S Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 13. 87 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 3. 88 Dies wird in Erläuterung Nr 1 Abs 2 zu Art 14 GRCh des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1 v 18.7.2003, S 17 ausdrücklich hervorgehoben. 89 Ebenso etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 3; Jarass GRCh, Art 14 Rn 3. Hermann Pünder
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teilt.“90 Dass der Union daraus keine neuen Kompetenzen erwachsen, ergibt sich bereits aus Art 51 II GRCh. Grundrechtsträger sind alle Bildungswilligen ohne Rücksicht auf die Staats- 20 angehörigkeit („jede Person“). Ob neben den Schulkindern auch deren Eltern legitimiert sind, wird bezweifelt.91 Das in Art 14 III GRCh gewährleistete Elternrecht spricht allerdings dafür. Jedenfalls können die Sorgeberechtigten – wenn nötig – die Rechte der Kinder prozessual geltend machen.92 Grundrechtsadressaten sind nach Art 51 I GRCh die Organe und Einrichtungen der Union – etwa auch die „Europäischen Schulen“ oder das „Europäische Hochschulinstitut“ in Florenz93 – und die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts (Rn 3). Keine Bindung an Art 14 GRCh besteht, wenn die Mitgliedstaaten außerhalb des Unionrechts rein innerstaatliche Regelungen treffen. An private Bildungseinrichtungen richtet sich Art 14 I und II GRCh nicht.94 Ihnen gegenüber kann es jedoch über eine chartakonforme Auslegung der Privatrechtsvorschriften zu einer mittelbaren Drittwirkung der grundrechtlichen Gewährleistung kommen.95 Aus willkürlichen Gründen darf auch der Zugang zu privaten Bildungseinrichtungen nicht verwehrt werden. Im Übrigen ist aufgrund der Schutzpflicht auch zu verhindern, dass Eltern selbst die Bildungsrechte ihrer Kinder vereiteln (Rn 29).96
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Das Unionsrecht belässt gem Art 165 I und 166 I AEUV den Mitgliedstaaten die Zu- 21 ständigkeit zur Ausgestaltung ihrer Bildungssysteme. Dass sie dabei die Grundfreiheit der Freizügigkeit und die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote zu beachten haben, hat der EuGH vielfach hervorgehoben.97 Das nunmehr ausdrücklich in Art 14 I GRCh verankerte Grundrecht auf Zugang zu Bildungs-, Ausbildungs-
90 Erläuterung Nr 1 Abs 2 zu Art 14 GRCh des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1 v 18.7.2003, S 17. 91 Gegen einen eigenständigen Schutz der Eltern aus Art 14 I, II GRCh Jarass GRCh, Art 14 Rn 9; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 6. Dafür Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 16. 92 Jarass GRCh, Art 14 Rn 9. 93 Vgl Caspar, RdJB 2001, 165 (179). 94 Jarass GRCh, Art 14 Rn 4; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 8. 95 Caspar, RdJB 2001, 165 (168 f); Jarass GRCh, Art 14 Rn 4. 96 Vgl Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 16, 19; Caspar, RdJB 2001, 165 (173). 97 Zuletzt EuGH, Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735, Rn 28 – Bressol; s a Glaser, Der Staat 2008, 213 (234 ff); Sasse, VerwArch 104 (2013), 237 (254 ff). Zur Entwicklung der Bildungskompetenzen der Union und zur Rolle des EuGH als Motor europäischer Bildungspolitik Ruhs, ÖJZ 2002, 281 ff.
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und Weiterbildungseinrichtungen wird durch die Rechtsprechung verstärkt. Schon im Jahr 1974 entschied der Gerichtshof in der Rs Casagrande, dass der (sekundärrechtlich normierte) Anspruch von Kindern von Wanderarbeitnehmern, diskriminierungsfrei am Schulunterricht des Gastlandes teilzunehmen, sich auch auf Ausbildungsförderungsmaßnahmen erstreckt, obwohl der Gemeinschaft keine Zuständigkeit für die Bildungspolitik zukommt.98 In der Rs Forcheri wurde betont, dass der Zugang zu Bildungsveranstaltungen, die der Berufsausbildung dienen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.99 Dass auch Hochschulstudiengänge trotz ihrer akademischen Ausrichtung zur „beruflichen Bildung“ (Art 166 AEUV, früher: Art 128 EWGV, dann Art 150 EGV-Nizza) gehören, stellte der Gerichtshof in der Rs Blaizot klar.100 Dies muss auch für die grundrechtliche Verbürgung in Art 14 I GRCh gelten (Rn 17). In der Rs Echternach und Moritz machte der EuGH deutlich, dass sich das Diskriminierungsverbot auf „jede Form von Unterricht sowohl berufs- als auch allgemeinbildender Art“ erstreckt.101 22 In vielen Fällen ging es um den Zugang zu wissenschaftlichen Hochschulen. Dass es auch insofern nicht zu Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit kommen darf, ließ sich bereits der Entscheidung in der Rs Gravier aus dem Jahr 1985 entnehmen. Der EuGH stellte fest, dass eine Französin, die in Belgien ein Kunststudium absolvieren wollte und dafür Studiengebühren zahlen sollte, nicht schlechter gestellt werden durfte als belgische Studierende, die keine Studiengebühren zu zahlen hatten.102 In ähnlich gelagerten Fällen sah der EuGH in Zulassungsvoraussetzungen einen Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot. So wurde in Österreich von Bewerbern, die ihren Sekundarschulabschluss in einem anderen Mitgliedstaat erworben hatten, gefordert, dass sie auch die dortigen Zulassungsvoraussetzungen für den Studiengang erfüllen. Der EuGH erklärte, dass diese zusätzliche Bewerbungsvoraussetzung Interessenten aus anderen Mitgliedstaaten mittelbar gegenüber österreichischen Bewerbern diskriminiere, die ledig-
98 EuGH, Rs 9/74, Slg 1974, 773, Rn 6 – Casagrande; in seinen Urteilen Rs 39/86, Slg 1988, 3161 ff – Lair u Rs 197/86, Slg 1988, 3205 ff – Brown nahm der EuGH dies a für die Studienförderung an. 99 EuGH, Rs 152/82, Slg 1983, 2323, Rn 17 f – Forcheri. 100 EuGH, Rs 24/86, Slg 1988, 379, Rn 20 – Blaizot. Diese Rechtsprechung bestätigte der Gerichtshof a in den Urteilen Rs 39/86, Slg 1988, 3161 ff – Lair; Rs 197/86, Slg 1988, 3205 ff – Brown. 101 EuGH, verb Rs 389/87 u 390/87, Slg 1989, 723, Rn 29 – Echternach u Moritz. 102 EuGH, Rs 293/83, Slg 1985, 593, Rn 26 – Gravier. Vgl zur Arbeitnehmerfreizügigkeit a EuGH, Rs 9/ 74, Slg 1974, 773 ff – Casagrande; Rs 33/88, Slg 1989, 1591 ff – Allué ua; verb Rs C-259/91 u C-331/91 u C332/91, Slg 1993, I-4309 ff – Allué ua; Rs C-272/92, Slg 1993, I-5185 ff – Spotti; Rs C-162/00, Slg 2002, I1049 ff – Land NRW; Rs, C-40/05, Slg 2007, I-99 ff – Lyyski; vgl zur Dienstleistungsfreiheit EuGH, Rs C-281/06, Slg 2007, I-12231 ff – Jundt. Aus der Lit s etwa Fink, EuGRZ 2001, 193 (192 ff); Hailbronner/Weber, WissR 30 (1997), 298 (309 ff); Weberling, WissR 24 (1991), 123 (126 ff).
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lich die allgemeine Hochschulreife nachweisen müssen.103 Schließlich betonte der EuGH in der Rs Bressol, dass das Diskriminierungsverbot und das Recht auf Freizügigkeit einer an den Wohnort anknüpfenden Zulassungsbeschränkungsregelung zu Medizinstudiengängen entgegenstehen kann (Rn 16, 30, Fall 3).104 In der Rs Morgan beschäftigte sich der Gerichtshof mit den früheren deutschen 23 BAföG-Bestimmungen zur Ausbildungsförderung im Ausland. Nach dem damaligen Recht kam eine Unterstützung nur in Betracht, wenn die Ausbildung im Ausland die Fortsetzung einer mindestens einjährigen Ausbildung im Herkunftsstaat war. Der EuGH entschied 2007, dass diese Freizügigkeitsbeschränkung nicht durch das an sich legitime Ziel der Integration des Empfängers der Ausbildungsbeihilfen in die Gesellschaft des fördernden Staates gerechtfertigt sei, da zur Erreichung dieses Zieles mildere Mittel zur Verfügung stünden.105 Im Übrigen hat der EuGH mehrfach bestätigt, dass die Union Maßnahmen zur Förderung einer gemeinsamen Bildungspolitik (vgl heute Art 166 AEUV) – wie etwa das ERASMUS-Programm für Studierende oder das PETRA-Programm für die Berufsbildung – durchführen darf.106 Anlass zur unmittelbaren Berücksichtigung von Art 14 I GRCh bot die Entscheidung des Gerichtshof in der Rs Renckhoff.107 Dabei ging es um die Frage, ob ein Fotograf, dessen Bild sich auf einer öffentlich zugänglichen Website befand, aufgrund seines Urheberrechts der Verwendung des Fotos in einem Schülerreferat auf der Homepage einer Schule widersprechen kann. Der Generalanwalt Sánchez-Bordona hatte in seinem Schlussantrag dafür plädiert, bei der Auslegung der einschlägigen Richtlinie 2001/29, ABl 2001 Nr L 167/10, nicht nur eine Abwägung zwischen dem Recht am geistigen Eigentum (Art 17 II GRCh) und der Meinungs- und Informationsfreiheit der Internetnutzer (Art 11 GRCh) vorzunehmen, sondern auch das Recht auf Bildung der betreffenden Schüler miteinzubeziehen.108 Dem ist der EuGH jedoch nicht gefolgt.109
103 EuGH, Rs C-147/03, Slg 2005, I-5969, Rn 41 ff – Kommission/Österreich = Ehlers, JK 2006, EGV Art 12 I, Art 149/3. Vgl zu Belgien Rs C-65/03, Slg 2004, I-6427, Rn 31 – Kommission/Belgien. 104 EuGH, Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff – Bressol. 105 EuGH, verb Rs C-11/06 u C-12/06, Slg 2007, I-9161 ff – Morgan = Schoch, JK 2008, EGV Art 18/2. 106 EuGH, Rs 242/87, Slg 1989, 1425, Rn 21, 24 – Erasmus = Erichsen, JK 90, VEWG Art 128/1; Rs 56/86, Slg 1989, I-1615 ff – Petra; verb Rs C-51/89 u C-90/89 u C-94/89, Slg 1991, I-2757 ff – Comett II. 107 EuGH Urt v 7.8.2018, Rs C-161/17, EuZW 2018, 819 ff – Renckhoff. 108 Schlussantrag GA Sánchez-Bordona, EuGH, Urt v 7.8.2018, Rs C-161/17, BeckRS 2018, 6238, Rn 79, 113 ff. 109 EuGH Urt v 7.8.2018, Rs C-161/17, EuZW 2018, 819, Rn 42 – Renckhoff.
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b) Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten 24 Art 14 III HS 1 GRCh gewährleistet als lex specialis zur allgemeinen „unternehmerischen Freiheit“ in Art 16 GRCh und ergänzend zur grenzüberschreitenden Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art 49 und 56 AEUV) das Recht zur Gründung privater „Lehranstalten“.110 Zwar ist diese Freiheit in Art 2 1. ZP EMRK nicht normiert, die Gewährleistung wird jedoch verbreitet aus dem dort verbürgten Recht auf Bildung abgeleitet.111 Art 14 III HS 1 GRCh schützt über seinen Wortlaut hinaus auch den Betrieb der Lehranstalten, da die Privatschulfreiheit sonst ein nudum ius werden könnte.112 Ob die Vorschrift nur Privatschulen betrifft oder auch private Hochschulen umfasst, lässt sich den Erläuterungen des Präsidiums nicht entnehmen. Der systematische Zusammenhang mit der von Art 14 I GRCh geschützten „beruflichen Ausbildung“, die auch die Hochschulebene erfasst (Rn 9, 17), spricht dafür, auch private Hochschulen als „Lehranstalten“ iSd Art 14 III HS 1 GRCh anzusehen.113 Wenn man dem nicht folgt, ergibt sich der Schutz für die Gründung und den Betrieb privater Hochschulen aus der Anerkennung der unternehmerischen Freiheit in Art 16 GRCh.114 Sofern es sich um wissenschaftliche Hochschulen handelt, ist zudem die Wissenschaftsfreiheit einschlägig, die sich – wie gesehen (Rn 8) – nicht auf staatliche Institutionen beschränkt.
c) Erziehungs- und unterrichtsbezogenes Elternrecht 25 Art 14 III HS 2 GRCh garantiert – Art 2 S 2 1. ZP EMRK folgend – das Recht der El-
tern, „die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen“. Nach dem EGMR, dessen Entscheidungen gem Art 51 III GRCh auch für die Auslegung von Art 14 III HS 2 GRCh Bedeutung haben, umfasst die „Erziehung“ den gesamten Prozess, „durch den in einer Gesellschaft die Erwachsenen ihre Überzeugungen, Kultur und andere Werte an die Jugend weiterzugeben sich bemühen“, während der „Unterricht“ sich „auf die Vermittlung von Wissen und auf die gei-
110 Erläuterung Nr 2 zu Art 14 GRCh des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1 v 18.7.2003, S 17. 111 Ennuschat, Die Verwaltung 2012, 331 (335); Grabenwarter/Pabel EMRK, § 22 Rn 99 mwN. AA Bannwart-Maurer Das Recht auf Bildung und das Elternrecht. Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1975, S 124, die von der Zulässigkeit eines staatlichen Schulmonopols ausgeht. 112 Vgl Jarass GRCh, Art 14 Rn 21; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 12. 113 Für ein weites Begriffsverständnis Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 257; für eine Begrenzung auf Schulen Bernsdorff in: Meyer/ Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 18 iVm Fn 45. 114 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 11. Hermann Pünder
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stige Entfaltung bezieht“.115 Das in Art 14 III HS 2 GRCh garantierte Elternrecht ist allerdings mit Blick auf die in Art 24 GRCh normierten Rechte des Kindes auszulegen und tritt mit zunehmendem Alter des Kindes zugunsten des eigenen Selbstbestimmungsrechts zurück.116 Folglich wird die Grundrechtsgewährleistung zugunsten der Eltern vornehmlich im Bereich der Schulbildung relevant. Zudem darf die Ausübung des Elternrechts dem in Art 14 I GRCh verankerten Recht des Kindes auf Bildung nicht widersprechen (Rn 19).117 Art 14 III HS 2 GRCh gewährt den Eltern ausdrücklich nicht nur ein außerschulisches Erziehungsrecht, sondern auch ein unterrichtsbezogenes Recht hinsichtlich ihrer religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen. Insoweit ist die Vorschrift lex specialis zu den in Art 10 GRCh gewährleisteten Freiheiten.118 Der Begriff der „weltanschaulichen Überzeugung“ umfasst nach der Rechtsprechung des EGMR jede Einstellung, die „in einer demokratischen Gesellschaft Achtung verdient“ und ein „gewisses Maß an Verbindlichkeit, Ernsthaftigkeit und Schlüssigkeit“ aufweist.119 Auch hat der EGMR klargestellt, dass die Überzeugungen der Eltern im gesamten Unterricht – also nicht nur im Religions-, sondern etwa auch im Sexualkundeunterricht als Teil der naturwissenschaftlichen schulischen Ausbildung – zu achten sind.120
2. Beeinträchtigungen der Schutzbereiche Hinsichtlich der möglichen Beeinträchtigungen der Rechte aus Art 14 GRCh gibt es 26 wieder keine Besonderheiten. Es gilt ein weiter Eingriffsbegriff. Das von Art 14 I GRCh gewährleistete Recht auf Bildung wird beeinträchtigt, wenn einem Grundrechtsträger der Zugang zu den in den Schutzbereich fallenden und von Grundrechtsadressaten nach Art 51 I GRCh unterhaltenen Bildungseinrichtungen verwehrt wird.121 Allerdings darf der Zugang von diskriminierungsfreien Kriterien wie der persönlichen und fachlichen Eignung und entsprechenden Qualifikationen
115 EGMR, Urt v 25.2.1982, 7511/76 u 7743/76, § 32 – Campbell u Cosans. 116 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 19; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 15. 117 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 19. 118 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 15. 119 EGMR, Urt v 25.2.1982, 7511/76 u 7743/76, § 36 – Campbell u Cosans; Urt v 18.12.1996, 21787/93 u 74/ 1995/580/666, RJD 1996-VI, 2312 ff § 25 – Valsamis. 120 EGMR, Urt v 29.6.2007, 15472/02, NVwZ 2008, 1217 (1218) § 84 – Folgerø ua; Urt v 7.12.1976, 5095/71 u 5920/72 u 5926/72 – Kjeldsen, Busk Madsen u Pedersen. 121 Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 202; Jarass GRCh, Art 14 Rn 10.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
abhängig gemacht werden.122 Auch Disziplinar- und andere pädagogische Maßnahmen – wie etwa der zeitweilige oder endgültige Ausschluss vom Unterricht123, die Entscheidung über die Nichtversetzung in die nächste Klasse oder die Überweisung behinderter Schülerinnen und Schüler in Sonderschulen mit speziellen pädagogischen Betreuungsmöglichkeiten – stellen Beeinträchtigungen des Rechts auf Bildung dar, die jedoch gerechtfertigt sein können.124 Zudem wird in das Grundrecht auf Bildung eingegriffen, wenn absolvierte Studien nicht anerkannt werden.125 Schließlich kann nach hier vertretener Auffassung auch die Nichtgewährleistung ausreichender unentgeltlicher Pflichtschulunterrichtsplätze eine Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art 14 II GRCh bedeuten (Rn 18). Allerdings verfügt die Union insofern über keine einschlägigen Rechtsetzungskompetenzen, so dass die Vorschrift allenfalls in Zukunft praktisch anwendbar werden könnte. 27 Beeinträchtigungen der in Art 14 III gewährleisteten Rechte durch Organe der Union oder die Mitgliedstaaten beim Vollzug von Unionsrecht sind nach der derzeitigen Kompetenzverteilung schwer vorstellbar.126 Die in Art 14 III HS 1 GRCh garantierte Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten kann durch Verbote oder Beschränkungen beeinträchtigt werden.127 Insbesondere wäre ein staatliches Schulmonopol als Eingriff zu werten. Das Unterlassen staatlicher Förderung von Privatschulen stellt demgegenüber keinen Eingriff dar, da sich aus der Privatschulfreiheit kein Anspruch auf finanzielle Unterstützung ableiten lässt.128 Mit Beeinträchtigungen des Elternrechts aus Art 2 ZP 1 EMRK hat sich der EGMR mehrfach befasst. So greift ein Schulverweis aufgrund der Weigerung der Eltern, körperliche Züchtigungen als Disziplinarmaßnahmen hinzunehmen, nicht nur in das Recht auf Bildung des Kindes, sondern auch in das Erziehungsrecht der Eltern ein.129 Ferner fällt die Gestaltung des schulischen Umfelds in den Schutzbereich des Erziehungsrechts. Das Anbringen eines Kruzifixes im Klassenzimmer sah der EGMR in der Rs Lautsi ua/
122 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 7. Zum dt Hochschulrecht Geis in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 3, § 85 Rn 55, 57 ff. 123 Hierzu etwa EGMR, Urt v 10.11.2005, 44774/98, NVwZ 2006, 1389 ff – Sahin; Urt v 25.2.1982, 7511/76 u 7743/76, § 41 – Campbell u Cosans. 124 Vgl Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 202 ff; zu Art 2 ZP 1 EMRK Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 ZP I Rn 17. 125 EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62 ua– Belgischer Sprachenfall; Jarass GRCh, Art 14 Rn 10. 126 Vgl von der Decken in: Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 45. 127 Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 276 f, Jarass GRCh, Art 14 Rn 23. 128 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 19; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 276; Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 8. 129 EGMR, Urt v 25.2.1982, 7511/76 u 7743/76,– Campbell u Cosans.
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Italien jedoch nicht als Eingriff in die Rechte der Eltern an, da nicht davon auszugehen sei, dass die Zurschaustellung eines religiösen Symbols die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Kinder beeinflusse. Allein die subjektive Empfindung der Eltern reiche nicht aus.130 Darüber hinaus wurde vom EGMR hervorgehoben, dass die Vermittlung von Informationen religiöser oder weltanschaulicher Natur nicht als Eingriff in das unterrichtsbezogene Erziehungsrecht der Eltern zu werten ist, sofern die Informationen sachlich, kritisch und pluralistisch weitergegeben werden.131 Das Erziehungsrecht gebe den Eltern nicht den Anspruch auf Befreiung ihrer Kinder von einem solchen Unterricht.132 Werden die Kriterien für die Informationsvermittlung jedoch nicht erfüllt, müsse eine angemessene Befreiungsmöglichkeit geschaffen werden.133 Schließlich werde das Erziehungsrecht verletzt, wenn der Staat in seinem Unterricht eine Indoktrinierungsabsicht verfolgt.134
3. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen Die Regelungen zum Recht auf Bildung in Art 14 I und II GRCh enthalten keine aus- 28 drücklich normierten Schranken. Soweit Art 14 GRCh über die EMRK hinaus geht – dh im Hinblick auf die berufliche Aus- und Weiterbildung und den unentgeltlichen Pflichtschulunterricht (Rn 2) – gilt die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 I GRCh.135 Hinsichtlich des Rechts auf Schulbildung sind über Art 52 III GRCh die bei Art 2 S 1 ZP 1 EMRK anerkannten Schranken heranzuziehen.136 Zwar ist das
130 EGMR, Urt v 18.3.2011, 30814/06, NVwZ 2011, 737 (740) § 66 – Lautsi = Ehlers, JK 2011, EMRKZusProt Art 2/2. 131 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71 u 5920/72 u 5926/72, § 53 – Kjeldsen, Busk Madsen u Pedersen; Urt v 29.6.2007, 15472/02, NVwZ 2008, 1217 (1218) § 84 – Folgerø ua; Urt v 16.9.2014, 21163/1, NVwZ 2015, 1585 (1587 f) § 71, 75 – Mansur Yalçin. Zu Deutschland Schefold, RdJB 1996, 309 ff. 132 EGMR, Urt v 11.9.2006, 35504/03, BeckRS 2008, 06621 – Konrad ua; Urt v 29.6.2007, 15472/02, NVwZ 2008, 1217 (1218 f), § 84 – Folgerø ua; Urt v 6.10.2009, 45216/07, NVwZ 2010, 1353 (1354) – Appel-Irrgang ua. 133 EGMR, Urt v 9.10.2007, 1448/04, NVwZ 2008, 1327 (1329), §§ 70 ff – Hasan u Eylem Zengin; Urt v 16.9.2014, 21163/11, NVwZ 2015, 1585 (1588) §§ 76 f – Mansur Yalçin. 134 EGMR, Urt v 7.12.1976, 5095/71 u 5920/72 u 5926/72, § 53 – Kjeldsen, Busk Madsen u Pedersen; Urt v 29.6.2007, 15472/02, NVwZ 2008, 1217 (1218) §§ 84, 85 – Folgerø ua; Urt v 16.9.2014, 21163/11, NVwZ 2015, 1585 (1586 f) § 64 – Mansur Yalçin. 135 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 15; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 245. 136 Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 205. AA Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 9, der Art 52 I GRCh auf sämtliche Gewährleistungen des Art 14 GRCh anwenden will. Für eine kumulative Anwendung von Art 52 I und III GRCh Jarass GRCh, Art 14 Rn 14.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Recht auf Schulbildung auch im 1. Zusatzprotokoll zur EMRK dem Wortlaut nach vorbehaltlos garantiert, jedoch hat der EGMR zutreffend hervorgehoben, dass das Recht „schon seiner Natur nach eine Regelung durch den Staat“ verlangt.137 Dabei bedarf es einer gesetzlichen Normierung, die ein berechtigtes Ziel verfolgt. Anders als bei Art 8 bis 11 EMRK enthält Art 2 S 1 ZP 1 EMRK keine Aufzählung der Ziele, die eine Beeinträchtigung der Grundrechte rechtfertigen können. Es reicht aus, dass die verfolgten Ziele im öffentlichen Interesse liegen und in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sind.138 Die das Recht auf Bildung einschränkenden Mittel müssen verhältnismäßig sein.139 Daraus folgt, dass kein milderes Mittel zur Verfügung stehen darf und die Einschränkung im Hinblick auf den verfolgten Zweck angemessen sein muss.140 In der Rs Sahin/Türkei wurde eine Studentin von universitären Lehrveranstaltungen ausgeschlossen, weil sie ein Kopftuch trug. Der EGMR betonte, dass das Recht auf Bildung zum Zwecke der Wahrung des säkularen Charakters der Universität in einem laizistischen Staat zulässigerweise eingeschränkt werden dürfe. Der Ausschluss vom Unterricht sei verhältnismäßig gewesen.141 29 Für die in Art 14 III HS 1 GRCh gewährleistete Freiheit zur Gründung privater Lehranstalten gilt, da es an einer Art 52 III GRCh entsprechenden Garantie in der EMRK fehlt, wieder die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 I GRCh.142 Darüber hinaus steht die Freiheit gem Art 14 III HS 1 GRCh unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der „Achtung der demokratischen Grundsätze“ und der „einzelstaatlichen Gesetze, welche ihre Ausübung regeln“. Dabei handelt es sich nicht um Schutzbereichsbegrenzungen, sondern um zusätzliche spezifische Schrankenbestimmungen.143 Der Verweis auf die einzelstaatlichen Gesetze enthält einen Ausgestaltungs- und Regelungsvorbehalt und eröffnet den Mitgliedstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum. Allerdings können sich aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gem Art 52 IV GRCh weitere Anforderungen für die
137 EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62 ua – Belgischer Sprachenfall; siehe etwa a EGMR, Urt v 10.11.2005, 44774/98, NVwZ 2006, 1389 § 154 –Sahin mwN. 138 Bitter in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 2 ZP I Rn 20; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 205 f. 139 EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62 ua49 – Belgischer Sprachenfall; Urt v 10.11.2005, 44774/98, NVwZ 2006, 1389 §§ 154–159 – Sahin mwN; Urt v 10.1.2017, 29086/12, NVwZ-RR 2018, 505 §§ 95 ff – Osmanoğlu u. Kocabaş. 140 Jarass GRCh, Art 14 Rn 15. 141 EGMR, Urt v 10.11.2005, 44774/98, NVwZ 2006, 1389 (1396) §§ 158 ff – Sahin. 142 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 20; Jarass GRCh, Art 14 Rn 24; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 14; aA aber von der Decken in: Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 47. 143 Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 291; Jarass GRCh, Art 14 Rn 26; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 76.
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Rechtfertigung von Eingriffen in die Privatschulfreiheit ergeben.144 Zudem müssen die einschränkenden Regelungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.145 Da das erziehungs- und unterrichtsbezogene Elternrecht aus Art 14 III HS 2 30 GRCh in seiner Bedeutung und Tragweite Art 2 S 2 ZP 1 EMRK entspricht (Rn 2), gelten nach Art 52 III GRCh zunächst die dort anerkannten Schranken.146 In der Rechtsprechung des EGMR ist anerkannt, dass das Erziehungsrecht der Eltern mit dem eigenen Recht des Kindes auf Bildung in Einklang gebracht werden muss. Das – ohnehin vorwiegend fremdnützige147 – Elternrecht wird mit zunehmendem Alter und Reifegrad des Kindes eingeschränkt. Zudem sind nur diejenigen Überzeugungen der Eltern zu achten, die nicht im Widerspruch zu dem Recht des Kindes auf Bildung stehen (Rn 19, 24). Dementsprechend sah der EGMR das mit der Schulpflicht verbundene Verbot von Heimunterricht („home schooling“) in Deutschland mit dem Ziel der Integration der Kinder in die Gesellschaft als gerechtfertigt an.148 Zudem wurde entschieden, dass der obligatorische Ethik-Unterricht in Berlin nicht gegen das elterliche Erziehungsrecht verstößt.149 Auch die Verpflichtung zur Teilnahme am gemeinsamen Schwimmunterricht von Mädchen und Jungen sah der Gerichtshof als verhältnismäßig an.150 Dem Schulunterricht dürfe aufgrund seiner hohen Bedeutung für die soziale Integration der Kinder Vorrang vor dem Wunsch muslimischer Eltern eingeräumt werden, ihre Töchter vom Schwimmunterricht zu befreien. Eine teilweise Entziehung des Sorgerechts ist gerechtfertigt, wenn es aus religiösen Gründen zu einer erniedrigenden körperlichen Züchtigung von Kindern kommt.151 Bei der Festlegung und Auslegung der Regelungen des eigenen Bildungssystems haben die Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum.152 Das Elternrecht wird jedoch wegen Art 52 III GRCh nur insoweit zur Disposition der Mitgliedstaaten gestellt, als das Schutzniveau über das in Art 2 ZP 1 EMRK garantierte Niveau angehoben wird. Eine Absenkung des Gewährleistungsumfangs ist nicht möglich.153
144 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 20; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 287 ff. 145 Jarass GRCh, Art 14 Rn 25. 146 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 20; Günther Die Auslegung des Rechts auf Bildung in der europäischen Grundrechtsordnung, 2007, S 316. 147 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 15. 148 EGMR, Urt v 11.9.2006, 35504/03, BeckRS 2008, 06621 – Konrad ua. 149 EGMR, Urt v 6.10.2009, 45216/07, NVwZ 2010, 1353 (1354) – Appel-Irrgang ua. 150 EGMR, Urt v 10.1.2017, 29086/12, NVwZ-RR 2018, 505, §§ 95 ff – Osmanoğlu u Kocabaş. 151 EGMR, Urt v 22.3.2018, 68125/14 u 72204/14, NJW 2019, 1733, §§ 84 ff – Wetjen ua. 152 EGMR, Urt v 11.9.2006, 35504/03, BeckRS 2008, 06621 – Konrad; so a EGMR, Urt v 13.9.2011, 319/08, juris § 76 – Dojan. 153 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 14 Rn 20; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 GRCh Rn 16.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Lösung Fall 3: In der Fall 3 zugrunde liegenden Rs Bressol hat der EuGH nur geprüft, ob das belgische Dekret gegen das Freizügigkeitsrecht gem Art 21 AEUV und das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art 18 AEUV verstößt. Wenn man die großzügige Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Anwendungsbereich der GRCh zugrunde legt (Rn 3), wäre allerdings auch das nun in Art 14 I GRCh garantierte Teilhaberecht auf diskriminierungsfreien Zugang zur Universitätsausbildung zu untersuchen gewesen, da die innerstaatlichen Regelungen wegen Art 165 II AEUV, der die Förderung der Mobilität der Lernenden zum Ziel der Union erklärt, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen. Das vom EuGH Ausgeführte gilt aber auch im Hinblick auf Art 14 I GRCh. Die belgische Regelung bewirkt eine Ungleichbehandlung, da das Erfordernis der Ansässigkeit von inländischen Studieninteressierten leichter erfüllt wird als von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die typischerweise nicht in Belgien wohnen. Die mittelbare Diskriminierung könnte aber durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt sein. Zu Recht hat der EuGH festgestellt, dass dies nur dann der Fall ist, wenn das belgische Dekret geeignet ist, die Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Heimatstaat wurde vom Gerichtshof als legitimes Ziel anerkannt. Der Gesundheitsschutz sei ein hohes Gut und die Mitgliedstaaten hätten insofern einen besonderen Einschätzungsspielraum. Ob der Gesundheitsschutz die getroffene Regelung tatsächlich rechtfertigt, ließ der EuGH offen. Er verwies insofern auf die Zuständigkeit des nationalen Gerichts. Zu prüfen sei, ob der Schutz der öffentlichen Gesundheit wirklich durch eine etwaige Verringerung der Qualität der Ausbildung oder einen Mangel an ausgebildeten Ärzten in dem betreffenden Gebiet gefährdet wird. Zudem müsse untersucht werden, ob die Maßnahme zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung geeignet ist. Dabei sei ua an den Verbleib von Zugezogenen in dem Gebiet und an die Möglichkeit des Wegzugs von Einheimischen zu denken. Schließlich müsse die Angemessenheit der Maßnahme geprüft werden, wobei ua Alternativen zum Losverfahren in Erwägung zu ziehen seien.
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§ 8 Soziale Grundrechte und Solidarität § 8.1 Soziale Grundrechte und Solidarität in EMRK und Europäischer Sozialcharta Schrifttum: Altwicker Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2010; Dröge Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2003; Eichenhofer Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, 2021; Frohwerk Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, 2012; Kingreen Zur Reichweite des Diskriminierungsverbots in Art. E der Revidierten Europäischen Sozialcharta, Soziales Recht 2020, 68; Lörcher Der EGMR und die sozialen Menschenrechte am Beispiel des Béláné Nagy-Urteils zu einer Invaliditätsrente, ZESAR 2015, 265; Knospe Per Aspera ad astra oder der lange Marsch der Europäischen Sozialcharta durch die Institutionen der Revision, ZESAR 2015, 449; Nußberger Sozialstandards im Völkerrecht, 2005; Schmahl/Winkler Schutz vor Armut in der EMRK?, AVR 48 (2010), 405; Schmidt Europäische Menschenrechtskonvention und Sozialrecht, 2003.
I. Einführung Soziale Grundrechte sind eine mittlerweile etablierte, namentlich auch durch die 1 Europäische Grundrechtecharta (Art 27–36 GRCh) anerkannte Kategorie des internationalen Menschenrechtsschutzes. Sie haben aber verfassungspolitisch und dogmatisch nach wie vor einen schweren Stand (→ Kingreen § 8.2 Rn 10 ff). In der Tradition der U.S.-amerikanischen und der französischen Verfassungen des 18. und 19. Jahrhunderts garantieren die zeitgenössischen Staatsverfassungen allerdings vor allem Freiheitsrechte, die Schutz gegen staatliche Übergriffe gewährleisten. Der Staat erscheint hier als Gefährder und nicht als (sozialpolitischer) Garant der Freiheit. Im internationalen Menschenrechtsschutz spricht man insoweit von Menschenrechten der ersten Generation. Namentlich das Grundgesetz garantiert vor allem Freiheitsrechte, in die der Staat nach dem klassischen abwehrrechtlichen Verständnis nur eingreifen darf, wenn es dafür einen rechtfertigenden Grund gibt.1 Schon bei den Gleichheitsrechten sind die staatlichen Verfassungen traditionellerweise weniger stark ausdifferenziert als bei den Freiheitsrechten; das Grundgesetz komprimiert sie im Wesentlichen in einer Vorschrift (Art 3 GG) und enthält im Übrigen nur noch einzelne verstreute Garantien, insbesondere zur politischen Gleichheit. Diese Zurückhaltung bei der Garantie von Gleichheitsrechten – in die U.S.-amerikanische Verfassung ist eine Gleichheitsgarantie erst 1870, also nach dem
1 Kingreen/Poscher Grundrechte, 38. Aufl 2022, Rn 285 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
formalen Ende der Sklaverei, aufgenommen worden (IV. Amendment) – hängt historisch mit der Befürchtung zusammen, dass sie historische Privilegien in Frage stellen und damit sozial nivellierend wirken könnten.2 Letztlich gewährleisten sie aber nur individuelle Rechtsgleichheit, ohne aber die soziale Systemfrage zu adressieren, deren Beantwortung dem politischen Prozess überlassen werden soll. Dementsprechend waren und sind alle im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen europäischen Verfassungen zurückhaltend bei der Gewährleistung sozialer Grundrechte, die man als Schutznormen gegen strukturell verfestigte, nicht an einer einzelnen Maßnahme festzumachende systemische Ungleichheiten in der Gesellschaft in Ansatz bringen könnte. Soziale Leistungsrechte in den staatlichen Verfassungen konzentrierten sich daher historisch im Wesentlichen auf Ansprüche auf schulische Bildung.3 2 Die vor allem auf die Gewährleistung von Freiheitsrechten fokussierte Entwicklung der staatlichen Grundrechtskataloge erklärt, dass auch die Europäische Menschenrechtskonvention keine sozialen Grundrechte enthält.4 Allerdings wurden nach 1945 zunächst auf internationaler Ebene Menschenrechtspakte vereinbart, die die Notwendigkeit eines grundrechtlichen sozialen Schutzes deutlicher als zuvor adressierten.5 Besondere Hervorhebung verdient insoweit die Europäische Sozialcharta (ESC). Die ESC ist am 18.10.1961 von der Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarats als völkerrechtlicher Vertrag vereinbart worden und am 26.02.1965 in Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland hat sie am 27.01.1965 ratifiziert,6 wobei fünf arbeitsrechtliche Bestimmungen von der Ratifikation ausgenommen wurden. Die ESC enthält in ihren Art 1–19 insbesondere arbeitsrechtliche Schutzverpflichtungen der Vertragsstaaten sowie Rechte auf soziale Sicherheit und Fürsorge; besonders hervorgehoben werden zudem die Notwendigkeit des Schutzes von Menschen mit Behinderung und von Familien sowie der grenzüberschreitenden Erwerbstätigkeit. Die Bestimmungen begründen keine individuellen Rechte. Es gibt lediglich einen politischen Überprüfungsmechanismus in Gestalt eines Berichtsprüfungsverfahrens durch den Europäischen Ausschuss für Sozialrechte (ECSR, Art 25 ESC). Seine Schlussfolgerungen werden in einem Jahresbericht zusammengefasst, der zunächst in einem Unterausschuss des Regierungssozialausschusses des Europarats geprüft wird; dieser legt dann dem Ministerkomitee einen Be-
2 Dazu Kingreen in: BK GG, Art 3 [2020] Rn 1 ff. 3 Dazu Iliopoulos-Strangas in: dies (Hrsg), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, 2010, S 727 ff. 4 Schmahl/Winkler, AVR 48 (2010), 405 (407 ff). 5 Nußberger Sozialstandards im Völkerrecht, 2015, S 45 ff. 6 BGBl II, 1965 1122.
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§ 8.1 Soziale Grundrechte und Solidarität in EMRK und ESC
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richt mit Empfehlungen vor (Art 27 ESC). Das Ministerkomitee kann sodann nach Art 29 ESC mit Zweidrittelmehrheit an jede Vertragspartei alle notwendigen Empfehlungen richten, die allerdings nicht begründet werden.7 Ein von Deutschland nicht ratifiziertes Zusatzprotokoll über Kollektivbeschwerden von 1995 sieht darüber hinaus auch Entscheidungen des ECSR vor, die näher erläutert werden müssen.8 Die 1996 verabschiedete, von Deutschland erst am 12.11.2020 ratifizierte9 Revidierte Europäische Sozialcharta (RESC) fasst alle bisherigen Änderungen der ESC zusammen und enthält darüber hinaus in den Art 20–31 weitere Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Diese müssen beispielsweise Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und vor Armut und sozialem Ausschluss gewähren sowie unentgeltlichen Primar- und Sekundarschulunterricht gewährleisten. Mit der Gewährleistung von Freiheits- und Gleichheitsrechten in der EMRK und 3 den sozialen Grundrechten in der RESC wurde die überkommene Trennung zwischen bürgerlichen und politischen Rechten auf der einen und sozialen Grundrechten auf der anderen Seite formal aufrechterhalten:10 hier ein Menschenrechtskatalog, der durch ein überstaatliches Gericht (den EGMR) ggf auch durchgesetzt werden kann, dort eine Menschenrechtserklärung, die nur sozialpolitische Verpflichtungen der Mitgliedstaaten enthält, aber keine korrespondierenden individuellen Rechte. Diese Unterscheidung ist der nach wie vor verbreiteten Kritik an sozialen Rechten geschuldet: Diese seien mangels Adressaten nicht einklagbar, würden daher falsche Erwartungen wecken und den falschen Eindruck erwecken, Sozialpolitik sei lediglich der Nachvollzug von verfassungsrechtlichen Geboten.11 Allerdings trifft diese Kritik allenfalls originäre soziale Leistungsrechte, nicht aber die auch als soziale Gleichbehandlungsgebote konzipierten Teilhaberechte und auch nicht Schutzpflichten, die sich zu sozialen Leistungsrechten verdichten (→ Kingreen § 8.2 Rn 10 ff). Dementsprechend hat der EGMR die textliche Trennung zwischen Rechten der EMRK und der (R)ESC partiell relativiert, indem er aus dem Diskriminierungsverbot in Art 14 EMRK in Verbindung mit den klassischen Grundrechten der ersten Generation soziale Teilhaberechte abgeleitet hat (Rn 4–21). Zudem hat er auf der Grundlage einer aus Art 3 EMRK abgeleiteten Schutzpflicht die Einhaltung sozialer Mindeststandards eingefordert (Rn 22 f). Diese Judikatur hat über die EMRK hinaus Bedeutung insbesondere für die Entwicklung der in der Europäischen Grundrechtecharta explizit gewährleisteten sozialen Grundrechte (Art 27–38 GRCh, → Kingreen § 8.2 Rn 23).
7 Dazu näher Knospe, ZESAR 2015, 449 (452 f). 8 Differenzierte Würdigung dieses Instruments etwa bei Krebber, EuZA 2018, 155 ff. 9 BGBl II, 2020, 900. 10 Frohwerk Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, 2012, S 13 ff. 11 Eichenhofer Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, 2021, S 41.
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II. Art 14 EMRK als soziales Teilhaberecht
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Fall 1 (leicht abgewandelt nach EGMR, Urt v 25.10.2005, 59140/00 – Okpisz/ Deutschland): F und M sind verheiratet und polnische Staatsbürger. Sie wohnen in Dortmund. 1985 kamen sie mit ihrer 1979 geborenen Tochter nach Deutschland. Der 1970 geborene Sohn folgte 1986. Die Klage von F und M auf Anerkennung als Vertriebene blieb ohne Erfolg. Sie erhielten daher keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis, sondern nur sog Aufenthaltsbefugnisse, die regelmäßig verlängert wurden. Am 27.12.1993 setzte das Arbeitsamt Dortmund M, der seit 1986 Kindergeld erhalten hatte, davon in Kenntnis, dass ab dem 1.1.1994 auf Grund einer Gesetzesänderung kein Kindergeld mehr gezahlt werde. Nach § 1 III BKGG in der ab 1.1.1994 gültigen Fassung habe ein Ausländer nur Anspruch auf Kindergeld, wenn er eine Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis habe. F und M wenden sich nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs im Wege der Individualbeschwerde an den EGMR, weil sie sich in ihren Grundrechten verletzt sehen.
Fall 2 (vereinfacht nach EGMR, Urt v 16.9.1996, 17371/90, § 39 – Gaygusuz/Österreich): G, ein türkischer Staatsangehöriger, lebte von 1973 bis September 1987 in Hörsching (Oberösterreich). Er arbeitete mit Unterbrechungen von 1973 bis Oktober 1984 in Österreich. Seit 1986 wechselten sich Zeiten, in denen er arbeitslos war, mit Zeiten ab, in denen ihm aus medizinischen Gründen Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wurde. Er bezog zunächst ein aus Beitragsmitteln finanziertes Arbeitslosengeld. Als dieses auslief, beantrage er die sog Notstandshilfe, die im zeitlichen Anschluss an die Arbeitslosenhilfe bedürftigen Personen geleistet und teils aus Beiträgen, teils aus Steuermitteln finanziert wird. Dieser Antrag wurde von der zuständigen Arbeitsagentur abgelehnt, weil G kein österreichischer Staatsangehöriger sei. G sieht darin eine gegen Art 14 EMRK verstoßende Diskriminierung. Zu Recht?
Fall 3 (EGMR, Urt v 23.2.2016, 51500/08, §§ 54, 65 ff – Çam/Türkei): S ist sehbehindet. Sie bewarb sich für das Schuljahr 2004/2005 an der türkischen Nationalhochschule für Musik, die der Technischen Universität Istanbul angegliedert ist, und bestand das Vorspielen auf der Bağlama, einer türkischen Langhalslaute. Als Nachweis über ihre medizinische Eignung legte sie einen Bericht des Krankenhauses von Bakırköy vor, der ihre Eignung zur Ausbildung an der Musikhochschule für diejenigen Ausbildungsabschnitte feststellte, für welche die Sehfähigkeit nicht erforderlich war. Unter Bezugnahme auf diesen medizinischen Bericht teilte die Hochschulleitung dem Krankenhaus mit, dass unter den sieben Ausbildungsabschnitten an der Hochschule kein einziger ohne Sehvermögen absolviert werden könne, und erbat deshalb einen neuen Bericht über die medizinische Eignung der S unter Berücksichtigung dieser Tatsache. Schließlich verweigerte die Musikhochschule die Einschreibung. S sieht darin eine gegen Art 14 EMRK verstoßende Diskriminierung. Zu Recht?
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1. Der Akzessorietätsgrundsatz Art 14 EMRK garantiert den Genuss der in der EMRK garantierten Rechte und 7 Freiheiten ohne Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status. Er gewährleistet also keinen allgemeinen Gleichheitssatz,12 sondern ein akzessorisches Diskriminierungsverbot, dessen Anwendungsbereich erst durch den Genuss der EMRK-Rechte und Freiheiten eröffnet wird.13 Bei diesen Rechten, auf die Art 14 EMRK Bezug nimmt, handelt es sich überwiegend um sog Rechte der ersten Generation,14 dh um klassische Freiheitsrechte, die dem Schutz vor staatlichen Eingriffen dienen, aber nicht um soziale Leistungsrechte. Die Akzessorietät sollte dementsprechend ursprünglich die Anwendbarkeit von Art 14 EMRK im Bereich von sozialen Rechten verhindern.15
2. Lockerung der Akzessorietät Im Laufe der Zeit hat der EGMR mit seiner Interpretation der Konvention als „living 8 instrument“ (→ Rn 19) die aus den 1950er und 60er Jahren stammende kategorische Differenzierung zwischen gerichtlich durchsetzbaren Freiheitsrechten und rechtlich nur schwach bindenden sozialpolitischen Handlungspflichten relativiert. Bereits in der Entscheidung Airey (1981), in der es im Hinblick auf Art 6 EMRK um die Gewährung von Prozesskostenhilfe ging, hat der EGMR deutlich gemacht, dass Freiheitsrechte auch „in die Sphäre sozialer und wirtschaftlicher Rechte“ hineinwirken können: „Es gibt keine wasserdichte Trennwand, die jene Sphäre von dem von der Konvention umfassten Bereich abgrenzt.“16 Zu dieser Aufweichung der vormals als kategorial erscheinenden Unterscheidung zwischen bürgerlichen und politischen Rechten auf der einen und sozialen Rechten auf der anderen Seite hat auch die weite Interpretation des Akzessorietätsgrundsatzes beigetragen, die Art 14 EMRK auch
12 Vgl etwa Grabenwarter/Pabel EMRK, § 26 Rn 1. 13 EGMR, Urt v 28.5.1985, 9214/80 ua, NJW 1986, 3007, § 71 – Abdulaziz ua/Vereinigtes Königreich. 14 Vgl etwa Schmahl/Winkler, AVR 48 (2010), 405 (406 ff). 15 Peters/König in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg), EMRK/GG, Kap 21 Rn 42, 85. 16 EGMR, Urt v 6.2.1981, 6289/73, § 26 – Airey/Vereinigtes Königreich.
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für den Bereich der sozialen Rechte geöffnet hat.17 Damit hat der EGMR die Akzessorietät/Unterscheidung zugleich relativiert.18
a) Einschlägigkeit nur des Lebensbereichs für die Auslösung der Akzessorietät 9 Eine erste Aufweichung hat der Akzessorietätsgrundsatz dadurch erfahren, dass
der EGMR ihn schon greifen lässt, wenn „die im Streit stehenden Tatsachen […] in den Anwendungsbereich einer oder mehrerer materieller Konventionsgarantien fallen“19. Es muss also nicht der konkrete, durch bestimmte Präzisierungen möglicherweise eingeschränkte Schutzbereich eines Freiheitsrechts berührt sein, sondern es reicht aus, dass allgemein der Lebensbereich betroffen ist, den das Freiheitsrecht regelt.20 10 Beispiel: In Bayern und Baden-Württemberg bestand eine Feuerwehrdienstpflicht nur für Männer, wobei Männer, die keinen Dienst leisteten, eine Abgabe zu zahlen hatten. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 1961 keine verfassungsrechtlichen Bedenken und dabei die Frage der Gleichbehandlung der Geschlechter noch nicht einmal thematisiert hatte, bejahte der EGMR 1994 einen Verstoß.21 Zwar sind nach Art 4 II EMRK Zwangs- und Pflichtarbeit verboten, davon sind aber nach Art 4 III lit d) EMRK diejenigen Arbeiten ausgenommen, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehören. Dazu zählte die Feuerwehrdienstpflicht ebenso wie die daran anknüpfende Abgabe. Damit war an sich tatbestandlich kein Recht aus der EMRK einschlägig, an das Art 14 EMRK hätte anknüpfen können. Der EGMR sieht aber auch den Ausnahmetatbestand des Art 4 III EMRK als ein in der Konvention begründetes Recht und daher den Tatbestand des Art 14 EMRK als eröffnet an.22 Nur ein Jahr später hat dann auch das Bundesverfassungsgericht die Feuerwehrdienstpflicht und die daran anknüpfende Abgabe als Verstoß gegen Art 3 III (1) GG für verfassungswidrig erklärt.23
b) Ausweitung auf soziale Rechte 11 Die eher geringen Anforderungen an den Bezug eines Sachverhalts zu einem Frei-
heitsrecht sind auch die Erklärung dafür, dass Art 14 EMRK auch auf Sozialleistungsansprüche anwendbar ist. Die Einschlägigkeit eines freiheitsrechtlichen Lebensbereichs kann daher auch soziale Teilhabeansprüche auslösen. Der EGMR
17 Sauer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 14 Rn 14 ff; Schmidt Europäische Menschenrechtskonvention und Sozialrecht, 2003, S 31 ff. 18 Das Folgende teilweise aus Kingreen Soziales Recht 2020, S 68 ff. 19 EGMR, Urt v 18.7.1994, 13580/88, NVwZ 1995, 365, Rn 22 – Schmidt/Bundesrepublik Deutschland. 20 Vgl zur Unterscheidung zwischen Schutz- und Regelungs- bzw. Anwendungsbereich eines Freiheitsrechts der EMRK etwa Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 4. 21 EGMR, Urt v 18.7.1994, 13580/88, NVwZ 1995, 365, § 24 – Schmidt. 22 EGMR, Urt v 18.7.1994, 13580/88, NVwZ 1995, 365, § 24 – Schmidt. 23 BVerfGE 92, 91 (109 ff).
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fragt insoweit stets, ob das in Frage stehende sozioökonomische Recht (die staatliche Leistung) zur Stärkung einer konventionsrechtlich geschützten Freiheit beiträgt.24 Der typische Argumentationsgang lässt sich, wenn ein Freiheitsrecht einschlägig ist, im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen: Zwar gewährleistet beispielsweise Art 1 1. ZP EMRK keinen Anspruch auf Erwerb von Eigentum; wenn der Staat aber ein Bonus- oder Pensionssystem einrichtet, so muss er das in nichtdiskriminierender Weise tun.25 Entsprechendes gilt etwa für die in Art 11 EMRK gewährleistete Koalitionsfreiheit, die zwar Gewerkschaftsmitgliedern keinen Anspruch auf staatliche Vergünstigungen gewährleistet; wenn diese Leistungen aber erbracht werden, so muss dies diskriminierungsfrei geschehen.26 Aus den Freiheitsrechten folgen also keine originären Leistungsrechte. In Verbindung mit Art 14 EMRK besteht aber ein Anspruch auf grundsätzlich gleiche sozial(rechtlich)e Teilhabe an vorhandenen sozialen Leistungssystemen; Ungleichbehandlungen sind auch insoweit nicht per se rechtswidrig, bedürfen aber einer Rechtfertigung. Teilhaberechte sind mithin „Wenn-dann-Rechte“: Wenn eine Leistung an Inländer erbracht wird, muss zumindest begründet werden, warum Ausländer sie nicht beanspruchen können. Einschlägige Rechtsprechung gibt es insbesondere zu Art 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens), zur in Art 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK (1. ZP EMRK) garantierten Eigentumsgarantie und in jüngerer Zeit auch zu Rechten aus internationalen Menschenrechtspakten:
aa) Schutz des Familien- und Privatlebens, Art 8 EMRK Art 8 EMRK schützt mit dem familiären Zusammenleben ein Recht iSv Art 14 EMRK. 12 Der Anwendungsbereich von Art 14 EMRK ist daher eröffnet, wenn staatliche Leistungen zur Unterstützung und Ermöglichung von Freiheit im Bereich des Familienlebens (etwa Kinder- und Elterngeld27) vorenthalten werden. Lösung Fall 1: Die Nichtgewährung des Kindergelds an M könnte gegen Art 14 EMRK verstoßen. I. Das setzt zunächst die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Diskriminierungsverbots voraus. Dieser kommt zum Tragen, wenn der „Gegenstand des Nachteils […] eine der Bedingungen für die Ausübung eines garantierten Rechts darstellt“ oder die gerügten Maßnahmen „mit der Ausübung eines garantierten
24 Altwicker Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 2011, S 371. 25 So die Argumentation in EGMR, Urt v 29.6.2006, 23960/02, § 34 – Zeman/Österreich. 26 EGMR, Urt v 6.2.1976, 5589/72, § 39 – Schmidt und Dahlström/Schweden. 27 Vgl neben den im Folgenden genannten Entscheidungen etwa noch EGMR, Urt v 31.3.2009, 44399/ 05, § 29 – Weller/Ungarn. Thorsten Kingreen
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Rechts“ verbunden sind.28 Das kann hier das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art 8 I EMRK sein. Der EGMR sieht die Konventionsstaaten zwar nicht durch Art 8 EMRK verpflichtet, Familienleistungen vorzusehen,29 weil Freiheitsrechte keine originären Leistungsrechte sind (→ Kingreen § 8.2 Rn 10 ff). Dennoch bejaht er mit vergleichsweise schlichter Begründung einen Bezug zu Art 8 EMRK: „Durch die Gewährung von Kindergeld können die Staaten deutlich machen, dass sie das Familienleben iSv Art 8 der Konvention achten; das Kindergeld fällt deshalb in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift […]. Daraus folgt, dass Art 14 iVm Art 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist.“30 II. Es liegt auch eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung vor, weil es keinen hinreichenden sachlichen Grund gab, Personen mit einer Aufenthaltsbefugnis schlechter zu behandeln als solche mit einer Aufenthaltserlaubnis. Denn auch Personen mit einer Aufenthaltsbefugnis können sich, wie der Fall zeigt, mit einer gewissen Dauer in Deutschland aufhalten. III. Im Ergebnis hat der EGMR eine Diskriminierung wegen der nationalen Herkunft angenommen, ohne dass dies aber im deutschen Sozialrecht für größere Verwerfungen gesorgt hätte, denn bereits zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht der einschlägigen Regelung einen Verstoß gegen Art 3 I GG attestiert.31 Überhaupt hat der EGMR in den meisten auf Familienleistungen bezogenen Fällen einen Verstoß gegen Art 8 EMRK bejaht.32
bb) Eigentum, Art 1 1. ZP EMRK 14 Erhebliche Bedeutung für die Begründung sozialer Teilhaberechte hat ferner die Eigentumsgarantie (Art 1 1. ZP EMRK), weil sie ebenso wie Art 8 EMRK die für Art 14 EMRK notwendige Akzessorietät begründet.
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Lösung Fall 2: Die Nichtgewährung der Notstandshilfe könnte gegen Art 14 EMRK verstoßen. I. Zu prüfen ist wiederum die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift. Sie setzt voraus, dass der Lebensbereich eines in der EMRK oder den Zusatzprotokollen gewährleisteten Grundrechts betroffen ist. In Betracht kommt hier das in Art 1 1. ZP EMRK gewährleistete Eigentumsgrundrecht, dessen Einschlägigkeit der EGMR bejaht: Der Anspruch auf Notstandshilfe entstehe nach Auslaufen der Arbeitslosenhilfe, die beitragsfinanziert sei; daher sei auch die Notstandshilfe beitragsabhängig und mithin ein vermögenswertes Recht iSv Art 1 1. ZP EMRK.33 Es war also insoweit nicht relevant, dass die Notstandshilfe teilweise auch steuerfinanziert, also nicht nur das Ergebnis eigener Beitragsleistungen des G, war. II. Die Nichtgewährung der Notstandshilfe war auch eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung, denn G hatte einen rechtmäßigen Wohnsitz in Österreich, hatte dort gearbeitet und
28 EGMR, Urt v 25.10.2005, 59140/00, NVwZ 2006, 917, § 31 – Okpisz/Bundesrepublik Deutschland. 29 EGMR, Urt v 28.10.2010, 40080/07, § 27 – Fawsie/Griechenland und Urt v 28.10.2010, 40083/07, § 28 – Saidoun/Griechenland. 30 EGMR, Urt v 25.10.2005, 59140/00, NVwZ 2006, 917, § 32 – Okpisz/Bundesrepublik Deutschland. 31 BVerfGE 111, 160 (169 ff). 32 Vgl dazu die Nachweise bei Peters/König in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 85 Fn 321. 33 EGMR, Urt v 16.09.1996, 17371/90, § 39 – Gaygusuz/Österreich.
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ebenso wie österreichische Staatsangehörige Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet. Es gab also keinen Sachgrund für eine unterschiedliche Behandlung. III. Ergebnis: Die Nichtgewährung der Notstandshilfe verstieß gegen Art 14 EMRK iVm Art 1 1. ZP EMRK.
In späteren Entscheidungen hat der EGMR sogar die auch die deutsche Eigentums- 16 dogmatik prägende (aber auch dort durchaus Fragen aufwerfende) Differenzierung zwischen beitrags- und steuerfinanzierten Sozialleistungen34 für irrelevant erklärt.35 Er begründet dies ua mit seiner Rechtsprechung zu Art 6 I EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), dessen Anwendungsbereich er selbst bei solchen Sozialleistungen bejaht habe, die nicht auf Beiträgen beruhten. Außerdem würden Sozialversicherungsansprüche in den Mitgliedstaaten unterschiedlich finanziert; eine Differenzierung nach beitrags- und steuerfinanzierten Systemen gefährde daher nicht nur die praktische Wirksamkeit des Eigentumsgrundrechts, sondern sei gerade in Systemen mit Mischfinanzierung künstlich.36 Man könnte hinzufügen, dass ja auch beim Sacheigentum nicht danach differenziert wird, ob es das Ergebnis eigener Leistung ist.37 Insbesondere in seiner Rechtsprechung zum Eigentumsschutz von Sozialleis- 17 tungsrechten betont der EGMR allerdings den Gestaltungsspielraum der Vertragsstaaten in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Aufgrund der unmittelbaren Kenntnis ihrer Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse seien die nationalen Behörden grundsätzlich besser in der Lage als der internationale Richter zu beurteilen, was aus sozialen oder wirtschaftlichen Gründen im öffentlichen Interesse liege. Daher werde der Gerichtshof im Allgemeinen die politische Entscheidung des Gesetzgebers respektieren, es sei denn, sie entbehre offenkundig einer vernünftigen Grundlage.38 Diese eher geringe Kontrolldichte bewirkt, dass der EGMR einen Konventionsverstoß in den meisten Fällen verneint hat.39 Beispiel: Ein österreichischer Staatsbürger hat etwa 28 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht 18 und dort lange Zeit gearbeitet. Die Tätigkeiten im Gefängnis waren allerdings nach österreichischem Recht keine rentenversicherungsrechtlichen Beitragszeiten. Sein Antrag auf vorzeitige Altersrente wurde dementsprechend mit der Begründung abgelehnt, dass er die erforderlichen Bei-
34 Dazu mwN Kingreen, JURA 2016, 390 (393). 35 EGMR, Urt v 30.9.2003, 40892/98, Rn 36 – Koua Poirrez/Frankreich; zustimmend Nußberger Sozialstandards im Völkerrecht, 2005, S 360 f. 36 EGMR, Urt v 6.7.2005, 65731/01 und 65900/01, §§ 47 ff – Stec ua/Vereinigtes Königreich. 37 Wieland in: Dreier, GG, Art 14 Rn 75. 38 EGMR, Urt v 6.7.2005, 65731/01 und 65900/01, § 52 – Stec ua/Vereinigtes Königreich. 39 EGMR, Urt v 6.7.2005, 65731/01 und 65900/01, §§ 47 ff – Stec ua/Vereinigtes Königreich; weitere Fälle bei Peters/König in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 85 Fn 323.
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tragsmonate für die Altersrente nicht erreicht hatte. Er erhielt aber die für diesen Fall vorgesehene Arbeitslosenunterstützung. Zu prüfen war also, ob die sozialversicherungsrechtliche Ungleichbehandlung zwischen der Arbeit außerhalb und innerhalb des Gefängnisses gegen Art 14 EMRK iVm Art 1 1. ZP EMRK verstieß. Der EGMR hielt es insoweit zwar nicht für maßgebend, dass die Arbeit im Gefängnis nicht primär dem Lebensunterhalt, sondern der Resozialisierung und Reintegration diene. Denn es gehe um die Notwendigkeit einer Altersversorgung und im Hinblick auf diese Zielsetzung unterscheide sich die Arbeit im und außerhalb des Gefängnisses nicht. Insoweit sind die beiden Sachverhalte also vergleichbar, und es liegt daher eine Ungleichbehandlung vor. Der EGMR hat die Ungleichbehandlung aber unter Hinweis auf den weiten politischen Ermessensspielraum gerechtfertigt. Dieser Spielraum wurde namentlich damit begründet, dass zur fraglichen Zeit „unter den Konventionsstaaten keine einheitliche Meinung über den Zugang von arbeitenden Gefangenen zu dem staatlichen Sozialversicherungssystem“ bestanden habe: „Wo sich Maßstäbe in Fluss befinden, kann einem Konventionsstaat nicht vorgeworfen werden, ein Versicherungsmodell bevorzugt zu haben, nämlich die Arbeitslosenversicherung, die er für die Wiedereingliederung von Gefangenen nach deren Entlassung als besonders wichtig ansieht.“40
cc) Einbeziehung von völkersozialrechtlichen Garantien 19 Ein weiterer wichtiger Baustein für den Ausbau sozialer Teilhaberechte ist die in-
terpretatorische Berücksichtigung der (R)ESC und anderer völkersozialrechtlicher Bestimmungen bei der Auslegung der Rechte der EMRK.41 Grundlegend, auch unter methodischen Gesichtspunkten, ist insoweit die EGMR-Entscheidung Demir/Baykara, in der es um staatliche Behinderungen bei der Gründung von Gewerkschaften und den Abschluss von Tarifverträgen für Mitarbeiter im öffentlichen Dienst ging.42 Für die Auslegung von Art 11 EMRK seien, so der EGMR, die Auslegungsregeln in den Art 31–33 WVK maßgebend. Dabei seien die Vorschriften der Konvention nicht der alleinige Bezugspunkt bei der Auslegung der in ihr garantierten Rechte und Freiheiten. Zu berücksichtigen seien auch alle Regeln und Grundsätze des Völkerrechts, die zwischen den Vertragsstaaten gelten, so der EGMR unter Hinweis auch auf den Grundsatz der systematischen Auslegung in Art 31 III lit c) WVK. Die Konvention sei ein „living instrument“, das unter Berücksichtigung insbesondere der Regeln des nationalen Rechts und des Völkerrechts auszulegen sei.43 Unter Hinweis auf seine langjährige Rechtsprechung skizziert der EGMR die Umrisse eines internationalrechtlichen Grundrechtsverbundes, der Einfluss auf die Auslegung der EMRK-Rechte habe. Bestandteil dieses Verbundes sind nach Ansicht des EGMR auch die ESC und die Spruchpraxis ihrer Kontrollausschüsse. Dabei hebt der EGMR hervor, dass die völkerrechtlichen Rechtserkenntnisquellen des Grund-
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EGMR (GK), Urt v 7.7.2011 – 37452/02, § 109 – Stummer/Österreich. Zum Folgenden ausführlich insbes Lörcher, ZESAR 2015, 265 ff. EGMR, Urt v 12.11.2008, 34503/97, NZA 2010, 1425 – Demir u Baykara/Türkei. EGMR, Urt v 12.11.2008, 34503/97, NZA 2010, 1425, §§ 65–68 – Demir u Baykara/Türkei.
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rechtsverbundes unabhängig davon heranzuziehen seien, ob der beklagte Staat diese gezeichnet oder ratifiziert habe.44 Dieser dynamische Interpretationsansatz ermöglicht es dem EGMR, völker- 20 rechtliche Menschenrechtsgarantien auch im Anwendungsbereich von Art 14 EMRK zu berücksichtigen. Dazu gehört namentlich das „Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (UN-Behindertenrechtskonvention, BRK).45 Diese verpflichtet die Vertragsstaaten insbesondere dazu, „angemessene Vorkehrungen“ (Art 2 BRK) zu treffen, um Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu ermöglichen. Diese Pflicht eröffnet, anders als die zuvor genannten Freiheitsrechte, nicht den Anwendungsbereich von Art 14 EMRK, sondern verschärft den Maßstab für die Prüfung von Ungleichbehandlungen. Lösung Fall 3: Fraglich ist, ob die Weigerung der Hochschule, S wegen ihrer Sehschwäche einzuschreiben, gegen Art 14 EMRK verstößt. I. Die Eröffnung des Anwendungsbereichs setzt voraus, dass ein Recht iSv Art 14 EMRK betroffen ist. Das ist das in Art 2 1. ZP EMRK gewährleistete Recht auf Bildung. Zwar folgt daraus nicht die Pflicht der Konventionsstaaten, „besondere Bildungseinrichtungen zu schaffen oder zu fördern.“ Allerdings „hat ein Staat, der solche Einrichtungen geschaffen hat, die Verpflichtung, einen wirksamen Zugang zu diesen Einrichtungen anzubieten.“ Daher ist der „Zugang zu einer in einem bestimmten Moment existierenden Bildungseinrichtung […] integraler Bestandteil des in Art. 2 S. 1 des 1. Zusatzprotokolls verankerten Rechts.“46 II. Art 14 EMRK ist verletzt, wenn eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung vorliegt. Hier besteht die Besonderheit, dass die „Behinderung“ nicht zu den nach Art 14 EMRK verpönten Merkmalen zählt. Die türkische Regierung argumentierte dementsprechend, dass die Musikhochschule zum maßgeblichen Zeitpunkt keine ausreichende Infrastruktur besaß, um Studierende mit Behinderung aufzunehmen, und dass sie auch nicht verpflichtet sei, entsprechende Möglichkeiten zu schaffen. Würde man dem folgen, läge keine Diskriminierung vor. Der EGMR bezieht aber Art 2 BRK in die Prüfung ein.47 Danach kann Diskriminierung wegen der Behinderung auch in der „Versagung angemessener Vorkehrungen“ bestehen; auf diese Wendung verweist auch das in Art 24 II lit c) BRK gewährleistete Recht auf Bildung. „Angemessene Vorkehrungen“ sind nach Art 2 BRK „notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behin-
44 EGMR, Urt v 12.11.2008, 34503/97, NZA 2010, 1425, §§ 77 f – Demir u Baykara/Türkei; ferner etwa EGMR, Urt v 11.10.2011, 53124/09, § 44 – Genovese/Malta. 45 Zur Ratifizierung durch Deutschland BGBl 2008 II, 1409 und 2009 II, 818. Zu seiner Bedeutung und Auslegung ausführlich Uerpmann-Wittzack, SDSRV 66 (2016), 29 (38 ff). 46 EGMR, Urt v 23.2.2016, 51500/08, NJW 2017, 2977, §§ 54, 65 ff – Çam/Türkei. 47 EGMR, Urt v 23.2.2016, 51500/08, NJW 2017, 2977, § 65 – Çam/Türkei; ebenso EGMR, Urt v 2.7.2018, 23065/12, §§ 64 ff – Şahin/Türkei. Zum völkerrechtlichen Kontext auch Rabe-Rosendahl Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung im Arbeitsrecht, 2017, S 106 ff und Uerpmann-Wittzack, NZS 2017, 301 (301 f).
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derungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können“. Eine Ungleichbehandlung kann also auch und gerade darin liegen, dass ein Staat nicht genug getan hat, um Zugangsrechte von Menschen mit Behinderungen zu staatlichen Einrichtungen zu ermöglichen. Das war hier der Fall, weil die Hochschule offenbar überhaupt keine Anstalten unternommen hatte, um die besondere Situation der S zu berücksichtigen.48
III. Art 3 EMRK als soziale Schutzpflicht 22 Der EGMR hat es in mehreren Entscheidungen abgelehnt, aus den Freiheitsrechten
der EMRK staatliche Sozialleistungspflichten und damit korrespondierende originäre Leistungsrechte abzuleiten. Insbesondere folgt aus Art 8 EMRK weder ein Anspruch auf eine Wohnung49 noch auf die Gewährung von Familienleistungen50. Allerdings kann außerordentliche soziale Not ein entwürdigender Zustand iSv Art 3 EMRK sein. Dementsprechend schließt der EGMR ein aus Art 3 EMRK abzuleitendes Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, wie ihn das Bundesverfassungsgericht erstmal 2010 anerkannt hat,51 zumindest nicht mehr aus.52 23 Beispiele: Nachdem die seinerzeit noch zuständige Europäische Kommission für Menschenrechte es 1990 noch abgelehnt hatte, im Abstellen des Stroms eine unmenschliche/erniedrigende Behandlung zu sehen, obwohl eine alleinstehende und mittellose Frau mit zwei minderjährigen Kindern und einem Enkelkind betroffen war,53 hat der EGMR mittlerweile anerkannt, dass existentielle soziale Not einen Zustand iSv Art 3 EMRK darstellen kann. Er stellte fest, dass das Vereinigte Königreich gegen seine Pflichten aus Art 3 EMRK verstoßen hat, als es vier minderjährigen Kindern, die in entwürdigenden Umständen lebten, keine adäquate Hilfe habe zuteil kommen lassen. Diese soziale Schutzpflicht gelte vor allem im Verhältnis zu Kindern und anderen vulnerablen Personen.54
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EGMR, Urt v 23.2.2016, 51500/08, NJW 2017, 2977, § 69 – Çam/Türkei. EGMR, Urt v 18.1.2001, 27238/95, § 99 – Chapman/Vereinigtes Königreich. EGMR, Urt v 27.3.1998, 20458/92, §§ 25 f – Petrovic/Österreich. BVerfGE 125, 175 (222 ff). S auch EGMR, Urt v 28.10.1999, 40772/98, § 2 – Pancenko/Lettland. EKMR, Entsch v 9.5.1990, 14641/89, RUDH 1990, 349 (384) – Van Volsem/Belgien. EGMR, Urt v 10.5.2001, 29392/95, § 73 – Z ua/Vereinigtes Königreich.
Thorsten Kingreen
§ 8.2 Soziale Grundrechte und Solidarität in der GRCh Leitentscheidungen: EuGH, verb Rs C-159/91 u C-160/91, Slg 1993, I-637 – Poucet and Pistre; verb Rs C-120/95 u C-158/96, Slg 1998, I-1831 – Decker; Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931 – Kohll; C-157/99, Slg 2001, I-5473 – Smits und Peerboms; C-438/05, Slg 2007, I-10779 – Viking Line; C-409/04, Slg 2007, I-1767 – Laval; C-346/06, Slg 2008, I-1989 – Rüffert; Urt v 15.1.2014, Rs C-176/12, DÖV 2014, 306 – Association de médiation sociale. Schrifttum: Becker Die Europäische Säule sozialer Rechte, ZÖR 2018, 525; ders Grundrechte der Arbeit in Europa – zu Funktionen, Verschränkungen und Konfliktlinien vernetzter Grundrechtsordnungen, EuR 2019, 469; Soziale Grundrechte in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, VSSR 2001, 1 ff; Biltgen Die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten des Arbeitslebens, NZA 2016, 1245; Blank Soziale Grundrechte in der Europäischen Grundrechtscharta, 2002; Bungenberg Soziale Rechte, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht Bd II (Europäischer Grundrechtschutz), 2. Aufl 2022, § 22; Dorfmann Soziale Gewährleistungen in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002; Frenz GR, Rn 3533–4415; ders Soziale Grundlagen in EUV und AEUV, NZS 2011, 81; Geesmann Soziale Grundrechte im deutschen und französischen Verfassungsrecht und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2005; Hilpold Der Schutz sozialer Grundrechte in der Europäischen Union, ZÖR 2004, 351; Iliopoulos-Strangas Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, 2010; Kingreen Die Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR Beiheft 1/2007, 43; ders Soziales Fortschrittsprotokoll. Potenzial und Alternativen, 2014; ders, Ein Sockel für die Europäische Säule sozialer Rechte: Zur Zuständigkeit der EU für einen verbindlichen Rechtsrahmen für soziale Grundsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten, Soziales Recht 2018, 1; Marauhn/Böhringer, Recht auf soziale Sicherheit und Unterstützung, in: Heselhaus/Nowak, GR, § 26; Pitschas Europäische Grundrechte-Charta und soziale Grundrechte, VSSR 2000, 207 ff; Rebhahn/Schörghofer Rechte des Arbeitslebens, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht Bd. II (Europäischer Grundrechtschutz), 2. Aufl 2022, § 21; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 990 ff; Schlachter Stärkung sozialer Rechte durch Grundrechtsschutz im europäischen Mehr-Ebenen-System?, EuR 2016, 469; Schubert Die Grundrechtecharta der Europäischen Union als Mittel zur Expansion des Unionsrechts?, EuZA 2020, 302; Seifert Die Bedeutung von EMRK und GRCh für das deutsche kollektive Arbeitsrecht, EuZA 2013, 205; ders Zur Horizontalwirkung sozialer Grundrechte, EuZA 2013, 299; Somek Sozialpolitik in Europa: Von der Domestizierung zur Entwaffnung, EuR Beiheft 1/ 2013, 49; Winner Die Europäische Grundrechtecharta und ihre soziale Dimension, 2005. Vgl im Übrigen die im Text zitierten Kommentierungen zu den Art 27–38 GRCh.
I. Allgemeiner Teil 1. Solidarität und soziale Rechte Kapitel IV der Grundrechtecharta der Europäischen Union trägt den Titel „Soli- 1 darität“. Das knüpft, nach der Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit in den Kapiteln II und III, an das dritte Losungswort der Französischen Revolution, die Brüderlichkeit, an, zu der ein enger ideengeschichtlicher Zusammenhang beThorsten Kingreen https://doi.org/10.1515/9783110716740-022
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steht.1 Die Sozialphilosophie umschreibt Solidarität als qualifizierte und damit auch exklusive Verbundenheit, die maßgeblich darauf beruht, dass individuelle Interessen und Rechte zugunsten der solidarisch verbundenen Gemeinschaft und des gemeinschaftlich verfolgten Ziels zurücktreten.2 Solidarität ist aber auch ein Rechtsbegriff, insb im Sozialrecht (vgl § 1 SGB V). Auch im europäischen Recht findet er vielfältige Verwendung und ist dabei keineswegs auf die Sozialpolitik beschränkt.3 In Kapitel IV der Grundrechtecharta finden sich neben Normen mit arbeits- und sozialrechtlichem Bezug (Art 27–34 GRCh) Bestimmungen, deren Zusammenhang mit der Solidarität sich nicht auf den ersten Blick erschließt, etwa über den Gesundheits-, den Umwelt- und den Verbraucherschutz (Art 35 S 2, 37, 38 GRCh). Offenbar fungiert Solidarität hier als Oberbegriff, um eine gemeinsame Verantwortung für öffentliche Güter zu proklamieren, die sich nicht im freiheitlichen Wettbewerb der Kräfte realisieren lassen; darauf deutet auch die nochmalige Erwähnung der Daseinsvorsorge in Art 36 GRCh hin. 2 Als Bauprinzip eines freiwilligen Zusammenschlusses ist die Solidarität vom Solidarprinzip als Rechtsprinzip eines Zwangszusammenschlusses zu unterscheiden:4 Grundrechtlich geschützt ist die Freiheit zur Solidarität, etwa in der allgemeinen Vereinigungsfreiheit (Art 12 GRCh), aber auch durch einige in Kapitel IV gewährleistete Rechte, etwa die in Art 28 GRCh garantierte Koalitionsfreiheit und der Schutz der Familie in Art 33 GRCh, die jeweils durch das Prinzip der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses gekennzeichnete Gemeinschaften schützen. Das Solidarprinzip ist hingegen ein Element eines mit obligatorischen Umverteilungswirkungen verbundenen Zwangszusammenschlusses (etwa einer obligatorischen Sozialversicherung)5 und steht als solches in einem Spannungsverhältnis zur grundrechtlichen Freiheit des Einzelnen, selbst darüber zu entscheiden, mit wem er sich wie solidarisch verbindet (etwa, indem er nicht Mitglied einer sozialen Krankenversicherung wird, sondern sich privat gegen Krankheit versichert). Dieser Zwang zur Solidarität ist ein Grundrechtseingriff, der der Rechtfertigung bedarf. Auch insoweit bietet das IV. Kapitel durchaus Ansätze: Mit dem Bekenntnis zur Notwendigkeit des Zugangs zu den Systemen der sozialen Sicherheit (Art 34 GRCh) und zu Dienstleistungen von allgem wirtschaftlichem Interesse (Daseinsvor-
1 Volkmann Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, 1998, S 93 f; Wildt in: Bayertz, Solidarität, 1998, S 202 ff. 2 Vgl für Nachweise Kingreen Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. Gemeinschaftsrechtliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, S 244 ff. 3 Vgl etwa die „Solidarität zwischen ihren Völkern“ in der Präambel des EUV. 4 Kingreen Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003, S 253 ff. 5 Explizit etwa § 1 SGB V: „Krankenversicherung als Solidargemeinschaft“.
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sorge, Art 36 GRCh) benennt es verfassungsrechtliche Positionen, die in der Abwägung ein Gegengewicht zur grundrechtlichen Freiheit bilden, vom Zwang zur Solidarität verschont zu bleiben.6
2. Typologie und Dogmatik sozialer Rechte Die Einbeziehung sozialer Rechte in die Grundrechtecharta war und ist politisch 3 umstritten.7 Das liegt auch daran, dass es sich um einen nebulösen Sammelbegriff handelt, der, ebenso wie die Solidarität, vielfältige Assoziationen weckt. Grundrechtstheoretisch und -dogmatisch ist er nicht ohne Weiteres anschlussfähig. Um die Gehalte der Art 27–38 GRCh herauszuarbeiten, müssen daher zwei typologische Unterscheidungen getroffen werden. Erstens ist herauszuarbeiten, welche Normen auch Grundrechte und welche nur Grundsätze enthalten (→ Rn 4–8). Zweitens müssen die einzelnen Grundrechte den etablierten Grundrechtsfunktionen zugeordnet werden (→ Rn 9–15).
a) Grundrechte und Grundsätze Das IV. Kapitel enthält nämlich neben Grundrechten auch Grundsätze.8 Grundrech- 4 te sind subjektiv-öffentliche Rechte, die den Einzelnen in die Lage versetzen, von einem Hoheitsträger zur Verfolgung eigener Interessen ein bestimmtes Verhalten verlangen zu können.9 Grundsätze enthalten hingegen keine subjektiven Rechte. Vielmehr handelt es sich nach Art 52 V 1 GRCh um Handlungsermächtigungen und gemäß Art 52 V 2 GRCh um Auslegungsregeln, die zur interpretatorischen Konkretisierung von Maßnahmen der Union und der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten heranzuziehen sind. Die Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen hat damit erhebliche Bedeutung für die Reichweite der Bestimmungen des IV. Kapitels. Allerdings ist noch kaum geklärt, was Grundrecht und was Grundsatz ist.10 Da es sich um eine rechtstheoretische und rechtsdogmatische Unterscheidung handelt, greift ein eher rechtspolitisch motivierter Ansatz zu kurz, der die „missliebigen“ sozialen Grundrechte in ihrer Gesamtheit zu Grund-
6 Vgl daher auch EuGH, verb Rs C-159/91 u C-160/91, Slg 1993, I-637, Rn 18 – Poucet u Pistre. 7 Vgl dazu etwa Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 27 GRCh Rn 2 ff. 8 Dazu Rengeling/Szczekalla GR, Rn 993 ff. 9 Vgl etwa Maurer/Waldhoff Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl 2020, § 8 Rn 2. 10 Dazu etwa Jarass GRCh, Art 52 Rn 68 ff.
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sätzen erklärt, um sie zu entschärfen. Eine Differenzierung lässt sich aber mithilfe der klassischen Auslegungsmethoden treffen:11 5 Schon von ihrem Wortlaut („Recht auf“, „Anspruch auf“, „muss gewährleistet sein“, „wird gewährleistet“) räumen danach die Art 27, 33, 34 II, Art 35 1 GRCh subjektiv-öffentliche Rechte ein, sind also Grundrechte. Art 32 GRCh ist zwar nicht als Recht formuliert, sondern als Schutzpflicht. Doch ist mittlerweile auch im Unionsrecht anerkannt, dass aus Schutzpflichten auch subjektiv-öffentliche Ansprüche auf Schutz folgen;12 daher kann der grundrechtliche Charakter des Art 32 GRCh nicht zweifelhaft sein. 6 Gewisse Anhaltspunkte für die Frage, was Grundrecht ist und was Grundsatz, lassen sich im Wege genetischer Auslegung auch den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents entnehmen.13 Meist beschränken sie sich allerdings auf die apodiktische Feststellung, dass eine bestimmte Norm einen Grundsatz enthält.14 Auch „das Sozialrecht“ wird im Zusammenhang mit den Grundsätzen, undifferenziert und ohne normative Konkretisierung, erwähnt. Schließlich kann ausweislich der Erläuterungen „ein Charta-Artikel sowohl Elemente eines Rechts als auch eines Grundsatzes enthalten“15. Es ist zwar im Prinzip selbstverständlich, dass Normen, die subjektive Rechte vermitteln, regelmäßig auch Handlungsermächtigungen und Auslegungsmaximen beinhalten. Das Präsidium hat indes nicht diesen Umstand im Auge gehabt, weil die Erläuterungen gerade diejenigen Normen herausfiltern sollen, die nur Grundsätze enthalten. Gemeint ist vielmehr, dass die aufgeführten Bestimmungen mehrere selbständige Gewährleistungen enthalten, die teils Grundrechte, teils aber auch nur Grundsätze beinhalten.16 Insgesamt sollte man die Bedeutung der lediglich vom Präsidium des Grundrechtekonvents verfassten Erläuterungen nicht überschätzen.17 7 Vor allem die systematische Auslegung erlaubt eine Abgrenzung zwischen Grundrechten und Grundsätzen. Man kann als Grundsätze alle Normen ansehen, die abw von der lex generalis in Art 51 I 1 GRCh nur die Union und nicht auch die
11 Vgl zum Folgenden Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 16 f; vgl ferner etwa Frenz GR, Rn 441 ff und Schmittmann Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2007, S 81 ff – Ausführliche Analyse aller vertretenen Ansätze: Sagmeister Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, 2010, S 338 ff. 12 Vgl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 51 GRCh Rn 32 ff. 13 Zu deren Bedeutung Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 52 Rn 93 ff. 14 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl 2004, Nr C 310/445 f, 459. 15 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl 2004, Nr C 310/459. 16 Vgl allgem Jarass GRCh, Einl Rn 50; speziell für Art 34 GRCh Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 34 GRCh Rn 4, 6, 15. 17 Vgl etwa Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 52 GRCh Rn 20; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 52 GRCh Rn 43.
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Mitgliedstaaten verpflichten. In Kapitel IV sind dies die Art 34 I und III, Art 35 2, Art 36 und 37 GRCh. Sie verdrängen insoweit den allgemeinen Art 51 I 1 GRCh und schonen damit die Kompetenz der Mitgliedstaaten: Die genannten Bestimmungen knüpfen nämlich an individuelle Rechte oder Gemeinschaftsgüter an, die ganz oder jedenfalls vorwiegend bereits durch das mitgliedstaatliche Recht geschützt werden. Die Charta setzt also insoweit Rechte voraus, begründet sie aber nicht. Wären die Mitgliedstaaten an diese Normen auch grundrechtlich gebunden, würden durch die Charta Gemeinwohlgüter zu individuellen Rechten (zB Art 37, 38 GRCh) bzw einfache subjektiv-öffentliche Rechte im nationalen Recht zu europäischen Verfassungsrechten (zB Art 34 I und III, Art 36 GRCh) befördert. Mit der von Art 51 I 1 GRCh abweichenden Nichterwähnung der Mitgliedstaaten wird also deren Zuständigkeit geachtet, selbst über den normhierarchischen Status und die Reichweite subjektivöffentlicher Rechte zu bestimmen. Das hat auch Auswirkungen auf die Union: Sie hat die in den Mitgliedstaaten gewährleisteten Rechte bei allen ihren Maßnahmen zu achten und den ebenfalls vor allem durch die Mitgliedstaaten gewährleisteten Schutz von Gemeinschaftsgütern zu respektieren. Sie wird dadurch aber, ebenfalls aus Rücksicht auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (Art 51 II GRCh), nicht zur Adressatin von Rechten. Die in Art 51 I 2 GRCh angeordnete Bindung der Mitgliedstaaten auch an die Grundsätze der Charta läuft dadurch nicht leer: Denn sie bezieht sich auf die Grundrechte, soweit sie zugleich Grundsätze sind (→ Rn 6), aber eben nicht auf diejenigen Bestimmungen, die nur Grundsätze enthalten. Ebenso wie die anderen Kapitel der Charta enthält damit auch der Abschnitt 8 „Solidarität“ überwiegend Grundrechte. Keine Grundrechte, sondern nur Grundsätze sind danach allein Art 35 2, Art 36, 37 und 38 GRCh. Jeweils verpflichten sie nur die Union, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die dort genannten Ziele zu achten, Art 52 V 1 GRCh. Darüber hinaus sind sie bei der Auslegung von Rechtsakten der Union und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit heranzuziehen, Art 52 V 2 GRCh.
b) Grundrechtsfunktionen
Fall 1: (nach EuGH, Slg 2007, I-10779 ff – Viking Line = JK 2007, EGV Art 43/9):
Viking Line, ein finnisches Fährunternehmen, betreibt unter anderem das Fährschiff M/S Rosella, das unter finnischer Flagge auf der Route zwischen Helsinki und der estnischen Hauptstadt Tallinn verkehrt. Im Jahre 2003 wollte sie die mit Verlusten arbeitende Rosella umflaggen und aus Kostengründen unter estnischer Fahne verkehren lassen. Die für die Besatzung zuständige finnische Gewerkschaft erhob gegen dieses Vorhaben, insb wegen der drohenden Lohnkürzungen und Entlassungen, Einwände und schaltete den europäischen Verband der Transportarbeitergewerkschaften (ITF) ein. Dieser übersandte den Mitgliedsgewerkschaften ein Schreiben mit dem Inhalt, dass keine der ITF anThorsten Kingreen
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geschlossenen Gewerkschaften mit Viking Line Tarifverhandlungen führen durfte. Zuwiderhandlungen hätten Sanktionen durch die ITF nach sich ziehen können, im schlimmsten Fall hätte der Ausschluss aus dem Gewerkschaftsverband gedroht. Viking Line hatte damit praktisch keine Möglichkeit, mit einer estnischen Gewerkschaft Vertragsverhandlungen über die Konditionen der Beschäftigung der Besatzung nach einer Umflaggung zu führen. Sie sieht darin eine Beeinträchtigung ihrer Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit und erhebt Klage mit dem Ziel, die ITF zu verpflichten, das Rundschreiben zurückzuziehen.
10 Soweit das IV. Kapitel der Grundrechtecharta Grundrechte enthält, kann man in ei-
nem sehr allgemeinen Sinne von sozialen Rechten sprechen; das knüpft an frühere europäische Proklamationen der Grundrechte an.18 Soziale Grundrechte bedeuten für viele Mitgliedstaaten, neben Großbritannien und den skandinavischen Ländern etwa auch für Deutschland, verfassungsrechtliches Neuland. Grundrechte sind gemäß dem traditionellen, in den Menschenrechteerklärungen des 18. und 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kommenden Verständnis zuvörderst bürgerliche Rechte, die die Freiheit des Einzelnen vor staatlichem Zugriff schützen; hinzu treten politische Teilhaberechte, allen voran das Wahlrecht. Soziale Grundrechte hingegen thematisieren die Frage der faktischen Freiheit, dh der tatsächlichen Voraussetzungen, die der Staat zu schaffen hat, damit grundrechtliche Freiheit überhaupt ausgeübt werden kann; insoweit sind sie der Fortentwicklung des liberalen zum sozialen Rechtsstaat geschuldet. Das verändert den Blick auf den Staat, der nicht als Widersacher, sondern als Garant von Freiheit auftritt. Mit sozialen Grundrechten verbindet sich freilich auch die Befürchtung, dass die normative Kraft der Grundrechte durch unrealistische Versprechen in Gestalt von Ansprüchen etwa auf Arbeit und Wohnung gefährdet wird, da diese nur unter dem „Vorbehalt des Möglichen“19 gewährt werden können. Es wird die Gefahr beschworen, dass soziale Grundrechte das Verfassungsrecht zum alleinverbindlichen Maßstab für das sozial Gerechte befördern und dadurch den Diskurs über den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft vom Parlament in die Gerichte verlagern.20 11 Die berechtigten Bedenken gegen so verstandene soziale Grundrechte treffen die Art 27 ff GRCh allerdings nicht. Das zeigt eine Abschichtung nach Grundrechtsfunktionen, also danach, wie sich Grundrechte auf die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Staat auswirken können. Dabei ist die Erkenntnis entscheidend, dass soziale Grundrechte in ihrer begrifflichen Unschärfe nicht eine bestimmte Grundrechtsfunktion (nämlich die der Leistungsrechte) besetzen, sondern letzt-
18 Vgl etwa Zuleeg, EuGRZ 1992, 329 ff. 19 Formulierung von BVerfGE 33, 303 (333). 20 Vgl etwa Murswiek in: HStR Bd IX, § 192 Rn 55 ff mwN auf die Diskussion in Deutschland.
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lich als Sammelbegriff für alle Grundrechte mit sozialpolitischen Implikationen fungieren; die rechtsdogmatische Aussagekraft einer Einordnung als „soziales Grundrecht“ ist dementspr gering. Lässt man daher die Grundrechte des IV. Kapitels durch einen nach Grundrechtsfunktionen differenzierenden Verteiler laufen, so zeigt sich, dass die Kritik nicht die sozialen Grundrechte selbst, sondern lediglich eine einzelne Grundrechtsfunktion, nämlich das originäre Leistungsrecht, trifft.21 Teilweise schreiben die Art 27 ff GRCh einen sozialen Mindeststandard fest, den 12 sie auch gegen staatliche Eingriffe in Stellung bringen. Solche klassischen Abwehrund Schutzgewährrechte gewährleisten Art 28 GRCh mit der Koalitionsfreiheit, Art 27 GRCh mit der Arbeitnehmermitbestimmung, Art 30 GRCh mit dem Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, Art 31 GRCh mit der Gewährleistung gerechter und angemessener Arbeitsbedingungen und Art 32 GRCh mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen. Jeweils wird hier der in allen Mitgliedstaaten gewährleistete sozialstaatliche Mindeststandard gegen hoheitlichen Zugriff in Schutz genommen bzw aktiver hoheitlicher Schutz zur Sicherung dieses Mindeststandards eingefordert. Dieser soziale Mindeststandard bildet, nicht anders als bei den Freiheitsrechten, den Schutzbereich des Grundrechts, in den der Staat eingreift, wenn er ihn verkürzt oder keine ausreichenden Schutzmaßnahmen zu seiner Sicherung ergreift. Insoweit handelt es sich also um soziale Abwehr- und Schutzrechte, die der üblichen Prüfungstrias „Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung“ folgen.
Lösung Fall 1: Die ITF könnte mit ihrer Anordnung, keine Tarifverhandlungen mit Viking Line zu führen, gegen die Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) verstoßen. I. Voraussetzung ist zunächst, dass Art 49 AEUV anwendbar ist. Das ist deshalb zweifelhaft, weil der EuGH Tarifverträge unter Berufung auf die sozialpolitischen Bestimmungen des EG-Vertrages [= AEUV, T.K.] vom Anwendungsbereich des Kartellrechts ausgenommen hat (EuGH, Slg 1999, I-5751, Rn 60 – Albany). Der EuGH prüft, ob sich dieser Anwendungsausschluss auch auf die Grundfreiheiten erstreckt und zieht insoweit auch die Koalitionsfreiheit (Art 28 GRCh) heran. Diese schützt insb die Durchführung einer kollektiven Maßnahme einschließlich des Streikrechts. Doch kann seine Ausübung bestimmten Beschränkungen unterworfen werden: „Denn wie in Art 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erneut bekräftigt wird, werden die genannten Rechte nach dem Gemeinschaftsrecht [= Unionsrecht, T.K.] und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geschützt. Außerdem kann das Streikrecht […] nach finnischem Recht u a dann nicht ausgeübt werden, wenn der Streik gegen die guten Sitten, das innerstaatliche Recht oder das Gemeinschaftsrecht [= Unionsrecht, T.K.] verstoßen würde“ (EuGH aaO, Rn 44). Der Gerichtshof verweist zudem auf seine st Rspr, die die Ausübung der Grundrechte an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bindet, wenn sie zu Grundfreiheitseingriffen führt (EuGH aaO, Rn 46). Im Ergebnis dispensiert daher die Koalitionsfreiheit nicht vom Anwendungs-
21 Seifert, EuZA 2013, 299 (301 ff); zur „Notwendigkeit klarer Begriffe“ in diesem Kontext auch Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn 645 ff.
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bereich einer Grundfreiheit, sie kann jedoch im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung (dazu gleich III.) ein Gegengewicht zu dieser bilden. II. Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit vorliegen. Das Rundschreiben kann Viking Line davon abhalten, von seiner Niederlassungsfreiheit in Estland Gebrauch zu machen. Art 49 AEUV ist daher betroffen. Fraglich ist, ob in den Schutzbereich eingegriffen wurde. Das ist deshalb problematisch, weil die Beeinträchtigung hier nicht vom Mitgliedstaat, sondern von einem privatrechtlich organisierten Gewerkschaftsverband ausgeht (dazu auch Pießkalla, NZA 2007, 1144 [1145 ff]). Doch gilt Art 49 AEUV nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstreckt sich auch auf Regelwerke anderer Art, die die abhängige Erwerbstätigkeit, die selbständige Arbeit und die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen (EuGH aaO, Rn 33). Der EuGH begründet das mit dem Umstand, dass die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten teilweise durch Gesetze oder Verordnungen und teilweise durch Tarifverträge und sonstige Maßnahmen, die von Privatpersonen geschlossen bzw vorgenommen werden, geregelt werden. Es bestehe daher die Gefahr, dass eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit auf Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zu Ungleichheiten führen würde (EuGH aaO, Rn 34). Damit liegt ein Eingriff in die Niederlassungsfreiheit vor. III. Der Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein. ITF könnte sich auch insoweit darauf berufen, das Rundschreiben in Ausübung ihrer auch in Art 28 GRCh garantierten Koalitionsfreiheit verfasst zu haben, die dann mit der Niederlassungsfreiheit von Viking Line abgewogen werden müsste. Der EuGH erwähnt das Grundrecht im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung aber überraschenderweise nicht mehr, sondern fragt, ob der Eingriff zum Schutz von anerkannten Allgemeininteressen, zu denen auch der Schutz der Arbeitnehmer gehöre, gerechtfertigt werden kann. Die Beeinträchtigung muss daher insb verhältnismäßig sein. Die Feststellung, ob das Rundschreiben tatsächlich dem Schutz der Arbeitnehmer gedient habe, sei Sache des nationalen Gerichts. Dieses habe insb zu prüfen, ob die Arbeitsplätze durch das Umflaggen ernsthaft gefährdet sind und ob die von der Gewerkschaft betriebene kollektive Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (EuGH aaO, Rn 83 f).
14 Einige Grundrechte des IV. Kapitels enthalten gleichheitsrechtlich strukturierte
Teilhaberechte. Teilhaberechte gewährleisten gleichberechtigten Zugang zu bereits bestehenden sozialen Systemen, etwa zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art 29 GRCh), zu den Systemen der sozialen Sicherheit (Art 34 II GRCh) und zur Gesundheitsvorsorge und ärztlichen Versorgung (Art 35 1 GRCh). In jeder Verweigerung des Zugangs liegt dann eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung, die gemäß dem für Gleichheitsrechte empfohlenen Prüfungsaufbau22 geprüft werden kann. 15 Von den derivativen Teilhaberechten zu unterscheiden sind originäre Leistungsrechte, die Ansprüche auf Schaffung noch nicht existierender Einrichtungen und Vorkehrungen oder die Leistung bestimmter Lebensgüter enthalten.23 Sie allein sind es, die sich den geschilderten Bedenken aussetzen. Die Kritik an der Figur der
22 Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 709. 23 Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 183 ff.
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sozialen Grundrechte beruht also letztlich auf dem Widerstand gegen originäre Leistungsrechte. Nicht jedes soziale Recht ist aber ein solches Leistungsrecht; im Gegenteil findet sich im IV. Kapitel überhaupt kein solches Recht: Die Art 29 und 30 GRCh etwa gewähren kein Recht auf Arbeit, sondern nur ein Recht zu arbeiten, ein Recht auf Zugang zu einem bereits bestehenden Arbeitsvermittlungsmonopol und Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung. Als soziales Leistungsrecht kann man allenfalls den außerhalb des IV. Kapitels enthaltenen Anspruch auf Prozesskostenhilfe nach Art 47 III GRCh ansehen. Doch wird damit ein Recht gewährt, das zur Wahrnehmung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz unabdingbar24 und bereits im Unionsrecht (Art 76 EuGH-VerfO bzw Art 94 EuG-VerfO) anerkannt ist.
3. Die Achtung und grenzüberschreitende Erweiterung sozialer Rechte durch das Unionsrecht Die Gewährung sozialer Rechte setzt die Kompetenz zur Rechtsetzung voraus, die 16 im Sozialrecht nach wie vor überwiegend bei den Mitgliedstaaten liegt (vgl Art 153 AEUV).25 Diese Kompetenzabhängigkeit sozialer Rechte ist auch der Grund dafür, dass die Grundrechte des IV. Kapitels weitgehend auf die „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ (Art 27, 28, 30, 34, 36 GRCh) verweisen. Die Grundrechte der Charta binden nämlich primär die Union, die Mitgliedstaaten hingegen nur bei der Durchführung des Unionsrechts, dh sie entfalten ihre Wirkung nur, wenn die Union tätig werden darf. Das Unionsrecht gewährt daher regelmäßig keine sozialen Rechte. Es verpflichtet die Union aber, die sozialen Rechte zu achten (→ Rn 17 f) und erfüllt außerdem die Funktion, die in den Mitgliedstaaten gewährleisteten sozialen Rechte auf grenzüberschreitende Sachverhalte auszudehnen (→ Rn 19 f). Die Achtungsverpflichtung wird dadurch erfüllt, dass die Union nach Art 9 17 AEUV im Rahmen ihrer Politiken bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen den Erfordernissen eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung trägt. Diese sozialstaatliche Achtungsverpflichtung steht nicht im Gegensatz zum Binnenmarktziel, sondern wird als deren notwendige Ergänzung angesehen. Der Lissabonner Vertrag hat die Akzente
24 Vergleichbarer Fall im Grundgesetz: Art 7 IV GG, denn die Privatschulfreiheit ist ohne einen Anspruch auf finanzielle Förderung eine leere Hülse. 25 Näher zum Potenzial von Art 153 AEUV für die unionsrechtliche Regelung sozialer Mindeststandards Kingreen Soziales Recht, 2018, Rn 1 ff.
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bei der Bestimmung der Ziele der Union dezent verschoben.26 Art 3 EUV, die „verfassungsrechtliche Grundnorm des Integrationsprogramms“27, hebt in seinem III zwar nach wie vor das Ziel hervor, einen Binnenmarkt zu errichten, dessen Herzstück die Grundfreiheiten sind (Art 26 II AEUV). Er stellt den Binnenmarkt aber deutlicher als die Vorgängerbestimmungen Art 2 EUV und Art 2 EGV in den Dienst auch sozialpolitischer Zielsetzungen. Leitprinzip des sozial eingehegten Binnenmarktes ist nach Art 3 III UAbs 1 S 1 EUV eine in „hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“. Im gleichen normativen Atemzug werden auch die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung, sowie die Förderung sozialer Gerechtigkeit und des sozialen Schutzes als Ziele der Union genannt (Art 3 III 2 EUV). Das Ziel eines „freien und unverfälschten Wettbewerbs“ findet sich hingegen nur noch im Protokoll Nr 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb. Die unmittelbare normative Verknüpfung des Binnenmarktes mit der Notwendigkeit einer aktiven Sozialpolitik verdeutlicht, dass die Wirtschaftsverfassung der Union ein spezifisch europäisches Sozialmodell etablieren soll, das gleichermaßen auf ökonomische Freiheit und Prosperität wie auf sozialen Ausgleich baut. Die Zielbestimmung des Art 3 EUV bewegt sich zwar auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau. Sie verpflichtet die Union und ihre Organe zwar dazu, in Konfliktfällen einen Ausgleich zwischen den Zielsetzungen herbeizuführen, lässt sich aber eher schwer zu konkreten Einzelaussagen verdichten.28 Sie sind aber etwa eine Richtschnur für die Rechtsprechung.29 Daher müssen Binnenmarktvorschriften so ausgelegt werden, dass der in den Mitgliedstaaten gewährleistete soziale Schutz nicht beeinträchtigt wird. 18 Beispiel: Der EuGH hatte in mehreren Fällen zu entscheiden, ob Sozialversicherungsmonopole und der mit ihnen einhergehende Versicherungszwang mit Art 101, 102, 106 AEUV vereinbar ist. Fraglich war dabei insb, ob diese als Unternehmen im kartellrechtlichen Sinne anzusehen waren. Der EuGH hat dies bei denjenigen Systemen verneint, die auf dem Solidarprinzip beruhten, dh insb auf einem Ausgleich zwischen Besser- und Schlechterverdienenden sowie zwischen Gesunden und Kranken. Er hat damit zugleich die Entscheidung des betroffenen Mitgliedstaates, ein solidarisches Versicherungssystem mit Versicherungspflicht zu etablieren, hingenommen, ohne es auf seine Rechtfertigung hin zu überprüfen.30
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Kingreen Soziales Fortschrittsprotokoll, S 42 ff. Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 EUV Rn 1. Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 EUV Rn 5. Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 3 EUV Rn 7. EuGH, verb Rs C-159/91 u C-160/91, Slg 1993, I-637, Rn 9 ff – Poucet u Pistre.
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Das Unionsrecht achtet die in den Mitgliedstaaten gewährleisteten sozialen Rechte 19 aber nicht nur, sondern dehnt sie auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte aus.31 Es ermöglicht damit grenzüberschreitende soziale Teilhabe. So zielt die Wanderarbeitnehmerverordnung VO 883/2004 darauf ab, diejenigen Hindernisse im mitgliedstaatlichen Sozialrecht zu beseitigen, die geeignet sind, den Einzelnen von der Wahrnehmung seiner grenzüberschreitenden Freizügigkeit abzuhalten. Das geschieht nicht durch Harmonisierung, sondern durch Koordinierung der nationalen Sozialrechtsordnungen. Die Verordnung stellt zu diesem Zweck, insoweit vergleichbar mit dem Internationalen Privatrecht, Kollisionsregeln auf, die bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zur Vermeidung von Doppelbelastungen und -begünstigungen über das anwendbare Recht entscheiden. Nach Art 11 I VO 883/2004 unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, daher den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates. Für abhängig Beschäftigte und selbstständig Erwerbstätige ist das nach Art 11 III lit a) VO 883/2004 vorbehaltlich abweichender Regelungen in den Art 12–16 VO 883/20043 der Beschäftigungsort. Die Wanderarbeitnehmerverordnung enthält ferner wichtige Sachregeln, die verhindern, dass Grenzübertritt und Staatsangehörigkeit zu sozialrechtlichen Brüchen und Benachteiligungen führen: Ein Verbot der sozialrechtlichen Diskriminierung von EU-Ausländern, den Grundsatz der Tatbestandsgleichstellung, der fingiert, dass bestimmte sozialrechtlich relevante Ereignisse, die in einem Mitgliedstaat eingetreten sind, so behandelt werden, als seien sie im Gebiet des zuständigen Staates verwirklicht worden, ferner das Gebot der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und schließlich den Grundsatz des Leistungsexports.32 Die Wanderarbeitnehmerverordnung sichert die durch die Personenverkehrs- 20 freiheiten (Art 45, 49 AEUV) gewährleistete grenzüberschreitende Erwerbstätigkeit sozialrechtlich ab. Der EuGH hat darüber hinaus aus den Produktverkehrsfreiheiten (Art 34, 56 AEUV) Ansprüche auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen abgeleitet, die nicht durch den Tatbestand der Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat bedingt ist.33 2011 ist die Patienten-Richtlinie RL 2011/24 in Kraft getreten, die die Rechtsprechung des EuGH kodifiziert, in einzelnen Punkten aber auch von dieser abweicht.34
31 Vgl zur Systematik Kingreen, EuR 2010, 338 (346 ff). 32 Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 48 AEUV Rn 15 ff. 33 EuGH, verb Rs C-120/95 u C-158/96, Slg 1998, I-1831 ff – Decker; Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931 ff – Kohll; Rs C-157/99, Slg 2001, I-5473 ff – Smits u Peerboms; Rs C-385/99, Slg 2003, I-4509 ff – Müller-Fauré; Rs C-8/02, Slg 2004, I-2641 ff – Leichtle; Rs C-372/04, Slg 2006, I-4325 ff – Watts = JK 2007, EGV Art 49/ 15; Rs C-444/05, Slg 2007, I-3185 ff – Stamatelakis = JK 2008, EGV Art 49/18. 34 Dazu etwa Wollenschläger, EuR 2012, 149 (172 ff).
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21 Beispiel: Art 17 VO 883/2004 ermöglicht eine umfassende Inanspruchnahme von Leistungen in einem anderen als dem Versicherungsstaat, jedoch nur bei dauerhaftem Aufenthalt in diesem Staat. Begibt sich der Versicherte hingegen nur zum Zwecke der Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung in einen anderen Staat (etwa, weil er sich davon Kostenvorteile in Gestalt von geringeren Zuzahlungen verspricht), sind die Voraussetzungen des Art 20 II 2 VO 883/2004 derart streng, dass eine Leistungsinanspruchnahme regelmäßig nicht in Betracht kommt. Insoweit folgt dann aber unmittelbar aus den Grundfreiheiten (und nunmehr aus Art 7 der Patienten-Richtlinie RL 2011/24) ein Anspruch auf Leistungsinanspruchnahme, der aber anders ausgestaltet ist als derjenige aus der Wanderarbeitnehmerverordnung.35 22 Aus den Art 18 I, Art 20 I, Art 21 I AEUV folgert der Gerichtshof ferner, dass Unions-
bürger, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, grds auch sozialrechtlich gleichbehandelt werden müssen. Auch hier werden also die nach mitgliedstaatlichem Sozialrecht gewährleisteten Rechte durch das Unionsrecht ausgeweitet: Während aber Wanderarbeitnehmerverordnung und Patienten-Richtlinie ein vorhandenes Sozialrechtsverhältnis im Herkunftsstaat auf grenzüberschreitende Sachverhalte erweitern, also eine territoriale Erstreckung anordnen, begründen die Art 18 I, Art 20 I, Art 21 I AEUV im Zielstaat ein neues Sozialrechtsverhältnis, erweitern also den Kreis der Berechtigten in dem Umfang, in dem die soziale Leistung Inländern im Zielstaat gewährt wird. Auch hier ist die Rechtsprechung des EuGH mittlerweile kodifiziert worden: Nach Art 24 I RL 2004/38 besteht ein grundsätzlich unbeschränkter und damit auch sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch aller Unionsbürger; bei Leistungen der Sozialhilfe besteht dieser nach Art 24 II RL 2004/38 aber erst nach drei Monaten und bei Studienbeihilfen sogar erst nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts (= Daueraufenthalt).
II. Besonderer Teil: Die einzelnen sozialen Grundrechte 23 Die in der Charta gewährleisteten Grundrechte lassen sich nicht nur dogmatisch
(→ Rn 3 ff), sondern auch thematisch typologisieren. Die Art 27–33 GRCh begründen im Wesentlichen arbeitsverfassungsrechtliche Garantien, Art 34 GRCh enthält eine sozialverfassungsrechtliche Schutzbestimmung, wohingegen die Art 35–38 GRCh keine genuin sozialen Rechte garantieren, sondern wichtige Gemeinwohlgüter schützen. Zentrale Bezugsquellen der Art 27–34 GRCh sind erstens die vom Europarat 1961 beschlossene Europäische Sozialcharta (ESC, → Kingreen § 8.1 Rn 2) und zweitens die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer
35 Dazu näher Kingreen in: Becker/Kingreen (Hrsg), SGB V Gesetzliche Krankenversicherung, 8. Aufl 2022, § 13 Rn 44 ff.
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(GSGA), die 1989 von allen Staats- und Regierungschefs der damaligen Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Großbritannien proklamiert wurde, aber nicht rechtsverbindlich ist. Oftmals gibt es zudem mittlerweile einschlägiges Sekundärrecht, das den sachnäheren Maßstab enthält, wenn und soweit es anwendbar ist. Dieser Prüfungsvorrang des Sekundärrechts hat zur Folge, dass es nach wie vor keine Entscheidung des EuGH gibt, bei der ein soziales Grundrecht einen selbständigen Prüfungsmaßstab bildet. Eine weitere Gemeinsamkeit der in Art 27–34 GRCh enthaltenen Rechte besteht darin, dass sie mit Ausnahme von Art 28 GRCh keine Entsprechungen in der EMRK haben. Das ist für die Auslegung von nicht unerheblicher Bedeutung. Während die Bezugsquellen die Herkunft einer Grundrechtsnorm erklären und als solche allenfalls Anhaltspunkte für die Auslegung liefern können, gilt für die EMRK Art 52 III GRCh. Die EMRK ist danach nicht nur eine Bezugs-, sondern eine Rechtserkenntnisquelle, die die systematische Auslegung des Unionsgrundrechts maßgeblich bestimmt.36 Wichtig ist diese Unterscheidung auch für die Rechtfertigungsprüfung: Da die sozialen Grundrechte mit Ausnahme von Art 28 GRCh keine Entsprechung in der EMRK haben, gilt stets nur der allgemeine Schrankenvorbehalt des Art 52 I GRCh, während für Art 28 GRCh auch insoweit Art 52 III GRCh maßgebend ist.37 Das schließt aber im Einzelfall nicht aus, gleichwohl auf die Rechtsprechung des EGMR zurückzugreifen, wenn und soweit dieser aus den Freiheitsrechten der EMRK soziale Teilhaberecht ableitet (→ Kingreen § 8.1 Rn 4 ff).
1. Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen, Art 27 GRCh Art 27 GRCh knüpft an Art 21 RESC sowie Nr 17 und 18 GSGA an. Es ist umstritten, ob 24 die Norm nur einen Grundsatz iSv Art 52 V GRCh oder ein Grundrecht enthält.38 Für den Charakter als Grundrecht spricht, dass einem funktional bestimmten Kreis von Berechtigten eine Rechtsposition eingeräumt wird und die amtliche Überschrift ausdrücklich von einem „Recht“ spricht. Große praktische Bedeutung dürfte dieser Streit nicht haben, weil die Norm in ihrem Schutzbereich zwar einen Unterrichtungs- und Anhörungsanspruch einräumt, aber nicht selbst regelt, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen dieser bestehen muss. Insoweit verweist sie nämlich neben den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auch auf das Unionsrecht: Hier gibt es zahlreiche sekundärrechtliche, Art 27 GRCh konkretisierende Be-
36 Dazu näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 21 ff. 37 Zum problembeladenen Verhältnis zwischen Art 52 I und III GRCh Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 38. 38 Nachweise zum Streitstand bei Jarass GRCh, Art 27 Rn 3.
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stimmungen, die die Anhörungs- und Unterrichtungsansprüche näher ausgestalten, etwa bei Massenentlassungen oder beim Übergang von Unternehmen.39 Allgemein wird man in Anlehnung an Art 21 RESC aus Art 27 GRCh den Anspruch ableiten können, regelmäßig oder zu gegebener Zeit in einer verständlichen Weise über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des beschäftigenden Unternehmens unterrichtet zu werden und rechtzeitig zu beabsichtigten Entscheidungen gehört zu werden, welche die Interessen der Arbeitnehmer erheblich berühren könnten, insbesondere zu Entscheidungen, die wesentliche Auswirkungen auf die Beschäftigungslage im Unternehmen haben könnten. Adressaten der Norm sind nach Maßgabe von Art 51 I GRCh Union und Mitgliedstaaten. Art 27 GRCh entfaltet aber keine Drittwirkung.40 25 Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen gilt Art 52 I GRCh. Ein legitimes Ziel, das die Beschränkung des Auskunfts- und Informationsanspruchs rechtfertigen kann, sind namentlich das Berufs-/Unternehmensgeheimnis und die Persönlichkeitsrechte (vgl auch Art 21 RESC).
2. Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, Art 28 GRCh 26 Die Grundrechtecharta schützt die Koalitionsfreiheit in zwei auch systematisch ge-
trennten Bestimmungen. Art 12 I GRCh schützt die Koalitionsfreiheit dem Grunde nach, dh als Recht, eine Koalition zu gründen und ihr beizutreten, Art 28 GRCh hingegen die Koalitionsbetätigungsfreiheit, und zwar speziell das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen.41 Das Grundrecht stützt sich ausweislich der Charta-Erläuterungen auf Art 6 ESC und Nr 12–14 GSGA. Anders als bei den anderen sozialen Grundrechten wird zudem Art 11 EMRK unter Einschluss der dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR als Rechtserkenntnisquelle genannt;42 merkwürdigerweise ist diese Entsprechung aber in die Erläuterungen zu Art 52 GRCh nicht aufgenommen worden.43 27 In den sachlichen Schutzbereich von Art 28 GRCh fallen das Aushandeln und der Abschluss von Tarifverträgen, aber auch Arbeitskampfmaßnahmen. Der EuGH betont unter Hinweis auf die EGMR-Rechtsprechung, dass „kollektive Maßnahmen sowie Tarifverhandlungen und Tarifverträge […] eines der Hauptmittel der Ge-
39 40 41 42 43
Vgl die Aufstellung bei Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 27 GRCh Rn 16 f. EuGH, Urt v 15.01.2014, Rs C-176/12, DÖV 2014, 306, Rn 45 ff – Association de médiation sociale. Rixen/Scharl in: Stern/Sachs GRCh, Art 28 Rn 15 f. Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/26. Genannt wird hier nur Art 12 I GRCh, vgl Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/34.
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werkschaften zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder sein können.“44 Geschützt ist aber auch die Aussperrung als Arbeitskampfmittel der Arbeitgeber.45 Persönlich sind nicht nur die jeweiligen Verbände geschützt, sondern auch die einzelnen Arbeitnehmer und Arbeitgeber.46 Über die Aussage, dass auch im Unionsrecht Tarifvertrags- und Arbeitskampf- 28 rechte grundsätzlich geschützt sind, geht Art 28 GRCh allerdings nicht hinaus. Insbesondere die Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Eingriffen ist daher weitgehend auf die Hinzuziehung von anderen Normen angewiesen, namentlich von Art 11 EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR (Art 52 III GRCh).47 Insoweit war etwa die Frage umstritten, ob sich aus der EGMR-Rechtsprechung48 ein Streikrecht auch für Beamte ableiten lässt, das dann auch für die Auslegung von Art 28 GRCh relevant wäre und einen erheblichen Konflikt mit der in Deutschland herrschenden Auslegung von Art 33 V GG heraufbeschworen hätte; das Bundesverfassungsgericht hat das aber verneint.49 Erhebliches Potenzial für die Rechtfertigungsprüfung hat ferner der Verweis in Art 28 GRCh auf das Unionsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten; er birgt aber auch die Gefahr einer Relativierung des Grundrechts durch einfaches Recht. So hat das sekundäre Unionsrecht Bedeutung für die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Koalitionsbetätigungsfreiheit Eingriffe in die Personenverkehrsfreiheiten zulässt.50 Beispielsweise regelt etwa die Entsende-Richtlinie51 die Anwendung von arbeitsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten auf die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgeber zur Erbringung von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden (Art 1 RL 96/71). Sie hält die Mitgliedstaaten an, dafür Sorge zu tragen, dass die in ihren Rechts-/Verwaltungsvorschriften oder den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen geregelten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auch auf entsandte Arbeitnehmer angewendet werden (Art 3 I RL 96/71).
44 EuGH, Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779, Rn 86 – Viking Line = JK 2007, EGV Art 43/9. 45 Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 28 GRCh Rn 17. 46 Jarass GRCh, Art 28 Rn 10. 47 Da der EGMR auch das Völkervertragsrecht in die Auslegung von Art 11 EMRK einbezieht (→ Kingreen § 8.1 Rn 19), könnte auch dieses für die Auslegung von Art 28 GRCh relevant werden. 48 Vgl namentlich EGMR, Urt v 12.11.2008, 34503/97, NZA 2010, 1425 – Demir u Baykara/Türkei. 49 BVerfGE 148, 296 Rn 163 ff; anders noch BVerwGE 149, 117 (130 ff); dazu Becker, EuR 2019, 469 (497 ff); Manssen, JURA 2015, 835 (839 ff). 50 Dazu Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 28 GRCh Rn 22 ff. 51 RL 96/71 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl 1997 Nr L 18 S 1.
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29 Beispiel: (EuGH, Slg 2007, I-11767 ff – Laval): Arbeitnehmer des lettischen Bauunternehmens Laval wurden zur Errichtung einer Schule im schwedischen Vaxholm auf eine Baustelle der Baltic, einer 100 %igen Tochterfirma von Laval in Schweden entsandt. Da es in Schweden keinen gesetzlichen Mindestlohn und auch keine Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gab, verlangten die schwedischen Gewerkschaften von Laval den Abschluss eines Tarifvertrages bzw den Beitritt zum bestehenden Tarifvertrag (der vor allem einen Mindestlohn vorsah). Laval schloss hingegen nach dem Scheitern der Verhandlungen in Schweden einen Tarifvertrag mit einer lettischen Gewerkschaft ab, bei der die meisten der nach Schweden entsandten Arbeitnehmer beschäftigt waren. Die schwedische Gewerkschaft leitete daraufhin nach schwedischem Recht zulässige, kollektive Maßnahmen in Gestalt von Blockaden ein, die schließlich dazu führten, dass die Gemeinde vom Vertrag mit Laval zurücktrat. Der EuGH sah darin einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV), welcher zwar grundsätzlich durch die Koalitionsbetätigungsfreiheit (Art 28 GRCh) und das daraus folgende Recht auf kollektive Maßnahmen gerechtfertigt werden kann. Insoweit kam es darauf an, ob die schwedischen Gewerkschaften auch berechtigt waren, solche Bedingungen durch Streiks durchzusetzen, die in nicht allgemein geltenden Tarifverträgen enthalten sind. Insoweit kam es auf die Auslegung von Art 3 VII RL 96/71 an. Danach steht zwar Art 3 I RL 96/71 solchen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen nicht entgegen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind. Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich aber die einschlägige Vergleichsgruppe für diesen Günstigkeitsvergleich nicht entnehmen:52 Ist damit gemeint, dass auch solche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen durchgesetzt werden können, die über den gesetzlichen oder allgemeinverbindlichen tarifvertraglichen Standard im Aufnahmeland (also in Schweden) hinausgehen? Diese Ansicht hatten namentlich die Generalanwälte Mengozzi und Bot vertreten.53 Oder handelt es sich bei Art 3 VII RL 96/71 um eine kollisionsrechtliche Norm, die in den Entsendungsfällen nur das anwendbare Recht festlegt, indem es besagt, dass die über die RL 96/71 erstreckten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Aufnahmestaat das zulässige Höchstniveau für die entsandten Arbeitnehmer darstellt? Für diese letztere Variante entscheidet sich der EuGH: Art 3 VII RL 96/71 erlaube es dem Aufnahmemitgliedstaat nicht, die Erbringung einer Dienstleistung in seinem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen eingehalten werden, die über die zwingenden Bestimmungen dieses Staates hinausgehen.54 Nur die Einhaltung dieser Bestimmungen können die Gewerkschaften also durch kollektive Maßnahmen durchsetzen.
3. Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst, Art 29 GRCh 30 Art 29 GRCh bildet mit dem Anspruch auf Zugang zu einem unentgeltlichen Ar-
beitsvermittlungsdienst einen wichtigen Baustein zur Erreichung des Ziels der Vollbeschäftigung (Art 3 III UAbs 2 EUV). Er enthält damit zugleich eine wichtige Er-
52 Vgl für Nachweise zum diesbezüglichen Meinungsstreit vor der Laval-Entscheidung Tscherner Arbeitsbeziehungen und europäische Grundfreiheiten, 2012, S 203 (266 ff). 53 Schlussanträge GA Mengozzi, EuGH, Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767, Rn 198 – Laval; Schlussanträge GA Bot, Rs C-346/06, Slg 2008, I-1989, Rn 83 ff – Rüffert. 54 EuGH, Rs C-341/05, Slg 2007, I-11767, Rn 80 f – Laval.
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gänzung und Abstützung des Grundrechts der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh).55 Wesentliche Bezugsquelle des Grundrechts ist Art 1 Nr 3 ESC,56 während die in den Erläuterungen gleichfalls genannte Nr 13 GSGA hier nicht passt, weil es nicht um Kollektivverhandlungen, sondern um den individuellen Anspruch auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst geht. Konkretisierendes Sekundärrecht existiert hier nicht, was erklärt, dass die Vorschrift keinen diesbezüglichen Ausgestaltungsvorbehalt enthält. Sachlich bezieht sich die Vorschrift auf vorhandene Arbeitsvermittlungsdienste, begründet aber keine Verpflichtung, diese zu errichten.57 Die primär an das Grundrecht gebundene Union wäre dafür auch gar nicht zuständig; die Mitgliedstaaten müssen lediglich jedermann den Zugang gewähren; ihnen kann aber wegen Art 51 II GRCh ebenfalls keine Errichtungsverpflichtung auferlegt werden. Allerdings hält Art 29 GRCh die Unionsorgane dazu an, bei der Schaffung und Auslegung des Unionsrechts die Funktionsfähigkeit von Arbeitsvermittlungsdiensten nicht zu beeinträchtigen. Beispiel: Das (nicht mehr bestehende) Arbeitsvermittlungsmonopol der früheren Bundesanstalt für 31 Arbeit und der damit einhergehende Ausschluss privater Arbeitsvermittler verstößt nicht grundsätzlich gegen Art 101 AEUV. Anders ist es aber, wenn sie nicht in der Lage ist, die Nachfrage auf dem Markt nach Arbeitsvermittlungsleistungen zu befriedigen.58
4. Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung, Art 30 GRCh Art 30 GRCh enthält ein Grundrecht und nicht nur einen Grundsatz.59 Grundrecht- 32 liche Bezugsquelle von Art 30 GRCh ist Art 24 RESC. Die Erläuterungen nennen darüber hinaus die RL 2001/23 über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen und die RL 80/987 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, die durch die RL 2002/74 geändert wurde.60 Das ist deshalb wichtig, weil auch hier der grundrechtliche Schutz nach Maßgabe ua des sekundären Unionsrechts gewährleistet wird.61
55 Hüpers/Reese in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 29 Rn 6. 56 Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/26. 57 Ross in: Schwarze, EU-Komm, Art 29 GRCh Rn 2, 5. 58 EuGH, Rs C-41/90, Slg 1991, I-1979, Rn 25 – Höfner u Elser. 59 HM, vgl nur Jarass GRCh Art 30 Rn 2; anders Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 30 GRCh Rn 6. 60 Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/26. 61 Näher zu den sekundärrechtlichen Konkretisierungen Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 30 GRCh Rn 6 f.
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Sachlich schützt das Grundrecht Arbeitnehmer vor ungerechtfertigten Entlassungen. Für die schwierige Frage, wann Entlassungen gerechtfertigt sind und wann nicht, dürfte es maßgeblich auf das nationale Kündigungsschutzrecht und die dazu ergangene Rechtsprechung ankommen. Eine Entlassung ist darüber hinaus aber immer ungerechtfertigt, wenn sie mit einem der in Nr 3 des Anhangs zu Art 24 RESC genannten Gründen erfolgt (Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft, Betätigung als Arbeitnehmervertreter, Klage gegen den Arbeitgeber, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Familienstand, Familienpflichten, Schwangerschaft, Religion, politische Anschauung, nationale oder soziale Herkunft, Mutterschafts-/Elternurlaub, vorübergehende Abwesenheit wegen Krankheit62). Weitere Verbotstatbestände enthält Art 1 RL 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, die nach ihrem Art 3 I lit c) auch für die Beschäftigungs- und Entlassungsbedingungen und damit auch für Kündigungen gelten.63 Grundsätzlich verbotene Entlassungsgründe sind danach neben den bereits genannten auch Behinderung,64 sexuelle Ausrichtung und Alter, wobei altersbedingte Entlassungen (etwa im Rahmen einer Sozialauswahl) nach Art 6 RL 2000/78 gerechtfertigt werden können. 34 Adressaten der Norm sind nach Maßgabe von Art 51 I GRCh Union und Mitgliedstaaten. Eine Bindung der Arbeitgeber – die angesichts des Wortlauts und des Sinn und Zwecks der Norm an sich nahe läge, schließlich sind sie es, die ggf Arbeitnehmer entlassen! – wird unter Hinweis auf Art 51 I GRCh teilweise abgelehnt.65 Methodisch zwingend ist diese Auslegung nicht, wenn man Art 30 GRCh als lex specialis gegenüber dem allgemeinen Art 51 I GRCh ansieht.66 Selbst wenn man dies aber anders sähe, müsste Art 30 GRCh jedenfalls bei der Auslegung des einfachen Rechts Berücksichtigung finden.67 Die besseren Gründe sprechen daher für eine (zumindest mittelbare) Drittwirkung von Art 30 GRCh.
62 Für die familienbezogenen Verbotstatbestände dürfte allerdings Art 33 II GRCh vorrangig sein, vgl Frenz GR, Rn 3835. 63 Dazu EuGH, Rs C-467/01, Slg 2006, I-6471, Rn 4 – Chacón Navas. 64 Zur möglichen Rechtfertigung EuGH, Rs C-467/01, Slg 2006, I-6471, Rn 51 – Chacón Navas. 65 Frenz GR, Rn 3846 f und wohl auch Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 30 GRCh Rn 5. 66 Wie hier allgem auch Iliopoulos-Strangas Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, 2010, S 967 ff, 977 ff. 67 Das entspricht der Idee der mittelbaren Drittwirkung, vgl dazu Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 270.
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5. Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Art 31 GRCh Art 31 GRCh enthält zwei grundrechtliche Gewährleistungen68 mit unterschiedli- 35 chen Bezugsquellen. Die Gewährleistung gesunder, sicherer und würdiger Arbeitsbedingungen (dazu Art 156 AEUV) in Abs 1 stützt sich auf die RL 89/391 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz. Die Erläuterungen erwähnen ferner Art 3 ESC, Art 26 RESC und Nr 19 GSGA. Der angemessene Arbeitsbedingungen (Höchstarbeitszeit, Ruhezeiten, Urlaub) gewährleistende Abs 2 geht auf die RL 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sowie auf Art 2 ESC und Nr 8 GSGA zurück.69 Insbesondere zum Arbeitszeit- und Urlaubsrecht gibt es mittlerweile reichhaltige Rechtsprechung des EuGH, die auch für die Auslegung von Art 31 II GRCh fruchtbar gemacht werden kann. Beispiele: Der EuGH hatte zu entscheiden, ob die ärztlichen Bereitschaftsdienste in Krankenhäu- 36 sern unter den Begriff der Arbeitszeiten nach Art 2 RL 93/104 fallen oder als Ruhezeiten gelten. Der EuGH sieht die Bereitschaftsdienste (anders als die Rufbereitschaft, die keine Anwesenheit im Krankenhaus voraussetzt) wegen der Pflicht zur Anwesenheit und der ggf erforderlichen Leistungserbringung als Arbeitszeiten an.70 Diese Entscheidung hat die zuvor bestehende Praxis beendet, dass Ärzte nach dem regulären Dienst noch Nachtbereitschaften in den Krankenhäusern auf sich nehmen müssen. – Wesentlichen Einfluss hat die Rechtsprechung des EuGH auch auf die Frage, ob der Jahresurlaub bei Krankheit entfällt oder nachgeholt/abgegolten werden kann/muss.71
Aus den gleichen Gründen wie bei Art 30 GRCh (→ Rn 34) verpflichtet Art 31 GRCh 37 nicht nur Union und Mitgliedstaaten, sondern auch die Arbeitgeber selbst, entfaltet also (mittelbare) Drittwirkung.72
68 Es handelt sich auch hier nicht um einen bloßen Grundsatz nach Art 52 V GRCh, vgl Jarass GRCh Art 31 Rn 2. 69 Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/26. 70 EuGH, Rs C-151/02, Slg 2003, I-8389, Rn 44 ff – Landeshauptstadt Kiel. 71 Dazu EuGH, verb Rs C-350/06 und C 520/06, Slg 2009, I-179 ff – Schultz-Hoff und Rs C-214/10, Slg 2011, I-11757 ff – KHS sowie etwa Gehlhaar, NJW 2012, 271 ff und Höpfner, RdA 2013, 16 (18). 72 And etwa Schlussanträge GA Trstenjak, EuGH, Urt v 08.09.2011, Rs C-282/10, Rn 80 ff – Dominguez. Für eine mittelbare Drittwirkung Perner Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 2013, 178 f, und Seifert, EuZA 2013, 299 (309 f).
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6. Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz, Art 32 GRCh 38 Art 32 GRCh enthält im Wesentlichen zwei Gewährleistungen: Ein absolutes Verbot
der Beschäftigung von Kindern (Abs 1) und die Verpflichtung, Jugendlichen am Arbeitsplatz einen besonderen Schutz angedeihen zu lassen (Abs 2). Ausweislich der Erläuterungen stützt sie sich auf Art 7 ESC, die Nrn 20 bis 23 GSGA sowie die RL 94/ 33 über den Jugendarbeitsschutz.73 Die Vorschrift begründet nicht nur einen Grundsatz (Art 52 V GRCh), sondern ein subjektives Grundrecht.74 39 In den persönlichen Schutzbereich von Abs 1 fallen, wie Abs 1 S 2 (Ende der Schulpflicht) und die vorstehend genannten Bezugsquellen belegen, Kinder bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres, während unter die in Abs 2 geschützten Jugendlichen Personen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres fallen. Der Begriff „Kind“ wird hier also anders verwendet als bei Art 24 GRCh, der alle Personen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, also auch Jugendliche, umfasst.75 Sachlich ist das Arbeitsverbot des Abs 1 grundsätzlich umfassend; es erfasst auch geringfügige Beschäftigungen und die Ausbildung.76 Abs 2 lässt Arbeit von Jugendlichen zwar zu, ist aber so auszulegen, dass Jugendliche gegenüber sonstigen Arbeitnehmern privilegiert und ihrem Entwicklungsstand entsprechend zu behandeln sind; wichtige Anhaltspunkte enthalten insoweit insb die Art 8–12 RL 94/33. 40 Verpflichtet sind nicht nur die Union und die Mitgliedstaaten, sondern aus den bei Art 30 GRCh genannten Gründen (Rn 34) auch private Arbeitgeber. Eine Rechtfertigung von Eingriffen in Abs 1 kommt vor allem unter den Voraussetzungen des Art 4 II RL 94/33 in Betracht. Danach können die Mitgliedstaaten aber vorsehen, dass das Verbot der Kinderarbeit nicht gilt für kulturelle und ähnliche Aktivitäten sowie für Kinder, die mindestens 14 Jahre alt sind und im Rahmen eines Systems der dualen Ausbildung oder eines Betriebspraktikums arbeiten sowie für bestimmte leichte Arbeiten.
73 Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/26. 74 Zur Begründung näher Frenz GR, Rn 3939 ff und Riedel in: Meyer/Hölscheidt, ChGr Art 32 Rn 10. Die Frage ist str, and die hM, vgl etwa Ross in: Schwarze, EU-Komm, Art 32 GRCh Rn 3. 75 Frenz GR, Rn 3950 ff u Rn 3958 ff; Jarass GRCh Art 32 Rn 5. 76 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 32 GRCh Rn 2.
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7. Familien- und Berufsleben, Art 33 GRCh Der auf Art 16 I ESC gestützte77 Abs 1 schützt die Familie als rechtliche, soziale und 41 wirtschaftliche Gemeinschaft und entfaltet damit namentlich im Bereich des Steuer- und Sozialrechts Rechtswirkungen. Das grenzt ihn zugleich von Art 9 GRCh ab, der die Familie eher als Ausprägung des Persönlichkeitsrechts, als emotionale Gemeinschaft, schützt. Unter den Begriff der Familie fallen alle Lebensgemeinschaften mit Kindern sowie sonstige Lebens- und Beistandsgemeinschaften, die die Funktionen der Familie übernehmen.78 Die Vorschrift enthält ein Grundrecht, nicht nur einen Grundsatz.79 Abs 2 kann sich auf mehrere sekundärrechtliche Regelungen im Unionsrecht 42 stützen: Die RL 92/85 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (sog Mutterschutz-Richtlinie) und die Richtlinie RL 96/34 zu der von der UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub (Elternurlaubs-Richtlinie); ferner lehnt sie sich an Art 8 ESC und Art 27 RESC an.80 Es handelt sich um ein Grundrecht und nicht um einen Grundsatz.81 Beim sachlichen Schutzbereich ist zu differenzieren: Während Var 1 und 2 das insgesamt 14 Wochen vor und nach der Geburt umfassende Stadium der Mutterschaft arbeitsrechtlich schützen,82 gewährleistet Var 3 den darüber hinausgehenden Elternurlaub. Jeweils wird damit das Ziel verfolgt, Familien- und Berufsleben miteinander in Einklang zu bringen.
8. Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Art 34 GRCh Art 34 GRCh erhält das für die Gewährleistung sozialer Sicherheit durch entspre- 43 chende Sicherungssysteme zentrale Grundrecht. Er enthält aber in seinen Absätzen 1–3 recht unterschiedliche Gewährleistungen:
77 Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/27. 78 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 3; immer noch zum traditionalistischen Familienbegriff tendierend Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 33 GRCh Rn 3. 79 Zur Begründung näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 2; anders als hier etwa Jarass GRCh, Art 33 Rn 3. 80 Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/27. 81 Zur Begründung dieser hM näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 5. 82 Näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 33 GRCh Rn 8. Thorsten Kingreen
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Abs 1 stützt sich auf die Art 153, 156 AEUV sowie auf Art 12 ESC und auf Nr 10 GSGA.83 Er bezieht sich auf mitgliedstaatliche Leistungen der sozialen Vorsorge (Rn 2), die in Deutschland im Rahmen der fünf Sozialversicherungszweige der Arbeitslosenversicherung (SGB III), Krankenversicherung (SGB V), Rentenversicherung (SGB VI), echten84 Unfallversicherung (SGB VII) und Pflegeversicherung (SGB IX), erbracht werden. Sie enthält kein Grundrecht, sondern einen Grundsatz (Art 52 V GRCh),85 der die Organe der Union anhält, im Rahmen der Setzung und Auslegung des Unionsrechts die Notwendigkeit sozialer Sicherungssysteme zu berücksichtigen. Sie ist insoweit auch Ausdruck des europäischen Gesellschaftsmodells, das für ein – natürlich nicht immer spannungsfreies – Nebeneinander von sozialstaatlicher Daseinsvorsorge und supranationaler Freiheit steht.86 Insoweit stärkt und bestätigt Abs 1 das Sozialstaatsprinzip als Bestandteil eines europäischen Verfassungsverbundes (→ Rn 17).87 45 Abs 2 begründet ein Grundrecht auf Gleichbehandlung beim Zugang zu Sozialleistungen.88 Daher sind, wie sich dann des Näheren aus den Bezugsquellen ergibt, insbesondere Staatsangehörigkeitserfordernisse in Sozialleistungstatbeständen unionsrechtlich regelmäßig rechtfertigungsbedürftig.89 Der Konvent stützt Abs 2 auf Art 12 IV (Gleichbehandlung bei Ansprüchen aus der sozialen Sicherheit, insbesondere Zusammenrechnung von Versicherungs- und Beschäftigungsjahren) und Art 13 IV ESC (Gleichbehandlung bei der Fürsorge) sowie auf Nr 2 GSGA (Gleichbehandlung der Arbeitnehmer beim sozialen Schutz des Aufnahmelandes). Genannt werden zudem die mittlerweile durch die VO 883/2004 ersetzte VO 1408/71 (sog Wanderarbeitnehmerverordnung), die vor allem die sozialen Sicherungssysteme iSv Abs 1 erfasst, sowie die durch die VO 492/2011 ersetzte VO 1612/68.90 Insbesondere diese sekundärrechtlichen Rechtsakte sind maßgebend für die nähere Ausgestaltung des Gleichbehandlungsanspruches (→ Rn 19–22).
83 Erläuterungen, ABl 2007, Nr C 303/27. 84 Die unechte Unfallversicherung gehört hingegen systematisch in den Bereich der sozialen Fürsorge, vgl etwa Becker in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht Bd 3, 4. Aufl 2021, § 78 Rn 4. 85 Zur Begründung dieser hM näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34 GRCh Rn 3. 86 Mitteilung der Kommission „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“, ABl 1996, Nr C 281/4. 87 Kingreen Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003, S 378 ff. 88 Zum Charakter von Art 34 II GRCh als Grundrecht etwa Frenz GR, Rn 4140 ff und Ross in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 GRCh Rn 7. 89 Kingreen Soziale Rechte und Migration, 2010, 24 ff, 35 ff; für ein konkretes Beispiel etwa Kingreen, SGb 2013, 132 (134 ff) und BayVBl 2014, 289 ff. 90 Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/27.
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Bezugsquellen von Abs 3, der ebenso wie Abs 1 einen Grundsatz, kein Grund- 46 recht beinhaltet,91 sind Art 13 ESC (Recht auf Fürsorge), Art 30 RESC (Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung), Art 31 RESC (Recht auf Wohnung) und Nr 10 GSGA (sozialer Schutz).92 Die Vorschrift knüpft, in Abgrenzung zu Abs 1, an die Leistungen der sozialen Fürsorge an, also an diejenigen Vorschriften des nationalen Rechts, die soziale Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Daseins vorsehen, in Deutschland etwa das Recht der sozialen Grundsicherung (SGB II, SGB XII, WoGG).93 Sekundärrechtlich hat zudem die Freizügigkeits-Richtlinie RL 2004/38 erhebliche Bedeutung. Sie steht in einem engen Zusammenhang mit der Rechtsprechung des EuGH zu den aus den Unionsbürgerrechten abgeleiteten sozialen Teilhaberechten (→ Rn 22).
91 AllgM, vgl nur Ross in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 GRCh Rn 11. 92 Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/27. 93 Vgl zur auch insoweit maßgebenden Systematik des Sozialrechts, das beitragsfinanzierte Vorsorge- und steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen unterscheidet, Becker/Kingreen/Rixen in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht Bd 3, § 75 Rn 14 ff.
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§ 8.3 Solidarität – Ausgewählte Grundsätze nach der GRCh § 8.3.1 Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-66/86, Slg 1989, 803 ff – Saeed Flugreisen u Silver Line Reisebüro; Rs C-320/91, Slg 1993, I-2533 ff – Corbeau; Rs C-393/92, Slg 1994, I-1477 ff – Almelo; Rs C-159/94, Slg 1997, I-5815 ff – Kommission/Frankreich; Rs C-360/96, Slg 1998, I-6821 ff – BFI-Holding; verb Rs C-463/00 u C-98/01, Slg 2003, I-4581 ff – Kommission/Spanien; Rs C-280/00, Slg 2003, I-7747 ff – Altmark Trans.
Schrifttum: Frenz, Konkretisierungsbedürftige Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse?, GewArch 2011, 16; Mann, Das Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, ZögU 2005, 174; Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, 725; Krajewski, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse als Element europäischer Sozialstaatlichkeit, EuR Beiheft 1/2013, 109; Kraus, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zwischen Wettbewerb und europäischen Verträgen, ZöG 43 (2020), 435; Ruffert, Zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsverfassung, AöR 134 (2009), 198; Sauter Public Services in EU Law, 2014.
I. Einführung 1 Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse leisten einen wichtigen Bei-
trag zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der EU.1 Dementsprechend betonte die Kommission in einer Mitteilung aus dem Jahre 1996 zu den Leistungen der Daseinsvorsorge2 in Europa, dass Solidarität und Gleichbehandlung in einer offenen und dynamischen Marktwirtschaft zu den Grundwerten gehören und die Leistungen der Daseinsvorsorge zur Verwirklichung dieser Ziele beitragen. Bis zur Einführung von Art 16 EGV3 (heute Art 14 AEUV) durch den Vertrag von Amsterdam fehlte im Unionsrecht eine explizite Regelung zur Einordnung gemeinwirtschaftlicher Dienste, die heute den Status eines unionalen Verfassungswertes genießen.4 Die Regelung des (heutigen) Art 106 II AEUV war insoweit zu unspezifisch und in ihrem Anwendungsbereich zu beschränkt.
1 Voet van Vormizeele in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 14 AEUV Rn 1. 2 Mitteilung der Kommission KOM (1996) 443 endg v 11.9.1996, ABl EG 1996 Nr C 281/3. 3 BGBl II 1999, 296; zur Entwicklung des Primärrechts öffentlicher Dienstleistungen Krajewski, EuR Beiheft 1/2013, 109 (112). 4 Krajewski, EuR Beiheft 1/2013, 109 (114); Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 7. Christian Calliess https://doi.org/10.1515/9783110716740-023
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Art 14 AEUV – als eine mit Art 36 GRCh gleichrangige Vorschrift5 (vgl Art 6 I 2 EUV) – hat das Spannungsverhältnis zwischen den durch öffentliche, gemeinwohlverpflichtete Unternehmen geprägten Wirtschaftsordnungen und den stärker wettbewerbsorientierten und privatwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsordnungen zum Gegenstand und ist insofern ein Kompromiss, als er die Daseinsvorsorge weder zur eigenständigen Aufgabe der Union erklärt, noch sie aus dem Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln (Art 93, 106 II, 107 II und III AEUV) ausschließt. Art 119 I AEUV bestimmt, dass die Wirtschaftspolitik der Union dem Grundsatz 3 einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist.6 In vielen Mitgliedstaaten besteht jedoch ein wichtiger öffentlicher Wirtschaftssektor, der leicht in ein Spannungsverhältnis zu den Zielen des Binnenmarktes geraten kann. Gleichwohl wird dieser seit dem Vertrag von Lissabon nicht mehr allein durch das übergreifende Ziel einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen, offenen, sondern nunmehr auch sozialen Marktwirtschaft definiert (vgl Art 3 III EUV).7 Vor allem in den romanischen Ländern, in denen Aufgaben der Daseinsvorsorge traditionell öffentlichen Unternehmen übertragen werden, die nicht gewinnorientiert, sondern mit dem Ziel arbeiten, eine flächendeckende Versorgung aller Nachfrager zu einem erschwinglichen Preis zu gewährleisten, spielt dieser Aspekt eine Rolle, aber auch unter dem Sozialstaatsprinzip Deutschlands. Solche Unternehmen oder auch staatliche Stellen, die diese Aufgaben ausführen, werden von den Staaten mit Monopolen ausgestattet oder gegen privaten Wettbewerb durch Sonderrechte abgeschirmt.8 In Frankreich wurde die besondere Rolle dieser Unternehmen unter dem Begriff des „service public“ zusammengefasst, in Deutschland spiegelt sie sich im Begriff der Daseinsvorsorge9. Die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, von denen Art 14 und 106 II AEUV sprechen, können insofern als eine Unterkategorie der Daseinsvorsorge angesehen werden. Die Aufnahme des im Grundrechtekonvent besonders heftig kritisierten10 4 Art 36 GRCh in die Charta ist vor allem auf Anregung und beharrliches Drängen der
5 So auch ausdrücklich EuGH, Urt v 7.9.2016, Rs C-121/15, Rn 40 – Anode. 6 Allgem zur europäischen Wirtschaftsverfassung Mussler Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, S 16 ff; Everling FS Mestmäcker, S 365 ff; Behrens in: Brüggemeier (Hrsg), Verfassungen für ein ziviles Europa, S 73. 7 Krit zu dieser Akzentverschiebung in der EU Ruffert, AöR 134 (2009), 198 ff. 8 Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 1. 9 Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 2; ausf zur Daseinsvorsorge Doerfert, JA 2006, 316 mwN; Koenig/Paul in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 27 („… zu Abkürzungszwecken sinnvoll, kann allerdings Missverständnisse hervorrufen …“). 10 S nur Mann, ZögU 2005, 174 (178).
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französischen Delegierten zurückzuführen11, die der spezifischen Ausprägung der französischen Wirtschaftsordnung12 mit ihrer besonderen Verantwortung des Staates für die angemessene Versorgung mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse auch unter Inkaufnahme erheblicher Wettbewerbsbeschränkungen und letztlich -verzerrungen Rechnung tragen wollten.13 5 Art 36 GRCh steht im Einklang mit Art 14 AEUV,14 gewährt jedoch kein subjektives Recht im Sinne eines „echten“ Grundrechts.15 Die Erläuterungen zur GRCh legen vielmehr dar, dass es sich primär um einen objektivrechtlichen Grundsatz handelt.16 Obschon sich keine vergleichbare Norm in anderen Menschenbzw Grundrechtskonventionen oder den Verfassungen der Mitgliedstaaten finden lässt, begründet Art 36 kein neues Recht17 und kann von den Gerichten bestenfalls als Erkenntnis- und Auslegungsmittel für Art 14 und 106 II AEUV18 herangezogen19 werden, aber auch als Abwägungsgesichtspunkt Berücksichtigung finden.20 Darüber hinaus statuiert Art 36 GRCh allenfalls noch ein subjektives, derivatives Teilhaberecht21 auf gleichberechtigten Zugang zu derartigen Diens-
11 Frenz GR, § 7 Rn 4269; Rohleder in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 5; Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 36 Rn 1 f. 12 Vgl dazu Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 36 Rn 10; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 12 ff; krit Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 1 („trojanisches Pferd“). 13 Service public als „élément de l’identité nationale“, vgl Wernicke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/ AEUV, Art 14 AEUV Rn 24 mwN. 14 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/27. 15 Frenz GR, § 7 Rn 4271; Rohleder in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 14; Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 36 Rn 37; Rengeling/Szczekalla, GR, § 29 Rn 1029 („Bekenntnis zu bestimmten Formen der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse“); aA „Abwehrgrundrecht“ mit Verweis auf den Wortlaut Knauff, EuR 2010, 725 (739 mwN). 16 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/27; vgl auch Frenz GR, § 7 Rn 4273 ff. 17 Vgl Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 36 GRCh; Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 GRCh Rn 1; Zemánek in: Arnold (Hrsg), The Convergence of the Fundamental Rights Protection in Europe, 2016, S 199 (206 f). 18 Zu den Vorgaben durch Art 14 und 106 AEUV für Art 36 GRCh ausf Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 7 ff. 19 Koenig/Paul in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 22; Wernicke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 16; Mestmäcker/Schweitzer in: Immenga/Mestmäcker, Europäisches Wettbewerbsrecht, Art 31, 86 Rn 23; Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 30. 20 Knauff, EuR 2010, 725 (729); Krajewski, DÖV 2005, 665 (668); Voet van Vormizeele in: Schwarze, EUKomm, Art 36 GRCh Rn 4. 21 Koenig/Paul in: Streinz, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 22; Jarass GRCh, Art 36 Rn 3; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 28; Heselhaus/Schreiber sprechen in der neuen Auflage dagegen nur noch von einem „Grundsatz“ und lehnen eine Vermittlung subjektiver Rechte gänzlich ab, vgl Heselhaus/Schreiber in: Heselhaus/Nowak, GR, § 38 Rn. 8 ff.
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ten.22 Der EuGH hat sich in seiner Rechtsprechung indes noch nicht direkt mit Art 36 AEUV auseinandergesetzt und hat sich auch nicht dazu veranlasst gesehen, gelegentliche Bezugnahmen in Schlussanträgen von Generalanwälten23 aufzugreifen und auszuführen.
II. Die Gewährleistungen im Einzelnen Fall: (EuGH, Rs C-320/91, Slg 1993, I-2533 – Corbeau) Herr C, ein belgischer Gewerbetreibender, erbringt im Bereich der Stadt Lüttich und Umgebung eine Dienstleistung, die in der Abholung von Postsendungen beim Absender und in der Verteilung dieser Sendungen vor dem Mittag des Folgetages besteht, sofern sich die Empfänger innerhalb des betreffenden Gebiets befinden. Sendungen, die an Empfänger außerhalb dieses Gebiets gerichtet sind, holt er beim Absender ab und verschickt sie per Post. Die belgischen Rechtsvorschriften über das Postmonopol (Moniteur Belge v 30./31.12.1956, S 8619 und Moniteur Belge v 14.8.1971, S 9510) verleihen der Regie des Postes, einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, das ausschließliche Recht, im gesamten Königreich alle Postsendungen zu sammeln, zu befördern und schließlich zu verteilen. Die Bestimmungen sehen für jeden Verstoß gegen dieses ausschließliche Recht strafrechtliche Sanktionen vor. Das daraufhin von der Regie des Postes angerufene Tribunal Correctionel Lüttich setzte das Verfahren auf Grund seiner Zweifel über die Vereinbarkeit der Vorschriften mit Unionsrecht aus und bat den Gerichtshof um Vorabentscheidung.
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1. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse a) Dienstleistungen Der Begriff der Dienstleistungen24 von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse kor- 7 respondiert dem des Art 1425 wie auch Art 106 II AEUV26, wobei unschädlich ist, dass einmal von „Diensten“ und einmal von „Dienstleistungen“ gesprochen wird. Inso-
22 Kühling in: v Bogdandy (Hrsg), Europäisches Verfassungsrecht, S 583, 604; Schwarze, Einführung in: ders (Hrsg), Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrecht, 2001, S 9 (14). 23 S nur Schlussanträge GA Alber, EuGH, C-340/99, Slg 2001, I-4109, Rn 94 – TNT; GA Jacobs, Rs C-475/ 99, Slg 2001, I-8089, Rn 175 – Ambulanz Glöckner = JK 02, EGV Art 82/1 sowie Rs C-126/01, Slg 2003, I13769, Rn 124 – GEMO; GA Poiares Maduro, Rs C-205/03 P, Slg 2006, I-6295, Rn 26 – FENIN/Kommission. 24 S auch die insofern nur Anhaltspunkte für Art 36 GRCh liefernde Legaldefinition in Art 57 AEUV. 25 Vgl dazu auch das gem Art 51 EUV zum Primärrecht zählende Protokoll Nr 26 über Dienste von allgemeinem Interesse ABl 2008 Nr C 115/308; hierzu Krajewski, EuR Beiheft 1/2013, 109 (117 f). 26 Frenz GR, § 7 Rn 4280; Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 3; Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 GRCh Rn 5.
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fern werden alle „marktbezogene[n] Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden“27, hiervon erfasst. Von dieser Umschreibung ausgehend ist der Dienstleistungsbegriff folglich weit zu begreifen28 und beinhaltet schließlich auch die Lieferung von Sachen.29
b) Allgemeines wirtschaftliches Interesse 8 Das allgemeine wirtschaftliche Interesse wird von den Mitgliedstaaten im Rah-
men ihres Ausgestaltungsspielraums determiniert und ist im Wesentlichen ebenfalls weit zu verstehen.30 Insofern werden im Rahmen einer Überprüfung durch EUGerichte lediglich offenkundige Bewertungsfehler beanstandet.31 Da es insoweit weder auf eine Gewinnerzielungsabsicht noch auf eine privatrechtliche Organisation ankommt, werden demgemäß auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten oder die staatliche Arbeitsvermittlung erfasst.32 Die Leistung sollte jedoch marktbezogen33 und nicht ausschließlich im privaten, sondern zumindest auch im öffentlichen Interesse stehen. Privat- oder Partikularinteressen34 sowie rein kulturellen, sozialen oder karitativen Zwecken dienende Tätigkeiten sind somit nicht von „allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“.35 Die klassischen Leistungen der Daseinsvorsorge, auf die der Einzelne essentiell angewiesen ist, wie etwa Wasserver- und
27 Europäische Kommission, ABl 1996 Nr C 281/3; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 22; ebenso in der Neuauflage Heselhaus/Schreiber in: Heselhaus/Nowak, GR, § 38 Rn 15. 28 Jarass, GRCh, Art 36 Rn 8. 29 Rohleder in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 20; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 21; ebenso in der Neuauflage Heselhaus/Schreiber in: Heselhaus/Nowak, § 38 Rn 17; Pielow in: Stern/ Sachs, GRCh, Art 36 Rn 43; zum Begriff „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ und seiner Funktion s auch Krajewski Grundstrukturen des Rechts öffentlicher Dienstleistungen, 2011, S 99 ff. 30 Europäische Kommission Mitteilung zu Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa ABl 2001 Nr C 17/4 Rn 22; Schlussanträge GA Dutheillet de Lamothe, EuGH, Rs 10/71, Slg 1971, 723 (739) – Muller u Hein. 31 Frenz GR, § 7 Rn 4281; Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 17; vgl EuGH, Rs C-159/94, Slg 1997, I-5815, Rn 55 f – Kommission/Frankreich; EuGH, Urt v 26.4.2018, Rs C-91/17 P, Rn 41 f – Cellnex Telecom/Kommission. 32 Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 3; vgl zum Aspekt der „wirtschaftlichen“ Interessen ferner Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 36 Rn 45. 33 Grünbuch zu Diensten von allgemeinem Interesse v 21.5.2003 KOM (2003) 270 endg Rn 16. 34 S bereits EuGH, Rs 127/73, Slg 1974, 313, Rn 23 – BRT II; Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 36 Rn 44; Rohleder in: Meyer, ChGr, Art 36 Rn 23; so auch Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 23 mwN. 35 Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 106 AEUV Rn 39; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 24 mwN.
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Abfallentsorgung36, Postdienste37, Strom-38 und Gaslieferung39 sowie Telekommunikation40 und Verkehrsdienste41, fallen regelmäßig hierunter. Kennzeichnend ist insbesondere die weiträumige, gleichmäßige Versorgung ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen Vorgangs.42 Ebenfalls sind Kriterien wie Kontinuität, Qualität, Erschwinglichkeit der Dienste sowie Nutzer- und Verbraucherschutz für den Begriff des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses bedeutsam.43 Die Rspr44 des EuG hat dem weiten Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaa- 9 ten dogmatische Konturen verliehen, indem sie klargestellt hat, dass eine Dienstleistung von Gemeinwohlinteresse im europarechtlichen Sinne immer nur dann gegeben ist, wenn der konkreten Aufgabe ein universaler und obligatorischer Charakter zukommt und diese qua Hoheitsakt (Gesetz, Verwaltungsakt, Leistungsvereinbarung) einem Unternehmen übertragen wurde. Ein Kontrahierungs- oder Leistungszwang für einen Dienstleister stellt insoweit ein typisches (wenn auch nicht zwingendes) Merkmal für den gemeinwirtschaftlichen Charakter einer Dienstleistung dar.45 Auch der EuGH betont das Erfordernis der Übertragung einer öffentlichen Leistungsverpflichtung an einen Dienstleister durch nationale Rechtsvorschriften46 und hat darüber hinaus bestimmt, dass zumindest die Art, Dauer und Tragweite der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen hinreichend genau von den Mitgliedstaaten definiert werden müssen.47
36 EuGH, Rs C-209/98, Slg 2000, I-3743, Rn 75 – Sydhavnens. 37 EuGH, Rs C-320/91, Slg 1993, I-2533, Rn 15 – Corbeau; verb Rs C-147/97 u C-148/97, Slg 2000, I-825, Rn 44 – Deutsche Post II = JK 2000, EGV Art 86/1. 38 EuGH, Rs C-393/92, Slg 1994, I-1477, Rn 48 – Almelo. 39 Rohleder in: Meyer, ChGr, 4. Aufl 2014, Art 36 Rn 20. 40 EuGH, Rs 18/88, Slg 1991, I-5941, Rn 22 – GB-INNO-BM. 41 Grundl EuGH, Rs C-280/00, Slg 2003, I-7747, Rn 87 ff – Altmark Trans; vgl auch Blanke, DVBl 2010, 1333 (1335). 42 EuGH, Rs C-320/91, Slg 1993, I-2533 Rn 15 – Corbeau; EuG, verb Rs T-528/93 ua, Slg 1996, II-649, Rn 116 – Métropole télévision; Slg 1997, II-229 Rn 67 – FFSA. 43 Vgl Grünbuch zu Diensten von allgemeinem Interesse v 21.5.2003 KOM (2003) 270 endg Rn 49. 44 EuG, Slg 2008, II-81 – BUPA; Zu Elementen eines Paradigmenwechsels in der EuGH-Rspr nach dem Lissabon-Vertrag Krajewski, EuR Beiheft 1/2013, 109 (121 ff). 45 EuG, Rs T-289/03, Slg 2008, II-81, Rn 186–190, 202–203 – BUPA. 46 Erstmals in EuGH, Rs C‑280/00, Slg 2003, I-7747Rn. 89 – Altmark Trans; auf diese Entscheidung Bezug nehmend die neueren Entscheidungen EuGH, Urt v 20.12.2017, Rs C‑66/16 P bis C‑69/16 P, Rn 71 f – Comunindad Autónoma del País Vasco ua/Kommission; EuGH, Urt v 26.4.2018, Rs C-91/17 P, Rn. 44 – Cellnex Telecom/Kommission. 47 EuGH, Urt v 20.12.2017, Rs C‑66/16 P bis C‑69/16 P, Rn. 74 – Comunindad Autónoma del País Vasco ua/Kommission; EuGH, Urt v 26.4.2018, Rs C-91/17 P, Rn. 44 – Cellnex Telecom/Kommission.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Lösung Fall: Eine Organisation wie die Regie des Postes, der die ausschließliche Befugnis zur Sammlung, Beförderung und Verteilung von Postsendungen übertragen wurde, ist als ein Unternehmen anzusehen, dem vom betreffenden Mitgliedstaat ausschließliche Rechte iSv Art 106 I AEUV gewährt wurden. Daher dürfen die Mitgliedstaaten in Bezug auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren gemäß Art 106 I AEUV keine den Wettbewerbsregeln des Vertrags widersprechenden Maßnahmen treffen oder beibehalten. Diese Bestimmung ist indes iVm Art 106 II AEUV zu lesen. Die Regie des Postes ist mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut, die in der Verpflichtung besteht, die Sammlung, die Beförderung und die Verteilung von Postsendungen zugunsten sämtlicher Nutzer, im gesamten mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet, zu einheitlichen Gebühren und in gleichmäßiger Qualität sowie ohne Rücksicht auf Sonderfälle und auf die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen Vorgangs sicherzustellen. Der EuGH entschied in der Rs Corbeau jedoch, dass ein auf ein Monopol gestütztes Dienstleistungsgebot dann gegen Unionsrecht verstößt, wenn das Verbot sich noch auf weitere Dienstleistungen erstreckt, die von den im Allgemeininteresse erbrachten Dienstleistungen abtrennbar sind und dadurch das wirtschaftliche Gleichgewicht des Monopolinhabers nicht in Frage gestellt wird.48
2. Zugang 11 Der Begriff und die Bedeutung des Zugangs war im Grundrechtekonvent besonders
umstritten.49 Im Ergebnis muss der „Zugang“ zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, dem Charakter dieser Dienstleistungen entsprechend, denknotwendig ein allgemeiner sein. Mithin bedeutet dies einen gleichberechtigten Zugang für jeden Nutzer oder Verbraucher.50 Zugleich impliziert diese Bedeutung, dass es auf die Dienstleistungsempfänger ankommt, nicht aber auf die Erbringer, die allenthalben von Art 15 und/oder 16 der Grundrechte-Charta erfasst werden und Rechte ableiten können. Unter „Zugang“ ist damit allenfalls die „Teilhabe“ im Sinne einer Gleichbehandlung der Dienstenutzer zu verstehen.51 Die Zugangsgewährleistung statuiert also kein Recht auf eine konkrete Dienstleistungserbringung; sie gibt aber ein Recht darauf, in den Genuss einer angebotenen Dienstleistung zu kommen.52 Seine Gewährleistung ist wiederum Aufgabe europäi-
48 EuGH, Rs C-320/91, Slg 1993, I-2533, Rn 19, 21 – Corbeau. 49 Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 GRCh Rn 4. 50 Frenz GR, § 7 Rn 4282; Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 GRCh Rn 4; Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 36 Rn 47 f. 51 Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 36 Rn 47. 52 Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 25.
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§ 8.3.1 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse
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scher und (im Rahmen von Art 51 I GRCh) auch mitgliedstaatlicher Gesetzgebung im Rahmen einschlägiger sekundärrechtlicher Vorgaben.53
3. Anerkennung und Achtung Art 36 spricht davon, dass die Union den Zugang zu Dienstleistungen von allge- 12 meinem wirtschaftlichen Interesse, wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit den Verträgen geregelt ist, „anerkennt und achtet“. In erster Linie findet in dieser Formulierung der Umstand Berücksichtigung, dass in den Mitgliedstaaten eine unterschiedliche Ausgangslage herrscht.54 Der Entstehungsprozess von Art 36 GRCh ist denn auch hinsichtlich seiner Formulierung von einer wechselvollen Geschichte geprägt, die im Ergebnis mit „anerkennt und achtet“ nicht nur in einem unionalen Kompromiss mündet, sondern auch einen terminologischen Gleichklang innerhalb der Charta (Art 25, 26, 34 I, III GRCh) erreicht. Letztlich bedeutet „anerkennen“ mehr als nur „achten“, weil damit nicht lediglich ein teilnahmsloses Interesse angezeigt wird. Vielmehr geht die in der Achtung enthaltene Wertschätzung durch eine Anerkennung in eine aktive, gutheißende und bestätigende Haltung über.55 Hierin ist gleichwohl keine Bestandsgarantie oder gar ein „Verschlechterungsverbot“ gegenüber mitgliedstaatlichen Sozialstandards verkörpert, das Liberalisierungsschritte der Union a priori ausschließt.56
4. Förderung des Zusammenhalts in der Union Die Anerkennung und Achtung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftli- 13 chen Interesse dient letztendlich dem Ziel57 den sozialen und territorialen Zusammenhalt innerhalb der Union zu fördern und lehnt sich im Wortlaut an Art 14 AEUV („… in Anbetracht ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts …“) an. Die Förderung des territorialen Zusammenhalts findet vor allem dadurch statt, dass durch die flächendeckende Versorgung mit elementar
53 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 5. 54 Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 26. 55 Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 26; aA Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 36 Rn 51: „Im Kern folgt aus allem eine Unterlassenspflicht der EU-Organe…“. 56 Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 31; aA Frenz GR, § 7 Rn 4302, 4304; Knauff, EuR 2010, 725 (739); Meyer/Engels, ZRP 2000, 368 (371). 57 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 4; Frenz GR, § 7 Rn 4294. Christian Calliess
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
wichtigen Allgemeindiensten auch entlegene Gebiete erreicht werden.58 Diese Zweckrichtung verdeutlicht den Stellenwert gemeinwirtschaftlicher Dienste insbesondere auf unionaler Ebene gerade auch vor dem Hintergrund, dass die effiziente und qualitativ einwandfreie Erbringung gemeinwohlorientierter Dienstleistungen im Laufe der Entwicklung zu einem „Kern des Europäischen Gesellschaftsmodells“59 avanciert ist und die soziale Flankierung des Binnenmarktes als gewährleistet verstanden werden kann.60 14 Warum in Art 36 GRCh lediglich der „soziale und territoriale“, nicht aber der „wirtschaftliche“ Zusammenhalt erwähnt ist, wie in einigen anderen, einen eigenen Politikbereich der Union (Art 174 ff AEUV) bildenden Vorschriften, ist unklar, könnte aber darauf zurückzuführen sein, dass einem Automatismus einer EU-finanzierten Förderung entgegengewirkt werden sollte.61
III. Abschließende Würdigung 15 Die Kommission bezeichnet die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen
Interesse als „Grundsäulen…, auf denen das europäische Gesellschafts- (und) Sozialmodell gründet“.62 Sie stehen dessen unbenommen jedoch zugleich in einem latenten Spannungsverhältnis zwischen europäischem (Binnen-)Markt und (Mitglied-) Staat.63 Die Bestimmung des Art 36 GRCh ist zwar kein Grundrecht im „klassischen“ Sinne, da sie kein Recht formuliert, sondern auf bereits bestehende (unterschiedliche) mitgliedstaatliche Zugangsrechte abstellt. Sie gewährt im Vergleich zu den Vorgaben des Art 14 AEUV aber insoweit ein „Mehr“, als sie die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nicht nur in deren Bedeutung und Stellenwert achtet und der EU ein entsprechendes Berücksichtigungs- und Abwägungs-
58 Frenz GR, § 7 Rn 4296; Wernicke in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 33. 59 Europäische Kommission Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa KOM (2000) 580 Zusammenfassung Rn 7. 60 Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 33; Kämmerer, NVwZ 2002, 1041. 61 Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 36 Rn 57; Frenz GR, § 7 Rn 4294 begründet dies mit der Bedeutung der Dienstleistungen von allgem wirtschaftlichem Interesse als solchen, deren Anerkennung und Achtung grundsätzlich einem wirtschaftlichen Zweck diene. 62 Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse v 12.5.2004, KOM (2004) 374 endg Rn 2.1; dazu Deuster, EuZW 2004, 527 (528). 63 Zur Möglichkeit von Wettbewerb und Daseinsvorsorge König, EuZW 2001, 481; Nettesheim in: Hrbek/Nettesheim (Hrsg) Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge S 52; Voet van Vormizeele in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 14 AEUV Rn 3; Frenz, EuR 2000, 901 (905). Christian Calliess
§ 8.3.1 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse
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gebot auferlegt.64 Sondern vielmehr sichert Art 36 GRCh, und darin liegt sein über Art 14 AEUV hinausgehender Gehalt, das Interesse an sowie den Zugang zu einer qualitativ und preislich angemessenen diskriminierungsfreien Allgemeinversorgung mit öffentlichen Dienstleistungen.65 Nicht zuletzt unterstreicht Art 36 GRCh damit, ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips (Art 5 III EUV), die diesbezügliche Gestaltungsbefugnis der Mitgliedstaaten, die sich jedoch wiederum „im Einklang mit den Verträgen“ (insb Art 14 und 106 AEUV) zu halten hat.66 Kritisiert wird insoweit, dass der Grundrechtekonvent mit Art 36 GRCh sein 16 Mandat zur Kodifikation des EU-Grundrechtsbestandes überschritten habe67 und die vertragliche Verankerung des „service public“ als vertragliche Anerkennung des französischen colbertistisch-staatsdirigistisch geprägten Wirtschaftsmodells auf Ebene der EU interpretiert werden könne.68 Zum Problem würde dies allerdings erst dann, wenn in staatlicher Trägerschaft befindliche französische Unternehmen oder durch Sonderregelungen protegierte staatliche Monopolunternehmen die Chancen des Binnenmarktes in Form der sich öffnenden Märkte der Nachbarstaaten nutzen, während der französische Markt insoweit über den „service public“ für die europäische Konkurrenz verschlossen bleibt.69 Indem die Wirtschaftsverfassung der EU jedoch zugleich dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet bleibt (Art 119 I AEUV)70, konstituiert sie insoweit zwar ein Spannungsverhältnis, zu dessen Auflösung sie jedoch mit den Instrumenten zur Verwirklichung des Binnenmarktes, den Grundfreiheiten und dem Wettbewerbsrecht zugleich beiträgt.
64 Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 28; ähnlich Krajewski, EuR Beiheft 1/2013, 109 (115). 65 Pielow in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 36 Rn 34; nun deutlich skeptischer ders in: Stern/Sachs, GrCh, Art 36 Rn. 59. 66 Str s Krajewski, EuR Beiheft 1/2013, 109 (115); zur Erweiterung des Verständnisses des Verhältnisses zwischen Unionsrecht und öffentlichen Dienstleistungen durch Art 36 GRCh Szyszczak The Regulation of the State in Competitive Markets, 2007, S 221. 67 Deutlich Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, 1. Aufl 2006, § 34 Rn 3; anders nun in der Neuaufl Heselhaus/Schreiber in Heselhaus/Nowak, § 38 Rn 7; ders, ZögU 2005, 174 (179); ebenso Ruffert in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 6. 68 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 6; s a Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 1 ff; Löwenberg Service Public und öffentliche Dienstleistungen in Europa, 2001, S 127; ähnlich Mann, ZögU 2005, 174 (184). 69 So Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 36 GRCh Rn 6; ders in: Fehling/Ruffert (Hrsg), Regulierungsrecht, § 2 Rn 7. 70 Vgl dazu Jung in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 14 AEUV Rn 6.
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§ 8.3.2 Umweltschutz Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-302/86, Slg 1988, I-4607 – Kommission/Dänemark (Dänische Pfandflaschen); Rs C-2/90, Slg 1992, I-4431 – Kommission/Belgien; Rs C-379/98, Slg 2001, I-2099 – Preussen Elektra; Rs C-01/03, Slg 2004, I-7613 – Van de Walle; EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90, EuGRZ 1995, 530 – López Ostra. Schrifttum: Braig, Reichweite und Grenzen der aus der Europäischen Menschenrechtskonvention abgeleiteten umweltrechtlichen Schutzpflichten in der Europäischen Union, NuR 2017, 100; Calliess in: Calliess/Ruffert (Hrsg), EUV/AEUV, 6. Aufl 2021, Art 37 GRCh; ders Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001; ders Ansätze zur Subjektivierung von Gemeinwohlbelangen im Völkerrecht – Das Beispiel des Umweltschutzes, ZUR 2000, 246; Cenevska, A Thundering Silence: Environmental Rights in the Dialogue between the EU Court of Justice and the European Court of Human Rights, J Env Law 28 (2016), 301; Epiney, Rechte Einzelner im EU-Umweltrecht, EuRUP 2017, 223; Meyer-Ladewig, Das Umweltrecht in der Rechtsprechung des EGMR, NVwZ 2007, 25; Orth Ein Grundrecht auf Umweltschutz in Europa?, 2007; Rengeling, Umweltschutz in der Charta der Grundrechte, in: Franzius ua (Hrsg), FS Kloepfer, 2014, 161; Reis Magalhaes, The Improvement of Article 37 of the EU Charter of Fundamental Rights, in: Jendroska/Bar (Hrsg), Procedural Environmental Rights: Principle X in Theory, 2017, 97; Ruffert Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996; Schlacke, Zur fortschreitenden Europäisierung des (Umwelt-)Rechtsschutzes, NVwZ 2014, 11; Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, 2000; Schröder, Einige Bemerkungen zum Umweltschutzartikel in der Grundrechtecharta der Europäischen Union, EurUP 2015, 225; Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl 2019, Art 37; Wegener Rechte des Einzelnen, Die Interessentenklage im europäischen Umweltrecht, 1998. Zu den Klimaklagen: Braig/Ehlers-Hofherr, Die andere Katastrophe: Wie kann der EGMR dazu beitragen, die Klimakrise einzudämmen?, NuR 2020, 589; Calliess, Klimapolitik und Grundrechtsschutz – Brauchen wir ein Grundrecht auf Umweltschutz?, ZUR 2021, 323; ders, Das „Klimaurteil“ des Bundesverfassungsgerichts: „Versubjektivierung“ des Art 20a GG?, ZUR 2021, 355; Graser, Vermeintliche Fesseln der Demokratie: Warum die Klimaklagen ein vielversprechender Weg sind, ZUR 2019, 271; Peters, Zur Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention in Umwelt- und Klimaschutzfragen, AVR 59 (2021), 164; Saurer, Strukturen gerichtlicher Kontrolle im Klimaschutzrecht – Eine rechtsvergleichende Analyse, ZUR 2018, 679; Wegener, Urgenda – Weltrettung per Gerichtsbeschluss?, ZUR 2019, 3; Weller/Tran, Klimawandelklagen im Rechtsvergleich – private enforcement als weltweiter Trend?, ZEuP 2021, 573; Winter, Armando Carvalho et alii versus Europäische Union: Rechtsdogmatische und staatstheoretische Probleme einer Klimaklage vor dem Europäischen Gericht, ZUR 2019, 259.
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Fall 1: Die A wohnt in der spanischen Stadt S. Dort hatte B, ein großer ortsansässiger Batteriehersteller, eine Abfallbehandlungsanlage ohne die nach spanischem und europäischem Recht erforderliche Genehmigung, aber mit konkludenter Duldung der S, in Betrieb genommen. In der nur 30 Meter vom Wohnhaus der A entfernten Anlage wurden auch bei der Batterieproduktion anfallende Chemikalien behandelt. Bei A und ihrer Familie traten in der Folgezeit Gesundheitsbeschwerden auf. Diese, so der Verdacht von A, rührten von den Emissionen der Anlage her. Alle Bemühungen der A, Informationen über die Gefährlichkeit der Anlagen-Emissionen von den Behörden zu erlangen bzw die DurchfühChristian Calliess https://doi.org/10.1515/9783110716740-024
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rung des erforderlichen Genehmigungsverfahrens und Vorkehrungen zum Schutze ihrer Gesundheit zu erreichen, blieben erfolglos. A beruft sich daher vor dem nationalen Gericht auf ihr „Umweltgrundrecht“ aus Art 37 GRCh.
Fall 21: Die Klägerinnen – neun in der mittelständischen Land- und Tourismuswirtschaft tätige Familien aus Mitgliedstaaten der EU sowie aus Kenia und Fidschi sowie der Jugendverband Sáminuorra der schwedischen Sami – wenden sich gegen eine Richtlinie (RL 2018/410/EU) und zwei Verordnungen (VO[EU] 2018/841 u 842) der EU. Diese regeln die Emission von Treibhausgasen aus unterschiedlichen Quellen in den Jahren 2021–2030 und setzen insgesamt das Ziel, dass die jährlichen Emissionen in der genannten Dekade um 40 %, bezogen auf die Emissionen von 1990, reduziert werden müssen. Die Klägerinnen halten diese Vorgaben für unzureichend, um der Klimakrise zu begegnen, und berufen sich auf eine Verletzung ihrer Rechte aus der GrCh (konkret: Art 2 I, 3 I, 15, 17, 24 GrCh). Die vor dem EuG erhobene Nichtigkeitsklage gegen die gerügten Rechtsakte wurde vom EuG mit Beschluss vom 8.5.2019 (T-330/18) abgewiesen. Hat ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung Aussicht auf Erfolg?
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I. Einführung Art 37 GRCh ist unter hohem Zeitdruck aus Art 174 EGV (Art 191 AEUV) einerseits 3 und aus Art 2 und 6 EGV (Art 11 AEUV) andererseits „zusammengebastelt“ worden. Zudem wurde – ohne konkrete Bezugnahme – auf die Verfassungsbestimmungen einiger Mitgliedstaaten verwiesen.2 Hintergrund der „Konstruktion“ des Art 37 GRCh ist die Tatsache, dass man sich im Konvent nicht auf ein echtes Umweltgrundrecht einigen konnte, gleichwohl aber den Umweltschutz in der GRCh aus Gründen der Bürgernähe berücksichtigen wollte. Den Normierungsprozess begleiteten lebhafte Debatten. Die Positionen reich- 4 ten von dem Vorschlag, gemäß dem sog. „Kölner Mandat“3 ein Recht auf Umweltschutzmaßnahmen zu verankern, bis zur Ablehnung eines Individualrechts, da ansonsten eine Prozessflut befürchtet wurde.4 Dominierend war innerhalb des Konvents jedoch eine große Skepsis gegenüber den Rechten des dritten „Korbes“,
1 Angelehnt an Kingreen, JK 09/21, AEUV Art 263, UAbs 1, 4 (Sachverhalt hier verkürzt dargestellt). 2 Wiederholt in der Erläuterung zu Art 37 GRCh, ABl 2007 Nr C 303/27; ausf zu den mitgliedstaatlichen Verfassungsbestimmungen mit Umweltbezug Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 37 Rn 5–12. 3 Beschluss des Europäischen Rates vom 4. Juni 1999, abgedruckt in Bernsdorff/Borowsky Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S 59 f. 4 S insb Protokoll der 15. Sitzung des Konvents in Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S 341 (342).
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
den sozialen Rechten, so dass man sich auf dem Gebiet des Umweltschutzes nicht darauf einigen konnte, Individualrechte zu begründen. 5 Ein erster Vorschlag des Konventspräsidiums vom 16. Mai 2000 lautete: „Der Schutz der Umwelt, der die Erhaltung, den Schutz und die Verbesserung der Umweltqualität, den Schutz der menschlichen Gesundheit sowie die umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen umfasst, wird durch die Politiken der Union sichergestellt.“5 In der Begründung betonte das Präsidium konsequenterweise den Charakter der Norm – unter Anlehnung an Art 174 EGV (Art 191 AEUV) – als Grundsatz, nicht als individuelles Recht.6 6 Auch dem jetzigen Wortlaut nach handelt es sich bei Art 37 GRCh um eine staatszielartige Bestimmung7, die dem Einzelnen kein subjektives Recht auf die Sicherstellung eines hohen Umweltschutzniveaus verleiht.8 Als ein Art 20a GG vergleichbares Staatsziel9 lässt sich die Norm in der Charta der Grundrechte nicht sinnvoll entfalten.10 Auf den Umweltschutz bezogene subjektive Teilgewährleistungen sind vielmehr in anderen Bestimmungen der Charta – wie dem Grundrecht auf Leben (Art 2 GRCh) und Gesundheit (Art 3 GRCh) in Verbindung mit der Abwehr- und Schutzpflichtendimension der Grundrechte11 oder in der Menschenwürde (Art 1 GRCh; Stichwort: „ökologisches Existenzminimum“12) – zu suchen.13
5 Art 44 CHARTE 4316/00 CONVENT 34 v 16. Mai 2000. 6 Wiederholt in der Erläuterung zu Art 37 GRCh, ABl 2007 Nr C 303/27. Vgl auch Bungenberg in: EnzEuR, Bd 2, § 17 Rn 110 ff; Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 37 Rn 13 ff; Wegener in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh Art 37 GRCh Rn 3 („Etikettenschwindel“); Österreichischer VerfGH, Urt v 14.3.2012, Az U 466/11–18 und U 1838/11–13, Rn 36; aA: Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, § 2 Rn 40. 7 Jarass, ZUR 2011, 563 (565); Rengeling/Szczekalla GR, § 32 Rn 1053; Meßerschmidt Europäisches Umweltrecht, 2011, § 2 Rn 40. 8 Käller in: Schwarze, EU-Komm, Art 37 GRCh Rn 1; Frenz GR, § 8 Rn 4319; so letztlich auch Orth Ein Grundrecht auf Umweltschutz in Europa?, 2007, S 266; Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 37 Rn 18. 9 Dazu Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, S 104 ff; ebenso Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 37 GRCh Rn 1; Käller in: Schwarze, EU-Komm, Art 37 GRCh Rn 1. 10 Ebenso Käller in: Schwarze, EU-Komm, Art 37 GRCh Rn 1; Nowak, NuR 2015, 306 (313): „inhaltlich etwas redundante Synthese“; dag die selbständige Bedeutung des Art 37 GRCh bejahend Bungenberg in: Fastenrath/Nowak (Hrsg) Der Lissabonner Reformvertrag, 2009, S 205 (213); in diese Richtung auch Heselhaus, in: Frankfurter Komm, Art 37 GRCh Rn 1, der vor dem Hintergrund des „effet utile“ einen eigenständigen Norminhalt ausmachen will. 11 Ausführlich Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 298 ff; siehe auch Calliess, ZuR 2021, 323 (324 f); Kahl, JURA 2021, 117 ff. 12 Dazu Calliess, ZuR 2021, 323 (329 ff) sowie Buser in: Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, Nr 127, S 7 ff. 13 Orth Ein Grundrecht auf Umweltschutz in Europa?, S 278 („Teilsubjektivierung des Art 37 GRCh“); Frenz GR, § 8 Rn 4316; Rest in: Tettinger (Hrsg) EGRCH, 2006, Art 37 Rn 22.
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§ 8.3.2 Umweltschutz
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II. Die Vorgaben der Norm 1. Hohes Umweltschutzniveau Der Begriff „hohes Umweltschutzniveau“14 in Art 37 GRCh entspricht fast wörtlich 7 Art 191 II 1 AEUV. Dem Begriff des hohen Schutzniveaus15 in Art 114 III AEUV korrespondierend führte der Vertrag von Maastricht die Verpflichtung der damaligen EG auf einen hohen Schutzstandard im Rahmen jeder einzelnen umweltpolitischen Maßnahme – nicht nur der gesamten Politik – ein.16 Der Umweltbegriff beinhaltet die Medien Luft, Boden und Wasser sowie Pflanzen, Tiere und auch den Menschen.17 Darüber hinaus wird die vom Menschen gestaltete natürliche Umwelt einbezogen; der Tierschutz freilich nur, sofern es sich um wildlebende Tiere handelt.18 Die Frage des Schutzniveaus ist eng mit der Frage verknüpft, welchen Rang der 8 Umweltschutz im Verhältnis zu anderen vertraglichen Zielen und Belangen einnimmt. Ausdrückliche Stellungnahmen des EuGH gibt es zu dieser Problematik nicht, so dass sich nur aus Einzelfälle betreffenden Urteilen Rückschlüsse ziehen lassen. Wirft man einen Blick in das Primärrecht und betrachtet die Entscheidung Dä- 9 nische Pfandflaschen,19 in der der Umweltschutz vom EuGH erstmals zur Rechtfertigung von Beschränkungen des freien Warenverkehrs im Binnenmarkt herangezogen wurde, in Zusammenschau mit nachfolgenden Urteilen20 bis hin zur Prüfung des deutschen Rücknahmesystems für Getränkeverpackungen,21 so lässt sich eine Tendenz des EuGH erkennen, die Belange des Umweltschutzes in der Abwägung mit sonstigen Vertragszielen als zumindest gleichrangig zu behandeln. Eine begrenzte
14 Näher dazu auch Frenz, EuR 2009 Beiheft 1, 232 (241 ff). 15 Dazu ausf Krämer, ZUR 1997, 303. 16 AA Krämer, ZUR 1997, 303 f; Jans/v d Heide Europäisches Umweltrecht, S 34 ff; Breier in: Lenz/Borchardt (Hrsg) EUV/AEUV/GRCh, Art 191 AEUV Rn 14; Käller in: Schwarze, EU-Komm, Art 191 AEUV Rn 21; Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 61. 17 Jarass GRCh, Art 37 Rn 6; Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 37 Rn 23; Rest in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 37 Rn 18. 18 Vgl EuGH, Rs C-189/01, Slg 2001, I-5689 Rn 71 – Jippes; Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/ GRCh, Art 37 GRCh Rn 4; Jarass GRCh, Art 37 Rn 6; Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/ AEUV, Art 191 AEUV Rn 52; so wohl auch Schwerdtfeger in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 37 Rn 23, die zudem den Aspekt der Artenvielfalt betont. 19 EuGH, Rs 302/86, Slg 1988, I-4607 – Kommission/Dänemark. 20 Vgl zB EuGH, Rs C-284/95, Slg 1998, I-4301 Rn 36 ff – Safety Hi-Tech; Rs C-91/01, Slg 1998, I-4355 Rn 34 ff – Bettati; Rs C-228/00, Slg 2003, I-1553 – Kommission/Luxemburg. 21 EuGH, Rs C-463/01, Slg 2004, I-11705 – Kommission/Deutschland. Dazu Seyr, EurUP 2005, 96.
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Stärkung des Umweltschutzes lässt sich dem Fall Wallonische Abfälle22 sowie dem Urteil Preussen Elektra23 zum deutschen Stromeinspeisungsgesetz entnehmen.24 Insoweit hat der EuGH seine hergebrachte Dogmatik, dass diskriminierende Maßnahmen nicht durch zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden können, aufgegeben, um den Zielen des Umweltschutzes besondere Geltung zu verschaffen.25 Diese Linie hat der EuGH auch in späteren Entscheidungen fortgeführt, insbesondere im 2014 ergangenen Urteil in der Rs Ålands Vindkraft, in dem er es unter Berufung auf den Umweltschutz für zulässig erachtete, dass nur der im selben Mitgliedstaat produzierte Strom aus erneuerbaren Energien (Grünstrom) von einer nationalen Förderregelung erfasst wird.26 Blickt man auf Urteile zum Sekundärrecht, so lässt sich bereichsspezifisch sogar ein relativer Vorrang des Umweltschutzes konstatieren:27 Im Leybucht-Urteil28 machte der Gerichtshof deutlich, dass Eingriffe in die besonderen Schutzgebiete nur dann zulässig sein können, wenn es sich um außerordentliche Gründe des Gemeinwohls (im konkreten Fall: Schutz von Leib und Leben der Menschen vor Überschwemmungsgefahr) handelt, die „Vorrang vor den mit der Richtlinie verfolgten Umweltbelangen haben“. Dementsprechend wies der EuGH in der Santona-Entscheidung29 das Vorbringen der spanischen Regierung, wonach die in der Vogelschutzrichtlinie festgelegten ökologischen Erfordernisse anderen Interessen, etwa sozialer oder wirtschaftlicher Art, unterzuordnen oder zumindest mit diesen Interessen abzuwägen seien, zurück.30 Dies wird bestätigt im Urteil Van de Walle des EuGH, in dem dieser als Abfall im Sinne der Abfallrichtlinie31 auch das infolge eines unbeabsichtigten Ausbringen von Kraftstoffen verunreinigte Erdreich ansieht: Nur durch eine extensive Interpretation des europäischen Abfallbegriffs könne dem Anspruch der Union, in der Umweltpolitik auf ein hohes Schutzniveau hinzuwirken, Rechnung getragen werden.32
22 EuGH, Rs C-2/90, Slg 1992, I-4431 – Kommission/Belgien. 23 EuGH, Rs C-379/98, Slg 2001, I-2099 – PreussenElektra; Koenig/Kühling, NVwZ 2001, 768; Gündisch, NJW 2001, 3686. 24 Nowak, VerwArch 2002, 368; ähnlich Faber, NuR 2002, 140. 25 Dazu auch Frenz, NuR 2002, 204. 26 EuGH, Urt v 1.7.2014, Rs C-573/12 – Ålands Vindkraft AB. 27 Kahl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 35; Scherer/Heselhaus in: HbEUWirtschR, Bd 2, Kap O Rn 32. 28 EuGH, Rs C-57/89, Slg 1991, I-883 – Kommission/Deutschland. 29 EuGH, Rs C-76/90, Slg 1993, I-4221 – Kommission/Spanien. 30 Bestätigt durch EuGH, Rs C-44/95, Slg 1996, I-3805 – Lappelbank. 31 RL 75/442 EWG, ABl 1975 Nr L 194/47. 32 EuGH, Rs C-1/03, Slg 2004, I-7613 – Van de Walle; Rs Slg 2002, I-3533 Rn 23 – Palin Granit Oy; Jochum, NVwZ 2005, 140; Murswiek, JuS 2005, 361; Versteyl, NVwZ 2004, 1297. Christian Calliess
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Von einem Teil der Literatur werden die Urteile so gedeutet, dass der EuGH zu- 10 mindest tendenziell von einem relativen Vorrang der Umweltschutzziele ausgehe.33 Unter Hinweis auf die Querschnitts- oder Integrationsklausel des Art 11 AEUV, die die Umweltverträglichkeit zu einem allgemeinen Rechtsgebot erhebe, wird seit jeher die Auffassung vertreten, dass der Umweltschutz im Konfliktfall grundsätzlich Vorrang vor anderen Unionszielen habe.34 Demgegenüber wird – unter Berufung auf das Urteil des EuGH in der Rs Dänische Pfandflaschen35 von anderer Seite die Meinung vertreten, dass von einer Gleichrangigkeit der ökologischen und ökonomischen Zielsetzungen des Vertrages, die im Konfliktfall im Wege praktischer Konkordanz aufzulösen sei, ausgegangen werden müsse.36 Durch Auslegung der Art 100a III und Art 130t EWGV (heute Art 114 und 193 11 AEUV) sowie in Zusammenschau mit weiteren umweltrelevanten Vertragsbestimmungen entwickelte die Literatur37 einen Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes als Handlungsanweisung für den Unionsgesetzgeber sowie als Interpretationsregel des Unionsrechts.38 Allgemein gesprochen wird dem Grundsatz eine primärrechtliche Gewichtsverlagerung zugunsten des Umweltschutzes, die Begründung eines relativen Vorrangs (im Zweifel), beigemessen, in dessen Folge die Abwägung des Zielkonflikts zwischen umweltpolitischen Anliegen und anderen Zielsetzungen bis zu einem gewissen Grad vorweggenommen seien, so dass der Gestaltungsspielraum des Unionsgesetzgebers entsprechend eingeschränkt werde.39 Anknüpfend an den Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes werden im Schrifttum verschiedene konkrete Ausstrahlungswirkungen (Handlungs-, Kooperations-, subjektive Rechtsstellungs-, Präferenz-, Abwägungs-, Auslegungs-, Supplementierungs- und Kompetenzregel) formuliert, die das Umweltrecht der EU in der Interpretation prägen.40
33 Zuleeg, NJW 1993, 31 (35); Krämer, CMLRev 1993, 111 (123); Kahl, ThürVBl 1994, 225 (227); ausf ders Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S 166 ff; ders in: Streinz, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 29 ff. 34 Scheuing, EuR 1989, 152 (177, 179); wohl auch Zuleeg, NJW 1993, 31 (35 mwN). 35 EuGH, Rs 302/86, Slg 1988, I-4607 Rn 8 ff – Kommission/Dänemark. 36 Everling in: Behrens/Koch (Hrsg) Umweltschutz in der EG, S 29, 38 f; Rengeling/Heinz, JuS 1990, 613 (615); Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 122. 37 Impulsgebend Zuleeg, NVwZ 1987, 280 (283 f); ähnlich Scheuing, EuR 1989, 152 (167, 178 f); Krämer, EuGRZ 1988, 285 (288): Pernice, NVwZ 1990, 201 (206 f); Hailbronner in: Calliess/Wegener (Hrsg), Europäisches Umweltrecht als Chance, S 15 (26 ff). 38 Präzisiert und fortentwickelt bei Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S 10 ff und 55 ff; Schröer Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Umweltschutzes, S 128 ff; Wiegand, DVBl 1993, 533; Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 (388). 39 So Epiney Umweltrecht in der EU, S 119 f. 40 Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S 92–307.
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Der Begriff der „Verbesserung der Umweltqualität“ ist wortgleich mit Art 3 III EUV bzw an Art 191 I AEUV angelehnt. Das Erfordernis der Qualitätsverbesserung weist darauf hin, dass sich die Umweltpolitik nicht auf konservierende Maßnahmen beschränken darf, sondern – auch im Interesse künftiger Generationen – eingetretene Schäden beseitigen und verlorengegangene Umweltqualität restaurieren muss (zB mit Reinigung von Flüssen, Renaturierung von Landschaften).42 41
2. Vorgaben des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung 13 Die Formulierung „müssen in die Politik der Union einbezogen und nach dem
Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden“ korrespondiert weitgehend dem Wortlaut der Querschnittsklausel des Art 11 AEUV. Insoweit ergeben sich keine auslegungsrelevanten Abweichungen zu Art 11 AEUV.43 14 Bereits durch das Zusammenspiel der AEUV-Präambel und Art 3 EUV steht die Verpflichtung der Union auf den Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung außer Frage.44 Der Grundsatz bezeichnet ein Leitbild, dessen Zielvorstellungen insbesondere auf die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro im Juni 1992 und die dort beschlossene Rio-Deklaration samt Agenda 21 verweisen. Die mit der Aufgabe der Entwicklung von langfristigen Umweltstrategien für eine nachhaltige Entwicklung betraute World Commission on Environment and Development (WCED) definiert den Begriff des „sustainable development“ im Sinne von „development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“.45 Er verbindet die Erkenntnis, dass ökonomische, ökologische und soziale Entwicklungen notwendig als innere Einheit anzusehen sind.46 Nachhaltige Entwicklung umfasst daher eine umweltgerechte, an der Tragekapazität der ökologischen Systeme ausgerichtete47 Koordination der ökonomischen Prozesse sowie soziale Ausgleichspro-
41 S dazu Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 3 EUV Rn 39. 42 Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, Art 37 GRCh Rn 6; Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S 19 f; ders in: Streinz, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 55. 43 AA wohl Heselhaus in: Frankfurter Komm, Art 37 GRC Rn 2, der in Art 37 GRCh eine „Ergänzung“ und „weitere Legitimationsbasis“ des Art 11 AEUV sieht. 44 Zu den diesbezüglich vormals bestehenden Unklarheiten seit dem Vertrag von Maastricht s Calliess in: Baumeister (Hrsg) Wege zum ökologischen Rechtsstaat, S 71, 77 f; Haigh/Kraemer, ZUR 1996, 11. 45 Für eine Anwendbarkeit dieser Definition auch im Bereich des AEUV auch Breier in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, Art 11 AEUV Rn 10. 46 Ebenso Kahl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 11 AEUV Rn 18; Jarass GRCh, Art 37 Rn 7. 47 Jarass GRCh, Art 37 Rn 7; Rest in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 37 Rn 22; Schwerdtfeger in: Meyer/ Hölscheidt, ChGr, Art 37 Rn 26.
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zesse. Im Zentrum steht dabei die Sicherung der ökologischen Leistungsfähigkeit: Um spätere Generationen bezüglich der Umweltqualität und der Versorgung mit Ressourcen nicht schlechter zu stellen, ist der natürliche Kapitalstock zumindest konstant zu halten.48 Hieran anknüpfend sind erneuerbare Ressourcen nur in dem Umfang zu verbrauchen, wie sie sich regenerieren, erschöpfbare Rohstoffe nach strengem Maßstab nur in dem Maße zu verbrauchen wie sie gleichwertig durch regenerative Ressourcen ersetzt werden können und mit Schadstoffemissionen dergestalt zu verfahren, dass sie die natürliche Abbaukapazität nicht übersteigen.49 Nach Konzeption und Intention wird Art 11 AEUV und damit schließlich auch 15 Art 37 GRCh zu einem maßgeblichen Instrument der Umsetzung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung im Unionsrecht.50 Der Grundsatz ist – trotz möglicher materieller Konkretisierungen über das Vorbeuge-, das Ursprungs- und das Verursacherprinzip51 und insbesondere über das Vorsorgeprinzip52 als umweltrechtlichem Leitprinzip53 – ein Relationsbegriff, der einzelfallbezogener, auch prozeduraler Umsetzung bedarf. Den Weg hierfür weist die rechtlich verbindliche54 Querschnittsklausel des Art 11 AEUV, die – den Ansätzen von Rio-Deklaration (Grundsatz 4) und Agenda 21 (Kapitel 8) entsprechend – in geradezu idealer Weise den Vorgaben des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung Rechnung trägt, indem sie Umweltvorsorge und wirtschaftliche/soziale Entwicklung in rechtlich verbindlicher Weise zueinander in Bezug setzt und einen prozedural abgesicherten Ausgleich auf Grundlage der beschriebenen materiellen Vorgaben verlangt. Art 37 GRCh lässt sich insofern genau wie Art 11 AEUV als primärrechtliches Gebot zur Durchführung einer strategischen, nicht nur auf Einzelmaßnahmen, sondern auf Politiken, Programme, Pläne und Gesetze ausgedehnten Umweltverträglichkeits-
48 Ausf Schröder, AVR 34 (1996), 251 (260 ff); Jarass, ZUR 2011, 563 (656); Ruffert, ZUR 1992, 208 (209); Frenz/Unnerstall Nachhaltige Entwicklung im Europarecht insb S 155 ff; Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, S 141 ff. 49 Meßerschmidt Europäisches Umweltrecht, § 3 Rn 42. 50 Grundl dazu Calliess, DVBl 1998, 559; in diesem Sinne wohl auch die Kommission, vgl Dok SEC (93) 785, dazu EuZW 1997, 642; Calliess Verwaltungsorganisationsrechtliche Konsequenzen des integrierten Umweltschutzes in: Ruffert (Hrsg) Recht und Organisation, S 73. 51 Jarass GRCh, Art 37 Rn 6. 52 S dazu Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 28 ff. 53 Zur Entwicklung ausf Arndt Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S 71 ff; der EuGH zählt das Umweltprinzip zu den „tragenden Grundsätzen des europäischen Umweltschutzes“, vgl EuGH, Gutachten 2/00, Slg 2001, I-9713, Rn 29; vgl auch Kahl in: Streinz, EUV/AEUV, Art 191 AEUV Rn 85 f mwN. 54 Stroetmann Einführung in: Rengeling (Hrsg) Umweltschutz und andere Politiken der EG, 1993 S 3; Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S 58; Wiegand, DVBl 1993, 533 (536); aA JahnsBöhm Umweltschutz durch europäisches Gemeinschaftsrecht am Beispiel der Luftreinhaltung, 1994, S 262; Krämer EC Treaty and environmental law, 1996, S 58 f.
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prüfung verstehen, die im Gesetzgebungsprozess der EU institutionell abgesichert sein muss.55
III. Schlussfolgerungen 16 Art 37 GRCh unterstreicht exemplarisch die in der GRCh mitunter festzustellende
Tendenz, dass insbesondere in Titel IV „Solidarität“ – entgegen den wiederholten Vorgaben des Europäischen Rats56, der mit Blick auf die Sorge vor Kompetenzerweiterungen nur „echte“ Grundrechte in die Charta aufgenommen sehen wollte – im Gewande von Grundrechten daherkommende „Staats-“ bzw. Unionszielbestimmungen Eingang gefunden haben.57 Solche rein objektiv-rechtlich wirkenden „Gewährleistungen“, die dem Einzelnen gerade keine durchsetzungsfähigen Rechte verleihen,58 haben in einem Grundrechtskatalog weder begrifflich noch systematisch eine Berechtigung.59 17 Wenn man die Charta mit Blick auf aktuelle Herausforderungen wie etwa den Umweltschutz hätte entwerfen wollen, wofür einiges spricht,60 dann hätte ein Blick in die umfassende Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen der Etablierung moderner Grundrechte genügt, um eine Grundrechtskonzeption und -formulierung zu finden, die halten kann, was sie verspricht. Statt also zum Beispiel in Art 11 und 191 AEUV enthaltene Vorgaben in Art 37 GRCh zu wiederholen, hätte es nahegelegen, ein prozedurales Grundrecht auf Umweltschutz zu formulieren. Im Zuge einer sowohl national61 als auch international62 geführten Diskussion haben sich drei Bausteine eines prozeduralen Umweltgrundrechts herauskristallisiert: Ein Recht auf Beteiligung des Bürgers an umweltrelevanten Entscheidungen der Ver-
55 Vgl Calliess, DVBl 1998, 559 (564 ff). 56 Europäischer Rat von Tampere vom 15./16.10.1999, Schlussfolgerungen, Anh Abschnitt B. 57 Bereits Calliess, EuZW 2001, 261 (265). 58 Grundl zum Charakter von Staatszielbestimmungen Sommermann Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S 358 ff; Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, S 104 f und 125 ff. 59 Teilweise wird dennoch darauf verwiesen, Art 37 GRCh habe eine „positive Signalwirkung zur Stärkung des Umweltschutzes“ und verstärke das Gewicht der Umweltbelange gegenüber anderen, zB ökonomischen Zielen, vgl Rest in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 37 Rn 24. 60 Dazu Calliess, ZUR 2000, 246 ff. 61 Vgl etwa Kloepfer Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S 24 und 25 f, die dieser als teilhaberechtliche Konzeption begreift. Zutreffender ist insoweit seine Anknüpfung am „status activus processualis“. Vgl ferner Brönneke, ZUR 1993, 153 (157 f), dessen Ansätze auf die prozedurale Konzeption eines Umweltgrundrechts hinauslaufen. Ausf hierzu Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, S 463 ff. 62 Vgl hier nur Ruffert Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, S 18 ff.
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waltung, ein Recht auf angemessenen Zugang zum Gericht, sowie – als notwendige Voraussetzung zur Wahrnehmung der beiden anderen Rechte – ein Recht auf umweltbezogene Informationen.63 Mit diesem Inhalt spiegelt sich ein Umweltgrundrecht sowohl in Grundsatz 10 18 der Rio-Deklaration64 als auch in der UN-ECE Convention on Access to Information, Public Participation in Decision-Making and Access to Justice in Environmental Matters, die auf der Umweltministerkonferenz vom 23.–25. Juni 1998 im dänischen Århus (sog Århus-Konvention65) beschlossen und von allen Mitgliedstaaten und der EU selbst unterzeichnet und in stetigen (wenngleich teilweise sehr zurückhaltenden) Schritten transformiert wurde,66 wider.67 Ihr Art 1 formuliert: „Um zum Schutz des Rechts jeder männlichen/weiblichen Person gegenwärtiger und künftiger Generationen auf ein Leben in einer seiner/ihrer Gesundheit und seinem/ihren Wohlbefinden zuträglichen Umwelt beizutragen, gewährleistet jede Vertragspartei das Recht auf Zugang zu Informationen, auf Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und auf Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen“. Konkretisiert wird das Recht auf Information in Art 4 f, das Recht auf Beteiligung in Art 6 ff und der Zugang zum Gericht in Art 9 der Konvention. Wie schon in den Formulierungen der Rechte deutlich wird, werden durch die Konvention selbst zwar keine unmittelbar wirksamen und an
63 Vgl hier nur Calliess, ZUR 2000, 246 ff; Ruffert Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, S 23 f; Krämer, EuGRZ 1988, 285 (291); Scherer/Heselhaus in: HbEUWirtschR, Bd 2 O Rn 66, 220, 307. 64 International Legal Materials 1992, 874 (878); ausf zur – ebenfalls im Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1993, UTR Bd 21, 411 ff abgedruckten – Rio-Deklaration Schröder, AVR 34 (1996), 251 ff sowie Ruffert, ZUR 1993, 208 ff. 65 Zur Entstehung und dem Inhalt dieses Abkommens Epiney, EurUP 2019, 2 ff. 66 Vgl für Deutschland das UmwRG (v. 7.12.2006) und die verschiedenen, infolge EuGH-Entscheidungen erforderlich gewordenen Änderungen, zuletzt im Rahmen der großen Novelle von 2017 (Gesetz zur Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer Vorschriften an europa- und völkerrechtliche Vorgaben v 29.5.2017, BGBl I S 1298); dazu Guckelberger Deutsches Verwaltungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, 2017; Dikaios Überindividueller Umweltrechtsschutz am Beispiel der altruistischen Verbandsklage in der deutschen, griechischen und europäischen Rechtsordnung, 2018; allgemein zur Umsetzung bereits Epiney, ZUR 2003, 176 ff; Schlacke Überindividueller Rechtsschutz, S 249 ff; restriktiver die Beiträge von Walter und Durner in: Durner/Walter (Hrsg) Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Århus-Konvention, S 7 ff und 64 ff. 67 Verfügbar im Internet unter http://www.UNECE.ORG/env/europe/ppconven.htm; abgedruckt auch in AVR 38 (2000), 253 ff; vgl dazu Scheyli, AVR 38 (2000), 217 ff; Schlacke Überindividueller Rechtsschutz, S 233 ff; ferner auch Wegener in: Cremer/Fisahn (Hrsg) Jenseits der marktregulierenden Selbststeuerung – Perspektiven des Umweltrechts, S 183, 192 ff.
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wendbaren Rechte des Einzelnen geschaffen.68 Durch ihren Art 3 werden die Vertragsstaaten jedoch zur effektiven Umsetzung und Durchführung der Vorgaben der Konvention im Rahmen ihres Rechts verpflichtet.69 19 Aus einem diesen Vorgaben entsprechenden, prozeduralen Umweltgrundrecht können konkrete Verfahrensrechte abgeleitet werden, die es dem Betroffenen ermöglichen, seine Belange und Interessen im Umweltschutz zur Geltung zu bringen. Für Gesetzgeber und Verwaltung enthalten diese prozeduralen Vorgaben bestimmte Verfahrensstrukturierungsgebote70, die die Rechtsposition des Einzelnen oder auch von Umweltverbänden absichern.71 20 In diesem Zusammenhang birgt beispielsweise die Entscheidung des EGMR vom 19. Februar 1998 im Fall Guerra72 entsprechende Ansatzpunkte. In ihr leitete der Straßburger Gerichtshof aus dem nach seiner ständigen Rechtsprechung umweltrelevanten Menschenrecht des Art 8 EMRK einen Anspruch der Beschwerdeführer auf Umweltinformationen ab.73 Diese Rechtsprechung hat der EGMR seither in zahlreichen Entscheidungen bestätigt.74 Allerdings zeigen sich in der Rechtsprechung des EGMR noch Unterschiede gegenüber den Gewährleistungen der Århus-Konvention. Zwar legt der EGMR die EMRK im Lichte der Århus-Konvention aus. Allerdings müssen die prozeduralen Rechte und Verpflichtungen aus der Århus-Konvention dabei den Anforderungen der Vorschriften der EMRK entsprechen, um als Eingriffe in die Rechte aus der EMRK gelten zu können.75 Auch der EuGH hat, anknüpfend an die Umsetzung der erwähnten Århus-Konvention, verfahrensrechtliche Vorgaben im
68 AA hinsichtlich der Begründung von Individualrechten Epiney/Scheyli Die Aarhus-Konvention – Rechtliche Tragweite und Implikationen für das schweizerische Recht, S 23; Walter, EuR 2005, 302 (306). 69 Eine positive Bilanz zieht insofern die Europäische Kommission, vgl dies, Mitteilung […] über den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, C(2017) 2626 final, S 4. 70 In diesem Sinne lässt sich die – freilich umstrittene – Rechtsprechung des EuGH im Fall Trianel (Rs C 115/09, NJW 2011, 2779) und Slowakischer Braunbär (Rs C-240/09, ZUR 2011, 317) deuten; krit dazu Gärditz, NVwZ 2014, 1 (5 f); positiver Schlacke, NVwZ 2014, 11 ff; im Überblick Sauer, ZUR 2014, 195 ff. 71 Dazu Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, S 465 ff. 72 EGMR, NVwZ 1999, 57, Rn 53, 57, 60 – Guerra. 73 Ausf Schmidt-Radefeldt Ökologische Menschenrechte, S 116 ff und 148 ff; allgemein zur Rechtsprechung des EGMR im Bereich des Umweltrechts Meyer-Ladewig, NVwZ 2007, 25. 74 Beispielhaft seien erwähnt EGMR, Urt v 10.11.2004, 46117/99 – Taşkın ua/Türkei; Urt v 27.1.2009, 67021/01 – Tâtar/Rumänien; Urt v 21.7.2011, 38182/03 – Grimkovskaya/Ukraine; Urt v 10.1.2012, 30765/ 08 – Di Sarno ua/Italien. 75 Peters, AVR 59 (2021), 164 (174 ff), die aus dem gezogenen Vergleich mit der Århus-Konvention insofern noch weiteres Auslegungspotenzial für die EMRK ableitet.
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Hinblick auf Information,76 Beteiligung und Zugang zum Gericht entwickelt.77 In den Entscheidungen Wasserleitungsverband nördliches Burgenland78 und Protect79 hat der EuGH mit Blick auf den Zugang zum Gericht erneut betont, dass nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden darf, dass sich betroffene Personen auf die durch eine Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Der EuGH leitet die grundsätzliche Klagemöglichkeit aus Art 47 GrCh iVm Art 9 Abs 2 oder 3 Arhus-Konvention her.80 Allerdings beschränkt der EuGH diese Rechte im Sinne des Art 9 Abs 2 ArhusKonvention auf die sog. „betroffene Öffentlichkeit“81, sodass letztlich auch hier eine Verletzung in subjektiven Rechten Voraussetzung für den Zugang zum Gericht ist.82 Art 9 Abs 3 Arhus-Konvention sieht dieselben Rechte zwar für die Öffentlichkeit im Allgemeinen vor, überlässt es aber wiederum den Mitgliedstaaten, Kriterien für den Zugang zum Gericht sowie Informations- und Beteiligungsrechte aufzustellen, sodass diese Rechte an Bedingungen geknüpft werden können, solange diese im Einklang mit der Rechtsschutzgarantie in Art 47 GrCh stehen.83 Im Ergebnis stärken die genannten Urteile also die Verfahrensrechte der Kläger, bedeuten aber keine Abkehr
76 EuGH, Rs C-266/09, Slg 2010, I-13119 – Stichting Natuur en Milieu; Urt v 14.2.2012, Rs C-204/09 – Flachglas Torgau; Urt v 19.12.2013, Rs C-279/12 – Fish Legal und Shirley; dazu Ekardt, NVwZ 2013, 1591 ff; Much, ZUR 2012, 288 ff. 77 Zuletzt EuGH, Urt v 19.12.2019, Rs C-752/18 – Deutsche Umwelthilfe; EuGH, Urt v 7.11.2019, Rs C280/18 – Flausch ua; EuGH, Urt v 3.10.2019, Rs C-197/18 – Wasserleitungsverband Nördliches Burgenland; EuGH, Urt v 20.12.2017, Rs C-664/15 – Protect; EuGH, Urt v 8.11.2016, Rs C-243/15 – Slowakischer Braunbär II; EuGH, Urt v 15.10.2015, Rs C-137/14 – Kommission/Deutschland; EuGH, Rs C-240/09, Slg. 2011, I-1255 – Slowakischer Braunbär I; Rs C-115/09, Slg. 2011, I-3673, Rn 42 – Trianel; Urt v 22.3.2012, Rs C-567/10, – Inter-Environnement Bruxelles; Urt v 14.3.2013, Rs C-420/11 – Leth; Urt v 7.11.2013, Rs C-72/ 12 – Altrip; für einen allg. Überblick über die jüngere Rspr statt vieler Guckelberger, NuR 2020, 149 (150 ff); zu den einzelnen Urteilen siehe ua Köck/Henn, NVwZ 2020, 504; Römling, NuR 2020, 686; Reinhardt, NVwZ 2019, 1591 f; Klinger, NVwZ 2018, 231 f; Wegener, ZUR 2018, 217; Franzius, NVwZ 2018, 219; Sobotta, JEEPL 15 (2018), 241; Kment/Lorenz, EurUP 2016, 47; Siegel, NVwZ 2016, 337; Berkemann, DVBl 2013, 1137 ff; Bunge, NuR 2012, 593 ff; Franzius, EurUP 2014, 286; Groß, JURA 2012, 386 ff; allgemein zur Rechtsprechung Gärditz, NVwZ 2014, 1 ff; Kokott/Sobotta, DVBl 2014, 132 ff; Nowak, NuR 2015, 375 (382 f); Schlacke, NVwZ 2014, 11 ff; Siegel, DÖV 2012, 709; Sauer, ZUR 2014, 195; krit jüngst Ruffert, DVBl 2019, 1033; dagegen wiederum Berkemann, DVBl 2020, 1516; Ruffert, DVBl 2021, 309. 78 EuGH, Urt v 3.10.2019, Rs C-197/18 – Wasserverband nördliches Burgenland. 79 EuGH, Urt v 20.12.2017, Rs C-664/15 – Protect. 80 EuGH, Urt v 3.10.2019, Rs C-197/18, Rn 30, 33 – Wasserverband nördliches Burgenland; EuGH, Urt v 20.12.2017, Rs C-664/15, Rn 34 – Protect; jüngst auch in EuGH, Urt v 14.1.2021, Rs C-826/18, Rn 50 – Stichting Varkens in Nood ua. 81 EuGH, Urt v 14.1.2021, Rs C-826/18 – Stichting Varkens in Nood ua. 82 Nolte in: Kluth/Smeddink (Hrsg), Umweltrecht, 2. Aufl 2020, S 388. 83 So ist es laut EuGH zulässig, dass eine mitgliedstaatliche Rechtsvorschrift vorsieht, dass die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs davon abhängig gemacht wird, dass der Kläger seine Einwendungen in einem vorgelagerten Verwaltungsverfahren geltend gemacht hat, vgl EuGH, Urt v 14.1.2021, Rs C
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vom Postulat einer eigenen Rechtsbetroffenheit als Voraussetzung für den Zugang zum Gericht in Umweltangelegenheiten.84 Ein autonomes prozedurales Umweltgrundrecht auf Unionsebene besteht somit auch nach der neuesten Rechtsprechung des EuGH nicht.85 Dies bestätigen nicht zuletzt die Entscheidungen des EuG und des EuGH in der Rs Carvalho (dazu unten, Rn 24). 21 Eine mögliche Formulierung des Art 37 GRCh hätte in Übereinstimmung mit der geltenden Rechtslage daher wie folgt lauten können: „Jeder Mensch hat das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt sowie deren Erhaltung und Schutz. Dieses wird durch Rechte auf Information, Beteiligung im Verwaltungsverfahren und effektiven Zugang zum Gericht gewährleistet.“ Eine solches prozedurales Umweltgrundrecht begegnet den zu Recht gegenüber einem materiellen und als Leistungsrecht ausgestalteten Umweltgrundrecht erhobenen Bedenken,86 trägt aber gleichzeitig den Erfordernissen einer begrenzten Subjektivierung des Gemeinwohlbelangs Umweltschutz in effektiver Weise Rechnung.87
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Lösung Fall 1: Zunächst müsste der Schutzbereich eines Grundrechts einschlägig sein. Möglicherweise kann sich die A auf das von der Europäischen Grundrechte-Charta verbürgte Schutzgut „Umwelt“ berufen. Die GRCh enthält jedoch weder ein materielles noch ein prozedurales Umweltgrundrecht. Der in Art 37 GRCh geregelte Umweltschutz ist lediglich als „Unionszielbestimmung“ ausgestaltet und kann somit kein subjektives Recht vermitteln. Es handelt sich bei Art 37 GRCh mithin um keine einklagbare Rechtsposition. Gleiches gilt für Art 35 S 2 GRCh (Gesundheitsschutz), der zwar ein (Leistungs-)Recht beinhaltet, inhaltlich jedoch nicht einschlägig ist. In Betracht kommt insofern aber Art 3 I GRCh (körperliche und geistige Unversehrtheit umfasst die Gesundheit) in der angesprochenen grundrechtlichen Schutzdimension. Zu überlegen wäre jedoch, ob ein Grundrecht auf Umweltschutz als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts (Rechtsquelle) gem. Art 6 III EUV im Wege der Interpretation ermittelt werden kann. Nach dieser Norm dienen als Rechtserkenntnisquellen die EMRK und die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Blickt man auf die Rechtsprechung zur EMRK, so wird deutlich, dass der Umweltschutz „nur“ als Teilgewährleistung bestimmter anderer Grundrechte geltend gemacht werden kann. Dementsprechend hat der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall López Ostra überraschenderweise zunächst88 nicht aus dem Recht auf Leben gem Art 2 I 1 EMRK, son-
826/18, Rn 63 ff – Stichting Varkens in Nood ua; ähnlich bereits EuGH, Urt v 20.12.2017, Rs C-664/15 Rn 88 ff – ProtectRn. 84 Nolte in: Kluth/Smeddink (Hrsg), Umweltrecht, 2. Aufl 2020, S 388. 85 Dies verlangt die Århus-Konvention für Individualkläger auch nicht; allerdings sieht Art 9 Abs 2 UAbs 2 S 3 AK für Verbandsklagen erleichterte Zugangsvoraussetzungen vor, siehe Nolte in: Kluth/ Smeddink (Hrsg), Umweltrecht, 2. Aufl 2020, S 388. 86 Vgl demgegenüber aber wieder Kotulla, KJ 2000, 22 ff. 87 Ausf zu alledem bereits Calliess, ZUR 2000, 246 (253 ff). 88 EGMR, Urt v 20.3.2008, 15339/02 ua, §§ 137, 201 – Budayeva ua/Russland; EGMR (GK), Urt v 30.11.2004, 48939/99, § 160 – Öneryilidiz/Türkei.
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dern aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Art 8 EMRK einen Anspruch auf staatlichen Schutz vor Umweltbelastungen Dritter entwickelt, und zwar „selbst wenn die Gesundheit des Betroffenen nicht ernsthaft gefährdet ist.“89 Durch die staatliche Duldung der umweltbelastenden Anlage hätten die staatlichen Organe das Gleichgewicht zwischen dem wirtschaftlichen Interesse der Stadt (im Fall: S) und die Rechte der Beschwerdeführerin (im Fall: A) aus Art 8 EMRK missachtet. In seiner Entscheidung im Fall Guerra90 leitete der EGMR aus Art 8 EMRK sodann einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Umweltinformationen ab, da diese sonst nicht die Gefährlichkeit der benachbarten Anlage beurteilen und daraus Konsequenzen ziehen könnte.91 Ähnlich gestaltet sich die Rechtslage in den Mitgliedstaaten der EU (dazu auch Fall 2 samt Nachweisen).92 Diese Ansätze des EGMR, die die grundrechtliche Schutzdimension hervorheben, lassen sich – wie die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu Art 28 EGV93 (jetzt Art 34 AEUV) belegt – durchaus auch auf Art 3 I GRCh übertragen, auf den sich die A somit vor dem nationalen Gericht berufen kann.
IV. Klimaklagen Eine gesonderte Betrachtung verdienen – vor dem Hintergrund des in Art 37 GrCh 23 geforderten hohen Umweltschutzniveaus – die aktuellen Entwicklungen rund um die vor europäischen wie nationalen Gerichten anhängigen Klimaklagen.94 Den Anfang in der Reihe relevanter Klimaklagen machte im Jahre 2015 das Verfahren vor dem niederländischen Gerechtshof in Den Haag.95 Hier wurde erstmals eine nationale Regierung dazu verurteilt, Maßnahmen zu ergreifen, um eine Reduktion des niederländischen Ausstoßes von Treibhausgasen um mindestens 25 Prozent bis Ende 2020 sicherzustellen.96 Das Gericht begründete dies u. a. damit, dass der nieder
89 EGMR, Urt v 9.12.1994, 16798/90, EuGRZ 1995, 530, §§ 51, 58 – López Ostra/Spanien. 90 EGMR, Urt v 19.2.1998, 14967/89, NVwZ 1999, 57 ff – Guerra = JK 99, EMRK Art 8, 10, 50/3. 91 Ausf Schmidt-Radefeldt Ökologische Menschenrechte, S 116 ff und 148 ff. 92 Dazu Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, S 298 ff und 325 ff. 93 EuGH, Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959, Rn 32 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV, Art 30/2; hierzu Szczekalla, DVBl 1998, 219 (221 f). 94 Zu den Entwicklungen im Klimaschutzrecht und in der Klimapolitik (und speziell zu den Klimaklagen) in den letzten Jahren siehe Stäsche, EnZW 2021, 151; ein rechtsvergleichender Überblick über Klimawandelklagen findet sich bei Weller/Tran, ZEuP 2021, 573. 95 Rechtbank Den Haag, Urt v 24.6.2015, C/09/456689/HA ZA 13-1396 (English translation), https:// uitspraken.rechtspraak.nl/inziendocument?id=ECLI:NL:RBDHA:2015:7196; zu den umweltrechtlichen Besonderheiten und der Rechtsentwicklung in den Niederlanden siehe Saurer/Purnhagen, ZUR 2016, 16 (17). 96 Siehe dazu die Schlussfolgerungen des Gerichts in Rn 4.83–4.86 des Urteils; mittlerweile bestätigt durch Gerichtshof Den Haag, Urt v 9.10.2018, 200.178.245/01 (English translation), https://uitspraken. rechtspraak.nl/inziendocument?id=ECLI:NL:GHDHA:2018:2610, Rn 76 sowie Hoge Raad, Urt v 20.12. 2019, 19/00135 (English translation, https://uitspraken.rechtspraak.nl/inziendocument?id=ECLI:NL: HR:2019:2007, Rn 7.5.1.-7.5.3.; kritisch zu den Urteilen und den Klimaklagen als solchen Wegener,
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ländische Staat aufgrund der Schwere der Folgen des Klimawandels und des großen Risikos eines gefährlichen Klimawandels eine Schutzpflicht für Abhilfemaßnahmen, unabhängig von seinem tatsächlichen Beitrag zu den globalen TreibhausgasEmissionen, habe.97 Anders sei das im Pariser Klimaabkommen vorgesehene 2 °CReduktionsziel nicht zu erreichen.98 Aus diesem Grund sei das Ermessen des Staates eingeschränkt, sodass es auch keine unzumutbare Belastung darstelle, aufgrund derer von diesem Ziel abgewichen werden müsste.99 Was die Rechtsverletzung der Kläger anbelangt, urteilten die Gerichte unterschiedlich: Während das erstinstanzliche Gericht die staatliche Schutzpflicht aus einem allgemeinen, nicht näher beschriebenen staatsrechtlichen Sorgfalts- bzw. Schutzstandard herleitet und eine unmittelbare Anwendbarkeit der von der Klageorganisation Urgenda geltend gemachten Rechte aus Art 2 und 8 EMRK verneint100, hält das Berufungsgericht eine direkte Berufung auf die EMRK für zulässig.101 Darüber hinaus sieht das Berufungsgericht die Betroffenheit der Kläger als gegeben an, da es als plausibel gelten könne, dass bereits die heutige Generation mit den negativen Folgen des Klimawandels konfrontiert sein werde. Mit dem Einwand des Staates, dass Urgenda nicht die Interessen zukünftiger Generationen geltend machen könne, müsse sich das Gericht daher gar nicht befassen.102 24 Auch das BVerfG hat in seinem Klimabeschluss aus dem Frühjahr 2021 – jedenfalls im Ergebnis – ähnlich geurteilt103 und bei dieser Gelegenheit auch die internationale Dimension des grundrechtlichen Klimaschutzes gestärkt.104 Zwar ging es nicht um die in naher Zukunft entstehenden Treibhausgasemissionen, sondern
ZUR 2019, 3 (10 ff), der schon in der Beschreitung des Klagewegs eine „Delegitimierung des bisherigen Handelns von Exekutive und Legislative“ (S 12) sieht; dagegen wiederum Graser, ZUR 2019, 271 (275 ff), der hinter Wegeners Kritik die generelle Ablehnung von strategic-litigation-Prozessen vermutet, diese selbst aber für legitim hält und aufgrund der dadurch gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit für den Klimaschutz begrüßt. 97 Rechtbank den Haag, ECLI:NL:RBDHA:2015:7196, Rn 4.83. 98 Rechtbank den Haag, ECLI:NL:RBDHA:2015:7196, Rn 4.84. 99 Rechtbank den Haag, ECLI:NL:RBDHA:2015:7196, Rn 4.86. 100 Wegener, ZUR 2019, 3 (3 f). 101 Gerechtshof Den Haag, Urt v 9.10.2018, 200.178.245/01 (English translation), ECLI:NL:GHDHA:2018: 2610, https://uitspraken.rechtspraak.nl/inziendocument?id=ECLI:NL:GHDHA:2018:2610, Rn 34 ff.; Wegener, ZUR 2019, 3 (3 f). 102 Gerechtshof Den Haag, Urt v 9.10.2018, 200.178.245/01 (English translation), https://uitspraken. rechtspraak.nl/inziendocument?id=ECLI:NL:GHDHA:2018:2610, ECLI:NL:GHDHA:2018:2610, Rn 37. 103 BVerfG, Beschl v 24.3.2021, 1 BvR 2656/18; siehe dazu differenzierend Calliess, ZUR 2021, 355 ff; Ekhardt/Heß, NVwZ 2021, 1421 ff und ZUR 2021, 579 ff; Hofmann, NVwZ 2021, 1587 ff; umfassend zustimmend Schlacke, NVwZ 2021, 912 ff; eher kritisch Rutloff/Freihoff, NVwZ 2021, 917 ff alle mwN. 104 BVerfG, Beschl v 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn 78 ff; siehe speziell dazu Markus, ZUR 2021, 595 ff; Krohn, ZUR 2021, 603 ff.
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um die im Klimaschutzgesetz fehlende Fortschreibung der Jahresemissionsmengen für den Zeitraum zwischen 2031 und 2050. Dieses Fehlen sei aber laut BVerfG verfassungswidrig, sodass der Gesetzgeber diesbezüglich nachbessern müsse.105 Zwar stellt auch das BVerfG – insofern dem Gerechtshof Den Haag entsprechend – im Rahmen der Möglichkeit einer Rechtsverletzung der Beschwerdeführer darauf ab, dass diese schon jetzt in ihren eigenen Rechten betroffen seien, da sie die Auswirkungen des Klimawandels selbst noch erleben könnten.106 In der Begründetheit verneinte das BVerfG dann aber eine Grundrechtsverletzung der Betroffenen mangels Schutzpflichtverletzung: Der Ermessensspielraum des Gesetzgebers sei nicht überschritten, da das Schutzkonzept nicht völlig unzulänglich sei, um das grundrechtlich geforderte Schutzniveau zu erreichen.107 Eine Grundrechtsverletzung der Freiheitsrechte, insbesondere des Art 2 I GG folge vielmehr daraus, dass der Gesetzgeber keine hinreichenden Vorkehrungen getroffen habe, um die Freiheit über die Zeit gerecht und damit grundrechtsschonend verteilen, da die bis 2030 zugelassenen Emissionen in späteren Zeiträumen möglicherweise nur mit sehr hohen Emissionsminderungspflichten zu bewältigen seien. Über den Begriff der eingriffsähnlichen Vorwirkung in Freiheitsrechte stellt das BVerfG zukunftsgerichtet auf die Grundrechte künftiger Generationen ab, indem es feststellt, dass die Reduktionslasten über die Zeit und zwischen den Generationen nicht einseitig zulasten der Freiheit in der Zukunft verteilt werden dürfen. Im Ergebnis wird damit ein in der bisherigen Dogmatik des BVerfG typischerweise über grundrechtliche Schutzpflichten aus Art 2 II und 14 I GG und das Umweltstaatziel des Art 20a GG vermittelter Handlungsauftrag des Gesetzgebers im Wege der Umdeutung in eine abwehrrechtliche Konzeption aus Art 2 I GG bewirkt, was vielfältige Fragen aufwirft.108 Auch der Conseil d’État hat dem französischen Staat im Hinblick auf die Erreichung der Klimaziele konkrete Verpflichtungen auferlegt.109 Urgenda stellt
105 BVerfG, Beschl v 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn 263 f, 266. 106 BVerfG, Beschl v 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn 131; allerdings nicht bzgl der Rechte aus der EMRK, sondern der nationalen Grundrechte. 107 BVerfG, Beschl v 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn 152 ff, insb Rn 157; kritisch speziell zu diesem Teil der Entscheidungsbegründung Calliess, ZuR 2021, 355 (356 f). 108 BVerfG, Beschl v 24.3.2021, 1 BvR 2656/18, Rn 182 ff; dazu differenzierend Calliess, ZUR 2021, 355 ff; ähnlich Ekhardt/Heß, NVwZ 2021, 1421 ff; Hofmann, NVwZ 2021, 1587 ff; umfassend zustimmend Schlacke, NVwZ 2021, 912 ff; gänzlich kritisch Rutloff/Freihoff, NVwZ 2021, 917 ff alle mwN. 109 Conseil d’État, Entsch 427301 v 19.11.2020, https://www.conseil-etat.fr/actualites/actualites/ emissions-de-gaz-a-effet-de-serre-le-gouvernement-doit-justifier-sous-3-mois-que-la-trajectoire-dereduction-a-horizon-2030-pourra-etre-respectee; siehe dazu Franzius, Die Rolle von Gerichten im Klimaschutzrecht, FEU Research Paper NO. 10/2021, S 10 sowie zu weiteren, ähnlich entschiedenen Verfahren französischer Gerichte Weller/Tran, ZEuP 2021, 573 (585 f, insb Fn 86).
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also innerhalb der EU keinen Einzelfall mehr dar, sondern lässt eine klare Entwicklung erkennen.110 25 Der Gerichtshof der EU hatte ebenfalls bereits Gelegenheit, zu einer Klimaklage Stellung zu nehmen. In der Rs Carvalho111 richtete sich die Klage direkt gegen die Gesetzgebungsorgane der EU und beanstandete mehrere Rechtsakte im Hinblick auf die dort festgelegten jährlichen Emissionsreduktionsquoten und ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten und vertraglichen Vorgaben.112 Die Kläger waren der Meinung, dass sie von den Effekten des Klimawandels individuell betroffen seien, da die Auswirkungen des Klimawandels für jeden Kläger unterschiedlich wirkten.113 Hilfsweise beriefen sie sich darauf, dass die Plaumann-Formel zur Bestimmung der individuellen Betroffenheit flexibler gehandhabt werden müsste (dazu Lösung Fall 2).114 26 Auch der EGMR wurde in der jüngeren Vergangenheit immer häufiger mit Klimaklagen konfrontiert. Im Gegensatz zum EuGH hat der EGMR die ersten Klagen aber jedenfalls zugelassen.115 Daraus sollten jedoch keine voreiligen Schlüsse für die Sachentscheidung gezogen werden. Nach der bisherigen EGMR-Rechtsprechung bestehen einige Hürden, die es zu überwinden gälte.116 Zumindest scheint der EGMR dem Klimaschutz Priorität einzuräumen.117
110 Franzius, Die Rolle von Gerichten im Klimaschutzrecht, FEU Research Paper NO. 10/2021, S 10. 111 EuG, Urt v 8.5.2019, Rs T-330/18 – Carvalho ua/Parlament u Rat; EuGH, Urt v 25.3.2021, C-565/19 P – Carvalho ua/Parlament und Rat. 112 Winter, ZUR 2019, 259 (260). 113 EuG, Urt v 8.5.2019, Rs T-330/18, Rn 31 – Carvalho ua/Parlament und Rat. 114 EuG, Urt v 8.5.2019, Rs T-330/18, Rn 32 – Carvalho ua/Parlament und Rat; dazu Winter, ZUR 2019, 259 (266 f). 115 EGMR, 39371/20 – Claudia Duarte ua/Portugal ua; EGMR, 53600/20 – Klimaseniorinnen/Schweiz; weitere Klagen wurden bereits eingereicht, etwa die Klage von Greenpeace gegen Österreich, siehe unter https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20210412_OTS0056/klimaklage-gegen-oesterreichist-beim-egmr-eingereicht, sowie gegen Norwegen, siehe unter https://www.derstandard.at/story/ 2000125404395/umweltklage-gegen-norwegen-beim-menschenrechtsgerichtshof; zu den Anforderungen an Klimaklagen vor dem EGMR s Peters, AVR 59 (2021), 164; Braig/Ehlers-Hofherr, NuR 2020, 589. 116 Zu nennen sind hier insbes. Fragen zur territorialen Anwendbarkeit, der Opfereigenschaft der Kläger (unmittelbare Betroffenheit) sowie zur Zukunftsgerichtetheit der Klagen; zu ersterem Problem Peters, AVR 59 (2021), 164 (179 ff), zu letzteren dies, S. 191 ff. 117 Hierfür spricht, dass die georgische Präsidentschaft des Europarates bereits die Anerkennung eines Rechts auf eine saubere und gesunde Umwelt erwogen hat, vgl Pressemitteilung des Europarates, Environment and human rights: towards a right to a healthy environment?, Nr Réf. DC 028 (2020), 20.2.2020; Peters, AVR 59 (2021), 164 (165).
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Lösung Fall 2118: I. Zulässigkeit des Rechtsmittels Rechtsmittelbefugt ist die Prozesspartei, die mit ihren Anträgen ganz oder teilweise unterlegen ist (Art 56 II 1 EuGH-Satzung); das ist hier der Fall, denn die Nichtigkeitsklage der Kläger wurde vom EuG als unzulässig abgewiesen. Rechtsmittelfähig sind nach Art 56 I 1 EuGH-Satzung namentlich Endentscheidungen des EuG, also auch der Beschluss v 8.5.2019. II. Begründetheit des Rechtsmittels. Das Rechtsmittel ist nach Art 58 I 2 EuGH-Satzung begründet, wenn das Gericht unzuständig war, bei Verfahrensfehlern, die die Interessen des Rechtsmittelführers beeinträchtigen sowie bei einer Verletzung des Unionsrechts durch das EuG. Das EuG entschied, dass eine bloße Grundrechtsverletzung für eine individuelle Betroffenheit nicht ausreiche und dass bei einer anderen Auslegung die in Art 263 IV AEUV normierten Voraussetzungen bedeutungslos würden sowie eine Klagebefugnis für alle geschaffen würde.119 Auch Art 47 GRCh gebiete keine andere Auslegung.120 Die neben der Nichtigkeitsklage erhobene Schadensersatzklage sei zudem ebenfalls unzulässig, da sie dasselbe Rechtsschutzziel verfolge.121 Im Ergebnis besteht nach der Rechtsprechung des EuG damit schon kein Zugang zum Gericht.122 Im Rahmen dieser Auslegung könnte das EuG Art 263 IV AEUV verletzt haben, indem es die individuelle Klagebefugnis der Nichtigkeitsklage verneint hat. Hinsichtlich der Anforderungen an die Klagebefugnis ist wie folgt zu differenzieren: Art 263 IV Var 1 AEUV (»an sie gerichtete Handlung«) kommt nicht in Betracht, da die angegriffenen Rechtsakte nicht nur an die Klägerinnen, sondern an eine unbestimmte Vielzahl von Personen gerichtet sind. Bei sonstigen Handlungen ist eine natürliche oder juristische Person klagebefugt, wenn sie von dieser Handlung unmittelbar oder individuell betroffen ist (Art 263 IV Var 2 AEUV). Das setzt allerdings voraus, dass sie sich aus dem Kreis aller anderen Adressaten heraushebt und in ähnlicher Weise individualisiert betroffen ist wie der Adressat des Rechtsakts. Diese restriktive Interpretation führt dazu, dass gegen Gesetzgebungsakte iSv Art 289 AEUV (= sekundärrechtliche Verordnungen und Richtlinien) regelmäßig keine Klagebefugnis nach Var 2 besteht. III. Ergebnis: Das Rechtsmittel gegen die Entscheidung des EuG ist zulässig, aber unbegründet. Damit hat der EuGH das Urteil des EuG vollumfänglich bestätigt und das Rechtsmittel zurückgewiesen.123 Zur Frage, ob und inwieweit in materieller Hinsicht ein Grundrecht auf Umwelt- und Klimaschutz als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts gem. Art 6 III EUV basierend auf der
118 Kingreen, JK 09/21, AEUV Art 263, UA 1, 4. 119 EuG, Urt v 8.5.2019, Rs T-330/18, Rn 48, 50 – Carvalho ua/Parlament und Rat; das EuG folgt damit der Argumentation des Rates, vgl Rn 28 des Urteils. 120 EuG, Urt v 8.5.2019, Rs T-330/18, Rn 52 – Carvalho ua/Parlament und Rat. 121 EuG, Urt v 8.5.2019, Rs T-330/18, Rn 65–73 – Carvalho ua/Parlament und Rat. 122 Kritisch Winter, ZUR 2019, 259 (267), der unter Verweis auf Ausführungen von GA Jacobs sowie ein älteres EuG-Urteil (Fn 48 und 49) für die Annahme einer individuellen Beschwer jedenfalls bei gravierenden und mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretenden Grundrechtsverletzungen plädiert. 123 EuGH, Urt v 8.5.2019, C-565/19 P – Carvalho ua/Parlament und Rat; s a die Pressemitteilung Nr 51/ 21 v 25.3.2021. Christian Calliess
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EMRK und den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten im Wege der Interpretation ermittelt werden könnte, wird auf die Lösung von Fall 1 verwiesen.124
124 Dazu Calliess, ZUR 2021, 323 ff und Winter, ZUR 2019, 259 (267), der unter Verweis auf Ausführungen von GA Jacobs sowie ein älteres EuG-Urteil (Fn 48 und 49) für die Annahme einer individuellen Beschwer bei gravierenden und mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretenden Grundrechtsverletzungen plädiert.
Christian Calliess
§ 8.3.3 Verbraucherschutz Leitentscheidungen: EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon.
Schrifttum: Cremer/Ostermann Grundrechtsdimensionen des Verbraucherschutzes in: Heselhaus/ Nowak (Hrsg), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl 2020, § 65; Herresthal, Die Ablehnung einer primärrechtlichen Perpetuierung des sekundärrechtlichen Verbraucherschutzniveaus, EuZW 2011, 328; Meskic/Samardzic, Der Verbraucherschutz des Art. 38 GRCh als Auslegungs- und Rechtmäßigkeitsmaßstab, ZeuS 2017, 351; Mörsdorf, Die Auswirkungen des neuen „Grundrechts auf Verbraucherschutz“ gemäß Art 38 GR-Ch auf das nationale Privatrecht, JZ 2010, 759; Krebber in: Calliess/Ruffert (Hrsg) EUV/AEUV, 6. Aufl 2021, Art 38 GRCh; Giesecke in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl 2019, Art 38; Schmitt Das unionsrechtliche Verbraucherleitbild, 2018.
Fall: (EuGH, Rs C-192/94, Slg 1996, I-1281 ff – El Corte Inglés)
Die spanische Verbraucherin B schloss mit dem Reisebüro V einen Reisevertrag, den sie mit Hilfe eines Kredits der Finanzierungsgesellschaft K finanzierte. Diese gewährt nach einer Vereinbarung zwischen V und K sämtliche Darlehen, die die Kunden des Reisebüros erhalten. B erhob wegen vermehrter Reisemängel gegenüber V mehrere erfolglose Beschwerden und stellte daraufhin ihre Rückzahlungen an die K ein. In der Folge erhob K Klage gegen B auf Zahlung der offenen Beträge beim zuständigen nationalen Gericht. Im Prozess hielt B der K die Nichterfüllung des Reisevertrags durch V entgegen. B bezog sich insbesondere auf Art 11 II RL 87/102, der ihr als Verbraucherin die Möglichkeit gebe, gegen die K als Finanzierungsgesellschaft zu klagen. Das Gericht stellte fest, dass Art 11 II der Richtlinie nicht in nationales Recht umgesetzt wurde, obwohl die hierfür vorgesehene Frist zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits abgelaufen war, und dass das mit dieser Bestimmung angestrebte Ergebnis nicht durch entsprechende Auslegung des nationalen Rechts erreicht werden konnte. Da Art 11 II RL 87/102 nach Ansicht des Gerichts hinreichend klar, genau und unbedingt ist, um durch ihn in Anspruch genommen werden zu können, setzte es das Verfahren aus und legte dem EuGH im Wege der Vorabentscheidung die Frage vor, ob Art 11 RL 87/102 trotz Nichtumsetzung unmittelbar anwendbar sei, evtl auch unter Berücksichtigung der Art 169 AEUV/Art 38 GRCh. Wie wird der EuGH entscheiden?
1
I. Einführung Art 38 GRCh lehnt sich an Art 153 EGV (Art 169 AEUV) an.1 Als staatszielartige Be- 2 stimmung sollte er nach der ursprünglichen Intention des Kölner Mandats des Europäischen Rates nicht Eingang in die Charta der Grundrechte finden. Entsprechend kontrovers wurde die Norm im Grundrechtekonvent diskutiert.2
1 Charta Erläuterungen ABl 2007 Nr C 303/28. 2 Giesecke in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 38 Rn 6. Christian Calliess https://doi.org/10.1515/9783110716740-025
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
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Der Verbraucherschutz ist wie schon Art 37 GRCh als bloße Zielbestimmung für die Union3 ohne eigenständigen subjektiv-rechtlichen Gehalt4 und damit nicht als einklagbares Recht formuliert5. Insofern kann man auch hier davon sprechen, dass eine Platzierung in einem Grundrechte verbürgenden Dokument wie der Charta systematisch verfehlt6 und überdies mit Blick auf die bereits bestehende primärrechtliche Verbraucherschutzverpflichtung des Art 169 AEUV redundant ist7. Dieser keineswegs neue Befund wird durch die Rechtsprechung des EuGH gestützt, der (bislang jedenfalls) kein europäisches Grundrecht auf Verbraucherschutz anerkannt hat.8 Selbst in den Verfassungen der Mitgliedstaaten, einschließlich dem Grundgesetz, lässt sich kein Individualrecht auf Verbraucherschutz ausfindig machen. Vielmehr existieren lediglich objektiv-rechtliche Bezugnahmen.9 Die objektive Zielsetzung von Art 38 GRCh lässt allenfalls den Schluss darauf zu, dass im Sinne einer Einrichtungsgarantie10 auf europäischer Ebene Maßnahmen mit „verbraucherschützendem Gehalt“11 existieren müssen. Darüber hinaus kann der nur als beschränkt justiziabler Grundsatz (Art 52 V 1 GRCh)12 zu qualifizierende Art 38 GRCh als Auslegungshilfe in Verbindung mit anderen anerkannt individualschützenden Vorschriften der Charta dienlich sein.13 4 Jedoch ist nicht auszuschließen, dass der EuGH im Lichte des Art 38 GRCh verstärkt einer faktischen (negativen) Horizontalwirkung verbraucherschützender
3 Giesecke in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 38 Rn 6. 4 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 5; Meškić/Samardzič, ZEuS 2017, 351 (352 f); Stumpf in: Schwarze, EU-Komm, Art 38 GRCh Rn 1; Jarass/Kment GR, § 34 Rn 9. 5 Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, Art 38 GRCh Rn 1; Jarass GRCh, Art 38 Rn 3; Cremer/Ostermann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 65 Rn 10 ff. 6 So bereits zu Art 37 GRCh Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 37 Rn 4; ebenso Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 2 Fn 3. 7 Mörsdorf, JZ 2010, 759 (760) sieht den Mehrwert von Art 38 GRCh gegenüber Art 169 AEUV in der Erweiterung des Adressatenkreises auf die Mitgliedstaaten (soweit diese Unionsrecht durchführen); Meškić/Samardzič, ZEuS 2017, 351 (357 f). 8 Frenz GR, § 9 Rn 4381, 4386, 4388 ff; Cremer/Ostermann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 65 Rn 7 u 16. 9 Ausf Rengeling/Szczekalla GR, § 33 Rn 1055. 10 Herresthal, EuZW 2011, 328 (330). 11 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 5. 12 Mörsdorf, JZ 2010, 759 (762); Frenz GR, § 9 Rn 4388 ff. 13 Vgl schon Schlussantrag GA Trstenjak, EuGH, Rs C-227/08, Slg 2009, I-11939, Rn 44 – Martín Martín; ebenso Giesecke in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 38 Rn 12; Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 38 Rn 19; Jarass GRCh, Art 38 Rn 4; Stumpf in: Schwarze, EU-Komm, Art 38 GRCh Rn 1; Cremer/Ostermann in: Heselhaus/Nowak, GR § 65 Rn 25; „Abwägungsgesichtspunkt“ Streinz in: ders, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 2; Frenz GR, § 9 Rn 4413.
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Richtlinien unter Berücksichtigung des primärrechtlichen Verbraucherschutzziels zuneigen wird.14 Die Ziele des europäischen Verbraucherschutzes werden in Art 38 selbst nicht 5 näher konkretisiert. Gleichwohl befinden sich in Art 169 AEUV in nicht abschließender Aufzählung einige aufschlussreiche Konkretisierungen: Schutz der Gesundheit, Sicherheit, der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher und die Förderung ihrer Rechte auf Information, Erziehung und Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen. Daraus ergeben sich zwei zentrale Zwecke des Verbraucherschutzes: einerseits 6 Rechtsgüterschutz im Sinne der Verhinderung von Schäden im Zusammenhang mit der privaten Abnahme oder Nutzung von Waren oder Dienstleistungen. Andererseits Schutz der wirtschaftlichen Interessen durch Sicherung der Voraussetzungen der Privatautonomie, so dass Verbraucher ihre Marktentscheidungen vernünftig und verantwortungsvoll treffen können.15 Der EuGH anerkannte in seiner CassisRechtsprechung den Verbraucherschutz als „zwingendes Erfordernis“ an, das in verhältnismäßiger Anwendung mitgliedstaatliche (grundsätzlich verbotene) Beschränkungen der Binnenmarktfreiheiten, im konkreten Fall der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art 34 AEUV, zu rechtfertigen geeignet sein kann.16
II. Zum Begriff des Verbraucherschutzes Das Unionsrecht definiert weder im Primärrecht, wer als Verbraucher anzusehen 7 ist noch gibt es sekundärrechtlich einen einheitlichen Verbraucherbegriff17, obwohl der „Verbraucher“ an zahlreichen Stellen der Verträge Erwähnung findet und damit gleichzeitig die Bedeutung des Verbraucherschutzes hervorhebt.18 Dabei schwankt das Verbraucherleitbild im Wesentlichen zwischen zwei Vorstellungen, die einen situations- bzw problembezogenen Ansatz verfolgen: Einerseits kann die Prämisse eines stets aufmerksamen, verständigen und informierten also weniger schutzbedürftigen Verbrauchers19 gewählt, andererseits vom sog „flüchtigen“ eher
14 Vgl Mörsdorf, JZ 2010, 759 (766) mit Verweis auf EuGH, Rs C-192/94, Slg 1996, I-1281, Rn 20 – El Corte Inglés. 15 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 2; Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 38 Rn 28. 16 EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649, Rn 8 – Cassis de Dijon. 17 Vgl Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 1; ders in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 169 AEUV Rn 4 ff. 18 Frenz GR, § 9 Rn 4477; Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 38 Rn 5 f. 19 Zum Leitbild des „mündigen“ Verbrauchers Dreher, JZ 1997, 167 (170 ff).
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schutzbedürftigen Verbraucher ausgegangen werden.20 Im Rahmen von Art 38 GRCh dürfte zumindest jede natürliche Person als Verbraucher anzusehen sein, die bei ihrem Handeln am Markt nicht für gewerbliche oder berufliche, sondern nur für private Zwecke tätig ist21, womit zumindest die Erkenntnis als gesichert gelten kann, dass es sich um Private handeln muss. Ob Art 38 GRCh nun aber vom „engen“ Verbraucherbegriff ausgeht oder dem Leitbild des „flüchtigen“ Verbrauchers Rechnung tragen soll, lässt sich nicht abschließend klären. Für Letzteres könnte sprechen, dass Art 38 GRCh offenkundig bereits durch seine Existenz einen schutzbedürftigen Verbraucher voraussetzt.22 Die Vielschichtigkeit der denkbaren Situationen spricht eher dagegen, von einem starren Leitbild eines „mündigen“ oder flüchtigen Verbrauchers auszugehen.23 Der EuGH entwickelte in seiner Rechtsprechung zum Verbraucherschutz das Leitbild, eines „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“24, der im Hinblick auf das jeweilige Produkt und die entsprechende situative Gegebenheit angemessen gut unterrichtet und angemessen kritisch ist. 8 Die Sicherstellung eines hohen Niveaus an Verbraucherschutz durch Art 38 ist wie bereits der Gesundheitsschutz (Art 35 S 2 GRCh) nicht nur ein Grundsatz, sondern ein Optimierungsgebot.25 Der Begriff des „hohen Verbraucherschutzes“ ist lediglich eine nach historischer Auslegung zu begreifende abstrahierte Zusammenfassung der Ziele des Gesundheits-, Interessen- und Sicherheitsschutzes des Verbrauchers.26 Die Erkenntnis bringende Frage nach dem Schutzniveau ist daher wie auch bei Art 37 GRCh eng mit der Frage verknüpft, welchen Rang der Verbraucherschutz im Verhältnis zu anderen vertraglichen Zielen und Belangen einnimmt. Sowohl Art 169 AEUV als auch Art 38 GRCh enthalten mit der Festlegung auf ein „hohes“, nicht auf das „höchstmögliche“ Verbraucherschutzniveau ein Abwägungsgebot. Insofern muss der Verbraucherschutz mit etwaig kollidierenden Vertragszielen in einen schonenden und interessengerechten Ausgleich im Sinne der Herstel-
20 Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, Art 38 GRCh Rn 4; Schmitt Das unionsrechtliche Verbraucherleitbild, 2018, S 138 ff. 21 EuGH, Rs C-541/99, Slg 2001, I-9049, Rn 14 – Cape u Idealservice MN RE; Jarass GRCh, Art 38 Rn 6. 22 Mit Hinw auf den Schutzcharakter Frenz GR, § 9 Rn 4403. 23 Rengeling/Szczekalla GR, § 32 Rn 1066; Giesecke in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 38 Rn 17. 24 EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon; Slg 1980, 3839 ff – Fietje; Slg 1982, 3961 ff – Rau Lebensmittelwerke; Rs 16/83, Slg 1984, 1299 ff – Prantl; Rs 178/84, Slg 1987, 1227 ff – Kommission/ Deutschland; Rs C-362/88, Slg 1990, I-667 ff – GB-INNO-BM; Rs C-315/92, Slg 1994, I-317 ff – Clinique; Rs C-470/93, Slg 1995, I-1923 ff – Mars; Rs C-210/96, Slg 1998, I-4657 ff – Gut Springenheide u Tusky. 25 Frenz GR, § 9 Rn 4407; Mörsdorf, JZ 2010, 759 (761); Pielow in: Stern/Sachs, GRCh, Art 38 Rn 21 u 40; Meškić/Samardzič, ZEuS 2017, 351 (357 f). 26 Vgl Giesecke in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 38 Rn 6.
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lung praktischer Konkordanz gebracht werden.27 In die Abwägung einzubeziehen sind insbesondere die Grundfreiheiten des Binnenmarktes (Art 34, 45, 49, 56, 63 AEUV) sowie die in der Charta normierten Freiheitsgrundrechte, etwa die Unternehmerfreiheit (Art 16 GRCh). Dem Verbraucherschutz kommt folglich kein absoluter Vorrang zu28, was vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass er nach der Judikatur des EuGH zwar ein wichtiges Ziel der Europäischen Union ist, aber mitnichten ihr einziges.29
III. Verbraucherschutz in den Politiken der Union Art 38 GRCh stellt sicher, dass „die Politik“ der Union ein hohes Verbraucherschutz- 9 niveau gewährleistet. Wiederum begründet durch die Anlehnung an die Querschnittsklausel des Art 12 AEUV nimmt Art 38 GRCh damit Bezug auf sämtliche in den Art 3 bis 6 EUV angesprochenen Grundsätze. Mithin soll den Erfordernissen des Verbraucherschutzes in allen unionalen Politikfeldern30, freilich mit Rücksicht auf technische Möglichkeiten und wirtschaftliche Zumutbarkeit, Rechnung getragen werden.31 Insbesondere im Hinblick auf die divergierende Formulierung in Art 35 S 2 GRCh, der die Union ausdrücklich auf ein hohes Gesundheitsschutzniveau im Rahmen „der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union“ verpflichtet, könnte geschlossen werden, dass die Verpflichtung auf ein hohes Verbraucherschutzniveau zwar für jeden Politikbereich, nicht aber für jede einzelne Maßnahme gilt. Letztere werden nämlich in Art 38 gerade nicht erwähnt. Gegen einen solchen Schluss sprechen allerdings gewichtige Gründe der Praktikabilität und schwierigen Abgrenzung von mitunter miteinander verbundenen Maßnahmen und deren Vielschichtigkeit.32 Dass nur die Politiken insgesamt gemeint sein können, zeigt sich zudem in der parallelen Vorschrift des Art 37 GRCh, dessen Auslegung zum gleichen Ergebnis gelangt. Dabei besitzt die Union im Rahmen der von ihr vorgenommenen Konkretisie- 10 rung ihrer Verbraucherschutzpolitik einen weiten Ermessensspielraum.33 Den-
27 Vgl nur Herresthal, EuZW 2011, 328 (330). 28 Frenz GR, § 9 Rn 4408. 29 EuGH, Rs C-233/94, Slg 1997, I-2405, Rn 48 – Deutschland/Parlament u Rat. 30 Mörsdorf, JZ 2010, 759 (761). 31 Lurger in: Streinz, EUV/EGV, Art 153 EGV Rn 24; Frenz GR, § 9 Rn 4407. 32 Frenz GR, § 9 Rn 4411. 33 Stumpf in: Schwarze, EU-Komm, Art 38 GRCh Rn 7; Wolffgang in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/ GRCh, Art 38 GRCh Rn 1; Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 6; Jarass GRCh, Art 38 Rn 6. Christian Calliess
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
noch ist zu bemerken, dass Art 38 GRCh nach seinem Wortlaut („sicherstellen“) deutlich strenger gefasst ist als die Querschnittsklausel des Art 12 AEUV („Rechnung tragen“). Art 38 verdichtet mithin die Vorgaben für die unionalen Anstrengungen im Streben auf ein hohes Schutzniveau, ohne aber wiederum direkte Handlungspflichten zu begründen.34 11 Freilich ist die Union im Zuge ihrer Verbraucherschutzpolitik nicht verpflichtet, sich am höchsten in einem Mitgliedstaat geltenden Verbraucherschutzlevel zu orientieren und dies auch für alle übrigen Mitgliedstaaten im Sinne einer Maximalharmonisierung vorzuschreiben.35 Spiegelbildlich dazu ist die Union aber auch nicht darauf beschränkt, lediglich Mindeststandards für den Verbraucherschutz verbindlich festzulegen.36 Ein einmal erreichtes Schutzniveau muss auch nicht zwingend von der Union beibehalten werden.37 Vielmehr kann auch dann ein hinreichend hohes Verbraucherschutzniveau gegeben sein, wenn Einzelmaßnahmen nicht dem bisherigen Standard entsprechen.38 Sofern der Verbraucherschutz in der EU demnach generell verbessert wird, können Rechtsangleichungsmaßnahmen nach der Rechtsprechung des EuGH unter Umständen auch zu einer Absenkung des Schutzniveaus in einzelnen Mitgliedstaaten führen.39 Die Mitgliedstaaten wiederum bleiben durch Art 169 IV AEUV in ihrer Entscheidung frei, strengere Schutzmaßnahmen als diejenigen, die von der Union vorgegeben sind, zu ergreifen.
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Lösung Fall: Der EuGH hat bereits in seinem Urteil in der Rs Faccini Dori40 eine klare Antwort auf die Problematik der unmittelbaren horizontalen Wirkung nicht (fristgerecht) umgesetzter Richtlinien gegeben. Danach kann nach stRspr eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, sodass ihm gegenüber die Berufung auf die Richtlinie nicht möglich ist. Etwas anderes könnte sich aus Art 169 AEUV bzw Art 38 GRCh (Verbraucherschutz) ergeben. Die Tragweite dieser Vorschriften ist allerdings begrenzt. Art 169 AEUV spricht zum einen die Verpflichtung der Union aus41, einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus zu leisten. Zum anderen schafft er eine Unionszuständigkeit für spezifische Aktionen im Zusammenhang mit der Verbraucherschutzpolitik, die
34 Berg in: Schwarze, EU-Komm, Art 38 GRCh Rn 4; Cremer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 62 Rn 28. 35 EuGH, Rs C-233/94, Slg 1997, I-2405, Rn 48 – Deutschland/Parlament u Rat. 36 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 38 GRCh Rn 6; Heiss, ZEuP 1996, 625 (632 ff); Riesenhuber, JZ 2005, 829 (831 ff); aA Micklitz/Reich Verbraucherschutz im Vertrag über die Europäische Union – Perspektiven für 1993, S 594 f; Reich, ZEuP 1994, 381 (398 f). 37 Herresthal, EuZW 2011, 328 (330); aA Frenz GR, § 9 Rn 4407; Grub in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/ GRCh, Art 169 AEUV Rn 10. 38 Pfeiffer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 169 AEUV Rn 19. 39 EuGH, Rs C-183/00, Slg 2002, I-3901, Rn 26 f, 30 ff – González Sánchez; Rs C-177/04, Slg 2006, I2461 ff – Kommission/Frankreich; Rs C-402/03, Slg 2006, I-199 ff – Skov u Bilka. 40 EuGH, Rs C-91/92, Slg 1994, I-3325 ff – Faccini Dori = JK 95, EWGV Art 189 III/6. 41 EuGH, Rs C-192/94, Slg 1996, I-1281, Rn 20 – El Corte Inglés.
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über die im Rahmen des Binnenmarktes getroffenen Maßnahmen hinausgehen. Da sich Art 169 AEUV darauf beschränkt, der Union ein Ziel zu setzen und ihr hierfür Befugnisse einzuräumen, ohne daneben eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten oder einzelner aufzustellen, kann er es nicht rechtfertigen, dass klare, genaue und unbedingte Bestimmungen von Richtlinien über den Verbraucherschutz, die nicht fristgerecht umgesetzt worden sind, unmittelbar zwischen einzelnen in Anspruch genommen werden. Ebenso vermittelt auch Art 38 GRCh kein europäisches Grundrecht auf Verbraucherschutz, sondern statuiert lediglich einen objektiv-rechtlichen (beschränkt justiziablen) Grundsatz gemäß Art 52 V GRCh. B bleibt im Ergebnis darauf beschränkt den die Umsetzung nicht fristgerecht vornehmenden Mitgliedstaat auf Ersatz des ihr hierdurch entstandenen Schadens zu verklagen.
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§ 9 Gleichheit § 9.1 Schutz der Gleichheit nach der EMRK Leitentscheidungen: EGMR (Pl), Urt v 23.7.1968, 1474/62, EuGRZ 75, 298 – belgischer Sprachenfall; Urt v 13.6.1979, 6833/74, NJW 1979, 2449 – Marckx; Urt v 6.4.2000, 34369/97, ÖJZ 2001, 518 – Thlimmenos; Urt v 16.3.2010, 15766/03 – Orsus ua Schrifttum: Peters/Altwicker, Das Diskriminierungsverbot, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21, 3. Aufl 2021; Wolfrum (Hrsg.) Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003.
1
Fall 1 (EGMR, Urt v 6.4.2000, 34369/97, ÖJZ 2001, 518 – Thlimmenos) Herr Thlimmenos verweigert als Zeuge Jehovas den griechischen Militärdienst. Er wird deswegen zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren verurteilt, von denen er etwas über zwei auch verbüßt. Später legt er erfolgreich eine staatliche Prüfung als Wirtschaftsprüfer ab. Die anschließende Ernennung, die nach griechischem Recht vorgesehen ist, obwohl die Wirtschaftsprüfer dort einen freien Beruf ausüben, wird ihm jedoch verweigert, weil er ein Verbrechen begangen habe.
I. Grundlagen 2 Die Gleichheit wird in der EMRK nur in Art 14 geschützt. Eine gewisse Erweiterung
enthält das 12. ZP, das allerdings erst von 20 der 46 Vertragsstaaten der EMRK und nicht von Deutschland ratifiziert worden ist. Die Gleichheit von Ehegatten wird speziell in Art 5 des 7. ZP geregelt. 3 Begrenzt wird der Schutz der Gleichheit nach Art 14 EMRK insbesondere dadurch, dass er ein Verhalten im Anwendungsbereich eines der anderen, in der EMRK gewährleisteten Rechts voraussetzt (→ Rn 6). Insoweit erweitert das 12. ZP den Schutz, weil es danach ausreicht, dass eine Ungleichbehandlung in irgendeinem Recht erfolgt; dies kann auch im nationalen Recht verankert sein. Das stellt kaum noch eine Begrenzung dar.1 In beiden Garantien ist der Schutz zudem beschränkt auf Ungleichbehandlungen aus bestimmten statusmäßigen, über die explizit in Art 14 EMRK und identisch in Art 1 des 12. ZP enthaltenen Sachgründen hinaus nur begrenzt erweiterbaren Kriterien (→ Rn 15). Damit fehlt in der EMRK eine allgemeine Gewährleistung der Gleichheit, wie sie etwa in Art 3 I GG, Art 6 der französischen Erklärung von 1789 oder auch im erst 1966 verabschiedeten IPbürgR
1 Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 48 f.
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(Art 26) enthalten ist; auch Art 1 ZP 12 ändert daran nichts.2 Insgesamt kommt der Gleichheit im Rahmen der EMRK nur eine begrenzte Bedeutung zu – anders als im Unionsrecht, wo der Schutz vor Diskriminierung von zentraler Bedeutung ist (→ Rn 29). Dies ist auch erklärlich. Der Gleichheitssatz bezog sich ursprünglich, trotz all- 4 gemeiner Formulierung, allein auf die Gleichbehandlung der Menschen und zielte damit im Kern auf deren Statusgleichheit, wie insbesondere der Wortlaut von Art 1 der Erklärung von 1789 zeigt.3 Später aber hat er sich nicht selten zu einem umfassenden Gebot weiterentwickelt, alle vergleichbaren Situation gleich zu behandeln,4 also auch solche, bei denen nicht der personale Status des Menschen für die Ungleichbehandlung ausschlaggebend war.5 Damit beinhaltet der allgemeine Gleichheitssatz heute vielfach ein umfassendes Sachlichkeitsgebot für die gesamte Normsetzung und -anwendung, nach dem jede sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung zweier Sachverhalte unzulässig ist. Eine so weitreichende Gewährleistung war man bisher nicht bereit, im Rahmen der EMRK zu schaffen.6
II. Normative Grundstruktur 1. Anwendungsbereich Art 14 EMRK ist wie erwähnt nur anwendbar, wenn der Sachverhalt in den An- 5 wendungsbereich eines der in der EMRK – einschließlich der ZP – garantierten Rechte fällt. Dabei muss es nicht um Freiheitsbeeinträchtigungen gehen. Ungleiche Leistungsgewähr im Anwendungsbereich einer EMRK-Gewährleistung reicht, etwa bei der Rentenzahlung mit Blick auf Art 1 ZP 17 oder beim Elternurlaub mit Blick auf
2 Sachs in: Stern/Sachs GRCh, Art 20 Rn 8; in diesem Sinne aber Grabenwarter/Pabel EMRK Rn 26, 40 ff; vgl auch Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 19. 3 „Alle Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein.“ 4 Zur Diskussion in der Weimarer Zeit für die Statusbezogenheit Nawiasky, VVDStRL 1965, 25 (29, 36); für die Sachbezogenheit Kaufmann, VVDStRL 1965, 2 (9 ff); Leibholz Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1925, 2. Aufl 1959; dem später zunächst folgend das BVerfG, etwa BVerfGE 1, 14 (52); 4, 144 (155). 5 Ausdrücklich thematisiert in BVerfGE 55, 72 (88). So sollte eine differenzierte Kontrolldichte ermöglicht werden. 6 Zur Diskussion Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 7 f, 18; zum Sachproblem instruktiv Walter in: Wolfrum, Gleichheit und Nichtdiskriminierung, S 253 ff. 7 EGMR (GK), Urt v 18.2.2009, 55707/00, § 79 – Andrejeva.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Art 8 EMRK8; Art 14 EMRK ist auch anwendbar, wenn sich das streitige Recht als solches der EMRK nicht entnehmen lässt. 6 Dementsprechend prüft der EGMR zumeist zunächst, ob eine Verletzung eines sonstigen in der EMRK garantierten Rechts vorliegt. In diesem Fall wird traditionell meist auf eine Prüfung von Art 14 EMRK verzichtet, weil daran kein Interesse bestehe. Liegt der Schwerpunkt bei der Verletzung des Gleichheitsrechts, prüft der EGMR umgekehrt zunächst Art 14 EMRK9 und verzichtet bei Feststellung eines Verstoßes meist auf eine Prüfung der anderen Garantie. In letzter Zeit wurden allerdings häufiger sowohl das Freiheits- wie das Gleichheitsrecht geprüft, weil die Prüfung nur einer Norm die Problematik des Falles nur unvollständig erfasste.10
2. Ungleichbehandlung aus einem der aufgeführten Gründe 7 Art 14 EMRK und Art 1 ZP 12 verbieten eine Ungleichbehandlung nur, wenn sie we-
gen eines der in beiden Normen übereinstimmend genannten Kriterien erfolgt. Diese weisen vielfach besondere Sensibilität auf, die auf spezifischen Unrechtserfahrungen teils der Vergangenheit wie die Ungleichbehandlung aus Gründen der Religion oder des Geschlechts, teils erst der jüngeren Zeit beruhen. Der Katalog ist allerdings wegen Erwähnung auch des „sonstigen Status“ offen (→ Rn 15). Insgesamt wird an das historische Verständnis des Gleichheitssatzes als Statusgleichheit aller Menschen angeknüpft (→ Rn 4); eine Ungleichbehandlung, die nicht an bestimmte persönliche, vielfach vom Betroffenen nicht unter zumutbaren Bedingungen beeinflussbaren Merkmale anknüpft, ist regelmäßig nicht an diesen Normen zu messen. 8 Art 14 EMRK hat also nicht nur wie der allgemeine Gleichheitssatz rein modalen Charakter, sondern schützt auch die Persönlichkeit vor Ausgrenzung.11 Jedes Individuum soll in seinem Eigenwert wahrgenommen werden und dementsprechend die jeweils gewährleisteten Rechte genießen. Daher ist die Norm insbesondere für vulnerable Gruppen von Bedeutung.12 Zwar hat das Diskriminie-
8 EGMR (GK), Urt v 22.3.2012, 30078/06, NJOZ 2014, 1593, § 130 – Markin. 9 EGMR, Urt v 21.6.2011, 5335/05, § 45 – Ponomaryovi. 10 Etwa EGMR, Urt v 22. 5. 2008, 15197/02, §§ 51 ff – Petrov; Urt v 6.7.2005, 43577/98, EuGRZ 2005, 693 §§ 162 ff – Nachova; Urt v 9.6.2009, 33401/02– Opuz; dazu Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 278 f. 11 Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 65 ff; Schmahl in: EnzEuR, Bd 2, § 15 Rn 23. 12 EGMR (GK), Urt v 13.11.2007, 57325/00, EuGRZ 2009, 81 § 182 – DH/Tschechien; Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 241.
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rungsverbot im Grundsatz symmetrischen Charakter, verbietet also Bevorzugungen wie Benachteiligungen, doch spielt die Vulnerabilität bei der Kontrolle der Rechtfertigung eine Rolle (→ Rn 11). Konkret fordert die Prüfung des Gleichheitssatzes ein Vergleichspaar, das 9 auch gemeinsame Merkmale aufweist. Dementsprechend prüft der EGMR zunächst, ob eine vergleichbare Situation vorliegt, auch wenn er hier meist eher großzügig ist. Zudem muss die Ungleichbehandlung „wegen“ eines der genannten Kriterien erfolgen. Der EGMR versteht dies regelmäßig als Anknüpfungsverbot. Die Ungleichbehandlung muss also gerade aus dem verbotenen Grund erfolgen. Seit etlichen Jahren macht der EGMR aber auch das vor allem mit großer Wirkmacht vom EuGH entfaltete Konzept der mittelbaren Diskriminierung (→ Rn 42 ff) fruchtbar.13 Schließlich müssen auch Personen, die sich in ungleicher Situation befinden, ggf ihrer Ungleichheit entsprechend ungleich behandelt werden.14 Art 14 EMRK verpflichtet unmittelbar nur den Staat, ist aber materiell nicht nur 10 auf dessen Handeln anwendbar. In der Konsequenz eines Schutzes vor Ausgrenzung (→ Rn 8) entnimmt der EGMR der Norm auch staatliche Gewährleistungspflichten im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Diskriminierung, etwa mit Blick auf die Behandlung von Arbeitnehmern durch Arbeitgeber.15 Für Roma fordert er sogar spezifische Schutzmaßnahmen.16 Damit entfaltet Art 14 EMRK auch eine gewisse Drittwirkung und kann sogar positive, also Fördermaßnahmen rechtfertigen.17 Minderheitenschutz darf sich allerdings nicht zum Nachteil der Betroffenen auswirken.18 Zudem muss der Staat bei der Wahrnehmung allgemeiner Schutzpflichten diskriminierungsfrei agieren.19 Stehen gravierende Vorwürfe im Raum, besteht ggf auch eine Pflicht zur staatlichen Untersuchung.20
13 EGMR, Urt v 6.1.2005, 58641/00 – Hoogendijk; (GK), Urt v 13.11.2007, 57325/00, EuGRZ 2009, 81 § 180 – DH/Tschechien. 14 EGMR, Urt v 6.4.2000, 34369/97, ÖJZ 2001, 518 § 44 – Thlimmenos. 15 EGMR, Urt v 30.7.2009, 67336/01, §§ 120, 130 ff – Danilenkov zu Gewerkschaftsangehörigen; Urt v 3.10.2013, 552/10, §§ 69 ff – I.B. zu einem HIV-Positiven. 16 EGMR, Urt v 16.3.2010, 15766/03, §§ 180 ff. – Orsus; Urt v 5.6.2008, 32526/05, § 67 – Sampanis. 17 Für Frauen EGMR, Urt v 18.2.2010, 12879/09, § 86 – Ēcis; für Menschen mit Behinderung EGMR, Urt v 30.1.2018, 23065/12, § 61 – Şahin. 18 Siehe EGMR (GK), Urt v 19.12.2018, 20452/14, NJW 2019, 3699, §§ 151 ff – Molla Sali. 19 EGMR, Urt v 12.5.2015, 73235/12, § 100 – Identoba, zum Schutz von Demonstranten vor (im konkreten Fall: homophoben) Gegendemonstranten. 20 EGMR, Urt v 6.7.2005, 43577/98 u 43579/98, EuGRZ 2005, 693, §§ 159 ff– Nachova. Damit soll nicht zuletzt Beweisproblemen Rechnung getragen werden; dazu Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 110.
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3. Rechtfertigung 11 Eine Aussage zur Möglichkeit der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung enthält
Art 14 EMRK nicht. Die englische Sprachfassung „discrimination“ legt nahe, dass es nur um sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen geht; die französische Sprachfassung „sans distinction aucune“ lässt eher an ein striktes Verständnis denken.21 Art 1 ZP 12 greift dann allerdings auch in der französischen Fassung den Diskriminierungsbegriff auf. Der EGMR hat sich früh für die erstgenannte Auslegung entschieden. Eine Rechtfertigung ist möglich, wenn ein entsprechender Sachgrund vorhanden und die Maßnahme verhältnismäßig ist.22 Dabei kommt den Staaten ein Beurteilungsspielraum zu („margin of appreciation“, → Ehlers/Germelmann § 2.1. Rn 101, 143). Dieser ist eher begrenzt, wenn das Kriterium für den Betroffenen nicht unter zumutbaren Bedingungen beeinflusst werden kann,23 aber auch, wenn es um besonders vulnerable Gruppen geht,24 und eher größer, wenn es in der Frage zwischen den Staaten in der relevanten Frage keinen Konsens gibt.25 Historische Erklärungen für bestimmte Situationen wirken für sich genommen noch nicht rechtfertigend.26 Prinzipiell anerkannt, wenn auch durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt ist die Möglichkeit, eine benachteiligte Gruppe zu Lasten der bevorzugten Gruppe besonders zu fördern;27 die Präambel des 12. ZP erwähnt dies ausdrücklich.
III. Zu den einzelnen Kriterien 12 Eine Benachteiligung wegen des Geschlechts verlangt regelmäßig besonders ge-
wichtige Rechtfertigungsgründe. Fälle kommen häufiger aus dem Arbeits- und Sozialrecht.28 Das im internationalen Kontext ebenfalls verwendete, begrifflich aber
21 Dazu Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 52. 22 EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62, EuGRZ 1975, 298 § 10 – belgischer Sprachenfall. 23 EGMR, Urt v 27.9.2011, 56328/07, § 47 – Bah (zur Immigration als beeinflussbarer Status). 24 Oben Fn 12. 25 Dazu Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 234. 26 EGMR, Urt v 20.6.2006, 17209/02, § 82 – Adami. 27 EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62, EuGRZ 1975, 298, § 10 – belgischer Sprachenfall. 28 Dazu etwa EGMR, Urt v 28.5.1985, 9214/80, NJW 1986, 3007, § 78 – Abdulaziz zu Unterschieden bei Einwanderungsregeln; Urt 11.6.2002, 36042/97, § 39 – Willis zur Witwerrente; Urt v 22.3.2012, 30078/ 06, NJOZ 2014, 1593 – Markin – zu väterlichem Erziehungsurlaub; anders insoweit noch Urt v 27.3.1998, 20458/92, ÖJZ 1998, 516 §§ 37 ff – Petrovic.
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nicht unproblematische29 Merkmal der Rasse30 ist auch in Fällen maßstäblich, in denen es um die ethnische Herkunft geht. Unmittelbare Ungleichbehandlungen sind insoweit gar nicht zu rechtfertigen.31 Bestehen hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen einer einschlägigen Diskriminierung, muss der Staat entsprechend unabhängige Untersuchungen anstellen,32 der EGMR hat sogar insbesondere etliche Urteile zum Schutz von Roma erlassen.33 Im Kontext der Religion steht das Gebot staatlicher Neutralität regelmäßig Ungleichbehandlungen entgegen.34 Das Merkmal der Geburt steht vor allem einer Unterscheidung zwischen ehe- 13 licher und nichtehelicher Geburt entgegen. Seit einem wegweisenden Urteil aus dem Jahre 197935 hat der EGMR viel zum Schutz nichtehelicher Kinder vor Diskriminierung getan. Das Merkmal „Sprache“ steht nach einem frühen Urteil Regelungen, die die staatliche Förderung von Schulen auf solche beschränkt hat, in denen in der Sprache unterrichtet wird, die in der jeweiligen Gegend gesprochen wird, nicht entgegen.36 Die Kriterien der politischen Anschauung, der sozialen Herkunft und des Vermögens haben in der Judikatur bisher keine nennenswerte Rolle gespielt. Da Art 14 EMRK keinen abschließenden Charakter aufweist (→ Rn 3), zieht der 14 Gerichtshof auch weitere Differenzierungskriterien heran.37 Voraussetzung ist eine klar zu identifizierende, objektive oder persönliche Eigenschaft; diese muss allerdings nicht unmittelbar personenbezogen sein.38 Eine vergleichsweise strenge Kontrolle übt er etwa bei den Kriterien der sexuellen Orientierung,39 genetischer
29 Zur Diskussion etwa Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 162; Kischel, AöR 145 (2020), 227 ff. 30 Siehe etwa das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7.3.1966. 31 EGMR (GK), Urt v 24.5.2016, 38590/10, NVwZ 2017, 1681, § 94 – Biao. 32 Zum Fall von „racial profiling“ in Deutschland EGMR, Urt v 18.10.2022, 216/19, NJW 2023, 139, §§ 32 ff – Basu. 33 EGMR, Urt v 6.7.2005, 43577/98, EuGRZ 2005, 693 §§ 162 ff – Nachova; (GK), Urt v 13.11.2007, 57325/ 00, EuGRZ 2009, 81 § 176 – DH/Tschechien; siehe ferner Fn 16. 34 EGMR, Urt v 6.4.2000, 34369/97, ÖJZ 2001, 518 § 44 – Thlimmenos. Siehe insbesondere zu Sorgerechtsstreitigkeiten etwa EGMR, Urt v 23.6.1993, 12875/87, ÖJZ 1993, 853 – Hoffmann; Urt v 12.2.2013, 29617/07, § 45 – Vojnity. 35 EGMR, Urt v 13.6.1979, 6833/74, NJW 1979, 2449 § 34 – Marckx; Urt v 3.12.2009, 22028/04, NJW 2010, 501 §§ 53 ff – Zaunegger. 36 EGMR, Urt v 23.7.1968, 1474/62, EuGRZ 1975, 298 § 13 – belgischer Sprachenfall. 37 Sieh auch die Übersicht bei Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 23. 38 EGMR, Urt v 13.7.2010, 7205/07, §§ 55, 58 f – Clift. 39 EGMR, Urt v 9.1.2003, 39392/98, ÖJZ 2003, 394 §§ 45 ff – L und V; Urt v 24.7.2003, 40016/98, ÖJZ 2004, 36 §§ 34 ff – Karner.
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Merkmale40, Behinderung41 und Krankheit42 sowie bei Diskriminierungen wegen einer Eheschließung43 aus. Größeren Spielraum gibt es dagegen bei den Kriterien der Staatsangehörigkeit,44 des Alters45 und eines Wohnsitzes46. Gelegentlich interpretiert der EGMR den Begriff des Status auch sehr weit und erfasst Konstellationen, in denen es letztlich nicht um persönliche Merkmale, sondern um sachbezogene Unterscheidungen wie etwa Grundstücksgrößen geht.47
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Lösung Fall 1 Fraglich ist zunächst, ob das Anliegen von Herrn Thlimmenos in den Anwendungsbereich einer EMRK-Garantie fällt. Vorliegend führt die schwere Straftat zur Verweigerung der Zulassung als Wirtschaftsprüfer. Nun bestehen keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, wegen einer solchen Tat die Bestellung als Wirtschaftsprüfer zu verweigern. Insbesondere weist die fragliche Regel keinen Zusammenhang mit der Religion auf. Im vorliegenden Fall waren Hintergrund der Verurteilung die religiösen Überzeugungen von Herrn Thlimmenos. Dies wurde bei der Entscheidung nicht berücksichtigt. Damit stellt sich die Frage, ob hier nicht Ungleiches zu Unrecht gleich behandelt wurde. Die Verweigerung des Militärdienstes aus religiösen Gründen war für den EGMR nämlich als solche nicht geeignet, die Qualifikation von Herrn Thlimmenos als Wirtschaftsprüfer in Frage zu stellen.
40 EGMR, Urt v 1.12.2009, 43134/05, §§ 124 ff – G.N. ua. 41 EGMR, Urt v 30.4.2009, 13444/04, § 80 – Glor. 42 EGMR, Urt v 10.3.2011, 2700/10, NVwZ 2012, 221, §§ 56 f – Kiyutin; Urt v 3.10.2013, 552/10, §§ 69 ff – I.B. 43 EGMR, Urt v 22. 5. 2008, 15197/02, §§ 51 ff – Petrov. 44 Bei der Gewähr von Sozialleistungen wurde diese Unterscheidung für zulässig erachtet in EGMR Urt v 29.10.2009, 29137/06, §§ 39 ff – Si Amer; anders hingegen in EGMR, Urt v 16.9.1996, 17371/90, ÖJZ 1996, 955 § 50 – Gayguzuz; Urt v 18.2.2009, 55707/00, §§ 87 ff – Andrejeva. 45 Etwa EGMR, Urt v 10.6.2010, 25762/07, § 85 – Schwizgebel. 46 EGMR (GK), Urt v 16.3.2010, 42184/05, §§ 70 ff – Carson. 47 Dazu EGMR (GK), Urt v 29.4.1999, 25088/94, NJW 1999, 3695 § 90 – Chassagnou; allgemein dazu Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 124.
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§ 9.2 Schutz der Gleichheit nach der GRCh Leitentscheidungen: EuGH, verb Rs 117/76 und 16/77, Slg 1977, 1754 – Ruckdeschel ua; Rs 43/75, Slg 1976, 455 – Defrenne II; Rs C-184/89, Slg 1991, I-297 – Nimz; Rs C-409/95, Slg 1997, I-6363 – Marschall; Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981 – Mangold; Urt v 1.4.2008, Rs C-267/06, NJW 2008, 1649 – Maruko; Rs C13/05, Slg 2007, I-6467 – Chacón Navas; Rs C-411/05, Slg 2007, I8531 – Palacios de la Villa; C-127/07, Slg 2008, I-9895 – Arcelor; Rs C-229/08, Slg 2010, I-1 – Wolf; Urt v 22.5.2014, Rs C‑356/12, VR 2014, 284 – Glatzel; Urt v 16.7.2015, Rs C-83/14, EuGRZ 2015, 482 – CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD. Schrifttum: Huster, Gleichheit im Mehrebenensystem, EuR 2010, 325; Jacobs, Aktuelle Entwicklungen im deutschen und europäischen Antidiskriminierungsrecht, RdA 2018, 263ff; Jestaedt/Britz, Diskriminierungsschutz und Privatrecht, VVDStRL 64 (2005), 298 ff, 355 ff; Lembke, Europäisches Antidiskriminierungsrecht, APuZ 66 (2016), 11 ff; Kainer, Privatrecht zwischen Richtlinien und Grundrechten, GPR 2016, 262 ff; Kischel, Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, 1 ff; Mörsdorf, Europäisierung des Privatrechts durch die Hintertür, JZ 2019, 1066 ff; Schleusener, Diskriminierungsfreie Einstellung zwischen AGG und Frauenförderungsgesetz, NZABeilage 2016, 50ff; Steindorff-Classen, Europäischer Kinderrechtsschutz nach dem EU-Reformvertrag von Lissabon, EuR 2011, 19 ff; Thüsing, Gerechtigkeit à la européenne: Diskriminierungsschutz in einer pluralistischen Gesellschaft, ZESAR 2014, 364 ff; v Diest, Änderungen im Diskriminierungsschutz durch die Europäische Grundrechtscharta, 2016; Wobst, Diskriminierungen durch Kunden, Geschäftspartner und verbundene Unternehmen – Das AGG und betriebsfremde Dritte, NZA-RR 2016, 508ff; Xenidis The polysemy of antidiscrimination law, CMLRev 58 (2021), 1649.
I. Entwicklung und Normenbestand Gleichheitsrechtliche Gewährleistungen bildeten von Anfang an einen Kern der 16 EG-Verträge. Art 4b EGKSV verbot Diskriminierungen zwischen Erzeugern oder Käufern oder Verbrauchern im Montanbereich. Art 7 EWGV (heute Art 18 AEUV, → Buckler § 10.3) enthielt mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ein „Leitmotiv des ganzen Vertrages“.48 Der damit verbundenen Zielsetzung der transnationalen Integration49 war auch die in Art 119 EWGV (heute Art 157 AEUV) garantierte Lohngleichheit der Geschlechter verbunden; sie sollte vor allem Wettbewerbsgleichheit zwischen den mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften sichern. Seit Mitte der 1970er Jahre hat der EuGH auf Grundlage dieser Bestimmungen 17 des EWGV, später ergänzt um die heute in Art 19 AEUV enthaltene Kompetenz zum Erlass von Richtlinien zur Bekämpfung vielfältiger Formen von Diskriminierung,–
48 Wohlfarth in: ders/Everling/Glaesner/Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 1961, Art 7 Rn 1. 49 Dazu Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (574 ff).
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an Art 14 EMRK anknüpfend – Art 21 GRCh sowie sekundärrechtliche Ausformungen, den Schutz vor Diskriminierung zu einem zentralen Element des Unionsrechts entwickelt,50 der in seiner Wirkkraft deutlich über die zunächst aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleiteten Grundrechte im Übrigen51 hinausreicht. Besonders hervorzuheben ist das Konzept der mittelbaren Diskriminierung (→ Rn 42 ff). Der Diskriminierungsschutz wird neben dem Grundsatz der Gleichheit ausdrücklich in der Grundlagenbestimmung des Art 2 EUV erwähnt, ebenso die Gleichheit der Geschlechter. Die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern ist zudem in Art 3 III UAbs 2 EUV – neben der Solidarität zwischen den Generationen und dem Schutz der Kinder – sogar als eigenes Ziel der Unionsaktion verankert. Den allgemeinen Gleichheitssatz schließlich hat der EuGH 1977 als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannt.52 18 Dabei ist die unterschiedliche Terminologie – zum Teil wird von Gleichheit, zum Teil von Diskriminierung gesprochen – Anlass für eine Klarstellung. Wird wie im heutigen Art 157 I AEUV schlicht von Gleichheit gesprochen, ist zumeist eine strikte Gleichbehandlung gemeint. Eine Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung aus welchen Gründen auch immer kommt nur in Betracht, soweit sie ausdrücklich vorgesehen ist. Soweit dagegen wie in Art 12 AEUV von Diskriminierung die Rede ist, ist nur eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gemeint.53 Hier sind die Maßstäbe für Rechtfertigungen also nicht in gleicher Weise vorgegeben. 19 Heute besteht der unionale Gleichheitsschutz jenseits seiner erwähnten Verankerung in Art 2 und 3 EUV im Kern aus fünf Normkomplexen: (1) dem in Art 20 GRCh, aber auch Art 9 EUV verankerten allgemeinen Gleichheitssatz, (2) den in Art 21 und 23 GRC sowie Art 18 und 157 AEUV verankerten besonderen Gleichheitssätzen, (3) Kompetenznormen (Art 18, 19, Art 153 I lit i und Art 157 III AEUV) und (4) entsprechenden Querschnittsklauseln (Art 8 und 10 AEUV), wobei sich die beiden zuletzt genannten Komplexe nur auf einige, wenn auch besonders wichtige Merkmale von Art 21 GRCh beziehen,
50 Prägnant GA Wahl, SchlA v 6.2.2019, Rs C-591/17, Rn 1 f – Österreich/Deutschland: „Du sollst nicht diskriminieren. Wäre es möglich, den gesamten Bestand des Unionsrechts in wenigen Geboten zusammenzufassen, wäre das Diskriminierungsverbot … wahrscheinlich eines der ersten.“ 51 Zum Verständnis von Art 119 EWGV als Grundrecht EuGH, Rs 43/75, Slg 1976, 455, Rn 10 f – Defrenne II; zum Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten → Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 26 ff, § 12 Rn 17 ff. 52 EuGH, verb Rs 117/76 u 16/77, Slg 1977, 1754, Rn 7 – Ruckdeschel ua. 53 Ausdrücklich in diesem Sinne ErwGR 25 RL 2000/78, ABl 2000 Nr L 303/16.
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(5) verschiedenen Gleichstellungsklauseln zugunsten besonders vulnerabler Gruppen (Art 24 bis 26 GRCh sowie Art 157 IV AEUV; vgl. ferner die Querschnittsklauseln der Art 8 sowie 9 AEUV mit dem Hinweis auf den Schutz vor sozialer Ausgrenzung). Daneben stehen bereichsspezifische Regelungen wie die Grundfreiheiten, die alle 20 auch ein Diskriminierungsverbot enthalten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 38), Art 40 II UAbs 2 AEUV zur Agrar- und Art 95 AEUV zur Verkehrspolitik, sowie spezielle Garantien in der GRCh (Art 15 III und Art 24 II).
II. Allgemeiner Gleichheitssatz Fall 2 (EuGH, Rs C-442/00, Slg 2001, I-11915 – Rodríguez Caballero) Herrn Rodríguez Caballero wurde von seinem Arbeitgeber gekündigt. Nach Klageerhebung schlossen beide einen Vergleich, wonach sich der Arbeitgeber zur Rechtswidrigkeit der Kündigung bekannte und zudem verpflichtete, ein spezielles im spanischen Recht für einen solchen Fall vorgesehenes Arbeitsentgelt („salarios de tramitación“) zu zahlen. Er fiel jedoch in Konkurs und zahlte nicht. Der aufgrund der RL 80/987, ABl 1980 Nr L 283/23, seither ersetzt durch RL 2008/94, ABl 2008 Nr L 283/ 36 geschaffene spanische Ausfallfonds, der nach Konkurs eines Arbeitgebers in gewissem Umfang Verpflichtungen zur Lohnzahlung übernimmt, weigerte sich jedoch, weil die Haftung des Fonds im Konkursfall nach spanischem Recht nicht das „salarios de tramitación“ einschließt. Dieser Ausschluss soll einen Missbrauch verhindern, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu Lasten des Fonds Vereinbarungen treffen. Und in der Tat gestattet die Richtlinie Regelungen zum Kampf gegen Missbrauch. Das spanische Recht sieht aber auch vor, dass der Fonds im Fall eines Missbrauchsverdachts die Leistung verweigern darf. Herr Rodríguez Caballero sieht im Ausschluss dieser Form des Arbeitsentgelts eine unzulässige Ungleichbehandlung und verlangt dies trotzdem. Zu Recht?
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Der allgemeine Gleichheitssatz gemäß Art 20 GRCh verlangt, „dass vergleichbare 22 Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist.“54 Dementsprechend ist zunächst ein Vergleichspaar zu bilden, das sich in einer vergleichbaren Situation befindet.55
54 EuGH, Rs C-21/10, Slg 2011, I-6769 Rn 47 – Károly Nagy; Urt v 12.11.2014, Rs C-580/12 P, NJW 2015, 465, Rn 51 – Guardian Industries; Urt v 24.9.2020, Rs C-601/18 P, Rn 101 – Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi. 55 Zur fehlenden Vergleichbarkeit etwa EuGH, Rs C-550/07 P, Slg 2010, I-8301, Rn 58 – Akzo Nobel Chemicals; Gutachten v 30.4.2019, 1/17, Rn 180 zu Investitionen in anderen EU-Mitgliedstaaten einerseits, in Kanada andererseits; nur kanadische Investitionen in der EU seien mit letzteren vergleichbar. Claus Dieter Classen
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Eine Ungleichbehandlung ist gerechtfertigt, wenn die „unterschiedliche Behandlung im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der Maßnahme, die zu einer solchen unterschiedlichen Behandlung führt, verfolgt wird“. Außerdem muss „die unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu diesem Ziel“ stehen.56 In Übereinstimmung mit seiner sonstigen Rechtsprechungspraxis (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 138) betont der Gerichtshof dabei auch hier vielfach den weiten Ermessensspielraum des jeweiligen Normgebers.57 Dementsprechend ist Art 20 GRCh nur von begrenzter Relevanz. Anders ist das bei sekundärrechtlichen bereichsspezifischen Konkretisierungen.58 24 Träger des Grundrechts sind alle natürlichen und juristischen Personen,59 verpflichtet die Union sowie – im Rahmen von Art 51 GRCh – die Mitgliedstaaten.60 Hinsichtlich der Diskriminierungsverbote geht der EuGH zudem von einer unmittelbaren Drittwirkung aus (→ Rn 47). Für den allgemeinen Gleichheitssatz gibt es zu dieser Frage bisher keine Rechtsprechung. Nach dem Ansatz des EuGH wäre sie hier ebenfalls anzunehmen; in der Sache aber wirft sie noch mehr als bei den Diskriminierungsverboten gewichtige Fragen auf.61 25 Verstößt eine Regelung gegen den Gleichheitssatz, ist sie nichtig. Zur Frage der Folgen bis zu einer Neuregelung, wenn die Regelung nicht verzichtbar ist, hat sich der EuGH früher schlicht gar nicht näher positioniert.62 Nach jüngerer Judikatur ist zunächst die begünstigende Regelung auf alle anzuwenden.63 Dies trägt sicher zur effektiven Durchsetzung des Gleichheitssatzes bei und ist daher ist bei speziellen 23
56 EuGH, Urt v. 7.3.2017, Rs C-390/15, EuZW 2017, 435, Rn 53 – RPO; in der Sache ebenso etwa Rs C-127/ 07, Slg 2008, I-9895 Rn 47 – Arcelor Atlantique und Lorraine ua; Urt v 17.10.2013, Rs C‑101/12, DÖV 2014, 41, Rn 77 – Schaible. 57 Zum Unionsgesetzgeber etwa EuGH, Rs C-127/07, Slg 2008, I-9895, Rn 57 – Société Arcelor Atlantique; Urt v 7.3.2017, Rs C-390/15, EuZW 2017, 435, Rn 54 – RPO; Urt v 25.3.2021, verb Rs C-517/19 P u C518/19 P, Rn 53 – Álvarez y Bejarano ua; zum nationalen Gesetzgeber EuGH, Rs C-149/10, Slg 2010, I8489, Rn 71 – Chatzi. 58 Ein Beispiel bildet die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH zum Verbot der Ungleichbehandlung befristeter im Vergleich zu unbefristeten Arbeitsverträgen (§ 4 der EGB‑UNICE‑CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18.3.1999 und dazu RL 99/70, ABl 1999 Nr L 175/43), etwa EuGH, Urt v 14.9.2016, Rs C-596/14, NZA 2016, 1193, Rn 46 f – de Diego Porras mwN. 59 Zu öffentlichen Unternehmen EuGH, verb Rs 188 bis 190/80, Slg 1982, 2524, Rn 45 – Frankreich ua/ Kommission. 60 Beispielhaft dazu EuGH, Rs C-292/97, Slg 2000, I-2737, Rn 39 ff – Karlsson. 61 Eine mittelbare Drittwirkung und damit eine entsprechende Schutzpflicht nimmt an Rossi in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 20 GRCh Rn 12; zur Problematik im verfassungsrechtlichen Kontext Classen Staatsrecht II, 2018, Rn 17/39 ff. 62 EuGH, verb Rs 177/76 u 16/77, Slg 1977, 1753, Rn 13 – Ruckdeschel. 63 So EuGH, Rs 300/86, Slg 1988, 3443, Rn 23 f – Luc Van Landschoot, mit Hinweis auf besondere Umstände des Falles; später ohne diese Einschränkung Rs C-442/00, Slg 2001, I-11915, Rn 42 – Rodríguez
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Diskriminierungsverboten auch plausibel (→ Rn 50). Beim allgemeinen Gleichheitssatz überzeugt das so nicht.64 Lösung Fall 2: Art 20 GRCh ist nur anwendbar im Rahmen von Art 51 GRCh. Vorliegend erbringt der spanische Fonds seine Leistungen auf der Grundlage der RL 80/987. Damit wird insoweit Unionsrecht durchgeführt, und Art 20 GRCh ist anwendbar. Die Vergleichsgruppen bilden die Empfänger der verschiedenen Formen des Arbeitsentgeltes. Fraglich ist, ob es eine Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung zwischen den Formen des Arbeitsentgelts, die vom Fonds übernommen werden, und denen, die das nicht werden. Hier kommt nur der Kampf gegen Missbrauch in Betracht. Das ist prinzipiell legitim. Fraglich ist jedoch, ob die Maßnahme auch verhältnismäßig ist. Nun sieht das spanische Recht ohnehin vor, dass bei einem Verdacht des Missbrauchs die Leistung verweigert werden darf. Dann ist es nicht angemessen, die Vereinbarung eines „salarios de tramitación“ prinzipiell als Missbrauch einzuordnen. Daher ist die Regelung gleichheitswidrig. Herr Rodríguez Caballero kann also das Entgelt verlangen.
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III. Spezielle Diskriminierungsverbote 1. Zur Bedeutung der Diskriminierungsverbote Das Gebot der Nichtdiskriminierung wird verschiedentlich schlicht als Ausprägung 27 des allgemeinen Gleichheitssatzes bezeichnet.65 Tatsächlich aber geht es auch um etwas anderes als das Gebot gleichmäßigen Handelns. Indem die Diskriminierungsverbote jeweils auf bestimmte personenbezogene Merkmale abstellen, schützen sie auch vor Ausgrenzung; es geht – wie im Kontext der EMRK (→ Rn 8) – auch um Persönlichkeitsschutz.66 Formal verbieten die Diskriminierungsverbote ganz symmetrisch regelmäßig Benachteiligungen wie Bevorzugungen, doch geht es praktisch meist um den Schutz vor Benachteiligung. Regelmäßig beschwert sich nämlich nur, wer benachteiligt ist.
Caballero; Urt v 19.6.2014, Rs C-501/12, EuZW 2014, 749, Rn 95 mit Grenzen dieses Ansatzes Rn 96 f – Specht ua. 64 Hölscheidt in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 20 Rn 34. 65 EuGH, Urt v 22.5.2014, Rs C‑356/12, Rn 43 – Glatzel. 66 Besonders deutlich EuGH (GK), Urt v 15.4.2021, Rs C-30/19, Rn 45 ff – Braathens Regional Aviation; ferner (GK), Urt v 15.7.2021, verb Rs C-804/18 und 341/19, Rn 48, 49, 80 ff – WABE mit abweichenden SchlA v 25.2.2021 von GA Rantos, Rn 87 ff, Rn 107 ff, der für eine strikte Trennung plädiert; wie hier auch GA Maduro, SchlA, Rs C-303/06, Slg 2008, I-5603, Rn 19, 22 – Coleman; McCrea in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, Rn 10.02, 10.12 ff. Aus rechtsvergleichender Perspektive dazu Nolte in: Wolfrum, Gleichheit und Nichtdiskriminierung, S 235 (242 ff).
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Die grundlegende Bedeutung des Diskriminierungsschutzes im Rahmen des Unionsrechts liegt auch daran, dass der Grundrechtsschutz durch zwei Normenkomplexe ergänzt wird, die zwar jeweils nur einen Teil, aber doch die praktisch wichtigsten der in Art 21 GRCh genannten Kriterien aufgreifen. Dank der auf eigene Kompetenzbestimmungen (Art 19 AEUV, Art 157 III AEUV) gestützten Richtlinien67 kommt dem Grundrechtsschutz insoweit Selbststand zu: Im Anwendungsbereich der Richtlinien wird im Sinne von Art 51 GRCh Unionsrecht durchgeführt, der Grundrechtsschutz ist nicht wie sonst akzessorisch zur Unionsaktion. Die Querschnittsklauseln der Art 8 bis 10 AEUV verpflichten die Union dazu, auch im Rahmen anderer Unionspolitiken aktiv vor Diskriminierung und Ausgrenzung zu schützen. Darüber, warum der Kriterienkatalog der Art 19 und 10 AEUV im Vergleich zu Art 21 GRCh eingeschränkt ist, kann man nur spekulieren.68 Art 10 sollte sich wohl mit dem unabhängig von Art 14 EMRK formulierten Art 19 AEUV decken, und Art 21 GRCh wurde Art 14 EMRK nachgebildet. 29 Die auf der Grundlage der Kompetenzen erlassenen Richtlinien stehen mit den Unionsgrundrechten in einem geradezu symbiotischen Verhältnis. Sie machen diese ohne sonstige Tätigkeit der Union anwendbar (Art 51 GRCh); Ausnahmebestimmungen müssen sich dabei auf tragfähige Gründe stützen.69 Zudem greifen die Richtlinien vielfach Rechtsprechungslinien des EuGH auf und konkretisieren so die Gehalte der Grundrechte. Das gilt sowohl für die Definition des Diskriminierungsbegriffs wie auch für mögliche Rechtfertigungen.70 Unionsrechtliche Fragen im Anwendungsbereich spezieller Antidiskriminierungsrichtlinien beantwortet der EuGH daher grundsätzlich allein nach diesen.71 30 Und schließlich können sogar umgekehrt die Grundrechte den Richtlinien zur Durchsetzung verhelfen, indem Defizite bei deren Umsetzung durch die unmittelbare Anwendung von Art 21 GRCh kompensiert werden.72 Im Anwendungsbereich
67 Zu nennen sind insbesondere die RL 2000/43, ABl 2000 Nr L 180/22; 2000/78; 2004/113, ABl 2004 Nr L 373/37 und 2006/54, ABl 2006 Nr L 204/23. 68 Zum Problem auch v d Decken in: Heselhaus/Nowak, GR, § 49 Rn 70. 69 Das wurde vom EuGH verneint für Art 5 II RL 2004/113 zur dauerhaften Zulässigkeit versicherungsmathematischer Faktoren, die an das Geschlecht anknüpfen: Rs C-236/09, Slg. 2011, I-773, Rn 29 ff – Test Achat; zur Kritik etwa Mönnich, VersR 2011, 1092 ff; Karpenstein, EuZW 2010, 885 ff. 70 Beispielhaft zur Definition des Diskriminierungsbegriffs die sachlich weitestgehend übereinstimmenden Art 2 II RL 2000/43; Art 2 II RL 2000/78; Art 2 RL 2004/113 u Art 2 I lit a und b RL 2006/54; zur Altersdiskriminierung EuGH, Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981, Rn 74 ff – Mangold; zum Begriff der „Behinderung“ Urt v 22.5.2014, Rs C‑356/12, Rn 46 – Glatzel. Insgesamt dazu v d Decken in: Heselhaus/Nowak, GR, § 48 Rn 5, 44, § 49 Rn 58, 68; Schmahl EnzEuR, Bd 2, § 15 Rn 5, 26, 41, 44, 146. 71 EuGH, Urt v 13.11.2014, Rs C-416/13, NVwZ 2015, 427, Rn 25 – Vital Pérez; Urt v 24.9.2020, Rs C-223/19, NZA 2020, 1385, Rn 84 – YS. 72 Kainer, GPR 2016, 262 (267 f); Classen, JZ 2019, 1057 (1065).
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sind die Richtlinien allerdings auf das Arbeitsrecht und die Versorgung mit öffentlich angebotenen Gütern und Dienstleistungen beschränkt, und auch insoweit haben sie keinen umfassenden Charakter. Im Einzelnen greift Art 21 GRCh alle Kriterien des Art 14 EMRK auf und er- 31 gänzt den Katalog um weitere, deren Bedeutung erst in den letzten Jahren in das allgemeine Bewusstsein gedrungen ist, aber ebenfalls auch schon vom EGMR fruchtbar gemacht wurden (→ Rn 14): genetische Merkmale, sexuelle Ausrichtung, Behinderung und Alter. Anders als dieser sah der EuGH bisher aber nicht die Notwendigkeit, von der auch in Art 21 GRCh angelegten Offenheit („insbesondere“) Gebrauch zu machen. Fast alle einschlägigen EuGH-Urteile sind Vorlageverfahren ergangen, bei de- 32 nen der EuGH nur für die Auslegung zuständig ist und die Beurteilung des Sachverhalts Sache des vorlegenden Gerichts ist. Aus welchen Gründen eine Benachteiligung oder Bevorzugung erfolgt und ob diese jeweils gerechtfertigt ist oder nicht, hängt aber vielfach von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles ab. Dementsprechend wertet der Gerichtshof häufig nur mit Vorsicht und überlässt diese letztlich dem vorlegenden Gericht.73
2. Dogmatik der Diskriminierungsverbote
Fall 3 (EuGH, Urt v 12.12.2013, Rs C-267/12, NZA 2014, 153, Rn 41 ff – Hay)
Herr Hay und sein gleichgeschlechtlicher Partner leben und arbeiten in Frankreich. Sie schließen einen – auch heterosexuellen Paaren offenstehenden – „PACS“ (pacte civil de solidarité, „ziviler Solidaritätspakt). Dieser ist ein auf eine Lebensgemeinschaft abzielender Vertrag, der darauf bezogene, wenn auch im Vergleich zur Ehe nur begrenzte gegenseitige Rechte und Pflichten enthält. Herr Hay beantragt bei seinem Arbeitgeber eine Eheschließungsprämie, die in dem für ihn geltenden Tarifvertrag für den Fall einer Eheschließung vorgesehen war. Dieser lehnt die Zahlung aber ab, weil die tarifvertraglichen Voraussetzungen nicht gegeben seien. Zum damaligen Zeitpunkt konnten in Frankreich nur Paare verschiedenen Geschlechts eine Ehe abschließen. Gleichgeschlechtliche Paare waren auf einen PACS verwiesen.
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Fall 4 (EuGH, Rs C-184/89, Slg 1991, I-297 – Nimz) Frau Nimz arbeitet in Teilzeit (60 %) bei der Freien und Hansestadt Hamburg. Nach dem für sie geltenden Tarifvertrag steigen Arbeitnehmer nach sechs Jahren in eine höhere Vergütungsstufe auf. Diese Zeit verdoppelt sich bei Arbeitnehmern, die im Umfang zwischen 50 und 75 % beschäftigt sind.
73 Beispielhaft zum im Kontext der Vorliegens einer Behinderung relevanten Merkmals der Langfristigkeit (→ Rn 70) EuGH, Urt v 1.12.2016, Rs C-395/15, EuZW 2017, 263, Rn 56 ff – Daouidi.
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Frau Nimz verlangt von ihrem Arbeitgeber nach sechs Jahren die der höheren Vergütungsgruppe entsprechende Entlohnung. Dieser lehnt das mit Hinweis auf den Tarifvertrag ab. Kann Frau Nimz das höhere Entgelt verlangen?
a) Vergleichbare Situation 35 Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung kommt nur zum Tragen, wenn sich das
Vergleichspaar in einer vergleichbaren Lage befindet. Pauschale Annahmen reichen insoweit nicht; die eine Vergleichbarkeit muss – nur, aber immerhin – in der spezifischen und konkreten Lebenssituation bestehen.74 Bei einem Vergleich von verschieden- und gleichgeschlechtlichen Paaren etwa kommt es nicht auf eine prinzipielle Vergleichbarkeit der früheren gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft und einer heterosexuellen Ehe an. Vielmehr muss die Vergleichbarkeit nur mit Blick auf die jeweils konkret zu beurteilende Regelung – etwa zum Sonderurlaub nach der Feier der Verbindung75 – bestehen. 36 Im Kontext der unmittelbaren Diskriminierung kommt diesem Gebot wenig praktische Bedeutung zu, weil diese ohnehin idR dadurch gekennzeichnet ist, dass die Regelung gerade an das verbotene Merkmal anknüpft (→ Rn 39), es also im Übrigen nahezu zwingend identische Merkmale geben muss. Insbesondere ist es unzulässig, hier auf (angeblich) natürliche divergierende Umstände abzustellen und mit diesem Argument eine Vergleichbarkeit der Situationen zu bestreiten. Sieht man einmal vom Mutterschutz um die Geburt herum und für die Stillzeit ab,76 werden etwa beide Elternteile mit Blick auf die Kindererziehung als in vergleichbarer Situation angesehen mit der Folge, dass Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts am entsprechenden Verbot zu messen sind.77 Intensiver ist diese Frage dagegen bei einer mittelbaren Diskriminierung zu prüfen, weil hier ggf auch eher unterschiedliche Gruppen gegenübergestellt werden. So hat der EuGH etwa vorwiegend von Frauen genommenen Erziehungsurlaub als nicht vergleichbar mit einem allein von Männern geleisteten Militärdienst angesehen.78 37 Das Sekundärrecht sieht auch Belästigungen wegen eines der fraglichen Merkmale einschließlich der sexuellen Belästigung als Diskriminierung an, spricht aller-
74 Etwa zur sexuellen Orientierung EuGH, Rs C-147/08, Slg 2011, I-03591, Rn 42 – Römer. 75 Dazu EuGH, Urt v 12.12.2013, Rs C-267/12, NZA 2014, 153, Rn 41 ff – Hay. Vgl auch BVerfGE 124, 199 (226 ff); anders aber etwa BVerfG (K), 2 BvR 1830/06, JZ 2008, 792 f. 76 Dazu EuGH, Urt v 18.11.2020, Rs C-463/19, NJW 2021, 762, Rn 55 – Syndicat CFTC du personnel de la Caisse primaire d’assurance maladie de la Moselle. 77 EuGH, Rs C-218/98, Slg 1999, I-5723, Rn 18 ff – ll Abdoulaye. Siehe ferner → Rn 60. 78 EuGH, Rs C-220/02, Slg 2004, I-5907, Rn 60 ff – Wolf.
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dings von einer Fiktion („gelten als“) und fordert auch keine Vergleichsgruppenbildung.79 Die entsprechenden Regelungen können jedoch nur wirksam auf Art 19 AEUV gestützt werden, wenn es auch hier letztlich um Diskriminierungsschutz geht. Offenbar wird, wenn jemand einen anderen etwa mit Hinweis auf sein Geschlecht oder sein Alter belästigt, die Ungleichbehandlung darin gesehen, dass andere Personen ohne dieses Merkmal nicht belästigt werden. Trotzdem ist ungeachtet der sachlichen Notwendigkeit des entsprechenden Schutzes die Tragfähigkeit der Gleichstellung zweifelhaft, weil es vorliegend letztlich allein um den Persönlichkeitsschutz geht.80
b) Diskriminierung wegen eines verbotenen Merkmals Wie erwähnt setzt der Diskriminierungsschutz der Union eine Ungleichbehandlung 38 wegen eines speziell benannten Grundes voraus. Daher muss es zwischen dem fraglichen Merkmal und der den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnenden Regelung einen unmittelbaren Bezug geben.81
aa) Unmittelbare Diskriminierung: Voraussetzungen und Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person wegen eines be- 39 nannten Grundes in einer vergleichbaren Situation „eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“82 Dies ist insbesondere der Fall, wenn unmittelbar an das verbotene Merkmal angeknüpft wird. Gleiches gilt aber auch, wenn die Unterscheidung an ein Merkmal anknüpft, das „untrennbar“ mit dem verbotenen Merkmal „verbunden“ ist, wie dies etwa für die nur bei Frauen mögliche Schwangerschaft gilt (→ Rn 57).83 Abzugrenzen ist dies von einem „dem Anschein nach neutralen Kriterium“, also einem
79 Art 2 III RL 2000/43; Art 2 III RL 2000/78; Art 4 III iVm Art 2 lit c RL 2004/113 und Art 2 II lit a iVm I lit c RL 2006/54. Zur zweitgenannten Norm ohne Problematisierung EuGH, Rs C-303/06, Slg 2008, I5603, Rn 58 – Coleman, in der er von einer „Definition“ spricht. 80 Näher dazu Thüsing, Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl, 2018, AGG § 3 Rn 55 ff, aber auch 58; Michl in: Frankfurter Komm, EUV/GRC/AEUV, Art 19 AEUV Rn 20; kritisch auch Jestaedt, VVDStRL 2005, 298 (313); Schmahl in: EnzEuR, Bd 2, § 15 Rn 86. 81 Nicht erfasst wird etwa von der den Zugang zum Beruf regelnden RL 2000/78 eine Benachteiligung wegen einer Behinderung, die jedoch keine Benachteiligung im Beruf bewirkt: EuGH, Urt v 18.3.2014, Rs C-167/12 u C-363/12, FamRZ 2014, 907, Rn 78 ff – Z. 82 Art 2 II lit a RL 2000/43; Art 2 II lit a RL 2000/78; Art 2 lit a RL 2004/113; Art 2 I lit a RL 2006/54. 83 EuGH, Rs C-177/88, Slg 1990, I-03941, Rn 12 – Dekker.
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Kriterium, das nicht die genannten Voraussetzungen erfüllt. Dieses kann nur ggf eine mittelbare Diskriminierung begründen (→ Rn 43). 40 Eine unmittelbare Diskriminierung liegt allerdings nicht vor, wenn die Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte objektiv gerechtfertigt ist. Dabei ist der EuGH nicht ganz klar bei der Frage, ob sich dies bereits dem Begriff „Diskriminierung“ entnehmen lässt (→ Rn 18) oder erst aus der Einschränkungsmöglichkeit des Art 52 I GRCh folgt.84 Das Sekundärrecht formuliert begrifflich, dass, soweit es um eine Rechtfertigung geht, eine Ungleichbehandlung bereits keine Diskriminierung darstellt.85 Bereits im Ansatz ausgeschlossen ist eine Rechtfertigung beim Gebot der Lohngleichheit nach Art 157 AEUV. 41 Regelmäßig geht es um Gesichtspunkte, die einer Gleichbehandlung entgegenstehen und die sich als mindestens ebenso wichtig erweisen müssen wie das jeweilige Diskriminierungsverbot. Zudem müssen die jeweiligen Maßnahmen verhältnismäßig, also insbesondere auch kohärent und systematisch ausgestaltet sein.86 Im Einzelnen wirken im Kontext beruflicher Tätigkeiten insbesondere zwingende Eigenheiten der jeweiligen Tätigkeit rechtfertigend.87 Dieses Merkmal ist eng auszulegen.88 Außerdem kann ggf der Ausgleich einer Benachteiligung anderer rechtfertigen (→ Rn 77). Die beiden den Empfang von öffentlich angebotenen Gütern und Dienstleistungen regelnden Richtlinien RL 2000/43 sowie RL 2004/113 – sehen keine Rechtfertigung einer unmittelbaren Ungleichbehandlung vor.89 Die Vertragsfreiheit als solche reicht für eine Rechtfertigung nicht aus.90
bb) Mittelbare Diskriminierung: Voraussetzung und Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen 42 Dass die gemeinschafts- bzw unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote nicht nur einschlägig sind, wenn unmittelbar an das inkriminierte Merkmal angeknüpft wird, hat der EuGH zunächst im Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit anerkannt. 1969
84 Im erstgenannten Sinne EuGH, Rs C-236/09, Slg 2011, I-773, Rn 28 – Test Achat; Urt v 5.7.2017, Rs C190/16, EuZW 2017, 729, Rn 30 – Fries, im letztgenannten Sinne das Urteil Fries, Rn 35 ff, während im Urteil Test-Achat Art 52 GRCh nicht erwähnt wird. Beide Normen zusammen werden im Urt v 22.5.2014, Rs C‑356/12, Rn 43 – Glatzel erwähnt, Rn 46 erwähnt dann nur Art 21 GRCh. 85 Beispielhaft jeweils Art 4 RL 2000/43 und RL 2000/78 sowie Art 6 RL 2000/78. 86 EuGH, Rs C-447/09, Slg 2011, I-8003, Rn 63 f, 73 ff – Prigge. 87 Art 4 RL 2000/43; Art 4 RL 2000/78 und Art 14 II RL 2006/54. 88 EuGH, Rs C-447/09, Slg 2011, I-8003, Rn 56, 72 – Prigge. 89 Zur Nichtigerklärung der in Art 5 II RL 2004/113 vorgesehenen Ausnahme durch den EuGH siehe Fn 69. 90 EuGH, Urt v 12.1.2023, Rs C-356/21, NZA 2023, 287, Rn 77 – TP (Moniteur audiovisuel pour la télévision publique).
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sprach er von einer mittelbaren,91 1974 von einer „versteckten“ Diskriminierung. Letztere sei dadurch gekennzeichnet, dass ein anderes Merkmal zum gleichen Ergebnis führe.92 1976 sprechen von „mittelbarer“ Diskriminierung mit Blick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter zunächst eine Richtlinie93 sowie zwei Monate später der EuGH, dieser in Form einer Gleichsetzung mit der versteckten Diskriminierung,94 und jeweils ohne Definition. Mittlerweile liefern mehrere sekundärrechtliche Normen eine übereinstim- 43 mende Definition, die auch zur Auslegung des Primärrechts herangezogen werden kann. Voraussetzung ist dabei zunächst, dass „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ vorliegen, die Personen mit einem bestimmten verbotenen Merkmal gegenüber anderen Personen „in besonderer Weise benachteiligen können“.95 Eine solche „besondere Betroffenheit“ nimmt der EuGH zum einen an, wenn es zwischen dem im Fall relevanten und dem verbotenen Merkmal einen besonderen, aber eben keinen – zur unmittelbaren Diskriminierung führenden – untrennbaren Zusammenhang gibt.96 Beispiele bilden der Grenzgänger als Fall der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit97 oder das religiös motivierte Tragen eines Kopftuches als Fall der Diskriminierung aus religiösen Gründen98. Zum anderen kann diesen Zusammenhang ein statistischer Nachweis herstellen, nämlich wenn die Benachteiligung „einen signifikant höheren Anteil von Personen“ mit einem relevanten Merkmal als Personen ohne dieses Merkmal betrifft.99 Die Begrifflichkeit ist insoweit allerdings nicht einheitlich.100 Dabei muss die Statistik auch für das konkrete Problem aussagekräftig sein; rein zufällige Ergebnisse können die Feststellung einer mittelbaren Diskriminierung nicht stützen.101 Außerdem müssen die fraglichen Vorschriften „durch ein rechtmäßiges Ziel 91 EuGH, Rs 15/69, Slg 1969, 363, Rn 6 – Württembergische Milchverwertung. 92 EuGH, Rs 152/73, Slg 1974, 153, Rn 11 – Sotgiu, konkret zu Art 7 VO 68/1612, ABl 1968 Nr L 257/2. 93 Art 1 RL 76/207, ABl 1976 Nr L 39/40. 94 EuGH, Rs 43/75, Slg 1976, 455, Rn 16 ff – Defrenne II. 95 Art 2 II lit b RL 2000/43; Art 2 II lit b RL 2000/78; Art 2 lit b RL 2004/113; Art 2 I lit b RL 2006/54. 96 EuGH, Urt v 2.4.2020, Rs C-670/18, NVwZ 2020, 1339, Rn 26 – Comune di Gesturi. 97 EuGH, Rs C-279/93, Slg 1995, I-225, Rn 28, 36 f – Schumacker. Vgl auch zu ausländischen Arbeitnehmern Urt v 16.4.2013, Rs C-202/11, Rn 23 – Las. 98 EuGH, Urt v 14.3.2017, Rs C-188/15, NJW 2017, 1089, Rn 32 – Bougnaoui ua, sowie Urt v 14.3.2017, Rs C-157/15, NZA 2017, 373, Rn 30, 34 – G4S Secure Solutions. 99 EuGH, Urt v 3.10.2019, Rs C‑274/18, EuZW 2019, 947, Rn 45 – Schuch-Ghannadan; Urt v 24.9.2020, Rs C-223/19, NZA 2020, 1385, Rn 49 – YS. 100 Bemerkenswert etwa EuGH, Urt v 16.7.2015, Rs C-83/14, EuGRZ 2015, 482 – CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD, wo der EuGH parallel von „überwiegend (Rn 47), „größtem Teil“ (Rn 59) und „im Wesentlichen“ spricht. 101 EuGH, Urt v 3.10.2019, Rs C-274/18, EuZW 2019, 947, Rn 48 – Schuch-Ghannadan; Urt v 24.9.2020, Rs C-223/19, NZA 2020, 1385, Rn 51 – YS; vgl auch Urt v 14.2.2019, Rs C-154/18, NZA 2019, 444, Rn 24, 26 f –
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sachlich gerechtfertigt“ und die Mittel „zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“ sein. Auch hier gilt also das bereits genannte Erfordernis einer kohärenten und systematischen Regelung.102 44 Anders als bei der unmittelbaren Diskriminierung wird die Frage der Rechtfertigung hier bereits zum Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung gezogen. Die oben genannten mittelbaren, gar statistischen Zusammenhänge reichen also für sich genommen nicht, um von einer mittelbaren Diskriminierung sprechen zu können. Dementsprechend hat der EuGH vor der erwähnten sekundärrechtlichen Konkretisierung gefordert, dass die Regelung durch einen Grund zu erklären sein muss, der nichts mit dem verbotenen Merkmal zu tun hat.103 Umgekehrt geht es aber auch nicht nur um eine bewusst verdeckte im Sinne einer an sich gewollten, aber verschleierten Diskriminierung. Zwar nicht bewusst gewollte, aber eben doch tatsächlich auftretende und in einem Zusammenhang mit dem verbotenen Merkmal stehende Benachteiligungen werden zu Recht erfasst.104 Entgegen mancher anderer Einschätzung geht es also nicht um einen Beitrag zur Gleichstellung benachteiligter Gruppen.105 All dies würde an sich eine gewisse Großzügigkeit bei der Rechtfertigung nahelegen. In jüngerer Zeit betont der EuGH aber auch hier die Notwendigkeit einer engen Auslegung, zunächst – plausibel – im Kontext der Diskriminierung aus Gründen von Rasse und ethnischer Herkunft mit einer darauf bezogenen Begründung,106 dann ohne Begründung daran anschließend mit Blick auf die Religion.107 45 Letztlich sollen also die tatsächlich benachteiligenden Auswirkungen einer Maßnahme – vergleichbar den faktischen Grundrechtseingriffen in ein Freiheitsrecht – korrekt erfasst werden. Hier zeigt sich einmal mehr das Anliegen des EuGH, sicherzustellen, dass das Europarecht kein Papiertiger bleibt, sondern seine gewollte Wirkung auch tatsächlich erreicht. Sachlich ist dies gerechtfertigt, weil es bei dem Diskriminierungsverbot eben wie erwähnt nicht allein um einen modalen An-
Horgan ua. Im Kontext der Diskriminierung aus Gründen der Rasse und der ethnischen Herkunft erwähnt der EuGH im Urt v 15.11.2018, Rs C-457/17, NJW 2019, 1057, Rn 47 f – Maniero, statistische Zusammenhänge sogar gar nicht. 102 EuGH, Urt v 17.7.2014, Rs C-173/13, Rn 54 – Leone ua; Urt v 24.9.2020, Rs C-223/19, NZA 2020, 1385, Rn 51 – YS. 103 EuGH, Rs C-457/93, Slg 1996, I-243, Rn 28 – Lewark. Zum Streitstand hinsichtlich dieser Einordnung der Rechtfertigung etwa v d Decken in: Heselhaus/Nowak, GR, § 48 Rn 44, 46 mit unzutreffendem Hinweis auf EuGH, Rs 229/89, Slg 1991, I-2205, Rn 17 ff – Kommission/Belgien. 104 Deutlich EuGH, Rs 152/73, Slg 1974, 153, Rn 11 – Sotgiu, mit Hinweis auf die Begründungserwägungen der dort relevanten Verordnung. 105 So auch Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 89, 95 mwN. 106 EuGH, Urt v 16.7.2015, Rs C-83/14, EuGRZ 2015, 482, Rn 112 – CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD. 107 EuGH, Urt v 15.7.2021, verb Rs C-804/18 und 341/10, Rn 61.
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spruch auf Gleichbehandlung geht, sondern dieses auch dem Persönlichkeitsschutz dient (→ Rn 27). Daher überzeugt die wegen angenommener Unklarheiten und Fragwürdigkeiten – wie können statistische Zusammenhänge zu einem Rechtsverstoß führen? – formulierte Kritik108 nicht. Zu Recht hat daher mittlerweile auch das BVerfG dieses ursprünglich aus den USA stammende Konzept109 für die Auslegung von Art 3 Abs 2 bzw 3 GG übernommen.110
c) Berechtigte und Verpflichtete Berechtigt werden alle natürlichen und juristischen Personen; nur Art 21 II GRCh 46 erfasst allein Unionsbürger. Entscheidend ist allein, ob jemand wegen eines Merkmals benachteiligt wird. So kann sich im Fall einer mittelbaren Diskriminierung auch derjenige auf Art 21 GRCh berufen, der in den Anwendungsbereich der benachteiligenden Regelung fällt, ohne selbst Träger des Merkmals zu sein.111 Sanktionierbar sind sogar Akte, von denen gar keine konkrete Person betroffen ist.112 Anwendbar sind Diskriminierungsverbote auch, wenn zwei Träger des Merkmals mit Blick ein untrennbar mit diesem (→ Rn 39) verbundenen Merkmal unterschiedlich behandelt werden.113 Verpflichtet werden durch Art 157 AEUV die Mitgliedstaaten. Für Art 21 und 23 47 GRCh gilt Art 51 GRCh (→ Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 45 ff, 76 ff). Die genannten Garantien entfalten nach der Rechtsprechung des EuGH zudem unmittelbare Drittwirkung, weil die hierfür allein entscheidenden Voraussetzungen unmittelbarer Anwendbarkeit gegeben seien. Dies überzeugt bei Art 157 AEUV114 (ebenso wie bei Art 45 AEUV115). Für die vom EuGH angenommene Übertragbarkeit dieser Argumentation auf Art 21 GRCh gilt dies hingegen nur für die Drittwirkung überhaupt,
108 Sachs, in: Stern/Sachs GRCh, Art 21 Rn 19; Kingreen, Vorauflage dieses Werkes, § 21 Rn 48; Kischel, AöR 145 (2020), 227 (233). 109 Peters/Altwicker in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 21 Rn 88; ausführlich Kingreen in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art 3 Rn 416 ff. 110 Zu Einzelheiten, insbesondere zur umstrittenen Frage, ob es hier um Art 3 II oder Art 3 III geht, siehe Baer/Markard in v Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, GG Art 3 Rn 430. 111 EuGH, Urt v 16.7.2015, Rs C-83/14, EuGRZ 2015, 482, Rn 59 – CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD. Siehe ferner Rs C-303/06, Slg 2008, I-5603, Rn 43 ff – Coleman, zur Benachteiligung der Mutter eines behinderten Kindes. 112 EuGH, Rs C-54/07, Slg 2008, I-5187, Rn 22 ff – Feryn. 113 Zu einer Diskriminierung wegen einer Behinderung EuGH, Urt v 26.1.2021, Rs C-16/19, NZA 2021, 267, Rn 53 – Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie. 114 EuGH, Rs 43/75, Slg 1976, 455, Rn 39 – Defrenne II. 115 Dazu EuGH, Rs C‑281/98, Slg 2000, I-4139, Rn 33 ff – Angonese.
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nicht hingegen für deren unmittelbare Entfaltung.116 Art 45 und Art 157 AEUV gestatten nämlich keine Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung, denn entgegenstehende berechtigte Belange des Arbeitgebers bestehen hier nicht. Demgegenüber kennen, wie im Sekundärrecht auch anerkannt, die sonstigen Diskriminierungsverbote vielfach zum Schutz von Rechten anderer, vor allem von Vertragspartnern, Ausnahmen. Diese sind aber nicht primärrechtlich vorgezeichnet. Wegen dieser fehlenden Ausformung (dazu → Rn 29) fehlt es an der grundlegenden Voraussetzung für eine unmittelbare Anwendbarkeit, nämlich der unbedingten Gewährleistung.117
d) Durchsetzung 48 Da Diskriminierungsschutz Schutz des Schwachen ist (→ Rn 27), ist die Möglichkeit
seiner Durchsetzung besonders wichtig. Dementsprechend betont der EuGH gerade in diesem Zusammenhang die Bedeutung gerichtlichen Rechtsschutzes. Die Gerichte müssen die zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung vorgebrachten Argumente uneingeschränkt prüfen können.118 49 Herausfordernd für ein (vermeintliches) Opfer einer Diskriminierung ist nicht zuletzt der Nachweis. Das gilt insbesondere dort, wo die Diskriminierung nicht aus einer klaren normativen Regel herzuleiten ist. Gegenüber den allgemeinen Regeln, wonach das Opfer beweispflichtig ist, enthält das Sekundärrecht daher zu Recht Erleichterungen.119 Obwohl die Feststellung einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung an sich voraussetzt, dass das Vergleichspaar bekannt ist, kann ein Opfer allerdings nur in besonderen Fällen, aber nicht regelmäßig Auskunft über die nicht es selbst betreffenden Umstände, etwa den tatsächlich eingestellten Bewerber, verlangen.120
116 EuGH, Urt v 17.4.2018, Rs C-414/16, NJW 2018, 1869, Rn 77 ff – Egenberger; vgl auch Urt v 11.9.2018, Rs C-68/17, NJW 2018, 3086, Rn 69 – IR. Ebenso bereits zuvor zum entsprechenden Allgemeinen Rechtsgrundsatz Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981, Rn 77 – Mangold; Rs C-555/07, Slg 2010, I-365, Rn 51 – Kücükdeveci. 117 Kainer, GPR 2016, 262 (267 f); Classen, JZ 2019, 1057 (1064). 118 EuGH, Urt v 17.4.2019, Rs C-414/16, NJW 2018, 1869, Rn 48 ff – Egenberger; Urt v 11.9.2018, Rs C-68/ 17, NJW 2018, 3086, Rn 45 ff – IR; (GK), Urt v 15.4.2021, Rs C-30/19, Rn 45 ff – Braathens Regional Aviation. 119 Art 8 RL 2000/43; Art 10 RL 2000/78; Art 9 RL 2004/113; Art 19 RL 2006/54. 120 EuGH, Urt v 19.4.2012, Rs C-415/10, NJW 2012, 2497, Rn 52 ff – Meister; Urt v 16.7.2015, Rs C-83/14, EuGRZ 2015, 482, Rn 79 ff – CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD.
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e) Rechtsfolgen eines Verstoßes Wird ein Verstoß gegen ein Diskriminierungsverbot festgestellt, ist, wenn es um 50 eine Rechtsnorm geht, diese nichtig. Unbeschadet der Freiheit des für die Ungleichbehandlung Verantwortlichen, über den Inhalt einer Neuregelung mit Wirkung für die Zukunft frei zu entscheiden,121 lässt der EuGH bis dahin die jeweils günstigere Regelung „als einzig in Betracht kommende Regelung“ gelten.122 Das stößt wegen Missachtung des Spielraums des Normgebers auf Kritik.123 Allerdings werden so die entstandenen Probleme demjenigen zugewiesen, der für die fragwürdige Regelung verantwortlich ist; die Opfer müssen nicht auf eine Neuregelung warten. Ohnehin verpflichtet das Sekundärrecht die Mitgliedstaaten, für den Fall von 51 Verstößen Sanktionen vorzusehen.124 Diese Verpflichtung gilt auch, wenn es zu Diskriminierungen in Einzelfällen gekommen ist, und zwar auch schuldunabhängig. Der EuGH achtet auf die hinreichende Wirksamkeit der Sanktionen.125 Lösung Fall 3 Fraglich ist, ob Herr Hay unter Hinweis auf das Diskriminierungsverbot aus Gründen der sexuellen Orientierung eine Eheschließungsprämie verlangen kann. Zunächst stellt die Prämie einen Teil des Arbeitsentgelts dar. Damit unterfällt die Zahlung dem Anwendungsbereich der RL 2000/78 und damit dem Unionsrecht (Art 51 GRCh). Voraussetzung für einen Anspruch ist zudem, dass sich Partner eines PACS und Ehepartner in einer vergleichbaren Lage befinden. Hieran kann man zweifeln, weil Ehe und PACS nicht das gleiche sind; der PACS ist sogar anders als die frühere deutsche eingetragene Lebenspartnerschaft nicht allein für gleichgeschlechtlicher Paare offen. Allerdings geht es in beiden Fällen um eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft. Zum fraglichen Zeitpunkt war der PACS zudem in Frankreich die einzige Rechtsform, die gleichgeschlechtlichen Paaren zur Begründung einer rechtlich verbindlichen Lebensgemeinschaft zur Verfügung stand. Daher hat der EuGH angenommen, dass hier eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung erfolgt ist, für die eine Rechtfertigung nicht erkennbar ist. Auch wenn es den Tarifvertragsparteien freisteht, die Prämie abzuschaffen, kann Herr Hay, solange dies nicht geschehen ist, die Prämie verlangen. Und unabhängig davon, ob das französische Recht die fragliche Richtlinie korrekt umgesetzt hat oder nicht, kann Herr Hey zumindest gestützt auf Art 21 GRCh die Prämie vom Arbeitgeber verlangen.
121 EuGH, Rs C-408/92, Slg 1994, I-4435, Rn 21 f – Smith; explizit zum Rückwirkungsverbot EuGH, Urt v 27.4.2023, Rs C-681/21, Rn 45 – BVAEB. 122 EuGH, Rs C-184/89, Slg 1991, I-297, Rn 21 – Nimz; Urt v 28.1.2015, Rs C-417/13, NZA 2015, 217 – ÖBB Personenverkehr. 123 Hölscheidt in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 20 Rn 34. 124 Art 15 RL 2000/43; Art 17 RL 2000/78; Art 14 RL 2004/113; Art 18 RL 2006/54. 125 EuGH, Rs C-180/95, Slg 1997, I-2195, Rn 18, 25 ff – Draempael; Urt v 17.12.2015, Rs C-407/14, NJW 2016, 1080, Rn 43 ff – Arjona Carmacho.
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Lösung Fall 4: Fraglich ist zunächst, ob der Aufstieg in der Vergütungsgruppe in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Da es bei diesem Aufstieg allein um die Entlohnung geht, geht es um Arbeitsentgelt im Sinne von Art 157 I AEUV. Fraglich ist daher, ob es vorliegend wegen des Geschlechts benachteiligt wird. Die relevante Regelung unterscheidet zwischen Teilzeit und Vollzeit, stellt also nicht unmittelbar auf das Geschlecht ab. Es könnte aber eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts vorliegen. Das ist der Fall, wenn Frauen von der Regelung „besonders betroffen“ sind. Nun arbeiten anerkanntermaßen Frauen in wesentlichem höherem Maße in Teilzeit als Männer. Insoweit gibt es auch einen spezifischen Zusammenhang, weil der Wunsch nach Teilzeit bei Frauen durch Notwendigkeit der Erfüllung familiärer Verpflichtungen bedingt ist. Eine Diskriminierung liegt jedoch trotzdem nicht vor, wenn die Regelung durch andere, nicht mit der Diskriminierung wegen des Geschlechts in Zusammenhang stehende Gründe gerechtfertigt wäre. Hier könnte man daran denken, dass der Aufstieg die zunehmende berufliche Erfahrung honoriert, die Teilzeitkräfte nur langsamer gewinnen. Das Ziel – Honorierung beruflicher Erfahrung – ist nun zwar legitim. Zugleich handelt es sich aber um eine sehr pauschale Regelung. Daher ist diese nicht verhältnismäßig, rechtfertigt nicht. Dementsprechend kann Frau Nimz die höhere Vergütung verlangen.
3. Zu den einzelnen Kriterien
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Fall 5 (EuGH, Rs C-285/98, Slg 2000, I-69 – Kreil) Das deutsche Soldatengesetz gestattete früher Frauen eine Tätigkeit als Soldatin nur im Bereich des Sanitätsdienstes und der Musikkorps. Frau Tanja Kreil, gelernte Elektrotechnikerin, bewarb sich für den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr mit dem Verwendungswunsch Instandsetzung (Elektronik). Dies wurde mit Hinweis auf das Gesetz abgelehnt. Hierin sah Frau Kreil eine unzulässige Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts und erhob Klage.
Fall 6 (EuGH, Rs C-411/05, Slg. 2007, I-8531 – Palacios de la Villa) Herr Palacios de la Villa, ein in Spanien tätiger Arbeitnehmer, wurde von seinem Arbeitgeber zu seinem 65. Geburtstag mit Hinweis auf gesetzliche und tarifvertragliche Regeln gekündigt, die eine solche Kündigung anders als bei jüngeren Arbeitnehmern ohne weiteres erlaubten. Ab diesem Zeitpunkt sind Arbeitnehmer in Spanien rentenberechtigt. Diese Regelung war 1980 als Instrument zum Kampf gegen Arbeitslosigkeit eingeführt worden. Herr Palacios de la Villa sieht hierin eine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters. Zu Recht?
a) Geschlecht 56 Dem Geschlecht als Merkmal des unionsrechtlichen Diskriminierungsschutzes
kommt aus historischen Gründen eine grundlegende Bedeutung zu und spielt bis
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heute eine zentrale Rolle.126 Über das Diskriminierungsverbot des Art 21 GRCh hinaus verpflichtet Art 23 I GRCh sogar zu aktiver Gleichberechtigungspolitik. Auch in den Querschnittsklauseln der Art 8 und 10 AEUV findet sich eine solche Verpflichtung. Zudem ist insoweit auch die Kompetenz nach Art 19 AEUV einschlägig. Für den Bereich des Arbeits- und des Sozialrechts sowie des Empfangs von öffentlich angebotenen Gütern und Dienstleistungen ist es sekundärrechtlich ausgeformt.127 In der Praxis entfaltet das Verbot vor allem im erstgenannten Bereich große Be- 57 deutung. Es erfasst insbesondere auch die Benachteiligung wegen einer Schwangerschaft (→ Rn 39).128 Daneben ordnet der EuGH Benachteiligungen wegen Transsexualität diesem Diskriminierungsverbot zu.129 Mit Benachteiligungen wegen Intersexualität („3. Geschlecht“) war der EuGH bislang nicht befasst; diese sind aber konsequenterweise ebenfalls hierher zu rechnen.130 Die Frage der sexuellen Orientierung hingegen ist eigenständig geregelt und gehört daher nicht in diesen Zusammenhang.131 Soll eine mittelbare Diskriminierung mittels einer Statistik begründet wer- 58 den, sollte am besten die Gruppe der männlichen mit der der weiblichen Arbeitskräfte daraufhin verglichen werden, wie hoch in jeder Gruppe der Anteil der von der Ungleichbehandlung Betroffenen ist.132 In der Praxis haben sich vor allem nachteilige Regelungen zur Teilzeitarbeit als indirekte Diskriminierungen erwiesen.133 Daneben wurden etwa auch Regelungen zur körperlichen Größe von Bewerbern im Polizeidienst als mittelbar diskriminierend angesehen.134 Eine Rechtfertigung unmittelbarer Ungleichbehandlungen scheidet beim 59 Lohn aus (→ Rn 41). Beim Zugang zu einer Tätigkeit setzt sie voraus, dass diese besondere Anforderungen stellt (Art 14 II RL 2006/54, ABl 2006 Nr L 204/23). Auch müs-
126 Nach Angaben von Xenidis, CMLRev 58 (2021), 1649 (1650) betreffen rund 50 % der EuGH-Urteile zum Antidiskriminierungsrecht das Geschlecht. 127 Zum Arbeitsrecht RL 2006/54, zur sozialen Sicherheit RL 79/7, ABl 1979 Nr L 6/24, zu Selbständigen RL 2010/41, ABl 2010 Nr L 180/1; zu Gütern und Dienstleistungen RL 2004/113. Zudem dienen manche arbeitsrechtIichen Richtlinien dem Schutz von Frauen; dazu v d Decken in: Heselhaus/Nowak, GR, § 48 Rn 31. 128 Siehe oben Fn 83. 129 EuGH Rs C-13/94, Slg 1996, I-2143 Rn 23 ff – P/S; Rs C-117/01, Slg 2004, I-541 Rn 34 – K.B.; Rs C-423/04, Slg. 2006, I-3585 Rn 30 ff – Richards. 130 Hölscheidt in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 21 Rn 40. 131 So bereits vor Formulierung der GRCh EuGH, Rs C-249/96, Slg 1998, I-621, Rn 15 – Grant. 132 EuGH, Rs C‑167/97, Slg 1999, I‑623, Rn 59 – Seymour-Smith u Perez. 133 EuGH, Rs C-184/89, Slg 1991, I-297, Rn 14 – Nimz zu späteren Beförderungen; Rs C-300/06, Slg 2007, I-10573, Rn 40 ff – Voß zur Bezahlung von Überstunden. Siehe aber auch Fn 141. 134 EuGH, Urt v 18.10.2017, Rs C-409/16, NVwZ 2017, 1686, Rn 36 ff – Kalliri.
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sen die Regelungen hinreichend spezifisch ausfallen. Konkret wurde dies etwa – mit Hinweis auf den „gegenwärtigen Zeitpunkt“, also 1983 – für Hebammen,135 ferner für Aufsichts- und Leitungspersonal in Haftanstalten136 sowie für Soldaten einer Kampfkompanie angenommen,137 für das Militär allgemein jedoch abgelehnt.138 Befristete Beschäftigungsverbote, wie sie etwa für Schwangere bestehen, dürfen im Kontext unbefristeter Arbeitsverträge keine Rolle spielen.139 Auch ist eine unterschiedliche Behandlung von Eltern im Arbeits- und Sozialrecht nur beim vor- und nachgeburtlichen Mutterschutz zulässig.140 In Grenzen kann eine Ungleichbehandlung auch gerechtfertigt werden, soweit Benachteiligungen von Frauen ausgeglichen werden sollen (→ Rn 78 ff). Eine Benachteiligung von Teilzeitarbeit als Form einer mittelbaren Diskriminierung kann durch spezifische sozialpolitische Ziele gerechtfertigt sein.141
b) Religion und Weltanschauung 60 Geschützt wird weiterhin vor Diskriminierung wegen der Religion oder Welt-
anschauung; auch die Querschnittsklausel des Art 10 AEUV und die Kompetenz nach Art 19 AEUV greifen dieses Thema auf. Das Verbot ist für das Arbeitsleben sekundärrechtlich ausgeformt. Zur Definition des Begriffs der Religion verweist der EuGH regelmäßig auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art 9 EMRK (→ Classen § 4.3 Rn 6, 8 ff).142 61 Abgrenzungsfragen bestehen, soweit es um das Verhältnis zur Religionsfreiheit geht. Religiöse Freiheit verlangt gelegentlich Sonderregeln im staatlichen Recht, etwa zum unionsrechtlich aber bisher allein unter dem Gesichtspunkt der Religionsfreiheit thematisierten Schächten (→ Classen § 4.3 Rn 27). Zudem sollen
135 EuGH, Rs 165/82, Slg 1983, 3431, Rn 20 – Kommission/Vereinigtes Königreich. 136 EuGH, Rs 318/86, Slg 1988, 3599, Rn 11 ff – Kommission/Frankreich. 137 EuGH, Rs C-273/97, Slg 1999, I-7403, Rn 29 ff – Sirdar. 138 EuGH, Rs C-285/98, Slg 2000, I-69, Rn 26 ff – Kreil. 139 EuGH, Rs C- 421/92, Slg 1994, I-1657, Rn 23 – Habermann-Beltermann; Rs C-207/98, Slg 2000 I-549, Rn 25 – Mahlburg. 140 EuGH, Rs 312/86, Slg 1988, 6315, Rn 14 – Kommission/Frankreich; RsC‑366/99, Slg 2001, I-9383, Rn 41 ff – Griesmar; Urt v 17.7.2014, Rs C-173/14, Rn 89 ff – Leone; Urt v 12.12.2019, Rs C‑450/18, WzS 2020, 345, Rn 51 – Instituto Nacional de la Seguridad Social. Zum fehlenden Mutterschutz bei einer Bestellmutter Urt v 18.3.2014, Rs C-167/12 u C-363/12, FamRZ 2014, 907, Rn 52 – Z. Vgl bereits oben Fn 76. 141 EuGH, Rs C-317/93, Slg 1995, I-4625, Rn 33 ff – Nolte. Siehe ferner EuGH, Rs C-457/93, Slg 1996, I-243, Rn 34 ff – Lewark, zu Freistellungen von Betriebsratsmitgliedern. 142 EuGH, Urt v 14.3.2017, Rs C-188/15, NJW 2017, 1089, Rn 30 – Bougnaoui ua; Urt v 14.3.2017, Rs C-157/ 15, NZA 2017, 373, Rn 28 – G4S Secure Solutions.
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manche Regeln rechtspraktisch vor allem religiös konnotiertes Verhalten beschränken; Regelungen zu Bekleidungsfragen stehen hier im Vordergrund. Letztere wurden etwa vom EGMR bislang durchweg als Problem der Religionsfreiheit (→ Classen § 4.3 Rn 9, 18), vom EuGH hingegen im Kern als Problem des religiösen Diskriminierungsverbots behandelt.143 Ursache ist, dass als zur Anwendbarkeit der GRCh führendes Sekundärrecht (Art 51) nur in Form der auf Art 19 AEUV gestützten RL 2000/78 bereitsteht. Nun dient auch der Diskriminierungsschutz dem Persönlichkeitsschutz (→ Rn 27), doch führt dies doch zu einer diskriminierungsrechtlichen Präformierung des Grundrechtsschutzes.144 Ein generelles, konsequent gehandhabtes Verbot jeglicher sichtbarer religiös 62 oder politisch motivierter Zeichen sieht der EuGH als mittelbare Diskriminierung an, weil jeder Mensch eine Religion oder politische Meinung haben könne, die zudem durch den Willen des Unternehmens gerechtfertigt werden kann, sich der Öffentlichkeit aus plausiblen Gründen als religiös und politisch neutral zu präsentieren.145 Auf auffällig großflächige Zeichen wie des islamischen Kopftuches beschränkte Verbote sollen dagegen „untrennbar“ (→ Rn 39) mit der Religion verbunden sein und deswegen eine nicht allein mit Neutralitätspolitik, sondern nur mit spezifischen beruflichen Anforderungen zu rechtfertigende unmittelbare Diskriminierung darstellen.146 Die Unterscheidung ist diskutabel: Die Trennbarkeit hängt nicht an der Größe des Symbols, sondern am religiösen Gebot zum Tragen. Für religionsgemeinschaftliche Arbeitgeber enthält Art 4 II RL 2000/78 eine 63 weitreichende Sonderregelung zu beruflichen Anforderungen. Verlangt ein solcher Arbeitgeber die Zugehörigkeit zu einer Religion, muss diese für die entsprechende Tätigkeit eine „wesentlich, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ darstellen. Dies läuft im Kern parallel zur Anforderung der Verkündungsnähe, auf die der EGMR mit Blick auf Art 9 EMRK abstellt (→ Classen § 4.3 Rn 22). Pauschal dürfen die Kirchen also keine Religionszugehörigkeit verlangen, vor allem nicht bei den ihnen zugeordneten selbständigen Einrichtungen. Auch darf der Arbeitgeber ethoskonformes Verhalten verlangen. Im Gegensatz zur generellen Regelung des Art 4 I147 versteht der EuGH Art 4 II zwar nicht als eng auszulegende Ausnahme, sondern als Grundlage eines „angemessenen Ausgleichs“ der kollidieren-
143 In den Urt v 14.3.2017, Rs C-157/15, NZA 2017, 373, Rn 27 – G4S Secure Solutions, sowie (GK) v 15.7.2021, verb Rs C-804/18 und 341/19, Rn 48, 80 ff – WABE erwähnt der EuGH allerdings auch Art 10 GRC. 144 Dazu etwa Classen, JZ 2021, 905 (906). 145 EuGH (GK), Urt v 15.7.2021, verb Rs C-804/18 u 341/19, Rn 63 ff – WABE; etwas großzügiger Urt v 14.3.2017, Rs C-157/15, NZA 2017, 373, Rn 37 f – G4S Secure Solutions. 146 EuGH (GK), Urt v 15.7.2021, verb Rs C-804/18 und 341/19, Rn 73, 76, 78 – WABE. 147 Dazu EuGH, Rs C-447/09, Slg 2011, I-8003, Rn 56, 72 – Prigge.
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den Interessen.148 Nichtsdestoweniger ist die Klausel an recht restriktiven Bedingungen und vor allem eine strikte gerichtliche Kontrolle geknüpft und unterliegt damit wohl intensiveren Begrenzungen als vom EGMR gefordert (→ Classen § 4.3 Rn 22).149 Fallbezogen nicht überzeugend hat es der EuGH etwa abgelehnt, den Chefarzt eines katholischen Krankenhauses als einen solchen Fall anzusehen.150 Jenseits der auf das Arbeitsrecht beschränkten Richtlinie RL 2000/78 kommt das Diskriminierungsverbot zum Tragen, soweit sonstiges Unionsrecht anwendbar ist wie im Kontext einer aus religiösen Gründen ins Ausland verlegten Krankenhausbehandlung.151
c) Alter 64 Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen des Alters hat der EuGH zunächst
2005 etwas überraschend auf schmaler Basis als allgemeinen Rechtsgrundsatz entwickelt,152 war allerdings auch schon in der im Jahre 2000 beschlossenen, zunächst noch unverbindlichen GRCh enthalten. Es verbietet Diskriminierungen, die an das biologische Lebensalter anknüpfen, und schützt sowohl junge als auch alte Menschen. Entsprechende Regelungen gibt es traditionell vor allem im Arbeitsrecht in Form von Höchst- oder auch Mindestgrenzen für die Einstellung oder auch das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis sowie die Bezahlung nach Alter; eine Bezahlung nach beruflicher Erfahrung wirft dagegen kein Problem auf.153 Die Querschnittsklausel des Art 10 AEUV sowie die Kompetenz nach Art 19 AEUV greifen dieses Thema gleichfalls auf. Das Verbot ist zudem ebenfalls für das Arbeitsleben sekundärrechtlich ausgeformt. 65 Der Möglichkeit, dass berufliche Anforderungen (Art 4 RL 2000/78) Ungleichbehandlungen rechtfertigen, kommt hier durchaus praktische Bedeutung zu; es geht nicht nur um wenige Ausnahmefälle. So wurden etwa Altershöchstgrenzen für die Einstellung im Feuerwehrdienst akzeptiert,154 jedoch nicht für die Poli-
148 EuGH, Urt v 17.4.2018, Rs C-414/16, NJW 2018, 1869, Rn 51 ff – Egenberger. 149 EuGH, Urt v 17.4.2018, Rs C-414/16, NJW 2018, 1869, Rn 45 ff – Egenberger. 150 EuGH, Urt v 11.9.2018, Rs C-68/17, NJW 2018, 3086, Rn 58 ff – IR. 151 EuGH, Urt v 29.10.2020, Rs C‑243/19, EuGRZ 2020, 635 – A (zu einem Bluttransfusionen verweigernden Zeugen Jehovas; die Behandlung war nur dort möglich): Rn 42 ff zur Rechtfertigung einer mittelbaren Ungleichbehandlung im Rahmen von Art 20 II VO 2004/883 sowie Rn 84 zu deren Fehlen im Rahmen von Art 8 V und VI lit d RL 2011/24. 152 EuGH, Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981, Rn 74 f – Mangold; ferner Rs C-555/07, Slg 2010, I-365, Rn 50 – Kücükdeveci. 153 Zur Unzulässigkeit EuGH, verb Rs C-297/10 u C-298/10, Slg 2011, I-7965, Rn 69 ff – Hennigs und Mai. 154 EuGH, Rs C-229/08, Slg 2010, I-1, Rn 38 ff – Wolf.
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zei.155 Allerdings müssen entsprechende Regelungen kohärent ausgestaltet sein. Sollen etwa Altershöchstgrenzen dem Gesundheitsschutz dienen (dazu auch Art 2 V RL 2000/78), müssen sie flächendeckend gelten156 und mit anderen Regelwerken abgestimmt sein157. Eine altersbedingte Ungleichbehandlung im Arbeitsrecht kann zudem durch 66 strukturelle Gründe des Arbeitsmarktes gerechtfertigt werden (Art 6 RL 2000/ 78). Insbesondere darf ein sachgerecht definiertes Alter für den Übertritt in den Ruhestand vorgegeben werden, das zudem problematische Einzelfallprüfungen vermeidet.158 Zulässig ist auch die Gewährleistung einer sachgerechten Altersstruktur in einer Berufsgruppe.159 Ergänzend sind die besonderen Bestimmungen zum Schutz der Kinder (→ Rn 81) und der älteren Menschen (→ Rn 84) als Gleichstellungsgebote zugunsten spezifischer Altersgruppen zu erwähnen.
d) Sexuelle Ausrichtung Die Diskriminierung nach der sexuellen Orientierung betrifft im Unterschied zu der 67 des Geschlechts die Frage nach dem Geschlecht des (angestrebten) Sexualpartners. Auch dieses Kriterium ist relativ neu. Gleichgeschlechtliche Liebe war lange Zeit gesellschaftlich verpönt, wenn nicht sogar strafbar. Wichtige der für die Diskriminierung aus Gründen des Alters bedeutsamen Gesichtspunkte (Verankerung in Art 10 und 19 AEUV; sekundärrechtliche Ausgestaltung im Arbeitsrecht) gelten auch hier. In der Rechtspraxis geht es fast immer um die Frage der Erstreckung von Regelungen für Ehepartner auf Partner einer als in anderer Rechtsform ausgestalteten persönlichen Beziehung oder in einem anderen Staat als dem der Eheschließung. Können in einem Staat gleichgeschlechtliche Paare keine Ehe eingehen, stellt die Benachteiligung einer für solche Paare offenen Rechtsform eine unmittelbare Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung dar.160 Eine Rechtfertigung hat der EuGH bisher in keinem Fall angenommen.
155 EuGH, Urt v 13.11.2014, Rs C-416/13, NVwZ 2015, 427, Rn 48 ff – Vital Pérez. 156 Daran ist die deutsche Regelung zu Vertragszahnärzten gescheitert; EuGH, Rs C-341/08, Slg 2010, I-47, Rn 58 ff – Petersen. 157 Daran fehlte es im Fall von EuGH, Rs C-447/09, Slg 2011, I-8003, Rn 63 f, 73 ff – Prigge zu Altershöchstgrenzen bei Piloten; anders dann die im Fall von EuGH, Urt v 5.7.2017, Rs C-190/16, EuZW 2017, 729, Rn 48 ff – Fries zu beurteilende Regelung. 158 EuGH, Rs C-411/05, Slg 2007, I-8531, Rn 65 ff – Palacios de la Villa; Urt v 12.10.2010, Rs C-45/09, NJW 2010, 3767, Rn 58 ff – Rosenbladt; Urt v 5.7.2012, Rs C-141/11, NJW 2012, 2499, Rn 38 ff – Hörnfeldt. 159 EuGH, Rs C-341/08, Slg 2010, I-47, Rn 68 ff – Petersen. 160 EuGH, Rs C-267/06, Slg 2008, I-1757, Rn 73 – Maruko; Urt v 12.12.2013, Rs C-267/12, NZA 2014, 153, Rn 41, 44, 47 – Hay.
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e) Behinderung 68 Die Sensibilität für das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung ist ebenfalls erst in den letzten Jahren, insoweit aber auch auf internationaler Ebene, entstanden. Die einschlägige Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 ist bei der Auslegung dieses Merkmals zu berücksichtigen.161 Wichtige der für die Diskriminierung aus Gründen des Alters bedeutsamen Gesichtspunkte (Verankerung in Art 10 und 19 AEUV; sekundärrechtliche Ausgestaltung für das Arbeitsrecht) gelten auch hier. 69 Unter einer Behinderung ist im Anschluss an Art 1 II BRK eine Einschränkung zu verstehen, „die ua auf langfristige physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die den Betreffenden in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“162 Fragen wirft vor allem eine sachgerechte Abgrenzung zu solchen Regelungen auf, die an eine Krankheit anknüpfen. Beide Begriffe können nicht gleichgesetzt werden.163 Entsprechend der erwähnten Definition ist vielmehr entscheidend, ob die erwähnte Einschränkung längerfristigen Charakter hat.164 70 Eine Rechtfertigung ist nach Art 4 RL 2000/78 (berufliche Anforderungen) und Art 2 V (Sicherheit) möglich. Letztere kann auch jenseits des durch die Richtlinie geregelten Bereichs zum Tragen kommen.165 Speziell mit Blick auf Menschen mit Behinderung fordert Art 5 RL 2000/78 vom Arbeitgeber im Rahmen der Verhältnismäßigkeit kompensatorische Maßnahmen (→ Rn 86); ohne diese können entsprechende Ungleichbehandlungen nicht gerechtfertigt werden.166 Die Symmetrie dieses Diskriminierungsverbots (→ Rn 27) ist also begrenzt.
161 EuGH, Urt v 1.12.2016, Rs C-395/15, EuZW 2017, 263, Rn 41 – Daouidi; Urt v 9.3.2017, Rs C-406/15, NZA 2017, 439, Rn 48 – Milkova. Zurückhaltend dazu O’Brien in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, Rn 26.84 mit Hinweis auf das größere Alter der GRC. 162 Mann/Ennuschat in: Stern/Sachs GRCh, Art 26 Rn 17. Mit Fokussierung nicht auf die Gesellschaft, sondern die Teilhabe am Arbeitsleben zur RL 2000/78 EuGH, Urt v 11.4.2013, verb Rs C‑335/11 u C‑337/ 11, NZA 2013, 553, Rn 38 – HK Danmark; Urt v 18.3.2014, Rs C-167/12 u C‑363/12, FamRZ 2014, 907, Rn 76 – Z; ferner ebenso, aber nicht überzeugend im Kontext des Verkehrsrechts Urt v 22.5.2014, Rs C-356/12, Rn 46 – Glatzel. Kritisch zu dieser Eingrenzung O’Brien in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, Rn 26.67. 163 EuGH, Rs C-13/05, Slg 2006, I-6467, Rn 47 – Chacón Navas; Urt v 11.4.2013, verb Rs C‑335/11 u C‑337/ 11, NZA 2013, 553, Rn 73 – HK Danmark. 164 EuGH, Rs C-13/05, Slg 2006, I-6467, Rn 45 – Chacón Navas; Urt v 11.4.2013, verb Rs C‑335/11 u C‑337/ 11, NZA 2013, 553, Rn 41 – HK Danmark; Urt v 1.12.2016, Rs C-395/15, EuZW 2017, 263, Rn 54 ff – Daouidi. 165 EuGH, Urt v 22.5.2014, Rs 356/12, Rn 51 ff – Glatzel zu Voraussetzungen der Erteilung einer Fahrerlaubnis. 166 EuGH, Urt v 11.9.2019, Rs C-397/18, NZA 2019, 1634, Rn 63 ff – Nobel Plastiques Ibérica.
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f) Rasse und ethnische Herkunft Schließlich greifen die Querschnittsklausel des Art 10 sowie die Kompetenzbestim- 71 mung des Art 19 AEUV zwei weitere, auch in Art 21 GRCh enthaltene Merkmale auf: Rasse und ethnische Herkunft. Der Konkretisierung dieses Element des Diskriminierungsschutzes dient die im Anwendungsbereich vergleichsweise weitgefasste RL 2000/43. Zur Definition dessen, was mit Rasse gemeint ist, gibt es bisher keine Rechtsprechung des EuGH. Die Begründungserwägungen der RL 2000/43 verweisen insbesondere auf das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und betonen, dass die Verwendung des Begriffs nicht die Annahme der Existenz menschlicher Rassen impliziere (→ Rn 13). Bei der ethnischen Herkunft geht es um eine durch mehrere gemeinsame Merkmale definierte gesellschaftliche Gruppe.167 Eine Diskriminierung aufgrund allein der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes oder des Geburtsortes fällt nicht darunter.168 Verwunderlich ist die Regelung einer Rechtfertigung für den Fall beruflicher 72 Anforderungen, die man sich nicht vorstellen kann (→ zur EMRK Rn 13). Konkret spielte dieses Merkmal nur im Kontext gesellschaftlichen Praktiken eine Rolle: Die beiden einschlägigen Urteile des EuGH betrafen eine diskriminierende Behandlung eines Wohnviertels, in dem im Wesentlichen Roma leben,169 sowie öffentliche Äußerungen eines Arbeitgebers zu seiner künftigen Einstellungspraxis.170
g) Sonstige Kriterien Schließlich enthält Art 21 GRCh etliche weitere Kriterien, die weder in Art 10 noch 73 19 AEUV verankert sind und zu denen es dementsprechend keine sekundärrechtliche Konkretisierung gibt. Im Einzelnen geht es um die Hautfarbe, die soziale Herkunft, die genetische Herkunft, die Sprache, die politische und die sonstige Anschauung, die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, das Vermögen und die Geburt. Ergänzend garantiert Art 22 GRCh in Form eines Grundsatzes die Vielfalt von Kulturen und Sprachen (sowie Religion, → Rn 60 ff). Der Inhalt der Kriterien ist im Grundsatz selbsterklärend. Eher neueren Datums sind dabei die Kriterien des Vermögens und der Geburt, die anderen treten auch in klassischen Kanones von Menschenrechten auf.
167 EuGH, Urt v 16.7.2015, Rs C-83/14, EuGRZ 2015, 482, Rn 46 – CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD; Urt v 6.4.2017, Rs C-668/15, NJW 2017, 3139, Rn 18 ff – Jyske Finans A/S. 168 EuGH, Urt v 15.11.2018, Rs C-457/17, NJW 2019, 1057, Rn 49 ff – Maniero; vgl auch Urt v 16.7.2015, Rs C-83/14, EuGRZ 2015, 482, Rn 46 – CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD. 169 EuGH, Urt v 16.7.2015, Rs C-83/14, EuGRZ 2015, 482 – CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD. 170 EuGH, Rs C-54/07, Slg 2008, I-5187 – Feryn.
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Im Rahmen des Anwendungsbereichs des Unionsrechts spielen diese Kriterien kaum eine Rolle. Sprachregelungen als Anforderungen an eine bestimmte berufliche Tätigkeit oder zur Amtssprache haben den EuGH allerdings in spezifischen Zusammenhängen als Diskriminierung von Unionsbürgern,171 speziell von ausländischen Arbeitnehmern beschäftigt.172 Mit Blick auf das Vermögen sind zwei Selbstverständlichkeiten festzustellen. Einerseits genießen alle Menschen unabhängig von ihrem Vermögen die Grundrechte. Andererseits ist es in vielen Bereichen, vor allem im Zusammenhang mit finanziellen Leistungsverpflichtungen, selbstverständlich, dass das finanzielle Leistungsvermögen Unterscheidungen rechtfertigt.173 Zur Offenheit des Kataloges → Rn 31. Lösung Fall 5 Fraglich ist zunächst, ob die von Frau Kreil angestrebte Tätigkeit in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Nun wird seit langem beim Zugang zu einem Beruf eine Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts verboten. Die Tätigkeit als Soldatin aber ist ein Beruf; daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die Tätigkeit der Armee als solche nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Eine Diskriminierung liegt allerdings nicht vor, wenn spezifische berufliche Anforderungen bestehen, die Frauen prinzipiell nicht erfüllen. Dies kann man eventuell für bestimmte Tätigkeiten in den Streitkräften annehmen. Die Notwendigkeit, Waffen zu tragen, rechtfertigt den Ausschluss jedenfalls schon deswegen nicht, weil in der Bundeswehr an anderer Stelle Frauen tätig sind, die ggf auch eine Waffe tragen. Ein nahezu alle Tätigkeiten in der Armee und insbesondere eine Tätigkeit im Bereich der Instandsetzung ausschließende Regelung aber ist deutlich zu pauschal. In der Konsequenz kann Frau Kreil daher verlangen, eingestellt zu werden, wenn sie konkret die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt und kein besserer Bewerber zur Verfügung steht.
Lösung Fall 6: Zunächst müsste Art 21 GRCh gemäß Art 51 GRCh anwendbar sein. Vorliegend ist auf RL 2000/78 zu verweisen, die auch eine Diskriminierung aufgrund des Alters verbietet (Art 1 und 2) und unter anderem auf eine Entlassung aus einem Arbeitsverhältnis anwendbar ist (Art 3 lit c). Die Vergleichsgruppen werden gebildet von den Arbeitnehmern, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, und solche, für die das nicht gilt. Beide Gruppen von Arbeitnehmern befinden sich in einer vergleichbaren Lage. Fraglich ist, ob die Ungleichbehandlung, die darin besteht, dass dem erstgenannten Personenkreis frei gekündigt werden kann, dem zweitgenannten jedoch nicht, gerechtfertigt werden kann. Eine Rechtfertigung mit Hinweis auf Art 4 – berufliche Anforderungen – scheidet aus, weil die Regelung völlig undifferenziert für alle Berufe in gleicher Weise gilt und damit die Anforderungen der Norm verfehlt. In Betracht kommt jedoch eine Rechtfertigung nach Art 6 RL 2000/78. Gefordert wird zunächst ein legitimes Ziel der Beschäftigungspolitik; das liegt im Fall des Kampfes gegen Arbeitslosig-
171 EuGH, Rs C-274/96, Slg 1998, I-7637, Rn 24 ff – Bickel. 172 EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139, Rn 38 ff – Angonese. 173 Das dürfte letztlich die Rechtfertigung im Fall EuGH, Urt v 24.9.2020, Rs C-223/19, NZA 2020, 1385, Rn 85 – YS erklären.
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keit vor. Zudem muss die Maßnahme verhältnismäßig sein. Angesichts des Spielraums, der den Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zukommt, erscheint die Kündigung einer Person, die am Ende des Arbeitslebens steht und rentenberechtigt ist, auch nicht unangemessen.
IV. Gleichstellungsgebote 1. Allgemeines Die soeben genannten Gleichheitsrechte sollen eine Ausgrenzung bestimmter Per- 77 sonen nach problematischen Merkmalen verhindern. Bei besonders vulnerablen Personengruppen aber reicht ein Verbot der Diskriminierung, selbst wenn sie auf private Bereiche erstreckt wird, nicht zur Sicherstellung angemessener gesellschaftlicher Teilhabe aus. Insoweit sind je nach Gruppe besondere Regeln notwendig, die vielfach formale Ungleichheit beinhalten, aber zur Sicherung einer gewissen materialen Gleichheit notwendig sind.174 Dementsprechend enthalten die meisten Gleichstellungsrichtlinien Klauseln, die Fördermaßnahmen ausdrücklich gestatten;175 mit Blick auf das Geschlecht ist das sogar primärrechtlich gestattet (→ Rn 78).
2. Gleichstellung der Geschlechter (Art 23 I und II GRCh, Art 157 IV AEUV) Art 23 I unterscheidet sich von dem Diskriminierungsverbot des Art 21 GRCh zu- 78 nächst dadurch, dass er einen von jeder anderweitigen Unionsaktion unabhängigen, wenn auch nur im Rahmen der Kompetenzen der Union (Art 51 II GRCh) zu verwirklichenden Auftrag enthält, in allen Bereichen für die Gleichstellung der Geschlechter zu sorgen.176 Um dies zu ermöglichen, gestatten Art 23 II GRCh sowie Art 157 IV AEUV „spezifische Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht“. So können die Mitgliedstaaten sowie die Arbeitgeber, wie es nur die zweitgenannte Norm ausdrücklich postuliert, einen Beitrag nicht nur zur Gleichberechtigung, sondern auch zur – letztlich ergebnisbezogenen177 – Gleichstellung der
174 Zum heutigen Art 157 IV EUV EuGH, Rs C‑407/98, Slg 2000, I‑5539, Rn 48 – Abrahamsson und Anderson; Rs C-104/09, Slg 2010, I- 8661, Rn 34 – Roca Álvarez. 175 Art 5 RL 2000/43; Art 7 RL 2000/78 und Art 6 RL 2004/113. 176 Dazu Schieck, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, Rn 23.33. 177 Weber, in: Stern/Sachs GRCh, Art 23 Rn 12. Claus Dieter Classen
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Geschlechter leisten. Dabei betont Art 23 GRCh ausdrücklich verschiedene Facetten des Arbeitslebens, ist jedoch anders als Art 157 IV AEUV nicht auf dieses beschränkt. Ergänzend kommt auch hier die Querschnittsklausel des Art 8 AEUV zum Tragen. 79 Hintergrund der Regelung sind bestehende Vorurteile und Stereotypen mit Blick auf die Beschäftigung von Frauen sowie die Sorge, dass Frauen schwangerschaftsbedingt ihre berufliche Tätigkeit unterbrechen.178 Allerdings muss der jeweilige Vorteil auch tatsächlich Benachteiligungen verhindern oder sie ausgleichen. Spezifische Maßnahmen der Frauenförderung müssen daher der Verbesserung der Chancengleichheit im Sinne der Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit von Frauen dienen. Die Charta-Formulierung greift hier frühere Aussagen des EuGH auf.179 80 An den zuletzt genannten Voraussetzungen sind bisher zahlreiche Regelungen gescheitert, die Vorteile für Frauen jenseits des Mutterschutzes vorsahen. Dies gilt für Stellen, die in Bereichen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, speziell für Frauen geschaffen worden sind,180 aber auch pauschale Begünstigungen von Frauen, und sei es nur solchen mit Kindern, bei der Altersrente181 oder der Altersgrenze182 oder auch solche Begünstigungen, die an berufliche Entwicklungen anknüpfen, die bei Männern genauso wie bei Frauen hätten möglich sein müssen wie die Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub.183 Als zulässig hat der EuGH demgegenüber Quotenregeln, wenn sie eine Öffnungsklausel enthalten,184 ebenso – im Wissenschaftsbereich – das Kaskadenmodell185 sowie Regelungen zu Ausbildungsplätzen186 und zu Quoten bei Einladungen zu Vorstellungsgesprächen187 angesehen.188
178 EuGH, Rs C-409/95, Slg 1997, I-6363, Rn 29 – Marschall. 179 EuGH, Rs C-450/93, Slg 1995, I-3051, Rn 19 – Kalanke; Rs C-409/95, Slg 1997, I-6363, Rn 27 – Marschall. 180 EuGH, Rs C-407/98, Slg 2000, I-5539, Rn 48 – Abrahamsson. 181 EuGH, Urt v 12.12.2019, Rs C-450/18, Rn 46, 52, 57 ff. – Instituto Nacional de la Seguridad Social. 182 EuGH, Urt v 5.11.2019, Rs C-192/18, NJW 2020, 527, Rn 81 – Kommission/Polen. Siehe ferner zu einer Altersgrenze beim Zugang zum Beruf EuGH, Rs C-319/03, Slg 2004, I-8807, Rn 25 – Briheche. 183 EuGH, Rs C-366/99, Slg 2001, I-9383, Rn 65 – Griesmar; Urt v 17.7.2014, Rs C-173/13, Rn 101 ff – Leone. 184 EuGH, Rs C-409/95, Slg 1997, I-6363, Rn 33 – Marschall; Rs C-158/97, Slg 2000, I-1875, Rn 23, 35 – Badeck; zur Unzulässigkeit strikter Quoten Rs C-450/93, Slg 1995, I-3051, Rn 22 f – Kalanke. 185 EuGH, Rs C-158/97, Slg 2000, I-1875, Rn 42 – Badeck. 186 EuGH, Rs C-158/97, Slg 2000, I-1875, Rn 53 – Badeck. 187 EuGH, Rs C-158/97, Slg 2000, I-1875, Rn 62 – Badeck. 188 Siehe ferner zur Vergabe von Kitaplätzen EuGH, Rs C-476/99, Slg 2002, I-2891, Rn 39 ff – Lommers.
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3. Kinderrechte und Kindeswohl (Art 24 GRCh) Im Anschluss vor allem an die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen 81 vom 20.11.1989,189 aber auch Art 3 III UAbs 2 EUV gewährleistet Art 24 GRCh Kindern als besonders vulnerablen Personen190 verschiedene Rechte und verpflichtet zugleich auf eine vorrangige Beachtung von deren Wohl. Kinder (= Personen unter 18 Jahren191) haben einen Anspruch auf Schutz und Fürsorge (Art 24 I 1), auf Partizipation (Art 24 I 2 und 3) sowie auf Umgang mit beiden Elternteilen (Art 24 III). Zudem ist das Kindeswohl bei kindbezogenen Entscheidungen vorrangig zu berücksichtigen (Art 24 II). Zwischen diesen Garantien gibt es Spannungsverhältnisse; das gilt insbesondere für das Partizipationsrecht nach Art 24 I 3 im Verhältnis zum Kindeswohl nach Art 24 II.192 Gegenüber privaten Einrichtungen ordnet Art 24 II eine unmittelbare Drittwirkung an.193 Angesichts der begrenzten Kompetenzen der Union spielt die Norm überwie- 82 gend nur bei Fragen eine Rolle, die in der einen oder anderen Weise mit dem Wohnsitz zusammenhängen und dabei vor allem das auch in Zusammenhang mit dem Recht auf Familienleben nach Art 7 GRCh zu sehende Recht gemäß Art 24 III GRCh betreffen. Konkret geht es vor allem um den weiten Kontext des Ausländerrechts,194 aber auch um familienprozessuale Regelungen.195 Auch in anderen Zusammenhängen stehen diese Rechtsgebiete im Vordergrund.196 Rechtstechnisch fordern die meisten Urteile nur, Art 24 GRCh bei der Aus- 83 legung des Sekundärrechts sowie bei Abwägungsentscheidungen im Einzelfall zu
189 Zu den Einzelheiten Steindorff-Classen, EuR 2011, 19 (21 ff). 190 EuGH, Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20, Rn 90 ff – CG; kritisch aber zur Stellung von Art 24 GRCh Ennuschat in: Stern/Sachs GRCh, Art 24 Rn 4. 191 EuG, Urt v 12.12.2018, Rs T-283/17 – SH. Zum variantenreichen Sekundärrecht Lamont in: Peers/ Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, Rn 24.43. 192 Dazu, ohne konkrete Auflösung, EuGH, Rs C-491/10 PPU, Slg 2010, I-14247, Rn 61 ff – Aguirre Zarraga. 193 Steindorff-Classen, EuR 2011, 19 (33); Böhringer in: Heselhaus/Nowak, GR, § 45 Rn 21. 194 Beispielhaft zur Familienzusammenführung EuGH, Urt v 6.12.2012, Rs C-356/11 u C-357/11, NVwZ 2013, 419, Rn 76 – O. und S.; Urt v 16.7.2020, verb Rs C-133/19, C-136/19 u C-137/19, Rn 34 f – B.M.M. ua.; zum Abschiebungsschutz EuGH, Urt v 14.1.2021, Rs C-441/19, NVwZ 2021, 550, Rn 44 ff – TQ; zum Staatsangehörigkeitsrecht EuGH, Urt v 12.3.2019, Rs C-221/17, NJW 2019, 1587, Rn 45 – Tjebbes; zu Sozialleistungen EuGH, Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20, Rn 92 – CG. 195 EuGH, Rs C-491/10 PPU, Slg 2010, I-14247, Rn 61 ff – Aguirre Zarraga. 196 Zu Zuständigkeiten als Konsequenz der Pflicht, kindbezogene Verfahren zügig durchzuführen, siehe EuGH, Urt v 26.4.2012, Rs C-92/12 PPU, FamRZ 2012, 1466, Rn 127 – Health Service Executive, und Urt v 17.10.2018, Rs C-393/18 PPU, NJW 2019, 415, Rn 65 ff – UD (zur VO 2003/2201, ABl 2003 Nr L 338/1), sowie Urt v 7.2.2012, Rs C-648/11, NVwZ-RR 2013, 735, Rn 55 – MA zu Asylverfahren; zu Sanktionen im Ausländerrecht EuGH, Urt v 12.11.2019, Rs C-233/18, NJW 2020, 980, Rn 54 ff – Haqbin.
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berücksichtigen. Das gilt aber auch für Entscheidungen, die unmittelbar nur Dritte betreffen wie Ausweisungsentscheidungen gegen einen Elternteil.197 Konkrete Konsequenzen hat der EuGH bisher allein mit Blick auf die Auslegung von Zuständigkeitsregelungen gezogen.198
4. Rechte älterer Menschen (Art 25 GRCh) 84 Ebenso wie am Anfang sind die Menschen auch am Ende des Lebens in besonderer
Weise vulnerabel. Wegen nachlassender physischer und geistiger Kräfte laufen sie Gefahr, aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden, ja überhaupt die Möglichkeit zu eigenständigem Leben zu verlieren. Deswegen spricht ihnen Art 25 GRCh besondere Rechte zu. Im Rahmen der Unionskompetenzen aber kommen diese kaum zum Tragen. Zudem verlangt Art 25 GRCh nur Anerkennung und Achtung, bildet also allein einen Grundsatz199 und fordert kein spezifisches Engagement.200 Dementsprechend ist auch eine präzise Definition des Kriteriums „älter“ nicht erforderlich. Im Grundsatz geht es um die Menschen jenseits der üblichen allgemeinen Altersgrenzen.201
5. Rechte von Menschen mit Behinderung (Art 26 GRCh) 85 Dass auch Menschen mit Behinderung (zur Definition → Rn 69) einen Anspruch auf
volle eigenständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben und damit auf Ausgleich vorhandener Defizite im Sinne der Freiheitsermöglichung und nicht der Bevormundung, stellt eine neuere Entwicklung dar, die sich vor allem in der bereits erwähnten, der Auslegung von Art 26 GRCh heranzuziehenden Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen202 manifestiert. Im Übrigen gilt auch hier das bereits zu Art 25 GRCh Gesagte: Im Rahmen der Unionskompetenzen kommen diese
197 EuGH, Urt v 11.3.2021, Rs C-112/20, Rn 26 ff, 36 ff – M. A. 198 Siehe die Nachweise in Fn 196. 199 So die amtlichen Erläuterungen; siehe auch O’Cinneide, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, Rn 25.32 f. 200 Siehe auch EuG, Urt v 6.7.2016, Rs T-560/15 P, Rn 15 – LM/Kommission. 201 Weber, in: Stern/Sachs GRCh, Art 25 Rn 4; Jarass/Kment GR § 28 Rn 3; zurückhaltend demgegenüber jedoch O’Cinneide in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, Rn 25.36 f. 202 Dazu O’Brien in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, Rn 26.39.
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§ 9.2 Schutz der Gleichheit nach der GRCh
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Aussagen kaum zum Tragen. Zudem fordert Art 26 GRCh nur Anerkennung und Achtung, begründet also als solcher keine neuen Rechte.203 Wie die amtlichen Erläuterungen zur GRCh zeigen, beinhaltet die Norm einen Grundsatz, der kein subjektives Recht begründet.204 Immerhin enthält Art 153 I lit h) AEUV die Kompetenz für den Erlass von 86 Maßnahmen zugunsten von „aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen“. In diesem Sinne, wenn auch auf Art 19 AEUV gestützt, verpflichtet Art 5 RL 2000/78 die Arbeitgeber, „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen, um Menschen mit Behinderung die Teilnahme am beruflichen Leben zu ermöglichen. Die Erfüllung dieser Verpflichtung spielt für die Frage, wann eine Ungleichbehandlung wegen einer Behinderung gerechtfertigt werden kann, eine wichtige Rolle (→ Rn 70).
203 Mann/Ennuschat in: Stern/Sachs GRCh, Art 26 Rn 19, 24. 204 Siehe auch EuGH, Urt v 22.5.2014, Rs C-356/12, Rn 76 ff – Glatzel.
Claus Dieter Classen
§ 10 Bürgerrechte § 10.1 Gewährleistung von Bürgerrechten in der EMRK I. Bürgerrechte in der EMRK 1 Die meisten Garantien der EMRK sind von der Staatsangehörigkeit nicht abhängig,
also im Sinne der Terminologie der deutschen Verfassungslehre und des Unionsrechts keine Bürgerrechte, wenn auch einige der Menschenrechte für Ausländer beschränkt werden können: Art 16 EMRK zufolge sollen Meinungs-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit (Art 10 und 11 EMRK) sowie insoweit das akzessorische Diskriminierungsverbot (Art 14 EMRK) nicht so auszulegen sein, dass sie Beschränkungen der politischen Betätigung von Ausländern entgegen stehen. Das Unionsrecht hebt aus dem Bestand von Rechten, die im staatlichen Recht üblicherweise nur Staatsangehörigen in ganzem Umfang zustehen, Wahlrechte, Freizügigkeit und das Recht auf konsularischen Schutz auf die primärrechtliche Ebene (Art 21 ff AEUV, 39 f, 45 f GRCh). Im Rahmen der EMRK ist dagegen schon das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, nicht explizit an die Staatsangehörigkeit gebunden (Art 3 ZP 1).1 Das Freizügigkeitsrecht (Art 2 ZP 4) steht Personen zu, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhalten und scheint daher auf ausländische Staatsangehörige zugeschnitten. Eigenen Staatsangehörigen gesteht ZP 4 darüber hinaus nur ein völkerrechtliches Minimum zu, wie die Verbote der Aus- und Zurückweisung der eigenen Staatsangehörigen deutlich machen (Art 3 ZP 4).2 Ein Recht auf konsularischen Beistand gibt es in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen nicht. Das Wahlrecht (→ Rn 2 ff) und das Freizügigkeitsrecht (→ Rn 17 ff) sollen zunächst im Einzelnen betrachtet werden, bevor ihr bürgerrechtlicher Gehalt umschrieben und mit den Unionsbürgerrechten (→ Kadelbach § 10.2) verglichen werden kann (→ Rn 27 ff).
1 Das (erste) ZP zur EMRK v 20.3.1952, ETS Nr 9, BGBl 1956 II, 1879 trat am 18.5.1954 i Kr und ist für alle 46 Mitgliedstaaten des Europarates verbindlich. 2 ZP 4 EMRK v 16.9.1963, ETS Nr 46, BGBl 1968 II, 422 ist seit 2.5.1968 i Kr und bindet 42 Staaten des Europarates; Griechenland, die Schweiz, die Türkei und das Vereinigte Königreich sind ihm nicht beigetreten. Stefan Kadelbach https://doi.org/10.1515/9783110716740-028
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II. Wahlrecht Leitentscheidungen: EGMR (Pl), 9267/81, Urt v 2.3.1987, Ser A 113 – Mathieu-Mohin u Clerfayt; EGMR (GK) Urt v 18.2.1999, 24833/94, NJW 1999, 3107 – Matthews = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2; (GK), Urt 8.7.2008, 10226/03, Rep 2008-III – Yumak u Sadak; Urt v 19.10.2004, 17707/02, Rep 2004-X – Melnychenko; (GK), Urt v 6.10.2005, 74025/01, Rep 2005-IX – Hirst (Nr 2); (GK), Urt v 16.3.2006, 58278/00, Rep 2006IV – Ždanoka; (GK), Urt v 15.3.2012, 42202/07, Rep 2012-II – Sitaropoulos u Giakoumopoulos; (GK) Urt v 10.7.2020, 310/15 – Mugemangango; (GK) Urt v 22.12.2020, 14305/17 – Demirtaş (Nr 2). Schrifttum: Cremona The right to free elections in the European Convention on Human Rights, GS Ryssdal, 2000, S 309 ff; Ehm Der Schutz des Wahlrechts durch regionale Menschenrechtsgerichtshöfe, JöR 67 (2019), 233 ff; European Court of Human Rights Guide on Article 3 of Protocol No. 1 to the European Convention on Human Rights, Fassung v 31.8.2022; Mowbray Contemporary aspects of the promotion of democracy by the European Court of Human Rights, EPL 2014, 469 ff; Natale Le droit à des élections libres ou la construction d’un véritable ordre démocratique européen, RTDH 2006, 939 ff; Richter in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanz-Kommentar, 3. Aufl 2022, Kap 25.
1. Bedeutung Art 3 ZP 1 ist die einzige Bestimmung im Konventionsrecht, die einen unmittelbaren 2 Bezug zur demokratischen Verfasstheit der Mitgliedstaaten hat.3 Das mag ihre unpersönliche Formulierung erklären („Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in angemessenen Zeitabständen […] Wahlen […] abzuhalten“), doch handelt es sich, wie sich aus der Präambel und aus Art 5 ZP 1 klar ergibt, um ein subjektives Recht, das mit der Individualbeschwerde (Art 34 EMRK) vor dem EGMR geltend gemacht werden kann. Aus der Entstehungsgeschichte wird ersichtlich, dass ein bestimmtes Wahlsystem nicht vorgegeben werden sollte.4 Mehrheits- und Verhältniswahlrecht sind gleichermaßen konventionskonform. Art 3 ZP 1 ist als Mindeststandard (vgl Art 5 ZP 1 iVm Art 53 EMRK) und als Gewährleistung von Systemgerechtigkeit zu verstehen.
2. Anwendungsbereich Umfasst sind das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Das aktive und das 3 passive Wahlrecht setzen gleichermaßen voraus, dass es eine solche Vertretungskörperschaft auch gibt.5 Das Wahlrecht muss so ausgestaltet sein, dass es „die freie 3 Art 8 II, 9 II, 10 II und 11 II EMRK machen das, was „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, zum abstrakten Vergleichsmaßstab für Beschränkungen der im jew Abs 1 geschützten Rechte, beziehen sich aber nicht auf die konkrete Ausgestaltung der Demokratie in den Mitgliedstaaten. 4 Frowein/Peukert, EMRK, Art 3 ZP 1 Rn 6. 5 Frowein/Peukert, EMRK, Art 3 ZP 1 Rn 2. Stefan Kadelbach
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Äußerung der Meinung des Volkes“ gewährleistet, darf also nicht zu Verfälschungen des Wählerwillens führen. Auch muss eine hinreichende Pluralität der Parteienlandschaft gewährleistet sein, damit von einer „Wahl“ und einer repräsentativen „Äußerung der Meinung des Volkes“ die Rede sein kann.6 Die Zulassung von Parteien darf also nicht zu strengen Kriterien unterworfen sein, Parteiverbote müssen strengen Voraussetzungen unterliegen. Das passive Wahlrecht zieht auch gewisse Anforderungen an die Voraussetzungen für eine Kandidatur und die Rechte der Gewählten in der Vertretung nach sich, der sie angehören. Dazu gehören die freie Ausübung des Mandats und andere Abgeordnetenrechte.7 Dies alles bedarf eines hinreichenden gesetzlichen Rahmens.8 4 Derartige Vertretungskörperschaften sind solche, die an der Gesetzgebung zumindest mitwirken. Sind mehrere Staatsorgane an ihr beteiligt, muss zumindest eine der gesetzgebenden Körperschaften in einer Weise konstituiert sein, die Art 3 ZP 1 entspricht. Dass weitere Organe daran beteiligt sind, wie im deutschen Recht auf Bundesebene außer dem Bundestag die Bundesregierung, der Bundesrat und der Bundespräsident, ist also offensichtlich unschädlich.9 Bestehen auf regionaler Ebene Parlamente (wie in Deutschland die Landtage), müssen auch sie Art 3 ZP 1 entsprechen.10 Auch das Europäische Parlament ist eine gesetzgebende Körperschaft in diesem Sinne, so dass – zumal mangels unmittelbarer Bindung der EU an die EMRK – die Mitgliedstaaten für das Europawahlrecht verantwortlich sind.11 Dagegen sollen kommunale Vertretungen nicht in den Schutzbereich fallen, wenn sie nur abgeleitete Rechtsetzungskompetenzen besitzen;12 dies entspräche im deutschen Recht der traditionellen Vorstellung, sie als unterstützendes Legitimationsorgan der mittelbaren Staatsverwaltung anzusehen.13 Ebenfalls nicht dem Wahl-
6 EGMR, Entsch v 7.6.2001, 56618/00, Rep 2001-VI – Federación Nacionalista Canaria. 7 EGMR (GK), Urt v 22.12.2020, 14305/17, §§ 389, 391 – Demirtaş (Nr 2). 8 EGMR, Urt v 24.5.2016, 41683/06, § 61 – Paunović u Milivojević. 9 Arndt in: Karpenstein/Meyer, EMRK, Art 3 ZP 1 Rn 4. 10 Vgl EKMR, Entschv 11.9.1995, 27311/95, DR 82-A, 158 – Timke; EGMR, Urt v 1.7.2004, 36681/97, Rep 2004-VI, § 52 – Santoro. 11 EGMR (GK), Urt v 18.2.1999, 24833/94, NJW 1999, 3107 – Matthews = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2; Entsch v 12.11.2013, 14507/07, § 42 – Occhetto. 12 EGMR, Entsch v 11.4.2006, 56550/00, Rep 2006-IV – Mółka; die sachfremd diskriminierende Nichtzulassung zur Kommunalwahl kann aber eine Verletzung des allgemeinen, dh anders als Art 14 EMRK nicht akzessorischen Diskriminierungsverbotes gem Art 1 ZP 12 EMRK (v 4.11.2000, ETS Nr 177, i Kr seit 4.11.2005, 20 Mitgliedstaaten, von Deutschland nicht ratif) sein, s EGMR, Urt v 21.10.2021, 24919/16 – Selgynenko. 13 Vgl BVerfGE 65, 283 (289); diff Richter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 25 Rn 53, die auf die Autonomie der gewählten Körperschaft abstellt. Stefan Kadelbach
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recht des Art 3 ZP 1 zugeordnet wurden bisher die Wahl zum Staatsoberhaupt14 und das Mitwirkungsrecht an Referenden.15 Dem ist angesichts des klaren Wortlautes der Garantie zuzustimmen, solange es nicht um die Konstituierung einer gesetzgebenden Körperschaft oder einen vergleichbaren, in regelmäßigen Abständen sich vollziehenden Beitrag zur politischen Willensbildung geht. Personell berechtigt ist das „Volk“, was sich so auffassen lässt, dass die wahl- 5 berechtigten Staatsangehörigen gemeint sind, ähnlich wie unter dem „Volke“ iSd Art 20 I GG das Staatsvolk verstanden wird.16 Zwingend ist dies aber nicht.17 Aus Art 3 ZP 1 ergibt sich zwar keine Verpflichtung, ausländischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz im Inland das Wahlrecht einzuräumen.18 Soweit das Wahlrecht auch Gebietsansässigen zusteht, müssen für sie aus Art 3 ZP 1 aber dieselben Rechte gelten wie für die eigenen Staatsangehörigen. Deshalb fallen die Unionsbürger auch dann in den personellen Schutzbereich, wenn sie ihr Wahlrecht zum Europäischen Parlament, wie in Art 22 II AEUV garantiert, an ihrem Auslandswohnsitz ausüben. Eine andere Frage ist es, inwieweit eine Verpflichtung besteht, für ausländische Staatsangehörige die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Stimme zu Wahlen im Herkunftsland abzugeben. Gibt es entsprechende Einrichtungen und Verfahren, müssen sie auch in einer Art 3 ZP 1 entsprechenden Weise genutzt werden können;19 eigens geschaffen werden müssen sie aber dem EGMR zufolge nicht.20 Als nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe (vgl Art 34 EMRK) kön- 6 nen politische Parteien Verletzungen des passiven Wahlrechts geltend machen, wenn ihnen im jeweiligen Wahlsystem eine Rolle bei der staatlichen Willensbildung (wie nach Art 21 GG) zukommt.21 Allerdings hat der EGMR Parteiverbote, wenn sie nicht zum Verlust von Abgeordnetenmandaten und damit zu einem Eingriff in das
14 EGMR, Urt v 6.11.2011, 34932/04, Rep 2011-I, § 72 – Paksas. 15 Für den EGMR kommt es auf die Art des Referendums an; ist es nicht als regelmäßiger Beitrag zum Willensbildungsprozess zu verstehen, scheidet eine Anwendung des Art 3 ZP 1 aus, s EGMR, Entsch v 13.6.2017, 22962/15 ua, § 42 – Moohan u Gillon (schottisches Unabhängigkeitsreferendum); Entsch v 21.11.2017, 48818/17, Rn 33, 37 ff – Cumhuriyet Halk Partisi (türkisches Verfassungsreferendum); Entsch v 7.5.2019, 75147/17 – Forcadell i Lluis (katalonisches Unabhängigkeitsreferendum). 16 BVerfGE 83, 37 (Ausländerwahlrecht in Schleswig-Holstein); 83, 60 (Hamburg); s a Brem StGH, NVwZ-RR 2014, 497; zum Volksbegriff des Art 3 ZP 1 eingehend Thienel FS Öhlinger, 2004, 356 ff. 17 Vgl auch Richter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 25 Rn 18, 77. 18 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23, § 106. 19 EGMR, Urt v 13.10.2015, 48555/10 ua, §§ 153 ff – Riza. 20 EGMR (GK), Urt v 15.3.2012, 42202/07, Rep 2012-II, § 71 – Sitaropoulos u Giakoumopoulos. 21 EGMR, Urt v 11.1.2007, 55066/00 ua, §§ 53 ff – Russian Conservative Party of Entrepreneurs; Urt v 8.7.2008, 9103/04, Rep 2008-IV, § 72 – Georgian Labour Party.
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passive Wahlrecht führen, zunächst am Vereinigungsrecht (Art 11 EMRK) gemessen;22 eine gleichzeitige Verletzung des Art 3 ZP 1 schließt dies aber nicht aus.23 7 Der sachliche Anwendungsbereich des Art 3 ZP 1 umfasst teils Freiheits-, teils Gleichheitsrechte. Freiheitsrechte richten sich auf das Bestehen und die Modalitäten der Wahl, Gleichheitsrechte sind dem Wahlrecht immanent. Mag die individualrechtliche Gewährleistung des Art 3 ZP 1 somit insgesamt weitgehend Art 38 I GG entsprechen,24 so fehlt es ihr auf der anderen Seite an einer vergleichbaren staats- und statusrechtlichen Dimension. So gehört auch die Unmittelbarkeit der Wahl nicht zum Gewährleistungsgehalt, weil die Zwischenschaltung von Wahlleuten eine Frage des Systems ist; solange sie nicht die Befugnis haben, sich aus eigener Entscheidung über das Mandat der Wählerschaft hinwegzusetzen, ist auch Art 3 ZP 1 nicht berührt.25 8 Das Wahlrecht muss sich „in angemessenen Abständen“ äußern können und „frei und geheim“ sein. Für die Beurteilung, welche Wahlperioden „angemessen“ sind, steht den Staaten ein Beurteilungsspielraum zu, für dessen Grenzen Erfahrungswerte herangezogen werden können. Legislaturperioden von vier oder fünf Jahren sind allgemein üblich,26 doch können diese bei instabilen Verhältnissen auch kürzer ausfallen. Frei ist die Wahl, wenn die Wahlberechtigten keinem Druck und keinen Drohungen ausgesetzt sind, was ggf Sicherungen des Wahlvorgangs erforderlich macht.27 Das gilt auch für die Geheimheit; es muss die Möglichkeit geben, ungestört und ohne Einsichtnahme durch Dritte die Stimme abzugeben. Für die äußeren Umstände einer korrekten Wahl bezieht sich der EGMR auf den Code of Good Practices in Electoral Matters der Venedig-Kommission.28 9 Nicht ausdrücklich gewährleistet sind die Gleichheit und Allgemeinheit der Wahl, doch liegen sie dem Recht zu wählen und gewählt zu werden zugrunde. Dazu gehört vor allem die Zählwertgleichheit („one man, one vote“). Die Dogmatik der Erfolgswertgleichheit des deutschen Verfassungsrechts ist mit den Anforderungen des Art 3 ZP 1 vielleicht nicht in jeder Hinsicht identisch, bietet aber Anhaltspunkte, wie aus der Rspr zu Sperrklauseln ersichtlich wird (→ Rn 15). Dass es nach jedem Wahlrecht Stimmen gibt, die auf das Ergebnis ohne Einfluss bleiben, ist daher nicht per
22 Vgl bspw EGMR (GK), Urt v 13.2.2003, 41340/98 ua, Rep 2003-II, § 139 – Refah Partisi. 23 EGMR, Urt v 12.1.2016, 3840/10 ua, §§ 119 ff – Parti pour une Société Démocratique (DTP). 24 S a Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 104 (mit Art 38 I 1 GG weitgehend deckungsgleich); ausf Vergleich bei Richter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 25 Rn 14 ff, 24, 35. 25 S aber EGMR, Urt v 11.1.2007, 55066/00 ua, § 70 – Russian Conservative Party of Entrepreneurs; Urt v 30.5.2017, 75947/11, § 285 – Davydov (“direct elections”). 26 EKMR, Entsch v 11.9.1995, 27311/95, DR 82-A, 158 (160) – Timke (fünfjährige Wahlperiode in Niedersachsen). 27 EGMR, Urt v 25.9.2014, 12535/06, §§ 39 ff – Karimov. 28 Ebd, § 39; s. Venice Commission Code of Good Practices in Electoral Matters, CDL-AD (2002) 23 rev.
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se unzulässig.29 Nicht alles, was nach deutschem Recht ein Gleichheitsproblem wäre, wird hingegen auf Konventionsebene so eingeordnet; die Berücksichtigung bei der Vergabe von Sendezeiten in Rundfunk und Fernsehen etwa, die nach § 5 I PartG unter die Chancengleichheit der Parteien fällt, ist nach der Rspr des EGMR auf Konventionsebene anscheinend eher eine Frage des Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art 10 EMRK).30 Allerdings wird ein Mindestmaß an Neutralität der Berichterstattung in den staatlichen Medien Art 3 ZP 1 zugerechnet.31 In der Summe ist alldies der Ausformung der Chancengleichheit durch die deutsche verfassungsgerichtliche Rspr nicht vergleichbar.32
3. Beeinträchtigungen Beeinträchtigungen können in Eingriffen, in Ungleichbehandlungen oder in einem 10 Zurückbleiben hinter Schutzpflichten liegen. Zu den Eingriffen gehören nahe liegender Weise der Ausschluss oder der Ent- 11 zug des Wahlrechts, etwa aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe,33 der Mitgliedschaft in einer bestimmten Partei,34 eines nicht vorgelegten Sprachnachweises,35 eines Auslandswohnsitzes,36 einer Insolvenz,37 der Anordnung einer Betreuung38 oder der gerichtlichen Verurteilung wegen einer Straftat39. Für das passive Wahlrecht kommen die Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst,40 der Nachweis von Vermögen und Einkommen,41 Sicherheitsleistungen,42 ein Mindest-
29 EGMR (Pl), Urt v 2.3.1987, 9267/81, Ser A 113, § 54 – Mathieu-Mohin u Clerfayt. 30 Offen gelassen in EGMR, Urt v 15.4.2014, 28881/07, §§ 73 ff – Oran (kein Recht eines unabh Kandidaten auf Sendezeiten, solange er sich sonst frei äußern kann). 31 EGMR, Urt v 19.6.2012, 29400/05, §§ 79, 123 ff mwN – Communist Party of Russia. 32 Richter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 25 Rn 47. 33 EGMR, Urt v 22.6.2004, 69949/01, Rep 2004-V, §§ 28 f – Aziz (türk Minderheit in Zypern); (GK), Urt v 22.12.2009, 27996/06 ua, Rep 2009-VI, §§ 48 f – Sejdić u Finci (Wahlsystem in Bosnien-Herzegowina). 34 EGMR (GK), Urt v 16.3.2006, 58278/00, Rep 2006-IV, §§ 119 ff – Ždanoka. 35 EGMR, Urt v 9.4.2002, 46726/99, Rep 2002-II, § 34 – Podkolzina. 36 EGMR, Entsch v 7.9.1999, 31981/96, Rep 1999-VI – Hilbe; (GK), Urt v 15.3.2012, 42202/07, Rep 2012-II, §§ 69, 75 ff – Sitaropoulos u Giakoumopoulos. 37 EGMR Urt v 23.3.2006, 77924/01, §§ 48 f – Albanese. 38 EGMR, Urt v 20.5. 2010, 38832/06, §§ 42 ff – Kiss; Urt v 11.5.2021, 43564/17, §§ 59 ff – Camaaño Valle. 39 EGMR (GK), Urt v 6.10.2005, 74025/01, Rep 2005-IX, §§ 63 ff – Hirst (Nr 2). 40 EGMR, Urt v 1.7.1997, 18747/91 ua, §§ 40 f – Gitonas; Urt v 2.9.1998, 22954/93, Rep 1998-VI, § 75 – Ahmed. 41 EGMR, Urt v 19.10.2004, 17707/02, Rep 2004-X, §§ 63 ff – Melnychenko. 42 EGMR, Urt v 28.3.2006, 13716/02, Rep 2006-VI, §§ 69 ff – Sukhovetskyy.
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quorum an Unterschriften43 oder andere Zulassungshindernisse in Frage. Auch die Hinderung an der Ausübung des Mandates ist ein Eingriff, sei es durch einen Ausschluss44 oder durch die Inhaftierung gewählter Volksvertreter45. 12 Ungleichbehandlungen werden in der Rspr wie Eingriffe behandelt. Sie ergeben sich zum einen aus Differenzierungen, die dem jeweiligen Wahlsystem immanent sind, etwa wenn Stimmen aus Gründen der mathematischen Projektion der Ergebnisse einer Verhältniswahl am Ende ungleiche Erfolgswerte mit sich bringen. Zum anderen können aber auch festgelegte Kriterien zu sachwidrigen Benachteiligungen bestimmter Personengruppen führen. Eine dogmatische Grenze zwischen Eingriffen und Diskriminierungen lässt sich nicht immer ziehen. Sieht man eine Differenzierung anhand eines festgelegten Mindestalters nicht nur als bloße Ausgestaltung an, lässt sie sich als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff (Ausschluss einer Altersgruppe vom Wahlrecht)46 oder als Ungleichbehandlung einordnen. Wird die Verwendung verbotener Differenzierungskriterien gerügt, ist Art 3 ZP 1 zusammen mit dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK zu prüfen.47 13 Da die Mitgliedstaaten auch Schutzpflichten unterliegen und dazu verpflichtet sind, institutionelle Vorkehrungen zur Durchführung freier Wahlen zu treffen, kann Art 3 ZP 1 auch verletzt sein, wenn Defizite im Wahlsystem aufrechterhalten oder Störungen von privater Seite oder durch einen auswärtigen Staat nicht unterbunden werden.48 Die nähere Ausgestaltung ist jedoch sehr weitgehend den Konventionsstaaten überlassen.49
4. Schranken 14 Einen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt enthält Art 3 ZP 1, im Gegensatz zu
vielen anderen Garantien der EMRK, nicht, und die Schranken der Art 8 bis 11 EMRK sind auf ihn nicht übertragbar. Die Rspr hat aber „implizite Schranken“ aufgestellt, welche die Konventionsstaaten innerhalb des ihnen zustehenden Gestaltungsspielraums beachten müssen.50 Beschränkungen des aktiven Wahlrechts un-
43 EGMR, Urt v 11.7.2019, 28508/11 ua, § 98 – Abdalov. 44 EGMR, 33554/03, Urt 15.6.2006, Rep 2006-VIII, §§ 56 f – Lykourezos. 45 EGMR (GK), Urt v 22.12.2020, 14305/17, §§ 394 ff – Demirtaş (Nr 2). 46 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 23 Rn 111. 47 S bspw EGMR (GK), Nr 27996/06 ua, Rep 2009-VI, §§ 39 ff – Sejdić u Finci. 48 Zu Interventionen Privater Richter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 25 Rn 71. 49 Zur Pflicht einer Privilegierung nat Minderheiten abl EGMR, Urt v 28.1.2016, 65480/10, NVwZ 2017, 945, §§ 38 ff – Partei Die Friesen. 50 Grundlegend EGMR (Pl), Urt v 2.3.1987, 9267/81, Ser A 113, § 52 – Mathieu-Mohin u Clerfayt.
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terliegen dabei grundsätzlich strengeren Anforderungen als solche des passiven Wahlrechts.51 Eingriffe können danach gerechtfertigt sein, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und dem Interesse der Integrität des Wahlvorgangs und der Verwirklichung der freien Willensbildung dienen. Für das passive Wahlrecht gilt eine Willkürgrenze, während Beeinträchtigungen des aktiven Wahlrechts am Verhältnismäßigkeitsgebot zu messen sind. Von Willkür ist bspw auszugehen, wenn Parteien oder Kandidaten in undurchsichtiger Weise von der Wahl ausgeschlossen52 oder Kriterien für die Zulassung zur Wahl so kurzfristig eingeführt werden, dass sie nicht mehr rechtzeitig erfüllt werden können.53 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit von Beschränkungen des aktiven Wahlrechts wird insbesondere überprüft, ob diese einem legitimen Ziel dienen, innerhalb eines hinreichenden Rahmens organisatorischer und verfahrensrechtlicher Vorkehrungen liegen und angemessen sind. Wird etwa Strafgefangenen pauschal und ohne Würdigung des Einzelfalles (Höhe der Haftstrafe, Art und Schwere des Delikts, Dauer des Entzuges) das aktive Wahlrecht aberkannt, stellt dies eine Verletzung dar,54 ebenso der Verlust beim bloßen Verdacht der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation55 oder der Unterstellung unter Polizeiaufsicht56. Die Entscheidung des EuGH im Fall Delvigne, die den Entzug des Wahlrechts in einem Fall strafrechtlicher Verurteilung für verhältnismäßig erachtete (→ Kadelbach § 10.2 Rn 66), dürfte diesen Leitlinien entsprechen.57 Ansonsten kann es auf die Eigenheiten des jeweiligen Staates ankommen. Den Ausschluss der Wählbarkeit wegen Zugehörigkeit zu einer Partei, deren Mitglieder den Wiedereintritt Lettlands in den russischen Staatsverband propagierten, hat der EGMR bspw mit Rücksicht auf die Geschichte des Landes zum Schutz der demokratischen Ordnung aufrechterhalten.58
51 EGMR, Urt v 19.10.2004, 17707/02, Rep 2004-X, § 57 – Melnychenko; (GK), Urt v 16.3.2006, 58278/00, Rep 2006-IV, §§ 106 ff – Ždanoka. 52 EGMR, Urt v 8.11.2016, 18860/07, §§ 79 ff – Yabloko Russian United Democratic Party; Urt v 5.12.2019, 8513/11, § 77 ff – Abil (Nr 2); Urt v 4.8.2020, 5113/15 ua, §§ 35 ff – Political Party „Patria“. 53 EGMR, Urt v 21.4.2015, 16632/09, §§ 45 ff – Danis. 54 EGMR (GK), Urt v 6.10.2005, 74025/01, Rep 2005-IX, §§ 77 ff – Hirst (Nr 2); zu Wahlen zum Europäischen Parlament EGMR, Urt v 23.11.2010, 60041/08 ua, Rep 2010-VI, Rn 76 ff – Greens; Übersicht z umf Rspr European Court of Human Rights Fact Sheet Prisoners‘ Right to Vote, 2022; ders Guide on Article 3 of Protocol No. 1 to the European Convention on Human Rights, 2022, Rn 24 ff; ferner Pabel, ÖJZ 2005, 550 ff; Baade, AVR 51 (2013), 339 ff; Mowbray, EPL 2014, 469 (491). 55 EGMR (GK), Urt v 6.4.2000, 26772/95, Rep 2000-IV, § 203 – Labita. 56 EGMR, Urt v 1.7.2004, 36681/97, Rep 2004-VI, §§ 55 ff – Santoro. 57 EuGH, Urt v 6.10.2015, Rs C-650/13 – Delvigne. 58 EGMR (GK), Urt v 16.3.2006, 58278/00, Rep 2006-IV, § 133 – Ždanoka.
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Entsprechendes gilt für Ungleichbehandlungen, wenn es einen sachlichen Grund für sie gibt.59 So können Sperrklauseln zulässig sein, wenn sie der Arbeitsfähigkeit der Parlamente dienen und nicht zu hoch angesetzt sind.60 Das gilt auch für die Wahlen zum Europäischen Parlament, für die das BVerfG eine 5- oder 3 %Hürde für verfassungswidrig befunden hat.61 Eine europäische Sperrklausel, wie sie die neuen unionsrechtlichen Vorgaben für das Europawahlrecht vorsehen,62 dürfte danach keinen Bedenken begegnen. Angesichts der unterschiedlich großen Mitgliedstaaten und der nach wie vor verschiedenen Wahlverfahren sind die vorgesehenen Spielräume für dessen Umsetzung (2 bis 5 %) unproblematisch.63 Mindestquoten für die Repräsentanz von Frauen, um ein anderes Beispiel zu wählen, können im Interesse der demokratischen Legitimität gerechtfertigt sein.64 Umgekehrt verstößt der Ausschluss von Frauen von Listen bestimmter Parteien, und sei es aus religiösen Motiven, gegen das Diskriminierungsverbot und unterliegt daher einem besonders strengen Prüfungsmaßstab; dass das Wahlrecht hierdurch verletzt wird, ist offensichtlich.65
5. Verfahren und Rechtsschutz 16 Unregelmäßigkeiten können das aktive und das passive Wahlrecht gleichermaßen
verletzen und müssen überprüft werden können. Daher gehört zum Gewährleistungsgehalt des Art 3 ZP 1 auch die verfahrensmäßige Absicherung des gesamten Wahlvorgangs in allen Phasen, vom Wahlkampf bis zur Ausübung des Mandats.66 Dies schließt geordnete Zulassungsverfahren zu den Wahlen, den Schutz ihrer ordnungsgemäßen Durchführung und die Möglichkeit, ein Wahlergebnis durch eine unabhängige Wahlprüfungskommission oder nötigenfalls durch ein Gericht kon-
59 Richter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 25 Rn 126. 60 Kaum haltbar EGMR (GK), Urt 8.7.2008, 10226/03, Rep 2008-III, § 147 – Yumak u Sadak (10 %-Hürde unverhältnismäßig, aber ausnahmsweise zulässig); ohne weiteres zul die üblichen Sperrklauseln, s EGMR, Urt v 29.11.2007, 10547/07 ua – Partija „Jaunie Demokrati“ (5 %-Hürde). 61 EGMR, Entsch v 5.7.2016, 28811/12 ua, §§ 34 ff – Strack u Richter (3 %-Hürde); s aber BVerfGE 129, 300 = JK 2012, GG Art 21/7 (5%-Klausel); BVerfGE 135, 259 (3 %-Klausel). 62 Art 3 II Beschl 2018/994 zur Änderung des Wahlaktes zum EP, ABl 2018 Nr L 178/1. 63 Arndt in: Karpenstein/Meyer, EMRK, Art 3 ZP 1 Rn 35 ff. 64 EGMR, Entsch v 12.11.2019, 54893/18, §§ 35 ff – Zevnik; zu Recht zust Richter in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 25 Rn 93. 65 S EGMR, Entsch v 10.7.2012, 58369/10, §§ 73 ff – Staatkundig Gereformeerde Partij. 66 Vgl EGMR, Urt v 2.3.2010, 78039/01, Rep 2010-II, §§ 47 ff – Grosaru; Urt v 8.4.2010, 18705/06, § 81 – Aliyev; Urt v 21.5.2019, 58302/10 – G/Belgien.
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trollieren zu lassen, ein.67 Bei begründeten ernsten Zweifeln muss auch die Möglichkeit einer erneuten Stimmauszählung bestehen.68
III. Freizügigkeit Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 22.2.1994, 12954/87, Ser A 281-A – Raimondo; Urt v 27.4.1995, Ser A 314 – Piermont; (GK) Urt v 6.4.2000, 26772/95, Rep 2000-IV – Labita; Urt v 22.5.2001, 33592/96, Rep 2001-V – Baumann; Nr 14139/03, Rep 2006-XI – Bolat; Nr 1509/02, Rep 2007-I – Tatishvili; Urt v 20.4.2010, Nr 19675/06 – Villa; (GK) Urt v 6.11.2017, Nr 43494/09 – Garib. Schrifttum: Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanz-Kommentar, 3. Aufl. 2022, Kap 26; Hofmann Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht, 1988; PotvinSolis, Libertés fondamentales de circulation et autonomie locale et régionale dans l’Union européenne: pour une approche de droit constitutionnel européen, RDUE 2016, 579 ff; Rosenmayr Das Recht auf persönliche Freiheit und Freizügigkeit bei der Einreise von Ausländern, EuGRZ 1988, 153 ff; Zölls Das Verbot der Kollektivausweisung nach Art 4 Protokoll Nr 4 EMRK, 2021.
1. Bedeutung Ebenso wie das Wahlrecht, die Berufsfreiheit und das Recht auf Eigentum ist das 17 Freizügigkeitsrecht noch nicht Teil der EMRK selbst. Nach bis in die 50er Jahre zurückreichenden Vorarbeiten wurde es nach dem Vorbild des Art 12 IPbpR69 in das ZP 4 von 1963 aufgenommen, als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Staaten des Europarates konsolidiert hatten und die innereuropäische Arbeitsmigration einsetzte. Dazu passt es, dass es, anders als nach seinem Wortlaut Art 11 I GG, nicht nur den eigenen Staatsangehörigen der Konventionsstaaten zugutekommt, sondern allen Personen, die sich rechtmäßig im Inland aufhalten. Die Garantie ist auch insofern weiter gefasst, als sie die Ausreisefreiheit einschließt (Art 2 II ZP 4), die nach deutschem Verständnis nur durch das Auffanggrundrecht des Art 2 I GG geschützt wird.70 An die historische Bedeutung der Ausreisefreiheit und ihrer Verweigerung haben die Urteile des EGMR zur strafrechtlichen Verantwortung für den sog Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze erinnert.71 Aus Art 3 ZP 4, der in engem Zu-
67 Zur Überprüfung EGMR, Urt v 30.5.2017, 75947/11, §§ 274, 288 – Davydov; (GK), Urt v 10.7.2020, 310/ 15, §§ 94 ff – Mugemangango. 68 EGMR, Urt v 30.9.2010, 20799/06, § 49 – Kerimova. 69 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v 19.12.1966, BGBl 1973 II, 1534. 70 BVerfGE 6, 32 (34 ff) – Elfes. 71 EGMR (GK), Urt v 22.3.2001, 34044/96 ua, Rep 2001-II, §§ 98, 100 – Streletz ua; Urt v 22.3.2001, 37201/ 97, Rep 2001-II, § 100 – K.-H. W.
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sammenhang mit Art 2 ZP 4 steht, ergibt sich ferner ein Ausweisungsverbot aus dem und ein Rückkehrrecht in das Staatsgebiet des Herkunftsstaates.
2. Anwendungsbereich 18 Ähnlich wie im Verhältnis zwischen Art 11 I und 2 II 2 GG stellt sich die Frage der
Abgrenzung zur persönlichen Freiheit, die in Art 5 EMRK gewährleistet wird (→ Grabenwarter/Struth § 11.1). Auch im Konventionsrecht ist zwischen der „großen“ und der „kleinen“ Bewegungsfreiheit zu unterscheiden. Der Anwendungsbereich des Art 5 EMRK ist betroffen, wenn nach Art, Dauer, Wirkungen und Durchsetzung der beschränkenden Maßnahme keine Bewegungsfreiheit mehr besteht.72 Die Unterbringung auf dem streng bewachten Teil einer Insel ist danach eine Freiheitsentziehung nach Art 5 EMRK, während die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf das – nicht notwendig größere – Gebiet einer Gemeinde Art 2 ZP 4 unterfällt.73 Art 2 ZP 4 ist gegenüber Art 5 EMRK die subsidiäre Garantie.74 Unklar ist, ob Art 2 ZP 4 wirtschaftliche Begleitrechte umfasst, also die Freizügigkeit auch mit dem Ziel schützt, am gewählten Wohnsitzort einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dafür könnte sprechen, dass die EMRK und ihre Zusatzprotokolle die Berufsfreiheit nicht ausdrücklich einschließen, so dass insofern eine Lücke besteht. Allerdings war der Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und Aufenthalt im EU-Recht historisch ein anderer, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer oder die Ausübung selbständiger Berufe ist ohne Bewegungsfreiheit und Aufenthaltsrecht nicht zu verwirklichen (vgl Art 45 III lit b und c AEUV). Zumindest wird man aber sagen können, dass Trägern dieser Freiheit nicht ohne weiteres die wirtschaftliche Grundlage des Freizügigkeitsrechts genommen werden kann, so dass derartige Maßnahmen an den Schranken des Art 2 III ZP 4 zu messen sind.75 19 Der sachliche Schutzbereich des Art 2 ZP 4 ist in drei Freiheiten untergliedert, die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit auf den Territorien der Mitgliedstaaten, soweit dort ein Recht auf Aufenthalt besteht (Art 2 I ZP 4), und die Ausreisefreiheit (Art 2 II ZP 4). Mit der Bewegungsfreiheit ist sowohl die Reisefreiheit gemeint als auch das Recht, jeden öffentlich zugänglichen Ort aufzusuchen oder zu meiden. An die Sesshaftigkeit, dh an einen festen Wohnsitz, ist sie nicht gebunden. Die Nieder-
72 EGMR, Urt v 20.4.2010, 19675/06, Rn 41 – Villa; Rosenmayr, EuGRZ 1988, 153 ff. 73 Zu Art 5 EMRK s EGMR (Pl), Urt v 6.11.1980, 7367/76, Ser A 39, §§ 96 ff – Guzzardi; Abgrenzung bspw in EGMR (GK), Urt v 23.2.2017, 43395/09, § 85 – De Tommaso. 74 Gerards in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 5. Aufl 2018, S 933 (937). 75 Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 26 Rn 41.
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lassungsfreiheit besteht in dem Recht, den Wohnsitz frei zu wählen und sich dort für die Dauer der Aufenthaltsberechtigung aufzuhalten; dies kann auch ein Zweitwohnsitz, etwa eine Ferienwohnung sein.76 Der Zwang, seinen Wohnsitz aufzugeben, unterfällt gleichfalls dem Schutzbereich, so dass Zwangsumsiedelungen aus raumplanerischen Gründen an ihm zu messen sind.77 Die Ausreisefreiheit schließt das Recht ein, den Zielort zu bestimmen, sofern der in Aussicht genommene Staat dies gestattet;78 auch vorübergehende Aufenthalte wie Urlaubsreisen sind umfasst.79 Offen ist, ob die Ausreisefreiheit so weit reicht, dass sie auch Rückrufe, etwa in Krisensituationen, einschließt.80 Ein Recht auf Einreise oder Rückkehr gewährt Art 2 ZP 4 ausländischen Staatsangehörigen hingegen, anders als das EU-Recht (Art 21 AEUV), nicht.81 Auch hat die Ausreisefreiheit keine negative Seite, so dass ausländische Staatsangehörige, deren Aufenthaltsrecht nicht mehr besteht, aus ihm im Regelfall kein eigenständiges Recht auf Verbleib ableiten können.82 In denselben Zusammenhang gehören die Aus- und Zurückweisungsverbote 20 der Art 3 und 4 ZP 4, die aber als eigenständige Garantien gefasst und als solche geltend zu machen sind (Art 6 ZP 4, Art 34 EMRK). Ein Recht auf Wiedereinreise in den eigenen Staat statuiert Art 3 II ZP 4, welcher der allgemeinen völkerrechtlichen Pflicht, aus dem Ausland zurückkehrende Staatsangehörige wieder aufzunehmen,83 eine subjektivrechtliche Seite verleiht. Vergleichbares wie für das Einreiserecht gilt für das Verbleiberecht: Fremden Staatsangehörigen verschafft das ZP 4 aus sich heraus kein Recht auf eine bestimmte Aufenthaltsdauer, Art 3 I ZP 4 untersagt aber die Ausweisung (anders als Art 16 II GG nicht die Auslieferung) aus dem eigenen Staat. Auch wenn die EMRK und das ZP 4 kein Recht auf Staatsangehörigkeit garantieren,84 wäre eine Aberkennung der Staatsangehörigkeit zu Zwecken der Ausweisung doch eine Umgehung und damit konventionswidrig.85 Ausländer sind allein
76 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 60. 77 EGMR, Entsch v 25.5.2000, 46346/99, Rep 2000-VI, § 4 – Noack (Braunkohletagebau), wenn der Eingriff auch für gerechtfertigt erklärt wurde. 78 EGMR, Urt v 22.5.2001, 33592/96, Rep 2001-V, § 61 – Baumann. 79 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 61. 80 Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 26 Rn 74. 81 S Council of Europe, Explanatory Report to Protocol 4 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms v 16.9.1963, ETS No 46, Rn 8; Frowein/Peukert, EMRK, Art 2 ZP 4 Rn 2. 82 Vgl EGMR, Urt v 27.4.1995, 15773/89 u 15774/89, Ser A 314, §§ 43 f – Piermont. 83 Vgl EuGH, Rs 41/74, Slg. 1974, 1337, §§ 21/23 – van Duyn. 84 EGMR (GK), Urt v 9.10.2003, 48321/99, Rep 2003-X, § 77 – Slivenko. 85 So auch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 69; Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 26 Rn 99; auch eine Verletzung des Art 8 EMRK kommt in Betracht, s EGMR (GK), Urt v 12.3.2014, 26828/06, Rep 2012-IV, §§ 339 ff, 386 ff – Kurić.
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vor Kollektivausweisungen geschützt (Art 4 ZP 4), womit nicht größere Zahlen von Menschen, sondern Ausweisungen ohne Würdigung des Einzelfalles gemeint sind (→ Rn 26).86 Für Unionsangehörige geht der Schutz nach dem Recht der EU also deutlich weiter, da es deren Ausweisung nur aus gewichtigen Gründen erlaubt (Art 45 III, 52 AEUV, Art 27 ff RL 2004/38, → Kadelbach § 10.2 Rn 48 ff). 21 Von Bedeutung ist angesichts der flüchtlingsrechtlichen Implikationen des Art 2 ZP 4 dessen territorialer Anwendungsbereich. Er bezieht sich auf das „Hoheitsgebiet eines Staates“, wozu im Ausland belegene Botschafts- und Konsulargrundstücke nicht gehören.87 Außer der Landfläche sind auch die Meereszonen umfasst, die zum Territorium gehören, dh nicht nur die inneren Gewässer, sondern auch das bis zu 12 sm reichende Küstenmeer und der darüber liegende Luftraum. Die Anschlusszone von weiteren 12 sm gehört ebenfalls in den Geltungsbereich, da die Küstenstaaten dort einwanderungsrechtliche Hoheitsakte erlassen können.88 Transitzonen, wie es sie in Häfen und auf Flugplätzen gibt, gehören zwar ebenfalls zum Territorium, doch ist der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsrechts erst erreicht, wenn einer Person („rechtmäßig“, Art 2 I ZP 4) das Betreten des Staatsgebietes erlaubt wurde, sie also die Grenzformalitäten hinter sich gelassen hat. Der Schutz vor Kollektivausweisungen gem Art 4 ZP 4 geht insoweit weiter, als er von der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht abhängig ist (→ Rn 26). 22 In den personellen Schutzbereich fallen alle natürlichen Personen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates aufhalten. Das sind neben den eigenen Staatsangehörigen auch Ausländer mit Aufenthaltsberechtigung. Die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes richtet sich nach innerstaatlichem Recht und wird nur überprüft, wenn der Eindruck besteht, dass einer Person das Aufenthaltsrecht willkürlich abgesprochen wird.89 Ob der Schutzbereich auch nichtstaatliche Organisationen (vgl Art 34 EMRK), insbesondere also die Verlegung des Sitzes von Unternehmen umfasst, ist in der Praxis bislang offen geblieben. Der Wortlaut („bewegen“, „Wohnsitz“) spricht für eine Beschränkung auf natürliche Personen, doch gibt es
86 EGMR, Urt v 5.2.2002, 51564/99, Rep 2002-I, §§ 59 ff – Čonka; (GK), Urt v 23.2.2012, 27765/09, NVwZ 2012, 809, § 177 – Hirsi Jamaa; (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 ua, §§ 193 ff – N.D. u N.T./Spanien; Urt v 8.7.2021, 12625/17, §§ 45 ff – Shahzad. 87 Vgl auch EGMR (GK), Urt v 5.5.2020, 3599/18, §§ 103 ff – M.N./Belgien; den Behörden des Territorialstaates bleibt das Betreten aus anderen Gründen verwehrt, s Art 22 Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen v 18.4.1961, BGBl 1964 II, 959; Art 31 Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen v 24.4.1963, BGBl 1969 II, 1585. 88 Art 33 Seerechtskonvention der Vereinten Nationen v 10.12.1982, BGBl 1994 II, 1799. 89 EGMR, Urt v 23.5.2001, 25316/94 ua, Rep 2001-V, § 405– Denizci; Urt v 13.12.2005, 55762/00 ua, 2005XII, § 48 – Timishev; Urt v 22.2.2007, 1509/02, Rep 2007-I, § 43 – Tatishvili.
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auch bei anderen Garantien Beispiele für eine entsprechende Erstreckung auf juristische Personen.90
3. Eingriffe Die einschneidendsten Eingriffe in die Freizügigkeit, Ausweisung und Abschie- 23 bung, unterfallen nach dem Gesagten nur insoweit dem ZP 4, als sie sich entweder auf eigene Staatsangehörige beziehen (Art 3 ZP 4), sich rechtmäßig aufhaltenden Ausländern willkürlich ihre Aufenthaltsberechtigung entzogen wird oder Kollektivausweisungen iSd Art 4 ZP 4 sind. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber Ausländern liegen ansonsten außerhalb des Anwendungsbereichs. Als Eingriffe kommen daher vor allem Maßnahmen in Frage, welche die Bewegungs- oder Niederlassungsfreiheit innerhalb des Staates beschränken. Dazu gehören mit Blick auf die Bewegungsfreiheit das Verbot, ein bestimmtes Gebiet zu verlassen91 oder zu betreten, Hausarrest, Ausgangssperren oder -verbote92 und Platzverweise93. Es liegt auf der Hand, dass sich einiges aus dem Arsenal der Maßnahmen des lockdown, die in den Jahren 2020/21 zur Eindämmung der Covid-Pandemie ergriffen wurden, wie insbesondere die Anordnung von Quarantäne, Ausgangsverbote, Beschränkungen des Aktionsradius auf einen Umkreis von 15 km vom Wohnsitzort und die Schließung von Erholungsgebieten, als Eingriff in das Recht aus Art 2 ZP 4 darstellt. In die Niederlassungsfreiheit greifen Meldeauflagen94 und Beschränkungen bei der Wohnsitznahme95 wie eine Anzeigepflicht bei Wohnsitzwechsel96 ein. Wird das Aufenthaltsrecht auf bestimmte Gebiete beschränkt, soll dies nach herrschender Ansicht dagegen nur ein Eingriff sein, wenn ein bereits bestehender Aufenthaltstitel nachträglich eingegrenzt, nicht dagegen, wenn die Aufenthaltsberechtigung von vornherein nur mit dieser Maßgabe erteilt wird.97 Damit hätten es die Mitgliedstaaten in der Hand, den Schutzbereich des Art 2 ZP 4 nach eigenem Ermessen zu
90 Vgl Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 26 Rn 44 f. 91 EGMR, Urt v 10.7.2008, 16528/05, § 58 – Hajibeyli; Urt v 20.4.2010, 19675/06, §§ 42 f – Villa. 92 EGMR (GK), Urt v 6.4.2000, 26772/95, Rep 2000-IV, §§ 69, 76, 193 – Labita; Urt v 20.4.2010, 19675/06, §§ 42 f – Villa. 93 Hoppe in: Karpenstein/Meyer, EMRK, Art 2 ZP 4 Rn 9; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21 Rn 62; Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 26 Rn 137. 94 EGMR, Urt v 22.2.1994, 12954/87, Ser A 281-A, § 39 – Raimondo. 95 EGMR, Urt v 22.2.2007, 1509/02, Rep 2007-I, §§ 44 ff – Tatishvili. 96 EGMR, Urt v 5.10.2006, Nr 14139/03, Rep 2006-XI, § 66 – Bolat. 97 EGMR, Entsch v 20.11.2007, 44294/04 – Omwenyeke; Hoppe in: Karpenstein/Meyer, EMRK, Art 2 ZP 4 Rn 6; Gerards in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, 2014, S 935.
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bestimmen, ohne den Schranken des Art 2 III und IV ZP 4 zu unterliegen. Dies spricht dafür, jede räumliche Einschränkung als Eingriff anzusehen, wenn sie nach einer rechtmäßigen Einreise verfügt wird.98 Gleichfalls rechtfertigungsbedürftig sind Erschwernisse oder Verbote der Ausreise (Art 2 II ZP 4), wozu auch faktische Eingriffe zu rechnen sind, die sich als Konsequenz des Einzuges oder der Nichterteilung der nötigen Ausweispapiere ergeben.99
4. Schranken 24 Die Schranken der Freizügigkeit sind ähnlich gefasst wie für die Garantien der Art 8
bis 11 EMRK. Verlangt wird danach zunächst eine gesetzliche Grundlage und eine vorhersehbare Anwendung des Gesetzes.100 Zudem muss ein legitimes Ziel wie die nationale oder öffentliche Sicherheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Verhütung von Straftaten, der Schutz der Gesundheit oder der Moral sowie die Rechte und Freiheiten anderer (Art 2 III ZP 4) verfolgt werden. Ohne weiteres zulässige Ziele sind es danach, drohende Straftaten zu unterbinden,101 den Fortgang eines Strafverfahrens zu sichern102 oder Personen, von denen Gefahren ausgehen, durch Meldeauflagen unter Beobachtung zu halten. „Rechte anderer“ können bspw Unterhaltsansprüche sein, denen sich der Ausreisewillige entziehen will.103 Einschränkungen der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, die sich auf „bestimmte Gebiete“ beziehen, können darüber hinaus mit jedem öffentlichen Interesse gerechtfertigt werden (Art 2 IV ZP 4); gedacht ist an Sperrzonen, Zollbezirke, Naturschutzgebiete und ähnliches,104 aber auch stadtplanerische Entscheidungen, die im Interesse einer Durchmischung der sozialen Schichten in bestimmten Wohnquartieren den Zuzug regeln, kommen in Frage.105 Alle Eingriffe müssen „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“, also verhältnismäßig sein. Geheimhal-
98 Giegerich in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 26 Rn 102. 99 EGMR, Urt v 22.5.2001, 33592/96, Rep 2001-V, § 62 – Baumann. 100 Das Festhalten georgischer Staatsangehöriger beim Versuch, Russland mit dem Zug zu verlassen, ohne Angaben darüber, welche Ausreisepapiere noch erforderlich gewesen wären, war danach eine Verletzung, EGMR, Urt v 20.12.2016, Nr 19356/07, Rn 60 – Shioshvili; ebenso ein gesetzlich nicht vorgesehenes Ausreiseverbot für Zeugen in einem Strafverfahren, Urt v 13.12.2018, Nr 66650/13 ua, Rn 31 ff – Mursaliyev ua. 101 EGMR, Urt v 22.2.1994, 12954/87, Ser A 281-A, § 39 – Raimondo; (GK), Urt v 6.4.2000, 26772/95, Rep 2000-IV, § 195 – Labita; Urt v 4.6.2002, 33129/96, Rep 2002-IV, §§ 64 f – Olivieira. 102 EGMR, Urt v 3.12.2013, 27804/10, § 59 – Bulea. 103 EGMR, Urt 2.12.2014, 43978/09, Rep 2014-VI, § 40 – Battista. 104 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 65. 105 EGMR (GK), Urt v 6.11.2017, 43494/09, §§ 142 ff – Garib.
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tungsinteressen der nationalen Sicherheit genügen meist nicht, um Geheimnisträgern die Ausreise zu untersagen.106 Die im Interesse des Gesundheitsschutzes ergriffenen Covid-Maßnahmen (→ Rn 23) sind in diesem Lichte zu betrachten und dürften ganz überwiegend im Rahmen des staatlichen Einschätzungsspielraums verhältnismäßig sein. Langfristige, zumal mehrjährige Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sieht der EGMR dagegen in der Regel als exzessiv an.107 Auch automatische, dh ohne nähere Prüfung verhängte oder verlängerte Reisesperren halten Art 2 ZP 4 nicht stand.108 Eingriffe in das Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger (Art 3 I ZP 4) 25 und Kollektivausweisungen (Art 4 ZP 4) sind nicht rechtfertigungsfähig, auch nicht der völlige Entzug des Rechts auf Rückkehr in den eigenen Staat (Art 3 II ZP 4); eine vorübergehende Einreiseverweigerung aus legitimen Gründen schließt dies nicht aus.109
5. Verfahren und Rechtsschutz Beschränkungen der Freizügigkeit müssen einer effektiven Kontrolle unterliegen, 26 die bei erheblichen Eingriffen regelmäßig und in nicht zu großen Zeitabständen stattfinden muss.110 Das Verfahren muss zumindest am Ende vor einem unabhängigen Gericht stattfinden111 und auf die Beurteilung der persönlichen Situation des Betroffenen sowie eine Prüfung der getroffenen Maßnahme und ihrer Fortdauer am Maßstab der Verhältnismäßigkeit gerichtet sein.112 Eine besondere Rechtsschutzgarantie umfasst implizit das Verbot der Kollektivausweisung nach Art 4 ZP 4. Der Rspr des EGMR zufolge sind damit pauschale Ausweisungen ohne Einzelfallprüfung gemeint; zu einer solchen Prüfung gehören zumindest die Feststellung der Identität, Informationen in einer dem Betroffenen verständlichen Sprache und die Möglichkeit, Argumente gegen die Ausweisung vorzutragen.113 Es kann dabei
106 S bspw EGMR, Urt v 27.3.2018, 5871/07 ua, §§ 93 ff – Berkovich ua. 107 EGMR, Urt v 17.7.2003, 32190/96, Rep 2003-IX, § 96 – Luordo; Urt v 8.6.2006, 42053/02, § 34 – Matteoni; Urt v 21.12.2006, 55565/00, Rep 2006-XV, § 51 – Bartik. 108 EGMR, Urt v 23.5.2006, 46343/99, § 121 – Riener; Urt 2.12.2014, 43978/09, Rep 2014-VI, § 42 – Battista. 109 Zu Art 3 ZP 4 EGMR (GK), Urt v 9.10.2003, 48321/99, Rep 2003-X, § 77 – Slivenko; s a Grabenwarter/ Pabel EMRK, § 21 §§ 72 ff m w Bsp. 110 EGMR, Urt v 20.4.2010, 19675/06, §§ 47 ff – Villa. 111 EGMR, Urt v 20.9.2016, 51279/09 ua, § 32 – Vlasov u Benyash; Urt v 8.12.2020, 26764/12, § 25 – Rotaru. 112 EGMR, Urt v 3.9.2013, 40026/07, § 17 – Milen Kostov. 113 EGMR, Urt v 21.10.2014, 16643/09, § 217 – Sharifi ua; (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 ua, § 199 – N.D. u N.T./Spanien.
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nicht darauf ankommen, ob sich eine Person rechtmäßig im Land aufhält, wenn der Verlust des Aufenthaltstitels gerade Folge der Kollektivausweisung ist.114 In dem Asylrecht unterfallenden Fällen wirft dies die Frage auf, ab wann sich eine Person „im Hoheitsgebiet“ eines durch ZP 4 verpflichteten Staates aufhält.115 Es macht jedenfalls keinen Unterschied, ob sich der Vorgang aus Sicht des handelnden Staates als Ausweisung oder als Nichtzulassung darstellt; Art 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verbietet die Zurückweisung an der Grenze, wenn Leib oder Leben der Betroffenen bedroht ist, und Art 4 ZP 4 ist im Lichte dieses sog Refoulement-Verbotes auszulegen.116 Allerdings wird die Garantie insoweit einschränkend ausgelegt, als das Ausbleiben der Würdigung des Einzelfalles auf Umstände zurückzuführen ist, für die den Beschwerdeführer eine Mitverantwortung trifft. Hat er den Zugang zum Gebiet des Vertragsstaates in Ausnutzung einer „eindeutig disruptiven Lage“ erwirkt, in der sich eine größere Zahl von Personen gewaltsam Zutritt verschafft hat und die schwer zu kontrollieren war, droht der Verlust des Rechts, die eigene Sache vorzutragen.117
IV. Der bürgerrechtliche Gehalt des Wahlrechts und der Freizügigkeit nach der EMRK 27 Auf der Ebene der EMRK und seiner Zusatzprotokolle kann nur in einem einge-
schränkten Sinne von „Bürgerrechten“ die Rede sein. Staatsbürgerliche Rechte, wie sie in Art 33 I GG angesprochen werden, greift das Wahlrecht des Art 3 ZP 1 auf; die Garantie verbietet es nicht, das Wahlrecht auch anderen als den eigenen Staatsangehörigen zuzugestehen, erlaubt aber auch die übliche Eingrenzung auf diesen Personenkreis. Es geht hierin vor allem um einen gewissen Minimalanspruch an die Demokratie, einem der Grundwerte des Europarates, der sich in regelmäßigen Wahlen unter fairen Bedingungen äußern muss. Das Freizügigkeitsrecht des Art 2 ZP 4 ist nur in dem engen Kernbestand des Aus- und Zurückweisungsverbotes und des willkürlichen Entzuges der Staatsangehörigkeit zu dessen Umgehung auf die eigenen Staatsangehörigen der Konventionsparteien beschränkt. Dieser Befund ist keine Überraschung, sind doch die Menschenrechte der EMRK in ihrer Entstehung und ihrer Zweckrichtung nach gerade nicht als staatsbürgerliche Rechte, sondern als universelle Garantien gefasst. Das muss indessen nicht bedeuten, dass sie sich
114 EGMR (GK), Urt v 3.7.2014, 13255/07, Rep 2014-IV, §§ 170 ff – Georgien/Russland (Nr 1). 115 EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 ua, §§ 104 ff – N.D. u N.T./Spanien; Urt v 8.7.2021, 12625/17, §§ 58 f – Shahzad. 116 Ebd §§ 179 ff. 117 Ebd §§ 201, 208, 242.
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§ 10.1 Gewährleistung von Bürgerrechten in der EMRK
nicht mit den Unionsbürgerrechten zu einer europäischen Konzeption von Bürgerrechten zusammenfügen, die sich auch individualrechtlich auswirkt.118 Im Hinblick auf das Wahlrecht ergänzen sich Art 3 ZP 1 und Art 22 AEUV in ge- 28 wissem Umfang. Während Art 3 ZP 1 ein allgemeines Recht auf Wahlen zu den staatswillensbildenden Körperschaften und zum Europäischen Parlament garantiert, das im Allgemeinen Staatsangehörigen des betreffenden Konventionsstaates zugutekommt, die kommunale Ebene aber nicht ohne weiteres umfasst, gewähren Art 22 AEUV, Art 39, 40 GRCh ein Wahlrecht zum Europaparlament und zu den kommunalen Vertretungsorganen am Wohnsitzort für unionsinterne Ausländer, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben.119 Im Rahmen der Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Wahlrechts sind Art 3 ZP 1 und die Rspr des EGMR dazu zu beachten.120 Aus beiden Quellen ergeben sich auch Rechte der gewählten Abgeordneten im Verlaufe der Ausübung ihres Mandates.121 Die Freizügigkeit nach Art 2 bis 4 ZP 4 ist eine der Garantien im System der 29 EMRK, zu denen es nur vergleichsweise wenig Praxis der Konventionsorgane gibt, was über ihren Gehalt bereits einiges aussagt. Während dieses Recht – abgesehen von den Fällen des Art 4 ZP 4 – nur denjenigen zugutekommt, die bereits über einen Aufenthaltstitel verfügen, gehen die Freizügigkeitsgarantien der Grundfreiheiten im Binnenmarkt und des Art 21 AEUV deutlich weiter: Nicht nur lässt sich aus ihnen, anders als aus Art 2 ZP 4, ein Aufenthaltsrecht ableiten, auch umfassen sie dessen wirtschaftliche Grundlage, gewähren ein unselbständiges Aufenthaltsrecht auch drittstaatsangehöriger Familienmitglieder und grenzen die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen erheblich ein. Zusammen mit dem Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV schließen sie Persönlichkeits- und Teilhaberechte ein (→ Kadelbach § 10.2 Rn 90 ff). Art 2 bis 4 ZP 4 fügen dem nicht viel hinzu. Zwar zielen sie bei der Bewegungsfreiheit nach Grenzübertritt nicht lediglich auf Inländergleichbehandlung ab, sondern unterwerfen auch Beschränkungen der zweckfrei gewährten Bewegungsfreiheit der Notwendigkeit einer Rechtfertigung; der Kreis der legitimen Einschränkungsgründe ist jedoch recht weit gezogen, so dass es bisher nur bei exzessiven oder willkürlichen Beschränkungen zur Feststellung von Verletzungen gekommen ist.
118 Vgl Potvin-Solis, RDUE 2016, 579 ff. 119 Weiter geht dieses Recht nicht, doch dürfen die Mitgliedstaaten ihr Wahlrecht auch auf andere Personenkreise erweitern, s EuGH, Rs C-145/04, Slg 2006, I-7917, Rn 76 – Spanien/Vereinigtes Königreich. 120 Vgl EuGH, Rs C-300/04, Slg 2006, I-8055, Rn 48, 54 – Eman u Sevinger. 121 Für Art 3 ZP 1 → Rn 11, für das Unionsrecht s EuGH, Urt v 19.12.2019, Rs C-502/19, Rn 86 ff – Junqueras Vies (Immunität).
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Der Grund für die vergleichsweise schwache bürgerrechtliche Komponente dieser Garantien ist in den Verweisen auf das nationale Recht und dem weit gezogenen Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten zu sehen, die für diese Rechte typisch sind. Das europäische Konventionsrecht stellt einen Minimalstandard auf und zeigt eine äußere Grenze der europäischen Verfassungsordnung an, die vom EGMR kontrolliert wird. Dass es für die Ausübung von Wahl- und Freizügigkeitsrechten im europäischen Mehrebenensystem entscheidend auf die staatliche Rechtsschicht ankommt, bringt wohl am deutlichsten zum Ausdruck, dass es sich bei ihnen nach wie vor um staatsbürgerliche Rechte handelt.
Stefan Kadelbach
§ 10.2 Unionsbürgerrechte Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-369/90, Slg 1992, I-4239 ff – Micheletti; Rs C-184/99, Slg 2001, I6193 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; Rs C-224/98, Slg 2002, I-6191 ff – D’Hoop; Rs C-148/02, Slg 2003, I-11613 ff – Garcia Avello; Rs C-135/08, Slg 2010, I-1449 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1; Rs C-34/09, Slg 2011, I-1177 ff – Ruiz Zambrano; Urt v 11.11.2014, Rs C-333/13 – Dano; Urt v 15.9.2015, Rs C67/14 – Alimanović; Urt v 6.10.2015, Rs C-650/13 – Delvigne; Urt v 12.3.2019, Rs C-221/17 – Tjebbes; Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20 – The Department for Communities in Northern Ireland.
Schrifttum: Schönberger Unionsbürger, 2005; Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt? 2007; Rabenschlag Leitbilder der Unionsbürgerschaft, 2009; Schmahl/Jung Die Unionsbürgerschaft: Ein komplexes Rechtsinstitut mit weitreichenden Folgen, Jura 2016, 1272 ff; Azoulai/Barbou des Places/Pataut (Hrsg) Constructing the Person in EU Law, 2016; Kochenov (Hrsg) EU Citizenship and Federalism: The Role of Rights, 2017; Neier, Der Kernbestandsschutz der Unionsbürgerschaft, 2019.
I. Einleitung Die Unionsbürgerschaft ist in den Verträgen an hervorgehobener Stelle in den 1 Grundsatzbestimmungen (Art 9 EUV, 20–25 AEUV) geregelt; die Gewährleistungen der Art 39–46 GRCh verlaufen zu ihnen weitgehend parallel,1 werden aber in der Rspr oft nicht herangezogen. In ihr kommen zwei Entwicklungen zum Ausdruck: Zum einen hat die europäische Integration, die in ausgewählten Sektoren der Wirtschaft ihren Anfang nahm und bald in einen umfassenden Prozess wirtschaftlicher Integration einmündete, ihre rein ökonomische Zielrichtung hinter sich gelassen. Zum anderen war schon die EWG eine Gemeinschaft nicht nur der Staaten, sondern auch ihrer Bürger.2 Eine Erweiterung der Grundfreiheiten um Grundrechte war erforderlich geworden, da die Union auch Befugnisse zu Maßnahmen besitzt, die zu Eingriffen berechtigen, wie dies insbesondere im Agrar-, Zoll- und Wettbewerbsrecht der Fall ist (→ Classen § 9.2 Rn 4).3 Die Ausübung von Hoheitsgewalt in der Union bedarf indes nicht nur der Ge- 2 gensicherung durch Grundrechte, sondern auch der Legitimation durch die Unionsbürger. Sollen Interventionen in den Wirtschaftsverkehr im öffentlichen Interesse und die Zuteilung von Beihilfen aller Art nicht nur eine Angelegenheit der Regierungen bleiben, muss es neben der jeweiligen staatlichen auch eine europäische
1 Ausf Wendel in: EnzEuR Bd 2, § 18 Rn 34 ff. 2 Vgl EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3 (25) – van Gend & Loos; Gutachten 1/91, Slg 1991, I-6079, Rn 21 – EWR. 3 Vgl Oppermann FS Doehring, 1989, S 713 (722).
Anmerkung: Der Verf dankt Herrn Thomas Siurkus für wertvolle Hilfe bei der Sichtung der Literatur und Rechtsprechung. Stefan Kadelbach https://doi.org/10.1515/9783110716740-029
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Aktivbürgerschaft mit eigener Identität geben. Darauf wies schon die Präambel des EWG-Vertrages von 1958 hin, die „einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ als Ziel benennt. Dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, deutet Art 1 II EUV an, dem zufolge in der „immer engeren Union der Völker Europas“ Entscheidungen „möglichst bürgernah getroffen werden“ sollen. In einem demokratischen Gemeinwesen sollten die Bürger selbst, vermittelt durch Institutionen und Verfahren, hinter den Entscheidungen stehen. In der Union werden die wesentlichen Entscheidungen indes von Regierungsvertretern gefällt, die ihre demokratische Legitimation durch die jeweiligen staatlichen Parlamente erhalten. Die Befugnisse des Europäischen Parlaments sind denen einer nationalen Volksvertretung nicht vergleichbar. Dieser Zustand mag verfassungsrechtlich zureichend sein,4 aus staatsbürgerlicher Sicht ist er unbefriedigend. Die Unionsbürgerschaft soll daher die Kluft, die durch diese Form der Legitimation entsteht, ein Stück weit überbrücken und eine zusätzliche, der Staatsbürgerschaft komplementäre Identität und Loyalität schaffen.5 Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, aus dem der Vertrag von Lissabon hervorgegangen ist, war ausweislich seiner Präambel „im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas“ erarbeitet worden. 3 Im Folgenden soll zunächst der Weg nachgezeichnet werden, der die EU zur Unionsbürgerschaft geführt hat (II.). Anschließend ist auf das Verhältnis zu ihrer Voraussetzung, der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates (Art 20 I 2 AEUV), und zum Status des Staatsbürgers einzugehen (III.). Die einzelnen Unionsbürgerrechte (IV.) können dann in ihrer Bedeutung besser eingeschätzt werden (V.).
II. Bürgerschaft als Angelegenheit der Europäischen Union 1. Vom Marktbürger zum Unionsbürger 4 Die Unionsbürgerschaft ist das Ergebnis politischer Initiativen, rechtsetzender Tä-
tigkeit und richterlicher Rechtsfortbildung, die von einer auf wirtschaftliche Freiheiten begrenzten Marktgesellschaft ihren Ausgang genommen hat. Soweit der EWG-Vertrag bestimmten Personenkreisen Rechte zugestand, waren die Begünstigten aktive Teilnehmer am Wirtschaftsleben.6 Die verliehenen Rechtspositionen sind
4 BVerfGE 89, 155 (184 ff) – Maastricht = JK 94, GG Art 23/1; 123, 267 (370 ff) – Lissabon = JK 2009, GG Art 38 I/18. 5 Vgl Schönberger in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 9 EUV Rn 14. 6 Allerdings hat die Kommission schon 1962 die Ansicht vertreten, dass die Einzelnen nicht als „Produktionsfaktoren“, sondern als Inhaber von Freiheitsrechten zu betrachten seien, s ABl 1962, 2118.
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§ 10.2 Unionsbürgerrechte
an Arbeit, Güter und Kapital gebunden. Einzelne waren als „Marktbürger“7 Inhaber von Rechten, die sich gegen die Mitgliedstaaten richteten. Umfassendere bürgerliche Rechte im traditionellen Sinne begannen sich ge- 5 gen Ende der 60er Jahre zu entwickeln, als mit Entstehen gemeinschaftsrechtlicher Eingriffsbefugnisse Freiheitsrechte gegen die EG geschaffen wurden.8 Etwa zeitgleich besetzte die europäische Rechtsetzung das Feld sozialer Rechte. Vor allem infolge der Freizügigkeit der Arbeitnehmer entstand auf sekundärrechtlicher Grundlage bald ein umfassendes System von Berechtigungen, das Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in der Arbeitswelt des Aufnahmelandes eine den Inländern angeglichene Rechtsstellung verschaffen sollte (→ vgl Becker § 14 Rn 19 ff).9 Für diesen Prozess ist das europäische koordinierende Sozialrecht kennzeichnend, das Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten und ihren Angehörigen gleichen Zugang zu sozialversicherungsrechtlichen Leistungen gewährt. Auch das europäische Arbeitsrecht wird zu den sozialen Rechten gezählt, ebenso die in mehr oder weniger großer Abhängigkeit von der Freiheit des Warenverkehrs erlassenen Normen des Gesundheits- und Umweltschutzes sowie Verbraucherrechte.10 Freizügigkeit, Aufenthalt und soziale Rechte verloren mit der Zeit die enge Bin- 6 dung an den Austausch von Gütern und Leistungen. Die ursprünglich zur Förderung der Mobilität geschaffenen Pflichten, Wanderarbeitnehmer in die sozialen Leistungssysteme des Aufenthaltsstaates einzubeziehen, lösten sich vom Erfordernis eines Arbeitsvertrages.11 Eine weitere Dimension nicht durch das Ziel des Binnenmarktes motivierter Rechte eröffnet die Aussicht auf politische Teilhabe, die schon Art 138 III EWGV (jetzt Art 223 I AEUV) versprach, indem er den Auftrag erteilte, allgemeine unmittelbare Wahlen zum EP abzuhalten. Nach alldem war die Forderung konsequent, diese Ansätze freiheitlicher, sozia- 7 ler und politischer Rechte der Bürger Europas zu einem eigenständigen Status zusammenzufassen.12 Seit dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Den
7 Ipsen/Nicolaysen, NJW 1964, 339 (340, Fn 2); HP Ipsen EuGR, 187, 250 ff, 742 f; krit zum Wert der Rechte des „Wirtschaftsbürgers“ aus ökonomischer Sicht Nienhaus in: Hrbek (Hrsg), Bürger und Europa, 1994, S 29 ff. 8 Den Anfang machte der EuGH mit Rs 29/69, Slg 1969, 419 ff – Stauder und Rs 11/70, Slg 1970, 1125 ff – Internationale Handelsgesellschaft; zum Grundrechtsschutz durch den EuGH Pernice, NJW 1990, 2409 ff; zum Verhältnis zwischen Grundrechten und Unionsbürgerschaft O’Leary, CMLRev 32 (1995), 519 ff. 9 Evans, MLR 45 (1982), 496 ff; O’Leary The Evolving Concept of Community Citizenship, 1996, S 65 ff; Becker, EuR 1999, 522 ff. 10 Reich Bürgerrechte in der Europäischen Union, 1999, S 207 ff, 262 ff, 391 ff; s Art 35 bis 38 GRCh. 11 Evans, AJCL 32 (1984), 679 (689 ff). 12 Grabitz Europäisches Bürgerrecht, 1970; dazu Tomuschat, ZaöRV 33 (1973), 379 ff; Randelzhofer GS Grabitz, 1995, S 580 ff; s a Magiera, DÖV 1987, 221 ff; Marias in: ders (Hrsg), European Citizenship, 1994, S 1 (3 ff).
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Haag 1969 wurden Initiativen mit dem Ziel eines identitätsstiftenden „Europa der Bürger“ gestartet. Auf dieser Linie lagen Vorschläge der Kommission über die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts auf kommunaler Ebene,13 ein 1975 vorgelegter Bericht des belgischen Premierministers Leo Tindemans mit Vorschlägen über neue individuelle Rechte,14 die vom Europäischen Parlament erarbeitete „Charta der Bürgerrechte“,15 die Einführung des Direktwahlaktes zum Europäischen Parlament16 und die Schaffung einer Passunion mit einheitlichem Reisepass.17 8 Neue Impulse gingen von dem unter der Leitung von Altiero Spinelli erarbeiteten Vertragsentwurf zur Gründung der Europäischen Union aus, der 1984 erstmals den Begriff der Unionsbürgerschaft in die Gemeinschaft einführte.18 Der Europäische Rat von Fontainebleau beschloss daraufhin Maßnahmen der Gemeinschaft vorzubereiten, „durch die ihre Identität gegenüber den europäischen Bürgern und der Welt gestärkt und gefördert wird“.19 Eine nach ihrem Vorsitzenden Pietro Adonnino benannte Arbeitsgruppe bezog daraufhin 1985 in ihre Berichte die meisten der Rechte ein, die später als Unionsbürgerrechte in den EWG-Vertrag aufgenommen wurden.20 9 Bald etablierte sich die europäische Bürgerschaft auch über den Bereich politischer Empfehlungen hinaus als eine rechtliche Institution, die das Marktbürgertum ablöste. „Bildungsbürger“ kamen nach der Rechtsprechung des EuGH als Touristen in den Genuss der sog passiven Dienstleistungsfreiheit, und als Studierenden stand ihnen allein aufgrund des allgemeinen Diskriminierungsverbotes (heute Art 18 AEUV) das Recht auf Zugang zu Bildungseinrichtungen und auf Ausbildungsförderung zu.21 Der Erasmus-Beschluss des Rates über den Studentenaustausch von
13 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europa für die Bürger, Bull EG 7/75, S 5, 23 ff. 14 Bull EG Beil 1/76, S 29 ff. 15 ABl 1975 Nr C 179/30; vgl Zuleeg FS Schlochauer, 1981, S 983 ff. 16 ABl 1976 Nr L 278/1, aktuelle Fsg ABl 2018 Nr L 178/1; die erste Direktwahl wurde auf dieser Grundl 1979 durchgeführt. 17 ABl 1981 Nr C 241/1 mit späteren Ergänzungen; s a die auf Grundlage des Art 77 III AEUV erlassene Pass-VO 2252/2004, ABl 2004 Nr L 385/1. 18 ABl 1984 Nr C 77/33, Art 3: „Die Bürger der Mitgliedstaaten sind als solche Bürger der Union. Die Unionsbürgerschaft ist an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates gebunden; sie kann nicht selbständig erworben oder verloren werden. Die Unionsbürger nehmen am politischen Leben der Union in den durch diesen Vertrag vorgesehenen Formen teil, genießen die ihnen durch die Rechtsordnung der Union zuerkannten Rechte und unterliegen den Normen dieser Rechtsordnung.“ 19 Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes, Bull EG Beil 7/85, S 5 (Ziff 6). 20 Europa der Bürger, Bericht des Ad-hoc-Ausschusses, Bull EG Beil 7/85, S 9 ff, 19 ff. 21 Zum Tourismus EuGH, verb Rs 286/82 u 26/83, Slg 1984, 377, Rn 16 – Luisi u Carbone; Rs 186/87, Slg 1989, 195, Rn 17 – Cowan; zum Studium Rs 293/83, Slg 1985, 593, Rn 19 ff – Gravier; zum „Bildungsbürger“ Oppermann in: Nicolaysen/Quaritsch (Hrsg), Lüneburger Symposion für Ipsen, 1988, S 87 (91).
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1987 erwähnt als erster Rechtsetzungsakt das „Europa der Bürger“.22 Wenig später unterbreitete die Kommission erste Rechtsetzungsvorschläge zum Kommunalwahlrecht.23 Der Rat erließ drei Richtlinien über das Aufenthaltsrecht nicht erwerbstätiger Personen außerhalb ihres Heimatstaates.24
2. Die Regelungen zur Unionsbürgerschaft Durch den Vertrag von Maastricht wurde schließlich 1992 die Unionsbürgerschaft 10 auf primärrechtlicher Ebene eingeführt, nicht zufällig zugleich mit der Umbenennung der EWG in die Europäische Gemeinschaft und der Neugründung der Europäischen Union.25 Der Vertrag von Amsterdam26 fügte diesen Vorschriften (nunmehr Art 20–25, 227, 228 AEUV) das Recht auf Auskunft in der eigenen Sprache (Art 24 IV AEUV) hinzu. In der Grundrechte-Charta, die der Vertrag von Lissabon in das Primärrecht der Union inkorporiert hat (Art 6 I EUV), ist die Unionsbürgerschaft erneut – wenn auch nur geringfügig – erweitert worden (Art 39 bis 46 GRCh). Auf den ersten Blick wirken die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft 11 wenig kohärent. Art 20 I 2 AEUV macht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates zur einzigen Voraussetzung. Die im Folgenden aufgeführten Einzelrechte scheinen miteinander nicht viel zu tun zu haben und wenig Neues zu gewähren: Freizügigkeit (Art 21 AEUV, Art 45 GRCh), Wahlrecht zu den kommunalen Vertretungen und zum Europäischen Parlament am Ort des Wohnsitzes (Art 22 AEUV, 39, 40 GRCh), diplomatischer und konsularischer Schutz (Art 23 AEUV, 46 GRCh) sowie das Petitions- und Auskunftsrecht (Art 24, 227, 228 AEUV, 43 f GRCh). Der Vertrag von
22 ABl 1987 Nr L 166/20; vgl a EuGH, Rs 242/87, Slg 1989, 1425, Rn 29 – Kommission/Rat = JK 90, VEWG Art 128/1; umfassend Düsterhaus Integration 2006, 122 ff. 23 Das Wahlrecht der Bürger in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bei Kommunalwahlen, Bull EG Beil 7/86; der Richtlinienvorschlag (ABl 1988 Nr C 246/3) wurde wg der bevorst Einf der Unionsbürgerschaft zurückgestellt; dazu Magiera, EA 1988, 475 ff. 24 RL 90/364, ABl 1990 Nr L 180/26 – Aufenthaltsrecht von Nichterwerbstätigen; RL 90/365, ABl 1990 Nr L 180/28 – Aufenthaltsrecht von Rentnern; RL 90/365, ABl 1990 Nr L 180/30 – Aufenthaltsrecht von Studenten wurde vom EuGH wg falscher Wahl der Kompetenzgrundlage für nichtig erklärt (EuGH, Rs C-295/90, Slg 1992, I-4193 ff – Parlament/Rat) und neu erlassen als RL 93/96, ABl 1993 Nr L 317/59; die Rechtsakte über den Aufenthalt wurden später zu einer Richtlinie zusammengefasst, s RL 2004/ 38, ABl 2004 Nr L 229/35 – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sog Unionsbürger-RL. 25 BGBl II 1992, 1245, 1253; am Anf stand eine Initiative Spaniens, s Ratsdok SN 3940/90 v 24.9.1990, dazu Solbes Mira, RMC 1991, 168 ff; Dokumente zur Vorgeschichte bei Laursen/Vanhoonacker (Hrsg), The Intergovernmental Conference on Political Union, 1992; sa Closa, CMLRev 29 (1992), 1137 (1153 ff). 26 BGBl II 1998, 385, 387.
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Amsterdam fügte außerhalb des Kataloges noch das Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 III AEUV, 42 GRCh), die Grundrechte-Charta das von der EuGH-Rechtsprechung entwickelte „Recht auf eine gute Verwaltung“ hinzu (Art 41 GRCh). 12 Das volle Bild wird allerdings erst mit Blick auf den Zusammenhang sichtbar, in dem die Artikel über die Unionsbürgerschaft stehen. Nach Art 20 II AEUV haben die Unionsbürger „die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten“. Die europäischen Bürgerrechte werden also durch die Art 21 bis 24 AEUV nicht abschließend beschrieben, sondern ergeben sich aus allen zwischen der Union und den Einzelnen auf der Grundlage der Verträge entstandenen Rechtsbeziehungen.27 Der Europäische Rat hatte bereits 1990 in Rom betont, dass die europäische Bürgerschaft soziale und wirtschaftliche ebenso wie staatsbürgerliche Rechte umfassen müsse.28 Daher gehören nicht nur die Grundfreiheiten, sondern auch die Grundrechte und das allgemeine Diskriminierungsverbot dazu, unabhängig davon, ob sie durch die Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten vermittelt werden oder nicht.29 Aber auch die sekundärrechtlich vermittelten Rechte und das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz gestalten den Unionsbürgerstatus weiter aus.30 Er setzt sich also aus sehr vielen vertraglich oder sekundärrechtlich garantierten und durch die Rechtsprechung entwickelten Rechten zusammen. Die besondere Bedeutung der Art 20 ff AEUV liegt darin, dass in ihnen mit dem Aufenthaltsrecht (Art 21 AEUV), dem Wahlrecht (Art 22 AEUV) sowie dem Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 23 AEUV) Rechte nichtwirtschaftlicher Art aufgeführt sind, die auf staatlicher Ebene im Allgemeinen nur Staatsbürgern zustehen. 13 Die Bestimmungen zur Unionsbürgerschaft, die sich im zweiten Teil des AEUVertrages finden, geben also lediglich den Rahmen eines umfassend angelegten Systems von Rechten vor. Dass dies im AEU-Vertrag und nicht, wie bei den Grundrechten, im Unionsvertrag (Art 6 EUV) geschehen ist, hatte den Sinn, die mit ihr verbundenen Rechte der Zuständigkeit des EuGH zu unterwerfen, die sich zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Maastrichter Vertrages noch nicht auf die Materien der sog zweiten und dritten Säule erstreckte. Die Unionsbürgerschaft kann keine intergouvernementale Angelegenheit sein. 14 Ihre hervorgehobene Stellung im AEU-Vertrag, ihre Bedeutung für die Identität der Union und ihre auf Stärkung der subjektiven Rechte gerichtete Zielsetzung spre
27 Haag in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUR, Art 20 AEUV Rn 12. 28 Bull EG, Beil 2/91. 29 Kommission Dritter Bericht über die Unionsbürgerschaft v 7.9.2001, KOM 2001 (506) endg, 2 f, 23 ff; dass Unionsbürgerrechte nicht den Staatsangeh der Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben müssen, macht der EuGH in Rs C-145/04, Slg 2006, I-7917, Rn 76 – Spanien/Vereinigtes Königreich in Bez auf das Wahlrecht zum Europäischen Parlament in Gibraltar deutlich. 30 Everling, ZfRV 1992, 241 (243 ff, 251 ff); Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 16 Rn 6.
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chen dafür, dass die in den Art 21 bis 24 AEUV (Art 39 bis 46 GRCh) niedergelegten Rechte auch unmittelbar wirksam sein sollen.31 Allerdings enthalten einige dieser Bestimmungen Vorbehalte (Art 21 I, 22 II 2 AEUV), erteilen dem Rat Rechtsetzungsbefugnisse (Art 21 II, 22 I 2, II 2 AEUV) oder sehen weitere Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten vor (Art 23 I 2 AEUV), so dass geklärt werden muss, ob sie auch inhaltlich unbedingt gewährt worden sind. Die Antwort hängt letztlich von einer Auslegung der einzelnen Gewährleistungen ab.32 Juristische Personen können als solche zwar nicht Träger der Unionsbürger- 15 rechte sein, ebenso wenig wie dies bei staatsbürgerlichen Rechten möglich ist. Einzelne Rechte können aber auf juristische Personen des Privatrechts entsprechend angewendet werden, soweit sie dazu geeignet sind.33 So werden sie beim Petitionsund Auskunftsrecht ausdrücklich genannt (Art 15 III, 22 iVm 227, 228 I AEUV, 42 bis 44 GRCh). Auch das Recht auf konsularischen und diplomatischen Schutz (Art 23 AEUV, 46 GRCh) steht angesichts der dahingehenden völkerrechtlichen Praxis ohne weiteres juristischen Personen des Privatrechts zu.34 Die Unionsbürgerschaft ist also umfassend und zukunftsoffen angelegt.35 Sie 16 ist beweglich und Wandlungen unterworfen, so wie die Integration selbst. Dennoch hat sie einen festen Kern. Wie Art 9 EUV zu entnehmen ist, ist die Gleichheit der Unionsbürger ein ihr wesentlicher Grundsatz. Eine verstärkte Zusammenarbeit, wie sie Art 329 I AEUV auch auf diesem Feld ermöglicht, verträgt sich hiermit an sich nicht. Sie muss zu Diskriminierungen führen, die hierzu in Widerspruch stehen (vgl Art 326 I 2 AEUV).36
31 So schon Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Rs 85/96, Slg 1998, I-2691, Rn 20 – Martínez Sala. 32 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 12. 33 Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 20 AEUV Rn 11; Giegerich in: Schulze ua, ER, § 9 Rn 34 f. 34 Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, Art 23 AEUV Rn 4; Szczekalla EuR, 1999, 325 f; dag Monar/Bieber Die Unionsbürgerschaft, 1995, S 36. 35 Über die Entw hat die Kommission gem Art 25 AEUV alle drei Jahre zu berichten; s Erster Bericht, KOM (93) 702 endg (1993); Zweiter Bericht, KOM (97) 230 endg (1994–96), Dritter Bericht, KOM 2001 (506) endg (1997–2000), Vierter Bericht, KOM (2004) 695 endg (2001–04), Fünfter Bericht, KOM (2008) 85 endg (2004–07); (sechster) Bericht, KOM (2010) 603 endg (2007–10); (siebter) Bericht, KOM (2013) 270 endg (2011–13); (achter) Bericht, COM (2017) 32 final (2013-16); (neunter) Bericht, COM (2020) 731 final (2016-20). 36 Nach BVerfGE 123, 267 (376) – Lissabon = JK 2009, GG Art 38 I/18 ist das Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit „eine zentrale Idee des europäischen Integrationsverbandes seit seiner Gründung“.
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III. Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft 17 Art 20 I AEUV verwendet drei verschiedene Begriffe, die die Stellung des Einzelnen
gegenüber dem ihm übergeordneten Gemeinwesen kennzeichnen sollen. Nach Art 20 I 2 AEUV ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Die Unionsbürgerschaft soll die Staatsbürgerschaft ergänzen, aber nicht ersetzen (Art 20 I 3 AEUV). Wie verhalten sich nun Unionsbürgerschaft, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft zueinander?
1. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft 18 Die Begriffe „Staatsangehörigkeit“ und „Staatsbürgerschaft“ hängen zusammen, ha-
ben aber einen unterschiedlichen rechtlichen Gehalt.37 19 Die Staatsangehörigkeit wird als ein Rechtsverhältnis beschrieben, das ein Individuum der Personalhoheit eines Staates unterstellt. Ebenso gut lässt sie sich als Eigenschaft oder Status einer Person bezeichnen.38 Ein Unterschied in der Sache ergibt sich hieraus nicht. Entscheidend ist, dass der Begriff der Staatsangehörigkeit die formale rechtliche Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Staatswesen bezeichnet. Er hat eine völkerrechtliche und eine staatsrechtliche Bedeutung. 20 In völkerrechtlicher Hinsicht sind Staatsangehörige die Personen, denen ein Staat ungeachtet ihres Aufenthaltsortes Rechte verleihen und Pflichten auferlegen darf. Darüber hinaus begründet die Staatsangehörigkeit das Recht eines Staates zur Ausübung diplomatischen und konsularischen Schutzes im Ausland und die Pflicht zur Aufnahme im eigenen Territorium. Die Befugnis, die Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit zu regeln, steht als Ausdruck ihrer Souveränität den Staaten zu, unterliegt aber völkerrechtlichen Grenzen. So dürfen Regelungen über die Staatsangehörigkeit nicht ihrerseits die Personalhoheit anderer Staaten verletzen. Darüber hinaus dürfen andere Staaten der Begründung der Staatsangehörigkeit den daraus sich ergebenden Rechtsfolgen die Anerkennung versagen, wenn sie nicht effektiv ist, also lediglich de iure be-
37 Die engl/frz Begriffspaare citizenship/nationality bzw citoyenneté/nationalité entspr dem nicht ganz, aber weitgeh, s Gosewinkel Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 533, 544 f. 38 Zum Streit zw Status- und Rechtsverhältnistheorie Makarov Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 2. Aufl 1962, S 21 ff; z neueren Disk Farahat, Der Staat 52 (2013), 187 (195 ff); Weber Staatsangehörigkeit und Status, 2018, S 327 ff.
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steht.39 Dem rechtlichen Status der Staatsangehörigkeit muss also eine reale soziale Einbindung in ein Gemeinwesen entsprechen. Die Staatsangehörigkeit hat nach alldem die Funktion, Hoheitsbereiche zwischen den Staaten abzugrenzen und ein Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen Staat und Individuum kenntlich zu machen. Die staatsrechtliche Bedeutung der Staatsangehörigkeit variiert nach der jewei- 21 ligen Verfassung. Mit spezifischen Rechten und Pflichten ist sie aus sich heraus nicht verbunden.40 Zwar knüpft das Grundgesetz eine ganze Reihe von Rechten und Pflichten an die deutsche Staatsangehörigkeit. Diese ist aber jeweils nur eine von mehreren Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit etwa das Wahlrecht (Art 38 II GG, § 12 BWahlG) oder die (zurzeit suspendierte) Wehrpflicht (Art 12a GG, § 1 WPflG) entstehen können. Die Staatsbürgerschaft dagegen ist der Inbegriff der Rechte und Pflichten, die 22 die Zugehörigkeit eines Menschen zu Staat und Gesellschaft ausmachen.41 Sie geht auf die Aufklärungsidee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurück und impliziert freiheitliche, soziale und politische Rechte. Das Ausschließungskriterium ist der sog Aktivstatus, das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Seit jeher ist ein großer Teil der Bevölkerung aufgrund des Alters, Bildungsstandes oder Geschlechts, der sozialen Herkunft oder eben aufgrund der Staatsangehörigkeit von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen. In den Gemeinwesen der Antike ebenso wie in der mittelalterlichen Stadt lassen sich die politischen Rechte als das Unterscheidungsmerkmal zwischen Bürgerschaft und minderen Formen der Zugehörigkeit ausmachen.42 Aufklärung und französische Revolution haben daran nichts geändert.43 Die Bedeutung sozialer Rechte für die rein tatsächliche Möglichkeit der freien Entfaltung des Menschen wird demgegenüber erst im Rückblick auf das beginnende Industriezeitalter deutlich, das neue Probleme sozialer Ungleichheit mit sich brachte. Vor diesem Hintergrund werden außer den politischen auch die sozialen Rechte als essentieller Bestandteil der Staatsbürgerschaft angesehen.44 Nur wer alle Freiheits-, sozialen und politischen Rechte besitzt, ist Staatsbürger.
39 ICJ Reports 1955, 4, 23 – Liechtenstein/Guatemala (Nottebohm); s a EuGH, Rs 149/79, Slg 1980, 3881, Rn 10 – Kommission/Belgien: Staatsangehörigkeit als „Verhältnis besonderer Verbundenheit … zum Staat“ bei „Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten“. 40 Vgl Wengler FS Schätzel, 1960, S 545 (546); Walter, VVDStRL 72 (2013), 7 (11 ff). 41 Grawert Der Staat 23 (1984), 178 (182 ff, 197 ff); Preuß, ELJ 1 (1995), 267 (269 ff). 42 Eder in: Molho/Raaflaub/Emlen (Hrsg), City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy, 1991, S 169 ff; Isenmann Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500, 1988, S 93 ff; Kroeschell/Cordes Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd I, 2. Aufl 2008, Sp 738 (741 f). 43 Brubaker Citizenship and Nationhood in France and Germany, 1992, S 21 ff; Magnette La citoyenneté: Une histoire de l’idée de participation civique, 2001. 44 Marshall Citizenship and Social Class, 1949, hier nach: ders Bürgerrechte und soziale Klassen, 1992, S 33 ff; Somers Genealogies of Citizenship, 2008, S 147 ff.
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Der Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft besteht darin, dass der volle Bürgerstatus für Staatsangehörige reserviert bleibt.45 Im 19. Jh war dies deutlicher erkennbar als heute. In Deutschland waren seit dem Vormärz selbst die Freiheitsrechte an die Staatsangehörigkeit gebunden.46 Vergleichbares gilt für die soziale Fürsorge.47 In zunehmendem Maße lösten sich indes nicht nur die Freiheitsrechte, sondern auch die Teilhabe am System sozialer Sicherungen dem Grunde nach von der Staatsangehörigkeit und wurden vom Ort des Wohnsitzes oder Aufenthaltes abhängig.48 Die Ausnahme bilden die politischen Rechte. Dass sie auch nach dem Grundgesetz das entscheidende Element der Staatsbürgerschaft bilden, zeigen Art 33 III GG, der zwischen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten unterscheidet, und Art 33 I GG, der allen Deutschen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten zuschreibt. In dieser Tradition steht auch das BVerfG, wenn es davon ausgeht, dass das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgehen muss (Art 20 II GG), das deutsche Volk sei, das sich aus den deutschen Staatsangehörigen zusammensetzt.49 24 Der rechtliche Begriff der Unionsbürgerschaft ist mit der Staatsangehörigkeit weder vergleichbar, noch soll er es sein.50 Vielmehr orientiert er sich bewusst an der Idee der Staatsbürgerschaft. Dadurch soll angezeigt werden, dass die Unionsbürgerschaft im Gegensatz zur Staatsangehörigkeit keine Personalhoheit begründet, sondern dass die Union Einzelne als Träger von Rechten und Pflichten (Art 20 II AEUV) versteht. Ob man dies als Status bezeichnen will, hängt auch von der Gestalt und den Kompetenzen des europäischen Integrationsverbundes ab.51 Die politischen Teilhaberechte gegenüber der Union (Art 22 II, 24 AEUV) begründen eine Rechtsposition, die dem staatsbürgerlichen Aktivstatus zumindest ähnelt. Wie weit diese Parallele letztlich trägt, muss die Betrachtung der einzelnen Rechte zeigen (dazu u IV.).
45 Vgl Gärditz, VVDStRL 72 (2013), 49 (53 ff). 46 Oestreich Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 2. Aufl 1978, S 81 ff; Grawert Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, S 195 f; noch heute stehen die Grundrechte der Art 8, Art 9 I, Art 11 und Art 12 I GG ihrem Wortlaut nach nur Deutschen zu; Art 16 EMRK gestattet eine Privilegierung der eigenen Staatsangehörigen im Hinblick auf die politische Betätigung. 47 Fahrmeir, The Historical Journal 40 (1997), 721 (726 ff); Schönberger Unionsbürger, 2005, S 91 f. 48 Noiriel Le creuset français, 1988, 110 ff; Hollifield Immigrants, Markets and States, 1992, 223 ff. 49 BVerfGE 83, 37 (59); s a BVerfGE 107, 59 (87) = JK 2003, GG Art 20 II/3 (Staatsvolk als „Gesamtheit der Bürger“). 50 Vgl BVerfGE 123, 267 (404 ff) – Lissabon = JK 2009, GG Art 38 I/18. 51 Zur Unionsbürgerschaft als Status Weber in: EnzEuR Bd 10, § 3.
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2. Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft Fall 1: (EuGH, Rs C-369/90, Slg 1992, I-4239 ff – Micheletti)
M wurde in Argentinien als Sohn italienischer Eltern geboren und besitzt sowohl die italienische als auch die argentinische Staatsangehörigkeit. Nach erfolgreichem Studium der Zahnmedizin in seinem Geburtsland will er sich in Spanien als Zahnarzt niederlassen und legt zu diesem Zweck seinen italienischen Pass vor. Das Diplom wurde auf der Grundlage eines spanisch-argentinischen Abkommens anerkannt. Die spanischen Behörden verweigern jedoch die Niederlassung unter Hinweis auf Art 9 des Código Civil. Danach kommt in Fällen doppelter Staatsangehörigkeit, wenn keine der beiden Staatsangehörigkeiten die spanische ist, derjenigen der Vorrang zu, die dem gewöhnlichen Aufenthalt des Betroffenen vor seiner Einreise nach Spanien entspricht, also im Falle des M der argentinischen Staatsangehörigkeit. M beschreitet den Rechtsweg. Das zuständige Tribunal Superior de Justicia de Cantabria legt dem EuGH die Frage zur Entscheidung vor, ob mit den Bestimmungen der Verträge, welche auf die Staatsangehörigkeit verweisen, Vorschriften des nationalen Rechts in Einklang stehen, die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten unionsrechtlich verliehene Rechte nur deshalb vorenthalten, weil sie außerdem die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates besitzen, in dem sie sich bisher aufgehalten haben.
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Art 20 I 2 AEUV erklärt jeden zum Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit 26 eines Mitgliedstaates besitzt. Begriffe, die in den Verträgen verwendet werden, sind in der Regel in ihrer spezifisch unionsrechtlichen Bedeutung, also autonom auszulegen. Dies kann selbst dann gelten, wenn ein Rechtsbegriff auf innerstaatliche Regelungszuständigkeiten verweist, wie dies beim Begriff der „öffentlichen Ordnung“ im Sinne der Art 36, 45 III, 52, 65 I lit b AEUV der Fall ist. Demnach könnte auch Art 20 I 2 AEUV ein speziell unionsrechtlicher Begriff der Staatsangehörigkeit zugrunde liegen, der vor dem Hintergrund der effektiven Wahrnehmung der Unionsbürgerrechte, insbesondere aber der Grundfreiheiten auszulegen wäre. Gegen diese Lesart spricht aber der historische und systematische Zusammenhang, in dem Art 20 I 2 AEUV steht. Bereits vor Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages hatten einige Mitgliedstaa- 27 ten die ausschließliche Befugnis zur Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts für sich reklamiert. Die Bundesrepublik hat aus Anlass des Abschlusses der Römischen Verträge erklärt, dass auch für die Zwecke des Europarechts der Deutschen-Begriff des Art 116 GG gelte.52 In der „Erklärung zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates“, die der Schlussakte des Maastrichter Vertrages beigefügt wurde, wurde später ausdrücklich festgestellt, dass überall dort, wo der EG-Vertrag die Staatsangehörigkeit ansprach, allein das innerstaatliche Recht maßgeblich sein sollte; die Erklärung
52 BGBl II 1957, 753, 764. Stefan Kadelbach
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gilt für EU- und AEU-Vertrag fort.53 Daher sind nur die Mitgliedstaaten für die Regelung der Voraussetzungen und des Verlustes der Staatsangehörigkeit zuständig.54 Alle Bestimmungen des nationalen Staatsangehörigkeitsrechts definieren zugleich den Kreis der Unionsbürger. 28 Diese Zuständigkeitsverteilung hat zur Folge, dass die Unionsbürgerschaft in manchen Staaten leichter erworben werden kann als in anderen. Sie kann insbesondere dann misslich sein, wenn dadurch zwischen den Mitgliedstaaten ungleiche Pflichten entstehen.55 Die einzelnen staatlichen Modelle und die Praxis der Einbürgerung sind sehr unterschiedlich. Forderungen insbesondere des Europäischen Parlaments, gewisse Bedingungen für den Erwerb oder Verlust der Staatsangehörigkeit zu harmonisieren,56 haben jedoch auf absehbare Zeit politisch keine Erfolgsaussichten, zumal es hierzu mangels Kompetenz der EU einer Änderung der Verträge bedürfte.57 Der Verzicht auf die Befugnis zur autonomen Definition der Staatsangehörigkeit würde die Qualität der Staaten und den Status der Union entscheidend verändern. Allerdings unterliegen die Mitgliedstaaten auch in diesem Bereich unionsrechtlichen Grenzen. Sie ergeben sich zum einen aus der Unionstreuepflicht (Art 4 III EUV), die es verbietet, die Einbürgerung so zu erleichtern, dass eine gemeinschaftliche Einwanderungspolitik (s Art 79 AEUV) praktisch unmöglich oder wesentlich erschwert wird.58 Zum anderen gilt auch für den Entzug der Staatsangehörigkeit das Gebot der Verhältnismäßigkeit, so dass dem Betroffenen Gelegenheit gegeben werden muss, sich um die Wiedereinbürgerung in dem Mitgliedstaat zu bemühen, dessen Staatsangehörigkeit er verloren hat.59 Vergleichbares gilt für
53 Schlussakte zum Vertrag von Maastricht Teil III, 2. Erklärung, Sart II Nr 155; s a Schlussfolgerungen des Rates von Edinburgh, Bull EG 12/92, S 26 ff; beide sind „als Instrumente zur Auslegung … heranzuziehen“, s EuGH, Rs C-135/08, Slg 2010, I-1449, Rn 40 – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1. 54 So EuGH, Rs C-369/90, Slg 1992, I-4239, Rn 10, 14 – Micheletti; dazu Jessurun d’Oliveira, CMLRev 30 (1993), 623 ff; Ruzié, RGDIP 97 (1993), 107 ff; bestätigt in EuGH, Rs C-135/08, Slg 2010, I-1449, Rn 40 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1. 55 Zum Fall eines spanisch/argentinischen Doppelstaaters, der sich in Italien niederlassen will, de Groot FS Bleckmann, 1993, S 87 (94 f). 56 Europäisches Parlament, Entschließung zur Unionsbürgerschaft, ABl 1991 Nr C 326/205; sa de Groot Staatsangehörigkeit im Wandel, 1989, S 23 ff; O’Leary, YEL 12 (1992), 353 (383 f); Sauerwald Die Unionsbürgerschaft und das Staatsangehörigkeitsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 1996, S 120 ff, 156 ff; Schönberger in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 45 f. 57 Zur Kompetenzlage Oosterom-Staples, Neth Int’l L Rev 65 (2018), 431 (439 ff). 58 Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 20 AEUV Rn 5. 59 EuGH, Rs C-135/08, Slg 2010, I-1449, Rn 55 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1 (Verschweigen eines Ermittlungsverfahrens im Herkunftsstaat); s zur Rücknahme vor Erlass des 2009 eingef § 35 StAG auch BVerfGE 116, 24; zur unionsbürgerfreundlichen Handhabung der Ausbürgerungstatbestände Giegerich in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art 16 Abs 1 Rn 79; zu den Implikationen für den Unionsbürgerstatus eingehend Mouton, RGDIP 114 (2010), 257 (271 ff).
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den Verlust kraft Gesetzes, wenn dieses vorsieht, dass die Staatsangehörigkeit mangels Effektivität, bspw nach langfristigem Aufenthalt im Ausland, verlorengeht; der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet zu Vorkehrungen, die den Behörden eine Prüfung der Folgen ermöglichen.60 In der Abwägung sind die Grundrechte der Betroffenen, im Einzelfall etwa das Recht auf Achtung des Familienlebens (Art 7 GRCh), zu berücksichtigen.61 Zu beachten ist vor diesem Hintergrund auch die Rspr des EGMR, der zufolge die Entziehung der Staatsangehörigkeit das Recht auf Privatsphäre (Art 8 EMRK) und das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art 14 EMRK) jedenfalls dann verletzen kann, wenn die Betroffenen dadurch ihr Recht auf rechtmäßigen Aufenthalt verlieren; effektiver Rechtsschutz (Art 13 EMRK) muss zur Verfügung stehen.62 Die Verklammerung von Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft wirkt 29 sich auch auf den Fall aus, dass ein ganzes Staatsvolk den Unionsbürgerstatus verliert, weil ihr Staat gem Art 50 EUV aus der Union austritt. Mit dem Austritt verlieren dessen Staatsangehörige die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte, umgekehrt erstrecken sich die Unionsbürgerrechte der Angehörigen der verbleibenden Mitgliedstaaten nicht mehr auf den ausgetretenen Staat. Was von diesen Rechten übrig bleibt, ist Gegenstand des in Art 50 II 2 EUV vorgesehenen Abkommens über die beiderseitigen künftigen Beziehungen. Im Falle des sog Brexit, des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU, bedeutet dies, dass sich in Britannien aufhaltende Unionsangehörige ebenso wie Briten mit Wohnsitz in der EU eines neuen Aufenthaltstitels bedürfen. Das Austrittsabkommen sichert den aus der Unionsangehörigkeit Berechtigten den Aufenthaltsstatus zu, den sie zum Ende der Übergangszeit am 31.12.2020 innehatten.63 Für die Zukunft ist das europäisch-britische Handels- und Kooperationsabkommen vom 24.12.2020 einschlägig, das nur noch Regelungen über eine Befreiung von der Visumspflicht für Kurzaufenthalte (mit dem Vorbehalt, diese aufzuheben), Geschäftsreisende und unternehmsintern versetzte Personen sowie die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Erwerbstätiger umfasst.64 Die Einzelheiten werden sich nach britischem und sekundä60 EuGH, Urt v 12.3.2019, Rs C-221/17 – Tjebbes m Anm Swider, CMLRev 57 (2020), 1163 ff. 61 EuGH, Urt v 12.3.2019, Rs C-221/17, Rn 45 – Tjebbes. 62 Zur Streichung nichtslowenischer Angehöriger des ehem Jugoslawien aus dem Register EGMR, Urt v 26.6.2012, 26828/06, Rep 2012-IV, Rn 339 ff, 386 ff – Kurić. 63 Austrittsabkommen v 17.10.2019, ABl 2019 Nr C 384/1; s insbes Art 15 (Daueraufenthalt nach 5 Jahren), Art 17 (Bestandsschutz) und Art 39 (Zusicherung auf Lebenszeit); dazu Schewe in: Kadelbach (Hrsg), Brexit – and What It Means, 2019, S 85 (91 ff). 64 Handels- und Kooperationsabkommen v. 24.12.2020, ABl 2020 Nr L 444/14, Teilbereich Vier, Titel II (S 307) (Freizügigkeit), Anh Servin-3 (S 836 ff) (Geschäftsreisende), Anh Servin-5 (S 862 ff) (Bearbeitung von Einreiseanträgen) und Prot über d soziale Sicherheit (S 1268 ff). Sonderregelungen gelten für Irland.
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rem Unionsrecht bestimmen. Um nach den beiden Abkommen gleichwohl mögliche nachteilige Konsequenzen abzumildern,65 ist in der Literatur vorgeschlagen worden, die Unionsbürgerschaft von der Staatsangehörigkeit zu entkoppeln,66 doch bedürfte es dazu wg Art 20 I 2 AEUV einer – nicht wahrscheinlichen – Vertragsänderung.67 Die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen politischen Rechte (Art 22, 24 AEUV, → Rn 51 ff), das Recht auf stellvertretenden konsularischen Schutz (Art 23 AEUV, → Rn 81 ff) und abgeleitete Teilhaberechte (→ Rn 90 ff) der Briten gehen in jedem Falle unter. 30 Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft sind also nach Art 20 I 2 AEUV untrennbar. Drittstaatsangehörige oder Staatenlose können die Unionsbürgerschaft nicht selbstständig erwerben.68 So wird die philosophische Idee, dass Bürger eines Gemeinwesens diejenigen sind, die unter einer gemeinsamen politischen und rechtlichen Ordnung leben wollen,69 wohl nicht zum Bestandteil des Konzeptes der Unionsbürgerschaft werden, mit allen Folgen, die dies für die staatliche Migrationspolitik hat.70 Auch kann niemand auf die Unionsbürgerschaft verzichten, ohne zugleich seine Staatsangehörigkeit aufzugeben, und auch die Rücknahme der Einbürgerung eines Unionsbürgers führt ohne weiteres zum Verlust der Unionsbürgerschaft, selbst wenn der Ausgebürgerte dadurch staatenlos wird.71
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Lösung Fall 1: Das Vorabentscheidungsersuchen des spanischen Gerichts an den EuGH war als Auslegungsvorlage gem Art 267 lit a AEUV ohne weiteres zulässig. Nach Art 49 AEUV kann sich M auf die Niederlassungsfreiheit berufen, wenn er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist. Nach den im Zusammenhang mit Art 20 I 2 AEUV abgegebenen Erklärungen ist hierfür nicht das Unionsrecht, sondern das nationa-
65 Zu Lücken und offenen Fragen Spaventa, ELRev 45 (2020), 193 ff; zum Schutz wohlerworbener Rechte Mariani, RGDIP 123 (2019), 653 ff. 66 Oosterom-Staples, Neth J Int’l L 65 (2018), 431 (459 f); s a Kostakopoulou, JCMSt 56 (2018), 1 ff (Vorschlag eines speziellen geschützten Bürgerstatus); krit zu einer Überdehnung der Verträge Athanassiou/Shaelou in: Kochenov (Hrsg), Citizenship and Federalism, S 731 ff. 67 Art 50 EUV zu ändern schlägt Gerkrath, RUE 2020, 405 ff vor. 68 Vgl Kommission, Dritter Bericht, KOM 2001 (506) endg S 8 Fn 4. 69 Vgl Meehan Citizenship and the European Community, 1993, 123 ff; Habermas Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S 166 f; Benhabib The Rights of Others, 2004, S 134 ff; Kochenov, ICLQ 62 (2013), 97 (132). 70 Thym, EuR 2011, 487 (498 ff); allerdings stellt RL 2003/109, ABl 2004 Nr L 16/44 (aktuelle Fsg ABl 2011 Nr L 132/1) Drittstaatsangehörige mit langfristigem Aufenthaltsrecht Inländern im Hinblick auf Beschäftigung und soziale Sicherheit gleich und vermittelt einen Ausweisungsschutz, der weitgehend dem der Unionsbürger entspricht. 71 BayVGH, NVwZ 1999, 197 (Verzicht); EuGH, Rs C-135/08, Slg 2010, I-1449, Rn 51 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1 (Entzug), zu evtl Pflichten des Mitgliedstaates der ursprünglichen Staatsangehörigkeit ebd Rn 62.
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le Recht maßgeblich. Somit besitzt M die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates, wenn er die italienische Staatsangehörigkeit wirksam erworben hat. Hieran gibt es keinen Zweifel, auch nicht aufgrund des Umstands, dass M nach dem Geburtslandprinzip auch die argentinische Staatsangehörigkeit erworben hat, so dass er beide Staatsangehörigkeiten besitzt. Indes könnte Spanien nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen berechtigt sein, die italienische Staatsangehörigkeit als nicht effektiv anzusehen. Nach dem Völkerrecht bedarf es zwischen Staat und Individuum einer genuinen, realen Verbindung, an der man im Verhältnis zwischen M und Italien womöglich zweifeln kann, da M nie in Italien gelebt hatte. Diese Regeln des Völkergewohnheitsrechts könnten jedoch durch den AEU-Vertrag als die speziellere und auf die Union beschränkte Rechtsordnung verdrängt worden sein. Die Protokollerklärung zum Vertrag von Maastricht, der zufolge es allein auf das mitgliedstaatliche Recht ankommen soll, bringt zum Ausdruck, dass die Unionsstaaten ihr Staatsangehörigkeitsrecht untereinander vorbehaltlos anerkennen. Daher durfte Spanien der italienischen Staatsangehörigkeit nicht entgegen italienischem Recht die Anerkennung versagen. Dies wäre nur dann möglich gewesen, wenn das italienische Recht eine geordnete Einwanderungspolitik unmöglich gemacht hätte. Hierfür lagen keine Anhaltspunkte vor. Spanien musste daher dem M die Niederlassung als Zahnarzt gestatten.72
Aus dieser Entscheidung ergibt sich für die Behandlung von Personen mit mehr- 32 facher Staatsangehörigkeit eine Reihe von Konsequenzen.73 Ihre Leitlinien sind auf das deutsche Recht, das in Art 5 I EGBGB eine der spanischen vergleichbare Regelung kennt, übertragbar. Dass M auch in Deutschland die Niederlassung und alle an die Unionsbürgerschaft geknüpften Rechte nicht verwehrt werden dürften, bedarf keiner näheren Ausführungen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie Doppelstaatler zu behandeln sind, die die Angehörigkeit zweier Unionsstaaten besitzen. Da bei Vorliegen der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaates alle Rechte des AEUVertrages entstehen, dürfen sie auch nicht als Inländer behandelt und wie diese etwa gegenüber Nutznießern der Grundfreiheiten schlechter gestellt werden. Die sog Inländerdiskriminierung ist hier also, anders als sonst, nicht zugelassen, und zwar wohl auch dann nicht, wenn die andere EU-Staatsangehörigkeit nicht effektiv ist.74 Dies betrifft auch Deutsche, die die Staatsangehörigkeit eines anderen Unionsstaates erwerben, die deutsche dadurch aber, anders als bei Erwerb einer Drittstaatsangehörigkeit, wegen der Begünstigung von Unionsbürgern nach § 25 I 2 StAG nicht verlieren. Doppelstaatler, die die Staatsangehörigkeit eines Unionsstaates und eines Drittstaates besitzen, haben einen ähnlichen Status, soweit ihnen eine völkerrecht-
72 Der Lsg wurde die akt Rechtslage zugrunde gelegt. 73 Vgl i Einz Zimmermann, EuR 1995, 54 (64 ff). 74 Zum Vorliegen einer EU-Staatsangehörigkeit als wesentl Voraussetzung EuGH, Rs 235/87, Slg 1988, 5589 ff – Matteucci; Rs C-148/02, Slg 2003, I-11613, Rn 28 – Garcia Avello; zu einem Fall mit frz/ dtsch Staatsangeh Rs 292/86, Slg 1988, 111, Rn 11 ff – Gullung = JK 89, EWGV Art 52/1; zur Inländerdiskr noch bei Fn 84 f.
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liche Vereinbarung der Union mit dem Drittstaat Rechte eröffnet, die den Grundfreiheiten entsprechen. Dies ist im Hinblick auf die Staaten des Europäischen Wirtschaftsraumes, die Schweiz und die Türkei der Fall.75 33 Auch wenn die Mitgliedstaaten bei der Regelung von Begründung und Entzug der Staatsangehörigkeit in Wahrnehmung eigener Kompetenzen handeln, zieht die Unionsbürgerschaft die Materie doch, wie gesehen, in den weiteren Anwendungsbereich des Unionsrechts, so dass die Mitgliedstaaten dessen Grenzen beachten müssen.76 Was die Verleihung der Staatsangehörigkeit angeht, so verletzt das Optionsmodell des § 29 StAG die Unionstreuepflicht (Art 4 III EUV) nicht, dem zufolge in der Bundesrepublik geborene oder aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit unter im Einzelnen festgelegten Bedingungen erwerben und, wenn sie nicht anders optieren, auch behalten, zumal in diesen Fällen bereits eine hinreichend effektive Bindung an die Bundesrepublik besteht.77 34 Zweifel hat hingegen die Praxis einiger Mitgliedstaaten geweckt, Drittstaatsangehörige nach „Investition“ eines höheren Geldbetrages erleichtert einzubürgern.78 Diese sog Investitionsbürgerschaft ist als Kommerzialisierung bürgerschaftlicher Rechte schon für sich besehen fragwürdig.79 Ein weiteres Problem besteht in einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Recht, weil es in solchen Fällen zur Einbürgerung und damit zur Verleihung der Unionsbürgerschaft – auch an durchaus zweifelhafte Kandidaten – kommen kann, obwohl es an einer genuinen Verbindung zum Aufnahmestaat fehlt, während dieser Status auch fest integrierten anderen Drittstaatsangehörigen mit Daueraufenthaltsrecht oft verwehrt bleibt. Zum dritten kann aus der Ermöglichung der daran gekoppelten Freizügigkeit ein Geschäft auf Kosten anderer EU-Staaten werden, die, wie aus der Micheletti-Entscheidung des EuGH zu ersehen (→ Rn 31), an die Effektivität der Staatsangehörigkeit gerade keine Anforderungen stellen dürfen. Solange es indessen für eine Mindestharmonisierung des Staatsangehörigkeitsrechts an einer Unionskompetenz fehlt, bestehen außer der Unionstreuepflicht kaum präzise Maßstäbe; als Ansatz käme immerhin die Unionsbürgerschaft selbst in Betracht, deren integrativer Sinn durch eine kommerzialisierte Einbürgerungspraxis unterlaufen
75 Vgl insb Art 28, 31 und 36 des EWR-Übk, Sart II Nr 310; zur Schweiz Art 3 des Abk über die Freizügigkeit, ABl 2002 Nr L 114/6 idF ABl 2017 Nr L 31/3; zur Türkei das Assoziationsabkommen BGBl II 1963, 453, 509; Zusatzprotokoll BGBl II 1972, 385; zur Privilegierung bes EuGH, Rs C-262/96, Slg 1999, I-2685 ff – Sürül; Rs C-325/05, Slg 2007, I-6495, Rn 62 ff – Derin; s zu einem Vergleich des Status türk Staatsangehöriger mit der Unionsbürgerschaft Schnitzer Assoziationsbürger, 2017. 76 Fn 59 ff. 77 Zum frh bestehenden Optionsmodell und unionsrechtlichen Zweifeln Grzeszick, ZRP 2015, 42 ff. 78 Europäisches Parlament Entschließung „EU citizenship for sale“ v 16.1.2014, P7_TA(2014)0038. 79 Carrera, MJ 21 (2014), 406 ff; Hilpold, NJW 2014, 1071 ff; Parker, JCMSt 55 (2017), 332 ff.
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würde.80 Folgt man dem nicht, bleibt nur, die betreffenden Mitgliedstaaten mit den Mitteln der Aufsicht durch die Kommission (Art 258 AEUV) zu einer konsequenten Verfolgung von Verstößen gegen bestehendes Unionsrecht, etwa im Kampf gegen Korruption, Geldwäsche und Steuerhinterziehung, anzuhalten.81
3. Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft Die Unionsbürgerschaft ist von der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der 35 Union abhängig und soll im Rahmen der Union eine Funktion übernehmen, der in den Staaten die nationale Staatsbürgerschaft entspricht. Sie tritt zu dieser aber nicht in Konkurrenz, sondern ergänzt sie (Art 20 I 3 AEUV: „tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu“). Die Unionsbürgerschaft soll also eine „Bürgerschaft auf mehreren Ebenen“ begründen.82 Damit fragt sich, an wen sich die Rechte der Unionsbürger eigentlich richten. Erster Adressat ist die Union. Das Ziel, insoweit die Rechtsstellung des Einzel- 36 nen bewusster zu definieren, wird beim Europawahl-, Petitions-, Informations- und Aktenzugangsrecht (Art 22, 24, 15 AEUV) erkennbar. Im Verhältnis zur Union lässt sich die Unionsbürgerschaft daher ohne weiteres als Rechtsverhältnis oder Rechtsstatus bezeichnen.83 Darüber hinaus sind auch die Mitgliedstaaten Adressaten der meisten sich aus 37 der Unionsbürgerschaft ergebenden Verpflichtungen. Dies gilt für die Freizügigkeit (Art 21 AEUV), das Kommunalwahlrecht (Art 22 I AEUV) sowie den diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 23 AEUV), aber auch das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art 22 II AEUV) bedarf staatlicher Mitwirkung. Diese Rechte richten sich ihrem Wortlaut nach an Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Unionsbürger nicht besitzt, in denen er aber seinen Wohnsitz genommen hat oder
80 Zweifel bei Schönberger in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 47; die Kommission hat unterdessen im Oktober 2020 gegen zwei Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, s Bericht Staatsbürgerschaftsregelungen und Aufenthaltsregelungen für Investoren in der EU, COM (2019) final, S 22. 81 Kommission, Bericht Staatsbürgerschaftsregelungen und Aufenthaltsregelungen für Investoren in der EU, COM (2019) final, S 17 ff; van den Brink, ICLQ 69 (2020), 177 (201 f). 82 Kommission Dritter Bericht, KOM 2001 (506) endg S 8; ein wesentl Merkmal der Unionsbürgerschaft ist also ihre „Zusätzlichkeit“, s Closa, CMLRev 29 (1992), 1137 ff; O’Keefe in: ders/Twomey (Hrsg) Legal Issues of the Maastricht Treaty, 1994, S 87 (102 f); Parallelen zum Indigenat im Deutschland des 19. Jh sehen Hobe, Der Staat 32 (1993), 245 (258 f); Schönberger Unionsbürger, 2005, S 301 ff. 83 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 6; Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, Art 20 AEUV Rn 1; Schönberger Unionsbürger, 2005, S 162 ff; Weber in: EnzEuR Bd 10, § 3 Rn 97.
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noch begründen will. Darüber hinaus fragt sich, ob auch dem eigenen Staat aus der Unionsbürgerschaft Verpflichtungen erwachsen. Getreu seiner Rechtsprechung zur sog Inländerdiskriminierung hat es der EuGH bisher abgelehnt, die Unionsbürgerrechte auf die eigenen Staatsbürger zu erstrecken, solange sie nicht von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, und den Mitgliedstaaten gestattet, sie strengeren Regelungen zu unterwerfen.84 Die Frage stellt sich indes nur im Hinblick auf die Freizügigkeit und das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art 21 und 18 AEUV). Insoweit hat die Rspr die Doktrin von der Neutralität des Europarechts gegenüber der Inländerdiskriminierung dadurch abgemildert, dass sie weitere Sachverhalte unter den Anwendungsbereich der Verträge (Art 18 AEUV) gezogen hat.85 Die übrigen Rechte sind dagegen nach Wortlaut und Sinn an andere als die Herkunftsstaaten (Art 22, 23 AEUV) bzw allein an die Union (Art 24, 15 AEUV) gerichtet. Dem viel diskutierten Urteil im Fall Ruiz Zambrano zufolge sollen den Adressaten der Unionsbürgerrechte allerdings generell Maßnahmen verwehrt sein, die „bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird“.86 So war Belgien daran gehindert, kolumbianischen Eltern von Kindern, die kraft des Territorialprinzips die belgische Staatsangehörigkeit und damit die Unionsbürgerschaft erworben hatten, das Aufenthaltsrecht zu verweigern, weil deren Ausweisung faktisch auch die Ausreise der noch minderjährigen Kinder aus der Union als Ganzes erzwungen hätte. Bestand also bisher der Kern des Unionsbürgerstatus in einem Diskriminierungsverbot aus Gründen des Gebrauchs der Freizügigkeit, schien sich hier nun die Vorstellung eines Mindeststandards von Rechten anzudeuten, der von einem Ortswechsel unabhängig ist.87 Die Folgerechtsprechung spricht indessen dafür, dass die Kernbestandsformel der Entscheidung Ruiz Zambrano nur die Begründung für eine pragmatische Lösung in eng begrenzten Ausnahmefällen bieten soll.88
84 EuGH, verb Rs C-64/96 u C-65/96, Slg 1997, I-3171, Rn 23 – Uecker; Rs C-212/06, Slg 2008, I-1683, Rn 33 ff – Gouvernement de la Communauté française; Rs C-127/08, Slg 2008, I-6241, Rn 77 f – Metock m Anm Hammamoun/Neuwahl, RTDE 2009, 91 (100 ff); dag Borchardt, NJW 2000, 2057 (2059); Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, S 338 ff. 85 Vgl Spaventa, CMLRev 45 (2008), 13 (30 ff); Tryfonidou, LIEI 35 (2008), 43 ff; Hanf, MJ 18 (2011), 29 ff; dazu noch u IV 4. 86 EuGH, Rs C-34/09, Slg 2011, I-1177, Rn 42 – Ruiz Zambrano. 87 Krit Hailbronner/Thym, NJW 2011, 2008 ff; Gärditz, VVDStRL 72 (2013), 49 (144 ff); einen Paradigmenwechsel sehen Nettesheim, JZ 2011, 1030 ff; Kochenov/Plender, ELR 37 (2012), 369 (385 ff); speziell für das Ausländerrecht Huber, NVwZ 2011, 856 ff; programmatisch mit Blick auf die Grundrechte v Bogdandy et al, ZaöRV 72 (2012), 45 ff; z d Konsequenzen dieses Modells eing Wendel in: EnzEuR Bd 2, § 18 Rn 107 ff; Neier Der Kernbestandsschutz der Unionsbürgerschaft, 2019, S 101 ff. 88 Vgl EuGH, Urt v 8.11.2012, Rs C-40/11, NVwZ 2013, 357, Rn 71 – Iida („ganz besondere Sachverhalte“); zu Ehegattennachzug und Familienzusammenführung EuGH, Rs C-434/09, Slg 2011, I-3375,
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Die Unionsbürgerschaft begründet somit jedenfalls zugleich einen besonderen, 38 der Staatsbürgerschaft komplementären Status des Einzelnen gegenüber der Union und gegenüber den Mitgliedstaaten. Es soll nun beschrieben werden, worin dieser Status besteht. Dabei bleiben, anders als in den Berichten der Kommission über den Stand der Unionsbürgerschaft (Art 25 I AEUV) gelegentlich der Fall, subjektive Rechte außer Betracht, die das europäische Sekundärrecht gewährt, aber mit diesem Status nicht unmittelbar verbunden sind.89
IV. Die Unionsbürgerrechte 1. Freizügigkeit Fall 2: (nach EuGH, Urt v 11.11.2014, Rs C-333/13 – Dano)90 Frau D und ihr in Deutschland geborener sieben Jahre alter Sohn F sind rumänische Staatsangehörige. D war zuletzt 2016 nach Deutschland eingereist und lebt bei ihrer Schwester in Leipzig. Die Stadt stellte ihr eine unbefristete Freizügigkeitsbescheinigung für Unionsangehörige aus und gewährt ihr Kindergeld sowie einen monatlichen Unterhaltsvorschuss; beide Beträge zusammen ergeben etwa 310 € im Monat. Sie kann sich in einfachem Deutsch ausdrücken, hat aber keinen Beruf erlernt, und es deutet nichts darauf hin, dass sie sich um eine Arbeit bemüht hätte. Ihr Antrag auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung nach SGB II wird abgelehnt, Rechtsmittel bleiben erfolglos. Am 1.5.2021 stellt die zuständige Ausländerbehörde D einen Bescheid zu, durch den gem § 5 IV FreizügG/EU der Verlust ihres Aufenthaltsrechts festgestellt wird; gem § 7 FreizügG/EU wird sie zur Ausreise aufgefordert, die Abschiebung wird angedroht. Zur Begründung wird angeführt, dass sie auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesen sei und daher die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt nach dem FreizügG/EU und der RL 2004/38 nicht erfülle. Hiergegen richtet sich nach Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes die verwaltungsgerichtliche Klage der D. Das zuständige VG legt dem EuGH gem Art 267 AEUV die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob eine Ausweisung in Fällen wie dem vorliegenden mit dem Unionsrecht, insbesondere Art 21 AEUV und der das Freizügigkeitsrecht konkretisierenden Unionsbürger-RL 2004/38, vereinbar ist. Wie war zu entscheiden?
Rn 50 ff – McCarthy; Rs C-256/11, Slg. 2011, I-11315, Rn 66 – Dereci = JK 2012, AEUV Art 20/2; Rs C-83/11, Urt v 5.9.2012, NVwZ 2012, 1532, Rn 32 – Rahman; verb Rs C-356/11 u 357/11, Urt v 6.12.2012, NVwZ 2013, 419, Rn 41 ff – O u S; Urt v 8.5.2013, Rs C-87/12, Rn 30 ff – Ymeraga; zusammenfassend Urt v 8.5.2018, Rs C-82/16, Rn 39 ff – KA ua; z mgl Fortbildung Kroeze, ELRev 44 (2020), 238 ff; im Sinne der ZambranoRspr EuGH, Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20 – The Department for Communities in Northern Ireland. 89 Sechster Bericht, KOM (2010) 603 endg S 5 ff; s ferner Kommission Report 2013 – EU citizens: your rights, your future, COM (2013) 269 final, S 6 ff; Systematisierungen unionsrechtlich gewährter Rechte bei Reich Bürgerrechte in der Europäischen Union, 1999; Nettesheim, AöR 132 (2007), 333 ff; Goudappel The Effects of EU Citizenship, 2010. 90 Fall 2 spricht aufenthaltsrechtliche Fragen an; die Vorlagefragen an den EuGH im Originalfall richteten sich auf die sozialrechtliche Seite. Der Darstellung und der Lösung liegt die im Dezember 2022 geltende Rechtslage zugrunde.
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a) Rechtliche Tragweite 40 Das Recht der Unionsbürger nach Art 21 AEUV, sich auf dem Gebiet der Mitglied-
staaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist für den Status der Unionsbürgerschaft zentral, da es für alle anderen Rechte die Voraussetzung bildet.91 Die Bedeutung liegt in einer Erweiterung individueller Rechte mit wirtschaftlicher Zwecksetzung auf eine allgemeine, keiner Begründung bedürftigen und keinerlei Integrationsverpflichtungen der Berechtigten unterliegenden Bewegungsfreiheit in Europa.92 Die Grundfreiheiten sind gegenüber der Freizügigkeit die spezielleren Garantien, da sie über Art 21 AEUV hinaus auch ein Recht auf Teilnahme am Wirtschaftsverkehr gewähren.93 Art 21 AEUV kommt daher allen unionsangehörigen Personen zugute, die nicht aktuell erwerbstätig sind, nicht in den Genuss des Fortbestandes aus den Grundfreiheiten folgender Aufenthaltsrechte kommen, wie dies bei früher Erwerbstätigen in der Regel der Fall sein wird, und auch nicht als Familienangehörige Erwerbstätiger ein Freizügigkeitsrecht besitzen. Dies kann ein Schüleraustausch, ein Auslandsstudium oder ein Altersruhesitz sein, doch ist ein definierter Aufenthaltszweck nicht notwendig.94 Art 21 AEUV ist auch anwendbar, wenn es an einer klaren Zuordnung des Aufenthalts zu einem solchen Zweck fehlt.95 Hinter Art 21 AEUV tritt das Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV als allgemeinere Vorschrift zurück, kann sich aber in Verbindung mit dem Freizügigkeitsrecht zu einem Teilhabeanspruch verstärken (→ vgl hierzu Buckler § 10.3), ähnlich wie dies von den Grundrechten des Grundgesetzes her aus der Verbindung von Art 12 GG, der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsprinzip bekannt ist.96 41 Der Rechtsprechung des EuGH zufolge ist Art 21 AEUV unmittelbar anwendbar.97 Dagegen scheint zu sprechen, dass Art 21 AEUV das Freizügigkeitsrecht nur „vorbehaltlich“ in den Verträgen und im Sekundärrecht vorgesehener Beschränkungen und Bedingungen gewährt. Eine Bestimmung des Primärrechts muss zwar klar gefasst, darf an keine Bedingung geknüpft sein und keiner weiteren Umsetzungsakte bedürfen, wenn sie unmittelbar anwendbar sein soll.98 Der Wortlaut des
91 Art 45 I GRCh hat dens Gewährleistungsgehalt; die Rspr bezieht sich jedoch nach wie vor auf Art 21 AEUV. 92 Vgl Bast Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2011, S 52 („Unionsbürgerschaft als Migrationssteuerungsabwehranspruch“). 93 Vgl EuGH, Rs C-193/94, Slg 1996, I-929, Rn 22 – Skanavi. 94 Zum Studium EuGH, Rs C-357/89, Slg 1992, I-1027, Rn 30 ff – Raulin. 95 Vgl EuGH, Rs C-274/96, Slg 1998, I-7637 – Bickel u Franz. 96 BVerwGE 115, 32 (37), vgl Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art 12 Rn 109 ff. 97 EuGH, Rs C-413/99, Slg 2002, I-7091, Rn 84 – Baumbast; s a Pernice FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 177 (187); gg Direktwirkung noch Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, 547 ff; iE ähnl Mather, ELJ 11 (2005), 722 (727). 98 StRspr seit EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3 (25 f) – van Gend & Loos.
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Art 21 AEUV verleiht aber jedem „das Recht“ auf Freizügigkeit. Wenn Beschränkungen aus „diesem Vertrag“ folgen, lässt dies ohne weiteres den Schluss zu, dass auch das Recht selbst vertraglich zugesichert ist. Im systematischen Vergleich mit anderen Vorschriften ergibt sich ein Unterschied zu Art 22 AEUV, der im Gegensatz zu Art 21 II AEUV das Wahlrecht vorbehaltlich noch festzulegender Einzelheiten gewährt; nach Art 21 II AEUV „können“ hingegen Parlament und Rat Vorschriften erlassen, um weitere Erleichterungen einzuführen, müssen dies aber nicht, was ohne Direktwirkung nicht sinnvoll wäre. Zudem spricht das Vertragsziel der Erweiterung der Bürgerrechte, das auch in dem Auftrag an den Rat, die Ausübung der Freizügigkeitsrechte zu erleichtern (Art 21 II AEUV), zum Ausdruck kommt, eher für als gegen eine unmittelbare Wirkung. Die schon seit Längerem bestehenden sekundärrechtlichen Rechte sind somit 42 auf die Ebene des Primärrechts gehoben und zu einem Grundrecht geworden,99 dessen Ausübung allerdings im Sekundärrecht näher geregelt ist. Diese Regelungstechnik hat vor allem verfassungspolitische Motive. Inhaltlich deckt sich der Schutzbereich des Art 21 AEUV weitgehend mit den schon vor In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrages 1993 bestehenden Regelungen. Allerdings muss das Sekundärrecht seinerseits im Lichte der Zwecksetzung des Art 21 AEUV ausgelegt werden, da das allgemeine Freizügigkeitsrecht nun auf einer übergeordneten Stufe steht.
b) Schutzbereich Das Grundrecht steht nur Unionsbürgern zu.100 Familienangehörige, die Angehöri- 43 ge dritter, nicht durch Abkommen der Union privilegierter Staaten sind, besitzen nach Maßgabe des Sekundärrechts ein unselbständiges, von der Berechtigung der Unionsbürger abhängiges Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht,101 sofern diese von
99 S a Art 45 I GRCh; zur Disk über Art 21 AEUV als „Grundfreiheit ohne Markt“ s Kokott FS Tomuschat, 2006, S 207 (214 ff); Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S 355 ff; Calliess, EuR Beih 1/2007, 7 (23 ff); krit Caro de Sousa, ELJ 2014, 499 ff; wie hier Borgmann-Prebil, ELJ 2008, 328 ff; Wendel in: EnzEuR Bd 2, § 18 Rn 61 ff. 100 Ausnahmen können kraft Völkerrechts für staatliche Funktionsträger gelten, s EuGH, Rs C-364/ 10, Urt v 16.10.2012, Rn 40 ff – Ungarn/Slowakische Republik (Verweigerung der Einreise des Staatspräsidenten); dazu Cygan, ICLQ 2013, 492 (495 ff). 101 Art 45 II GRCh; konkretisiert v a durch Art 7 II RL 2004/38; zu den Vrs EuGH, Urt v 16.1.2014, Rs C423/12, Rn 19 ff – Reyes; der begünstigte Personenkreis wird der Vielfalt der Lebensformen entsprechend weit gefasst, s EuGH, Urt v 5.6.2018, Rs C-673/16 – Coman ua (eingetragene Lebenspartnerschaft); Urt v 12.7.2018, Rs C-89/17 – Banger (nicht-eheliche Lebensgemeinschaft); Urt v 26.3.2019, Rs C-129/18, Rn 54 f – SM (adoptierte Kinder, nicht aber lediglich die Vormundschaft).
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ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben,102 können aber, wenn sie für den Unterhalt eines minderjährigen Kindes mit Unionsbürgerschaft aufkommen, aus dessen Aufenthaltsrecht unter Umständen ihrerseits ein solches Recht ableiten;103 besitzen sie die entsprechende Aufenthaltsberechtigung und die sie dokumentierende Aufenthaltskarte (Art 10 RL 2004/38), entfällt innerhalb der EU für sie eine evtl bestehende Visumspflicht (Art 5 RL 2004/38).104 Das Freizügigkeitsrecht richtet sich gegen die Mitgliedstaaten, wobei hier die Frage Bedeutung gewinnt, ob auch der eigene Staat Adressat von Ansprüchen der Unionsbürger werden kann.105 Sie ist von Interesse, wenn das nationale Recht die Bewegungsfreiheit von Inländern stärker beschränkt als dies gegenüber Angehörigen anderer Mitgliedstaaten zulässig wäre.106 Inländer stehen gegenüber dem eigenen Staat nur unter dem Schutz der personenbezogenen Grundfreiheiten, wenn sie an der Ausreise in andere Mitgliedstaaten gehindert werden.107 Inlandsfälle ohne grenzüberschreitenden Bezug unterfallen diesen dagegen nicht.108 Es wäre ein Wertungswiderspruch, wenn Art 21 AEUV als die subsidiäre Gewährleistung mehr Schutz böte.109 Auch der
102 EuGH, Urt v 8.11.2012, Rs C-40/11, Rn 67 – Iida; Urt v 8.5.2013, Rs C-87/12, Rn 35 – Ymeraga; Urt v 10.10.2013, Rs C-86/12, Rn 22 – Alokpa; zum Fortbestand nach Ende d ehel Gemeinschaft Urt v 16.7.2015, Rs C-218/14 – Singh ua; BVerwGE 165, 128; nach Scheidung Urt v 30.6.2016, Rs C-115/15 – NA; Urt v 27.6.2018, Rs C-246/17 – Diallo; nach Wechsel der Staatsangehörigkeit Urt v 14.11.2017, Rs C-165/ 16, Rn. 45 ff. – Lounes, m Anm Weber, NVwZ 2018, 130; zur Einreise nach Rückkehr d Berechtigten Urt v 27.6.2018, Rs C-230/17 – Altiner; zum Wegfall d Aufenthaltsrechts nach Ausreise d Berechtigten Urt v 10.9.2019, Rs C-94/18 – Chenchooliah m Anm Ritleng, CMLRev 57 (2020), 1183 ff. Ein Aufenthaltsrecht in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit d Unionsangehörige besitzt, ergibt sich hieraus also nicht, wenn sie nicht zuvor eine gewisse Zeit in einem anderen Mitgliedstaat einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, s EuGH, Urt v 12.3.2014, Rs C-456/12, Rn 46 ff – O u B; Urt v 12.7.2018, Rs C-89/17 – Banger. 103 EuGH, Rs C-200/02, Slg 2004, I-9925 ff – Zhu u Chen; Rs C-34/09, Slg 2011, I-1177 ff – Ruiz Zambrano; iE ist dies eine Frage der persönlichen Umstände im Einzelfall, s Urt v 10.5.2017, Rs C-133/15 – ChavezVilchez ua m Anm van Eijken/Phoa, ELRev 43 (2018), 949 ff; Staiano, CMLRev 55 (2018), 225 ff; zur Abwägungspflicht bei Straffälligkeit des drittstaatsangehörigen Vaters Urt v 13.9.2016, Rs C-304/14, Rn 34 ff – CS; bei Vorstrafen Urt v 13.9.2016, Rs C-165/14, Rn 57 ff, 81 ff – Rendón Marín m Anm Neuvonen, CMLRev 54 (2017), 1201 ff. Zu Voraussetzungen, die ein abgeleitetes Recht drittstaatsangehöriger Eltern vermitteln können Defossez CDE 50 (2014), 161 ff. 104 Vgl EuGH, Urt v 18.6.2020, Rs C-754/18 – Ryanair. 105 So schon Borchardt, NJW 2000, 2057 (2059); s a Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 21 AEUV Rn 14; Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 21 AEUV Rn 9. 106 Vgl die Schranken in Art 11 II GG mit Art 45 III AEUV. 107 EuGH, Rs C-370/90, Slg 1992, I-4265, Rn 19 – Singh; zu den Pflichten des Herkunftsstaates eing Strumia, ELRev 45 (2020), 507 ff. 108 Vgl EuGH, Rs 175/78, Slg 1979, 1129, Rn 11 – Saunders; Rs C-112/91, Slg 1993, I-429, Rn 17 – Werner. 109 Die Kriterien, unter denen ein Mitgliedstaat ggü den eigenen Staatsangehörigen an die Freizügigkeit der Unionsbürger gebunden ist, sind daher die gleichen wie bei den Grundfreiheiten, s EuGH, Rs C-33/07, Slg 2008, I-5157, Rn 21 ff – Jipa; Rs C-434/10, Slg 2011, I-11659, Rn 28 ff – Aladzhov; Rs
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Grundrechtsgehalt des Art 21 AEUV liefert insoweit keine neuen Anhaltspunkte. Von einem Grundrecht sollte zwar erst die Rede sein, wenn ein Recht allen Unionsbürgern im Anwendungsbereich der Verträge gleichermaßen zusteht; wie weit Inländer in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, ist indessen gerade die Frage. Der EuGH hat daher auch nach Einfügung des heutigen Art 21 AEUV in den seinerzeitigen EG-Vertrag an seiner Rechtsprechung festgehalten.110 Damit ergibt sich das Freizügigkeitsrecht vollständig erst in Zusammenschau mit dem nationalen Recht.111 Mitgliedstaaten dürfen aber die Freizügigkeit ihrer Staatsangehörigen insofern nicht beschränken, als diese die Staatsgrenzen innerhalb der Union überschreiten wollen.112 Auch dürfen sie sie nicht benachteiligen, weil sie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben; so kann die Verweigerung von Leistungen mit dem Unionsrecht unvereinbar sein, wenn sie an qualifizierende Berufsabschlüsse oder an Mindestaufenthaltszeiten im Inland gekoppelt sind und diese Voraussetzungen nur deshalb nicht erfüllt werden, weil die Betroffenen ihren Abschluss im EU-Ausland erworben oder aus anderen Gründen ihren Wohnsitz dorthin verlegt haben.113 Das Freizügigkeitsrecht des Art 21 AEUV entfaltet zudem Privatwirkung unter denselben Umständen wie die personenbezogenen Grundfreiheiten, so dass es etwa auch gegenüber mächtigen privaten Akteuren wie Sportverbänden geltend gemacht werden kann.114 Der sachliche Schutzbereich umfasst somit die Ausreise aus dem einen und 44 die Einreise in den anderen Mitgliedstaat, ferner dort Bewegung, Wohnsitznahme und Aufenthalt.115 Insoweit enthält Art 21 AEUV ein Beschränkungsverbot. Dieses
C-430/10, Slg 2011, I-11637, Rn 32 ff – Gaydarov (alle Strafrecht); Rs C-249/11, Urt v 4.10.2012, NVwZ 2013, 273, Rn 29 ff – Byankov (Ausreiseverbot wg nicht beglichener Schulden). 110 EuGH, verb Rs C-64/96 u 65/96, Slg 1997, I-3171, Rn 23 – Uecker; s a Magiera in: Streinz, EUV/ AEUV, Art 21 AEUV Rn 14. 111 Verfassungen, die die Freizügigkeit gewähren, behalten sie meist eig Staatsangehörigen vor, s bspw Art 11 I GG; Art 5 IV griech, Art 16 ital, Art 32 lit, Art 44 port, Kap 2 Art 8 schwed, Art 32 slwn, Art 19 span und Art 13 f zyp Verf; § 44 II der dän Verfassung macht einen Vorbehalt bzgl des Grunderwerbs durch Ausländer, der primärrechtl durch ein Protokoll gedeckt ist. § 9 finn und § 34 estn Verf stellen Staatsbürger und rechtmäßig im Inland lebende Ausländer gleich. In Belgien, Irland und den Niederlanden ist die innerstaatl Freizügigkeit nicht verfassungsrechtl verankert. 112 EuGH, Rs C-135/99, Slg 2000, I-10409, Rn 34 f – Elsen. 113 EuGH, Rs C-224/98, Slg 2002, I-6191 ff – D’Hoop (Überbrückungshilfe nach Rückkehr vom Auslandsstudium); Urt v 18.7.2013, verb Rs C-523/11 u C-585/11, NJW 2013, 2879 – Prinz (Verweigerung von BAföG mangels ununterbrochenen, mindestens dreijährigen Aufenthalts in Deutschland); Urt v 25.7.2018, Rs C-679/16, Rn 69 ff – A (Assistenz f wöchentl über die Grenze pendelnden Studenten mit Behinderung). 114 EuGH, Urt v 13.6.2019, Rs C-22/18, Rn 33 ff – Biffi m Anm Lindholm/Parrish, CMLRev 57 (2020), 1283 ff. 115 S i Einz Kadelbach in: EnzEuR Bd 10, § 5 Rn 50 ff, 72 ff.
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Recht darf keinen sachlichen oder zeitlichen Begrenzungen unterworfen werden, zumal solchen nicht, denen Inländer nicht unterliegen. Auch in seinem Gehalt als Diskriminierungsverbot gewährt Art 21 AEUV ein Abwehrrecht. Identitätskontrollen nach nationalem Recht bleiben dagegen erlaubt, damit festgestellt werden kann, ob einer Person das beanspruchte Recht zusteht.116 Die Vorlage der Aufenthaltserlaubnis darf verlangt werden, sofern auch für Inländer eine Pflicht besteht, sich auszuweisen.117 45 Darüber hinaus begründet das Freizügigkeitsrecht in Verbindung mit Art 18 AEUV einen weitgehenden Anspruch auf Inländerbehandlung, der die schrittweise Integration in die Gesellschaft des Aufnahmestaates fördern soll.118 Hieraus können sich Freiheits- und Teilhaberechte ergeben (→ Rn 90 ff), deren Reichweite sich schwer absehen lässt. Im Schrifttum wird eine sachliche Begrenzung auf einen Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht verlangt.119 Dementsprechend dürfen EUAusländer etwa beim Erwerb von Grundbesitz nicht diskriminiert werden, unabhängig davon, ob es sich um eine Industrieanlage oder ein Ferienhaus handelt, sofern in den Gründungsverträgen oder Beitrittsakten nichts anderes bestimmt ist. Allerdings wird sich eine klare Grenze zwischen aufenthaltsbedingten und sonstigen Maßnahmen kaum ziehen lassen. 46 Der Schutzbereich ist umfassend angelegt. Er wird nur durch die „Bedingungen“ eingegrenzt, auf die Art 21 AEUV verweist.120 Man kann von einem normgeprägten Grundrecht sprechen. Die Bedingungen sind nach Aufenthaltsdauer gestaffelt: kurzfristige Verweildauern bis zu drei Monaten sind voraussetzungsfrei (Art 6 RL 2004/ 38), für darüber hinausgehende Aufenthalte gelten Mindestanforderungen an die finanzielle Tragfähigkeit (Art 7 RL 2004/38), und länger als fünf Jahre rechtmäßigen Aufenthalts berechtigen zum Daueraufenthalt, der keinen weiteren Bedingungen mehr unterliegt (Art 16 RL 2004/38). Zu den wichtigsten tatbestandsimmanenten Grenzen gehört daher das für mittelfristige Aufenthalte von mehr als drei Monaten sekundärrechtlich zulässige Erfordernis des Nachweises genügender Existenzmittel und eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes.121 Daraus folgt, dass sich
116 EuGH, Rs C-378/97, Slg 1999, I-6207 ff – Wijsenbeek. 117 EuGH, Rs C-24/97, Slg 1998, I-2133 ff – Kommission/Deutschland. 118 EuGH, Urt v 14.11.2017, Rs C-165/16, Rn 56 – Lounes m Anm Heymann, RTDE 2018, 587 ff; Urt v 13.6.2019, Rs C-22/18, Rn 32 – Biffi. 119 Dazu Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 21 AEUV Rn 7 ff. 120 Zwischen „Beschränkungen und Bedingungen“ iSd Art. 21 wird im Allgemeinen nicht differenziert, zumal beide ineinander übergehen können; dogmatisch ist eine begriffliche Unterscheidung denkbar, wenn man „Bedingungen“ als immanente Grenzen des Schutzbereichs ansieht, „Beschränkungen“ dagegen den Eingriffen zuordnet. 121 S i Einz Art 7 RL 2004/38.
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die Umstände, unter denen Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten ausgewiesen werden können, die keine Arbeit finden oder ohne Aussicht auf eine neue Stelle dauerhaft arbeitslos geworden sind, aus dem Sekundärrecht und der hierzu ergangenen Rechtsprechung ergeben.122 Gleiches gilt etwa für mittellos gewordene Touristen, die im EU-Ausland verbleiben. In solchen Fällen führt Art 21 AEUV nicht zu einer Erweiterung des Rechtsstatus. Auch die Regelung des Art 77 III AEUV, welcher der Union eine neue Gesetzgebungskompetenz für Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel und vergleichbare Papiere verschafft, lässt sich als Ermächtigung zur Ausgestaltung des Schutzbereichs lesen; das auf ihrer Grundlage erlassene Recht bezieht sich indessen allein auf Dokumente, trägt also in gewissem Umfang auch zur Ermöglichung der Freizügigkeit des Art 21 AEUV bei. Der Besitz von Ausweispapieren ist aber nicht konstitutiv für das Freizügigkeitsrecht; können sie im Einzelfall nicht vorgelegt werden, ist zu prüfen, ob die Identität und damit die Berechtigung mit zumutbarem Aufwand auf andere Weise festgestellt werden kann.123
c) Eingriffe und Schranken Gegenüber den personenbezogenen Grundfreiheiten bestehen im Hinblick auf 47 die denkbaren Eingriffe keine Unterschiede. Sie können in Beschränkungen, insbesondere aufenthaltsregelnden oder -beendenden Maßnahmen liegen, aber auch in Ungleichbehandlungen, die sich für Angehörige anderer Mitgliedstaaten oder für Inländer aufgrund eines Grenzübertritts ergeben. Aus der Parallelregelung in der Grundrechte-Charta ergibt sich nichts anderes (Art 45 I, 52 II GRCh). In die Aufenthalts- und Bewegungsfreiheit darf nur eingegriffen werden, wenn 48 die Verträge oder das Sekundärrecht dies zulassen.124 Letzteres ist seinerseits im Lichte des Art 21 I AEUV auszulegen. So wird diese Garantie ebenso wie die Grundfreiheiten vor allem durch den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung eingeschränkt, den Art 27 f RL 2004/38, umgesetzt durch §§ 6 f und 11 I FreizügG/EU, für
122 Solange Berechtigte der Grundfreiheiten der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen, kann deren Schutz fortbestehen, s EuGH, Urt v 19.6.2014, Rs C-507/12, Rn 35 ff – Saint Prix (Arbeitnehmerin); Urt v 20.12.2017, Rs C-442/16, NJW 2018, 1153 – Gusa (Niederlassungsfreiheit); der Schutz besteht für unfreiwillig arbeitslos Gewordene mindestens sechs Monate, Urt v 11.4.2019, Rs C-483/17, Rn 45 ff – Tarola. 123 Vgl EuGH, Rs C-215/03, Slg 2005, I-1215, Rn 26 – Oulane = JK 2005, EGV Art 49/14. 124 Zu den zeitl gebundenen Beschränkungen, die sich für Angehörige der 2004 und 2007 beigetretenen Staaten Mittel- und Osteuropas ergaben und sich auf die Freizügigkeit nach Art 21 AEUV zumindest indirekt auswirkten, s Kommission Fünfter Bericht, KOM (2010) 603 endg S 6; mit dem 30.6.2020 endeten bzgl Kroatiens (Anh V Ziff 2 Beitrittsakte, ABl 2012 Nr L 112/21) die letzten Übergangsregelungen aus dieser Phase; von der Möglichkeit ihrer Aktivierung hatte nur Österreich Gebrauch gemacht.
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alle Freizügigkeitsberechtigten gleichermaßen konkretisiert. Danach können Gründe der öffentlichen Sicherheit, etwa die Verurteilung wegen einer Straftat, zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen führen, doch gelten strenge Voraussetzungen. Die Anforderungen wachsen mit der Aufenthaltsdauer, sind also für Daueraufenthaltsberechtigte am strengsten (Art 28 II RL 2004/38). Wie bei den Grundfreiheiten ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Die Straftaten müssen also von gewisser Schwere sein und Grundwerte der betroffenen Gesellschaft berühren, und der Eingriff in die Freizügigkeit muss angemessen bleiben.125 Der lange unangewendet gebliebene Vorbehalt der öffentlichen Gesundheit (Art 29 RL 2004/38) ist in der Covid-Pandemie aktiviert worden; er dient dem Schutz vor Krankheiten „mit epidemischem Potenzial“ und verweist auf die „einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation“, erfasst aber auch sonstige übertragbare Krankheiten. Voraussetzung ist, dass der Aufnahmemitgliedstaat Maßnahmen zum Schutz seiner Staatsangehörigen trifft; die Beschränkung darf also kein Mittel zur Diskriminierung anderer Unionsangehöriger sein. Als Ermächtigung zu einem Eingriff wird in der Rspr des EuGH auch der Missbrauchsvorbehalt des Art 35 RL 2004/38 behandelt. In den Konsequenzen ist dies nachvollziehbar. Zwar lässt sich einwenden, dass das Aufenthaltsrecht schon nicht wirksam entstanden sei, wenn die nötigen Dokumente durch falsche Tatsachenangaben, etwa eine Scheinehe erwirkt werden. Der EuGH verlangt jedoch auch in diesen Fällen auf Rechtfertigungsebene eine Prüfung des Einzelfalls am Maßstab der Verhältnismäßigkeit, die sonst versperrt wäre.126 49 Darüber hinaus können sich Schranken aus zwingenden Erfordernissen des Gemeinwohls ergeben, was zu einer dogmatischen Annäherung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts an die Grundfreiheiten führt.127
125 Vgl EuGH, verb Rs C-482/01 u C-493/01, Slg 2004, I-5257, Rn 66 ff – Orfanopoulos u Oliveri; Rs C145/09, Slg 2010, I-11979, Rn 50 ff – Tsakouridis; Urt v 17.4.2018, verb Rs C-316/16 u C-424/16, Rn 40 ff – B, m Anm Pataut, RTDE 2018, 661 ff; Benlolo Carabot, CMLRev 56 (2019), 771 ff; s zu Grenzen der Datenspeicherung aus Gründen der Kriminalprävention Rs C-524/06, Slg 2008, I-9705, Rn 69 – Huber. 126 EuGH, Urt v 18.12.2014, Rs C-202/13, Rn 43 ff – McCarthy Rodriguez. 127 EuGH, Rs C-406/04, Slg 2006, I-6947, Rn 40 – De Cuyper = JK 2007, EGV Art 18/1 (Arbeitslosenunterstützung bei Auslandswohnsitz); Rs C-192/05, Slg 2006, I-10451, Rn 35 ff – Tas-Hagen (Kriegsopferentschädigung); Rs C-152/05, Slg 2008, I-39, Rn 26 ff – Kommission/Deutschland (Nichtgewähr der Eigenheimzulage für Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat); Rs C-544/07, Slg 2009, I-3389 ff – Rüffler (steuerl Abzugsfähigkeit von Beiträgen zur Krankenversicherung im Herkunftsstaat); s a die Übersicht bei Epiney in: Bauer/Cruz Villalón/Iliopoulos-Strangas (Hrsg), Die neuen Europäer – Migration und Integration in Europa, 2009, S 115 (219 ff).
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Lösung Fall 2: Die Vorlage an den EuGH richtet sich auf die Auslegung der Art 21 AEUV, Art 7 ff RL 2004/38 und war gem Art 267 AEUV unproblematisch zulässig. Die Ausweisung der Frau D (und ihres minderjährigen, sorgeberechtigten Kindes) könnte gegen die Verträge verstoßen haben. Da D in Deutschland nicht erwerbstätig war, kann sie sich nicht auf die Grundfreiheiten berufen. Als rumänische Staatsangehörige fällt D jedoch in den personellen Schutzbereich des Art 21 AEUV, der allen Unionsangehörigen ein Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt in den Mitgliedstaaten der EU verleiht, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Allerdings unterliegt dieses Recht nach Art 21 AEUV den „in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“. Solche Bedingungen stellt auch RL 2004/38 auf. Deren Art 7 I lit b bindet das Freizügigkeitsrecht nach einer Aufenthaltsdauer von drei Monaten an die Voraussetzung, dass die Berechtigten für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Mittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates in Anspruch nehmen müssen. D hält sich länger als drei Monate in Deutschland auf, ohne bereits gem Art 16 RL 2004/38 zum Daueraufenthalt berechtigt zu sein, so dass sie unter diese Regelung fällt. Zwar lebt sie mit ihrem Sohn bei einer Verwandten und erhält auch Familienleistungen aus öffentlichen Mitteln, doch hat sie – erfolglos – Sozialhilfe beantragt. Fraglich ist, ob dies ausreicht, um den Verlust des Aufenthaltsrechts festzustellen und D auszuweisen. Nach Art 14 II RL 2004/38 steht Unionsbürgern das Recht auf Aufenthalt zu, solange sie die ua in Art 7 RL 2004/38 genannten Voraussetzungen erfüllen. Die Voraussetzungen für eine Ausweisung sind indessen strenger als für die Verweigerung von Sozialhilfe, zu der die Mitgliedstaaten in derartigen Fällen berechtigt sind (Art 24 II RL 2004/38).128 Art 14 III RL 2004/38 bringt dies zum Ausdruck, dem zufolge die Inanspruchnahme von Sozialleistungen „nicht automatisch“ zu einer Ausweisung führen darf. Vielmehr ist, wie auch sonst bei Ergreifen aufenthaltsbeendender Maßnahmen (Art 27 II RL 2004/38), eine Abwägung der Umstände des Einzelfalles erforderlich, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muss.129 Dies zeigt auch Erwägungsgrund 16 der RL 2004/38 an, dem zufolge keine Ausweisung erfolgen sollte, solange die Aufenthaltsberechtigten Sozialhilfeleistungen nicht „unangemessen“ in Anspruch nehmen. Bei der Abwägung sind die persönlichen Umstände, Umfang und voraussichtliche Dauer der Hilfsbedürftigkeit sowie die vorangegangene Dauer rechtmäßigen Aufenthalts in Rechnung zu stellen. Auf der einen Seite fällt ins Gewicht, dass Frau D auf dem Arbeitsmarkt nicht aktiv ist und wohl auch schwerlich vermittelt werden kann; andererseits sind die Hilfszahlungen, die sie für ihr Kind erhält, nicht hoch und sie kann anscheinend mithilfe einer Angehörigen, bei der sie bereits seit vier Jahren wohnt, ihre Existenz sichern. Ihr schulpflichtiger Sohn ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, und es deutet nichts darauf hin, dass er zu dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, einen Bezug hätte. An der gebotenen Abwägung dieser Umstände hat es die handelnde Behörde gänzlich fehlen lassen; vielmehr hat sie ihre Ausweisung allein auf die Bedürftigkeit der D gestützt. Da Art 21 AEUV, Art 14 und 7 RL 2004/38 so auszulegen sind, dass sie einer solchen Entscheidung ohne Verhältnismäßigkeitsprüfung entgegenstehen, stand deren Anwendung mit Unionsrecht nicht in Einklang.
128 Im Ausgangsfall entschied der EuGH, dass keine Pflicht zur Gewähr von Sozialhilfe bestand, Urt v 11.11.2014, Rs C-333/13 – Dano. 129 EuGH, Urt v 19.9.2013, Rs C-140/12, Rn 69 ff – Brey; zur weiteren Rspr Fleuß, VerwArch 110 (2019), 91 ff.
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2. Politische Rechte und Kontrollrechte a) Wahlrecht aa) Gemeinsame Grundsätze 51 Durch Art 22 AEUV wird Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen (Art 22 I AEUV, 40 GRCh) und bei Wahlen zum Europäischen Parlament (Art 22 II AEUV, 39 GRCh) im Wohnsitzstaat zuerkannt.130 Ergänzend sind neue Formen der Bürgerbeteiligung eingeführt worden (Art 11 EUV), zu denen auch die Möglichkeit der Unionsbürger gehört, durch Bürgerbegehren eine Gesetzgebungsinitiative der Kommission zu lancieren. Das Quorum (mindestens eine Million Unionsbürger aus „einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten“) ist hoch, das Verfahren im Einzelnen ergibt sich aus konkretisierendem Sekundärrecht (Art 11 IV EUV, 24 I AEUV).131 Die beiden Wahlrechtsgarantien weisen unterschiedliche Bezüge zum Unionsrecht auf. 52 Das Kommunalwahlrecht wird als eine Funktion des europäischen Freizügigkeitsrechts aufgefasst. Es soll Nachteile abbauen, die durch die Wahl eines Auslandswohnsitzes innerhalb der Union entstehen, und zielt auf Gleichbehandlung im Rahmen des auf staatlicher Ebene bereits bestehenden lokalen Wahlrechts, macht also mit Blick auf Art und Inhalt der Willensbildung selbst keine Vorgaben. Verfassungsrechtlich gesehen wird die enge Bindung der staatsbürgerlichen Rechte der Wahl und des Zugangs zu öffentlichen Ämtern (Art 28 I iVm Art 20 II GG, Art 33 II GG) zugunsten einer der Mitgliedschaft in der Union geöffneten Staatlichkeit (Art 23 I GG) in bestimmten Bereichen durchbrochen. 53 Demgegenüber spiegelt das Europawahlrecht auf der subjektiven Seite die demokratische Dimension des institutionellen Rechts der Union wider. Es nimmt eine unionsweite, nicht nach Staatsangehörigkeit differenzierende Wählerschaft in den Blick und soll die gemeinsame politische Identität der Unionsbürgerschaft fördern. Dem versucht auch der Vertrag von Lissabon Rechnung zu tragen, dem zufolge sich
130 Die Vorgeschichte geht bis in das Jahr 1972 zurück, s Bieber, EuGRZ 1978, 203 (204); zu einer europäischen „Wohnsitzbürgerschaft“ („citoyenneté de résidence“) Benlolo Carabot, Rev Aff Eur 2011, 7 ff. 131 VO 2019/788, ABl 2019 Nr L 130/55, ersetzt VO 211/2011, ABl 2011 Nr L 65/1; DVO 2019/1799, ABl 2019 Nr L 274/3; Umsetzungsgesetz BGBl 2012 I, 446 idF BGBl 2022 I, 2015; näher Gundel, DÖV 2018, 585 ff; zur Zulassungshürde d Registrierung dch d Kommission und deren Überwindung dch d Nichtigkeitsklage (Art 263 AEUV) EuGH, Urt v 12.9.2017, Rs C-589/15 P – Anagnostakis m Anm Karatzia, CMLRev 56 (2019), 1069 ff; Urt v 7.3.2019, Rs C-420/16 P – Izsák; Urt v 19.12.2019, Rs C-418/18 P – Puppinck ua m Anm Gutiérrez, RUE 2020, 443 ff. Bis März 2023 wurden 99 Initiativen eingeleitet, s https://europa. eu.cititzens-initiative/_.de, zul gesehen 31.3.2023, zwölf davon haben die Schwelle von einer Mio Unterschriften überschritten.
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das Europäische Parlament nicht mehr aus Vertretern der „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ (Art 189 EGV), sondern der „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ zusammensetzen soll (Art 14 II EUV). Beide Wahlrechtsgarantien knüpfen am Wohnsitz an. Was unter „Wohnsitz“ 54 zu verstehen ist und unter welchen Voraussetzungen er begründet wird, regeln die Mitgliedstaaten.132 Allerdings ist das Wohnsitzprinzip nicht streng zu verstehen. So muss auf Wunsch auch im Herkunftsstaat gewählt werden können; eine andere Auslegung des Art 22 AEUV stünde mit dem übergeordneten Ziel der Art 20 ff AEUV in Widerspruch, die Rechte der Unionsbürger zu erweitern.133 Das aktive und passive Wahlrecht bei Europawahlen darf allerdings insgesamt nur einmal ausgeübt werden; für das aktive Kommunalwahlrecht können die Mitgliedstaaten etwa für Personen mit mehreren Wohnsitzen entsprechende Regelungen erlassen.134 Soweit eine doppelte Stimmabgabe nicht zugelassen ist, haben die Mitgliedstaaten Vorkehrungen gegen Missbrauch zu treffen.135 Dagegen ist es möglich, in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig bei Kommunalwahlen zu kandidieren. Zusätzlich können die Mitgliedstaaten weitere Voraussetzungen aufstellen, die mit dem Gleichheitssatz in Einklang stehen, dh entweder aufgrund der anderen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger erforderlich sein oder gleichermaßen für die eigenen Staatsangehörigen gelten müssen. Daher kann von Unionsbürgern verlangt werden, sich in ein Wählerverzeichnis eintragen zu lassen.136 Die Eintragung darf aber jedenfalls dann nicht für jede Wahl erneut verlangt werden, wenn die eigenen Staatsangehörigen keine entsprechende Obliegenheit trifft. Darüber hinaus gelten naturgemäß für alle gleichermaßen bestehende Anforderungen an das Mindestalter, die Mindestwohndauer, die Meldepflicht usw fort. Wo eine Wahlpflicht besteht, wie etwa in Belgien, kann diese allen Unionsbürgern auferlegt werden; allerdings besteht dann keine Pflicht, sich in die Wählerverzeichnisse eintragen zu lassen.137 Das zu Art 22 AEUV erlassene Sekundärrecht ermächtigt die Mitgliedstaaten 55 unter bestimmten Voraussetzungen zu Ausnahmeregelungen, wenn deren besondere Schwierigkeiten dies rechtfertigen (Art 22 I 2, II 2 AEUV). Art 52 II GRCh stellt
132 Haag in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 22 AEUV Rn 9; Degen, DÖV 1993, 749 (756) stützt seine aA auf ein Urteil des EuGH zum – hiervon abweichenden – steuerrechtl Wohnsitzbegriff (Rs C-297/89, Slg 1991, I-1943, Rn 28 – Ryborg zum „gewöhnlichen Wohnsitz“). 133 Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, Art 22 AEUV Rn 2. 134 Art 4 RL 93/109, ABl 1993 Nr L 329/34, i d Fsg ABl 2013 Nr L 26/27 (im Folgenden „EuropawahlRL“); Art 3 RL 94/80, ABl 1994 Nr L 368/38 (im Folgenden „KommunalwahlRL“); sa RL 2013/1, ABl 2013 Nr L 26/27, die die Mitgliedstaaten zwecks Verhinderung mehrfacher Stimmabgabe zu einem Informationsaustausch verpflichtet. 135 Art 11 und 13 EuropawahlRL; Art 10 KommunalwahlRL. 136 Art 9 EuropawahlRL; Art 7 KommunalwahlRL. 137 Vgl Art 7 II KommunalwahlRL. Stefan Kadelbach
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klar, dass diese Einschränkungen auch für die Parallelgarantien der Charta gelten. So dürfen Länder, deren wahlberechtigte Wohnbevölkerung zu mehr als 20% aus Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten besteht, unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips deren Wahlrecht zugunsten ihrer Staatsangehörigen zeitweise einschränken.138 56 Über das Recht zu wählen und gewählt zu werden hinaus erfasst Art 22 AEUV die politischen Rechte, die mit dem Wahlrecht in Zusammenhang stehen. Der Wählerschaft muss daher ein Informationsrecht und ein Recht auf Teilnahme an den Wahlkampfveranstaltungen zustehen. Für die Kandidaten knüpfen sich an das passive Wahlrecht Annexrechte wie das Recht auf Teilnahme am Wahlkampf, das einen diskriminierungsfreien Zugang zu den in staatlicher Verantwortung stehenden Medien umfasst, sowie im Erfolgsfalle das Recht auf Ausübung des Mandats. Die europäische Grundrechte-Charta bestätigt außerdem in Art 11 das Recht der freien Meinungsäußerung und auf Information sowie in Art 12 das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
bb) Das Kommunalwahlrecht (Art 22 I AEUV, 40 GRCh) 57 Jeder Unionsbürger hat am Ort seines Wohnsitzes außerhalb des Herkunftsstaates
das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des Wohnsitzstaates. Unionsbürgern wird damit die Teilhabe an der internen politischen Willensbildung in den Mitgliedstaaten auf unterster Ebene zugebilligt. 58 Die praktische Bedeutung dieser Regelung erschließt sich bei Betrachtung der Migrationszahlen zu Beginn der 90er Jahre, als diese Regelung vereinbart wurde. Damals hatten 5 Mio Unionsangehörige ihren Wohnsitz außerhalb des Herkunftsstaates,139 Inzwischen hat sich diese Zahl auf über 16 Mio erhöht, von denen etwa 14 Mio im wahlfähigen Alter sind.140 Ein Wohnsitzwechsel über die Grenzen hinweg war früher meist mit dem Verlust des kommunalen Wahlrechts verbunden.141
138 Vgl Art 14 I EuropawahlRL und 12 I KommunalwahlRL im Hinbl auf Luxemburg; dazu Silvestro, RMC 1993, 612 (613). 139 Degen, DÖV 1993, 749. 140 Kommission Bericht an das EP und den Rat über die Anwendung der RL 94/80 über das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen, COM (2018) 44 final S 5. 141 In Spanien und Frankreich behielten Bürger, die im Ausland lebten, das kommunale Wahlrecht, ebenso in Griechenland und Italien, doch war die persönl Anwesenheit bei der Stimmabgabe notwendig. Andererseits hatten nur Dänemark, Irland, die Niederlande und Schweden unter näher festgelegten Voraussetzungen allen Ausländern das kommunale Wahlrecht gewährt, einige andere Mitgliedstaaten sahen dieses Recht auf der Basis der Gegenseitigkeit (so Spanien und Finnland) oder Stefan Kadelbach
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Für die Umsetzung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger wurde das 59 Grundgesetz geändert.142 Nach der Rechtsprechung des BVerfG und der herrschenden Lehre ist das Volk, das nach Art 28 I 2 GG auf kommunaler Ebene eine Vertretung haben muss, ebenso wie für die Zwecke des Art 20 II GG das deutsche Volk, so dass das Wahlrecht zu den gesetzgebenden Körperschaften an die deutsche Staatsangehörigkeit gebunden ist.143 Vorschlägen, das Wahlrecht der Unionsbürger auf regionale und nationale Parlamente zu erweitern, wären danach klare Grenzen gesetzt.144 Soweit es um die Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften geht, gehört dieses Junktim zwischen Wahlvolk und Staatsangehörigkeit indessen nicht zum änderungsfesten Bestand des Grundgesetzes (Art 79 III GG),145 im Wesentlichen weil diese staatsrechtlich nicht der Legislative, sondern der Exekutive zugerechnet werden.146 Das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger konnte so in Art 28 I 3 GG eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage finden. Es verletzt daher auch nicht die Rechte deutscher Wähler.147 Einzelheiten sind in der Richtlinie zum Kommunalwahlrecht geregelt, ohne die Art 22 I AEUV nicht wirksam werden konnte.148 Ihre Umsetzung fällt in die Zuständigkeit der Länder.149
für Angehörige bestimmter anderer Staaten (so Großbritannien und Portugal) vor; zum Stand der Umsetzung Kommission ebd S 9 ff. 142 Zu den Verfassungsänderungen in Frankreich Kovar/Simon, CDE 1993, 285 (304 ff); in Portugal Lopes Marinho in: Laursen/Vanhoonacker (Hrsg), The Ratification of the Maastricht Treaty, 1994, S 231 ff; in Spanien Fraile Ortiz El significado de la ciudadania europea, 2003, S 170 ff; iÜ zur Umsetzung in den Unionsstaaten Huber in: IPE Bd II, 2008, § 26 Rn 43. 143 BVerfGE 83, 37 (Ausländerwahlrecht in Schleswig-Holstein); 83, 60 (Hamburg); s auch Quaritsch, DÖV 1983, 1ff; Isensee FS Mikat, 1989, S 705 ff; Scholz FS Dürig, 1990, S 367 ff; Murswiek, JöR 66 (2018), 386 (388 ff); dagegen Schmidt-Jortzig Kommunalrecht, 1982, S 39 f; Zuleeg in: ders (Hrsg), Ausländerrecht und Ausländerpolitik in Europa, 1987, S 153 ff; Bryde, JZ 1989, 257 ff; Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, 1999, S 112 ff; zur Debatte Farahat, JöR 66 (2018), 337 (352 ff). 144 Am 4.3.2020 wurde eine entsprechende europäische Bürgerinitiative registriert, Kommission, Bericht über die Unionsbürgerschaft 2020 – Stärkung der Bürgerteilhabe und Schutz der Bürgerrechte, COM (2010) 730 final S 9; gegen ein solches Vorhaben auf Landesebene BremStGH, NVwZ-RR 2014, 497; abl a Huber, ZaöRV 68 (2008), 307 (323); Hillgruber/Gärditz, JZ 2009, 872 ff; aA mit guten Gründen Walter, VVDStRL 72 (2013), 7 (39 ff); Sondervotum Sacksofsky BremStGH, NVwZ-RR 2014, 497 (503); Meyer, JZ 2016, 121 ff; Sokolov, NVwZ 2016, 649 ff. 145 Vgl BVerfGE 83, 37 (59); BVerfG, NVwZ 1998, 52 = JK 98, GG Art 3 I/26; ebenso Papier in: Magiera (Hrsg), Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, S 27 ff. 146 Vgl BVerfGE 65, 283, 289. 147 Vgl BVerfG, NVwZ 1998, 52 = JK 98, GG Art 3 I/26. 148 Art 3 RL 94/80, ABl. 1994 Nr L 368/68; dazu Fischer, NVwZ 1995, 455 ff; Schrapper, DVBl 1995, 1167 ff. 149 Näher Barley Das Wahlrecht der Ausländer nach der Neuordnung des Art 28 I 3 GG, 1999, S 112 ff.
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Die Kommunalwahlrichtlinie gestaltet den sachlichen Schutzbereich des Art 22 I AEUV aus. Kommunalwahlen sind nach Art 2 I lit b dieser Richtlinie die allgemeinen und unmittelbaren Wahlen, durch die die Mitglieder der Vertretungskörperschaft und der Leiter oder die Mitglieder des Exekutivorgans einer lokalen Gebietskörperschaft der Grundstufe bestimmt werden. Der Anhang zur Kommunalwahlrichtlinie bestimmt, dass unter lokalen Gebietskörperschaften in Deutschland die Gemeinde- und die Kreisebene zu verstehen ist, ferner die Stadt-, Gemeindeoder Ortsbezirke bzw Ortschaften. Soweit Exekutivorgane wie der Landrat indirekt gewählt werden, sind die in das Wahlgremium gewählten Mitglieder aus anderen Unionsstaaten wahlberechtigt.150 Besonderheiten gelten für die Stadtstaaten. Die Richtlinie gilt in Hamburg und Berlin für die Bezirke, in Bremen für die Stadtgemeinde Bremen.151 In Österreich sind die erfassten Körperschaften die Gemeinden sowie für die Stadt Wien die Bezirke. 61 Besonderheiten gelten für das passive Wahlrecht. Für gewählte Kandidaten aus anderen Unionsstaaten verdrängt Art 22 I AEUV insoweit Art 45 IV AEUV, der es den Staaten gestattet, Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung allein mit eigenen Staatsangehörigen zu besetzen. Allerdings begrenzt die Kommunalwahlrichtlinie in dieser Hinsicht auch den Schutzbereich. So dürfen die Mitgliedstaaten die Position des unmittelbar gewählten Leiters des Exekutivorgans, dh des Landrats, (Ober-)Bürgermeisters oder seines Vertreters sowie der Mitglieder des leitenden kollegialen Exekutivorgans, also der Beigeordneten, ihren Staatsangehörigen vorbehalten. Frankreich, auf dessen Initiative diese Durchbrechung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zurückgeht, hat die Ermächtigung in seiner Verfassung genutzt, da die Kommunalwahlen dort auch über die Zusammensetzung des Senates entscheiden, der an der Ausübung der nationalen Souveränität teilhat.152 Auch einige deutsche Länder haben von dieser Befugnis Gebrauch gemacht.153 Im Hinblick auf die in Art 22 I 2 AEUV ausformulierte Beschränkung von Ausnahmen auf den Fall besonderer Probleme eines Mitgliedstaates scheint die Vereinbarkeit dieses Vorbehalts mit höherrangigem Unionsrecht zweifelhaft.154 Die Kommission sowie die
150 Vgl § 39 iVm §§ 23, 10 bad-württ LKrO; § 51 bdbg LKrO. 151 Zu den Stadtstaaten Sieveking, DÖV 1993, 449 ff; Barley Das Wahlrecht der Ausländer nach der Neuordnung des Art 28 I 3 GG, 1999, S 90 ff. 152 Vgl Art 88 III 2 iVm 24 und 3 frz Verf; dazu Benlolo Carabot Les fondements juridiques de la citoyenneté européenne, 2006, S 70 ff. 153 Vgl bspw § 38 bad-württ LKrO; Art 39 I bay GLKrWG. 154 Für unionsrechtswidrig halten diese Bestimmung Wollenschläger/Schraml, BayVBl 1995, 385 (388); Hasselbach, ZG 1997, 49 (56 ff); Pieroth/Schmülling, DVBl 1998, 365 (367 f); dag Gundel, DÖV 1999, 353 (358).
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deutsche und französische Rechtsprechung gehen jedoch von der primärrechtlichen Zulässigkeit dieser Bestimmung aus.155 Außerhalb des Schutzbereiches des Art 22 I AEUV liegen andere gemeindever- 62 fassungsrechtlich mögliche Formen der politischen Willensbildung wie Abstimmungen, die sich nicht auf die Wahl von Personen, sondern die Entscheidung von Sachfragen richten, insbesondere also Bürgerbegehren und Bürgerentscheide.156 Der Wortlaut des Art 22 AEUV und der Kommunalwahlrichtlinie umfasst diese Beteiligungsformen jeweils nicht. Viele Länder lassen Unionsbürger zu Abstimmungen zu.157 Doch stellt sich die Frage, ob Art 28 I 3 GG, der lediglich von „Wahlen“ spricht, dies noch erlaubt. Die Homogenitätsklausel des Art 28 I 1 GG verlangt, dass die Grundprinzipien der verfassungsmäßigen Ordnung in Bund und Ländern einander entsprechen. Geht man daher von der Identität des Volksbegriffs in den Art 20 II und 28 I 2 GG aus, den die letztere Bestimmung lediglich räumlich begrenzt, scheint Art 28 I 3 GG eine eng auszulegende Ausnahmeklausel zu sein, die, da sie Abstimmungen gerade nicht erwähnt, insoweit Unionsbürgern die Teilnahme versperrt.158 Zwingend ist diese Argumentation jedoch nicht. Art 28 I 3 GG ist im Zusammenhang mit Art 23 I GG zu sehen und öffnet den deutschen Staatsaufbau für die Zwecke der Unionsbürgerschaft. Der Homogenitätsgrundsatz wird damit für die Gemeinde- und Kreisebene ohnehin durchbrochen, so dass er insoweit keine Argumente zu liefern vermag. Darüber hinaus lassen die Eigenheiten der kommunalen Demokratie eine Erstreckung der Unionsbürgerrechte auf Abstimmungen ohne weiteres zu. Die Gemeindevertretungen gehören in der Gewaltenteilung nicht zur Legislative wie die Parlamente auf Bundes- und Länderebene. Wird deren Rechtsetzungstätigkeit durch Abstimmungen ersetzt oder ergänzt, spricht nichts dagegen, wenn auch für diese Zwecke die jeweils ansässigen Unionsbürger gemeinsam mit dem dort wohnhaften Teil des deutschen Volkes das Subjekt der Legitimation bilden. Die Teilnahme der Unionsbürger an Abstimmungen ist daher nicht verfassungswidrig.159
155 S die Vorschlagsbegr in KOM 1994, 38 endg, S 29; BayVerfGH, BayVBl 1997, 495; die wg Nichtvorlage an den EuGH auf Art 101 I 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entsch angen, s BVerfG, NVwZ 1999, 293; nicht problematisiert vom frz Conseil constitutionnel, CC No 92–308 DC, Rec S 55 (Maastricht I), deutsch in EuGRZ 1993, 187 m Anm Walter, ebd 183 ff. 156 Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 22 AEUV Rn 4. 157 Vgl zB §§ 21, 12 bad-württ GO; §§ 30, 8 II, 8 b hess GO; §§ 17a rh-pf GO, 1 rh-pf KWG; §§ 26, 21 GO, 7 KWahlG NW; §§ 24 f, 15 f sächs GO; §§ 25 f, 20 f sachs-anh GO. 158 Meyer-Teschendorf/Hofmann, ZRP 1995, 290 ff; Kaufmann, ZG 1998, 25 (31 f, 39). 159 So auch BayVerfGH, BayVBl. 2014, 17; BVerfG-K, NVwZ-RR 2016, 521; Barley Das Wahlrecht der Ausländer nach der Neuordnung des Art 28 I 3 GG, 1999, S 73 ff; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 22 AEUV Rn 11; Mehde in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 28 Abs 1 Rn 124; Rossi in: EnzEuR Bd 10, § 4 Rn 24; zum selben Ergebnis gelangt, wer das Staatsvolk als durch Art 28 I 3 GG „europäisiert“ an
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Eingriff: Da Art 22 I AEUV ein Behinderungs- und ein Diskriminierungsverbot errichtet, wird in dieses Recht immer dann eingegriffen, wenn die Mitgliedstaaten Hindernisse für die Ausübung des Wahlrechts schaffen oder Unionsbürger ungünstiger stellen als die eigenen Staatsangehörigen. 64 Schranken: Eine Rechtfertigung für Eingriffe kann sich allein aus der Kommunalwahlrichtlinie ergeben. Folgt man der Ansicht, der zufolge der Vorbehalt der Richtlinie für die Besetzung kommunaler Spitzenämter durch eigene Staatsangehörige unionsrechtswidrig sei,160 so läge im Ausschluss aus der Union stammender Bewerber eine Verletzung des Art 22 I AEUV. Solange sich die Umsetzungsakte im Rahmen der Richtlinie halten, ist diese Verletzung der Europäischen Union zuzurechnen. Da mit dieser Frage die Feststellung der Nichtigkeit eines Rechtsaktes des Rates verbunden ist, kann sie nur durch den Europäischen Gerichtshof geklärt werden (Art 267 lit b AEUV).
cc) Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art 22 II AEUV, 39 GRCh) 65 Es ist eine natürliche Konsequenz der Einrichtung direkter Wahlen zum Europäi-
schen Parlament, dass das aktive und passive Europawahlrecht an die Unionsbürgerschaft geknüpft ist. Bis zu deren Einführung gab es auf primärrechtlicher Ebene lediglich die unvollständige Verfahrensvorschrift des Art 138 EWGV (entspricht Art 223 I AEUV). Ein Wahlrecht zum Europäischen Parlament gibt es zwar schon seit dem Direktwahlakt von 1976,161 seine Ausgestaltung war und ist jedoch sehr weitgehend den Mitgliedstaaten überlassen. Zudem war es bis zum In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrages meist den Staatsangehörigen vorbehalten, nicht weil das Europäische Parlament staatliche Gewalt ausübte, sondern weil es eine einheitliche Regelung des Wahlverfahrens nie gegeben hat. 66 Schutzbereich: In personeller Hinsicht begünstigen Art 22 II AEUV, 39 GRCh ihrem Wortlaut nach nur Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Der EuGH hat es den Mitgliedstaaten zugebilligt, den Kreis der Wahlberechtigten darüber hinaus auf Personen zu erweitern, die zu ihnen in einer hinreichend engen Verbindung stehen.162 Obwohl das Europawahlrecht einen unionsunmittelbaren Anspruch auf politische Teilhabe begründet,
sieht, s etwa Hobe, JZ 1994, 191 (193) und Grzeszick in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 20 Rn 86 f, oder die Wohnsitznahme als Kriterium für die Mitgliedsch in der lokalen Legitimationsgemeinschaft betrachtet, s Zuleeg, KritV 1987, 328. 160 Fn 154. 161 Entsch des Rates 76/787, ABl 1976 Nr L 278/1. 162 EuGH, Rs C-145/04, Slg 2006, I-7917, Rn 76 – Spanien/Großbritannien (Europawahlrecht in Gibraltar); dazu Bourgorgue-Larsen, RTDE 43 (2007), 25 ff; Besselink, CMLRev 45 (2008), 787 ff.
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erfasst der Wortlaut der Art 22 II AEUV, 39 II GRCh hingegen Bürger, die in ihrem eigenen Staat leben, nicht. Auch sie besitzen jedoch ein subjektives öffentliches Recht auf Teilnahme an der Wahl, da es nicht in der Absicht der Art 22 II AEUV, 39 II GRCh liegen kann, Bürger mit Auslandswohnsitz zu privilegieren.163 Zudem unterfallen die Wahlen zum Europäischen Parlament Art 3 ZP 1 EMRK (dazu → Kadelbach § 10.1 Rn 2 ff), der über Art 6 EUV zum Verfassungsrecht der Union gehört.164 Danach sind die Konventionsstaaten verpflichtet, freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, die die „freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten“. Der Schutzbereich der Art 22 II AEUV, 39 II GRCh, in welche die Wahlrechtsgrundsätze des Art 14 III EUV und des Direktwahlaktes als subjektive Rechte hineinzulesen sind, wird durch die Europawahlrichtlinie weiter ausgestaltet, die in Deutschland durch das Europawahlgesetz und die Europawahlordnung umgesetzt wurde.165 Zusammen mit dem Europawahlakt nebst innerstaatlichem Umsetzungsrecht stellt sie die Modalitäten für die Ausübung des Wahlrechts auf.166 Auch die Europawahlrichtlinie schafft kein einheitliches Verfahren, sondern beschränkt sich auf die mit dem subjektiven Wahlrecht verbundenen Fragen wie das Antragsprinzip oder den Ausschluss mehrfacher Wahl und Kandidatur. Eingegriffen wird in dieses Recht, wenn Unionsbürger an der Wahl gehindert, 67 Wahlrechtsgrundsätze verletzt werden oder ihnen die Teilnahme durch Bedingungen unangemessen erschwert wird, die für Inländer nicht oder nicht in gleicher Schwere gelten. Schranken: Die Europawahlrichtlinie gestaltet das Wahlrecht nicht nur aus, sie 68 ermächtigt die Mitgliedstaaten auch zu Einschränkungen. Dies gilt etwa für den
163 EuGH, Urt v 6.10.2015, Rs C-650/13, Rn 41 ff – Delvigne; dazu Gundel, EuR 2016, 176 ff; Coutts, ELRev 42 (2017), 867 ff. S a EuGH, Rs C-300/04, Slg 2006, I-8055, Rn 57 – Eman u Sevinger; danach ist es aufgrund der Besonderheiten des Assoziationsrechts denkbar, Bewohner der überseeischen Gebiete iSd Art 355 II AEUV vom Europawahlrecht auszuschließen, doch müssen Ungleichbeh ggü den übrigen Wahlberechtigten obj gerechtf sein. Der EuGH leitet dies nicht aus Art 3 ZP 1 EMRK, sondern aus dem ungeschriebenen allgem unionsrechtl Diskriminierungsverbot ab; sa Giegerich in: Schulze ua, ER, § 9 Rn 117 f. 164 Sart II Nr 131; s EGMR, NJW 1999, 3107 – Matthews = JK 99, EMRK Art 3 1. ZP/2; dazu Winkler, EuGRZ 2001, 18 ff. 165 Drittes G zur Änderung des EuropawahlG, BGBl I 1994, 405, 419 idF BGBl 2020 I, 1328; Zweite VO zur Änderung der Europawahlordnung, BGBl I 1994, 525, 544. Das BVerfG (BVerfGE 129, 300 = JK 2012, GG Art 21/7) hat die 5%-Sperrklausel des EuropawahlG für verfassungswidrig erklärt; ebenso die Neuregelung, die eine 3%-Klausel vorsah, s BVerfGE 135, 259. 166 Art 1 III Direktwahlakt (Fn 16): „Die Wahl erfolgt allgemein, unmittelbar, frei und geheim.“ Zu Problemen mehrfachen Wahlrechts bei mehrfacher Staatsangehörigkeit (vgl §§ 25 I, 12 II, 29 III StAG) Weber/Hailbronner in: Hailbronner ua (Hrsg), Staatsangehörigkeitsrecht, 7. Aufl 2022, Grundl E Rn 387 ff mwN.
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Ausschluss vom Wahlrecht im Herkunftsland, der durch den Aufenthaltsstaat anzuerkennen ist. 69 Durch die Wahlberechtigung im Wohnsitzstaat wird das Bild des „Volkes“ als Legitimationssubjekt verändert.167 Die Italienerin, die in Deutschland lebt, gehört für die Zwecke des Europawahlrechts zum deutschen Volk und bestimmt die Besetzung der Sitze mit, die Deutschland im Europäischen Parlament zustehen (Art 14 II EUV). Diese zuweilen als befremdlich empfundene Konsequenz nähert das Prinzip nationaler Stimmkontingente der Mitgliedstaaten der Zielvorstellung einer europäischen Legitimationsgemeinschaft für die Bereiche an, in denen die Union zuständig ist.168 Die Bedeutung des Art 22 II AEUV und seiner Umsetzungsbestimmungen liegt jedoch in der subjektiven Komponente dieser Gewährleistung,169 die auf anderer Ebene Art 38 I GG entspricht. Beide Aktivbürgerrechte sind in ihrem Wert von den Kompetenzen der jeweiligen Parlamente abhängig. Daher sollten sie einander korrespondieren, denn die Unionsbürgerschaft muss um Partizipationsrechte in dem Maße ergänzt werden, in dem die Staatsbürger wegen der Kompetenzverluste nationaler Parlamente in ihren Mitgliedstaaten an Einfluss verloren haben. Der Wert des Wahlrechts der Unionsbürger ist also letztlich von den Befugnissen des Europäischen Parlaments abhängig.170
b) Petitionsrecht (Art 24 II, III iVm 227 bzw 228 AEUV, 43, 44 GRCh) 70 Nach Art 24 II AEUV, 44 GRCh besitzt jeder Unionsbürger das Recht, gem Art 227
AEUV Petitionen an das Europäische Parlament zu richten. Seine Bedeutung für die Unionsbürgerschaft wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass das Petitionsrecht im Verfassungsstaat die Funktion einer Verbindung zwischen Bürger und Volksvertretung erfüllt. Es eröffnet neben dem Wahlrecht eine weitere, wenn auch letztlich marginale Chance auf aktive Teilnahme am politischen Geschehen
167 Vgl Dollat, RUE 2018, 25 ff; zu einer daraus entstehenden europ Öffentlichkeit Calliess/Hartmann Zur Demokratie in Europa: Unionsbürgerschaft und europäische Öffentlichkeit, 2014. 168 Gg die Gleichheit der Wahl nach dem GG verstößt dies nicht, vgl BVerfG, EuGRZ 1995, 566. 169 Vgl Kovar/Simon, CDE 1993, 285 (307). Das erklärte Ziel, die Wahlbeteiligung zu steigern, wurde allerdings nicht erreicht. Das Interesse der Unionsbürger an der Europawahl ist v a in Deutschland und Frankreich, wo der größte Teil des berechtigten Personenkreises lebt, sehr gering. Die Wahlbeteiligung der nicht im Herkunftsland lebenden Wahlberechtigten an den Wahlen in ihrem Wohnsitzstaat ist niedrig. Bei den Wahlen 2019 wurden 168 Kandidaten außerhalb ihres Herkunftsstaates aufgestellt, fünf von ihnen (drei in Frankreich, zwei im Vereinigten Königreich) wurden in das Europäische Parlament gewählt; Zahlen in Kommission, Bericht über die Wahlen zum EP, COM (2020) 252 final S 5 f. 170 Everling, ZfRV 1992, 241 (255 f); Kadelbach in: Drexl (Hrsg), Europäische Demokratie, 1999, S 89 (107 f); Maas in: Shachar ua (Hrsg), The Oxford Handbook of Citizenship, 2017, S 644 ff.
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und soll die Integration fördern.171 Zugleich bietet es die Gelegenheit, Interessen und Rechte außerhalb der Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahren zu verfolgen, naturgemäß ohne ein Recht auf einen Bescheid zu gewähren, der sich in der gewünschten Weise zur Sache einlässt.172 Je nachdem, wie sehr dieser Rechtsschutzaspekt betont wird, erkennen staatliche Verfassungen dieses Recht auch anderen Staatsangehörigen zu.173 Diesem Modell folgt auch Art 227 AEUV, dem gegenüber Art 24 II AEUV, 44 GRCh keine selbstständige Bedeutung besitzen, und der das Petitionsrecht nicht nur Unionsbürgern, sondern allen Personen mit Wohnort oder Sitz in einem Mitgliedstaat zugesteht. Während das Petitionsrecht zum Parlament eher politischen Charakter hat, 71 steht beim Recht, sich an einen Bürgerbeauftragten zu wenden (Art 24 III, 228 AEUV, 43 GRCh), die Rechtsschutzfunktion im Vordergrund. Beide Verfahren schließen einander nicht aus. Der Bürgerbeauftragte hat die Aufgabe, behauptete Missstände in der Tätigkeit der in seinen Zuständigkeitsbereich fallenden Stellen zu überprüfen. Damit bildet die Einrichtung des Bürgerbeauftragten, der Untersuchungen führt, Stellungnahmen einholt und Berichte vorlegt, eine Form der Verwaltungskontrolle, die die Transparenz des Verwaltungshandelns der Unionsorgane erhöhen soll. Maßstab dieser Kontrolle sind die Grundsätze guter Verwaltungspraxis, auf deren Einhaltung auch unabhängig von einer Beschwerde beim „Ombudsman“ ein subjektives Recht besteht (s noch u → Rn 77 ff).174 Der sachliche Schutzbereich des Petitionsrechts wird in den Art 227 und 228 72 AEUV beschrieben. Gegenüber dem Parlament, das zu diesem Zweck einen Petitionsausschuss eingerichtet hat,175 bezieht es sich danach auf alle Angelegenheiten der Union.176 Der Petent muss in eigenen Angelegenheiten betroffen sein. Zwar verfährt die Praxis insoweit großzügig, weist aber viele Petitionen als unzulässig zurück.177 Jeder hat ein Recht darauf, dass seine Petition entgegengenommen, geprüft und beantwortet wird. Dagegen kann Abhilfe auch dann nicht verlangt werden, wenn ein Anliegen als berechtigt anerkannt wird. In den Schutzbereich wird also nur eingegriffen, wenn eine Petition nicht angenommen, nicht bearbeitet oder
171 Vgl Bauer in: Dreier, GG, Art 17 Rn 19. 172 Zu den Anforderungen an die Begründung der Entscheidung, eine Petition als unzulässig abzulegen EuG, Rs T-308/07, Slg 2011, II-279, Rn 28 f – Tegebauer. 173 So Art 17 GG, Art 28 belg, Art 10 griech, Art 27 lux, Art 5 niederl Verf. 174 Guckelberger, DÖV 2003, 829 (835 f); Tsadiras, ELR 32 (2007), 607 ff; Gundel FS Würtenberger, 2013, S 497 ff. 175 Art 206, Anlage VI Ziff XX GO EP, ABl 2019 Nr L 302/1; vgl Art 226 ff GO EP. 176 Art 226 I GO EP. 177 Im Jahr 2019 waren 938 von 1357 Petitionen zulässig; die numerische Bedeutung ist nach absoluten Zahlen vergleichsw gering, aber stabil, vgl Kommission neunter Bericht, KOM (2010) 603 endg S 25 f.
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nicht beantwortet wird. In diesem Fall steht dem Petenten die Untätigkeitsklage vor dem EuG offen (Art 265 AEUV). Konkret formulierte Schranken, wie sie Art 17a I GG entsprechen, kennt das Unionsrecht nicht, doch sind Kollisionen mit Grundrechten, etwa dem Persönlichkeitsrecht Dritter, vorstellbar.
c) Informationsrecht (Art 24 IV AEUV, 41 IV GRCh) 73 Der Anspruch, sich schriftlich in einer der in Art 55 EUV genannten Sprachen an je-
des Organ der Union (Art 13 EUV)178 oder den Bürgerbeauftragten zu wenden und in der gewählten Sprache eine Antwort zu erhalten (Art 24 IV AEUV, 41 IV GRCh), ergänzt das Petitionsrecht. Sinn der Regelung ist es vor allem, dass sich jeder Unionsbürger seiner Muttersprache bedienen kann, auch wenn im Rahmen des Art 55 EUV niemand auf diese festgelegt wird. Der sachliche Schutzbereich umfasst jede Art von Anfragen, Auskunftsersuchen, formlosen Anträgen, Stellungnahmen und Petitionen. Dagegen ist fraglich, wie die Antwort, auf die gleichfalls ein Anspruch besteht, auszufallen hat. Das Unionsziel der Bürgernähe und Transparenz (Abs 15 Präambel und Art 1 II EUV, 15 AEUV) spricht dagegen, Art 21, 24 IV AEUV, 41 IV GRCh als reine Gewährleistung des Sprachengebrauchs zu verstehen. Die Bescheidung muss also der Anfrage Rechnung tragen. Komplexere Fragen können durch Verweis auf die einschlägigen Dokumente beantwortet werden (s Art 15 AEUV). Mit dieser Maßgabe gewähren Art 24 IV AEUV, 41 IV GRCh auch einen Anspruch auf Auskunft.179 Im Einzelnen hängt ihr Inhalt von der Art der Eingabe ab, aber auch von den Interessen Dritter oder anderer Mitgliedstaaten, die die befasste Stelle zu wahren hat. Die Geheimhaltungspflicht (Art 339 AEUV) setzt dem Anspruch auf Antwort Schranken.
d) Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 15 AEUV, 42 GRCh) 74 In engem Zusammenhang mit den Gewährleistungen der Art 22 und 24 AEUV steht
der Anspruch auf Zugang zu Dokumenten aller Organe, Einrichtungen und sonstiger Stellen der Union, wobei für EZB, EIB und EuGH Privilegierungen gelten (Art 15 III AEUV). Das Informationsrecht bildet eine Voraussetzung für die Teilnahme am öffentlichen Meinungsbildungsprozess, stellt aber auch einen Weg zur Kontrolle der Verwaltung durch die Öffentlichkeit zur Verfügung.180 Dieses Recht hatte
178 Vgl EuGH, Rs C-361/01 P, Slg 2003, I-8283 ff – Kik. 179 In diese Richtung Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, Art 24 AEUV Rn 5 f; weiterg Hatje in: Schwarze, EU-Komm, Art 24 AEUV Rn 5; enger wohl Khan/Henrich in: Geiger/ Khan/Kotzur/Kirchmair, EUV/AEUV, Art 24 AEUV Rn 5 („angemessene Reaktion“). 180 Österdahl, ELRev 23 (1998), 336 ff; Curtin, CMLRev 37 (2000), 7 ff; zum Zusammenh mit der Unionsbürgerschaft EuGH, Rs C-41/00 P, Slg 2003, I-2125, Rn 39 – Interporc; zum „demokratischen Cha
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seinen Sitz zunächst in Selbstverpflichtungen der Organe, nimmt aber inzwischen Verfassungsrang ein und wird in einer auf den heutigen Art 15 III 2 AEUV gestützten Verordnung näher ausgestaltet.181 Schutzbereich: Der Kreis der Berechtigten ist ebenso wenig wie bei den Rech- 75 ten aus Art 24 II–IV AEUV, 42–44 GRCh auf die Unionsbürger beschränkt. Adressaten dieses Anspruchs sind die politischen Organe Parlament, Rat und Kommission sowie die von ihnen eingesetzten oder zu ihrer Unterstützung tätigen Ausschüsse und Verwaltungseinrichtungen.182 Gegen den EuGH und die EZB richtet er sich nur, soweit diese Verwaltungsaufgaben wahrnehmen (Art 15 III 4 AEUV). Inhaltlich gewährleistet er ein Recht darauf, dass im Besitz der Unionsorgane befindliche Dokumente auf ein entsprechendes Ersuchen hin zugänglich gemacht werden, ohne dass hierfür ein besonderes Interesse nachzuweisen ist. Der Zugang kann durch Hinweis auf die amtliche Fundstelle, Übersendung von Kopien oder auf elektronischem Wege gewährt werden. Schranken: Dem dürfen nur die in der benannten Verordnung aufgeführten 76 Geheimhaltungsinteressen entgegengehalten werden, die nach der ständigen Rechtsprechung des EuG und des EuGH als Ausnahmetatbestände eng auszulegen sind.183 Hierzu zählen zwingend öffentliche Interessen wie die öffentliche Sicherheit, Verteidigung, auswärtige Beziehungen sowie die Finanz-, Währungs- und Wirtschaftspolitik, ferner der Schutz der Privatsphäre, wie er sich insbesondere aus den unionsrechtlichen Vorschriften über den Datenschutz ergibt (vgl Art 16 AEUV).184 Darüber hinaus wird der Zugang verweigert, wenn der Schutz geschäftlicher Interessen, insbesondere das geistige Eigentum, der Schutz eines gerichtlichen Verfahrens oder eines Untersuchungsverfahrens entgegenstehen. Schließlich besteht kein Recht auf Zugang zu vorläufigen Dokumenten oder solchen Informationen, die nur mit Zustimmung eines Mitgliedstaates verbreitet werden dürfen.185
rakter“ dieses Rechts Rs C-506/08 P, Slg 2011, I-6237, Rn 72 – Schweden/MyTravel u Kommission, mwN. 181 VO 1049/2001, ABl 2001 Nr L 145/43 – Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission; dazu Partsch, NJW 2001, 3154 ff; Adamski, ELJ 20 (2014), 520 ff. 182 Zum Komitologie-Verfahren EuG, Rs T-188/97, Slg 1999, II-2463 ff – Rothmans International. 183 Kadelbach, CMLRev 38 (2001), 179 ff; Heliskoski/Leino, CMLRev 43 (2006), 735 ff; Kranenborg, CMLRev 45 (2008), 1079 ff. 184 Art 4 I der VO 1049/2001 iVm VO 2016/679, ABl 2016 Nr L 119/1 – Datenschutz-GrundVO; zum europ Datenschutz Kühling/Martini, EuZW 2016, 448 ff. 185 Siehe aber EuGH, Rs C-64/05 P, Slg 2007, I-11389 ff – Schweden/Kommission.
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e) Recht auf eine gute Verwaltung (Art 41 GRCh) 77 Das Recht auf eine gute Verwaltung, eine Art rechtsstaatlicher Auffangbegriff für die Verfahrensrechte Einzelner gegenüber den Einrichtungen der Union, gehört eigentlich nicht zu den spezifischen Unionsbürgerrechten, in deren Zusammenhang es durch seine Maßstabswirkung für das Beschwerderecht zum Europäischen Bürgerbeauftragten (→ Rn 71) und seine systematische Stellung in der Charta gerückt wird, weil es allen zusteht, in deren „Angelegenheiten“ (Art 41 I GRCh) gehandelt wird. Geht man nach dem Wortlaut des Art 41 GRCh, scheint sich dieses Recht abweichend von der allgemeinen Geltungserstreckung der Unionsgrundrechte auf die Mitgliedstaaten (Art 51 I GRCh) allein gegen die Union zu richten; der EuGH hat jedoch seine Geltung im Anwendungsbereich des Unionsrechts auf die Mitgliedstaaten ausgeweitet.186 Es hat sich allmählich aus der Rspr des EuGH zu Grundsätzen „ordnungsgemäßer Verwaltung“ herausgebildet187 und bezeichnet die Garantie eines fairen Verfahrens, wie sie vor Gerichten Art 6 EMRK (Art 47 ff GRCh) gewährleisten soll, in einer an die Eigenheiten des Verwaltungsverfahrens angepassten Form.188 Es ist also in allen Fällen anwendbar, in denen die Organe oder Agenturen der Union Verwaltungstätigkeit ausüben. Solche Zuständigkeiten können sich gleichermaßen aus dem Primär- und dem Sekundärrecht ergeben, sofern dieses Verwaltungszuständigkeiten begründet. Dabei kommt dem Wettbewerbsrecht, für das die Kommission einschneidende administrative Zuständigkeiten besitzt, besondere Bedeutung zu. Die Relevanz dieser Rechte besteht darin, dass ein Verstoß zugleich die Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift (Art 263 II AEUV) bedeutet und damit zur Begründetheit der Nichtigkeitsklage führt, sofern sich der Fehler auch auf den Inhalt der Entscheidung auswirkt.189 78 Schutzbereich: Das Recht auf eine gute Verwaltung verschafft Einzelnen und Unternehmen einen Anspruch, dass ihre Angelegenheiten „unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist“ behandelt werden. Einzelne Rechte führt Art 41 II GRCh beispielhaft auf. Dazu gehören ein Anhörungsrecht vor belastenden
186 Zumindest als allg Prinzip des Unionsrechts wäre der Grundsatz ordnungsgemäßer Verwaltung für sie ohnehin bindend, s ausdr EuGH, Urt v 22.11.2012, Rs C-277/11, NVwZ 2013, 59, Rn 81 ff – MM (Asylverfahren). 187 Auf sie können sich auch Staaten berufen, s EuG, Rs T-263/07, Slg 2009, II-3463, Rn 99 ff, 112 – Estland/Kommission (Emissionszertifikate). 188 Nehl Administrative Procedure in EC Law, 1999; Bauer Das Recht auf eine gute Verwaltung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002; Grzeszick, EuR 2006, 161 ff; Classen Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union, 2008; Wendel in: EnzEuR Bd 2, § 18 Rn 147 ff. 189 Vgl EuG, Rs T-44/00, Slg 2004, II-2223, Rn 55 – Mannesmannröhren-Werke.
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Entscheidungen,190 das Recht auf Akteneinsicht191 und der Anspruch auf Wahrung der Vertraulichkeit sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses. Besondere Bedeutung hat in der Praxis das Recht auf Begründung einer Verwaltungsentscheidung, das auch in Art 296 II AEUV als allgemeine Pflicht der Unionsorgane formuliert wird. Auch den bereits in Art 41 I GRCh genannten Elementen des Grundsatzes kommt eigenständiger Gewährleistungsgehalt zu, so dass sich hieraus ein Recht auf Einhaltung der Pflichten der Behörden zur Unparteilichkeit, zur Behandlung einer Sache innerhalb angemessener Zeit und zur sorgfältigen Sachverhaltsermittlung ergibt.192 Art 41 IV GRCh greift das Auskunftsrecht des Art 24 IV AEUV (→ Rn 73) auf und stellt auf diese Weise klar, dass sich im unionsrechtlichen Verwaltungsverfahren jeder seiner eigenen Sprache bedienen darf, sofern sie eine der Vertragssprachen (Art 55 EUV) ist. Keine eigenständige Bedeutung hat dagegen das in Art 41 III GRCh erwähnte Recht auf Schadensersatz, das auf die Grundsätze der Unionshaftung verweist (Art 340 AEUV). Bei der Anerkennung weiterer Verfahrensrechte über die in Art 41 II GRCh ausdrücklich genannten hinaus verfährt die Rspr restriktiv, was angesichts ihrer weit zurückreichenden Praxis nicht verwundert.193 So hat es der EuGH abgelehnt, für den Ablauf der Klagefrist für die Nichtigkeitsklage eine Rechtsbehelfsbelehrung zur Voraussetzung zu machen.194 Schranken: Justizgrundrechte sind meist schrankenlos gewährleistet; bleiben 79 die Gerichte hinter ihren Maßstäben zurück, sind sie auch verletzt. Dem gegenüber sind einige der Rechte guter Verwaltung Abwägungen zugänglich. So kann die Anhörung ausnahmsweise unterbleiben, wenn durch sie der Zweck der Maßnahme vereitelt würde,195 das Akteneinsichtsrecht wird durch den Schutz persönlicher Daten und des Berufsgeheimnisses begrenzt,196 und Geschäftsgeheimnisse können offengelegt werden, wenn sie keinen Schutz verdienen (Art 41 II lit b: „berechtigte[s] Interesse“). Es gilt, wie immer, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art 52 I GRCh).197
190 S zB EuGH, Rs C-315/99 P, Slg 2001, I-5281, Rn 28 – Ismeri; EuG, Rs T-170/06, Slg 2007, II-2601, Rn 191 ff – Alrosa. 191 UU darf belastendes Material, zu dem der Betr nicht Stellung nehmen konnte, nicht verwertet werden, s EuGH, Rs 100/80, Slg 1983, 1825, Rn 30 – Musique Diffusion. 192 Bspw EuG, Rs T-54/99, Slg 2002, II-313, Rn 49 – max.mobil (Sachverhaltsaufklärung); EuGH, Rs C439/11 P, Urt v 11.7.2013, Rn 155 – Ziegler (Unparteilichkeit). 193 S die umfangr Nachw für die Rspr bei v Danwitz Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S 417 ff. 194 EuGH, Rs C-154/98 P, Slg 1999, I-1451, Rn 15 – Guérin Automobiles; krit Martínez Soria, EuR 2001, 682 (694). 195 EuGH, verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 338 ff – Kadi. 196 Magiera in: Meyer/Hölscheidt ChGr, Art 41 Rn 13. 197 S a Jarass GRCh, Art 41 Rn 23.
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Besonderheiten gelten wegen seiner Nähe zum Strafrecht über Art 41 GRCh hinaus für das Kartellverfahren, für das zum einen VO 1/2003 weitere Verfahrensrechte enthält,198 zum anderen die Rspr in Anlehnung an Art 6 und 7 EMRK gleichsam strafprozessuale Anforderungen in teils modifizierter Form aufgestellt hat. Dazu gehören die Unschuldsvermutung,199 das Recht auf anwaltlichen Beistand und Vertraulichkeit der Anwaltskorrespondenz,200 das Bestimmtheitsgebot201 und eine aus Billigkeitsgründen abgeleitete Abmilderung mehrfacher Sanktionen.202
3. Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 23 AEUV, 46 GRCh) a) Normzweck und Wirkung 81 Art 23 AEUV sichert jedem Unionsbürger „diplomatischen und konsularischen
Schutz“ in Drittstaaten durch andere Mitgliedstaaten der Union zu, wenn der Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, dort nicht vertreten ist. Diese Vorschrift führt keinen Schutzanspruch gegen die Union selbst ein,203 der es dazu an Ressourcen und Kompetenzen fehlt. Die Kooperation diplomatischer und konsularischer Vertretungen, die schon nach geltendem Völkerrecht möglich ist,204 bildet jedoch einen Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art 35 EUV). Art 23 AEUV bringt so die gemeinsame Verantwortung der Mitgliedstaaten für alle Unionsbürger zum Ausdruck. 82 In Art 23 I 2 AEUV haben die Mitgliedstaaten vereinbart, die notwendigen völkerrechtlichen Schritte zu unternehmen. Art 23 AEUV ist wegen des hierdurch eröffneten intergouvernementalen Handlungsspielraums aus sich heraus nicht unmittelbar wirksam.205 Die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mit-
198 VO 1/2003, ABl 2003 Nr L 1/1. 199 EuG, Rs T-474/04, Slg 2007, II-4225 ff – Pergan, m Anm Wegener, EuR 2008, 703. 200 EuGH, Rs 155/79, Slg 1982, 1575 ff – AM & S; EuG, verb Rs T-125/03 u T-253/03, Slg 2007, II-3523 ff – Akzo Nobel. 201 EuGH, Rs C-3/06 P, Slg 2007, I-1331, Rn 23 ff – Groupe Danone; EuG, Rs T-43/02, Slg 2006, II-3435, Rn 213 ff – Jungbunzlauer. 202 EuGH, Rs 14/68, Slg 1969, 1, Rn 11 – Walt Wilhelm; Rs 7/72, Slg 1972, 1281, Rn 3 – Boehringer Mannheim. 203 Vgl EuG, Rs T-572/93, Slg 1995, II-2025, Rn 77 – Odigitria; umf Storost Diplomatischer Schutz durch EG und EU?, 2005. 204 Art 8 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen v 24.4.1963 (WÜK), Sart II Nr 326. 205 Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, Art 23 AEUV Rn 3; Giegerich in: Schulze ua, ER, § 9 Rn 133; aA Ruffert, ArchVR 35 (1997), 459 (471 f); Szczekalla, EuR 1999, 325 (327 f); Haag in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art. 23 AEUV Rn 12; Hatje in: Schwarze, EU-Komm,
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gliedstaaten haben daher in verschiedenen Beschlüssen gemeinsame konkretisierende Regelungen getroffen,206 die der Übernahme in innerstaatliches Recht bedurften. Im deutschen Recht geschah dies nicht.207 Da es sich bei diesen Beschlüssen nicht um Unionsrecht handelte, das der Gerichtsbarkeit des EuGH unterliegt, kam eine Direktwirkung auch insoweit nicht in Betracht.208 Eine neue Lage hat RL 2015/ 637 geschaffen, deren Art 7 Unionsbürgern das Recht vermittelt, „bei der Botschaft oder dem Konsulat eines jeden Mitgliedstaats um Schutz zu ersuchen“.209 Der Anspruch ist nach den allgemeinen Regeln über die Direktwirkung von Richtlinien unmittelbar anwendbar. Er wird in Art 2 und 5 der RL konkretisiert, welche den Gehalt des Art 23 AEUV aufgreifen und für Unionsangehörige und ihre (auch drittstaatsangehörigen) Familienmitglieder den gleichen Schutz verlangen wie er den eigenen Staatsangehörigen und deren Angehörigen gegenüber ihrer konsularischen Vertretung zusteht. Die RL wurde in Deutschland durch § 9a KonsG umgesetzt, durch den die Aufgabe der Hilfeleistung an Einzelne nunmehr auf Unionsangehörige erstreckt wird.210 Die Ermessensvorschrift des § 1 KonsG darf daher nicht so ausgelegt werden, dass die andere Staatsangehörigkeit eine zulässige Ermessenserwägung wäre.211 Zusätzlich zu den unionsinternen Maßnahmen bedarf es jeweils einer Zustimmung der Drittstaaten, denen gegenüber der diplomatische und konsularische Schutz in der vorgesehenen Weise wirksam werden soll. Sie kann auch für den konkreten Fall konkludent erteilt werden.212
Art 23 AEUV Rn 12; Kommission Mitteilung Konsularischer Schutz der EU-Bürger in Drittstaaten, KOM (2011) 149 endg; RL-Vorschlag über den konsularischen Schutz von Unionsbürgern im Ausland, KOM (2011) 881 endg, S 4. 206 S Beschluss 95/553 über den Schutz der Bürger der Europäischen Union durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen, ABl 1995 Nr L 314/73 und Beschluss 96/409 über die Ausstellung eines Rückkehrausweises, ABl 1996 Nr L 168/4, beide inzwischen durch Richtlinien ersetzt (s Fn 209 und 218). 207 Die Praxis entsprach ihnen aber offenbar, s BT-Dr 19/699, S 6. 208 Anders Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 23 AEUV Rn 16 f. 209 RL 2015/637 über Koordinierungs- und Kooperationsmaßnahmen zur Erleichterung des konsularischen Schutzes von nicht vertretenen Unionsbürgern in Drittländern, ABl 2015 Nr L 106/1; sie ersetzt Beschluss 95/553 über den Schutz der Bürger der Europäischen Union durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen, ABl 1995 Nr L 314/73. 210 Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse – Konsulargesetz idF v 18.4.2018, Sart I Nr 570. 211 Ob dies möglich ist, mag man im Einzelfall bezweifeln; s a Giegerich in Schulze ua, ER, § 9 Rn 138, der die Umsetzung für unionsrechtswidrig befindet. 212 Zum übl Verf in derart Fällen s Art 8 WÜK, der eine „angemessene Notifikation“ und das Ausbl eines Einspr durch den Empfangsstaat verlangt; ausf Moraru, CMLRev 56 (2019), 417 (452 ff).
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b) Schutzbereich 83 Konsularischer Schutz besteht üblicherweise in der Unterstützung eigener Staatsangehöriger, Schiffe und Luftfahrzeuge im Ausland durch Verwaltungstätigkeit der Konsulate, etwa das Ausstellen von Ausweispapieren, die Wahrnehmung notarieller und standesamtlicher Aufgaben, die Interessenwahrung in Nachlass-, Vormundschafts- und Pflegschaftssachen, die Vertretung vor Gericht, die Übermittlung von Urkunden und die Erledigung von Rechtshilfeersuchen.213 Unter diplomatischem Schutz versteht man dagegen die Wahrnehmung der Interessen eigener Staatsangehöriger oder staatszugehöriger juristischer Personen nach Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen durch einen anderen Staat, insbesondere bei Unterschreitung der gewohnheitsrechtlichen Standards, die bei der Behandlung von Ausländern im Hinblick auf deren Leben und körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit, Eigentum und gerichtlichen Schutz einzuhalten sind.214 84 Diplomatischer Schutz im technischen Sinne konnte bisher – von hier nicht interessierenden, eng begrenzten Ausnahmen abgesehen – allein durch die Regierung des Staates ausgeübt werden, dem der Geschädigte angehört. Durch diesen Vorgang wird nach vorherrschendem Verständnis zwischen den Staaten nicht ein individueller, sondern ein staatlicher Anspruch geltend gemacht.215 In diesem völkerrechtlichen Sinne ist Art 23 AEUV jedoch trotz seiner scheinbar eindeutigen Ausdrucksweise schon seinem Wortlaut nach nicht zu verstehen. Denn weder ist für die Ausübung diplomatischen Schutzes eine Vertretung des Heimatstaates des Geschädigten im Schädigerstaat erforderlich, noch muss dies in dessen Hoheitsgebiet (Art 23 AEUV) geschehen. Wie die Fassungen der übrigen Vertragssprachen (Art 55 EUV) belegen, sollte sich Art 23 AEUV vielmehr auf Schutz durch die Auslandsvertretungen beziehen (engl „protection by diplomatic or consular authorities“, frz „protection de la part des autorités diplomatiques et consulaires“ usw).216 Diese Lesart bestätigt Art 46 GRCh, der von „Schutz durch die diplomatischen und konsulari-
213 Siehe die Aufz in Art 5 WÜK, ferner §§ 5–7, 9 KonsG. 214 I Einz Epping in: Ipsen, VR, § 7 Rn 115 ff; Kau in: Graf Vitzthum/Proelß, VR, III Rn117 ff. 215 Es sind also drei Anspruchsebenen zu unterscheiden: Der Ersatzanspr des Geschädigten ggü dem verantwortl Staat, der sich nach dessen innerstaatl Recht bemisst; der völkerrechtl Entschädigungsanspr des Herkunftsstaates des Geschädigten gg den Schädigerstaat; und schließlich ein denkbarer Anspr des Geschädigten gg seinen Herkunftsstaat, ggü dem Schädigerstaat diplomatischen Schutz auszuüben, der dem innerstaatl Recht des Herkunftsstaates unterliegt. 216 IdS auch die Intention der Staaten, die sich bei den Vertragsverh durchgesetzt haben, s Jiménez Piernas, Revista de las Instituciones Europeas 20 (1993), 9 (18); Weyland in: Marias (Hrsg), European Citizenship, 1994, S 63 (64); zutr daher Ruffert, ArchVR 35 (1997), 459 (465, 472, 476); Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 23 AEUV Rn 7, 11; Vigni in: Kochenov (Hrsg), Citizenship and Federalism, S 584 (588 ff.); aA Haag in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 23 AEUV Rn 7; Khan/ Henrich in: Geiger/Khan/Kotzur/Kirchmair, EUV/AEUV, Art 23 AEUV Rn 1; Hatje in: Schwarze, EU
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schen Behörden“ spricht. Dadurch sind zwei Schutzformen erfasst, die sich in der Praxis nicht immer klar trennen lassen. Zum einen regeln Art 23 AEUV, 46 GRCh den konsularischen Schutz. Durch den Hinweis auf diplomatische Vertretungen wird dabei dem Umstand Rechnung getragen, dass diese auch Konsularaufgaben wahrnehmen können.217 Zum anderen geht dieser Schutz aber insoweit über rein konsularische Aufgaben hinaus, als er Maßnahmen einschließt, die mit diplomatischem Schutz im völkerrechtlichen Sinne zusammenhängen und vor Ort erbracht werden können oder müssen wie die Abgabe rechtswahrender Erklärungen, die Übergabe von Dokumenten, den Einsatz für die Freilassung Inhaftierter, Hilfe bei der Ausschöpfung des Rechtswegs usw. RL 2015/637, die nur von konsularischem Schutz spricht, lässt sich mit dieser Auslegung zur Deckung bringen, zumal die in ihr aufgeführten Arten der Hilfe nicht abschließend sein sollen (Art 9: „unter anderem“). Schutzzweck der Art 23 AEUV, 46 GRCh ist es also, Angehörigen anderer Unions- 85 staaten in Drittländern unter denselben Bedingungen Schutz und Hilfe zu verschaffen, die auch für die eigenen Staatsangehörigen gelten. Gedacht ist vor allem an akute Notlagen, etwa an die Hilfe nach Verlust von Ausweisen und Reisedokumenten,218 aber auch nach einer Straftat, Unfall, Krankheit oder Todesfall (Art 9 RL 2015/637). Besondere Bestimmungen gelten für den gleichfalls erfassten Katastrophenfall.219 Die potenzielle praktische Bedeutung ist schon angesichts des Massenphänomens Ferntourismus erheblich. Es gibt nur drei Staaten, mit denen alle Mitgliedstaaten der EU diplomatische Beziehungen unterhalten, in wohl über 100 Drittländern sind höchstens zehn Mitgliedstaaten vertreten.220 Die Relevanz könnte weiter zunehmen, da Art 23 AEUV indirekt Einsparungen durch den Abbau bestehender Vertretungen ermöglicht. Personell wird der Schutzbereich durch die Unionsbürger und die einem Unionsstaat zugehörigen juristischen Personen des privaten Rechts bestimmt.221 Allerdings macht das allgemeine Völkerrecht hier gewisse Einschränkungen. So muss die Staatsangehörigkeit auch effektiv sein. Diplomatischer Schutz von Doppelstaat-
Komm, Art 23 AEUV Rn 10; s a Stein in: Ress/Stein (Hrsg), Der diplomatische Schutz im Völker- und Europarecht, 1996, S 97 ff. 217 Art 3 S 2 WÜK; s a Art 3 II des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen v 18.4.1961, Sart II Nr 325. 218 S RL 2019/997 zur Festlegung eines EU-Rückkehrausweises, ABl 2019 Nr L 163/1, die Beschluss 96/ 409 über die Ausstellung eines Rückkehrausweises, ABl 1996 Nr L 168/4, ersetzt. 219 Art 10 ff RL 2015/637 iVm Art 16 VII Beschl 1313/2013 über ein Katastrophenschutzverfahren der Union, ABl 2013 Nr L 347/924. 220 VR China, Russland und die USA, s Kommission Mitteilung Konsularischer Schutz der EU-Bürger in Drittstaaten, KOM (2011) 149 endg, S 3; letztgenannte Zahl (danach: 107 Länder) in Fünfter Bericht, KOM (2010) 603 endg S 9. 221 Fn 34.
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lern gegen einen Staat, dessen Angehörigkeit der Schutzsuchende besitzt, galt lange als ausgeschlossen und ist jedenfalls dann problematisch, wenn die Staatsangehörigkeit des schädigenden Staates die effektive ist. 86 Der Schutz durch einen anderen als den Herkunftsstaat ist subsidiär. Unterhält dieser eine Vertretung, kommt ihm der Vorrang zu;222 weder kann ein anderer Unionsstaat ohne dessen Zustimmung tätig werden, noch hat der Schutzsuchende ein Wahlrecht. Allerdings muss bei akuten Gefahren effektiv gehandelt werden können. Unterhält etwa ein Unionsstaat in einer entlegenen Provinz ein Konsulat, andere aber nicht, wird er, soweit möglich im Einvernehmen mit dem Heimatstaat, die erforderliche Hilfe gewähren müssen, wenn Personal des Heimatstaates nicht rechtzeitig erreicht werden kann. Dem Europäischen Auswärtigen Dienst und seinen Niederlassungen kommt eine koordinierende und unterstützende Rolle zu (Art 10 ff RL 2015/637).
c) Eingriffe und Schranken 87 Ansprüche der Unionsbürger richten sich auf Gleichbehandlung, gehen also nicht
weiter als die der Angehörigen des schutzpflichtigen Mitgliedstaates. Die unterschiedlichen Schutzstandards bleiben somit erhalten.223 Damit wird in den Schutzbereich eingegriffen, wenn ein Mitgliedstaat Unionsbürger schlechter behandelt als die eigenen Staatsangehörigen. 88 Schranken ergeben sich aus dem allgemeinen Völkerrecht, den in Art 23 I 2 AEUV benannten konkretisierenden Bestimmungen und dem innerstaatlichen Recht, auf das Art 23 AEUV, 46 GRCh durch das Gebot der Inländerbehandlung verweisen. Nach deutschem Recht steht dem Einzelnen lediglich ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung zu, der sich aus den Grundrechten in ihrer Funktion als Schutzpflichten des Staates ergibt.224 Die Schranken liegen in anderen verfassungsrechtlich anerkennenswerten Interessen. Allerdings spielen außenpolitische Belange, die bei der Ausübung diplomatischen Schutzes im technischen Sinne ein weites Ermessen des Auswärtigen Amtes rechtfertigen, in Konsularangelegenheiten eine sehr viel geringere Rolle, so dass sich der Schutzanspruch dann auch auf bestimmte Maßnahmen richten kann. Eine Rechtsverletzung liegt dann vor, wenn diese unterbleiben.
222 Übersicht zu den Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten in Drittländern unter https://consularprotection.ec.europa.eu/representation-offices _en (Stand 31.12.2020). 223 Lippott, DÖV 2017, 217 ff. 224 Vgl BVerfGE 40, 141 (177 f) – Ostverträge; 41, 126 (182) – Reparationsschäden; 55, 349, 364 f – Heß; NJW 1992, 3222 (3223) – dtsch/poln Grenzvertrag = JK 93, GG Art 14 I/31; ferner BVerwGE 62, 11 (14); eing Hofmann Grundrechte und grenzüberschr Sachverhalte, 1993, 107 ff.
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d) Rechtsschutz Für den gerichtlichen Schutz ergeben sich aus Art 23 AEUV, 46 GRCh einige Beson- 89 derheiten. Da diese Garantie, vermittelt durch RL 2015/637, ein Recht auf Gleichbehandlung gewährt, kann sich ein vor den deutschen Verwaltungsgerichten geltend zu machender Schutzanspruch nur auf fehlerfreie Ermessensausübung richten. Im Falle einer fehlerhaften Verweigerung konsularischen Schutzes sind Schadensersatzansprüche nach den Grundsätzen der mitgliedstaatlichen Haftung für die fehlerhafte Nichtumsetzung von Unionsrecht denkbar,225 da das durch § 1 KonsG eröffnete Ermessen richtlinienkonform zu handhaben und drittschützend ist. Zweifelsfragen zu Wirkung und Gewährleistungsgehalt des Art 23 AEUV und des konkretisierenden Sekundärrechts sind durch Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nach Art 267 AEUV zu klären.
4. Weitere mit der Unionsbürgerschaft verbundene Rechte Die meisten der Unionsbürgerrechte zielen auf eine Gleichstellung von Angehöri- 90 gen anderer Unionsstaaten mit den Inländern ab. Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, das in allgemeiner Form in Art 18 AEUV aufgestellt worden ist, steht daher – wie überhaupt die Gleichheit vor dem Recht – mit der Unionsbürgerschaft in direktem Zusammenhang (Art 9 EUV; → Buckler § 10.3).226 Daraus hat der EuGH die Schlussfolgerung gezogen, dass sich Unionsbürger, die sich rechtmäßig im Gebiet eines Unionsstaates aufhalten, in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des EU-Rechts erfassten Fällen auf Art 18 AEUV berufen können. Das Ergebnis sind aus dem von der Unionsbürgerschaft umfassten Diskriminierungsverbot abgeleitete Teilhabeansprüche, kulturelle Rechte, Persönlichkeitsrechte und andere Grundrechte. So haben Unionsangehörige ein Recht auf Teilhabe an der öffentlichen Daseinsvorsorge, was einen Anspruch auf gleichen Zugang zu Bildungseinrichtungen und zur Verkehrsinfrastruktur umfasst,227 auf Gebrauch ihrer eigenen Sprache vor Gericht, soweit dies auch für Inländer vorgese-
225 Vgl EuGH, verb Rs C-46/93 u C-48/93, Slg 1996, I-1029 ff – Brasserie du pêcheur = JK 96, EGV Art 5/ 1. 226 Schönberger Unionsbürger, 2005, S 385 ff; Epiney FS Bieber, 2007, S 661 ff. Die Kommission zählt daher die Initiativen der Union gg Diskriminierung auch aus anderen Gründen als der Staatsangehörigkeit, zu denen Art 19 AEUV ermächtigt, zum Politikbereich der Unionsbürgerschaft, s zuletzt (neunter) Bericht, KOM (2010) 603 endg S 4 f. 227 EuGH, Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff – Bressol (Hochschulzugang); Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 119 ff – Österreich/Deutschland (Autobahnen).
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hen ist,228 und auf Eintragung und Schreibweise ihres Namens in amtlichen Dokumenten in der Form, in der dies im Herkunftsstaat üblich ist.229 Diese Rechte gehen als Persönlichkeitsrechte teils über den Zweck einer Integration durch Inländerbehandlung hinaus, auch wenn sie einem ähnlichen Ziel dienen.230 Gesteigerte Anforderungen gelten zudem für den Schutz von Unionsangehörigen vor Auslieferung in Drittstaaten.231 91 Für die unbegrenzte Freizügigkeit in Europa wesentlich ist die Frage, wie weit die Unionsbürgerschaft auch soziale Rechte umfasst. Soweit Unionsangehörige von ihren Grundfreiheiten als Arbeitnehmer oder Selbständige Gebrauch machen, fallen sie und ihre Familien unter das sog europäische koordinierende Sozialrecht, das regelt, welches Sozialversicherungsrecht anwendbar ist, wie in den verschiedenen Mitgliedstaaten verbrachte Zeiten der Erwerbstätigkeit zu berechnen und aufzuteilen sind, und in welchem Umfang Sozialleistungen über die Grenzen hinweg gewährt werden. Auf Nichterwerbstätige, die sich allein auf Art 21 AEUV berufen können, ist dieses Recht jedoch nicht anwendbar.232 Daher hat der EuGH aus dem Diskriminierungsverbot des Art 21 iVm Art 18 AEUV unmittelbar ein Recht auf Existenzsicherung in Notlagen abgeleitet.233 Nach Umsetzung der RL 2004/38, welche eigentlich als Kodifizierung der bisherigen Judikatur des EuGH gedacht war,234 wurde dessen Rspr jedoch restriktiver und gestand den Mitgliedstaaten in allgemeiner
228 EuGH, Rs C-274/96, Slg 1998, I-7637, Rn 16, 23 ff – Bickel u Franz (Strafverfahren); Urt v 27.3.2014, Rs C-322/13 – Rüffer (Zivilverfahren). 229 EuGH, Rs C-148/02, Slg 2003, I-11613 ff – Garcia Avello; Rs C-353/06, Slg 2008, I-7639 ff – Grunkin u Paul = JK 2008, EGV Art 18/3; Rs C-208/09, Slg 2010, I-13693 ff – Sayn-Wittgenstein; Rs C-391/09, Slg 2011, I-3787 ff – Runevič-Vardyn; Urt v 2.6.2016, Rs C-438/14, NJW 2016, 2093 – Bogendorff v Wolffersdorff; Urt v 8.6.2017, Rs C-541/15 – Freitag. Zur Umsetzung wurde Art 48 S 1 EGBGB erlassen, zu dessen Anwendung durch den BGH (NJW 2019, 2313) krit Kroll-Ludwigs, NJW 2019, 2277 ff. 230 Vgl zur Sprache schon EuGH, Rs 137/84, Slg 1985, 2681, Rn 16 – Mutsch. 231 Diese ist nicht untersagt, doch gelten Informationspflichten und auf Verlangen eine Pflicht zur Übergabe an den Herkunftsstaat, EuGH, Urt v 6.9.2016, Rs C-182/15, NJW 2017, 378 – Petruhhin m Anm Böse, CMLRev 54 (2017), 1781 ff; Urt v 10.4.2018, Rs C-191/16 – Pisciotti m Anm Coutts, CMLRev 56 (2019), 521 ff; Urt v 13.11.2018, Rs C-247/17 – Raugevicius; zur Rspr eingehend Catteau/Weyembergh, CDE 55 (2019), 451 ff. 232 EuGH, Rs C-85/96, Slg 1998, I-2691, Rn 44 – Martínez Sala. 233 EuGH, Rs C-85/96, Slg 1998, I-2691, Rn 63 – Martínez Sala; Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193, Rn 34 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; Rs C-138/02, Slg 2004, I-2703 ff – Collins; Rs C-456/02, Slg 2004, I-7573, Rn 36 ff – Trojani; Rs C-209/03, Slg 2005, I-2119 ff – Bidar = JK 2005, EGV Art 12 I/2; Rs C-221/07, Slg 2008, I-9029 ff – Zablocka-Weyhermüller; der EuGH hat seine Rspr auf wechselnde Grundl gestützt, so teils aus einer Verbindung von Art 21 und 18, teils aus Art 20 iVm Art 18, teils auch aus Art 21 AEUV allein, dazu i Einz v Bogdandy/Bitter FS Zuleeg, 2005, S 309 ff. Untersch in der Sache ergaben sich hieraus nicht. 234 Vgl Schönberger Unionsbürger, 2005, S 370 ff.
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Form das Recht zu, derartige Leistungen zu verweigern.235 Die Basis dafür bietet Art 24 II RL 2004/38, der diese Möglichkeit ausdrücklich vorsieht. Anders als in der älteren Rspr wird bei der Prüfung der Berechtigung in der EuGH-Rspr jedoch keine umfassende Prüfung der persönlichen Verhältnisse mehr verlangt;236 dies ist nur mehr vor Anordnung aufenthaltsbeendender Maßnahmen geboten, die anderen Maßstäben folgt (→ Rn 50). Danach ist fraglich, ob die Zielrichtung der älteren Rspr, Unionsangehörigen in 92 besonderen Notfällen einen Anspruch auf Existenzsicherungen zu verschaffen, noch Bestand hat. Die RL 2004/38 lässt dieses Motiv insofern anklingen, als es darauf ankommen soll, ob Leistungen „unangemessen“ in Anspruch genommen werden (Art 14 I RL 2004/38). Ob für Härtefälle noch Platz ist, wird die weitere Rspr zeigen müssen.237 Wenn der EuGH auch nach wie vor auf die in früheren Urteilen geprägte und in Sekundärrechtsakten aufgenommene Formel zurückgreift, der zufolge die Unionsbürgerschaft „dazu bestimmt [ist], der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“,238 so unterliegt doch dieser Status bei den sozialen Rechten deutlichen Einschränkungen. Er kommt nur denjenigen zu, die in die Wirtschaft des Aufnahmestaates eingegliedert sind.
V. Gegenwärtiger Stand der Unionsbürgerschaft Die Unionsbürgerschaft hat seit jeher unterschiedliche Bewertungen erfahren. 93 Manche sehen in ihr eine eher symbolische Institution, während andere das Potenzial der Art 20 ff AEUV betont haben, die Intensivierung der europäischen Integration über das Wirtschaftliche hinaus in subjektive Rechte zu übersetzen und den Unionsangehörigen mehr und bessere Rechte zu verschaffen.239 Die Beurteilung hängt
235 EuGH, Urt v 10.10.2013, Rs C-86/12 – Alokpa; Urt v 11.11.2014, Rs C-333/13 – Dano; Urt v 15.9.2015, Rs C-67/14 – Alimanovic; Urt v 25.2.2016, Rs C-299/14 – García-Nieto; Urt v 14.6.2016, Rs C-308/14, NJW 2016, 2867 – Kommission/Vereinigtes Königreich. 236 Krit zur Rspr Kingreen, NVwZ 2015, 1503 ff; Schreiber, ZAR 2015, 46 (49); ders, NZS 2016, 847 ff; Farahat, DÖV 2016, 45 (48); Nic Shuibne, CMLRev 52 (2016), 889 ff; Wallrabenstein, JZ 2016, 109 (120); Spaventa in: Koutrakos ua (Hrsg), Exceptions from EU Free Movement Law, 2017, S 32 (52); zust Hilpold, EuR 2015, 133 ff; Iliopoulou-Perot, CMLRev 53 (2016), 1007 (1030 ff). 237 In diese Richtung EuGH, Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20, Rn 79 ff – The Department for Communities in Northern Ireland. 238 Ständige Formel seit EuGH, Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193, Rn 31 – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/ 1; s auch Urt v 11.11.2014, Rs C-333/13, Rn 58 – Dano; Erwägungsgrund 3 RL 2004/38; Erwägungsgrund 1 RL 2015/637. 239 Krit Jessurun d’Oliveira in: Dehousse (Hrsg), Europe after Maastricht: An ever closer Union?, 1994, S 126 (135 ff); O’Leary European Union Citizenship. The options for reform, 1996, S 44 ff; Nettes
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
also davon ab, welchen Maßstab man wählt. Der ergänzende Charakter der Unionsbürgerschaft (Art 9 S 3 EUV, 20 I 3 AEUV) spricht auf den ersten Blick nicht dafür, sie an der Staatsbürgerschaft zu messen, aus der sie sich ableitet.240 Doch kann eine solche „Ergänzung“ sich auch nur auf den Rechtebestand der Staatsbürgerschaft beziehen. Da diese erst vollständig ist, wenn sie Freiheitsrechte, soziale Rechte und politische Rechte einschließt,241 wird sich auch eine Bewertung des Unionsbürgerstatus immer an der Frage ausrichten, was er für die Erweiterung des bürgerlichen Status auf die Unionsebene bedeutet.242 94 Die Freiheitsrechte der GRCh sind ebenso wenig wie die der EMRK an die Staatsangehörigkeit der Person, sondern an die Herrschaftsgewalt des verpflichteten Hoheitsträgers gebunden (Art 1 EMRK, 51 GRCh), so dass die meisten von ihnen nicht nur Unionsangehörigen zugutekommen. Es sieht auch nicht so aus, als würden sich Vorschläge durchsetzen, die Unionsbürgerschaft als Grundlage für die Ausübung der europäischen Grundrechte zu fassen. Spezifisch auf die Unionsbürger bezogen ist unter ihnen vor allem das Freizügigkeitsrecht (Art 21 AEUV, 45 GRCh). In vollem Umfang kommt es nur Erwerbstätigen zugute, während infolge der DanoRspr ein neuer, prekärer Aufenthaltsstatus entstanden ist: Wegen seiner Abhängigkeit von sozialer Unterstützung kann ein Unionsangehöriger seine Aufenthaltsberechtigung verlieren, ohne aber deshalb automatisch ausgewiesen werden zu können; es gibt also den lediglich „geduldeten“ Unionsbürger. Davon abgesehen bietet das Freizügigkeitsrecht des Art 21 AEUV wenig, was nicht ohnehin als Konsequenz der Grundfreiheiten gelten würde. Dagegen hat das Recht auf konsularischen Schutz (Art 23 AEUV), eine Art externes Freizügigkeitsprivileg, durch die Konkretisierung in einer neuen Richtlinie eine solidere rechtliche Grundlage erhalten, auch wenn es nur intergouvernemental umgesetzt werden kann. Im Übrigen ergibt sich eine spezifisch an die Unionsangehörigkeit gebundene Aufwertung der Freiheitsrechte punktuell durch eine weite Konzeption des „Anwendungsbereichs der Verträge“ (Art 18 AEUV), mit der die Rspr in einigen Rechtsgebieten grenzüberschreitend Persönlichkeitsrechte und Teilhaberechte an Leistungen der Daseinsvor-
heim, integration 2003, 428 ff; Dellavalle, Annual of German and European Law II/III (2004/05), 171 (213 f); s andererseits Pernice FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 177 ff; Kostakopoulou, ELJ 13 (2007), 623 ff; Obwexer, ZöR 74 (2019), 955 ff. 240 Vgl BVerfGE 89, 155 (184): Mit der Unionsbürgerschaft werde „zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ein auf Dauer angelegtes rechtliches Band geknüpft, das zwar nicht eine der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Staat vergleichbare Dichte besitzt, dem bestehenden Maß existentieller Gemeinsamkeit jedoch einen rechtlich verbindlichen Ausdruck verleiht“. 241 Fn 44. 242 Zu einem Vergleich mit den Rechten, die die Unionsbürger kraft Staatsbürgerschaft besitzen, Goudappel The Effects of EU Citizenship, 2010, S 153 ff.
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§ 10.2 Unionsbürgerrechte
sorge geschaffen hat. Die Verknüpfung des Art 21 bzw 20 AEUV mit dem Gleichheitssatz des Art 18 AEUV zwingt aber nicht schlechthin zu einer Gleichstellung sämtlicher Unionsbürger. Insbesondere für die – rechtspolitisch überfällige – Beseitigung der Inländerdiskriminierung bringt sie keine neuen Gesichtspunkte.243 So viel für die Anerkennung eines allgemeinen, für alle Unionsbürger in jeder Situation gleichermaßen gültigen europäischen Grundrechtsstandards auch sprechen mag,244 aus dem Unionsbürgerstatus lässt er sich nicht herleiten. Wenig übrig geblieben ist von der älteren Rspr des EuGH zu den aus dem Frei- 95 zügigkeitsrecht des Art 21 AEUV abgeleiteten sozialen Rechten. Die neuere Rspr wendet die Befugnis der Mitgliedstaaten zum Ausschluss sozialer Leistungen für nicht Erwerbstätige (Art 24 II RL 2004/38) wie eine lex specialis zu den personenbezogenen Freiheiten an und hat auch das Erfordernis einer Einzelfallprüfung aufgegeben. Wie immer man dazu stehen mag, von einer einmal als Möglichkeit diskutierten „europäischen Sozialbürgerschaft“ kann man nicht sprechen. Zählt man das Recht auf Existenzsicherung zu den notwendigen Bedingungen eines europäischen Bürgerstatus, bleibt er auf Marktbürger beschränkt.245 Die politischen Rechte der Unionsbürger, wie das Wahlrecht auf lokaler und 96 europäischer Ebene am Wohnsitzort (Art 22 AEUV, 39, 40 GRCh), könnten auch einen Ansatz für weiterführende Überlegungen zur Legitimierung von Hoheitsgewalt bieten. Beide öffnen rechtlich den bisher nach Mitgliedstaaten differenzierenden Begriff der Aktivbürgerschaft mit Richtung auf Legitimationseinheiten, für die es innerhalb der Union auf die Staatsangehörigkeit nicht mehr ankommt. Dies sollen die Verträge auch dort zum Ausdruck bringen, wo sie das Parlament nicht mehr als Vertretung der Völker Europas, sondern der Unionsbürgerschaft ansprechen (Art 14 II EUV). Die reale Bedeutung des Kommunal- und Europawahlrechts im Wohnsitzstaat ist jedoch nach wie vor gering.246 Auf europäischer Ebene hängt es entscheidend von den Befugnissen, vom politischen Gewicht und vom Einfluss des Europäischen Parlamentes auf die Kommission ab.247 Auch wenn das Parlament inzwischen
243 Weitere Nachw o Fn 84 f. 244 Vgl v Bogdandy et al, ZaöRV 72 (2012), 45 ff; Wallrabenstein FS Bryde, 2013, S 741 (747); Yong The Rise and Decline of Fundamental Rights in EU Citizenship, 2019, S 157 ff; krit Düsterhaus in: Kochenov (Hrsg), Citizenship and Federalism, S 642 (652 ff); Lenaerts/Gutiérrez-Fons, ebd S 751 (771 ff). 245 Thym, NJW 2015, 130 ff; Wallrabenstein, JZ 2016, 109 (120); Nic Shuibne, CMLRev 52 (2016), 889 (926) (kein Status mehr, sondern ein von zunehmend strengen Vrs abhängiges Privileg); O’Brien, CMLRev 53 (2016), 937 („the last traces of citizenship disappear …“). 246 Kommission Bericht an das EP und den Rat über die Anwendung der RL 94/80 über das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen, COM (2018) 44 final,) S 5; zur Wahl eines Deutschen zum Bürgermeister von Temeswar FAZ v 30.9.2020, S 6 („Für die Geschichtsbücher“). 247 Zum Zusammenhang zwischen Unionsbürgerschaft und der Sicht auf die Demokratie in der EU Lenaerts/Gutiérrez-Fons in: Kochenov (Hrsg), Citizenship and Federalism, S 751 (775 ff).
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eine starke Position gewonnen hat, fällt die Verknüpfung der Wahlentscheidung mit einem Programm der Politikgestaltung und seiner Umsetzung nicht leicht. Nachdem zuletzt Versuche gescheitert sind, auf europäischer Ebene ein parlamentarischen Demokratien vergleichbares Modell durchzusetzen, in dem der Spitzenkandidat der aus den Wahlen als stärkste hervorgegangene Partei Kommissionspräsident wird,248 sieht es nicht so aus als würde das Wahlrecht weiter an Gewicht gewinnen.249 Dass man bemüht ist, die politische Partizipation der Unionsbürger zu steigern, zeigen der AEU-Vertrag und Bemühungen in der Praxis der Kommission, die die Rolle der Zivilgesellschaft betonen (Art 11 EUV); solche Bemühungen mögen eine Steigerung des Legitimationsniveaus mancher Entscheidungen auf Unionsebene bewirken, ein Ersatz für eine stärkere Inputlegitimation der europäischen Säule der Demokratie in der Union können sie nicht sein. Bei den Rechten auf Petition, Auskunft (Art 24 II-IV AEUV, 43, 44 GRCh), eine „gute Verwaltung“ (Art 41 GRCh) und Zugang zu Dokumenten handelt es sich zwar um typische Aktivbürgerrechte, doch stehen sie wegen ihrer Kontrollfunktion zu Recht auch Nicht-Unionsbürgern zu. 97 Die als fortschreitend intendierte (Art 25 AEUV) Ausgestaltung des Unionsbürgerstatus scheint an ihre Grenzen gestoßen zu sein. Eine wichtige Konsequenz der Vertragsbestimmungen zur Unionsbürgerschaft wäre ein weiterer Abbau von Unterschieden, die sich aus der europaweiten Nutzung der Freizügigkeit ergeben, doch ist hiervon in der Sekundärrechtsetzung und in der Rspr nicht mehr viel zu sehen. Ob man dies als Schwäche des Unionsbürgerstatus auffassen mag, hängt von dem Bild ab, das man sich von der für richtig gehaltenen Finalität der Union macht. Sieht man in ihr primär einen funktionalen Verband wirtschaftlicher Integration, genügt es, wenn mit der Unionsbürgerschaft Nachteile ausgeglichen werden, die Erwerbstätigen durch das Verlassen des Heimatstaates entstehen. Je solidarischer und politischer die Union sein soll, desto weniger wird man den bestehenden Unionsbürgerstatus hingegen als substanzielle Ergänzung der Staatsbürgerschaft bewerten. Zurzeit besteht diese Rechtsposition in einem variablen, von der Festigkeit der Aufenthaltsberechtigung und der innerstaatlichen Rechtslage abhängigen Mehrebenen-Status, der einer wechselhaften Prinzipiensteuerung durch das Unionsrecht unterliegt. Diese Ambivalenz zeigt die Rspr des EuGH auch dort, wo sie sich mit dem Status selbst befasst, wenn sie einerseits das Recht der Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich des Unionsrechts zieht,250 andererseits die
248 Kommission Empfehlung für ein demokratischeres und effizienteres Verfahren für die Wahlen zum Europäischen Parlament, ABl 2013 Nr C 79/29; dies Bericht zur Umsetzung dieser Empfehlung, COM (2014) 196 final; Europäisches Parlament Entschließung v 11.11.2015, P8_TA(2015)0395. 249 Nemitz u Zürn in: Kadelbach (Hrsg), Europäische Bürgerschaft, 2020, S 23 ff bzw S 75 ff. 250 EuGH, Rs C-135/08, Slg 2010, I-1449, Rn 55 ff – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1; Urt v 12.3.2019, Rs C-221/17, Rn 45 – Tjebbes.
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§ 10.2 Unionsbürgerrechte
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Beschränkung von Unionsbürgerrechten aus Gründen der Wahrung staatlicher Identität (Art 4 II EUV) zulässt.251 Die mit der Unionsbürgerschaft zusammengefassten Ansprüche bringen die zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilte Verantwortung für den Einzelnen zum Ausdruck und übersetzen die institutionelle Organisation Europas auf mehreren Ebenen in die Sprache subjektiver Rechte. Sie können aber nicht weiter gehen als der Stand der europäischen Integration selbst es erlaubt.
251 EuGH, Rs C-208/09, Slg 2010, I-13693, Rn 92 f – Sayn-Wittgenstein (Abschaffung der Adelsprädikate in der Republik Österreich) m Anm Besselink, CMLRev 49 (2012), 671 ff und Rs C-391/09, Slg 2011, I3787, 86 ff – Runevič-Vardyn (Schutz der Landessprache) m Anm van Eijken, CMLRev 49 (2012), 809 ff.
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§ 10.3 Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot Leitentscheidungen: EuGH, Rs 293/83, Slg 1985, 606 ff – Gravier; EuGH (GK), Rs C-85/96, Slg 1998, I2691 – Martínez Sala; EuGH, Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193 – Grzelczyk; EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff – Bressol; EuGH (GK), Urt v 11.3.2014, Rs C-333/13 – Dano; EuGH, Urt v 13.6.2019, Rs C-22/18 – Topfit und Biffi; EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18 – TÜV Rheinland.
Schrifttum: Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995; Rossi, Das Diskriminierungsverbot nach Art 12 EG-Vertrag, EuR 2000, 197 ff; Hailbronner Die Unionsbürgerschaft und das Diskriminierungsverbot, 2004; Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt, 2007.
I. Einführung 1 Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit im EU-Recht wird
nicht zu Unrecht als „Leitmotiv1 [der Verträge] angesehen; tatsächlich beinhaltete bereits der EGKSV in Art 4 lit b) ein (allgemeines) Diskriminierungsverbot, das dann mit Art 7 EWGV auch für den Bereich der allgemeinen wirtschaftlichen Integration übernommen wurde. Auch die Grundfreiheiten beinhalten unabhängig von ihrer konkreten Formulierung im Kern Verbote der Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Besonders deutlich kommt dies nach wie vor in Art 45 II AEUV zum Ausdruck. Unabhängig von ihrem jeweiligen Bezugspunkt erfassen die Grundfreiheiten und die entsprechenden Diskriminierungsverbote aber stets nur die von ihrem jeweiligen Anwendungsbereich erfassten wirtschaftliche Aktivitäten.2 Zusammen mit der Fortentwicklung der europäischen Integration über den Kernbereich der wirtschaftlichen Integration hinaus ist aber zusammen mit den ebenfalls vom Bild des „Marktbürgers“3 abrückenden Regelungen über die Unionsbürgerschaft der tatsächliche Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbots deutlich ausgeweitet worden4. Es ist gegenüber den speziellen Diskriminierungsverboten des AEUV und insbesondere jenen der Grundfreiheiten subsidiär (II.). Hierbei er-
1 MwN v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV Art 18 AEUV Rn 1. S auch Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl 2020, Art 21 GRCh Rn 2: „Urgrundrecht“. 2 Das erklärt ihre Bezeichnung als spezielle Diskriminierungsverbote und in Abgrenzung dazu die Bezeichnung von Art 18 I AEUV als allgemeines Diskriminierungsverbot – Bezugspunkt für beide Diskriminierungsverbote kann von vornherein aber nur der jeweils durch den AEUV abgesteckte Anwendungsbereich sein. 3 S nur HP Ipsen EuGR, S 251. 4 S in diesem Zusammenhang auch die Grundsatzbestimmung des Art 9 EUV. Julius Buckler https://doi.org/10.1515/9783110716740-030
§ 10.3 Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot
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gänzt Art 18 AEUV zwar die besonderen Diskriminierungsverbote in Bezug auf nichtwirtschaftliche Tätigkeiten, geht aber nicht so weit, ein umfassendes und übergreifendes EU-rechtlich vorgegebenes Diskriminierungsverbot zu statuieren: Art 18 AEUV gilt zum einen nur für Unionsbürger, und erfasst zum anderen nur Sachverhalte im Anwendungsbereich des Unionsrechts, setzt also stets einen bereits vorgefundenen Bezug zum EU-Recht voraus. Einen wesentlichen Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit des Unionsrechts bildet hierbei die Ausübung des Freizügigkeitsrechts aus Art 21 AEUV, das seinerseits von der Notwendigkeit der Ausübung wirtschaftlicher Aktivitäten entkoppelt ist (III.). Erhebliche Bedeutung hat das allgemeine Diskriminierungsverbot das Art 18 2 AEUV dabei im Bereich des Zugangs von Unionsbürgern zu Systemen der sozialen Sicherung als einem politisch besonders sensiblen Bereich erlangt, daneben aber auch in zahlreichen anderen Lebensbereichen wie dem Verkehrsbereich, wie das Beispiel der deutschen Pkw-Maut gezeigt hat: In den Mitgliedstaaten bestehen nach wie vor zumindest faktisch5 nach der Staatsangehörigkeit diskriminierende Regelungen (IV.). Auch mit Blick auf den textlich nur schwach konturierten Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbots ist dieses aber nicht vollkommen abweichungsfest; vielmehr sind etwaige Beeinträchtigungen trotz Fehlen einer entsprechenden ausdrücklichen Regelung einer Rechtfertigung zugänglich (V.).
II. Abgrenzungsfragen Fall 1: (vgl EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18 – TÜV Rheinland) Der eitle E ist Staatsangehöriger von D und hat sich Wadenimplantate der Firma P aus Mitgliedstaat F einsetzen lassen. Einige Zeit nach der in D durchgeführten OP platzen die Implantate wegen eines Herstellungsfehlers und E erleidet infolgedessen schwere Gesundheitsschäden. P ist nach ihrer Insolvenz mittlerweile liquidiert. Als E Schadenersatz geltend machen möchte, klagt er daher vor den Gerichten von D gegen die Versicherung A mit Sitz in F. Mit A hatte P seinerzeit einen Versicherungsvertrag abgeschlossen, der sich allerdings nur auf Schäden in Mitgliedstaat F bezog. Infolgedessen wird die Klage von E in der ersten Instanz abgewiesen. Hiergegen legt E Berufung ein und begründet diese ua damit, dass die räumliche Begrenzung des Versicherungsvertrages auf das Territorium von F gegen Art 18 I AEUV verstoße. Zu Recht?
5 Zur Abgrenzung Gundel, JURA 2001, 79 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
1. Allgemeines Diskriminierungsverbot und Grundfreiheiten 4 Dass Art 18 AEUV gegenüber speziellen Diskriminierungsverboten und damit auch
den entsprechenden Bestimmungen der Grundfreiheiten formell subsidiär ist, ergibt sich bereits aus seinem Wortlaut.6 Insoweit bereitet die Abgrenzung auch keine grundsätzlichen Schwierigkeiten: Art 18 AEUV ist unanwendbar, solange und soweit der Anwendungsbereich einer Grundfreiheit eröffnet ist;7 umgekehrt kann die Anwendbarkeit von Art 18 AEUV durch die „Berührung einer Grundfreiheit“8 ausgelöst werden,9 womit der lückenfüllende und abrundende Charakter der Regelung unterstrichen wird. Im Verhältnis zu anderen speziellen Diskriminierungsverboten des AEUV tritt Art 18 AEUV aber nur dann zurück, soweit diese zumindest auch die Staatsangehörigkeit als verbotenes Differenzierungskriterium benennen. Soweit spezielle Diskriminierungsverbote die Staatsangehörigkeit nicht erfassen, wie dies namentlich bei Art 157 AEUV der Fall ist, ergeben sich keine Überschneidungen, so dass auch eine parallele Anwendung der Bestimmungen möglich ist.10
2. Das Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz und Art 21 II GRCh 5 Gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz, der als allgemeiner Rechtsgrundsatz
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wie Art 18 AEUV Teil des EU-Primärrechts ist, erscheint das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit als speziellere Regelung12, die zugleich eine etwas andere Zielrichtung aufweist: Art 18 AEUV richtet sich in erster Linie und sicher an die Mitgliedstaaten, während der allgemeine Gleichheitssatz sich primär an die Union selbst richten dürfte.13 In seiner Schutzrichtung gegenüber dem Handeln der Union selbst ist der allgemeine Gleichheitssatz nunmehr in Art 21 I und das
6 Zum Verhältnis aus dem Schrifttum im Überblick zB Hilpold in: Niedobitek (Hrsg), Europarecht, 2. Aufl 2019, § 12 Rn 10 f; Wolff in: Frankfurter Komm, Art 18 AEUV Rn 72 ff. Aus der Rspr zuletzt EuGH, Urt v 8.12.2022, Rs C-731/21 – GV, Rn 28. 7 Aus der neueren Rspr EuGH (GK), Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 39 ff – Österreich/Deutschland. 8 Vgl die negative Formulierung in EuGH, verb Rs 35/82 u 36/82, Slg 1982, 3723 ff, Rn 16 – Morson. 9 Dazu zuletzt ausführlich EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 45 ff – TÜV Rheinland und noch unten bei III. 2. a). 10 Zum Ganzen mwN Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 15. 11 Vgl Art 6 III EUV. Zur Funktion und Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze aus jüngerer Zeit im Zusammenhang mit dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot zB Buckler, EuR 2018, 371 ff. 12 Dazu auch Rn 42 der Schlussanträge von GA Wahl v 6.2.2019 in der Rs C-591/17 – Österreich/ Deutschland. 13 Vgl Kingreen in: Ehlers (Hrsg), Vorauflage, § 13 Rn 3.
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§ 10.3 Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot
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Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit in Art 21 II GRCh aufgegangen. Art 21 II GRCh ist dabei wegen Art 52 II GRCh wie Art 18 AEUV auszulegen. Das macht Art 21 II GRCh aber nicht überflüssig, nachdem so jedenfalls als gesichert gelten kann, dass auch die Union selbst grundsätzlich keine sachgrundlos anhand der Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten differenzierenden Regelungen treffen darf.14 Eine eigenständige Bedeutung können Art 21 II GRCh bzw der inhaltsgleiche allgemeine Gleichheitssatz und das hiervon ebenfalls erfasste Verbot der Diskriminierung anhand der Staatsangehörigkeit aber je nach Positionierung im Zusammenhang mit der Frage nach der Bindung Privater an das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit erlangen.15
III. Anwendungsbereich 1. Persönlicher Anwendungsbereich: Beschränkung auf Unionsbürger In persönlicher Hinsicht erfasst Art 18 I AEUV jedenfalls die Ungleichbehandlung 6 von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten – Unionsbürgern – untereinander.16 Seinem Wortlaut nach beschränkt sich der Anwendungsbereich von Art 18 I AEUV in persönlicher Hinsicht aber nicht auf Unionsbürger und Unionsgesellschaften im vorgenannten Sinne. Daher scheint ua mit Blick auf den Vergleich zu Art 45 II AEUV die Frage berechtigt, ob Art 18 I AEUV nicht ein allgemeines Verbot der Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit beinhaltet.17 Dann könnten sich auch
14 Ausgehend vom Wortlaut des Art 21 II GRCh, der ja anders als Art 18 AEUV nicht im systematischen Kontext der Unionsbürgerschaft steht, ließe sich zugleich anführen, dass Art 21 II GRCh allgemein ein Verbot der Differenzierung anhand der Staatsangehörigkeit beinhaltet und damit vorbehaltlich gesonderter Regelungen auch eine Ungleichbehandlung von Drittstaatern verbietet. Insbesondere mit Blick auf die entsprechenden Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl 2007 Nr C 303/17 ff) sind solche Überlegungen aber nicht weiterführend, so im Kern EuGH, Urt v 10.9.2019, Rs C-703/17, Rn 18 – Krah; ausdrücklich gegen eine Ausweitung der Anwendbarkeit von Art 21 II GRCh auf Drittstaater positioniert hatte sich zuvor EuG, Urt v 20.11.2017, Rs T-452/15, Rn 38 ff – Petrov. 15 Dazu unten 3. 16 Im Ausgangspunkt ebenfalls vom persönlichen Anwendungsbereich des Art 18 AEUV erfasst sind juristische Personen mit der Staatszugehörigkeit eines Mitgliedstaates, dh Unionsgesellschaften iSv Art 54 AEUV, s Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 37. Praktisch dürfte diese Einbeziehung aber in aller Regel nur für nicht-wirtschaftlich aktive juristische Personen bedeutsam sein. Eingehend zum Anwendungsbereich Wolff in: Frankfurter Komm, Art 18 AEUV Rn 52 ff. 17 Zu diesem Vergleich und den nachfolgend behandelten Fragen ua bereits Kingreen in: Ehlers (Hrsg), Vorauflage, § 13 Rn 5 f.
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Drittstaater18 – anders als eben zB bei Art 45 AEUV – in seinem sachlichen Anwendungsbereich stets und ohne weitere Voraussetzungen auf Art 18 I AEUV berufen.19 Gegen ein solches Verständnis sprechen aber neben der systematischen Stellung von Art 18 I AEUV an der Spitze des Abschnitts über die Unionsbürgerschaft und der Beschränkung von Art 9 S 1 EUV als mit Art 18 I AEUV korrespondierender Grundsatzbestimmung auf Unionsbürger ganz grundsätzliche Erwägungen: Art 18 I AEUV ergänzt die speziellen Diskriminierungsverbote für den Bereich der nicht-wirtschaftlichen Integration, setzt aber dennoch einen Integrationsbezug voraus, der in Bezug auf Drittstaater anders als bei Unionsbürgern ohne weitere Anknüpfungspunkte nicht gegeben ist.20 Dieser (persönliche) Binnenmarktbezug ist Grund und Grenze der Anwendbarkeit von Art 18 I AEUV in persönlicher Hinsicht.21 Das wird auch dadurch deutlich, dass sich umgekehrt auch Drittstaater auf Art 18 I AEUV berufen können, wenn und soweit ihnen durch das EU-(Sekundär)Recht Rechte eingeräumt werden22, sie also persönlich in einem Bezug zum Binnenmarkt stehen.23 Soweit dieser Binnenmarktbezug bei Drittstaatern wie im Regelfall nicht besteht, ist ihre Ungleichbehandlung gegenüber Unionsbürgern24 aber ein Gebot der Integra-
18 Hierzu zählen nach dem vollzogenen Brexit auch britische Staatsangehörige, s nun EuGH (GK), Urt v 9.6.2022, Rs C-673/20, Rn 96 – EP. S bereits zuvor im Zusammenhang mit dem Austrittsabkommen, das teils auch über das Ende des Übergangszeitraums hinausreichende Regelungen beinhaltet Lübke in: Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel, Brexit, 2. Aufl 2020, § 11 Rn 42 ff. Weitere Überlegungen in diesem Kontext bei Gerkrath, RUE 2020, 405 ff; Iliopoulou-Penot, RFDA 2020, 420 ff. Zur Übergangszeit s EuGH (GK), Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20, Rn 53 ff. – GC/The Department for Communities in Northern Ireland; dazu zB Wollenschläger, EuZW 2021, 795 ff; Verschueren, MJ 29 (2022), 482 ff; Haag, CMLRev 59 (2022), 1081 ff; s a Guillard, RUE 2022, 121 ff. 19 Dazu auch die Überlegungen im Zusammenhang mit der aufsehenerregenden Diskriminierung israelischer Staatsangehöriger durch eine kuwaitische Fluggesellschaft von Weller/Lieberknecht/ Smela, ZfPW 2020, 419 (429). 20 S zu den parallelen Erwägungen im Zusammenhang mit Art 21 II GRCh auch noch die Nw o in Fn 14; aus der Rspr zuletzt ausdrücklich EuGH (GK), Urt v 9.6.2022, Rs C-673/20, Rn 78 – EP. 21 Vgl auch EuGH, Rs 223/86, Slg 1988, 103 ff, Rn 21 f – Pesca Valentia. 22 Das ist nicht nur, aber insbesondere geschehen in der RL 2004/38/EG des EP und des Rates v 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (…), ABl EU 2004 L 158/77. 23 Dazu mwN statt vieler Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 39 ff. Deutlich ist die Bedeutung des Binnenmarktbezugs zuletzt geworden in EuGH (GK), Urt v 2.4.2020, Rs C-897/19 PPU – I.N./ Ruska Federacija, dazu Germelmann/Gundel, BayVBl 2021, 584 (591). 24 Umgekehrt ist eine Besserstellung von Drittstaatern gegenüber Unionsbürgern im Hinblick auf Art 18 I AEUV unbeachtlich, so EuGH, verb Rs C-22/08 u C-23/08, Slg 2009, I-4585 ff, Rn 51 f – Vatsouras und Koupatantze.
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tionslogik, die insoweit auch nach Maßgabe der EMRK als sachlicher Differenzierungsgrund erscheint.25
2. Sachlicher Anwendungsbereich Der in personeller Hinsicht regelmäßig durch die Unionsbürgerschaft vermittelte 7 Binnenmarktbezug reicht für sich genommen aber nicht aus, um die Anwendbarkeit von Art 18 I AEUV zu begründen. Vielmehr muss ein solcher Bezug auch in sachlicher Hinsicht bestehen. Nach der Formulierung von Art 18 I AEUV setzt dies voraus, dass der konkrete Sachverhalt „im Anwendungsbereich der Verträge“ liegt. Sachlich erfasst Art 18 I AEUV folglich gerade nicht jeden Sachverhalt, der Unionsbürger26 betrifft. Vielmehr muss darüber hinaus ebenso wie bei den Grundfreiheiten auch der konkrete Sachverhalt als solcher im Anwendungsbereich der Verträge liegen. Nachdem Art 18 I AEUV gegenüber den speziellen und in ihrer Tragweite auf wirtschaftliche Tätigkeiten beschränkten Diskriminierungsverboten der Grundfreiheiten subsidiär ist,27 gilt Art 18 I AEUV damit in erster Linie für Sachverhalte, die in den im herkömmlichen Sinne zu verstehenden Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, der insbesondere bei Anwendung und Umsetzung abgeleiteten Unionsrechts eröffnet ist (a)). Als weniger leicht feststellbarer Auslöser für die Anwendbarkeit des Unionsrechts und damit des Art 18 I AEUV hat sich daneben im Kern zunächst und va der Bezug zu durch die Grundfreiheiten berührenden Sachverhalten erwiesen (b)). Einen spürbaren Bedeutungszuwachs hat Art 18 I AEUV mit der Einführung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts aus Art 21 AEUV erfahren, dessen Wahrnehmung einen zentralen Ansatzpunkt für die Anwendung von Art 18 I AEUV bildet (c)). Auch wenn die Bestimmung der Grenzen des Anwendungsbereichs des Unionsrechts iSd Art 18 I AEUV dabei gerade in den Randbereichen einer Einzelfallkasuistik28 folgt, ist seine formal leicht zu bestimmende Grenze dort erreicht, wo ein Sachverhalt keinerlei grenzüberschreitenden Bezug aufweist: Auch wenn die Unionsbürgerschaft insoweit nicht endet, erfasst Art 18 I AEUV nicht das Phänomen der Inländerdiskriminierung (d)).
25 Vgl zum Binnenmarktbezug als Grund einer Differenzierung zwischen Drittstaatsangehörigen EGMR, 12313/86 v 18.2.1991 – Moustaquim/Belgien, Rn 49 = EuGRZ 1993, 552; dazu zB Gundel in: HStR IX, § 198 Rn 40. 26 Oder einen entsprechend berechtigten Drittstaater. 27 Sa Wolff in: Frankfurter Komm, Art 18 AEUV Rn 37: „Abrundung der Grundfreiheiten“. 28 Vgl Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 16. Julius Buckler
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
a) Der Anwendungsbereich der Verträge 8 Sachlich greift Art 18 I AEUV nur im Anwendungsbereich der Verträge. Wann dieser Anwendungsbereich eröffnet ist, lässt sich auf einer abstrakten Ebene nur schwer eingrenzen.29 Im Ausgangspunkt und als Grundsatz kann hierbei wegen der flankierenden Funktion30 von Art 18 I AEUV festgehalten werden, dass der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht erst dann eröffnet ist, wenn die Union konkrete Regelungen in Bezug auf einen Sachverhalt erlassen hat31 oder erlassen darf.32 Vielmehr ist umgekehrt lediglich erforderlich, dass ein Sachverhalt „nicht außerhalb des [Unionsrechts]“33 liegt, womit der Sachverhalt lediglich einen Bezug zum Unionsrecht in seinem „gegenwärtigen Entwicklungsstand“34 aufweisen muss.35 Entscheidend für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts und damit einhergehend die Anwendbarkeit von Art 18 I AEUV ist damit, welche Anforderungen an diesen Bezug zu stellen sind und woraus sich dieser Bezug im Allgemeinen ergeben kann. 9 Unproblematisch besteht ein solcher Bezug, wenn der konkrete Sachverhalt unionsrechtlich geregelt ist, ohne dass eine Grundfreiheit tatsächlich einschlägig wäre.36 Danach und schon dem Wortsinn nach ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts jedenfalls bei der Umsetzung und Durchführung von Unionsrecht eröffnet37. Seitdem die Unionskompetenzen weit über das Wirtschaftsleben als Kern-
29 Das weckt Erinnerungen an die Frage danach, wann die Mitgliedstaaten Unionsrecht iSv Art 51 I GRCh „durchführen“, s bereits Kingreen, in: Ehlers (Hrsg), Vorauflage, § 13 Rn 13. 30 „Akzessorische Freiheitssicherung“: v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 42. 31 Vgl EuGH, Rs 187/87, Slg 1989, 216 ff, Rn 10 – Morson. 32 Insbesondere zu diesen kompetenziellen Aspekten Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 18. 33 Vgl EuGH, Rs 293/83, Slg 1985, 606 ff, Rn 19 ff – Gravier. Zu dieser Entscheidung und ihrer Einordnung für die Beantwortung der Frage nach der Reichweite des Anwendungsbereichs des Unionsrechts v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 38. 34 EuGH, Rs 39/86, Slg 1988, 3161 ff, Rn 15 – Lair. 35 Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 19 f, der aus der negativen Formulierung in EuGH, verb Rs 35/82 u 36/82, Slg 1982, 3723 ff, Rn 19 – Morson, allerdings zu weitgehend ableitet, es genüge ein Bezugspunkt zu irgendeinem seinerseits unionsrechtlich geregelt Sachverhalt. 36 Vgl aus neuerer Zeit zB EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 31, 36 – TÜV Rheinland; EuGH, Urt v 22.10.2021, Rs C-691/20, Rn 18 – B/O ua. 37 Vgl EuGH, Rs C-29/95, Slg 1997, I-300 ff, Rn 12 f – Pastoors. Vgl für den Bereich des Beihilfenrechts zuletzt zB EuG, Urt v 17.2.2021, Rs T-259/20, Rn 32, 49 – Ryanair/Kommission. Der Anwendungsbereich der Verträge iSv Art 18 I AEUV dürfte aber auch bei Eingriffen in unionsrechtlich begründete Rechte eröffnet sein, s (unmittelbar allerdings nur zur Unionsbürgerschaft) EuGH (GK), Rs C-135/ 08, Slg 2010, I-1449, Rn 55 ff – Rottmann; dazu zuletzt EuGH (GK), Urt v 18.1.2022, Rs C-118/20, Rn 45 ff – JY/Wiener Landesregierung; dazu Stamatopoulos, JDE 2022, 339 ff. S zu dem in diesem Kontext be
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§ 10.3 Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot
bereich der Integration hinausreichen und ausgeübt38 werden, findet das allgemeine Diskriminierungsverbot damit auf mehr und mehr Sachverhalte Anwendung, weil sich der „gegenwärtige Entwicklungsstand“39 des Unionsrechts insoweit stetig fortentwickelt. Die Grenzen des Anwendungsbereichs der Verträge iSv Art 18 I AEUV sind insoweit dynamisch, in diesen Konstellationen wegen der idR existierenden textlichen Anknüpfungspunkte aber leicht feststellbar.
b) Grundfreiheiten Solche konkreten Anknüpfungspunkte bestanden aber besonders in der ersten Zeit 10 der europäischen Integration in deutlich geringerem Ausmaß als dies mittlerweile der Fall ist. Ein für die Anwendung von Art 18 I AEUV erforderlicher Bezug zum Unionsrecht kann aber auch dann vorliegen, wenn ein Sachverhalt nicht im vorgenannten Sinne unmittelbar durch Sekundärrecht „unionsrechtlich geregelt“ ist.40 Soweit es an einer sekundärrechtlichen Regelung fehlt, greifen zwar das Primärrecht und mit ihm die Grundfreiheiten, deren Diskriminierungsverbote gegenüber Art 18 I AEUV vorrangig sind. Damit kann sich zunächst die berechtigte Frage danach stellen, wann und inwieweit solche Sachverhalte überhaupt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen können.41 Nach gefestigter Spruchpraxis des EuGH erfasst Art 18 I AEUV jedoch auch die 11 zahlreichen zwischen diesen beiden Polen angesiedelten Konstellationen, in denen zwar eine Grundfreiheit ausgeübt worden ist, es aber um einen nicht von der jeweiligen Grundfreiheiten erfassten Aspekt eines solchen – grundfreiheitlich ausgelös-
deutsamen Vorgehen der Kommission gegen die sog. „Goldenen Pässe“ die Pressemitteilung IP/20/ 1925 v 20.10.2020; dazu knapp Lepoutre, Recueil Dalloz 2020, 2337; näher Cambien, JDE 2021, 410 ff; allgemeiner Berger, ZaöRV 81 (2021), 1033 ff. Im September 2022 hat die Kommission daraufhin die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage zum EuGH beschlossen (s die Pressemitteilung IP/22/5422 v 29.9.2022), die dort nun als Rs C-181/23 anhängig ist. 38 Zum mittlerweile nicht mehr relevanten Streit, ob die bloße Existenz einer Unionskompetenz für die Auslösung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts ausreicht mwN Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 24. 39 S Fn 34. 40 So die Formulierung seit EuGH, Rs 186/87, Slg 1989, 216 ff, Rn 10 – Cowan und zuletzt etwa mit einer besonders deutlichen Unterscheidung zwischen den Konstellationen der sekundärrechtlichen Durchdringung und der eher zufälligen Berührung durch das Primärrecht EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 31 ff – TÜV Rheinland; s a EuGH, Urt v 22.10.2021, Rs C-691/20, Rn 17 ff – B/O ua. 41 Vgl zum Streit über die Reichweite des Anwendungsbereichs von Art 18 I AEUV nochmal Fn 38.
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ten – Sachverhaltes betrifft.42 Die danach für die Anwendung von Art 18 I AEUV erforderliche grundfreiheitliche Grundierung setzt voraus, „dass zwischen der Person, der Dienstleistung oder der Ware, die sich bewegt hat bzw empfangen oder befördert worden ist, und der behaupteten Diskriminierung ein konkreter Bezug besteht […]“43, ohne dass jedoch zugleich in Bezug auf die konkrete Diskriminierung der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten eröffnet wäre.44 Hinter dieser zunächst kryptisch anmutenden Formulierung verbirgt sich im Kern das Erfordernis, dass sich eine Person (dh ein Unionsbürger), die sich auf Art 18 I AEUV berufen möchte, in einer Situation befinden muss, in der sie sich ohne Ausübung einer der Freiheiten des AEUV nicht befinden würde.45 12 Infolgedessen kam das allgemeine Diskriminierungsverbot zunächst va im Zusammenhang mit diskriminierenden Regelungen in Bezug auf den Zugang zu Bildungsangeboten in anderen Mitgliedstaaten zur Anwendung, bei denen ein Bezug zur (ggf späteren) Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit naheliegend war.46 Über diesen Bereich hinaus haben sich mit der fortschreitenden Integration und präzisierenden Auslegung der Grundfreiheiten durch den EuGH aber zunehmend weitere Anwendungsfälle für den heutigen Art 18 I AEUV herausgebildet: Anknüpfungspunkte ergeben sich insoweit etwa bei privaten touristischen Reisen, die von der passiven Dienstleistungsfreiheit erfasst47 sind, daneben aber auch aus Gerichtsverfahren über grundfreiheitlich geschützte Rechte48. Schon dadurch wird die Rolle von Art 18 I AEUV als Instrument der „akzessorischen Freiheitssicherung“49 unter-
42 Im Grundsatz in EuGH, EuGH, Rs 186/87, Slg 1989, 216 ff, Rn 17 ff – Cowan. Zuletzt hat EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 46 ff – TÜV Rheinland, diese jedenfalls in der Sache in der Folgerspr mehrfach bekräftigte Linie bestätigt und insoweit als abstrakte Grundsätze ausformuliert. 43 EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 46 – TÜV Rheinland. 44 Vgl EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 47, 59 – TÜV Rheinland; Urt v 15.7.2021, Rs C-535/19, Rn 40 – A/Latvijas Republikas Veselības ministrija. 45 Vgl EuGH, Rs 186/87, Slg 1989, 216 ff, Rn 17 – Cowan; daran zumindest in der Sache anknüpfend zB EuGH (GK), Urt v 6.9.2016, Rs C-182/15, Rn 31 – Petruhhin; Urt v 13.11.2018, Rs C-247/17, Rn 27 – Raugevicius; deutlich dann EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 47 – TÜV Rheinland: „Jedoch ist festzustellen, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens (…) von ihrer Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat. Folglich besteht kein konkreter Bezug der im Ausgangsverfahren in Frage stehenden Situation zur Freizügigkeit der Unionsbürger.“ 46 Dazu EuGH, Rs 293/83, Slg 1985, 606 ff, Rn 23 f, 31 – Gravier; Rs 39/86, Slg 1988, 3161 ff, Rn 14 – Lair. Zum Bildungsbereich und auch zur Einordnung der Entscheidung in der Rs Gravier in die Fallgruppen, in denen von der Anwendbarkeit des Unionsrechts auszugehen ist, s v Bogdandy in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 37 f. 47 Vgl zur Bedeutung der passiven Dienstleistungsfreiheit für den heutigen Art 18 I AEUV bereits EuGH, Rs 186/87, Slg 1989, 216 ff, Rn 20 – Cowan. 48 S etwa EuGH, Rs C-323/95, Slg 1997, I-1711 ff – Hayes/Kronenberger. 49 V Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 42.
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strichen. So verstanden erklärt sich auch die weite Auslegung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts iSv Art 18 I AEUV: Die Ausübung der Grundfreiheiten soll nicht dadurch behindert werden, dass in anderen Lebensbereichen, die anlässlich der Ausübung der Grundfreiheiten betroffen, aber nicht (primär) von diesen erfasst werden, eine im Vergleich zu den jeweiligen Inländern ungünstigere Behandlung droht.50 Fall 1 – Lösung E hat Recht, wenn tatsächlich ein Verstoß gegen Art 18 I AEUV vorliegt. Als Staatsangehöriger von Mitgliedstaat D ist E Unionsbürger (Art 20 I 2 AEUV), so dass er sich in persönlicher Hinsicht auf Art 18 I AEUV berufen kann.51 Es muss aber auch der sachliche Anwendungsbereich von Art 18 I AEUV eröffnet sein, dh der konkrete Sachverhalt müsste im Anwendungsbereich der Verträge liegen, und es darf kein spezielles Diskriminierungsverbot einschlägig sein. Der Anwendungsbereich der Verträge ist verkürzt dann eröffnet, wenn der Sachverhalt entweder unionsrechtlich determiniert ist, also insbes durch Sekundärrecht geregelt wird, oder aber ein Berührungspunkt zur Ausübung einer Grundfreiheit vorliegt.52 Hier bestehen keine sekundärrechtlichen Regelungen für die Versicherung von Medizinprodukten.53 Der Anwendungsbereich von Art 18 I AEUV könnte aber eröffnet sein, wenn ein Bezug zur Ausübung der Grundfreiheiten besteht. Da E seinen Wohnsitzstaat D im Zusammenhang mit der Implantation nie verlassen hat54, könnte sich ein solcher Bezug daraus ergeben, dass die A ihren Sitz in F hat oder aber die Implantate in F hergestellt wurden. Im Verhältnis von E und A könnte die Dienstleistungsfreiheit iSv Art 56 AEUV berührt sein. Hier ist zwar gerade bei einer Versicherung unschädlich, wenn E seine Freizügigkeit physisch nie ausgeübt hat; der Versicherungsvertrag wurde aber zwischen A und P geschlossen, zwischen A und E bestand nie ein Dienstleistungsverhältnis.55 Wegen der Herkunft der Implantate aus F könnte aber die Warenverkehrsfreiheit iSv Art 34 AEUV berührt sein. Insoweit ist aber nicht der Warenverkehr als solcher betroffen, sondern nur die versicherungstechnischen Rahmenbedingungen, die unmittelbar keine Auswirkungen auf den Verkehr der Implantate haben.56 Daher besteht auch kein hinreichender Bezug zur Ausübung der Grundfreiheiten. Folglich fällt der Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich der Verträge, womit Art 18 I AEUV unanwendbar ist. Auf die Frage nach der Anwendbarkeit von Art 18 I AEUV im Horizontalverhältnis kommt es damit nicht an.57 Ein Verstoß gegen Art 18 I AEUV liegt nicht vor.
50 Vgl dazu im – allerdings ebenfalls schon früh sekundärrechtlich stärker eingerahmten – Zusammenhang mit dem Zugang zu Bildungseinrichtungen von Kindern von Arbeitnehmern zB EuGH, Rs 9/74, Slg 1974, 773, Rn 6 – Casagrande; aus neuerer Zeit im Zusammenhang mit Art 18 AEUV EuGH, Urt v 13.6.2019, Rs C-22/18, Rn 47 – Topfit und Biffi. 51 S o bei III.1. 52 EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 30–34 – TÜV Rheinland 53 Dazu EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 37 – TÜV Rheinland 54 EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 49 – TÜV Rheinland. 55 EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 50–54 – TÜV Rheinland. 56 EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 55–57 – TÜV Rheinland. 57 Dazu unten 3. Julius Buckler
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c) Insbesondere: Das allgemeine Freizügigkeitsrecht Fall 2: (vgl EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff – Bressol) In Mitgliedstaat B haben die Einschreibezahlen im Fach Humanmedizin in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Hintergrund ist, dass zahlreiche Staatsangehörige aus dem benachbarten und ebenfalls frankophonen Mitgliedstaat F sich den Umstand zunutze machen, dass in B anders als in F keine Zugangsbeschränkungen für das Fach Humanmedizin bestehen. Nach Abschluss des Studiums kehren die Staatsangehörigen von F in aller Regel dorthin zurück, wo sie auch praktizieren. In Reaktion hierauf erlässt B ein Gesetz, das den Zugang von Personen, die ihren Hauptwohnsitz nicht in B haben, zum Fach Humanmedizin beschränkt. Danach dürfen maximal 30 % der Studienplätze in Humanmedizin an Personen vergeben werden, die ihren Wohnsitz (bei Ersteinschreibung) nicht in B haben. B begründet diese Regelung ua damit, dass durch den Zustrom von Studenten aus F die Qualität der Hochschulausbildung im Medizinbereich zurückgehe. Auch könne die hohe Zahl ausländischer Studenten, die im Anschluss an ihre Ausbildung in ihre Heimat zurückkehren, im Ergebnis zu einer Knappheit von medizinischem Fachpersonal führen. Verstößt die Regelung gegen Art 18 I AEUV?
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15 Ausgehend hiervon wenig überraschend sieht der EuGH seit der Einführung des all-
gemeinen Freizügigkeitsrechts aus Art 21 AEUV den Anwendungsbereich des Unionsrechts iSv Art 18 I AEUV schon bei der Wahrnehmung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts als eröffnet an.58 Diese Spruchpraxis hat zwar teils erhebliche Kritik auf sich gezogen, weil durch die Verknüpfung des unmittelbar anwendbaren59 Art 21 I AEUV mit Art 18 I AEUV der Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbots erheblich ausgeweitet worden ist. Jenseits der nicht von der Hand zu weisenden Probleme, die eine solche Verknüpfung im Einzelfall bereiten kann60, ist gegen die Annahme, dass die Ausübung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts aus Art 21 I AEUV den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet, nichts einzuwenden61: Anders als in den bereits unter b) skizzierten Konstellationen, in denen die beinahe zufällige Berührung eines Sachverhaltes durch die Grundfreiheiten die Anwendbarkeit von Art 18 I AEUV begründete, erscheint dieses Verhalten als Ausdruck 58 Vgl grundlegend EuGH (GK), Rs C-85/96, Slg 1998, I-2691, Rn 59 ff – Martínez Sala; aus neuerer Zeit EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 48 – TÜV Rheinland; Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20, Rn 63 – GC/The Department for Communities in Northern Ireland 59 EuGH, Rs C-413/99, Slg 2002, I-7091, Rn 84 ff – Baumbast. 60 Sehr kritisch im Zusammenhang mit der Gewährung von Sozialleistungen („Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?“) zur Verknüpfung von Art 21 und Art 18 I AEUV in der Rspr des EuGH auch unter dem Gesichtspunkt des Verweises auf das Sekundärrecht zB Hailbronner, NJW 2004, 2185 ff. 61 So wohl im Ergebnis auch schon vor der Kodifizierung der entsprechenden Grundsätze in der RL 2004/38/EG (Fn 22) das (überwiegende) Schrifttum, s mwN Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 20.
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der Wahrnehmung einer eigenständigen und auch unionsrechtlich geregelten Freiheit.62 Insoweit ist der Bezug zum Anwendungsbereich des Unionsrechts insbesondere im Zusammenhang mit dem Zugang zu Sozialleistungen tatsächlich enger als zuvor und die (frühere) Rechtsprechung des EuGH mittlerweile weitgehend durch Sekundärrecht abgesichert worden,63 das der EuGH durchaus restriktiv auslegt.64 Danach greift Art 18 I AEUV in Bezug auf den Zugang zu Sozialleistungen wegen 16 Art 21 I AEUV zwar im Ausgangspunkt auch unabhängig von der (vorherigen) Ausübung einer erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit.65 Das gilt aber nur dann, wenn ein Aufenthaltsrecht nach Maßgabe des Unionsrechts besteht. Dieses kann bei nicht bzw im Aufenthaltsstaat nie erwerbstätigen Unionsbürgern entfallen, sofern diese nicht über ausreichende Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts verfügen, wofür die Beantragung von Sozialleistungen ein entsprechendes Indiz bieten kann.66 Zudem gestattet das Sekundärrecht67 während der ersten drei Monate des Aufenthalts einen Ausschluss von Sozialleistungen, was man – wenn man angesichts der spezielleren sekundärrechtlichen Regelungen insoweit überhaupt noch Raum für die Anwendbarkeit von Art 18 I AEUV sieht – jedenfalls auf der Rechtfertigungsebene berücksichtigen kann.68 Bedenken gegenüber einer „Einwanderung in soziale Sicherungssysteme“ durch die Ausweitung der Inländergleichbehandlung auf der Grundlage von Art 18 I iVm Art 21 I AEUV69 dürften sich damit weitgehend zerstreut haben.70
62 EuGH (GK), Rs C-85/96, Slg 1998, I-2691, Rn 63 – Martínez Sala. 63 Vgl Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 24 f. 64 Zum Wandel der Rspr auch aus grundsätzlicherer Perspektive → Kadelbach § 10.2 Rn 91 f. 65 Vgl etwa EuGH, Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193, 36 ff – Grzelczyk. 66 So EuGH (GK), Urt v 11.3.2014, Rs C-333/13, Rn 73 ff – Dano; im Anschluss EuGH (GK), Urt v 15.9.2015, Rs C-67/14, Rn 48 ff – Alimanovic; Urt v 25.2.2016, Rs C-299/14, Rn 38 ff – García-Nieto. Anders die frühere Rspr (vor Erlass der RL 2004/38/EG (Fn 22)) EuGH (GK), Rs C-456/02, Slg 2004, I-7573, Rn 31, 36 ff – Trojani. 67 Art 24 II RL 2004/38/EG. 68 So Kingreen in: Ehlers (Hrsg), Vorauflage, § 13 Rn 92. 69 Hiervon unberührt ist eine mögliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gewährung von Sozialleistungen nach sonstigen völkerrechtlichen Verträgen wie insbesondere dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA), das auch in der Rs Alimanovic (Fn 66) von Bedeutung war, dazu Buckler, AVR 59 (2021), 64 ff. Von den allein wegen Art 21 I AEUV in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallenden Konstellationen zu unterscheiden sind ferner jene, in denen die Gewährung von Sozialleistungen durch einen vormals Erwerbstätigen beantragt wird. Solche Antragsteller profitieren von einem (sekundärrechtlich konkretisierten) nachlaufenden Schutz durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit, s EuGH (GK), Urt v 6.10.2020, Rs C-181/19, Rn 56 ff – Jobcenter Krefeld; dazu auch unter dem Aspekt des dt Sozialrechts Janda, ZESAR 2021, 3 ff; Ristuccia, CMLRev 58 (2021), 876 ff. 70 So bereits zu Recht, allerdings mit dem (seinerseits zutreffenden) Verweis auf das Problem der Koordinierung von Primär- und Sekundärrecht, Germelmann/Gundel, BayVBl 2016, 725 (736). Statt
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Neben diesem sicher besonders sensiblen Bereich der sozialen Sicherung ieS hat die Auslösung der Anwendbarkeit von Art 18 I AEUV durch die Ausübung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts aber insbesondere auch Folgen für den Bereich des Zugangs zu Bildungseinrichtungen71 einschließlich der Bildungsfinanzierung72: Unabhängig von der Art des Bildungsangebots und einem im Einzelfall bestehenden Zusammenhang mit der (vorherigen oder künftigen) Ausübung der Marktfreiheiten73 unterfallen auch solche Regelungen Art 18 I AEUV, soweit sie ausländische Unionsbürger betreffen; auch hier ist eine vollständige Gleichbehandlung mit Blick auf die – nicht eindimensional zu verstehende – finanzielle Solidarität im Ergebnis aber nicht geboten.74 Damit ist eine gegenüber dem Stand vor der Einführung der Unionsbürgerschaft praktisch bedeutsame weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs des allgemeinen Diskriminierungsverbots verbunden.75 18 Wegen der Akzessorietät von Art 21 und Art 18 AEUV können schließlich – stets unter der Voraussetzung, dass von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht wurde – weitere Sachverhalte wie der Zugang zu Einrichtungen der (Verkehrs-)Infrastruktur (Stichwort: Pkw-Maut76), Gerichtsverfahren (Verwendung der eigenen Sprache)77, das Namensrecht78, der Komplex der Auslieferung79 sowie das Steuer-
dessen wird dem EuGH mit Blick auf die neuere Rspr nunmehr teils eine zu restriktive Linie vorgeworfen, s zB Steiger, EuR 2018, 304 (330 f). 71 Die bis dahin ergangene entsprechende Rspr zum Zugang zu Bildungseinrichtungen zusammenfassend bzw -führend EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735, Rn 30 ff – Bressol. 72 EuGH (GK), Rs C-209/03, Slg 2005, I-2119, Rn 42 – Bidar; Rs C-158/07, Slg 2008, I-8507, Rn 43 ff – Förster. 73 Deutlich EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735, Rn 36 – Bressol. 74 EuGH (GK), Rs C-209/03, Slg 2005, I-2119, Rn 56 – Bidar. 75 Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 28. 76 EuGH (GK), Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 41 ff – Österreich/Deutschland (zugleich ein Beispiel für den seltenen Fall eines Vertragsverletzungsverfahrens iSv Art 259 AEUV). Dazu zB Anm Terhechte, JZ 2019, 257 ff; Chapuis-Doppler/Delhomme, MJ 26 (2019), 849 ff; Hoffmann, NVwZ 2019, 1257 ff; unter internationalprivat- und -verfahrensrechtlichen Aspekten Zwirlein-Forschner, IPRax 2021, 221 ff. 77 Dazu EuGH, Rs C-274/96, Slg 1998, I-7637, Rn 14 ff – Bickel u Franz; für Zivilverfahren EuGH, Urt v 27.3.2014, Rs C-322/13, Rn 20 – Grauel Rüffer. 78 Grundlegend EuGH (Pl), Rs C-148/02, Slg 2003, I-11613 ff, Rn 24 ff, 30 ff – Garcia Avello; unmittelbar nur zu Art 21 AEUV auch EuGH, Urt v 2.6.2016, Rs C-438/14, Rn 31 – Bogendorff von Wolffersdorff; Urt v 8.6.2017, Rs C-541/15, Rn 32 ff – Freitag. 79 Dazu zunächst für den Fall der Auslieferung an einen Drittstaat EuGH (GK), Urt v 6.9.2016, Rs C182/15, Rn 29 ff – Petruhhin; Urt v 10.4.2018, Rs C-191/16 – Pisciotti; auch dazu Germelmann/Gundel, BayVBl 2019, 613 (617); EuGH, Urt v 17.12.2020, Rs C-398/19, Rn 27 – BY. Für die Auslieferung an einen EU-Mitgliedstaat EuGH (GK), Rs C-123/08, Slg 2009, I-9621 – Wolzenburg; dazu zuletzt EuGH (GK), Urt v 22.12.2022, Rs C-237/21 – S.M. S auch zu den insoweit aufgeworfenen Aspekten die umfassende Aufarbeitung durch Rung Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafrechtskooperation, 2019, S 335 ff. Zu Fragen der Vereinbarkeit von § 112 II Nr 2 StPO ua mit Art 18 I AEUV Wolf, StV 2019, 573 ff.
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recht80 und auch der Amateursport81 dem allgemeinen Diskriminierungsverbot unterfallen. Gerade wegen seiner Anwendbarkeit im Bereich des allgemeinen Freizügig- 19 keitsrechts kann Art 18 I AEUV damit als „umfassende Generalklausel“82 erscheinen, die praktisch für alle Lebensbereiche in den Mitgliedstaaten ein grundsätzliches Verbot der Ungleichbehandlung (allein) aufgrund der Staatsangehörigkeit statuiert.83 Dieses an die bloße Ausübung des Freizügigkeitsrechts gekoppelte Verständnis des Anwendungsbereichs von Art 18 I AEUV ist vor dem Hintergrund der frühe(re)n EuGH-Rechtsprechung und auch weil die Verträge mit den Unionsbürgerrechten klar über die rein wirtschaftliche Integration hinausreichen84, nur konsequent. Sie ist auch sachgerecht, weil besonders innerhalb der Union eine pauschale Differenzierung anhand der Staatsangehörigkeit selten gerechtfertigt erscheint und der EuGH den Mitgliedstaaten ausreichend Spielraum zur Verhinderung von Missbrauch belässt – ohne den die Akzeptanz der nicht-wirtschaftlichen Integration einschließlich ihrer Kosten und damit dieses Ziels insgesamt erheblich gefährdet erschiene. Insbesondere aber werden wegen der Anknüpfung von Art 18 I AEUV an 20 Art 21 I AEUV auch Konstellationen, die zuvor nur gelegentlich der Ausübung der Grundfreiheiten und damit eher zufällig im Anwendungsbereich des Unionsrechts lagen, nunmehr unzweifelhaft und auf normativ gefestigter Grundlage in den Anwendungsbereich der Verträge einbezogen. Insoweit bildet die Verknüpfung von Art 18 I AEUV mit Art 21 I AEUV eine sinnvolle Abrundung der Rechtsprechungsdogmatik.
d) Inländerdiskriminierung Die weitreichende und an relativ geringe Hürden geknüpfte Anwendbarkeit des 21 Art 18 I AEUV lässt die Frage nach einer unionsrechtlichen Antwort auf das Phänomen der Inländerdiskriminierung umso dringender erscheinen: Nachdem schon die bloße Ausübung der Freizügigkeit aus Art 21 I AEUV den Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet, erscheinen die für eine Ausklammerung rein innerstaat-
80 S zB EuGH, Urt v 30.4.2020, verb Rs C-168/19 u C-169/19 – HB ua. 81 EuGH, Urt v 13.6.2019, Rs C-22/18, Rn 26 ff – Topfit und Biffi. 82 Kadelbach in: Ehlers (Hrsg), Vorauflage, § 26 Rn 94. 83 → Kadelbach § 10.2 Rn 90: Ermöglichung der Integration durch Teilhabe ua an der öffentlichen Daseinsvorsorge. 84 Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 16 Rn 4: „weitreichende Integrationsteleologie“, „jenseits des Binnenmarktes“.
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licher Sachverhalte aus dem Anwendungsbereich des Art 18 I AEUV sprechenden Unterschiede teils praktisch vernachlässigbar.85 22 Das Postulat einer Beseitigung der Inländerdiskriminierung erscheint damit durchaus nachvollziehbar.86 Allerdings ist hierbei zum einen zu bedenken, dass das Unionsrecht im Ausgangspunkt nur grenzüberschreitende Sachverhalte in den Blick nimmt und nehmen muss, weshalb auch Art 18 I iVm Art 21 I AEUV wie auch die wirtschaftlichen Grundfreiheiten des AEUV nachvollziehbar nur auf ein Mindestmaß an (negativer) Integration abzielen. Zum anderen bleibt es sowohl dem Unionsgesetzgeber als auch dem (jeweiligen) nationalen Gesetzgeber unbenommen, die Inländerdiskriminierung als Phänomen lückenhafter Regulierung durch den Erlass entsprechender Regelungen zumindest dort zu beseitigen, wo sie tatsächlich als besonders problematisch erscheint.87 23 Wo dies nicht geschieht, kann die Lösung für das Problem der Inländerdiskriminierung jedenfalls nicht in einer den Wortlaut und den Zweck von Art 18 I AEUV ignorierenden Ausdehnung seines Anwendungsbereichs liegen.88 Stattdessen kann ihr im Einzelfall allenfalls im jeweiligen nationalen Recht mit den einschlägigen nationalen Grundrechten entgegengewirkt werden, in nicht-wirtschaftlichen Sachverhalten also vielfach allenfalls Art 3 I 1 GG, dessen Anwendbarkeit in diesen Konstellationen umstritten ist.89
3. Adressaten 24 Das so in seinem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich umrissene Dis-
kriminierungsverbot des Art 18 I AEUV richtet sich dabei in erster Linie an die Mit-
85 Wegen der bloßen Notwendigkeit der Freizügigkeitsausübung fallen dabei auch Inländer, soweit sie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, unter Art 18 I AEUV und können sich entsprechend gegenüber ihrem Heimatstaat auf Art 18 I AEUV berufen, s dazu aus dem Bereich der Bildung EuGH, Rs C-224/98, Slg 2002, I-6191 ff, Rn 21 ff – D’Hoop. 86 Kadelbach in: Ehlers (Hrsg), Vorauflage, § 26 Rn 94. 87 Vgl Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 64 ff. 88 Vgl die in diese Richtung gehenden Schlussanträge von GA Maduro zu EuGH, Rs C-72/03, Slg 2004, I-8029, Rn 58 ff – Carbonati Apuani; ebenso mglw auch die Schlussanträge von GA Hogan v 24.9.2020 in der Rs C-389/19, Rn 86 (m Fn 73) – BY: („[…] fiele dieser Fall nur bei umgekehrter Diskriminierung (Inländerdiskriminierung) in den Anwendungsbereich der Art 18 und 21 AEUV.“). 89 Zur Inländerdiskriminierung aus dem Schrifttum Gundel, DVBl 2007, 269 ff; aus neuerer Zeit zB Brockhaus/Gerdemann/Thönnes, NVwZ 2021, 204 ff. Aus der (neueren) Rspr etwa BVerwGE 140, 276 (Rn 41 ff); die Frage nach der Maßgeblichkeit von Art 3 I GG als Prüfungsmaßstab offengelassen hat BVerwG, Urt. 9.7.2020 – 3 C 20/18, NJW 2021, 331 (Rn 37). Gegen die Anwendbarkeit von Art 3 I GG zB Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 69.
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gliedstaaten, die am ehesten geneigt sein können, eigene Staatsangehörige zu bevorzugen. Eine solche Gefahr wird von der Union selbst zwar idR nicht ausgehen, doch ergibt sich schon aus allgemeinen normhierarchischen Erwägungen eine Bindung der Union und ihrer Organe an Art 18 I AEUV, der allerdings gegenüber dem für die Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Union passgenaueren Art 21 II GRCh keine eigenständige Bedeutung haben dürfte.90 Angesichts der geringen sachlichen Hürden für die Anwendbarkeit von Art 18 I 25 AEUV von weitaus größerer Brisanz ist die Frage nach einer unmittelbaren Direktwirkung von Art 18 I AEUV im Horizontalverhältnis zwischen Privaten.91 Hier sind zwar namentlich aus dem Bereich der Arbeitsverhältnisse Konstellationen bekannt geworden, in denen die unmittelbare Bindung Privater an die Arbeitnehmerfreizügigkeit angenommen worden ist92. Zudem ist der EuGH teils von der Anwendbarkeit spezieller Gleichheitssätze als allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Horizontalverhältnis ausgegangen;93 auch finden sich in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH Ansätze in Richtung der Annahme einer horizontalen Direktwirkung der gleichheitsrechtlichen Bestimmungen der Grundrechtecharta in Arbeitsverhältnissen.94 Angesichts dessen scheint im Ausgangspunkt auch eine Übertragung dieser Erwägungen auf Art 18 I AEUV und damit dessen vollumfängliche Anwendung im Horizontalverhältnis nahezuliegen. Hiergegen sprechen allerdings grundsätzliche Erwägungen: Die Grundrechte sollen die Ausübung hoheitlicher Gewalt begrenzen und binden entsprechend nur Hoheitsträger. Etwas anderes kann allenfalls dann angenommen werden, wenn und soweit sich im Horizontalverhältnis Private gegenüberstehen, zwischen denen ein mit dem Staat-Bürger-Verhältnis vergleichbares Machtverhältnis besteht, wie dies im Verhältnis von Privaten zu Verbänden
90 Vgl Kingreen in: Ehlers (Hrsg), Vorauflage, § 13 Rn 3. 91 Die ausdrücklich gestellte Frage nach der Horizontalwirkung von Art 18 I AEUV wegen der fehlenden Eröffnung seines Anwendungsbereichs konnte offengelassen werden durch EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 60 – TÜV Rheinland. S dazu zuvor in der „Verbandskonstellation“ aber EuGH, Urt v 13.6.2019, Rs C-22/18, Rn 36 ff – Topfit u Biffi. 92 EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139, Rn 36 – Angonese; weiter zB im Verbandskontext grundlegend EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 69 ff – Bosman; Rs C-325/08, Slg 2010, I-2177, Rn 30 – Olympique Lyonnais. 93 S EuGH, Rs C-144/04, Slg 2005, I-9981ff – Mangold; zur Folgerspr und der Kritik an dieser Linie s nur Gundel in: Frankfurter Komm, Art 288 AEUV Rn 53 f. 94 EuGH (GK), Urt v 17.4.2018, Rs C-414/16, Rn 75 ff – Egenberger; vgl in diesem Zusammenhang auch EuGH (GK), Urt v 6.11.2018, verb Rs C-569/16 u C-570/16, Rn 78 ff – Bauer. Tendenziell für eine Ausweitung der horizontalen Anwendbarkeit der GRCh auf Art 21 II GRCh Jarass GRCh, Art 21 Rn 39.
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mit erheblicher Gestaltungsmacht der Fall ist,95 beim gegenwärtigen Stand aber nicht in sonstigen Horizontalverhältnissen.96 Einzelne Private können unabhängig hiervon allerdings über die im Primärrechtsrang stehenden allgemeinen Rechtsgrundsätze97 im Anwendungsbereich des Unionsrechts ebenfalls an den allgemeinen Gleichheitssatz und das darin enthaltene Verbot der sachgrundlosen Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit gebunden sein.
IV. Ungleichbehandlungen 26 In seinem Anwendungsbereich verbietet Art 18 I AEUV sämtliche Ungleichbehand-
lungen wegen der Staatsangehörigkeit; als Kehrseite dieses Diskriminierungsverbots erscheint ein Gleichbehandlungsgebot.98 Hiervon erfasst sind zunächst einmal unmittelbare oder formale, dh ausdrücklich nach der Staatsangehörigkeit unterscheidende Regelungen, die in Anlehnung an einen aus dem EU-Wettbewerbsrecht geläufigen Begriff auch als „Hardcore-Diskriminierungen“99 bezeichnet werden können.100 Im Anwendungsbereich von Art 18 I AEUV dürften solche formalen Diskriminierungen eher Seltenheitswert besitzen;101 sie sind wegen der Staatsangehörigkeit als für die Annahme einer formalen Diskriminierung maßgeblichen Bezugspunkt auch leicht feststellbar, wie das Beispiel des formal diskriminierenden Art 19 III GG102 zeigt.
95 EuGH, Urt v 13.6.2019, Rs C-22/18, Rn 36 ff, 40 ff– Topfit u Biffi. Dazu zB Di Marco, MJ 27 (2020), 598 ff. Der Differenzierung des EuGH im Zusammenhang mit dem Verkauf von Fußballtickets zustimmend Drechsler/Harenberg, EuZW 2021, 157 (159 f). 96 Wie erwähnt (Fn 91) konnte der EuGH diese Frage zuletzt offen lassen und musste zur Unterscheidung solcher Konstellationen von jener in der Rs Topfit u Biffi (Fn 95) keine Stellung nehmen. S aber zur neueren und mglw in eine andere Richtung weisenden Rspr des EuGH zumindest für den Bereich des Art 21 I GRCh im Arbeitsrecht oben Fn 94. 97 Vgl mwN Buckler, EuR 2018, 371 (372 ff). 98 EuGH, Rs 186/87, Slg 1989, 216 ff, Rn 11 – Cowan: „Anspruch auf Gleichbehandlung“. Zum Gleichbehandlungsverbot monographisch Fuchs Das Gleichbehandlungsverbot im Unionsrecht, 2015. 99 Zum Wettbewerbsrecht nur Stockenhuber in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 101 AEUV Rn 142. 100 Zur Unterscheidung der verschiedenen Diskriminierungsformen instruktiv Gundel, JURA 2001, 79 ff; Wolff in: Frankfurter Komm, Art 18 AEUV Rn 4 ff. 101 S im Zusammenhang mit dem heutigen Art 18 I AEUV aus früherer Zeit aber zB EuGH, Rs C-43/ 95, Slg 1995, I-4671, Rn 17 – Data Delecta (Prozesskostensicherheit nur für Ausländer). 102 BVerfGE 129, 78 (Rn 75 ff). Dass diese Erstreckung nur unter bestimmten Voraussetzungen und auch dann nur in Bezug auf Unionsbürger bzw -gesellschaften geboten ist und die maßgebliche Trennlinie damit nicht mehr zwischen Inländern und Ausländern verläuft, sondern zwischen Unionsbürgern und Drittstaatern, unterstreicht BVerfG, Beschl v 27.6.2018, 2 BvR 1287/17 ua, Rn 13, 27 –
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Im Einzelfall schwerer feststellbar, in der Praxis aber deutlich häufiger sind 27 mittelbare bzw faktische (oder auch versteckte) Diskriminierungen. Darunter versteht man Ungleichbehandlungen, die nicht direkt an der Staatsangehörigkeit ansetzen, aber an Kriterien, die bei lebensnaher Betrachtung typischerweise fremde Staatsangehörige erfüllen, so dass doch eine – eben „verdeckte“ – Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit erfolgt.103 Für die Feststellung einer mittelbaren Diskriminierung kommt es dabei auf eine typisierte Betrachtung der tatsächlichen Sachlage an: Die Regelung muss nicht in jedem einzelnen tatsächlich Fall zu einer unterschiedlichen Behandlung fremder Staatsangehöriger führen, eine entsprechende Gefahr ist ausreichend;104 eine exakte quantitative Grenzziehung ist daher nicht erforderlich und erschiene auch wenig sinnvoll, da sie angesichts der Unterschiede zwischen den zahlreichen betroffenen Sachverhalten kaum einen allgemeinen subsumtionsfähigen Maßstab bilden würde.105 Als klassisches Beispiel mittelbarer Diskriminierung erscheinen danach Rege- 28 lungen, die an den Wohnsitz im Inland anknüpfen: Hiermit ist bei Art 18 I AEUV ebenso wie den Personenfreizügigkeiten zwar keine formale Diskriminierung verbunden, weil auch „Unionsausländer“ ihren Wohnsitz zB im Inland oder bestimmten Regionen haben bzw haben können. Die Mehrzahl der Personen, die ihren Wohnsitz im Inland haben, besitzt in aller Regel aber eben doch die Staatsangehörigkeit des Wohnsitzstaates.106 Weitere Beispiele für mittelbare Diskriminierungen sind Anforderungen an Sprachkenntnisse,107 den Ort der Ablegung des für ein Hochschulstu-
juris. Zu den im Zusammenhang mit dem im Ausgangspunkt ebenfalls formal diskriminierenden Art 16 II 1 GG aufgeworfenen Fragen EuGH, Urt v 10.4.2018, Rs C-191/16 – Pisciotti. 103 S etwa EuGH, Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 42 – Österreich/Deutschland: „Alle Formen der mittelbaren Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis [dh einer Unterscheidung aufgrund der Staatsangehörigkeit, Anm d Verf] führen“. 104 S aus der Rspr zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH, Rs C-237/94, Slg 1996, I-2631 ff, Rn 20 – O’Flynn; im Kontext des allgemeinen Diskriminierungsverbots zB EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff, Rn 40 ff – Bressol. 105 Allerdings kann auch das Zusammentreffen verschiedener, für sich zunächst neutraler Maßnahmen in einem Sachverhalt – soweit man diesen als Einheit betrachtet – zu einer Ungleichbehandlung führen, s EuGH, Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 37 ff, 43 ff – Österreich/Deutschland. 106 Vgl zB EuGH, Rs C-224/97, Slg 1999, I-2517, Rn 13 ff – Ciola und dann deutlich im Zusammenhang mit Art 18 I AEUV wiederum EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff, Rn 45 f – Bressol. 107 Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139 ff, Rn 37 ff – Angonese. Im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie ergab sich zwischenzeitlich ebenfalls eine aus Sprachanforderungen resultierende indirekte Diskriminierung: So sah die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung eine Anerkennung von Impfnachweisen nur dann vor, wenn diese in bestimmten Sprachen abgefasst waren, s § 1 Nr 2 VO zur Änderung der Zwölften Bayerischen Infek
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dium erforderlichen Schulabschlusses108 oder Regelungen zur Namensführung109 sowie im Kern letztlich sämtliche Anknüpfungspunkte, die von den personenbezogenen Grundfreiheiten bekannt sind. Vollkommen diskriminierungsfreie Beschränkungen erfasst Art 18 I AEUV dagegen nicht: Diese sind allein an den entsprechenden Gewährleistungen der Grundfreiheiten bzw an Art 21 I AEUV zu messen.110
V. Rechtfertigungsmöglichkeiten 29 Soweit nach alledem eine Diskriminierung vorliegt, stellt sich auf einer nachgela-
gerten Ebene die Frage danach, ob und inwieweit diese gerechtfertigt werden kann: Anders als für die speziellen Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten sieht der AEUV für das allgemeine Diskriminierungsverbot keine gesonderten Rechtfertigungsgründe vor. Dennoch lässt sich in Bezug auf mittelbare/faktische Diskriminierungen in Parallele zu den Grundfreiheiten auch ohne geschriebene Rechtfertigungsgründe eine Möglichkeit zur Rechtfertigung annehmen.111 30 Ausgehend von dieser Parallele erscheint dann aber umgekehrt auch eine Möglichkeit zur Rechtfertigung formaler Diskriminierungen von vornherein ausgeschlossen112: Bei den Grundfreiheiten kann nach wie vor als anerkannt gelten, dass formal diskriminierende als schärfste Form der Beeinträchtigungen nur unter Rückgriff auf die geschriebenen Rechtfertigungsgründe des AEUV gerechtfertigt werden können;113 das scheint zunächst nahezuglegen, dass Art 18 I AEUV insoweit ein absolutes Diskriminierungsverbot enthält.114 Auf der anderen Seite kann aber
tionsschutzmaßnahmenverordnung und der Einreise-Quarantäneverordnung v 5.5.2021, BayMBl 2021 Nr 307. 108 Vgl EuGH, Rs C-147/03, Slg 2005, I-5969, Rn 41 ff – Kommission/Österreich. 109 EuGH (Pl), Rs C-148/02, Slg 2003, I-11613, Rn 34 ff – Garcia Avello. Vielfach werden den Namen betreffende Regelungen allerdings unter dem Gesichtspunkt einer Beschränkung iSv Art 21 I AEUV erörtert, s zB EuGH, Urt v 2.6.2016, Rs C-438/14 – Bogendorff von Wolffersdorff. 110 S nur Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 57. 111 S aus der jüngeren Rspr zu Art 18 I AEUV nur EuGH (GK), Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 73 – Österreich/Deutschland. Auch im Schrifttum ist die Möglichkeit zur Rechtfertigung faktischer Diskriminierungen im Ergebnis unbestritten (s mwN zB Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 37), auch wenn Art 18 I AEUV teils als absolutes Diskriminierungsverbot angesehen wird, das allerdings faktische Diskriminierungen nicht erfasst, soweit sie hinreichend gewichtigen Zielen dienen (s zB Holoubek in Schwarze, EU-Komm, Art 18 AEUV Rn 23 f), insoweit also eine Tatbestandslösung gewählt wird. 112 Vgl v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 21. 113 Dazu und auch zur Einordnung von Zweifelsfällen wie dem Umweltschutz → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 143 ff. 114 Vgl Holoubek in Schwarze, EU-Komm, Art 18 AEUV Rn 22.
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nicht übersehen werden, dass Art 18 I AEUV gegenüber den Diskriminierungsverboten der Grundfreiheiten nur subsidiär Anwendung findet und diese ergänzt;115 er betrifft damit gerade nicht den Kernbereich der wirtschaftlichen Integration,116 was für ein gegenüber den diesen Bereich schützenden Regelungen herabgesetztes Schutzniveau sprechen kann.117 Vor diesem Hintergrund erscheint daher die Annahme nicht fernliegend, dass auch formale Diskriminierungen iSv Art 18 I AEUV im Einzelfall gerechtfertigt werden können.118 Allerdings, und dadurch nähern sich die insoweit vertretenen Positionen im Ergebnis dann doch an, sind an die Rechtfertigung solcher Beeinträchtigungen angesichts ihres erheblichen Gewichts deutlich erhöhte Anforderungen zu stellen.119 Auch wenn eine Regelung formal anhand der Staatsangehörigkeit differenziert, kann die Staatsangehörigkeit allein und für sich genommen kaum je ein zulässiges Differenzierungskriterium sein, sondern in aller Regel nur stellvertretend für damit verbundene anderweitige und von der Staatsangehörigkeit losgelöste Erwägungen stehen.120 Entsprechend setzt die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen aufgrund 31 der Staatsangehörigkeit unabhängig von ihrer konkreten Einordnung im Kern voraus, dass mit der Ungleichbehandlung ein unionsrechtlich anerkanntes Ziel verfolgt wird, das von einem Gewicht ist, das nicht außer Verhältnis zu den mit der Ungleichbehandlung einhergehenden Beeinträchtigungen steht, die Ungleichbehandlung also verhältnismäßig ist;121 hierbei ist dann auch zu berücksichtigen, ob es sich um eine formale oder eine faktische Diskriminierung handelt. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist dabei notwendig einzelfallbezogen. Aus 32 der Rechtsprechung des EuGH lassen sich für einige der von Art 18 I AEUV erfassten Lebensbereiche aber immerhin anerkannte Differenzierungsziele ableite. Das betrifft insbesondere den zugleich deutlich durch entsprechendes Sekundärrecht eingerahmten Zugang von Unionsbürgern zu Sozialleistungen, bei dem der EuGH re-
115 S zuletzt EuGH (GK), Urt v 11.6.2020, Rs C-581/18, Rn 31 – TÜV Rheinland. 116 S o bei I.1 und III.2. a. 117 Jedenfalls in der Sache bereits Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 61. 118 S EuGH, Rs C-323/95, Slg 1997, I-1711 ff, Rn 24 – Hayes/Kronenberger; deutlich auch EuGH (GK), Rs C-123/08, Slg 2009, I-9621 ff, Rn 69 – Wolzenburg. EuGH, Urt v 10.2.2022, Rs C-522/20 – OE, Rn 36, 40, hat diese dort an sich naheliegende Frage durch die Verneinung einer Ungleichbehandlung umgangen; dazu krit Hau, IPrax 2022, 342 ff. 119 Dazu und zum Ganzen mwN Streinz in: Streinz, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 60 ff. 120 Vgl EuGH, Rs C-274/96, Slg 1998, I-7637 ff, Rn 27 – Bickel u Franz; vgl weiter EuGH (GK), Rs C-123/ 08, Slg 2009, I-9621 ff, Rn 67 ff – Wolzenburg: Dort wird recht ausführlich herausgearbeitet, dass hinter dem Abstellen auf die Staatsangehörigkeit im Kern eine an andere Kriterien anknüpfende Typisierung steht. Ebenso EuGH (GK), Urt v 13.11.2018, Rs C-247/17, Rn 46 – Raugevicius. 121 S etwa EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff, Rn 48 – Bressol; Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 73 ff – Österreich/Deutschland.
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gelmäßig das mit den entsprechenden Regelungen verfolgte Ziel einer Sicherung der Finanzierbarkeit und damit Funktionsfähigkeit dieser Systeme betont und als objektiven Rechtfertigungsgrund anerkennt.122 Eine Rechtfertigung aus rein wirtschaftlichen Erwägungen ist aber auch bei Art 18 I AEUV ausgeschlossen, so dass Mehrkosten für sich genommen kein Rechtfertigungsgrund sind.123 Als weitere objektive Gründe zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung anerkannt worden sind in weitgehender Parallele zur Rechtsprechung zu den wirtschaftlichen Grundfreiheiten zB das Ziel der Aufrechterhaltung einer hochwertigen medizinischen Versorgung und des Bestands des dafür erforderlichen Bildungssystems124 sowie zB der Schutz sprachlicher Minderheiten.125
33
Fall 2 – Lösung Die Regelung betrifft auch Staatsangehörige von F und damit Unionsbürger, so dass der persönliche Anwendungsbereich von Art 18 I AEUV eröffnet ist. In sachlicher Hinsicht müsste der Sachverhalt im Anwendungsbereich der Verträge liegen. Im engeren Sinne (dh iS. Vollzugs von Unionsrecht) ist der Anwendungsbereich nicht eröffnet. Es könnte allerdings ein grundfreiheitlicher Bezug vorliegen. Dieser wird für Studenten aus F dadurch vermittelt, dass diese rechtmäßig von ihrer Freizügigkeit iSv Art 21 AEUV Gebrauch machen126; dass die Bildungspolitik wegen Art 165 AEUV im Kern Sache der Mitgliedstaaten ist, ist insoweit unschädlich.127 Weiter müsste eine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit vorliegen. Hier knüpft die Regelung zwar nicht unmittelbar an die Staatsangehörigkeit an, wohl aber an den Wohnsitz in B und damit an ein Kriterium, das für Staatsangehörige von B typischerweise leichter zu erfüllen ist.128 Diese Ungleichbehandlung könnte aber gerechtfertigt sein. Sie müsste einem legitimen und von der Staatsangehörigkeit unabhängigen Zweck dienen. Als solcher kommt hier der Gesundheitsschutz (vgl Art 168 I AEUV) in Betracht. Überdies müsste die Regelung aber auch verhältnismäßig sein. Angesichts des tatsächlich feststellbaren Rückgangs der Ausbildungsqualität wird man hier tatsächlich von einer Gefahr für die Gesundheitsversor-
122 So aus der früheren Rspr wohl grundlegend zunächst EuGH, Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193 ff, Rn 44 – Grzelczyk; Rs C-209/03, Slg 2005, I-2151 ff, Rn 56 – Bidar und unter Verweis hierauf aus der jüngeren Rspr im Kern EuGH, Urt v 14.6.2016, Rs C-308/14, Rn 80 – Kommission/Großbritannien. Zu einer entsprechenden „Rechtfertigungsstruktur“ (Dogmatik?) Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 39, zum Sozialrecht auch den (mittlerweile älteren) Überblick von Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art 21 AEUV Rn 41 ff. 123 Aus der Rspr zu Art 18 I AEUV EuGH, Urt v 27.3.2014, Rs C-322/13 Rn 25 – Grauel Rüffer. 124 Dazu EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff, Rn 53, 62 – Bressol, wobei die dort vorzufindenden Verweise auf die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten die Parallelität der Rechtfertigungsgründe verdeutlicht. 125 Vgl EuGH, Rs C-274/96, Slg 1998, I-7637 ff, Rn 29 – Bickel u Franz; dort waren die Voraussetzungen einer Rechtfertigung aber gerade nicht erfüllt. 126 EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff, Rn 30 ff – Bressol. 127 EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff, Rn 28 f – Bressol. 128 EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff, Rn 40 ff – Bressol.
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gung (iS personeller Engpässe) ausgehen können, so dass die Regelung mit guten Gründen als verhältnismäßig angesehen werden kann.129 Sie verstößt daher nicht gegen Art 18 I AEUV.
129 EuGH (GK), Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735 ff, Rn 47 ff, 62 ff – Bressol.
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§ 11 Recht auf Freiheit und Sicherheit, Justiz- und Verfahrensgrundrechte § 11.1 Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie Justizund Verfahrensgrundrechte nach der EMRK Leitentscheidungen: EGMR, Urt v 25.6.1995, 19776/92, Rep 1996-III – Amuur; Urt v 19.6.2001, 28249/ 95, ECHR 2001-VI – Kreuz; EGMR (GK), Urt v 29.1.2008, 13229/03, ECHR 2008-I – Saadi; Urt v 10.2.2010, 14939/03, ECHR 2009-I – Sergey Zolotukhin; EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI – M./ Deutschland; EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445 – Ilnseher; Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135 – S., V. u A./Dänemark; Urt v 21.11.2019, 47287/15, NVwZ 2020, 937 – Ilias u Ahmed.1 Schrifttum: Frowein Article 13 as a growing pillar of Convention law; GS Ryssdal, 2000, S 545; Garin, Non bis in idem et Convention européenne des droits de l’homme, RTDH 2016, 395; Grabenwarter Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997; ders, Wirkungen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am Beispiel des Falls M. gegen Deutschland, JZ 2010, 857; Hoffmann, Konventionskonformität des Präventivgewahrsams, NVwZ 2015, 720; Murdoch, Safeguarding the liberty of the person: recent Strasbourg Jurisprudence, ICLQ 42 (1993), 494; Murphy, The Principle of Legality in Criminal Law under the ECHR, EHRLR 15 (2010), 192; Pöschl Wieviel Prävention verträgt Art 5 EMRK?, FS Kopetzki, 2019, S 499.
1 Im folgenden Abschnitt werden jene Garantien der EMRK behandelt, die Verfah-
rensrechte in einem weiteren Sinn zum Gegenstand haben. Verglichen mit den Grundrechten des GG enthält die EMRK eine weit größere Zahl von Verfahrensgrundrechten. Sie sind – beeinflusst vom anglo-amerikanischen Recht – detaillierter gefasst und überwiegen auch quantitativ in der Rspr die klassischen Freiheitsrechte. Demgemäß überrascht es nicht, dass die Verfassungsordnungen zahlreicher Mitgliedstaaten gerade in diesem Bereich maßgeblichen Einfluss erfahren haben.2 Nicht zufällig definierte das BVerfG die Bedeutung der EMRK im deutschen Recht aus Anlass der zwar nach der EMRK, nicht aber nach dem GG explizit grundrechtlich verankerten Unschuldsvermutung.3 2 Unter Justiz- und Verfahrensgrundrechten werden durchaus unterschiedliche Rechtspositionen zusammengefasst, die jedoch ihrerseits einen gemeinsamen Bezugspunkt haben, nämlich den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes als Ausdruck eines europäischen Verfassungsprinzips der Rechtsstaatlichkeit.4
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Aktuelle Urt des EGMR können im Internet unter http://www.echr.coe.int/ abgerufen werden. Für Bsp vgl Grabenwarter FS Steinberger, 2002, S 1129 (1130 f). BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (115). Grabenwarter Verfahrensgarantien, S 696 ff.
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I. Der Schutz der persönlichen Freiheit (Art 5 EMRK) Der Inhalt des Art 5 EMRK lässt sich geleitet von der Regelungsstruktur des GG in 3 drei Teile teilen. Art 5 I 1 EMRK enthält die allgemeine Garantie der Freiheit der Person (vergleichbar Art 2 II 2 GG), Satz 2 enthält die Zulässigkeitsvoraussetzungen für bestimmte Entziehungen der Freiheit (vergleichbar Art 104 I GG), Art 5 II bis V EMRK enthalten schließlich besondere Verfahrensgarantien im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen (vgl Art 104 II und III GG). Die Grundrechte-Charta der EU enthält in Art 6 das Recht auf Freiheit und Sicherheit.5 Fall 1: (EGMR (GK), Urt v 29.1.2008, 13229/03, ECHR 2008-I – Saadi) Ein irakischer Staatsangehöriger landete am 30.12.2000 am Flughafen London Heathrow, nachdem er aus seinem Heimatland geflohen war. Bei seiner Ankunft stellte er bei der Einwanderungsbehörde einen Asylantrag. Die Behörde gewährte ihm eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung. Als er sich am 2.1.2001 wiederum zur Stelle meldete, wurde er festgenommen und in das Aufnahmezentrum Oakington6 gebracht. Am 4.1.2001 wurde ihm die Möglichkeit gewährt, sich mit einem Rechtsvertreter zu beraten. Aufgrund einer telefonischen Nachfrage wurde diesem am nächsten Tag mitgeteilt, dass der Flüchtling angehalten werde, weil er aus dem Irak stamme und die Voraussetzungen für eine Anhaltung in Oakington erfülle. Nach Durchführung des erstinstanzlichen Asylverfahrens, wurde er schließlich am 9.1.2001 aus dem Aufnahmezentrum entlassen. Vor dem EGMR macht der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art 5 I (Recht auf persönliche Freiheit) und Art 5 II EMRK (Recht auf Information über die Gründe der Festnahme) geltend. Zu Recht?
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1. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit und seine Beeinträchtigung Der sachliche Schutzbereich des Art 5 EMRK umfasst die körperliche Bewegungs- 5 freiheit.7 Art 5 garantiert dementsprechend ein Verbot willkürlicher Festnahme und Freiheitsentziehung (Abs 1).8 Nicht jede Einschränkung der körperlichen Bewe-
5 Zum Gewährleistungsumfang vgl Grabenwarter, DVBl 2001, 1 (4); Jarass GRCh, Art 6 Rn 1 ff. 6 Das Anhaltelager Oakington dient der Unterbringung von Asylwerbern, bei denen Grund zur Annahme besteht, dass ihr Antrag in einem Schnellverfahren erledigt werden kann. Zur Vereinfachung der Entscheidung wurden Listen mit Ländern erstellt, deren Angehörige in der Regel für das Schnellverfahren in Oakington in Frage kommen. Personen, deren Fälle komplizierter sind oder bei denen die Gefahr der Flucht aus dem Anhaltezentrum besteht, werden als ungeeignet für die Anhaltung in Oakington betrachtet. 7 EGMR (GK), Urt v 23.2.2017, 43395/09, NVwZ-RR 2018, 651, § 80 – De Tommaso. 8 EGMR, Urt v 24.10.1979, 6301/73, Series A, Vol 33, § 37– Winterwerp; Urt v 25.6.1995, 19776/92, Rep 1996-III, § 42 – Amuur; Urt v 20.3.1997, 21915/93, Rep 1997-II, § 41 – Loukanov.
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gungsfreiheit kann aber als Freiheitsentziehung in diesem Sinne und damit Eingriff in Art 5 I qualifiziert werden; hierzu bedarf es einer gewissen Intensität. Bloße Beschränkungen der Bewegungsfreiheit werden von Art 2 4. ZP erfasst, der die Freizügigkeit im Sinne der Bewegungs-, Niederlassungs- und Ausreisefreiheit garantiert; die Abgrenzung zwischen den grundrechtlichen Schutzbereichen erfolgt nach den Kriterien des Grads und der Intensität der Maßnahmen,9 nicht aber nach Art, Natur oder Inhalt.10 6 Bei der Beurteilung, ob im Einzelfall eine Freiheitsentziehung iSd Art 5 EMRK vorliegt, ist die konkrete Situation des Betroffenen in einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen.11 Dabei sind das Ausmaß und die Intensität der vorgenommenen Maßnahme entscheidend.12 Der Zweck einer Maßnahme ist nicht maßgeblich;13 Freiheitsentziehungen im Sinne des Art 5 I können zum Beispiel auch vorliegen, wenn beeinträchtigende Maßnahmen im Interesse des Betroffenen ergriffen werden.14 Vor diesem Hintergrund entschied der EGMR, es stelle keine Freiheitsentziehung und damit keinen Eingriff in Art 5 I dar, wenn einer Person verboten wird, in ein Land einzureisen bzw. dieses zu durchqueren und zwar selbst dann nicht, wenn die Person in einer Enklave lebt und das genannte Verbot sie daran hindert, die Enklave zu verlassen.15 Die Maßnahme hindere den Betroffenen nicht an seiner Bewegungsfreiheit in dem Land, welches er als Wohnort frei gewählt habe, er sei lediglich daran gehindert, einen anderen Staat zu betreten und in der Folge sei es ihm nicht möglich die Enklave zu verlassen, eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art 5 I liege darin nicht.16 Auch eine Regelung, die einem Straftäter nächtliche Ausgangssperren zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr auferlegte, stellt – so der EGMR – keine Freiheitsentziehung gemäß Art 5, sondern lediglich einen Eingriff in die Freizügigkeit nach Art 2 ZP 4 dar.17 Die Verhängung von Hausarrest kann aber, je nach konkreter Dauer und Intensität, eine Freiheitsentziehung darstellen und in den Schutzbereich des Art 5 I fallen.18
9 EGMR (Pl), Urt v 8.6.1976, 5100/71 ua, Series A, Vol 22, § 59 – Engel ua; Urt v 6.11.1980, 7367/76, Series A, Vol 39, § 93 – Guzzardi; EGMR (GK), Urt v 15.3.2012, 39692/09 ua, ECHR 2012-II, § 57 – Austin ua. 10 EGMR (GK), Urt v 15.12.2016, 16483/12, § 64 – Khlaifia ua; Urt v 23.2.2017, 43395/09, NVwZ-RR 2018, 651 – De Tommaso, § 80. 11 EGMR, Urt v 6.11.1980, 7367/76, Series A, Vol 39, § 92 – Guzzardi; EGMR (GK), Urt v 23.2.2012, 29226/ 03, § 91 – Creangă. 12 EGMR (GK), Urt v 15.12.2016, 16483/12, § 64 – Khlaifia ua; Urt v 23.2.2017, 43395/09 NVwZ-RR 2018, 651 – De Tommaso, § 80. 13 EGMR, Urt v 31.1.2017, 38898/04, § 74 – Rozhkov (Nr 2). 14 EGMR (GK), Urt v 15.12.2016, 16483/12, § 71 – Khlaifia ua. 15 EGMR (GK), Urt v 12.9.2012, 10593/08, ECHR 2012-V, §§ 229 ff – Nada. 16 EGMR (GK), Urt v 12.9.2012, 10593/08, ECHR 2012-V, §§ 230, 233 – Nada. 17 EGMR (GK), Urt v 23.2.2017, 43395/09, NVwZ-RR 2018, 651, § 88 – De Tommaso. 18 EGMR (GK), Urt v 5.7.2016, 23755/07, §§ 104 ff – Buzadji.
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Auch kurzfristige Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit können unter be- 7 stimmten Bedingungen eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art 5 darstellen.19 Die Frage ist von besonderer Bedeutung, da die Anforderungen des Art 5 häufig in Konstellationen nur kurz andauernder Einschränkungen der körperlichen Bewegungsfreiheit, in denen die Durchführung einer polizeilichen Maßnahme vorrangiger Zweck der Maßnahme ist, nicht vorliegen. Trotz einer kurzfristigen Dauer kann in diesen Fällen eine Freiheitsentziehung vorliegen,20 wenn die Maßnahme der Polizei etwa durch ein starkes Zwangselement geprägt ist.21 Der EGMR nimmt allerdings an, dass in Fällen, in denen kurzfristige Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit in Form von alltäglichen Bewegungseinschränkungen unvermeidbare Nebenfolgen notwendiger und im Rahmen der Gefahrenabwehr erforderlicher polizeilicher Maßnahmen sind, keine Freiheitsentziehungen im Sinne des Art 5 vorliegen.22 Eine Einkesselung von Demonstranten für etwa sieben Stunden wurde in diesem Sinne nicht als Freiheitsentziehung qualifiziert.23 Es muss nach hier vertretener Auffassung aber davon ausgegangen werden, dass es entscheidend und vorrangig auf die Schwere des Zwangselements, nicht auf die Dauer der Freiheitsentziehung ankommt. Eine Freiheitsentziehung mit gravierenden Zwangshandlungen, die schwerpunktmäßig darauf abzielt, durch intensiven staatlichen Eingriff eine Person in ihrer körperlichen Bewegungsfreiheit zu beeinträchtigen, muss den Tatbestand des Art 5 ungeachtet ihrer zeitlichen Dauer erfüllen. Dabei kann auch eine ohne staatliche Gewaltanwendung bewirkte de facto-Freiheitsentziehung genügen, die dadurch bewirkt wird, dass der Handlungs- und Entscheidungsspielraum einer Person durch staatliche Organe auf andere Weise so wesentlich eingeschränkt wird, dass er tatsächlich nicht mehr vorhanden ist.24 Die betroffene Person muss gegen oder zumindest ohne ihren Willen festgehal- 8 ten werden. Eine wirksame Einwilligung schließt einen Eingriff in den Schutzbereich aus.25 Die Wirksamkeit der Einwilligung setzt jedoch voraus, dass die einwilligende Person einwilligungsfähig ist und die Konsequenzen ihrer Einwiligung
19 EGMR, Urt v 31.1.2017, 38898/04, § 74 – Rozhkov (Nr 2). 20 EGMR, Urt v 31.1.2017, 38898/04, § 74 – Rozhkov (Nr 2). 21 EGMR, Urt v 24.6.2008, 28940/95, §§ 74 ff – Foka; Urt v 7.1.2010, 25965/04, ECHR 2010-I, § 317 – Rantsev; Urt v 12.1.2010, 4158/05, ECHR 2010-I, § 57 – Gillan u Quinton; Urt v 21.6.2011, 30194/09 – Shimovolos. 22 EGMR (GK), Urt v 15.3.2012, 39692/09 ua, ECHR 2012-II, § 59 – Austin ua: „commonly occuring restrictions on movement“; „in the common good“; „necessary to avert a real risk of serious injury or damage“; bestätigt in EGMR (GK), Urt v 12.9.2012, 10593/08, ECHR 2012-V, § 226 – Nada. 23 EGMR (GK), Urt v 15.3.2012, 39692/09 ua, ECHR 2012-II, § 67 – Austin ua. 24 EGMR, Urt v 23.7.2003, 41872/10, ECHR 2013-IV, §§ 193 ff – M. A./Zypern. 25 EGMR, Urt v 16.6.2010, 61603/00, ECHR 2005-V, § 74 – Storck.
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auf der Grundlage bereitgestellter notwendiger Informationen in einem fairen Verfahren einschätzen kann.26 9 Obwohl die Begriffe „Freiheit und Sicherheit“ im Wortlaut des Art 5 I getrennt aufgeführt sind, geht der EGMR davon aus, dass es sich um eine einheitliche Gewährleistung handelt;27 die ausdrückliche Erwähnung des Begriffs der „Sicherheit“ bringe das dieser Gewährleistung innewohnende Gebot des rechtsstaatlichen Vorgehens bei Freiheitsentziehungen, insbesondere in Bezug auf Aspekte des Rechtsschutzes und der Rechtssicherheit, zum Ausdruck.28 Das Recht auf Sicherheit kann nach der Rechtsprechung des EGMR allerdings darüber hinaus ausnhamsweise auch einen gewissen Schutz vor staatlichen Maßnahmen außerhalb des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates gewähren.29 Der EGMR bejaht die Anwendbarkeit des Art 5 so ausnahmsweise auch in Fällen der Ausweisung in Länder, in denen den Betroffenen eine Inhaftierung unter offenkundiger Verletzung der Garantien des Art 5 droht; die Eingriffsschwelle liegt dabei jedoch sehr hoch.30 Eine Verletzung des Art 5 nach diesen Maßstäben läge zum Beispiel vor, wenn im Zielstaat eine langjährige Inhaftierung ohne jede richterliche Prüfung oder aufgrund eines bereits abgeschlossenen unfairen Verfahrens drohte.31 Die Garantie des Art 5 I verpflichtet die Konventionsstaaten hingegen – ebenso wenig wie die Art 2, 3 oder 8 EMRK, die unter bestimmten Bedingungen auch Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gewährleisten – nicht, Personen, deren Sicherheit in ihrem Herkunftsland durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure bedroht ist, ein Recht auf Einreise, einen Anspruch auf Nicht-Ausweisung oder ein allgem Asylrecht zu gewähren;32 Art 5 gewährleistet kein Recht auf Sicherheit der Person („security of person“).33 10 Flüchtlinge, die in der Transitzone eines Flughafens festgehalten werden, weil ihnen sowohl die Einreise in den Mitgliedstaat der EMRK als auch die Rückreise in
26 EGMR, Urt v 19.4.2012, 2452/04, §§ 75 ff – M./Ukraine; vgl dazu EGMR (GK), Urt v 17.1.2012, 36760/ 06, ECHR 2012-I, §§ 130 ff – Stanev. 27 In EGMR, Urt v 18.12.1986, 9990/82, Series A, Vol 111, §§ 54, 60 – Bozano wird das „Recht auf Sicherheit“ erwähnt, ohne dass Konsequenzen daraus gezogen werden; Bleichrodt in: van Dijk/van Hoof/ van Rijn/Zwaak (Hrsg), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl 2006, S 455 ff; Trechsel, EuGRZ 1980, 514 (518). 28 EGMR, Urt v 13.1.2009, 37048/04, § 53 – Nikolaishvili. 29 In seiner Entscheidung EGMR (GK), Urt v 12.5.2005, 46221/99, ECHR 2005-IV, §§ 85 ff – Öcalan sah der Gerichtshof das Recht auf Sicherheit dadurch als betroffen an, dass eine Verhaftung durch Organe eines Konventionsstaates auf dem Territorium eines anderen Staates ohne dessen Einverständnis erfolgte. 30 EGMR, Urt v 17.1.2012, 8139/09, ECHR 2012-I, § 233 – Othman (Abu Quatada). 31 EGMR, Urt v 17.1.2012, 8139/09, ECHR 2012-I, § 233 – Othman (Abu Quatada). 32 Vgl dazu EGMR (GK), Urt v 21.11.2019, 61411/15 ua, NVwZ 2020, 777, § 135 – Z.A. ua/Russland. 33 EGMR, Urt v 30.11.2010, 2660/03, § 55 – Hajduová.
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ihr Herkunftsland verwehrt wird bzw diese unmöglich ist, können sich unter bestimmten Voraussetzungen allerdings auf Art 5 I berufen;34 der EGMR geht davon aus, dass es der Annahme eines Eingriffs in Art 5 I nicht entgegensteht, wenn zwar eine theoretische Ausreisemöglichkeit auf dem Luftweg in den Herkunftsstaat besteht, diese aber wegen ausstehender diplomatischer Verhandlungen zwischen den Staaten tatsächlich unmöglich ist.35 Bei der Entscheidung, ob bei solchen Anhaltungen flüchtender Menschen in Transitzonen oder Empfangszentren an Flughäfen eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art 5 I vorliegt, berücksichtigt der EGMR die individuelle Situation der betroffenen Personen sowie ihre Handlungsoptionen, das anwendbare innerstaatliche Recht und dessen Zielrichtung, die Dauer der Anhaltung im Lichte ihres Zwecks und der gewährten Verfahrensgarantien sowie die Natur und den Grad der tatsächlichen Beschränkungen, die den Personen auferlegt werden bzw die die Personen erfahren.36 Im Gegensatz zur Situation im Fall von Transitzonen an Flughafen, beurteilt der EGMR die Situation von Flüchtlingen, die in in einer Transitzone zwischen zwei Staaten an einer Landgrenze angehalten werden, weil ihnen die Einreise in den Zielstaat verweigert wird, nicht als Freiheitsentziehung im Sinne des Art 5 I; soweit die Aus- bzw Rückreise aus einer solchen Transitzone auf dem Landweg nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich möglich sei, sei Art 5 I nicht anwendbar. Das Risiko, dass diese der Prüfung ihrer Asylanträge im Staat der Anhaltung verlustig gehen könnten, und die Befürchtungen hinsichlich eines unzureichenden Zugangs zu Asylverfahren im Nachbarstaat mache das Verlassen der Transitzone nicht theoretisch.37 Der Schutzbereich des Art 5 I umfasst die Bedingungen einer Inhaftierung 11 grundsätzlich nicht.38 Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Rechtsfragen sind in erster Linie im Lichte der Art 3 EMRK und Art 8 EMRK zu prüfen.39 Der persönliche Schutzbereich der Garantie des Art 5 EMRK umfasst alle na- 12 türlichen Personen,40 unabhängig von ihrem Alter.41
34 EGMR (GK), Urt v 21.11.2019, 61411/15 ua, NVwZ 2020, 777, § 156 – Z.A. ua/Russland. 35 EGMR, Urt v 25.6.1995, 19776/92, Rep 1996-III, § 48 – Amuur. 36 EGMR (GK), Urt v 21.11.2019, 61411/15 ua, NVwZ 2020, 777, § 138 – Z.A. ua/Russland. 37 EGMR (GK), Urt v 21.11.2019, 47287/15, NVwZ 2020, 937, §§ 219 ff – Ilias u Ahmed; s dazu Brandl, NLMR 2020, 85; s auch EuGH (GK), Urt v 14.5.2020, Rs C-924/19 ua – FMS ua. 38 EGMR, Urt v 2.8.2001, 44955/98, ECHR 2001-IX, § 16 – Mancini. 39 Zur Problematik der ausnahmsweisen Anforderungen an die Bedingungen der Freiheitsentziehung in den Fällen der Art 5 I lit e) und f) s unten. 40 EGMR, Urt v 2.3.1987, 9787/82, Series A, Vol 114, § 40 – Weeks. 41 EGMR, Urt v 28.1.1987, 10929/84, Series A, Vol 144, § 58 – Nielsen.
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2. Die Rechtfertigung von Eingriffen in das Recht auf Freiheit und Sicherheit 13 Damit ein Eingriff gerechtfertigt ist, muss er auf einer gesetzlichen Grundlage
beruhen, in Übereinstimmung mit dem gesetzlich vorgeschriebenen innerstaatlichen Verfahren und unter Beachtung des (ungeschriebenen) Willkürverbots erfolgen sowie durch das Vorliegen eines der in Art 5 I lit a bis f EMRK abschließend aufgezählten Haftgründe materiell gerechtfertigt sein. Die Kontrolle der Eingriffsvoraussetzungen erfolgt vorrangig durch die innerstaatlichen Gerichte. Der EGMR überprüft grundsätzlich nur den betreffenden Einzelakt, nicht auch die zugrunde liegende jeweils anwendbare innerstaatliche Rechtsgrundlage; ausnahmsweise jedoch, wenn die EMRK selbst – wie in Art 5 I – auf das innerstaatliche Recht verweist, beurteilt der EGMR insoweit auch die abstrakt-generelle Bestimmung, die als Rechtsgrundlage einer exekutiven Einzelmaßnahme dient (siehe dazu unten).42 14 Zulässige Eingriffe in das Recht auf Freiheit und Sicherheit erfordern eine gesetzliche Grundlage; das innerstaatliche geschriebene oder ungeschriebene Recht muss den Eingriff vorsehen. Es muss hinreichend präzise sein, um es dem Betroffenen zu ermöglichen – ggf unter Einholung von Rechtsrat – die Folgen seines Handelns vorauszusehen.43 Eine gesetzliche Grundlage einer Freiheitsentziehung genügt den Anforderungen des Art 5 I nicht, soweit eine betroffene Person die Verhängung oder Verlängerung ihrer Haft auf Grundlage dieses Gesetzes nicht hinreichend klar voraussehen konnte.44 Im Einzelnen muss die gesetzliche Grundlage einer Freiheitsentziehung die zuständige staatliche Stelle nennen und das anwendbare Verfahren beschreiben sowie – im Fall des Stützens auf den Haftgrund des Art 5 I lit e – zwingend vorschreiben, dass ein medizinischer Gutachter hinzuzuziehen ist.45 Die gesetzliche Grundlage einer Eingriffshandlung muss das Verfahren, nach dem die Haft angeordnet oder verlängert wird und eine zeitliche Haftbegrenzung regeln.46 Eine diesen Anforderungen nicht entsprechende gesetzliche Grundlage bzw eine insgesamt unklare Rechtslage, unter der eine Freiheitsentziehung durchgeführt wird, stellt einen Verstoß gegen Art 5 dar.47 Für die Rechtmäßigkeit ist
42 EGMR, Urt v 24.10.1979, 6301/73, Series A, Vol 33, § 46 – Winterwerp; vgl Urt v 16.7.1971, 2614/65, Series A, Vol 13, § 97 – Ringeisen. 43 EGMR, Urt v 16.7.1971, 24838/94, Rep 1998-VII, § 54 – Steel. 44 EGMR (GK), Urt v 21.10.2013, 42750/09, ECHR 2013-VI, §§ 130 ff – Del Río Prada. 45 EGMR, Urt v 3.9.2013, 22398/05, § 99 – Ümit Bilgiç. 46 EGMR, Urt v 22.9.2009, 30471/08, InfAuslR 2010, 47, § 133 – Abdolkhani u Karimnia; Urt v 13.4.2010, 32940/08 ua, § 70 – Tehrani ua; Urt v 10.2.2011, 40107/02, § 74 – Kharchenko. 47 EGMR, Urt v 5.11.2009, 1108/02, § 178 – Kolevi; EGMR (GK), Urt v 21.11.2019, 61411/15 ua, NVwZ 2020, 777, § 164 – Z.A. ua/Russland.
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es jedoch ausreichend, dass eine gefestigte Rspr zur Auslegung verfahrensrechtlicher Normen vorhanden ist.48 Unter bestimmten Voraussetzungen können auch völkerrechtliche49 bzw europarechtliche50 Bestimmungen den Anforderungen an eine taugliche gesetzliche Grundlage iSd Art 5 I genügen. Völkerrechtliche Verträge, die noch nicht in Kraft getreten sind, sind allerdings nicht hinreichend.51 Dasselbe gilt für völkerrechtliche Verträge, die, weil sie nicht vollständig veröffentlicht wurden, für die Betroffenen nicht (umfänglich) zugänglich sind.52 Ad hoc Vereinbarungen zwischen zwei Staaten sind ebenso wenig taugliche Eingriffsermächtigung; es genügen auch hier Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit den Vorgaben der EMRK nicht.53 Hinsichtlich der Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Verfahren ver- 15 langt der EGMR, dass das innerstaatliche Recht konventionskonform ist und seine materiell- und verfahrensrechtlichen Bestimmungen im Einzelfall tatsächlich eingehalten werden.54 Die Kontrolle dessen obliegt zwar vorrangig den innerstaatlichen Gerichten, der EGMR nimmt – weil Art 5 I ausdrücklich auf das innerstaatliche Verfahren verweist –55 die Kontrolle hier aber – anders als bei anderen Garantien – auch selbst vor; dies gilt umso mehr in Fällen, in denen das jeweils zuständige innerstaatliche Höchstgericht den möglichen Fehler aufgrund innerstaatlicher rechtlicher Hürden und Zuständigkeiten nicht aufgreifen kann.56 Ein Haftbefehl etwa ist von vorneherein unwirksam, wenn er „offensichtlich grob fehlerhaft“ im Sinne der Rspr des EGMR ist.57 Ein solcher Fall liegt zum Beispiel vor, wenn innerstaatliche Gerichte ihre Zuständigkeit überschreiten oder Anhörungen nicht ordnungsgemäß erfolgen. Die Einhaltung des innerstaatlichen Rechts reicht jedoch für sich genommen 16 nicht aus. Der EGMR leitet aus dem Zweck des Art 5 zudem ein ungeschriebenes
48 EGMR, Urt v 8.11.2001, 43626/98, Rep 2001-XI, § 51 – Laumont; Urt v 29.11.2011, 51776/08, § 68 – A. ua/Bulgarien. 49 EGMR (GK), Urt v 10.7.2008, 3394/03, ECHR 2010-III, § 79 – Medvedyev ua. 50 EGMR, Urt v 4.4.2017, 39061/11, § 70 – Thimothawes. 51 EGMR, Urt v 7.7.2009, 25336/04, §§ 158 ff – Grori. 52 EGMR (GK), Urt v 15.12.2016, 16483/12, § 102 – Khlaifia ua. 53 EGMR (GK), Urt v 10.7.2008, 3394/03, ECHR 2010-III, §§ 99 f – Medvedyev ua. 54 EGMR, Urt v 15.11.1996, 17621/91, Series A, Vol 296-C, § 37 – Kemmache (Nr 3); EGMR (GK), Urt v 29.1.2008, 13229/03, ECHR 2008-I, § 67 – Saadi. 55 EGMR, Urt v 24.10.1979, 6301/73, Series A, Vol 33, § 46 – Winterwerp; Urt v 18.12.1986, 9990/82, Series A, Vol 111, § 58 – Bozano; Urt v 29.2.1988, 9106/80, Series A, Vol 129, § 48 – Bouamar; EGMR (GK), Urt v 10.6.1996, 19380/92, Rep 1996-III, §§ 39 ff – Benham; EGMR, Urt v 1.3.2005, 47676/99, §§ 26 ff – Beet ua. 56 EGMR (GK), Urt v 23.2.2012, 29226/03, § 101 – Creangă. 57 EGMR (GK), Urt v 9.7.2009, 11364/03, EuGRZ 2009, 566, § 75 – Mooren.
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Willkürverbot ab, dessen Einhaltung Voraussetzung für die Rechtfertigung eines Eingriffs in Art 5 I ist. Eine Freiheitsentziehung ist nach der Rspr des EMGR willkürlich, wenn sie zwar mit dem Gesetzeswortlaut im Einklang steht, aber nicht in gutem Glauben erfolgt, sondern ein Element der Arglist oder ein solches der Täuschung enthält.58 Um dem Willkürverbot zu entsprechen, müssen ferner sowohl die Anordnung der Haft als auch ihre Vollstreckung insgesamt („genuinely“) mit dem Zweck der Beschränkungen des jeweiligen Tatbestands in Art 5 I lit a bis lit f im Einklang stehen.59 Schließlich muss eine gewisse Beziehung zwischen dem jeweiligen Haftgrund einerseits und dem Ort und den Bedingungen der Freiheitsentziehung bestehen.60 Es muss ein innerer Zusammenhang zwischen dem Eingriffsziel und der Freiheitsentziehung als solcher bestehen.61 Eine geheime Anhaltung von Personen an einem unbekannten Ort („unacknowledged detention“) etwa ist wegen Missachtung des Willkürverbots als grobe Verletzung von Art 5 zu qualifizieren.62 Ein Aspekt zur Beurteilung der Willkürlichkeit einer Freiheitsentziehung ist die zeitliche Dauer, die ein Gericht benötigt, um einen ausgelaufenen Haftbefehl im Wege einer Überprüfung des Haftgrunds durch einen neuen zu ersetzen sowie die Existenz hinreichender Maßnahmen zur Vermeidung unnötiger Verzögerungen.63 Die Beurteilung als willkürlich hängt dabei von den Umständen des Einzelfalls wie etwa der Komplexität des Falls und der Kooperationsbereitschaft der betroffenen Person ab.64 Darüber hinaus gebietet das Willkürverbot dem EGMR zufolge die Einhaltung einzelner Aspekte des Grundsatzes des Verhältnismäßigkeit, wobei die Anforderungen im Einzelnen je nach Haftgrund erheblich divergieren:65 – Für die Haftgründe der lit b, lit d und lit e impliziert das Willkürverbot den Grundsatz der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit ieS, mithin das Gebot des Einsatzes des gelindesten Mittels (Prüfung des Ausreichens weniger strenger Maßnahmen) und der Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Erfüllung einer Verpflichtung und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person, wobei die Dauer der Freiheitsentziehung und die Um-
58 EGMR, Urt v 21.4.2011, 42310/04, §§ 173, 178, 181 – Nechiporuk u Yonkalo; Urt v 31.5.2011, 5829/04, NJW 2012, 3422 – Khodorkovskiy, § 142. 59 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 91 – S., V. u A./Dänemark. 60 EGMR (GK), Urt v 29.1.2008, 13229/03, ECHR 2008-I, § 69 – Saadi mwN auf die Rspr. 61 EGMR, Urt v 18.9.2012, 25119/09 ua, § 204 – James, Wells u Lee. 62 EGMR, Urt v 5.2.2009, 21519/02, § 138 – Khadisov u Tsechoyev; Urt v 17.9.2009, 15569/06, § 120 – Asadulayeva ua. 63 EGMR, Urt v 24.11.2011, 48038/06, § 85 – Schönbrod; Urt v 19.9.2013, 17167/11, §§ 68, 82 – H.W./ Deutschland. 64 Vgl hierzu EGMR, Urt v 19.9.2013, 17167/11, §§ 83 ff – H.W./Deutschland. 65 EGMR (GK), Urt v 29.1.2008, 13229/03, ECHR 2008-I, §§ 70–72 – Saadi; vgl hierzu auch Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 18.
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stände, die zur Haft geführt haben,66 eine maßgebliche Rolle für das Ergebnis der Abwägung spielen. Für die Strafhaft nach lit a reicht es aus, wenn die allgem Bedingungen des Willkürverbots erfüllt sind, insbesondere wird die Länge der Haft nicht in einer Abwägung durch den EGMR nachgeprüft; dies ist vielmehr Sache der innerstaatlichen Gerichte. In Bezug auf den Haftgrund der lit c ist im Zuge der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Interessenabwägung der Gründe für bzw. gegen eine Haft durchzuführen sowie die Notwendigkeit anhand der Umstände des Einzelfalls darzulegen und durch Beweise zu untermauern.67 Einen wesentlichen Abwägungsgrund stellt dabei das Alter einer Person dar. So sollte die Untersuchungshaft von Minderjährigen nur ultima ratio und von kürzest möglicher Dauer sein.68 Für die Haft nach lit f hat zwar keine Prüfung der Erforderlichkeit, wohl aber eine (zurückgenommene) Prüfung der Angemessenheit der Haftdauer insoweit stattzufinden, als die Haft nur solange angemessen ist, als das in lit f in Bezug genommene Verfahren Fortschritte macht und mit angemessener Sorgfalt geführt wird („with due diligence“).69
Die Haft muss zudem materiell rechtmäßig sein. Hierzu muss einer (bzw müssen 17 mehrere)70 der in lit a bis f des Art 5 I EMRK enthaltenen – abschließend aufgezählten – Haftgründe vorliegen.71 Die Tatbestände des abschließenden Katalogs zulässiger Beschränkungen der persönlichen Freiheit sind grundsätzlich restriktiv auszulegen.72 66 EGMR, Urt v 31.7.2003, 28221/08, ECHR 2010-V, § 40 – Gatt; EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 82 – S., V. u A./Dänemark. 67 EGMR, Urt v 4.10.2005, 9190/03, §§ 56, 59 – Becciev; Urt v 18.3.2008, 11036/03, § 55 – Ladent; Urt v 19.1.2012, 39884/05, §§ 43 ff – Korneykova. 68 EGMR, Urt v 10.1.2006, 21768/02, §§ 35 ff – Selçuk; Urt v 6.5.2008, 20817/04, §§ 31, 33 – Nart; Urt v 19.1.2012, 39884/05, §§ 43 ff – Korneykova. 69 EGMR, Urt v 2.10.2008, 34082/02, § 58 – Rusu. 70 EGMR, Urt v 2.9.1998, 23807/94, Rep 1998-VI, § 50 – Erkalo; Urt v 4.4.2000, 26629/95, ECHR 2000-III, § 49 –Witold Litwa; Urt v 3.2.2011, 37345/03, § 31 – Kharin; etwas anderes gilt, wenn die innerstaatlichen Entscheidungen erkennen lassen, dass die Haft nur unter einem Tatbestand zulässig ist, EGMR, Urt v 4.8.2005, 55764/00, § 41 – Zeciri. 71 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 126 – Ilnseher; Urt v 21.10.2013, 42750/ 09, ECHR 2013-VI, § 123 – Del Río Prada mwN. 72 EGMR, Urt v 29.2.1988, 9106/80, Series A, Vol 129, § 43 – Bouamar; Urt v 22.2.1989, 11152/84, Series A, Vol 148, § 41 – Ciulla; Urt v 22.3.1995, 18580/91, Series A, Vol 311, § 42 – Quinn; Urt v 20.3.1997, 21915/93, Rep 1997-II, § 41 – Loukanov; EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 126 – Ilnseher.
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a) Verurteilung 18 Verurteilungen iSv Art 5 I lit a EMRK umfassen straf- oder disziplinarrechtliche Tatbestände und setzen die Feststellung einer Schuld voraus.73 Der Begriff der „Verurteilung“ meint damit die Schuldfeststellung wegen einer gesetzlich vorgesehenen Straftat und die Auferlegung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme durch ein Gericht.74 Das „Gericht“ iSd Art 5 I lit a muss von der Exekutive unabhängig75 und rechtsstaatlich zusammengesetzt sein.76 Zu beachten ist, dass in diesem Zusammenhang die Haft ab der erstinstanzlichen Verurteilung, nicht erst ab Rechtskraft des Urt gemeint ist.77 Aus Art 5 I lit a lässt sich kein Recht auf Aussetzung der Haft, zB bei einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe nach Ermessen, ableiten.78 Der EGMR überprüft lediglich, ob eine Verurteilung im genannten Sinne erfolgte, nicht aber, ob die Entscheidung berechtigterweise ergangen ist.79 19 Grundsätzlich kann auch eine anstatt einer Freiheitsstrafe angeordnete Sicherungsverwahrung, die von einem erkennenden Gericht in seinem Urteil angeordnet wird, eine „Freiheitsentziehung nach Verurteilung“ sein.80 Entscheidend ist, dass die Haft der Verurteilung nicht nur zeitlich nachfolgt, sondern kausal von ihr abhängt, also die Freiheitsentziehung gerade durch die Verurteilung bedingt ist, die Freiheitsentziehung folglich kraft dieser Verurteilung angeordnet wird.81 Das Fehlen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Verurteilung und der Freiheitsentziehung führte zu einer Verletzung des Art 5 I im Fall der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach deutschem Strafrecht. Der EGMR ging davon aus, dass
73 EGMR, Urt v 28.3.1990, 11968/86, Series A, Vol 175, § 38 – B./Österreich; Villiger EMRK, Rn 330; Kopetzki in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg), Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd III, 1997, S 323; Trechsel, EuGRZ 1980, 518 (523 ff). 74 EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, § 95 – M./Deutschland. 75 EGMR, Urt v 8.6.1976, 5100/71 ua, Series A, Vol 22, § 68 – Engel ua. 76 EGMR, Urt v 12.2.2013, 152/04, §§ 108 ff – Yefimenko. 77 EGMR, Urt v 27.6.1968, 2122/64, Series A, Vol 7, § 9 – Wemhoff; Urt v 28.3.1990, 11968/86, Series A, Vol 175, § 36 – B./Österreich; aA Reindl in: Grabenwarter, Kontinuität, S 45, 48: bis zur Rechtskraft des erstinstanzlichen Urt liegt Untersuchungshaft iSd Art 5 I lit c EMRK vor. 78 Villiger EMRK, Rn 332 mwN; vgl zur Zulässigkeit des Wiederauflebens von Haftstrafen von zu lebenslanger Haft Verurteilten auch EGMR, 9787/82, Series A, Vol 114, Rn 42, 50 ff – Weeks; EGMR (GK), 46295/99, ECHR 2002-IV, § 81 – Stafford. 79 EGMR, Urt v 2.3.1987, 9787/82, Series A, Vol 114, § 50 – Weeks. 80 EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, §§ 93 f – M./Deutschland. 81 EGMR, Urt v 18.12.1986, 9990/82, Series A, Vol 111, § 53 – Bozano; Urt v 2.3.1987, 9562/81, Series A, Vol 115, § 40 – Monnell u Morris; Urt v 2.3.1987, 9787/82, Series A, Vol 114, § 42 – Weeks; Urt v 28.3.1990, 11968/86, Series A, Vol 175, § 38 – B./Österreich; Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, §§ 96 ff – M./Deutschland; Urt v 13.1.2011, 6587/04, NJW 2011, 3423, §§ 85 ff – Haidn; Urt v 13.1.2011, 17792/07, NJW 2011, 3427 – Kallweit; vgl auch EGMR, Urt v 19.9.2013, 17167/11, §§ 103 ff – H.W./Deutschland; EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, §§ 87, 215 ff – Ilnseher.
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zwar die ursprünglich verhängte Sicherungsverwahrung mit dem Höchstmaß von 10 Jahren im Einklang mit Art 5 I stand, dass aber die durch eine während der Inhaftierung des Beschwerdeführers zwischenzeitlich erfolgte gesetzliche Änderung im Recht der Sicherungsverwahrung des deutschen StGB ermöglichte – über den Zeitraum von 10 Jahren hinausgehende – Sicherungsverwahrung keine Kausalbeziehung mehr zur ursprünglichen Verurteilung aufwies.82 Im Anschluss an die Rspr des EGMR zur nachträglichen Sicherungsverwahrung stellte das BVerfG die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung über die Zehnjahreshöchstfrist hinaus wegen einer Verletzung des Art 2 II 2 GG fest, wobei es die Nichtbeachtung des Abstandsgebots zwischen Freiheitsentziehung im Strafvollzug und Freiheitsentziehung im Maßregelvollzug als Begründung anführte.83 Im Rahmen der strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung im Fall eines Eingriffs in Art 2 II 2 GG statuiert das BVerfG die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Wertungen der Art 5 I und Art 7 I EMRK, das Gewicht der Vertrauensschutzbelange, die hier betroffen waren, wird nach Auffassung des BVerfG im Wege der völkerrechtskonformen Auslegung des GG durch die Wertungen der EMRK verstärkt.84 Auch unabhängig von der Sonderkonstellation einer nachträglichen Gesetzesänderung kann eine Sicherungsverwahrung, die nachträglich – also in einem gesonderten Urteil, das nach dem Urteil des Tatgerichts ergeht – angeordnet wird, nicht auf Art 5 I lit c) EMRK gestützt werden.85 Eine – im deutschen Strafrecht vorgesehene – nachträgliche Sicherungsverwahrung kann aber unter gewissen Bedingungen auf den Haftgrund des Art 5 I lit e EMRK gestützt werden (siehe hierzu unten). Die Erneuerung einer Entscheidung über eine Freiheitsentziehung basierend auf einem ausgelaufenen medizinischen Gutachten über die Gefährlichkeit einer psychisch erkrankten Person kann eine Verletzung von Art 5 I lit a EMRK darstellen, soweit aufgrund eines Mangels an neuen Untersuchungen hinsichtlich der Gefährlichkeit einer Person eine Kausalbeziehung zwischen der ursprünglichen Entscheidung zur Freiheitsentziehung und der nunmehr angeordneten Haft nicht angenommen werden kann.86 Eine Rechtfertigung kann an dieser Stelle nicht unter
82 EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, §§ 96 ff – M./Deutschland; Urt v 21.10.2010, 24478/ 03 EuGRZ 2011, 20, §§ 45 ff – Grosskopf; vgl zur nachträglichen Sicherungsverwahrung Kinzig, NStZ 2010, 233 ff; Grabenwarter, JZ 2010, 857; Greve, DÖV 2012, 97; Schmaltz, EuGRZ 2012, 606; Anders, JZ 2012, 498. 83 BVerfGE 128, 326, Rn 100 ff. 84 BVerfGE 128, 326, Rn 87 ff, 145 ff; vgl zur nachträglichen Sicherungsverwahrung Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507; Barczak, JuS 2012, 156. 85 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 144 – Ilnseher. 86 EGMR, Ent v 22.1.2013, 2894/08, § 107 – Dörr; Urt v 19.9.2013, 17167/11 – H.W./Deutschland.
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Rückgriff auf die staatliche Schutzpflicht gegenüber Dritten erreicht werden.87 Eine Haftverlängerung, die bereits in der ursprünglichen Verurteilung in Aussicht genommen wurde, erfüllt hingegen die Voraussetzungen des Haftgrunds nach Art 5 I lit a EMRK.88
b) Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung (Beugehaft) 20 Nach Art 5 I lit b EMRK kann eine Freiheitsentziehung auf den Haftgrund der „Nichtbefolgung eines rechtmäßigen Gerichtsbeschlusses“ oder der „Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung“ gestützt werden. Während die auf die Nichtbefolgung eines gerichtlichen Beschlusses hin angeordnete Haft repressiven Charakter hat,89 weist die Haft aufgrund der Nichtbefolgung des Zwangs, eine Verpflichtung zu erfüllen (zB den Pass bei sich zu tragen90 oder als Zeuge auszusagen91), keinen punitiven Charakter auf; der Haftgrund entfällt hier, sobald die betroffene Person die ihr obliegende Verpflichtung erfüllt hat.92 21 Der Gerichtsbeschluss muss nach einem fairen Verfahren von einem zuständigen Gericht getroffen worden sein und es mus sichergestellt sein, dass der Betroffene seiner Verpflichtung nicht bereits nachgekommen ist.93 Der Begriff des „Gerichts“ entspricht hier dem des Art 5 I lit a (siehe oben); ein „Gerichtsbeschluss“ kann aber auch bei Handeln einer Verwaltungsbehörde ohne erneuten gerichtlichen Beschluss gegeben sein, soweit die Verwaltungsbehörde durch einen Gerichtsbeschluss zur Ahndung eines Verstoßes gegen die gerichtliche Entscheidung ermächtigt ist.94 22 Entgegen der offenen Formulierung im Wortlaut („einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung“) erfüllt nicht jede gesetzliche Verpflichtung die Voraussetzungen dieses Haftgrunds; der EGMR verlangt aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und im Interesse eines effektives Schutzes vor willkürlicher Freiheits87 EGMR, Urt v 14.4.2011, 30060/04, § 37 – Jendrowiak, vgl Möllers, ZRP 2010, 153 (154). 88 EGMR, Urt v 13.10.2009, 27428/07, § 42 – De Schepper; EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 144 – Ilnseher; s dazu auch EGMR (GK), Urt v 12.2.2018, 21906/04, ECHR 2008-I – Kafkaris. 89 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 Rn 51; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 13. 90 EKMR, Ent v 13.5.1987, 10179/82, DR 52, 111 (118) – B./Frankreich. 91 EGMR, Urt v 22.2.2011, 24329/02, §§ 237 ff – Soare ua. 92 EKMR, Ent v 18.3.1981, 8022/77 ua, DR 25, 15 (81) – McVeigh ua; Kopetzki in: Machacek/Pahr/Stadler, Grund- und Menschenrechte in Österreich, S 330. 93 EGMR, Urt v 19.9.2013, 16880/08, § 56 – Velinov. 94 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 Rn 54.
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entziehung eine restriktive Auslegung der Formulierung.95 Die Pflicht, zu deren Erfüllung eine Person in Haft genommen werden soll, muss, damit die Freiheitsentziehung nach Art 5 I lit b zulässig sein kann, hinreichend konkret und spezifisch sein.96 Die allgemeine Pflicht der Bürger und Bürgerinnen, sich an Gesetze zu halten bzw keine Straftaten zu begehen, genügt den Anforderungen des Art 5 I lit b grundsätzlich nicht;97 eine Freiheitsentziehung zu ihrer Durchsetzung kann in der Regel nicht auf diesen Haftgrund gestützt werden. Die Verpflichtung, keine Straftat zu begehen, kann nur dann als hinreichend „konkret und spezifisch“ in diesem Sinne angesehen werden, wenn Ort und Zeit der bevorstehenden Tatbegehung sowie die potentiellen Opfer ausreichend bestimmt wurden, die betroffene Person auf die spezifische Handlung, von deren Begehung sie Abstand nehmen muss, aufmerksam gemacht wurde und wenn die Person sich nicht willens gezeigt hat, die Handlung zu unterlassen.98 Eine Freilassung ist in diesen Fällen vorzunehmen, wenn der Zeitpunkt für die drohende Straftat verstrichen ist.99 Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stets zu beachten.100 Die Pflicht, in unmittelbarer Zukunft keine Straftat zu begehen, ist nicht hinreichend konkret und spezifisch, solange keine konkreten Maßnahmen angeordnet wurden, die nicht befolgt wurden.101 Eine große Polizeipräsenz allein, mit der die betroffenen Personen konfrontiert werden, erfüllt diese Anforderung nicht.102 Pflichten im Sinne des Art 5 I lit b können hingegen sowohl Handlungs-, als auch Duldungs-, und Unterlassungspflichten sein.
c) Untersuchungs- und Präventivhaft Der Haftgrund des Art 5 I lit c EMRK beinhaltet drei verschiedene Konstellationen, 23 in denen die Festnahme und Anhaltung einer Person zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde rechtmäßig sein kann.103 Art 5 I lit c ist insbesondere im
95 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 83 – S., V. u A./Dänemark. 96 EGMR (Pl), Urt v 8.6.1976, 5100/71 ua, Series A, Vol 22, § 69 – Engel ua; Urt v 25.9.2003, 52792/99, § 36 – Vasileva; Urt v 27.3.2012, 17835/07, § 29 – Lolova-Karadzhova; Urt v 7.3.2013, 15598/08, EuGRZ 2013, 489, §§ 93 ff – Ostendorf; EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 80 – S., V. u A./Dänemark. 97 EGMR (Pl), Urt v 8.6.1976, 5100/71 ua, Series A, Vol 22, § 69 – Engel ua; Urt v 25.9.2003, 52792/99, § 36 – Vasileva; Urt v 27.3.2012, 17835/07, § 29 – Lolova-Karadzhova. 98 EGMR, Urt v 7.3.2013, 15598/08, EuGRZ 2013, §§ 93 ff – Ostendorf; EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 83 – S., V. u A./Dänemark; s dazu Pöschl, FS Kopetzki, 499 (505 f). 99 EGMR, Urt v 7.3.2013, 15598/08, EuGRZ 2013, 489, § 100 – Ostendorf. 100 EGMR, Urt v 7.3.2013, 15598/08, EuGRZ 2013, 489, § 101 – Ostendorf. 101 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 83 – S., V. u A./Dänemark. 102 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 86 – S., V. u A./Dänemark. 103 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 98 – S., V. u A./Dänemark.
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Lichte des Art 5 III EMRK auszulegen, wonach jede Person, die nach Art 5 I lit c von einer Freiheitsentziehung betroffen ist, unverzüglich vor der zuständigen Richterin oder gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamtin vorzuführen ist und einen Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist bzw auf Entlassung während des Verfahrens hat.104 Zweck einer Freiheitsentziehung nach Art 5 I lit c ist – so auch bereits der Wortlaut der Bestimmung selbst – grundsätzlich in allen Fällen diese Vorführung.105 Der Haftgrund dient daher regelmäßig der Sicherung einer strafrechtlichen Untersuchung und steht in einem strafrechtlichen Kontext.106 24 Der Begriff der „Gerichtsbehörde“ in Art 5 I lit c entspricht dabei dem „Richter“ bzw dem „richterlichen Beamten“ in Art 5 III EMRK. Die EMRK verlangt nur die unverzügliche Vorführung vor den Richter (Art 5 III EMRK), nicht jedoch die Anordnung der Untersuchungshaft selbst durch eine Richterin.107 Im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen, die auf Art 5 I lit c gestützt werden, ist die Begründung der Entscheidung, mit der die Freiheitsentziehung angeordnet wurde, ein relevanter Faktor der Willkürkontrolle.108 25 Die verfahrens- und materiellrechtlichen Voraussetzungen, die die Konventionsstaaten für die Zulässigkeit der Verhängung von Präventiv- und Untersuchungshaft verlangen, reichen oft weiter als die der EMRK. Art 5 I lit c stellt insofern nur Mindestvoraussetzungen für die Rechtmäßigkeit einer solchen Freiheitsentziehung auf. 26 Voraussetzung für die Untersuchungshaft nach Art 5 I lit c erste Alternative ist ein hinreichender Tatverdacht.109 Bei der Inhaftnahme genügt er als ausschließlicher Haftgrund, nicht aber bei der Fortdauer der Untersuchungshaft,110 für die wiederum Art 5 III maßgeblich ist (siehe unten). Sieht das innerstaatliche Recht eine höhere Eingriffsschwelle vor, so ist diese entscheidend,111 mit der Folge, dass neben dem in Art 5 I lit c ausdrücklich genannten hinreichenden Tatverdacht auch etwa die klassischen Haftgründe der Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr konventi-
104 EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, § 102 – M./Deutschland. 105 EGMR, Urt v 1.7.1961, 332/57, Series A, Vol 3, §§ 13 f – Lawless (Nr 3); Urt v 6.11.1980, 7367/76, Series A, Vol 39, § 102 – Guzzardi; EGMR (GK), Urt v 8.2.1996, 14310/88, Series A, Vol 300-A, §§ 55, 68 – Murray; Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 117 – S., V. u A./Dänemark. 106 Vgl dazu EGMR, Urt v 22.2.1989, 11152/84, Series A, Vol 148, § 38 – Ciulla; s dazu aber EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 89 – S., V. u A./Dänemark (s dazu ausführlich unten). 107 EKMR, Ent v 18.5.1977, 7755/77, DR 9, 210 (212) – X./Österreich. 108 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 92 – S., V. u A./Dänemark. 109 Ausf dazu Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 17. 110 EGMR, Urt v 10.11.1969, 1602/62, Series A, Vol 9, § 4 – Stögmüller; Urt v 22.5.1985, 8805/79 ua, Series A, Vol 77, § 44 – De Jong, Baljet u van den Brink. 111 Villiger EMRK, Rn 346. Christoph Grabenwarter/Katharina Struth
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onsrechtlich erheblich sein können, soweit sie nach dem innerstaatlichen Recht Voraussetzung für die Untersuchungshaft sind.112 Das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts ist zu bejahen, wenn genügend Tatsachen vorliegen, die objektiv darauf schließen lassen, dass der Betroffene die strafbare Handlung begangen haben könnte.113 Nicht erforderlich ist eine bereits vollständig erfolgte Sachverhaltsaufklärung.114 Die Frage, ob der Tatbestand einer Straftat erfüllt ist, richtet sich nach innerstaatlichem Recht.115 Ein hinreichender Tatverdacht besteht jedenfalls dann nicht, wenn die einer Person vorgeworfenen Handlungen zum Zeitpunkt ihres Eintretens nicht strafbar waren.116 Die Nachprüfung dieser Voraussetzungen durch den EGMR beschränkt sich auf eine Willkürkontrolle.117 Nach Art 5 I lit c zweite Alternative kann die Haft einer Person des Weiteren ge- 27 rechtfertigt sein, „wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern“. In der Rechtsprechung des EGMR wurde Art 5 I lit c zweite Alternative (auch im Lichte des Art 5 III und des Zweckserfordernisses „zum Zwecke seiner Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde“) dahingehend ausgelegt, dass auch in dieser Konstellation ein Zusammenhang mit einem Strafverfahren und damit einem hinreichenden Tatverdacht in Bezug auf eine bereits begangene Straftat bestehen muss.118 Nach jüngerer Rechtsprechung des EGMR ist Art 5 I lit c zweite Alternative allerdings als Grund für eine Freiheitsentziehung anzusehen, der die Zulässigkeit der Freiheitsentziehung unter bestimmten Umständen unabhängig von Art 5 I erste Alternative und damit unabhängig davon, ob ein hinreichender Tatverdacht einer bereits begangenen Straftat vorliegt, begründen kann;119 es genügt danach für die Rechtmäßigkeit der Haft unter bestimmten Bedingungen eine bloße Ausführungs- bzw Tatbegehungsgefahr.120
112 EGMR, Urt v 24.11.1994, 17621/91, Series A, Vol 296-C, § 42 – Kemmache (Nr 3); EKMR, Ent v 12.10.1983, 9614/81, DR 34, 119 (124) – G., S. u M./Österreich. 113 EGMR, Urt v 17.3.2016, 69981/14, § 116 – Rasul Jafarov; zum Sonderfall der Terrorismusbekämpfung vgl EGMR, Urt v 30.8.1990, 12244/86 ua, Series A, Vol 182, § 32 – Fox, Campbell u Hartley; EGMR (GK), Urt v 8.2.1996, 14310/88, Series A, Vol 300-A, §§ 50 ff – Murray; EGMR, Urt v 16.10.2001, 37555/97, ECHR 2001-X, § 34 – O’Hara. 114 EGMR (GK), Urt v 28.11.2017, 72508/13, § 184 – Merabishvili. 115 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 Rn 59. 116 EGMR, Urt v 10.12.2019, 28749/18, § 128 – Kavala. 117 EGMR, Urt v 30.8.1990, 12244/86 ua, Series A, Vol 182, § 34 – Fox, Campbell u Hartley; Urt v 22.10.1997, 21890/93, Rep 1997-VI, §§ 51 f – Erdagöz; Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 Rn 63 ff. 118 S zuletzt EGMR, Urt v 7.3.2013, 15598/08, EuGRZ 2013, 489, § 82 – Ostendorf; vgl auch EGMR, Urt v. 22.2.1989, 11152/84, Series A, Vol 148, § 38 – Ciulla. 119 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, §§ 96 – S., V. u A./Dänemark; kritisch dazu Hoffmann, NVwZ 2019, 135 (143); Khakzadeh-Leiler, NLMR 2020, 249, 253 f. 120 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, §§ 89 ff – S., V. u A./Dänemark.
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Das Zweckerfordernis der Vorführung der angehaltenen Person vor die zuständige Gerichtsbehörde als solches ist nach der Rechtsprechung des EGMR dann kein Hindernis für eine unter die zweite Alternative des Art 5 Abs 1 lit c fallende kurze Präventivhaft,121 bei der eine Vorführung vor die Gerichtsbehörde mangels einer bereits begangenen Straftat als Anlasstat nicht stattfindet, wenn eine Person nach kurzer Zeit aus der Präventivhaft entlassen wird, weil entweder das Risiko vorüber ist oder weil etwa eine vorgeschriebene kurze Frist abgelaufen ist.122 Voraussetzung dafür ist – in Auslegung des Art 5 I lit c) in Verbindung mit Art 5 III –123 aber, dass die potentielle(n) Straftat(en), insbesondere hinsichtlich des Orts und der Zeit ihrer Begehung und ihrer Opfer, hinreichend konkret und spezifisch sind,124 und dass die Behörden Tatsachen oder Informationen liefern, die einen objektiven Beobachter davon überzeugen würden, dass die betroffene Person aller Wahrscheinlichkeit nach an der konkreten und spezifischen Straftat beteiligt gewesen wäre, wenn deren Begehung nicht durch die Freiheitsentziehung verhindert worden wäre und die Festnahme und Anhaltung vernünftigerweise als notwendig anzusehen sind.125 Bei der Einschätzung dieser Voraussetzung kann außerdem das Ausmaß berücksichtigt werden, zu dem die Maßnahmen sich auf Interessen auswirken, die durch andere Konventionsrechte geschützt werden.126 Der EGMR betont dabei, dass nur eine Freiheitsentziehung von sehr kurzer Dauer („eher eine Frage von Stunden als von Tagen“) danach rechtmäßig sein könne,127 dass die Garantien der Art 5 III und III im innerstaatlichen Recht verfügbar sein müssten,128 und dass eine Freiheitsentziehung in diesem Sinne ohne eine richterliche Vorführung (Präventivhaft) nur dann verhältnismäßig sein könne, wenn die konkrete und spezifische Straftat schwerwiegend ist und eine Gefahr für Leib und Leben oder eines erheblichen materiellen Schadens mit sich bringt; zudem müsse die Freiheitsentziehung beendet werden, sobald die Gefahr vorüber ist, was eine Beobachtung erfordere.129 Art 5 I lit c erlaubt hingegen keine general-präventive Politik
121 S dazu aber EGMR, Urt v 1.7.1961, 332/57, 332/57, Series A, Vol 3, §§ 13 f – Lawless (Nr 3); Urt v 18.1.1978, 5310/71, Series A, Vol 25, § 199 – Irland/Vereinigtes Königreich; EGMR (GK), Urt v 8.2.1996, 14310/88, Series A, Vol 300-A, § 68 – Murray; EGMR, Urt v 1.12.2011, 8080/08, ECHR 2011-VI, §§ 71 f – Schwabe u M.G./Deutschland. 122 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 126 – S., V. u A./Dänemark. 123 EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, § 102 – M./Deutschland. 124 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 89 – S., V. u A./Dänemark; vgl dazu auch bereits EGMR, 7367/76, Series A, Vol 39, §§ 102 f – Guzzardi; 19359/04, ECHR 2009-VI, § 102 – M./Deutschland. 125 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 127 – S., V. u A./Dänemark. 126 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 127 – S., V. u A./Dänemark. 127 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, §§ 133 f – S., V. u A./Dänemark. 128 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 137 – S., V. u A./Dänemark. 129 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 161 – S., V. u A./Dänemark. Christoph Grabenwarter/Katharina Struth
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gegen eine Person oder Personengruppe, die von den Behörden – zu Recht oder zu Unrecht – als gefährlich angesehen oder bei der eine Neigung zur Begehung rechtswidriger Handlungen angenommen wird.130 Schließlich stellt gemäß Art 5 I lit c dritte Alternative die Fluchtgefahr nach Be- 28 gehung einer Straftat einen zulässigen Haftgrund dar. Da jedoch gem Art 5 I lit c erste Alternative bei hinreichendem Tatverdacht eine Inhaftierung auch ohne weitere Haftgründe zulässig ist, findet diese Alternative nur dann Anwendung, wenn es um die Frage der Zulässigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft geht.131
d) Inhaftierung Minderjähriger Die Inhaftierung Minderjähriger (lit d) umfasst Maßnahmen der Fürsorge und des 29 Jugendstrafrechts,132 so dass auch eine vorübergehende Freiheitsentziehung bis zur Entscheidung über eventuelle Erziehungsmaßnahmen zulässig ist.133 Die Definition der Minderjährigkeit erfolgt autonom durch den EGMR.134 Die Freiheitsentziehung muss, um auf Art 5 I lit d gestützt werden zu können, erzieherischen Zwecken135 und dem Kindeswohl136 dienen; eine Unterbringung unter Verweis auf die „Besserung des Verhaltens“ und die Notwendigkeit, den Minderjährigen an der Begehung weiterer Straftaten zu hindern, ist nicht vom Haftgrund des Art 5 I lit d gedeckt.137 Die Freiheitsentziehung darf keinen Strafzweck aufweisen.138 Eine elterliche Entscheidung für ein psychiatrisches Kinderkrankenhaus fällt auch nicht in den Anwendungsbereich des Art 5.139 Die Freiheitsentziehung für erzieherische Zwecke nach lit d kann von einem 30 Gericht oder von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden.140 Sie ist nur rechtmäßig, wenn sie in einer der erzieherischen Zielsetzung des Haftgrunds angemessenen und hierfür geeigneten Einrichtung erfolgt.141 Die vorübergehende Unterbringung einer minderjährigen Person in einer eigentlich ungeeigneten Einrich-
130 EGMR (GK), Urt v 22.10.2018, 35553/12 ua, NVwZ 2019, 135, § 89 – S., V. u A./Dänemark. 131 Ausf dazu Reindl Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention, 1997, S 65 ff. 132 EGMR, Urt v 29.2.1988, 9106/80, Series A, Vol 129, §§ 50, 52 – Bouamar. 133 EGMR, Urt v 29.2.1988, 9106/80, Series A, Vol 129, § 50 – Bouamar. 134 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5 Rn 73. 135 EGMR (GK), Urt v 23.3.2016, 47152/06, § 171 – Blokhin. 136 EGMR, Urt v 19.5.2016, 7472/14, § 74 – D.L./Bulgarien. 137 EGMR (GK), Urt v 23.3.2016, 47152/06, § 171 – Blokhin. 138 EGMR, Urt v 19.5.2016, 7472/14, § 81 – D.L./Bulgarien. 139 EGMR, Urt v 18.11.1988, 10929/84, Series A, Vol 144, § 72 – Nielsen. 140 Elberling in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art 5 Rn 58. 141 EGMR (GK), Urt v 23.3.2016, 47152/06, § 167 – Blokhin; EGMR, Urt v 19.5.2016, 7472/14, §§ 77 ff – D.L./Bulgarien.
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tung kann ausnahmsweise von Art 5 I lit d gedeckt sein, wenn es sich nur um eine vorübergehende Unterbringung handelt, bis eine adäquate Einrichtung verfügbar ist.142 Der EGMR überprüft, ob eine Freiheitsentziehung zu erzieherischen Zwecken im Einzelfall gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig ist.143 Art 5 I lit d schließt die Inhaftierung minderjähriger Personen aus einem anderen Haftgrund nicht aus.144
e) Unterbringung psychisch kranker Personen und ähnlicher Gruppen 31 Art 5 I lit e EMRK lässt eine Inhaftierung einer Person bei Vorliegen ansteckender
oder psychischer Krankheiten, die jeweils zwingend durch ein objektives ärztliches Attest festzustellen sind,145 ferner bei Alkohol- oder Rauschgiftsucht146 sowie bei „Landstreichern“ zu. Bei der Unterbringung nach diesem Haftgrund sind die innerstaatlichen Behörden vorrangig aufgerufen, die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zu beurteilen;147 der EGMR überprüft die Entscheidung der Behörden sodann im Lichte der Konvention.148 32 Funktion und Zweck der Freiheitsentziehung nach Art 5 I lit e ist einerseits die soziale Funktion des Schutzes und andererseits eine therapeutische Funktion, die mit dem individuellen Interesse der betroffenen Person in Verbindung steht, eine angemessene und individualisierte Form der Therapie oder einen entsprechenden Behandlungsprozess zu erhalten.149 33 Die die Haft rechtfertigende Gefährlichkeit der betreffenden Person kann für die Allgemeinheit oder für die in Haft genommene Person selbst bestehen.150 Eine entsprechende Gefahr kann etwa in der Ausbreitung ansteckender Krankheiten lie-
142 EGMR, Urt v 29.2.1988, 9106/80, Series A, Vol 129, § 50 – Bouamar; s dazu jedoch EGMR, Urt v 21.12.2010, 28189/04 ua, §§ 39 f – Ichin ua. 143 EGMR, Urt v 29.11.2011, 51776/08, §§ 72 f – A. ua/Bulgarien; Urt v 30.10.2012, 57375/08, NJOZ 2014, 709, § 148 – P. u S./Polen; Urt v 19.5.2016, 7472/14, § 74 – D.L./Bulgarien. 144 EGMR, Urt v 12.2006, 13178/03, ECHR 2006-XI, § 100 – Mubilanzila Mayeka u Kaniki Mitunga. 145 EGMR, Urt v 24.10.1979, 6301/73, Series A, Vol 33, § 39 – Winterwerp; Urt v 25.8.1985, 8225/78, Series A, Vol 93, § 37 – Ashingdane; EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 146 – Ilnseher. 146 S dazu EGMR, Urt v 4.4.2000, 26629/95, ECHR 2000-III, §§ 60 ff – Witold Litwa; Urt v 8.6.2004, 40905/98, § 42 –Hilda Hafsteindóttir; Urt v 3.2.2011, 37345/03, §§ 34, 40 ff – Kharin. 147 EGMR, Urt v 24.10.1979, 6301/73, Series A, Vol 33, § 40 – Winterwerp; Urt v 5.11.1991, 7215/75, Series A, Vol 46, § 43 – X./Vereinigtes Königreich; Urt v 24.9.1992, 10533/83, Series A, Vol 244, § 63 – Herczegfalvy. 148 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 128 – Ilnseher. 149 EGMR (GK), Urt v 31.1.2019, 18052/11, § 210 – Rooman. 150 EGMR (Pl), Urt v 6.11.1980, 7367/76, Series A, Vol 39, § 98 – Guzzardi.
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gen.151 Auf diesen Haftgrund können insbesondere Quarantänemaßnahmen gestützt werden; Diese müssen zur Abwendung einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit oder Sicherheit erforderlich und verhältnismäßig sein.152 Eine psychische Krankheit setzt als Unterbringungsgrund nicht voraus, dass die 34 betroffene Person bei Begehung der Tat an einem Zustand litt, der nach innerstaatlichem Recht ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließt oder mindert.153 Der EGMR betont jedoch die notwendige enge Auslegung des Haftgrunds.154 Einer Person kann wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit nur entzogen werden, wenn die drei folgenden Mindestvoraussetzungen erfüllt sind: Erstens muss die psychische Krankheit zuverlässig nachgewiesen sein, dh eine tatsächliche psychische Störung muss aufgrund eines objektiven ärztlichen Gutachtens von einer zuständigen Behörde festgestellt werden (in dringenden Fällen kann es ausnahmsweise zulässig sein, die Expertenmeinung erst nach der Festnahme der betroffenen Person einzuholen)155;156 zweitens muss die psychische Störung ihrer Art oder ihrer Schwere nach eine Zwangsunterbringung rechtfertigen; drittens muss die Fortdauer der Unterbringung vom Fortbestehen einer derartigen Störung abhängen.157 Während der Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung ist in regelmäßigen Abständen zu überprüfen, ob die Gründe für eine fortdauernde Freiheitsentziehung gemäß Art 5 I lit e noch vorliegen.158 Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung nach Art 5 I lit e 35 ist zudem, dass zwischen dem Grund für die Inhaftierung und ihren Bedingungen bzw ihrer Ausgestaltung ein angemessenes Verhältnis besteht,159 die Unterbringung einer psychisch kranken Person folglich etwa in einer für psychisch kranke Personen geeigneten Einrichtung – und nicht in einem separaten Teil eines Gefängnis-
151 Kopetzki in: Machacek/Pahr/Stadler, Grund- und Menschenrechte in Österreich, S 333. 152 EGMR, Urt v 25.1.2005, 56529/00, ECHR 2005-I, § 44 – Enhorn. 153 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 148 – Ilnseher. 154 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 150 – Ilnseher. 155 EGMR, Urt v 20.4.2010, 21207/03, § 48 – C.B./Rumänien. 156 Vgl dazu EGMR, Ent v 3.3.2015, 73560/12 – Constancia. 157 EGMR, Urt v 24.10.1979, 6301/73, Series A, Vol 33, § 39 – Winterwerp ; EGMR (GK), Urt v 17.1.2012, 36760/06, ECHR 2012-I, § 145 – Stanev; Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 127 – Ilnseher. 158 EGMR (GK), Urt v 17.1.2012, 36760/06, ECHR 2012-I, § 158 – Stanev; EGMR, Urt v 22.1.2013, 35939/10, § 146 – Mihailovs. 159 EGMR, Urt v 20.1.2003, 50272/99, ECHR 2003-IV, § 48 – Hutchison Reid; Urt v 10.1.2013, 43418/09, § 114 – Claes; Urt v 3.9.2013, 22398/05, § 106 – Ümit Bilgiç; EGMR (GK), Urt v 31.1.2019, 18052/11, §§ 190, 208 – Rooman. Christoph Grabenwarter/Katharina Struth
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ses, in dem Strafhaft verbüßt wird –160 erfolgt.161 Folglich kann sich für die Mitgliedstaaten aus Art 5 I lit e auch die Pflicht ergeben, in hinreichendem Umfang Plätze in derartigen Einrichtungen bereitzustellen.162 Es besteht eine enge Verbindung zwischen der Rechtmäßigkeit der Anhaltung von an psychischen Störungen leidenden Personen und der Angemessenheit der für ihren Zustand gewährten Behandlung; die Verabreichung einer geeigneten Therapie ist Voraussetzung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung und jede Anhaltung dieser Art muss einen therapeutischen Zweck verfolgen, der so weit als möglich darauf abzielt, die psychische Krankheit zu lindern oder zu heilen sowie gegebenenfalls eine Reduktion oder Kontrolle der Gefährlichkeit zu bewirken.163 Der EGMR gewährt den innerstaatlichen Behörden in Bezug auf die Form und den Inhalt der Betreuung und Unterbringung einen gewissen Spielraum, überprüft aber, ob ein individualisiertes Programm eingerichtet wurde, das die spezifischen Details der geistigen Gesundheit der betroffenen Person berücksichtigt, um sie für eine mögliche Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorzubereiten.164 36 Die im deutschen Recht existierende (nachträgliche) Sicherungsverwahrung kann unter bestimmten Voraussetzungen auf Art 5 I lit e gestützt werden.165 Die gesetzlichen Vorschriften dürfen die Freiheitsentziehung im Maßregelvollzug nicht von der begangenen Straftat und der anschließenden Verurteilung abhängig machen; Grundlage der Freiheitsentziehung muss vielmehr der gegenwärtige Zustand aufgrund der psychischen Situation der betroffenen Person sein und des Weiteren muss ein Zusammenhang zwischen dem Zweck der Freiheitsentziehung und der Art der Unterbringung, d. h. dem Ort der Freiheitsentziehungsmaßnahme bestehen.166 Eine rückwirkend angeordnete bzw verlängerte Freiheitsentziehung durch
160 EGMR, Urt v 13.1.2011, 6587/04, NJW 2011, 3423, § 94 – Haidn; Urt v 28.11.2013, 7345/12, §§ 92 ff – Glien. 161 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 164 – Ilnseher; EGMR, Urt v 21.1.2020, 34602/16 – Strazmiri. 162 EGMR, Urt v 11.5.2004, 49902/99, §§ 65 f – Brand; Urt v 11.5.2004, 48865/99, §§ 48 f – Morsink; Urt v 5.4.2011, 6051/07, §§ 59 ff – Nelissen. In seiner älteren Rspr, EGMR, Urt v 15.11.1996, 22126/93, Rep 1996V, §§ 32 ff – Bizzotto, hatte der EGMR noch eine Verletzung von Art 5 I EMRK verneint, da seiner damaligen Meinung nach die nicht gesetzeskonforme Unterbringung von drogenabhängigen Straftätern nichts an der Konventionsmäßigkeit der Haft an sich ändere. Vgl hierzu auch Grabenwarter/ Pabel EMRK, § 21 Rn 23. 163 EGMR (GK), Urt v 31.1.2019, 18052/11, § 208 – Rooman. 164 EGMR (GK), Urt v 31.1.2019, 18052/11, § 209 – Rooman. 165 EGMR, Urt v 7.1.2016, 23279/14, NJW 2017, 1007, § 133 – Bergmann; EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 141 – Ilnseher. 166 BVerfGE 128, 326, §§ 154 f; EuGRZ 2011, 297; im Gefolge von EGMR, 19359/04, ECHR 2009-VI – M./ Deutschland; zum Verhältnis der beiden Entscheidungen Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507; vgl auch
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Sicherungsverwahrung ist dem BVerfG zufolge nur dann verhältnismäßig, wenn das „Abstandsgebot“ im Verhältnis zur Strafe gewahrt wird, eine starke Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus den konkreten Umständen ableitbar ist und die Voraussetzungen des Art 5 I 2 lit e erfüllt sind.167 Das BVerfG nimmt in seiner Entscheidung die Rechtsprechung des EGMR in Bezug und entwickelt auf dieser Grundlage das sog „Abstandsgebot“.168 Das Vertrauensschutzgebot aus Art 2 II 2 iVm Art 20 III GG ist dabei nach Auffassung des BVerfG von besonders großer Bedeutung und es muss im Wege völkerrechtsfreundlicher Auslegung der Art 2 II 2 GG und 20 III GG eine Orientierung an den Wertungen des Art 5 erfolgen, die zu einer Verstärkung der Vertrauensschutzbelange führt.169
f) Verhinderung der unberechtigten Einreise in das Staatsgebiet, Abschiebungsund Auslieferungshaft Art 5 I lit f EMRK sieht zwei Haftgründe vor: Zum einen ist die Verhinderung der 37 unberechtigten Einreise in das Staatsgebiet zulässiger Grund für eine Freiheitsentziehung, zum anderen ist eine solche im Fall einer geplanten Abschiebung oder Auslieferung zulässig. Die Rechtmäßigkeit dieser Inhaftierungen erfordert über die Einhaltung der verfahrens- und materiellrechtlichen Vorschriften des innerstaatlichen und internationalen Rechts hinaus auch die Beachtung des Gesamtziels des Art 5.170 Der Haftgrund der unerlaubten Einreise in das Staatsgebiet gilt so lange als gegeben, bis die betroffene Person eine Bewilligung zum Verbleib in dem Staat – etwa durch Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung oder durch eine positive Erledigung eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes bzw Asyls – erhalten hat.171 Im Fall von Art 5 I lit f kann mit Blick auf das differenzierte Willkürverbot eine Haft allein aus Gründen der erleichterten Durchführung der notwendi-
Nowak/Krisper, EuGRZ 2013, 645; s nunmehr auch EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 146 ff – Ilnseher. 167 BVerfGE 128, 326, § 156. 168 BVerfGE 128, 326, §§ 104 ff, 111 ff; vgl hierzu auch die Folgeentscheidungen BVerfG, EuGRZ 2012, 338 (keine Anrechnung verfahrensfremder Freiheitsstrafen auf die Zeit des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Maßregel); EuGRZ 2012, 458 (vorbehaltene Sicherungsverwahrung wird ebenso beurteilt wie die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung). 169 BVerfGE 128, 326, § 137. 170 EGMR (GK), Urt v 15.11.1996, 22414/93, Rep 1996-V, § 129 – Chahal; Urt v 9.10.2003, 48321/99, ECHR 2003-X, § 147 – Slivenko. 171 EGMR (GK), 13229/03, ECHR 2008-I, §§ 65 f – Saadi; der EGMR stellt klar, dass ein Asylwerber nicht allein aufgrund der Tatsache, dass er sich bei der Einreise an die Einwanderungsbehörden gewandt hat, einen „rechtmäßigen“ (iSd Art 5 lit f) – und eben keinen „unrechtmäßigen“ – Eintritt in den Staat sucht; vgl hierzu: Carlier, RTDH 2009, 79.
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gen Verfahren zulässig sein, sofern Ort und Bedingungen der Internierung angemessen sind.172 Um eine Verfälschung des Haftgrunds zu vermeiden, darf die Festnahme in Fällen der Auslieferung oder Abschiebung ausschließlich zu diesem Zweck erfolgen.173 Anders als bei Art 5 I lit c genügt es für den Haftgrund des Art 5 I lit f , dass ein laufendes Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren besteht, ein solches also „schwebend“ ist. Ob die Auslieferung selbst rechtmäßig ist, ist für Art 5 I lit f irrelevant.174 Unerheblich ist auch, ob Anhaltspunkte bestehen, dass die Betroffenen eine Straftat begehen oder sich dem Zugriff der Behörden entziehen könnten.175 38 Sowohl Ort, als auch Bedingungen und Dauer der Freiheitsentziehung müssen streng auf deren Zweck abstellen und diesem angemessen sein.176 Es muss ein hinreichender Konnex zwischen der Inhaftierung der Einzelnen und dem öffentlichen Interesse an der Sicherstellung ihrer Ausweisung oder Auslieferung bestehen.177 Eine Höchstdauer des Verfahrens muss das innerstaatliche Recht zwar nicht zwingend vorsehen, allerdings muss beachtet werden, dass die Rechtfertigung über Art 5 I lit f möglicherweise ab einem gewissen Punkt entfällt, wenn das Verfahren nicht mehr mit der notwendigen Sorgfalt und Zügigkeit durchgeführt wird.178 Eine vernünftige Dauer eines Verfahrens ist durch die Bedingungen im jeweiligen Einzelfall bestimmt und kann nicht generell festgelegt werden, eine Dauer von 3 Monaten wurde jedoch bereits für unzulässig erachtet, wenn die Bedingungen der Haft den Anforderungen des Art 5 I nicht entsprachen.179 Weitere vom innerstaatlichen Recht vorgesehene Voraussetzungen sind vom EGMR auch zu überprüfen.180 39 Eine Verletzung von Art 5 I lit f liegt im Fall von Asylbewerberinnen vor, die sich im Transitbereich eines internationalen Flughafens aufhalten, deren Aufenthaltsbedingungen aber keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegen und denen keinerlei Zugang zu rechtlicher, humanitärer oder sozialer Betreuung gewährt
172 EGMR (GK), 13229/03, ECHR 2008-I, § 74 – Saadi. 173 EGMR (GK), Urt v 15.11.1996, 22414/93, Rep 1996-V, § 112 – Chahal. 174 Die Rechtmäßigkeit des Ausweisungs- und Auslieferungsverfahrens richtet sich nach Art 1 7. ZP EMRK, s dazu unten; vgl dazu Pöschl FS Kopetzki, 499 (508 f). 175 EGMR (GK), Urt v 15.12.2016, 16483/12, § 90 – Khlaifia ua. 176 EGMR (GK), Urt v 29.1.2008, 13229/03, ECHR 2008-I, § 74 – Saadi. 177 EGMR, Urt v 20.12.2011, 10486/10, §§ 123 ff – Yoh-Ekale Mwanje; Urt v 18.4.2013, 67474/11, § 173 – Azimov. 178 EGMR, Urt v 8.1.2009, 13476/04, § 59 – Khudyakova; Urt v 24.3.2014, 11620/07, ECHR 2015-II, §§ 39 ff – Gallardo Sanchez. 179 EGMR, Urt v 13.12.2011, 15297/09, §§ 94 f – Kanagaratnam ua; Urt v 23.7.2013, 42337/12, §§ 102 f – Suso Musa. 180 EGMR (GK), Urt v 9.10.2003, 48321/99, ECHR 2003-X, § 151 – Slivenko.
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wird.181 Art 5 Abs 1 lit f erlaubt den Mitgliedstaaten allerdings, Bestimmungen vorzusehen, die eine Freiheitsentziehung gegenüber Asylbewerbern in Transitzonen für einen begrenzten Zeitraum mit der Begründung vorsehen, dass die Anwesenheit der betroffenen Personen bis zur Prüfung ihrer Asylanträge erforderlich sei, um diese zügig durchführen zu können.182 Der EGMR beurteilte in mehreren Fällen die russischen Auslieferungsbestimmungen als widersprüchlich und sah darin eine Verletzung von Art 5 I lit f, weil diese keinen adäquaten Schutz gegen willkürliche Eingriffe des Staates gewährleisteten und die Bestimmungen weder vorhersehbar noch präzise formuliert waren.183 Werden Kinder in Auslieferungshaft genommen, so gelten sie auch dann als besonders schützbedürftig („position of extreme vulnerability“), wenn sie von einem Elternteil begleitet werden.184 Lösung Fall 1: Die von 2.1. bis 9.1.2001 dauernde Anhaltung des Beschwerdeführers im Aufnahmezentrum Oakington ist eine Freiheitsentziehung, die in das Grundrecht auf persönliche Freiheit eingreift; der Schutzbereich des Art 5 I ist folglich eröffnet. Fraglich ist, ob der Eingriff in den Schutzbereich einen der Rechtfertigungstatbestände des Art 5 I erfüllt. Der Haftgrund des Art 5 I lit f gestattet die rechtmäßige Festnahme und Anhaltung einer Person in zwei Fällen: erstens zur Verhinderung einer unberechtigten Einreise in das Staatsgebiet und zweitens bei einer Person, die von einem gegen sie anhängigen Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren betroffen ist. Zu prüfen ist, ob die Haft des Beschwerdeführers unter die erste Fallgestaltung fällt. Solange potentiellen Einwanderern kein Recht eingeräumt wurde, im Aufnahmestaat zu bleiben, sind sie nicht rechtmäßig eingereist und daher wird angenommen, dass die Anhaltung der Verhinderung der unerlaubten Einreise dient und somit materiell gerechtfertigt ist. Mithin liegt der Tatbestand des Art 5 I lit f vor, damit ist ein Haftgrund gegeben. Da eine hinreichende gesetzliche Grundlage besteht und das innerstaatliche Recht tatsächlich eingehalten wurde, bleibt zu klären, ob auch dem Willkürverbot entsprochen wurde. Eine willkürliche Freiheitsentziehung liegt vor, wenn sie zwar mit den Buchstaben des Gesetzes im Einklang steht, aber das Handeln der Behörden ein Element der Arglist und Täuschung enthält. Die Anordnung der Haft sowie ihre Vollstreckung müssen insgesamt tatsächlich mit dem Zweck der Beschränkungen des jeweiligen Tatbestandes in Art 5 I lit a bis lit f vereinbar sein und es muss eine gewisse Bezie-
181 EGMR, Urt v 25.6.1995, 19776/92, Rep 1996-III, §§ 48, 53 – Amuur, dazu Kriebaum in: Grabenwarter, Kontinuität, S 71 ff; Urt v 24.1.2008, 29787/03 ua, §§ 78 ff – Riad u Idiab. 182 EGMR (GK), Urt v 21.11.2019, 61411/15 ua, NVwZ 2020, 777, §§ 162, 163 – Z.A. ua/Russland. 183 Aus der Judikatur: EGMR, Urt v 11.10.2007, 656/06, §§ 76 ff – Nasrulloyev; Urt v 19.6.2008, 8320/04, §§ 129 f – Ryabikin, der EGMR sieht vor allem in der Tatsache, dass die russische Strafverfolgungsbehörde außerstande war, die zuständige Behörde zu bestimmen, auf die anwendbaren gesetzlichen Vorschriften hinzuweisen und die Haftfristen festzusetzen, eine Verletzung des Art 5 I lit f. 184 EGMR, Urt v 26.1.2006, 13178/03, ECHR 2006-XI, § 103 – Mubilanzila Mayeka u Kaniki Mitunga; Urt v 19.1.2010, 41442/07, §§ 74 f – Muskhadzhiyeva ua; Urt v 19.1.2012, 39472/07 ua, § 119 – Popov; Urt v 3.5.2016, 56796/13 – Abdi Mahamud.
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hung zwischen Haftgrund und Ort und Bedingungen der Haft bestehen. Zweck der Inhaftierung war die Durchführung eines Schnellverfahrens zur Verhinderung der unrechtmäßigen Einreise. Für die Haft nach Art 5 lit f hat zwar keine Prüfung der Erforderlichkeit stattzufinden, wohl aber eine Prüfung der Angemessenheit der Haftdauer. Notwendig ist somit lediglich, dass die Freiheitsentziehung Teil des Prozesses zur Feststellung ist, ob der Person Asyl bzw eine Einreiseerlaubnis gewährt werden sollte, und dass sie nicht aus anderen Gründen – etwa aufgrund ihrer Dauer – willkürlich erfolgt. Der EGMR kam zu dem Schluss, dass es angesichts der schwierigen Verwaltungsprobleme (stark ansteigende Zahl von Asylbewerberinnen) nicht unvereinbar mit Art 5 I lit f war, den Beschwerdeführer sieben Tage lang unter angemessenen Bedingungen anzuhalten, um die rasche Behandlung seines Asylantrags zu ermöglichen.185 Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt nicht vor. Die Voraussetzungen einer Rechtfertigung der Freiheitsentziehung sind gegeben, weshalb keine Verletzung von Art 5 stattgefunden hat.
3. Rechte der festgenommenen Person a) Informationsrecht 41 Gem Art 5 II EMRK muss jede festgenommene Person in möglichst kurzer Frist über
die Gründe seiner Festnahme informiert werden. Nach dem Wortlaut bezieht sich die Informationspflicht des Staates nur auf die „Festnahme“. Die Garantie gilt jedoch für alle in Art 5 I vorgesehenen Formen der Freiheitsentziehung.186 42 Art und Umfang der Unterrichtung richten sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Unterrichtung muss jedenfalls in einer dem Festgenommenen verständlichen Sprache erfolgen und die tatsächlichen und juristischen Gründe der Freiheitsentziehung darlegen.187 Mit der Information soll dem Festgehaltenen die Möglichkeit gegeben werden, effektiven Rechtsschutz gem Art 5 IV zu erlangen.188 Die Fristen, innerhalb derer die Unterrichtung erfolgen soll, müssen „möglichst kurz“ („dans le plus court délai“/„promptly“)189 sein, wobei die Umstände des Einzelfalles stets zu berücksichtigen sind.190
185 EGMR (GK), Urt v 29.1.2008, 13229/03, ECHR 2008-I, § 80 – Saadi. 186 EGMR, Urt v 5.11.1981, 7215/75, Series A, Vol 46, § 66 – X./Vereinigtes Königreich; EGMR (Pl), Urt v 29.3.1990, 11509/85, Series A, Vol 170-A, §§ 27 f – Van der Leer; EGMR, Urt v 25.10.1990, 12228/86, Series A, Vol 185-C, § 22 – Keus. 187 EGMR, Urt v 30.8.1990, 12244/86 ua, Series A, Vol 182, § 40 – Fox, Campbell u Hartley; Urt v 3.7.2012, 6492/11, NJW 2013, 2409, § 77 – Lutsenko. 188 EGMR (GK), Urt v 15.12.2016, 16483/12, § 115 – Khlaifia ua. 189 EGMR, Urt v 30.8.1990, 12244/86 ua, Series A, Vol 182, § 40 – Fox, Campbell u Hartley. 190 EGMR (Pl), Urt v 29.3.1990, 11509/85, Series A, Vol 170-A, § 31 – Van der Leer (zufällige Kenntnisnahme der Haftgründe genügt nicht); Urt v 30.8.1990, 12244/86 ua, Series A, Vol 182, § 42 – Fox, Campbell u Hartley (7 Stunden); EGMR (GK), Urt v 8.2.1996, 14310/88, Series A, Vol 300-A, § 78 – Murray (3 Stunden); Dörr in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 13, § 38. Christoph Grabenwarter/Katharina Struth
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b) Angemessene Haftdauer und richterliche Vorführung gem Art 5 III EMRK Art 5 III EMRK ergänzt Art 5 I lit c und enthält zwei Garantien: Die Vorführung und bei Aufrechterhaltung der vorläufigen Festnahme die Durchführung eines zügigen Verfahrens verbunden mit der raschen Erlangung eines Urteils.191 Die Vorführung hat von Amts wegen zu erfolgen192 und muss vor einem Richter oder einem richterlichen Beamten erfolgen. Die Zuständigkeit können die Mitgliedstaaten danach wahlweise einem Gericht oder einer mit entsprechenden Garantien ausgestatteten Behörde übertragen.193 Erforderlich ist jedoch, dass die zuständige Stelle gegenüber der Exekutive unabhängig ist194 sowie dass sie die Befugnis hat, bindende Entscheidungen zu treffen195. Der EGMR verlangt, dass die Behörde bei Feststellung der Haftgründe „besondere Sorgfalt“ im Verfahren walten lässt.196 Eine Vorführung ist „unverzüglich“ („promptly“, „aussitôt“) durchzuführen; die daran zu messende zulässige Dauer der Inhaftierung ohne richterliche Prüfung ist abhängig vom Einzelfall. Eine Unverzüglichkeit liegt in der Regel vor, wenn eine Frist von 24 bis 48 Stunden197, in besonderen Fällen (bei Vorliegen besonderer Umstände) von bis zu vier Tagen198, nicht überschritten wird. Ist den Behörden die Festnahme im Einzelfall ausnahmsweise im Voraus bekannt, kann dies die zulässige Frist verkürzen.199 Für Verdächtige terroristischer Straftaten kann die Frist hingegen ausnahmsweise länger sein,200 aber auch in diesen Fällen wurden sechs Tage ohne richterliche Überprüfung als zu lang angesehen.201 Die Beurteilung, ob eine „angemessene Frist“ für die Dauer der Untersuchungshaft eingehalten wurde, unterliegt in erster Linie der Beurteilung durch die inner-
191 EGMR (GK), Urt v 10.7.2008, 3394/03, ECHR 2010-III, § 119 – Medvedyev ua; EGMR, Urt v 12.5.2015, 26289/12 ua, ECHR 2015-V, § 75 – Magee ua. 192 EGMR, Urt v 18.3.2008, 11036/03, § 77 – Ladent. 193 EGMR, Urt v 4.12.1079, 7710/76, Series A, Vol 34, § 27 – Schiesser. 194 EGMR, Urt v 4.12.1079, 7710/76, Series A, Vol 34, § 31 – Schiesser. 195 EGMR (GK), Urt v 25.3.1999, 31195/96, ECHR 1999-II, § 51 – Nikolova; EGMR, Urt v 11.12.2003, 39084/97, ECHR 2003-XII, § 166 – Yankov; Urt v 12.5.2015, 26289/12 ua, ECHR 2015-V, §§ 89 f – Magee ua. 196 EGMR (GK), Urt v 6.4.2000, 26772/95, ECHR 2000-IV, §§ 152 f – Labita; EGMR, Urt v 6.4.2004, 36258/ 97, § 51 – J.G./Polen; Urt v 8.4.2004, 39270/98, § 74 – Belchev. 197 So Villiger EMRK, Rn 358; Dörr in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 13 Rn 51. 198 EGMR (Pl), Urt v 29.11.1988, 11209/84 ua, Series A, Vol 145-B, § 62 – Brogan ua. 199 EGMR, Urt v 27.6.2013, 62736/09, §§ 56 ff – Vassis ua. 200 EGMR (Pl), Urt v 29.11.1988, 11209/84 ua, Series A, Vol 145-B, § 61 – Brogan ua; Urt v 22.7.2003, 29422/95, § 52 – Ayşe Tepe. 201 EGMR, Urt v 18.12.1996, 21987/93, Rep 1996-VI, § 78 – Aksoy (14 Tage); Urt v 26.11.1997, 23878/94 ua, Rep 1997-VII, § 45 – Sakik ua (12 und 14 Tage); Urt v 23.9.1998, 21380/93 ua, Rep 1998-VI, § 40 – Demir ua (16 und 23 Tage); Urt v 16.10.2001, 37555/97, ECHR 2001-X, § 46 – O’Hara (6 Tage).
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staatlichen Gerichte.202 Diese sind im Zuge ihrer Überprüfung aber verpflichtet, alternative Maßnahmen zur Erreichung des Haftzwecks zu berücksichtigen.203 Es handelt sich hierbei um eine Einzelfallentscheidung, der eine Abwägung zwischen den Allgemeininteressen einerseits und den Interessen der Betroffenen andererseits zugrunde liegt.204 Im Falle einer Untersuchungshaft, die in mehrere nicht aufeinanderfolgende Abschnitte unterbrochen wird, ist jeder der einzelnen Abschnitte separat hinsichtlich der zulässigen Dauer zu prüfen.205 Eine Verletzung des Art 5 I lit c stellte der EGMR in der Rückführung der Beschwerdeführer in Polizeigewahrsam zur Befragung nach bereits verhängter Untersuchungshaft fest, da diese Maßnahme das Ziel verfolgte, die gesetzliche Befristung der Dauer des Polizeigewahrsams zu umgehen.206 47 Zunächst ist das Fortbestehen eines hinreichenden Tatverdachts conditio sine qua non für die Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung der Haft;207 nach Ablauf einer gewissen Zeit208 vermag dieser die Aufrechterhaltung der Haft allerdings nicht mehr allein zu begründen. Vielmehr muss dann überprüft werden, ob andere Motive wie die Schwere der Tat, eine Störung der öffentlichen Ordnung, Flucht-, Verdunkelungs-, und/oder Wiederholungsgefahr oder die Aufrechterhaltung der Möglichkeit einer ordentlichen Verfahrensführung, die eine Fortsetzung der Haft rechtfertigen, ebenfalls fortbestehen.209 Die besondere persönliche Situation einer Person – etwa die Tatsache, dass sie politisch tatsächlich besonders einflussreich und vermögend ist – vermag eine Freiheitsentziehung über eine gewisse Dauer
202 EGMR, Urt v 27.6.1968, 2122/64, Series A, Vol 7, § 12 – Wemhoff; Urt v 27.6.1968, 1936/63, Series A, Vol 8, § 5 – Neumeister; 12325/86, Series A, Vol 270-B, § 45 – Kemmache (Nr 1 & 2); 11894/85, Series A, Vol 224, § 67 – Toth; 19382/92, Series A, Vol 321, § 55 – Van der Tang; zum insoweit bestehenden Unterschied zu Art 6 EMRK: EGMR, Urt v 10.11.1969, 1602/62, Series A, Vol 9, § 5 – Stögmüller. 203 So EGMR, Urt v 20.1.2004, 38816/97, § 84 – G.K./Polen; oder auch EGMR, Urt v 4.7.2006, 77832/01, § 41 – Dzyruk, hinsichtlich der Sicherstellung des Erscheinens vor Gericht. 204 EGMR, Urt v 26.1.1993, 14379/88, Series A, Vol 254-A, § 30 – W./Schweiz; Urt v 13.7.1993, 19382/92, Series A, Vol 321, § 55 – Van der Tang; Urt v 18.12.1997, 21335/93, Rep 1996-VI, § 74 – Scott; Urt v 4.10.2001, 27504/95, § 58 – Ilowiecki; vgl EGMR, Urt v 27.6.1968, 2122/64, Series A, Vol 7, § 10 – Wemhoff. 205 EGMR (GK), Urt v 22.5.2012, 5826/03, § 129 – Idalov. 206 EGMR, Urt v 17.6.2008, 8810/03, §§ 89, 93 – Karaduman ua. 207 EGMR, Urt v 10.11.1969, 1602/62, Series A, Vol 9, § 4 – Stögmüller; Urt v 23.2.1993, 11968/86, Series A, Vol 175, § 42 – B./Österreich; EGMR (GK), Urt v 10.3.2009, 4378/02, NJW 2010, 213, § 64 – Bykov; Urt v 22.5.2012, 5826/03, § 140 – Idalov; Urt v 5.7.2016, 23755/07, § 87 – Buzadji. 208 S dazu im Einzelnen EGMR (GK), Urt v 5.7.2016, 23755/07, §§ 100 ff – Buzadji. 209 EGMR, Urt v 26.7.1991, 12369/86, Series A, Vol 207, § 35 – Letellier; Urt v 12.12.1991, 11894/85, Series A, Vol 224, § 67 – Toth; Urt v 2.11.1993, 12325/86, Series A, Vol 270-B, § 45 – Kemmache (Nr 1 & 2); Urt 27.8.1992, 12850/87, Series A, Vol 241-A, § 84 – Tomasi; EGMR (GK), Urt v 22.5.2012, 5826/03, §§ 140, 144 – Idalov; Urt v 28.11.2017, 72508/13, § 234 – Merabishvili.
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ebenso zu rechtfertigen.210 Hält sich eine Person unrechtmäßig in einem Mitgliedstaat auf, kann auch dies unter gewissen Bedingungen hinreichender Grund für eine fortdauernde Freiheitsentziehung sein.211 Ist eine Person bereits mehrfach vor strafrechtlicher Verfolgung außer Landes geflohen, können die Schwere der begangenen Straftat und das Fehlen eines festen Wohnsitzes im betroffenen Mitgliedstaat ausreichende Gründe für eine Freiheitsentziehung über einen gewissen Zeitraum sein.212 Letztlich ist die Beurteilung, ob die angeführten Haftgründe die Angemessen- 48 heit der Haftdauer zu begründen vermögen, anhand aller Umstände des Einzelfalls durchzuführen;213 eine bloße Aufzählung der Haftgründe, ohne dass diese hinreichend substantiiert werden, genügt nicht.214 Zusätzlich prüft der EGMR, ob die innerstaatlichen Behörden das Verfahren mit der erforderlichen Sorgfalt betrieben haben,215 ob sie insb Alternativen zur Freiheitsentziehung erwogen,216 die Ermittlungstätigkeiten zügig vorangebracht und das Verfahren nicht durch behördeninterne Schwierigkeiten verzögert haben.217
c) Recht auf richterliche Haftprüfung gem Art 5 IV EMRK Das in Art 5 IV EMRK garantierte Recht auf richterliche Haftprüfung spiegelt die an- 49 gelsächsische „Habeas corpus-Doktrin“ wider. Die Garantie des Art 5 IV gilt für alle in Art 5 I vorgesehenen Formen der Haft. Die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Inhaftnahme („lawfulness“) erfolgt am Maßstab des innerstaatlichen Rechts und des Völkerrechts.218
210 EGMR, Urt v 31.5.2011, 5829/04, NJW 2012, 3422, § 189 – Khodorkovskiy. 211 EGMR, Urt v 24.11.2009, 32214/03, § 58 – Shannon. 212 EGMR, Urt v 20.12.2011, 71092/01, § 72 – Zandbergs. 213 EGMR (GK), 26772/95, Urt v 6.4.2000, ECHR 2000-IV, §§ 152 ff – Labita; Urt v 22.5.2012, 5826/03, § 139 – Idalov. 214 EGMR (GK), Urt v 10.3.2009, 4378/02, NJW 2010, 213, § 65 – Bykov. 215 EGMR, Urt v 26.7.2001, 34097/96, §§ 42 ff – Kreps; Urt v 31.7.2001, 42211/98, § 46 – Zannouti; Urt v 5.11.2009, 29044/06, §§ 64 ff – Shabani; EGMR (GK), Urt v 5.7.2016, 23755/07, § 87 – Buzadji. 216 EGMR, Urt v 31.5.2011, 5829/04, NJW 2012, 3422, §§ 195 ff – Khodorkovskiy; EGMR (GK), Urt v 22.5.2012, 5826/03, § 140 – Idalov. 217 EGMR, Urt v 12.12.1992, 11894/85, Series A, Vol 224, §§ 76 f – Toth; Urt v 2.12.2003, 37641/97, § 85 – Matwiejczuk; Urt v 8.11.2007, 11287/03, §§ 107 f – Lelièvre (Zeitspanne von zwei Jahren zwischen Übermittlung der Untersuchungsakte und Eröffnung des Verfahrens), vgl hierzu: Krenc, RTDH 2008, 857. 218 EGMR (GK), Urt v 15.6.1996, 22414/93, Rep 1996-V, § 127 – Chahal; EGMR (Pl), Urt v 2.3.1987, 9787/ 82, Series A, Vol 114, § 57 – Weeks.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Die Haftprüfung muss beantragt werden.219 Der Anspruch entsteht immer dann, wenn eine Verwaltungsbehörde die Inhaftnahme verfügt hat.220 Hat hingegen ein Gericht die Haft angeordnet, so ist zwischen der Haft im Anschluss an die Verurteilung und der Untersuchungshaft zu differenzieren. In dem Urteil des zuständigen Gerichts findet grundsätzlich die Überprüfung der Haft im Sinne des Art 5 IV statt.221 Bei Fortdauer der Haft besteht ein Anspruch auf Haftprüfung nur dann, wenn neue Umstände die Rechtmäßigkeit der Haft nachträglich in Frage stellen können.222 Eine Überprüfung nach Art 5 IV muss auch dann stattfinden, wenn sie nicht zur Entlassung, sondern nur zu Änderung der Art der Freiheitsentziehung, etwa zur Überstellung von einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in eine ebensolche in einem Gefängnis führen würde.223 Art 5 IV ist auch anwendbar, wenn sich die betroffene Person zum Zeitpunkt der richterlichen Prüfung nicht in Haft befindet, die Entscheidung ihre Inhaftierung aber unmittelbar betrifft.224 51 Die gerichtliche Entscheidung muss innerhalb kurzer Frist, dh in angemessener Zeit erfolgen.225 Die zügige Durchführung des Verfahrens ist mit Blick auf das grundrechtliche Schutzgut der Freiheit eines Individuums zwingende Voraussetzung für die Einhaltung der Anforderungen des Art 5 IV und unterliegt strengeren zeitlichen Anforderungen als Art 6 I.226 Die Angemessenheit der Dauer kann nicht abstrakt festgelegt werden, sondern ist im Einzelfall unter Heranziehung aller Umstände des konkreten Sachverhalts zu bestimmen.227 Sind Kinder und Familien, etwa in asyl- und fremdenrechtlichen Kontexten, inhaftiert, muss die Haftprüfung 50
219 EGMR (Pl), Urt v 18.6.1971, 2832/66 ua, Series A, Vol 12, §§ 82 f – De Wilde, Ooms u Versyp; EGMR, Urt v 29.2.1988, 9106/80, Series A, Vol 129, § 55 – Bouamar. 220 EGMR (Pl), Urt v 18.6.1971, 2832/66 ua, Series A, Vol 12, §§ 76 f – De Wilde, Ooms u Versyp; Urt v 8.6.1976, 5100/71 ua, Series A, Vol 22, § 77 – Engel ua; EGMR, Urt v 23.2.1984, 9019/80, Series A, Vol 75, § 31 – Luberti. 221 EGM, Urt v 24.10.1985, 16462/90, Series A, Vol 325-C, § 30 – Iribarne Pérez; Urt v 20.1.2004, 39753/ 98, § 19 – König. 222 EGMR, Urt v 24.10.1979, 6301/73, Series A, Vol 33, § 55 – Winterwerp; EGMR (Pl), Urt v 24.6.1982, 7906/77, Series A, Vol 50, §§ 45 ff – Van Droogenbroeck; EGM, Urt v 24.10.1985, 16462/90, Series A, Vol 325-C, § 30 – Iribarne Pérez. 223 EGMR, Urt v 16.7.2015, 7997/08, § 31 – Kuttner. 224 EGMR, Urt v 11.7.2017, 51249/11, § 65 – Oravec. 225 EGMR (GK), Urt v 9.7.2009, 11364/03, EuGRZ 2009, 566, § 106 – Mooren; EGMR, Urt v 26.6.2014, 41970/11 – Shcherbina. 226 EGMR, Urt v 7.6.2011, 277/05, ECHR 2011-III, § 48 – S.T.S/Niederlande. 227 EGMR, Urt v 3.6.2003, 33343/96, ECHR 2003-VI, § 253 – Pantea; EGMR (GK), Urt v 9.7.2009, 11364/ 03, EuGRZ 2009, 566, §§ 103 ff – Mooren; EGMR, Urt v 7.6.2011, 277/05, ECHR 2011-III, § 43 – S.T.S/Niederlande; Urt v 16.7.2015, 7997/08, §§ 39 ff – Kuttner; 5201/11, ECHR 2015-VII, §§ 150 ff – Sher ua; Urt v 20.3.2018, 16538/17 – Șahin Alpay.
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§ 11.1 Freiheit, Sicherheit, Justiz-und Verfahrensgrundrechte: EMRK
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mit besonderer Zügigkeit und Sorgfalt durchgeführt werden.228 Die Haftprüfung muss „in angemessenen Abständen“ während der fortdauernden Haft erneut erfolgen.229 Die überprüfende Behörde muss, wenn sie kein Gericht ist, wenigstens gerichtlichen Charakter aufweisen.230 Sie muss durch Gesetz eingerichtet sein;231 und sie darf nicht nur beratend tätig werden, sondern muss verbindliche Entscheidungen treffen können; insbesondere muss die entscheidende Stelle befugt sein, die Freiheitsentziehung selbst zu beenden.232 Im Haftprüfungsverfahren müssen nicht alle Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK erfüllt werden.233 Grundlegende Garantien wie der Grundsatz der Waffengleichheit234 sind jedoch zu gewährleisten. Im Einzelnen verlangt die Rspr die persönliche Anhörung235, einen Anspruch auf Rechtsvertretung236, die Angabe einer Begründung für die Inhaftierung sowie das Recht auf umfassende Akteneinsicht,237 die über einen angemessen Zeitraum hinweg gestattet wird, sodass die Vorbereitung einer effektiven Verteidigung möglich ist.238 Die Akteneinsicht muss insbesondere in jene Teile der Akten gewährt werden, die die Verdächtigung in Frage stellen würden und für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eine Rolle gespielt hätten.239 Ausnahmen hiervon können unter Umständen in Fällen unmittelbar drohender Gefahren für die nationale Sicherheit, etwa
228 EGMR, Urt v 17.10.2019, 4633/15, §§ 180 ff – G.B. ua/Türkei. 229 EGMR, Urt v 24.10.1979, 6301/73, Series A, Vol 33, § 55 – Winterwerp; dazu auch EGMR, Urt v 24.7.2001, 40787/98, §§ 37 ff – Hirst. 230 EGMR (Pl), Urt v 26.5.1993, 14553/89, Series A, Vol 258-B, § 58 – Brannigan u McBride. 231 EGMR, Urt v 28.11.2002, 58442/00 – Lavents; Urt v 9.2.2006, 73443/01 ua, § 102 – Freimanis u Lidums. 232 EGMR (GK), Urt v 28.5.2002, 46295/99, ECHR 2002-IV, §§ 88 f – Stafford; EGMR, Urt v 7.10.2003, 75362/01, § 24 – von Bülow; Urt v 16.10.2003, 67385/01, § 26 – Wynne (Nr 2); Urt v 27.4.2004, 19365/02, § 22 – Hill; Urt v 25.10.2012, 30241/11, §§ 39 ff – Buishvili; Urt v 12.7.2016, 56324/13 – A.M./Frankreich. 233 Vgl statt vieler EGMR (GK), Urt v 22.5.2012, 5826/03 – Idalov. 234 EGMR, Urt v 13.2.2001, 25116/94, ECHR 2001-I, § 44 – Schöps; Urt v 31.7.2003, 35436/97, § 118 – Hristov. 235 EGMR, Urt v 24.10.1979, 6301/73, Series A, Vol 33, § 60 – Winterwerp; EGMR (GK), Urt v 17.12.2013, 31195/96, ECHR 1999-II, § 58 – Nikolova; EGMR, Urt v 20.1.2004, 38816/97, §§ 93 f – G.K./Polen. 236 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 5, §§ 137 f; EGMR, Urt v 25.10.2007, 4493/04, § 87 – Lebedev, wonach den Staat zwar keine positive Pflicht trifft, Rechtsbeistand zu gewähren, aber doch die negative Verpflichtung besteht, die effektive Unterstützung nicht zu behindern; s dazu EGMR, Urt v 19.2.2015, 75450/12 – M.S./Kroatien (Nr 2). 237 EGMR, Urt v 13.2.2001, 23541/94, NJW 2002, 2018, § 42 – Garcia Alva; Urt v 13.2.2001, 24479/94, ECHR 2001-I, § 47 – Lietzow; Urt v 13.2.2001, 25116/94, ECHR 2001-I, § 44 – Schöps. Dazu Kieschke/ Osterwald, NJW 2002, 2003. 238 EGMR, Urt v 3.7.2012, 6492/11, NJW 2013, 2409, §§ 90, 96 – Lutsenko. 239 EGMR, Ent v 11.3.2008, 41077/04, NStZ 2009, 164 – Falk; Urt v 31.5.2011, 5829/04 NJW 2012, 3422, § 159 – Khodorkovskiy.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
bei drohenden Terrorakten, zulässig sein.240 Art 5 IV ist nach der Rechtsprechung des EGMR verletzt, wenn die Entscheidung der Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung in entscheidendem Ausmaß auf geheimes Material gestützt wird.241 Hat ein Staat eine zweite Instanz zur Untersuchung der Rechtmäßigkeit der Haft eingerichtet, so müssen diese Verfahrensgarantien auch in dieser gewährleistet werden.242
d) Das Recht auf Haftentschädigung 52 Art 5 V EMRK sieht eine Entschädigung für eine konventionswidrige Haft vor. Die
Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch sind, dass der Betroffene unter Verletzung der Art 5 I bis IV in Haft genommen wurde und er infolgedessen einen materiellen oder immateriellen Schaden erlitten hat.243 Für die Anwendbarkeit von Art 5 V ist es unerheblich, ob die Konventionswidrigkeit der Haft durch ein innerstaatliches Gericht festgestellt worden ist.244 Das Vorliegen eines Verschuldens ist auch nicht erforderlich.245 Nach st Rspr des EGMR ist Art 5 V dann verletzt, wenn der Geschädigte weder vor noch nach der Feststellung der Konventionswidrigkeit einen durchsetzbaren Anspruch auf Entschädigung hat.246 Art 5 V gewährt Privaten unmittelbar den Anspruch auf die entsprechende Entschädigung, soweit die EMRK in die innerstaatliche Rechtsordnung inkorporiert wurde;247 in allen anderen Fällen verpflichtet die Bestimmung die Mitgliedstaaten, einen effektiv durchsetzbaren Anspruch auf Entschädigung nach innerstaatlichem Recht zu gewährleisten.248 Für die Bemessung des immateriellen Schadens gelten dabei die Grundsätze des Art 41
240 EGMR, Urt v 20.10.2015, 5201/11, ECHR 2015-VII, § 149 – Sher ua. 241 EGMR (GK), Urt v 13.2.2009, 3455/05, ECHR 2009-II, § 220 – A. ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 17.4.2012, 20071/07, § 203 – Piechowicz. 242 EGMR, Urt v 30.3.2010, 18837/06, § 39 – Allen; Urt v 7.6.2011, 277/05, ECHR 2011-III, § 43 – S.T.S/Niederlande; s auch EGMR, Urt v 7.9.2017, 8844/12, § 26 – Stollenwerk. 243 EGMR, Urt v 29.11.1988, 11209/84 ua, Series A, Vol 145-B, § 67 – Brogan ua; Urt v 27.9.1990, 12535/ 86, Series A, Vol 185-A, § 38 – Wassink; Urt v 25.10.1990, 12228/86, Series A, Vol 185-C, § 29 – Keus; Urt v 29.5.1997, 19233/91 ua, Rep 1997-III, §§ 64 ff – Tsirlis u Kouloumpas. 244 EGMR (Pl), Urt v 25.10.1990,11787/85 ua, Series A, Vol 190-A, § 82 – Thynne, Wilson u Gunnell; EGMR, Urt v 16.10.2003, 67385/01, § 31 – Wynne (Nr 2). 245 Kopetzki in: Korinek/Holoubek et al, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Grundrechte, Bd II/2, 2000, Art 7 PersFrG, § 11. 246 EGMR (Pl), Urt v 29.11.1988, 11209/84 ua, Series A, Vol 145-B, § 67 – Brogan ua; EGMR, Urt 30.8.1990, 12244/86 ua, Series A, Vol 182, § 46 – Fox, Campbell u Hartley; EGMR (GK), Urt v 17.1.2012, 36760/06, ECHR 2012-I, §§ 183 ff – Stanev. 247 Dörr in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 13, § 103. 248 EGMR (Pl), Urt v 22.2.1989, 11152/84, Series A, Vol 148, § 44 – Ciulla; Urt v 26.11.1997, 23878/94 ua, Rep 1997-VII, § 60 – Sakik ua; Urt v 27.6.2013, 9096/09, §§ 42 f –Abashev.
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§ 11.1 Freiheit, Sicherheit, Justiz-und Verfahrensgrundrechte: EMRK
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EMRK.249 Die Entschädigung im Sinne des Art 5 V hat nicht zwingend finanzieller Natur zu sein.250
4. Gewährleistungspflichten Aus dem ersten Satz des Art 5 I EMRK werden in Anlehnung an die Rspr des EGMR 53 zu den Art 2, 3 und 8 und unter Berufung auf die Bedeutung des Schutzguts der persönlichen Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft Gewährleistungspflichten („positive obligations“) des Staates abgeleitet. Der Staat ist verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die einen effektiven Schutz der persönlichen Freiheit, insb für besonders schutzbedürftige Personen sicherstellen und die Rechtmäßigkeit von Freiheitsentziehungen (durch private Akteure), von denen die Behörden Kenntnis haben oder haben sollten, bzw der Bedingungen, unter denen diese durchgeführt werden, zu überwachen.251 Strafrechtliche Sanktionen (selbst mit hohen Freiheitsstrafdrohungen) und zivilrechtliche Schadensersatzansprüche lässt der EGMR in diesem Zusammenhang nicht genügen, weil es sich dabei um rein repressive Maßnahmen handle, die für sich genommen keinen hinreichenden Schutz bieten könnten; es bedürfe präventiver Handlungen des Staates wie der Aufsicht und Kontrolle in Fällen von Freiheitsentziehungen.252 Lösung Fall 1: Der wirkliche Grund für die Festnahme des Beschwerdeführers wurde erstmals genannt, als seinem Vertreter am 5.1.2001 mitgeteilt wurde, dass der Asylbewerber die Voraussetzungen für das in Oakington eingerichtete Eilverfahren erfülle. Zu dieser Zeit befand er sich bereits seit rund 76 Stunden in Haft. Ungeachtet des Umstands, dass die mündliche Mitteilung der Gründe gegenüber dem Vertreter des Beschwerdeführers den Anforderungen des Art 5 II entsprach, erachtet der EGMR eine Verzögerung von 76 Stunden als unvereinbar mit dem Erfordernis, dass solche Gründe innerhalb möglichst kurzer Frist mitgeteilt werden müssen. Daher liegt eine Verletzung von Art 5 II vor.253
249 EGMR, Urt v 7.6.2011, 39446/06 ua, § 49 – Hadžić u Suljić. 250 EGMR, Ent v 8.10.2019, 36391/16, §§ 18 ff – Porchet. 251 EGMR, Urt v 16.6.2005, 61603/00, ECHR 2005-V, §§ 98, 102, 105 – Storck, der Staat unterliege insb der Pflicht, Aufsicht und Kontrolle über private psychiatrische Einrichtungen auszuüben; s dazu Cremer, EuGRZ 2008, 562. 252 EGMR, Urt v 16.6.2005, 61603/00, ECHR 2005-V, §§ 103, 105 – Storck. 253 EGMR (GK), Urt v 29.1.2008, 13229/03, ECHR 2008-I, §§ 81 ff – Saadi.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
II. Justizgrundrechte im Zusammenhang mit Verfahren vor Gerichten 1. Das Recht des fair trial gem Art 6 I EMRK 55 Art 6 I EMRK bildet das Kernstück der Justizgrundrechte der EMRK. Die in ihm ent-
haltene Gerichtsgarantie lässt sich in Organisationsgarantien und in Verfahrensgarantien aufgliedern. Zu den Organisationsgarantien gehört das Recht auf Zugang zu einer mit gewissen Mindestgarantien ausgestatteten Spruchinstanz (b). Die Verfahrensgarantien umfassen neben der allgem Garantie des fairen Verfahrens einschließlich besonderer Verfahrensrechte im Strafprozess (c) das Gebot der Verfahrensöffentlichkeit (d) sowie das Gebot der angemessenen Verfahrensdauer (e).
a) Der Anwendungsbereich des Art 6 I EMRK 56 Art 6 I EMRK garantiert Verfahrensgrundrechte für alle Verfahren, in denen entwe-
der über zivilrechtliche Streitigkeiten („civil rights“) oder über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage („criminal charge“) entschieden wird. Während Art 6 I für beide Teilbereiche des Anwendungsbereichs des Grundrechts gilt, sind die in Art 6 II enthaltene Unschuldsvermutung und die einzelnen Garantien des Art 6 III nur auf strafrechtliche Anklagen anwendbar. Der so umschriebene Anwendungsbereich des Art 6 hat hinsichtlich seines Umfangs und seiner Grenzen in Judikatur und Schrifttum besondere Aufmerksamkeit erfahren. 57 Die Anwendbarkeit des Art 6 im Bereich der zivilrechtlichen Streitigkeiten setzt voraus, dass eine Streitigkeit über ein Recht mit zivilrechtlichem Charakter vorliegt. Hierzu muss zunächst eine „Streitigkeit“ vorliegen und diese muss ein „Recht“ betreffen; dazu ist entscheidend, dass zumindest in vertretbarer Weise behauptet wird, dass das „Recht“ nach innerstaatlichem Recht anerkannt ist.254 Der EGMR kann nicht im Wege der Auslegung von Art 6 ein materielles Recht schaffen, dass im betroffenen Staat keine Rechtsgrundlage hat.255 Zudem muss das Verfahren, damit eine „Streitigkeit“ angenommen werden kann, der Streitentscheidung dienen, insbesondere muss das Verfahren unmittelbar entscheidend für das in Frage stehende Recht sein.256
254 EGMR (GK), Urt v 14.9.2017, 56665/09, §§ 64 ff – Károly Nagy (ein Verfahren über ein nur im Kirchenrecht bestehendes Recht fällt aus dem Anwendungsbereich des Art 6 EMRK heraus). 255 EGMR (GK), Urt v 14.9.2017, 56665/09, § 61 – Károly Nagy. 256 EGMR (GK), Urt v 15.10.2009, 17056/06, ECHR 2009-V, § 74 – Micallef.
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§ 11.1 Freiheit, Sicherheit, Justiz-und Verfahrensgrundrechte: EMRK
Zum Inhalt des Begriffs „civil rights“ gelangt man auf der Grundlage einer 58 rechtsinhaltsbezogenen Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht auf der Basis der Rechtsvergleichung, wobei die klassische kontinental-europäische Begriffsbildung maßgeblich ist. Der Begriff umfasst nicht nur zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen Privaten ieS, sondern auch bestimmte öffentlich-rechtliche Verfahren, die Auswirkungen auf Vertragsbeziehungen257 oder auf vermögenswerte Positionen258 („Auswirkungsjudikatur“) haben. So fallen etwa auch Disziplinarverfahren gegen Richterinnen bzw Verfahren zu deren Absetzung in den Anwendungsbereich von Art 6 I.259 Daneben gelten die Garantien des Art 6 I auch in Verfahren, die Auswirkungen auf das Privat- und Familienleben der betroffenen Personen haben.260 Insbesondere in Verfahren über sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und 59 Abgaben wird eine Abwägung zwischen privat- und öffentlich-rechtlichen Aspekten der Streitigkeit vorgenommen („Abwägungsjudikatur“).261 Auch Streitigkeiten über die Berechtigung einer Person, Leistungen der öffentlichen Hand in Anspruch zu nehmen, können zivilrechtlicher Natur im Sinne des Art 6 I sein.262 In Bezug auf beamtenrechtliche Streitigkeiten geht der EGMR nach aktueller263 60 Judikatur von der Vermutung der Anwendbarkeit des Art 6 aus;264 ausnahmsweise ist Art 6 I in diesen Konstellationen jedoch unter zwei Bedingungen nicht anwendbar: Die betreffende Stelle oder Beamtenkategorie muss im innerstaatlichen Recht ausdrücklich vom Zugang zu Gericht ausgeschlossen sein;265 und der Ausschluss des
257 EGMR (Pl), Urt v 28.6.1978, 6232/73, Series A, Vol 27, § 90 – König. 258 EGMR, Urt v 26.3.1992, 11760/85, Series A, Vol 234-B, § 40 – Editions Périscope. 259 EGMR (GK), Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, §§ 119 f – Ramos Nunes de Carvalho e Sá; vgl ähnlich Staatsanwälte EGMR, Urt v 15.9.2020, 21218/12 – Čivinskaitė. 260 EGMR (GK), Urt v 17.9.2009, 74912/01, ECHR 2009-IV, §§ 103 ff – Enea; EGMR, Urt v 20.11.2012, 33197/09, §§ 51 ff – Alexandre. 261 EGMR (Pl), Urt v 29.5.1986, 9384/81, Series A, Vol 100, §§ 60 ff – Deumeland; EGMR, Urt v 9.12.1994, 19005/91 ua, Series A, Vol 304, § 51 – Schouten u Meldrum. 262 EGMR, Urt v 23.9.2008, 9907/02, ECHR 2008-IV, §§ 22 f – Emine Araç. 263 S zur älteren, nunmehr aufgegebenen Judikatur EGMR (GK), Urt v 8.12.1999, 28541/95, ECHR 1999-VIII, §§ 64 ff – Pellegrin. Der EGMR verweist für die Abgrenzung dabei hilfsweise auf die Ausnahme des Art 39 IV EGV; zu dieser Problematik umfassend Widmaier, ZBR 2002, 244 (252 ff). 264 EGMR (GK), 63235/00, ECHR 2007-II, § 62 – Vilho Eskelinen ua; krit Grabenwarter/Pabel EMRK, § 24 Rn 11. 265 Kein Ausschluss wird angenommen, wenn eine Beschwerde an das Verfassungsgericht zulässig ist oder eine unabhängige Behörde entschieden hat, die die Kriterien des Art 6 erfüllt: EGMR, Urt v 5.2.2009, 22330/05, §§ 35 ff – Olujić (Anwendbarkeit des Art 6 wird trotz des gesetzlichen Ausschlusses des Zugangs zu den ordentlichen Gerichten angenommen); Urt v 14.1.2010, 29889/04, §§ 31 f – Vanjak (Entlassung aus dem Polizeidienst); Urt v 1.4.2010, 34821/06, § 25 – Gabriel; Urt v 20.11.2012, 58688/11, § 123 – Harabin.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Rechtsschutzes muss durch im staatlichen Interesse gelegene vernünftige Gründe gerechtfertigt sein.266 61 Schließlich fallen auch Verfahren, die einen vermögenswerten Gegenstand haben oder sich auf behauptete Verletzungen gründen, die ihrerseits vermögenswerte Rechte betreffen, ungeachtet verwaltungsbehördlicher Zuständigkeiten in den Anwendungsbereich des Art 6.267 Hierzu gehört auch das verfahrensgegenständliche Recht selbst, und nicht nur die Auswirkungen auf ein vermögenswertes Recht.268 So bilden Ansprüche aus Ehrverletzungen zivilrechtliche Ansprüche.269 Auch Ansprüche auf Wiedergutmachung – etwa für Opfer des Nationalsozialismus aufgrund von Vereinbarungen zwischen Staaten – können „civil rights“ iSd Art 6 I bilden. Zwar sind die Staaten frei darin, solche Ansprüche zu gewährleisten und ihren Umfang festzulegen; werden jedoch Bedingungen für Wiedergutmachungszahlungen festgelegt und erfüllen Antragstellerinnen diese, so besteht ein „Recht“ iSv Art 6 I.270 Es kann auch ein verfassungsgerichtliches Verfahren, in dem über die Verfassungsmäßigkeit einer Verordnung zu entscheiden ist, in den Anwendungsbereich des Art 6 fallen, wenn das Verfahren einen starken Bezug zu einem zivilgerichtlichen Verfahren hat. Dieser kann sich daraus ergeben, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts auf „civil rights“ des Bf Auswirkungen hat oder dass das Verfahren vor dem Verfassungsgericht auf Antrag eines zuständigen Zivilgerichts durchgeführt wurde.271 Das Recht akkreditierter Journalistinnen, aus Sitzungen des Parlaments zu berichten, stellt ein „civil rights“ dar, weil es – so der EGMR – für die spezifische journalistische Berufsausübung notwendig ist.272 62 Streitigkeiten aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts liegen nicht im Anwendungsbereich der Verfahrensgarantien aus Art 6. Dazu gehören zum Beispiel staatsbürgerschaftliche Angelegenheiten,273 die Regelung der Einreise in einen Mitgliedstaat durch Erteilung von Visa,274 asyl- und fremdenrechtliche Ver-
266 EGMR (GK), Urt v 19.4.2007, 63235/00, ECHR 2007-II, § 62 – Vilho Eskelinen ua; bekräftigt in EGMR, Urt v 30.9.2008, 37829/05, § 19 – Melek Sima Yilmaz (Anwendung des Art 6 auf ein Disziplinarverfahren gegen eine türkische Lehrerin). 267 EGMR, Urt v 26.3.1992, 11760/85, Series A, Vol 234-B, § 40 – Editions Périscope; Urt v 24.2.1997, 20416/92, Rep 1997-II, § 30 – Paskhalidis ua; vgl dazu Grabenwarter Verfahrensgarantien, S 44 ff. 268 EGMR, Urt v 27.10.1987, 10930/84, Series A, Vol 125-B, § 32 – Bodén. 269 EGMR (GK), Urt v 20.3.2009, 12686/03, § 26 – Gorou (Nr 2). 270 EGMR, Urt v 18.5.2010, 41285/02, § 34 – Szal; vgl dazu auch EGMR (GK), Urt v 15.3.2018, 51357/07, §§ 107 ff – Naït-Liman. 271 EGMR, Urt v 7.7.2009, 12278/03, § 47 – Padalevičius. 272 EGMR, Urt v 9.2.2017, 67259/14, § 27 – Selmani ua. 273 EKMR, Ent v 15.12.1988, 13325/87, DR 59, 256 – S./Schweiz. 274 EGMR (GK), Ent v 5.5.2020, 3599/18, § 127 ff – M.N. ua/Belgien.
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fahren,275 Verfahren über das Wahlrecht sowie abgabenrechtliche Verfahren, die den Umfang der Verpflichtung zur Zahlung von Steuern betreffen.276 Auch die Abgrenzung der strafrechtlichen Streitigkeiten ist rechtsinhaltsbezo- 63 gen und wird vom EGMR ausgehend von einem gegenüber den innerstaatlichen Rechtsordnungen autonomen Begriffsverständnis vorgenommen.277 Der EGMR wählt das innerstaatliche Recht als Ausgangspunkt und ordnet alle strafrechtlichen Verfahren nach innerstaatlichem Recht dem Schutzbereich zu. Darüber hinausgehend sind aber alle Verfahren von Art 6 EMRK erfasst, bei denen eine Zuordnung nach der Natur der Zuwiderhandlung sowie der Art und Schwere der Sanktion sinnvoll erscheint. Demnach sind hier drei Kriterien („Engel-Kriterien“) für die Anwendbarkeit des Art 6 EMRK maßgeblich, wobei deren Vorliegen alternativ, also das Vorliegen eines Kriteriums grundsätzlich ausreichend ist.278 Ausnahmsweise werden die Natur der Zuwiderhandlung und die Art und Schwere der Sanktion allerdings als kumulative Kriterien behandelt, wenn eine getrennte Analyse zu keinem eindeutigen Ergebnis in Bezug auf die Einordnung eines Verfahrens führt.279 In Bezug auf das zweite Kriterium, die Natur der Zuwiderhandlung, ist ent- 64 scheidend, dass auf der Tatbestandsseite der zu beurteilenden innerstaatlichen Regelung sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich nicht von vornherein auf spezifische Personengruppen beschränkt sind. Auf der Rechtsfolgenseite ist entscheidend, dass Sanktionen mit präventivem und repressivem Charakter drohen. Nach diesem Kriterium fällt etwa das Ordnungswidrigkeitenrecht unter Art 6,280 das Disziplinarrecht hingegen fällt grundsätzlich nicht unter den Begriff der strafrechtlichen Anklage.281 Das Disziplinarrecht ist nur dann von Art 6 umfasst, wenn das dritte Kriterium einer gewichtigen Strafdrohung erfüllt ist. Dies ist dann der Fall, wenn das Gewicht der insgesamt zu erwartenden negativen Konsequenzen, die für den Beschuldigten auf dem Spiel stehen, hinreichend ist.282 Das wird in der Rspr jedenfalls für mehr als nur geringfügige Freiheitsstrafen sowie für Geldstrafen an-
275 EGMR (GK), Ent v 12.1.1999, 39652/98, ECHR 2000-X, §§ 35 ff – Maaouia; EGMR, Ent v 13.10.2009, 11230/07 – Panjeheighalehei. 276 EGMR, Urt v 21.10.19997, 24194/94, Rep 1997-VI, §§ 45 ff – Pierre-Bloch; EGMR (GK), Urt v 17.9.2009, 74912/01, ECHR 2009-IV, §§ 103 ff – Enea. 277 EGMR (GK), Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, § 122 – Ramos Nunes de Carvalho e Sá. 278 EGMR (Pl), Urt v 8.6.1976, 5100/71 ua, Series A, Vol 22, §§ 83 ff – Engel ua. 279 EGMR (GK), Urt v 9.10.2003, 39665/98 ua, ECHR 2003-X, § 82 – Ezeh u Connors; Urt v 23.11.2006, 73053/01, ECHR 2006-XIV, §§ 30, 31 – Jussila; Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, § 122 – Ramos Nunes de Carvalho e Sá. 280 EGMR (Pl), Urt v 21.2.1984, 8544/79, Series A, Vol 73, §§ 47 ff – Öztürk. 281 EGMR (GK), Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, § 123 – Ramos Nunes de Carvalho e Sá. 282 EGMR (GK), Urt v 9.10.2003, 39665/98 ua, ECHR 2003-X, § 130 – Ezeh u Connors.
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genommen, wenn ersatzweise eine Freiheitsstrafe verhängt wird oder droht.283 Auch der Entzug der Berufsberechtigung als typische schwerste Sanktion des Disziplinarrechts freier Berufe begründet etwa die Anwendbarkeit des Art 6 unter strafrechtlichen Gesichtspunkten.284 65 Schließlich unterliegt auch der Begriff der Anklage („charge“) einer autonomen Interpretation im Sinne der Konvention; entscheidend ist, dass eine Entscheidung über die Anklage getroffen wird.285 Der EGMR geht davon aus, dass eine „criminal charge“ ab dem Zeitpunkt vorliegt, in dem die betroffene Person offiziell – entweder in Form der formellen Anklageerhebung oder in anderer offizieller Weise –286 von der zuständigen Behörde darüber informiert wird, dass ihr die Begehung einer Straftat vorgeworfen wird.287 Auf Verfahren, die die Überstellung von Verurteilten in ihr Heimatland zum dortigen Strafvollzug zum Gegenstand haben, ist Art 6 grundsätzlich nicht anwendbar. Eine Ausnahme besteht jedoch dann, wenn zwischen dem Überstellungsverfahren und dem Strafverfahren ein so enger Zusammenhang besteht, dass das Überstellungsverfahren als integraler Bestandteil des Strafverfahrens anzusehen ist.288 Ein Verfahren, in dem über die Bedingungen der speziellen präventiven Überwachung einer Person (zum Beispiel Ausgangsverbote; Verbote, Mobiltelefone zu nutzen; Verbot des Besuchs öffentlicher Veranstaltungen etc) entschieden wird, ist keine strafrechtliche Anklage im Sinne des Art 6 I, soweit es die Entscheidung über die strafrechtliche Anklage selbst nicht mit einschließt; es kann unter bestimmten Bedingungen aber eine Streitigkeit über „civil rights“ sein, weil die Überwachungsmaßnahmen unmittelbare und bedeutende Auswirkungen auf die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person haben.289 Ein Verfahren, in dem über die Unterbringung eines Minderjährigen nach Art 5 I lit d entschieden wird, ist ebenfalls eine strafrechtliche Anklage im Sinne des Art 6 I.290 66 Die EMRK garantiert kein Recht auf Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens; unter bestimmten Bedingungen kann Art 6 aber auf Verfahren außer-
283 EGMR, Urt v 22.5.1990, 11034/84, Series A, Vol 177, §§ 22, 34 – Weber. 284 Grabenwarter Verfahrensgarantien, S 100 f; österreichischer Verfassungsgerichtshof, G 181/86 ua, VfSlg 11.506/1987; die Rspr des EGMR lässt die Frage offen, ob Berufsverbote eine ausreichend schwere Strafe bilden, bejaht aber die Anwendbarkeit von Art 6 EMRK, da er in der Verhängung eines Berufsverbots eine Entscheidung über ein „civil right“ sieht; zB EGMR, 18160/91, Series A, Vol 325-A, § 28 – Diennet; 6878/75 ua, Series A, Vol 43, § 53 – Le Compte, Van Leuven u De Meyere. 285 Vgl EGMR (GK), Urt v 11.7.2017, 19867/12, §§ 64 ff – Moreira Ferreira (Nr 2). 286 EGMR, Urt v 27.2.1980, 6903/75, Series A, Vol 35, § 42 – Deweer. 287 EGMR, Urt v 27.2.1980, 6903/75, Series A, Vol 35, § 46 – Deweer. 288 EGMR, Urt v 1.4.2010, 27804/05, StV 2011, 430, § 42 – Buijen; Urt v 1.4.2010, 27801/05, § 41 – Smith. 289 EGMR (GK), Urt v 23.2.2017, 43395/09, §§ 143 ff – De Tommaso; EGMR, Urt v 9.4.2019, 11236/09, §§ 67 ff – Altay (Nr 2); s dazu auch EGMR, Urt v 13.3.2018, 32303/13 – Mirovni Institut. 290 EGMR (GK), Urt v 23.3.2016, 47152/06, §§ 179 ff – Blokhin.
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ordentlicher Rechtsbehelfe sowohl im Bereich der „civil rights“ als auch in jenem der „strafrechtlichen Anklagen“ anwendbar sein.291
b) Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht Das Recht auf Zugang zu einem auf Gesetz beruhenden, unabhängigen und un- 67 parteiischen Gericht („tribunal“) ist eine von Art 6 garantierte Organisationsgarantie. Der Begriff des „Gerichts“ wird autonom definiert; es kommt nicht auf die innerstaatliche Bezeichnung einer Einrichtung an, sondern es werden all jene Spruchkörper umfasst, die die Kompetenz haben, aufgrund eines geregelten und mit entsprechenden Garantien ausgestatteten Verfahrens nach rechtlichen Maßstäben verbindlich über den in Rede stehenden Anspruch zu entscheiden.292 Es muss zudem die für das Verfahren rechtserheblichen Tatsachen selbst ermitteln und den so festgestellten Sachverhalt unter die entsprechenden Rechtsvorschriften subsumieren können.293 Im Zweifel kann es für die Beurteilung auch auf die äußere Erscheinung der Einrichtung ankommen.294 Zudem darf die getroffene Entscheidung nicht durch ein außergerichtliches Organ zum Nachteil der betroffenen Partei außer Kraft gesetzt werden können.295 Der Gesetzesvorbehalt umfasst vor allem die Zusammensetzung des Gerichts, 68 seine Organisation im Übrigen, seine Zuständigkeit, die Geschäftsverteilung sowie die Rechte und Pflichten seiner Mitglieder.296 Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage schützt vor ad hoc-Zugriffen auf die Gerichtsorganisation durch die Exekutive und dient damit mittelbar der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Ge-
291 EGMR (GK), Urt v 5.2.2015, 22251/08, § 56 – Bochan (Nr 2); Urt v 11.7.2017, 19867/12, §§ 60 ff – Moreira Ferreira (Nr 2). 292 EGMR, Urt v 16.7.1971, 2614/65, Series A, Vol 13, § 95 – Ringeisen; Urt v 28.6.1987, 7819/77 ua, Series A, Vol 80, § 76 – Campbell u Fell; EGMR (Pl), Urt v 22.10.1984, 8790/79, Series A, Vol 84, § 36 – Sramek; Urt v 29.4.1988, 10328/83, Series A, Vol 132, § 64 – Belilos. 293 EGMR, Urt v 23.9.1982, 7151/75 ua, Series A, Vol 52, § 86 – Sporrong u Lönnroth; Urt v 28.6.1987, 7819/77 ua, Series A, Vol 80, § 80 – Campbell u Fell; EGMR (Pl), Urt v 23.10.1985, 8848/80, Series A, Vol 97, § 40 – Benthem; EGMR, Urt 21.9.1993, 12235/86, Series A, Vol 268-A, § 32 – Zumtobel; Urt v 21.7.2001, 32181/04 ua, § 154 – Sigma Radio Television Ltd. 294 EGMR, Urt v 29.4.1988, 10328/83, 10328/83, Series A, Vol 132, § 67 – Belilos, in dem darauf abgestellt wurde, wie die betreffende Person, die Mitglied der Polizei war, von den Durchschnittsbürgern wahrgenommen wird. 295 EGMR, Urt v 22.5.1998, 27053/95, Rep 1998-III, §§ 39 ff – Vasilescu; EGMR (GK), Urt v 28.10.1999, 28342/95, ECHR 1999-VII, § 63 – Brumărescu; ebenso EGMR, Urt v 15.2.2005, 38784/97, ECHR 2002-I, § 73 – Morris. 296 EGMR, Urt v 10.6.2010, 1555/04, § 146 – Zakharkin; Urt v 12.1.2016, 57774/13, §§ 47 ff – Miracle Europe Kft; EGMR (GK), Urt v 1.12.2020, 26374/18, §§ 211 ff – Guðmundur Andri Ástráðsson.
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richts.297 Nicht jede Unregelmäßigkeit bei der Besetzung von Gerichten stellt eine Verletzung von Art 6 I dar; es muss eine gewisse Schwelle überschritten werden; hierzu muss geprüft werden, ob ein schwerwiegender Verstoß gegen innerstaatliches Recht vorliegt, wie dieser Verstoß im Lichte von Ziel und Funktion des Gesetzesvorbehalts aus Art 6 I zu bewerten ist und inwieweit die innerstaatlichen Gerichte eine gerechte Abwägung der widerstreitenden Interessen vorgenommen haben.298 69 Innerhalb des vorgesehenen Rahmens kann hingegen auch die Exekutive dazu ermächtigt werden, Detailfragen selbst in Verordnungen zu regeln.299 Art 6 steht der Einrichtung von Schiedsgerichten nicht grundsätzlich entgegen.300 Die Zusammensetzung eines Schiedsgerichts ist unter bestimmten Bedingungen auch an den Anforderungen des Art 6 zu messen.301 70 Die Unabhängigkeit des Gerichts setzt die (grundsätzliche) Unabsetzbarkeit der Mitglieder, ihre Unversetzbarkeit, ihre Weisungsfreiheit und eine bestimmte Mindestamtsdauer voraus.302 Während der Dauer ihrer Amtszeit dürfen die Richter nur ausnahmsweise und aufgrund besonderer Umstände, die in genau definierten Tatbeständen festgelegt sind, absetzbar sein.303 Die Unabhängigkeit ist zugleich auch eine Voraussetzung der Unparteilichkeit eines Gerichts;304 die Konzepte der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit sind eng verknüpft und bedürfen unter bestimmten Bedingungen der gemeinsamen Prüfung im Einzelfall.305 71 Unparteiisch ist ein Gericht nur dann, wenn weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht eine Befangenheit der Richter des betreffenden Gerichts gegeben ist. Die subjektive Prüfung stellt auf die persönliche Beziehung zwischen der konkreten Richterin und der Partei des Verfahrens ab; die Unparteilichkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet. Der Betroffene kann auf die Unparteilichkeit des Gerichts verzichten.306 Eine rassistische Bemerkung eines Mitglieds des Gerichts gegenüber dem Angeklagten in einem Verfahren kann die Unparteilichkeit in
297 EGMR, Urt v 12.1.2016, 57774/13, § 51 – Miracle Europe Kft; EGMR (GK), Urt v 1.12.2020, 26374/18, §§ 231 ff – Guðmundur Andri Ástráðsson. 298 EGMR (GK), Urt v 1.12.2020, 26374/18, §§ 243 ff – Guðmundur Andri Ástráðsson. 299 EGMR, Urt v 5.10.2010, 19334/03, § 60 – DMD Group, A.S. 300 EGMR, Urt v 28.10.2010, 1643/06 – Suda; Urt v 2.10.2018, 40575/10 ua – Mutu u Pechstein. 301 EGMR, Urt v 2.10.2018, 40575/10 ua, §§ 56 ff – Mutu u Pechstein. 302 EGMR, Urt v 18.10.2018, 80018/12, §§ 71 ff – Thiam. 303 EGMR, Urt v 21.7.2009, 34197/02, § 44 – Luka; Urt v 30.11.2010, 23614/08, § 53 – Henryk Urban u Ryszard Urban. 304 Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 6, § 213; EGMR, Urt v 12.1.2016, 57774/13, § 55 – Miracle Europe Kft. 305 EGMR (GK), Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, § 150 – Ramos Nunes de Carvalho e Sá. 306 Näheres dazu bei Grabenwarter/Pabel EMRK, § 18 Rn 32 f.
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dieser Hinsicht zum Beispiel ausschließen.307 Die objektive Prüfung abstrahiert von den Einzelpersonen und fragt abstrakt, ob nach den Organisations- und Verfahrensvorschriften,308 insb nach den Regelungen der Zusammensetzung entscheidender Gerichte309 sowie nach der Reichweite und Natur der von einem Richter im Vorfeld des Verfahrens gesetzten Maßnahmen, eine Befangenheit angenommen werden muss.310 Der Zweck der Garantie ist der Erhalt des Vertrauens, das die Öffentlichkeit den Gerichten in einer demokratischen Gesellschaft entgegenbringen muss.311 Es verstößt etwa gegen das Gebot eines unabhängigen und unparteilichen Gerichts, wenn für bestimmte Fälle bereits zuständige Richterinnen ohne gesetzliche Grundlage und ohne verfahrensrechtliche Sicherung ersetzt werden.312 Es liegt eine solche Verletzung auch vor, wenn das innerstaatliche Recht enge Verwandtschaftsverhältnisse – zum Beispiel solche zwischen Geschwistern – nicht als Fall der Parteilichkeit einordnet.313 Zweifel an der Unparteilichkeit eines Gerichts in Strafverfahren bestehen auch dann, wenn die Funktionen der Anklage und des Richters nicht klar zugeordnet sind,314 wenn etwa die Staatsanwältin als Vertreterin der Anklage am Hauptverfahren nicht teilnimmt und die Richterin dessen Aufgaben wahrnimmt.315 Geschworenengerichte sind grundsätzlich mit Art 6 vereinbar; es bedarf aber hinreichender Verfahrensgarantien zur Sicherung vor Willkür.316 Schließlich muss das Gericht über hinreichende Entscheidungsbefugnisse in 72 Rechts- und Tatsachenfragen verfügen.317 Zur Beurteilung der hinreichenden Kontrollbefugnis müssen neben den gesetzlich normierten Befugnissen v a folgende
307 EGMR, Urt v 23.4.1996, 16839/90, Rep 1996-II, §§ 47 f – Remli. 308 Vgl dazu EGMR (GK), Urt v 16.7.2013, 29369/10, ECHR 2015-II, § 89 – Morice; EGMR, Urt v 2.6.2016, 45959/09, §§ 48 ff – Mitrov; Urt v 4.6.2019, 39757/15, §§ 55 ff – Sigurður Einarsson ua; Urt v 3.10.2019, 55225/14, §§ 55 ff – Pastörs. 309 Vgl dazu EGMR (GK), Urt v 25.9.2018, 76639/11 §§ 60 ff – Denisov; Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, §§ 157 ff – Ramos Nunes de Carvalho e Sá. 310 EGMR, Urt v 26.10.1984, 9186/80, Series A, Vol 86, § 26 – De Cubber; 34130/96, Urt v 6.6.2000, ECHR 2000-VI, § 45 – Morel; s dazu auch EGMR, Urt v 10.8.2006, 75737/01, §§ 43 ff – Schwarzenberger; EGMR (GK), 17056/06, ECHR 2009-V, § 98 – Micallef. 311 EGMR, Urt v 21.6.2018, 5734/14, §§ 47 ff – Aviso Zeta AG. 312 EGMR, Urt v 9.10.2008, 62936/00, §§ 177 ff – Moiseyev. 313 EGMR (GK), Urt v 15.10.2009, 17056/06, ECHR 2009-V, § 100 – Micallef. 314 Vgl für Verwaltungsverfahren vergleichbar EGMR, Urt v 20.9.2016, 926/08, §§ 51 ff – Karelin; Urt v 13.2.2018, 5865/07, §§ 82 ff – Butkevich. 315 EGMR, Urt v 18.5.2010, 64962/01, §§ 50, 54 – Ozerov. 316 EGMR, Urt v 21.7.2015, 38369/09, §§ 41 ff – Schipani ua; EGMR (GK), Urt v 29.11.2016, 34238/09 – Lhermitte. 317 Vgl EGMR, Urt v 21.9.1993, 12235/86, Series A, Vol 268-A, § 29 – Zumtobel; EGMR (GK), Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, § 176 – Ramos Nunes de Carvalho e Sá.
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Punkte überprüft werden können: der Gegenstand der Verwaltungsentscheidung, die Gewährleistung der Verfahrensgarantien im Verfahren zum Erlass des Verwaltungsakts sowie der Gegenstand der Auseinandersetzung einschließlich der konkreten Rechtsmittelgründe.318 Ob ein Gericht eine die Anforderungen des Art 6 erfüllende hinreichende Entscheidungsbefugnis hat, entscheidet der EGMR auf der Grundlage einer autonomen Begriffsauslegung im Lichte von Gegenstand und Ziel der EMRK, die grundsätzlich unabhängig von der rechtlichen Einordnung des Gerichts im innerstaatlichen Recht beurteilt wird.319 Der EGMR stellt insofern eine umfassende Beurteilung der Befugnisse und der Rechtsprechung des jeweiligen Gerichts an, um dessen Entscheidungsbefugnis zu prüfen.320 73 Das Recht auf Zugang zu Gericht ist nicht absolut gewährleistet; Beschränkungen sind zulässig, soweit sie ein legitimes Ziel verfolgen und im Sinne einer Verhältnismäßigkeit ein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und den damit angestrebten Zielen besteht. Dabei darf der Wesensgehalt („very essence“) des Rechts jedenfalls nicht verletzt werden.321 74 Für die Fragen nach den legitimen Zielen und der Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung betont der EGMR die Notwendigkeit der umfassenden Berücksichtigung der Umstände eines jeden Einzelfalls.322 Beschränkungen des Zugangs zu Gericht können Ziele verfolgen, die sich je nach Art der Beschränkung, je nach Art des Gerichts und je nach der betroffenen Rechtsordnung unterscheiden können. Sie können im Schutz vor missbräuchlichen und wiederholten Klagen323 oder einer Überbelastung des Gerichts324 ebenso liegen wie in der Vermeidung eines Durcheinanders von Rechtsbehelfen einer Vielzahl von Aktionären im Falle einer weitreichenden Verstaatlichungsmaßnahme325 oder in der Sicherung der Unabhängigkeit des Berichtswesens von Kontrollorganen über die Geschäftsführung von bestimmten Kapitalgesellschaften326. Eine weitere Gruppe möglicher Beschränkungen bilden die Bedingungen, die das innerstaatliche Verfahrensrecht für die Zu-
318 EGMR, Urt v 21.7.2011, 32181/04, § 154 – Sigma Radio Television Ltd; Urt v 27.9.2011, 43509/08, §§ 64 ff – Menarini Diagnostics S.R.L. 319 EGMR (GK), Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, § 177 – Ramos Nunes de Carvalho e Sá. 320 EGMR (GK), Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, §§ 195 ff – Ramos Nunes de Carvalho e Sá. 321 EGMR, Urt v 28.5.1985, 8225/78, Series A, Vol 93, § 57 – Ashingdane; Urt v 27.8.1991, 12750/87 ua, Series A, Vol 209, § 59 – Philis; EGMR (GK), Urt v 23.6.2016, 20261/12, § 121 – Baka; Urt v 21.6.2016, 5809/08, §§ 129, 151 – Al-Dulimi u Montana Management Inc. 322 EGMR, Urt v 21.2.1975, 4451/70, Series A, Vol 18, § 38 – Golder. 323 EGMR, Urt v 28.5.1985, 8225/78, Series A, Vol 93, § 58 – Ashingdane. 324 EGMR, Urt v 27.11.2012, 37569/06, § 43 – Bayar u Gürbüz. 325 EGMR, Urt v 8.7.1986, 9006/80 ua, Series A, Vol 102, § 197 – Lithgow ua. 326 EGMR, Urt v 21.9.1994, 17101/90, Series A, Vol 294-B, § 70 – Fayed.
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lässigkeit von Klagen oder Rechtsmitteln,327 wie Fristen,328 (absoluter oder relativer) Anwaltszwang,329 Gebühren,330 Formvorschriften,331 ratione valoris-Beschränkungen,332 Genehmigungen für die Prozessführung333 oder Sicherheiten für Kosten oder Klageerhebungsgebühren334 aufstellt. Auch Verwirkungs- oder Verjährungsfristen, sind grundsätzlich zulässig; sie verfolgen die legitimen Ziele der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens, müssen allerdings verhältnismäßig angewendet werden.335 Die Anwendung der Gesetze zu Verjährungs- und Ausschlussfristen müssten in diesem Sinne zum Beispiel dem Umstand Rechnung tragen, dass es einer Person nach wissenschaftlichen Erkenntnissen unmöglich ist zu wissen, dass sie unter einer bestimmten Krankheit leidet; andernfalls könnten sie unter bestimmten Bedingungen den Wesensgehalt des Art 6 I verletzen.336 Ein übermäßiger Formalismus bei der Anwendung des Verfahrensrechts kann zur Verletzung des Rechts eines Betroffenen auf Zugang zu einem Gericht führen; ob ein solcher im Einzelfall vorliegt, ist in einer abwägenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falls zu beurteilen; der EGMR betont insbesondere die Bedeutung der Rechtsicherheit, die gegen eine allzu flexible Anwendung verfahrensrechtlicher Beschränkungen des Zugangs zu gerichtlichen Verfahren streitet und den Interessen an einem effektiven und wirksamen Recht auf Zugang zu Gerichten
327 EGMR, Urt v. 7.4.2009, 28426/06, §§ 77 ff – Mendel (Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung und eines Hinweises auf zulässige Rechtsbehelfe); Urt v 9.12.2010, 35123/05, §§ 55 ff – Urbanek (Hinterlegung einer bereits verhängten Geldbuße als Voraussetzung für das Einbringen eines Rechtsmittels); Urt v 15.9.2011, 17080/07, EuGRZ 2011, 565 – Schneider; EGMR (GK), Urt v 5.4.2018, 40160/12, §§ 82 ff – Zubac (Wertgrenzen als Zulässigkeitsvoraussetzung für außerordentliche Rechtsmittel zur Anrufung von innerstaatlichen Höchstgerichten). 328 EGMR, Urt v 10.7.2001, 40472/98, §§ 29 ff – Tricard; Urt v 16.3.2010, 25083/05, §§ 27 ff – Mamikonyan; Urt v 12.10.2010, 35836/05, § 58 – Adamicek (Zu kurz bemessene Rechtsmittelfristen für die Einlegung einer Revision stellen eine Verletzung von Art 6 dar); Urt v 22.11.2011, 48132/07, §§ 65 ff – Andreyev (Verletzung von Art 6, wenn ein Rechtsanwalt ein Fristversäumnis verschuldet und das innerstaatliche Recht für diese Fälle keinerlei Möglichkeit der Wiedereinsetzung vorsieht). 329 EGMR (GK), Urt v 4.4.2018, 56402/12, NJW 2019, 3627, §§ 115 ff – Correia de Matos. 330 EGMR, Urt v 30.6.2016, 56778/10, § 37 – Foltis; Urt v 9.1.2018, 35294/11, §§ 59 ff – Gabriela Kaiser. 331 EGMR, Urt v 29.3.2011, 50084/06, ECHR 2011-III, §§ 71 ff – RTBF (Verletzung von Art 6, wenn ein streng formalistisches Verfahren zu einer Unzulässigkeit einer Klage führt, obwohl die Beschwerdeführerin für die Nichteinhaltung der Formvorschriften nicht verantwortlich ist). 332 EGMR (GK), Urt v 15.3.2018, 51357/07, §§ 82 ff – Naït-Liman. 333 EGMR, Urt v 28.5.1985, 8225/78, Series A, Vol 93, § 59 – Ashingdane. 334 EGMR, Urt v 19.6.2001, 28249/95, ECHR 2001-VI, §§ 61 ff – Kreuz (Einhebung einer Klageerhebungsgebühr in der Höhe eines durchschnittlichen Jahresgehalts als unverhältnismäßige Erschwerung des Zugangs zu Gericht). 335 EGMR, Urt v 11.3.2014, 52067/10 ua, NVwZ 2015, 205, §§ 72 f – Howald Moor ua. 336 EGMR, Urt v 11.3.2014, 52067/10 ua, NVwZ 2015, 205, §§ 74 ff – Howald Moor ua.
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gegenüberzustellen ist.337 Ferner können auch völkerrechtliche Immunitäten338 und die parlamentarische Immunität339 eine angemessene Beschränkung des Zugangs zu Gericht bilden. Die Förderung des Handels und der wirtschaftlichen Entwicklung eines Mitgliedstaates kann ebenfalls ein legitimes Ziel zur Beschränkung des Gerichtszugangs darstellen.340 Die Verhängung einer Missbrauchsgebühr führt grundsätzlich nicht zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in Art 6:341 Sie kann unter Umständen dem legitimen Ziel der Sicherung einer funktionsfähigen Justiz und der Rechte anderer dienen, darf jedoch im Einzelfall hinsichtlich ihrer Höhe nicht außer Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel stehen.342 75 Lehnt ein Gericht eine Vorlage an den EuGH gemäß Art 267 AEUV trotz eines Antrags dahingehend ab, ist es aus Art 6 verpflichtet, die Gründe für diese Ablehnung in seiner Entscheidung darzulegen.343 Art 6 gewährleistet kein Recht auf einen Instanzenzug; wenn ein Mitgliedstaat einen solchen aber einrichtet, dann muss vor jedem der beteiligten Gerichte ein Verfahren stattfinden, welches den Anforderungen des Art 6 genügt.344 Die Nichtzulassung eines innerstaatlichen Rechtsmittels durch ein Gericht kann unter bestimmten Bedingungen auch einer Begründungspflicht unterliegen.345 Der Verzicht auf Rechtsmittel gegen Entscheidungen im Rahmen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ist ebenfalls an Art 6 EMRK zu messen, kann aber unter Umständen zulässig sein.346 76 Die Umsetzung eines Urteils ist wesentlicher Bestandteil des Verfahrens im Sinne des Art 6.347 Jede Einschränkung in der Umsetzung eines Urteils bzw einer Entscheidung muss daher dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Das Recht auf Zugang zu einem Gericht läuft leer, wenn es das innerstaatliche Recht zulässt, dass
337 EGMR (GK), Urt v 5.4.2018, 40160/12, §§ 98 f – Zubac. 338 EGMR (GK), Urt v 18.2.1999, 26083/94, ECHR 1999-I – Waite u Kennedy; EGMR, Ent v 11.6.2013, 65542/12, ECHR 2013-III – Stichting Mothers of Srebrenica ua; Ent v 6.1.2015, 415/07 – Klausecker; EGMR (GK), Urt v 21.6.2016, 5809/08 – Al-Dulimi u Montana Management Inc; EGMR, Urt v 5.2.2019, 16874/12 – Ndayegamiye-Mporamazina. 339 EGMR (GK), 8917/05, ECHR 2009-VI, § 81 – Kart. 340 EGMR, Urt v 15.10.2009, 32921/03 ua, § 98 – Kohlhofer u Minarik. 341 Missbrauchsgebühr des BVerfG in Höhe von 250 Euro; EGMR, Ent v 13.10.2009, 4041/06 – Matterne. 342 EGMR, Urt v 22.10.2013, 20577/05, §§ 30 ff – Sace Elektrik Ticaret Ve Sanayi A.Ş. 343 EGMR, Urt v 8.4.2014, 17120/09, NVwZ-RR 2015, 546, § 31 – Dhahbi; Urt v 21.7.2015, 38369/09, §§ 41 ff – Schipani ua; Urt v 24.4.2018, 55385/14, § 39 – Baydar; Urt v 11.4.2019, 50053/16, NJW 2020, 1943, § 36 – Harisch. 344 EGMR, Urt v 17.1.1970, 2689/65, Series A, Vol 11, §§ 25 ff – Delcourt; s hierzu EGMR, Urt v 3.11.2011, 29090/06, NJW 2012, 3419, §§ 37 ff – Litwin; Urt v 25.7.2017, 2945/16, §§ 67 f – Khlebik. 345 EGMR, Urt v 2.10.2014, 15319/09, NLMR 2014, 402 – Hansen. 346 EGMR, Ent v 1.3.2016, 41069/12 – Tabbane. 347 EGMR, Urt v 24.9.2013, 43870/04, § 66 – De Luca.
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ein endgültiges und verbindliches Urteil zum Nachteil einer Partei unwirksam bleibt und eine Bindungswirkung nicht eintritt.348
c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens Das Recht, „in billiger Weise“ gehört zu werden, bringt den Grundsatz des fairen 77 Verfahrens („fair hearing“) zum Ausdruck. Es beinhaltet eine Vielzahl von Teilgarantien, die alle auf das Ziel eines Verfahrensablaufs gerichtet sind, in dem die Parteien unter im Wesentlichen gleichartigen Bedingungen ihren Prozessstandpunkt vertreten können.349 Zum Fairnessgrundsatz gehören unterschiedliche Teilgewährleistungen, wie 78 der Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Akteneinsicht,350 der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie das Recht auf Begründungvon Entscheidungen351. Daneben werden Rechte des Angeklagten als Ausdruck des Fairnessgebots angesehen, die einerseits in Art 6 III und II EMRK verankert sind und andererseits in der Rspr entwickelt wurden, wie zB der Grundsatz des nemo tenetur. Das Verhältnis zwischen den Teilgewährleistungen und dem Gebot eines fairen Verfahrens wird unterschiedlich gehandhabt: In manchen Fällen stellt der EGMR fest, dass das betreffende Verfahren insgesamt nicht den Erfordernissen eines fairen Verfahrens genügt, ohne eine der Teilgarantien speziell als verletzt zu erachten;352 in anderen zieht er den Grundsatz des fairen Verfahrens in Zusammenschau mit einer der in Art 6 I ausdrücklich gewährleisteten Garantien als Prüfungsmaßstab heran und kombiniert so die Verletzung von Teilgarantien mit der Feststellung der mangelnden Fairness des Verfahrens.353 Der Grundsatz der fairen Verfahrens kann – wegen Verletzung des Prinzips der Rechtssicherheit – etwa auch verletzt sein, soweit es in der Rechtsprechung eines innerstaatlichen Höchstgerichts tiefgreifende und langanhaltende Divergenzen gibt und vorhandene Mechanismen zu Vermeidung von Rechtsprechungskonflikten und Sicherstellung einheitlicher Rechtsprechung nicht
348 Vgl dazu EGMR, Urt v 6.10.2011, 23465/03 – Agrokompleks. 349 Kühne in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art 6, § 357; vgl dazu EGMR (GK), Urt v 29.11.2016, 34238/09 – Lhermitte. 350 Vgl dazu EGMR, Urt v 4.6.2019, 39757/15 –Sigurður Einarsson ua. 351 EGMR (GK), Urt v 11.7.2017, 19867/12, § 84 – Moreira Ferreira (Nr 2); EGMR, Urt v 19.12.2017, 78477/11 – Ramda. 352 So etwa in EGMR, Urt v 12.6.2003, 35968/97, ECHR 2003-VII, §§ 55 ff, 62 ff – Van Kück; vgl auch EGMR, Urt v 8.1.2009, 29002/06, § 57 – Schlumpf. 353 So etwa EGMR, Urt v 20.10.2005, 69889/01, § 29 – Groshev; EGMR (GK), Urt v 11.7.2006, 54810/00, ECHR 2006-IX, §§ 109 ff – Jalloh; Urt v 9.11.2018, 71409/10, NJW 2019, 1999 – Beuze; zum Verhältnis zwischen allgem Grundsatz und den Teilgarantien s auch Trechsel Human Rights 2005, 86 ff; Gaede FS Fezer, 2008, S 21 (35).
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angewandt werden.354 Die Vollstreckung eines Urteils eines anderen Staates ist wegen Verstoßes gegen Art 6 unzulässig, soweit die betroffene Person in dem Staat, in dem sie verurteilt wurde, keine Möglichkeit hatte, die Unfairness des Verfahrens geltend zu machen und überprüfen zu lassen.355 Verständigungen im Strafverfahren können, soweit die Entscheidung dazu von der betroffenen Person bewusst und freiwillig getroffen wird und begleitend hinreichende Verfahrensgarantien gewährleistet werden, mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar sein.356 Die Verwertung von Geständnissen oder Sachbeweisen, die unter Verletzung von Art 3 erlangt wurden, verletzt das Gebot eines fairen Verfahrens; dies gilt auch dann, wenn die Beweise nur indirekt unter Verletzung von Art 3 erlangt wurden; es muss allerdings eine kausale Verbindung zwischen den verbotenen Beweiserhebungsmethoden und der Verurteilung und Strafmaßfestsetzung bestehen.357
aa) Der Grundsatz der Waffengleichheit 79 Der Grundsatz der Waffengleichheit ist ebenfalls Bestandteil des Fairnessgebots
des Art 6 I EMRK; stellt aber gleichzeitig auch eine besondere Ausprägung des Gleichheitssatzes dar.358 Danach muss jede Partei Gelegenheit haben, ihren Fall einschließlich ihrer Beweise zu präsentieren, und zwar unter Bedingungen, die keinen wesentlichen Nachteil gegenüber ihrem Gegner darstellen.359 Das bedeutet, dass die einander gegenüberstehenden Parteien verfahrensrechtlich grundsätzlich gleichgestellt werden müssen.360 Es kommt nicht darauf an, ob die Gegenpartei den Vorteil tatsächlich ausgenutzt hat, sondern ob ein solcher abstrakt besteht, und ob dieser von der Partei ausgenutzt werden könnte.361 Am Grundsatz der Waffen-
354 EGMR (GK), Urt v 29.11.2016, 76943/11, § 134 – Lupeni Greek Catholic Parish ua. 355 EGMR (GK), Urt v 23.5.2016, 17502/07, NJOZ 2018, 1515 – Avotiņš. 356 Vgl dazu EGMR, Urt v 29.4.2014, 9043/05, ECHR 2014-II – Natsvlishvili u Togonidze. 357 EGMR (GK), Urt v 1.6.2010, 22978/05, ECHR 2010-IV, §§ 166, 173, 178 – Gäfgen; Grabenwarter, NJW 2010, 3128 (3131 f); Lubig/Sprenger, ZIS 2008, 433 (438); Beernaert, RTDH 2007, 81 (90); vgl hierzu aus der neueren Rechtsprechung EGMR, Urt v 24.1.2012, 22926/04, §§ 142 ff – Iordan Petrov; Urt v 25.9.2012, 649/08, § 88 – El Haski, s auch EGMR, Urt v 3.3.2016, 7215/10, NJW 2017, 2811, §§ 32 ff – Prade (Beweise, die unter Verletzung des Hausrechts erlangt wurden). 358 Vgl Grabenwarter Verfahrensgarantien, S 596 f. 359 EGMR, Urt v 27.10.1993, 14448/88, Series A, Vol 274, § 33 – Dombo Beheer B.V.; Urt v 23.10.1996, 17748/91, Rep 1996-V, § 38 – Ankerl; vgl EGMR, Urt v 22.1.2019, 65048/13, §§ 50 ff – Rivera Vazquez u Calleja Delsordo; s Müller, EuGRZ 2019, 297. 360 EGMR, Ent v 4.5.2010, 11603/06 – Massmann; EGMR (GK), Urt v 19.9.2017, 35289/11, §§ 146 ff – Regner; Marsch/Sanders, EuR 2008, 345 (358 ff). 361 EGMR (Pl), Urt v 30.10.1991, 12005/86, Series A, Vol 214-B, §§ 27 f – Borgers; vgl aber EGMR, Urt v 4.10.2007, 16290/04, §§ 32 ff – Corcuff; s EGMR, Urt v 18.10.2018, 80018/12, §§ 63 ff – Thiam.
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gleichheit ist etwa auch der Einsatz verdeckter Ermittler im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren362 sowie die zum Schutz der nationalen Sicherheit vorgenommene Geheimhaltung und Verwehrung der Akteneinsicht hinsichtlich bestimmter Informationen, auf deren Grundlage ein Verfahren geführt wird,363 zu messen.
bb) Anspruch auf rechtliches Gehör Aus Art 6 EMRK folgt auch eine Garantie auf Gewährung rechtlichen Gehörs. 80 Voraussetzung für die effektive Ausübung dessen ist es, dass die Parteien des Verfahrens gleichermaßen Kenntnis vom Akteninhalt, insb von den von der jeweils gegnerischen Partei vorgebrachten Stellungnahmen und Beweismitteln haben.364 Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, auch unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit, über welche Möglichkeiten der Stellungnahme die Gegenseite verfügte; gab es hier einen Wissensvorsprung einer Partei gegenüber den anderen Parteien und konnte diese folglich weitergehende Stellungnahmerechte ausüben, so bedeutet dies regelmäßig eine Verletzung des Art 6.365 Unerheblich ist, ob die Beweismittel für den Angeklagten günstig oder ungünstig erscheinen; es ist Sache der Verteidigung zu entscheiden, ob auf diese reagiert wird oder nicht.366 Die Garantie rechtlichen Gehörs ist verletzt, wenn nach einem Freispruch durch ein erstinstanzliches Gericht, das die betroffene Person angehört hatte, eine Verurteilung durch ein zweitinstanzliches Gericht allein aufgrund der Aktenlage erfolgt.367 Werden dem Angeklagten bestimmte Beweismittel wegen des Schutzes wider- 81 streitender Interessen, wie etwa jenen der öffentlichen Sicherheit oder des Schutzes von Zeugen, nicht offengelegt, so muss durch die Einhaltung verfahrensrechtlicher Garantien insgesamt sichergestellt werden, dass dem Angeklagten ein faires Verfahren zuteil wird.368 Die Zurückhaltung bestimmter Beweismittel aus den genannten Gründen ist nur unter der Voraussetzung zwingender Notwendigkeit möglich.369 Ebenso muss es dem Betroffenen möglich sein, die Authentizität und die
362 EGMR (GK), Urt v 5.2.2008, 74420/01, ECHR 2008-I – Ramanauskas; EGMR, Urt v 24.4.2014, 19678/ 07 ua – Lagutin ua; Urt v 23.11.2017, 47074/12 – Grba; Ent v 5.2.2019, 13573/14 – Tepra. 363 EGMR (GK), Urt v 19.9.2017, 35289/11 – Regner. 364 EGMR, Urt v 28.8.1993, 11170/84 ua, Series A, Vol 211, §§ 66 f – Brandstetter; EGMR (Pl), Urt v 26.6.1993, 12952/87, Series A, Vol 262, § 63 – Ruiz-Mateos; EGMR, Urt v 23.5.2017, 67496/10 ua, §§ 67 f – Van Wesenbeeck; Urt v 4.6.2019, 39757/15, §§ 85 ff – Sigurður Einarsson ua. 365 EGMR (Pl), Urt v 26.6.1993, 12952/87, Series A, Vol 262, § 67 – Ruiz-Mateos. 366 EGMR, Urt v 15.1.2009, 8927/02, § 44 – Sharomov. 367 EGMR, Urt v 24.4.2018, 55116/12, §§ 40 ff – Ovidiu Cristian Stoica. 368 EGMR (GK), Urt v 16.2.2000, 28901/95, ECHR 2000-II, § 61 – Rowe u Davis; EGMR, Urt v 19.6.2001, 36533/97, §§ 40 f – Atlan. 369 EGMR (GK), Urt v 16.2.2000, 27052/95, § 52 – Jasper; EGMR, Urt v 6.7.2010, 35601/04, § 52 – Pocius.
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Verwendung von Beweismitteln, die unter Bruch eines anderen Konventionsrechts erlangt worden sind, in allen Verfahrensstadien in Frage zu stellen.370 82 Mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist auch der Anspruch auf Begründung der Entscheidungen verbunden. Das Ausmaß der Begründungspflicht hängt dabei entscheidend von der konkreten Verfahrenssituation und dem innerstaatlichen Rechtssystem, insbesondere der konkreten Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips in Bezug darauf, ab.371 Im Strafverfahren muss die Begründung eines Urteils durch jenen Richter vorgenommen werden, der in der Hauptverhandlung anwesend war und das Urteil mündlich verkündet hat.372 Aus der Perspektive der Verfahrenssituation ist maßgeblich, welches Parteivorbringen im Verfahren erfolgte, ob es sich um eine Entscheidung erster oder höherer Instanz handelte und wie bestimmt die angewendeten gesetzlichen Bestimmungen sind. Bei Ermessensentscheidungen ist die Begründungspflicht regelmäßig höher als bei gebundenen Entscheidungen.373 Das innerstaatliche Recht muss zudem, um Art 6 zu genügen, Regelungen vorsehen, die bei Auslegungsschwierigkeiten zu deren Lösung anzuwenden sind.374
cc) Besondere Rechte des Angeklagten 83 Art 6 III EMRK enthält eine demonstrative Aufzählung von Rechten des Ange-
klagten.375 Diese Rechte sind ihrerseits jeweils Bestandteile des Konzepts des fairen Verfahrens nach Art 6 I.376 Sie sind allesamt vom Gedanken der Effektivität der Verteidigung geprägt,377 sei es, dass ein bestimmtes Zeitmoment normiert
370 EGMR, Urt v 28.2.2019, 35394/97, ECHR 2000-V, §§ 38 ff – Khan. 371 EGMR, Urt v 9.12.1994, 18064/91, Series A, Vol 303-B, § 27 – Hiro Balani. 372 EGMR, Urt v 7.3.2017, 68939/12 ua, §§ 38 ff – Cerovšek u Božičnik. 373 EGMR (Pl), Urt v 30.11.1987, 8950/80, Series A, Vol 127-B, § 53 – H./Belgien; EGMR, Urt v 23.6.1993, 16997/90, Series A, Vol 292-A, § 55 – De Moor. 374 EGMR, Urt v 6.12.2007, 30658/05, ECHR 2007-V, §§ 33 ff – Beian; EGMR (GK), Urt v 20.10.2011, 13279/05 – Nedjet Şahin u Perihan Şahin, NJOZ 2012, 2243, §§ 88 ff; Urt v 29.11.2016, 76943/11, §§ 116 ff – Lupeni Greek Catholic Parish ua. 375 Ein systematischer Vergleich zwischen den Verfahrensgarantien im dt Strafprozess und den Gewährleistungen der EMRK findet sich bei Eisele, JR 2004, 12 ff. 376 Vgl dazu EGMR (GK), Urt v 20.10.2015, 25703/11, ECHR 2015-VI, §§ 103 ff – Dvorski; Urt v 13.9.2016, 50541/08 ua, NJOZ 2018, 508 – Ibrahim ua; Urt v 12.5.2017, 21980/04 – Simeonovi; EGMR, Urt v 23.5.2019, 51979/17, §§ 75 ff – Doyle. 377 Vgl EGMR, Urt v 25.7.2013, 11082/06 ua – Khodorkovskiy u Lebedev; EGMR (GK), Urt v 15.12.2015, 9154/10, ECHR 2015-VIII – Schatschaschwili; s dazu Nußberger, EuGRZ 2017, 633; EGMR (GK), Urt v 4.4.2018, 56402/12, NJW 2019, 3627 – Correia de Matos (zum Recht eines Rechtsanwalts, sich selbst im Strafverfahren verteidigen zu dürfen).
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ist,378 sei es, dass Nachteile aus Sprachproblemen des Angeklagten hintangehalten werden,379 sei es, dass der Kontakt mit dem Verteidiger sichergestellt wird,380 sei es, dass ökonomische Nachteile für die Verteidigung ausgeglichen werden381 oder sei es, dass die Effektivität der Rechte des Angeklagten und die Waffengleichheit in der Hauptverhandlung sichergestellt werden.382 Nach Art 6 III lit d EMRK hat der Angeklagte im Zusammenhang mit dem Zeu- 84 gen- und Sachverständigenbeweis das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken.383 Bei der Ermittlung der Pflichten des Gerichts zur Ladung von Zeugen und Sachverständigen ist zu fragen, ob die Unterlassung einer Ladung oder die Zulassung von Fragerechten durch das Gericht durch legitime Gründe gerechtfertigt werden kann.384 Dabei ist zwischen dem Gewicht dieser Gründe und den Nachteilen für den Angeklagten abzuwägen.385 Zu den Rechten des Angeklagten gehört auch das Recht, zu schweigen und sich 85 nicht selbst zu beschuldigen („nemo tenetur“), das im dt Recht in § 136 I 2 StPO positiviert ist und in der Menschenwürde nach Art 1 I GG wurzelt.386 Der „nemo tene-
378 Recht auf Information über Art und Grund der Beschuldigung in möglichst kurzer Frist – Art 6 III lit a; Recht auf Verfügung über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung – Art 6 III lit b (EGMR, Urt v 25.7.2013, 11082/06 ua, §§ 579 ff – Khodorkovskiy u Lebedev; Urt v 25.7.2019, 1586/15, NJW 2020, 3019, §§ 65 ff – Rook. 379 Recht auf Information über Art und Grund der Beschuldigung in „verständlicher Sprache“ – Art 6 III lit a EMRK (vgl EGMR, Urt v 19.12.1989, 9783/82, Series A, Vol 168, §§ 79 ff – Kamasinski); Recht auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers – lit e (EGMR, Urt v 28.8.2018, 59868/08 – Vizgirda). 380 Recht auf Verteidigung bzw Wahl eines/r Verteidigers/in oder Erhalt eines/r (Pflicht-)Verteidigers/in Art 6 III lit c EMRK (EGMR, Urt v 2.3.2010, 54729/00 – Adamkiewicz; Urt v 8.4.2010, 20508/03 – Sinichkin; Urt v 9.4.2015, 2870/11 – Vamvakas (Nr 2); EGMR (GK), Urt v 4.4.2018, 56402/12, NJW 2019, 3627 – Correia de Matos; Urt v 9.11.2018, 71409/10, NJW 2019, 1999 – Beuze; s dazu auch EGMR, Urt v 25.7.2017, 2156/10 – M./Niederlande). 381 Recht auf unentgeltliche Pflichtverteidigung – Art 6 III lit c EMRK (EGMR, Urt v 9.4.2015, 2870/ 11 – Vamvakas (Nr 2); Recht auf unentgeltliche Beiziehung eines/r Dolmetschers/in – lit e (EGMR, Urt v 28.8.2018, 59868/08 – Vizgirda). 382 Recht auf Information über Art und Grund der Beschuldigung – lit a (vgl EGMR (GK), Urt v 25.3.1999, 25444/94, ECHR 1999-II, §§ 51 f – Pélissier u Sassi); Recht auf Anwesenheit und eigene Verteidigung – lit c (EGMR, Ent v 7.3.2017, 24719/12 – Tusnovics; vgl EGMR (GK), Urt v 4.4.2018, 56402/12, NJW 2019, 3627 – Correia de Matos); Recht auf Gewährleistung von Waffengleichheit beim Zeugenbeweis – lit d (EGMR (GK), Urt v 15.12.2015, 9154/10, ECHR 2015-VIII – Schatschaschwili). 383 Vgl dazu EGMR (GK), Urt v 15.12.2015, 9154/10, ECHR 2015-VIII – Schatschaschwili. 384 EGMR (GK), Urt v 18.12.2018, 36658/05, NJOZ 2019, 1057, §§ 114 ff – Murtazaliyeva. 385 Für Einzelheiten vgl Grabenwarter Verfahrensgarantien, S 636 ff mit umfangreichen Nachweisen aus der Rspr des EGMR. 386 BVerfGE 38, 105 (114 f); 55, 144, 150; 56, 37 (43). Ausf zum Ganzen Müller, EuGRZ 2001, 546.
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tur“-Grundsatz ist in Art 6 nicht ausdrücklich erwähnt, wird vom EGMR aber zum Kernbereich eines fairen Verfahrens gerechnet; dabei weist er allerdings stets auf den engen Zusammenhang des Grundsatzes mit der Unschuldsvermutung gem Art 6 II hin.387 Es obliegt der Strafverfolgungsbehörde, den Beschuldigten zu überführen, ohne hierfür auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwangs- oder Druckmittel ohne den Willen des Beschuldigten erlangt wurden.388 Die Ausforschung eines Inhaftierten durch einen verdeckten Ermittler oder einen V-Mann der Polizei, der Zellengenosse des Auszuforschenden ist oder sich als solcher ausgibt, stellt eine Verletzung des „nemo tenetur“ Grundsatzes dar, wenn eine vernehmungsähnliche Situation erzeugt wird und der Beschuldigte wegen und in dieser Situation aussagt.389 Die Garantie ist nicht lediglich auf Aussagen beschränkt,390 sondern umfasst auch den Zwang zur eigenhändigen Herausgabe von Beweismaterial.391 Nicht geschützt sind Ergebnisse von Atem-, Blut-, Urin- oder Körpergewebeproben, die zwar unter Zwang erlangt wurden, aber nicht vom Willen des Beschuldigten abhängig sind.392 86 Das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, ist kein absolutes Recht.393 Es kann beschränkt werden, solange dadurch nicht der Wesensgehalt der Garantie ausgehöhlt wird. Im Sinne eines beweglichen Systems sind folgende Gesichtspunkte des jeweiligen Einzelfalls in die Beurteilung dessen einzustellen: die Art und Schwe-
387 EGMR (GK), Urt v 8.2.1996, 18731/91, Rep 1996-I, §§ 46, 58 – John Murray; Urt v 17.12.1997, 19187/91, Rep 1996-VI, § 68 – Saunders; EGMR, Urt v 21.12.2000, 34720/97, ECHR 2000-XII, § 40 – Heaney u McGuinness; Urt v 8.4.2004, 38544/97, § 46 – Weh. 388 EGMR (GK), Urt v 17.12.1997, 19187/91, Rep 1996-VI, § 68 – Saunders; EGMR, Urt v 20.10.1997, 20225/92, Rep 1997-VI, § 46 – Serves; 34720/97, ECHR 2000-XII, § 40 – Heaney u McGuinness. 389 EGMR, Urt v 5.11.2002, 48539/99, ECHR 2002-IX, §§ 50 ff – Allan; EGMR (GK), Urt v 10.3.2009, 4378/ 02, NJW 2010, 213, § 102 – Bykov (keine Annahme einer Drucksituation, die eine Verletzung des „nemo tenetur“ – Grundsatzes darstellt, weil der Inhaftierte hier nicht glaubte, sich in einer Vernehmungssituation vor einer amtlichen Vernehmungsperson zu befinden, sondern einen Bekannten freiwillig empfing und freiwillig Angaben machte); hierzu Kenes, RDTH 2010, 383. 390 Das Recht zu schweigen ist nicht auf unmittelbar selbstbelastende Aussagen beschränkt, sondern umfasst auch Aussagen, die auf den ersten Blick nicht belastend erscheinen. Entscheidend ist, welche Verwendung die unter Zwang erlangten Aussagen im Verlauf eines Strafverfahrens finden (EGMR (GK), Urt v 17.12.1997, 19187/91, Rep 1996-VI, § 71 – Saunders). 391 EGMR, Urt v 25.2.1993, 10828/84, Series A, Vol 256-A, § 44 – Funke (anders als etwa Art 14 § 3g IPBPR). 392 EGMR (GK), Urt v 17.12.1997, 19187/91, Rep 1996-VI, § 69 – Saunders; EGMR, Urt v 21.12.2000, 34720/97, ECHR 2000-XII, § 40 – Heaney u McGuinness; EGMR (GK), Urt v 11.7.2006, 54810/00, ECHR 2006-IX, §§ 112 ff – Jalloh. 393 EGMR (GK), Urt v 8.2.1996, 18731/91, Rep 1996-I, § 47 – John Murray; EGMR, Urt v 21.12.2000, 34720/97, ECHR 2000-XII, § 47 – Heaney u McGuinness; s auch EGMR, Urt v 21.4.2009, 19235/03, § 75 – Marttinen.
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re des Zwangs zur Beweiserlangung, das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Verfolgung der Straftat und der Bestrafung des Täters, die Gewährleistung angemessener Verfahrensgarantien und die Verwertung der somit erlangten Beweismittel.394 Werden aus dem Schweigen des Beschuldigten negative Schlussfolgerungen gezogen, kann dies vor diesem Hintergrund unter bestimmten Voraussetzungen auch mit Art 6 vereinbar sein.395 Auskunftspflichten gegenüber Behörden können gerechtfertigt sein, wenn sie verhältnismäßig sind und den Wesensgehalt des Rechts nicht verletzen.396 Der EGMR verneint zum Beispiel auch eine Verletzung von Art 6 I, wenn ein Strafverfahren zum Zeitpunkt der Aussageverweigerung noch gegen unbekannt und nicht gegen den Auskunftspflichtigen geführt wird und allenfalls als Folge der (verweigerten) Aussage gegen diesen eingeleitet wird, sofern der Zusammenhang mit den Strafverfahren lose und hypothetisch bleibt.397 Hingegen vermag die Verabreichung eines Brechmittels in Form von chemischen Substanzen über eine mit Zwang gelegte Magen-Darm-Sonde durch öffentliche Interessen an der Verfolgung eines Straßendealers nicht gerechtfertigt zu werden, wenn die zur Verfügung stehenden Verfahrensrechte nicht genutzt werden konnten und der erlangte Beweis später verwertet wird.398 Schließlich gehört das Prinzip der Unschuldsvermutung zu den Rechten des 87 Angeklagten, wenngleich es neben der Garantie des fair trial selbständig geregelt ist. Das BVerfG hat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art 6 II ein entspr rechtsstaatliches Gebot auch nach dem GG angenommen.399 Das Gebot der Unschuldsvermutung hat mehrere Dimensionen: Im Vorfeld und während eines Strafverfahrens verbietet es Äußerungen staatlicher Behörden, insbesondere auch solche von Staatsanwältinnen, Regierungsmitgliedern, Polizistinnen400 und Gerichten, eine bestimmte Person habe eine strafbare Handlung begangen, solange eine gerichtliche Veurtei-
394 S zB EGMR, Urt v 21.12.2000, 34720/97, ECHR 2000-XII, §§ 51–55 – Heaney u McGuinness; Urt v 5.11.2002, 48539/99, ECHR 2002-IX, § 44 – Allan; EGMR (GK), Urt v 11.7.2006, 54810/00, ECHR 2006-IX, §§ 118 ff – Jalloh. 395 EGMR, Urt v 8.10.2002, 44652/98, §§ 53 ff – Beckles; vgl hierzu Ashworth/Strange, EHRLR 2004, 121 (134); EGMR (GK), Urt v 8.2.1996, Urt v 8.2.1996, 18731/91, Rep 1996-I, §§ 50 f, 54 – John Murray; EGMR, Urt v 2.5.2000, 35718/97, ECHR 2000-V, §§ 61 f – Condron; auch EGMR, Ent v 5.12.2000, 44014/98, § 2 – Randall. Hierzu auch Kühne, EuGRZ 1996, 571. Im Zusammenhang mit dem Recht auf den Beistand eines Verteidigers EGMR, Urt v 6.7.2000, 28135/95, ECHR 2000-VI, § 43 – Magee. 396 Vgl etwa EGMR (GK), Urt v 29.7.2007, 15809/02, ECHR 2007-III, 56 ff – O’Halloran u Francis; EGMR, Urt v 10.1.2008, 58452/00 ua, §§ 47 ff – Lückhof u Spanner; Ent v 6.2.2018, 40607/12, § 26 – Krauss. 397 EGMR, Urt v 8.4.2004, 38544/97, §§ 53 ff – Weh (Verweigerung der Aussage über den Fahrzeuglenker seitens des Halters des Fahrzeuges – Zulassungsbesitzer – nach österreichischem Recht). 398 EGMR (GK), Urt v 11.7.2006, 54810/00, ECHR 2006-IX, §§ 118 ff – Jalloh. 399 BVerfGE 74, 358 (370). 400 EGMR, Urt v 27.1.2015, 37124/10 –Toni Kostadinov (Äußerungen des Innenministers).
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lung nicht vorliegt.401 Die Unschuldsvermutung ist in diesem Sinne etwa verletzt, wenn eine vorläufig festgenommene Person in der Öffentlichkeit in der Kleidung Inhaftierter gezeigt wird.402 Zudem gilt die Unschuldsvermutung auch nach Abschluss des Strafverfahrens fort;403 Art 6 II verbietet es, Angeklagte bei Einstellung eines Verfahrens, infolge derer eine Schuldfeststellung nicht erfolgt, zum Tragen der Verfahrenskosten zu verpflichten, weil daraus eine Annahme der Schuld abgeleitet werden kann oder könnte.404 Selbst wenn ein Freispruch aus Mangel an Beweisen erfolgt oder in sonstiger Weise Zweifel an der Unschuld der betroffenen Person erkennen lässt, verstößt jede Äußerung eines Schuldverdachts – in welcher Form sie auch erfolgen mag – gegen die Unschuldsvermutung.405 Eine zivilgerichtliche Veurteilung zu Schadensersatz nach Freispruch im Strafverfahren verletzt die Unschuldsvermutung dann nicht, wenn die Beurteilung im zivilgerichtlichen Verfahren im Wesentlichen unabhängig und verschieden von jener, nach der die strafrechtliche Qualifikation der Handlungen erfolgt ist, vorgenommen wird.406 Wird eine Person jedoch zivilgerichtlich zu Schadensersatz wegen Begehung einer Straftat verurteilt, obwohl das Strafverfahren eingestellt wurde, ohne dass die betroffene Person je Kenntnis von diesem erlangt hätte, verletzt dies die Unschuldsvermutung.407 Die Mitgliedstaaten sind gemäß Art 6 II grundsätzlich auch positiv verpflichtet, durch entsprechende Maßnahmen eine vorverurteilende Medienberichterstattung hintanzuhalten.408 Beschränkungen der Garantien aus Art 10 EMRK können unter bestimmten Umständen mit dem Ziel des Schutzes der Unschuldsvermutung grundrechtskonform vorgenommen werden.409 Die Unschuldsvermutung aus Art 6 II wird auch im Zusammenhang mit Befragungen durch parlamentarische Untersuchungsausschüse relevant.410 401 EGMR (Pl), Urt v 12.7.1988, 10862/84, Series A, Vol 140, § 51 – Schenk; EGMR, Urt v 29.5.2012, 39820/ 08 ua, § 75 – Shuvalov; Urt v 14.3.2019, 35726/10, §§ 48 ff – Kangers. 402 EGMR, Urt v 16.3.2010, 14352/04 – Jiga. 403 EGMR (GK), Urt v 5.11.2002, 25424/09, ECHR 2013-IV, §§ 94 ff – Allen. 404 Beginnend mit EGMR, Urt v 25.8.1993, 13126/87, Series A, Vol 266-A, §§ 29 ff – Sekanina; dazu Pilnacek, ÖJZ 2001, 546; aus jüngerer Zeit EGMR, Urt v 24.1.2019, 24247/15, NJW 2020, 1275, §§ 36 ff – Demjanjuk. 405 EGMR, Urt v 21.3.2000, 28389/95, §§ 31 f –Asan Rushiti; anders hingegen, wenn das Verfahren ohne Endurteil über Schuld oder Unschuld eingestellt worden ist (vgl hierzu auch EGMR, Ent v 1.4.2004, 69169/01 – Reinmüller). 406 EGMR, Urt v 11.2.2003, 34964/97, ECHR 2003-II, §§ 36 ff – Ringvold; Urt v 11.2.2014, 69122/10, §§ 60 f – Vella; Urt v 3.10.2019, 61985/12, §§ 53 ff – Fleischner. 407 EGMR, Urt v 28.5.2020, 29620/07 – Farzaliyev. 408 EGMR, Urt v 28.10.2004, 48173/99 ua, § 48 – Y.B. ua/Türkei; EGMR (GK), Urt v 5.11.2002, 25424/09, ECHR 2013-IV, §§ 94, 98, 120 ff – Allen; Peukert, EuGRZ 1980, 260. 409 EGMR (GK), Urt v 29.3.2016, 56925/08, NJW 2017, 3501 – Bédat. 410 EGMR, Urt v 18.2.2016, 6091/06 ua, NJOZ 2018, 476 – Rywin.
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d) Die Öffentlichkeit des Verfahrens Art 6 EMRK garantiert die Öffentlichkeit des Verfahrens. Diese wird zum einen 88 durch öffentliche mündliche Verhandlungen und zum anderen durch öffentliche Verkündung verfahrensbeendender Entscheidungen gewährleistet. Grundsätzlich wird sog Volksöffentlichkeit, also die Zugänglichkeit der Verhandlung und Verkündung für jedermann, garantiert;411 ausdrücklich wird aber auch die Medienöffentlichkeit („Presse“) im Rahmen der Ausschlusstatbestände erwähnt. Journalisten erfüllen in qualifizierter Weise den Begriff der Öffentlichkeit iSv Art 6 I, da sie durch ihre Berichterstattung den Hauptanteil an der Veröffentlichung des Verfahrens tragen. Ihre Anwesenheit während Verhandlung und Verkündung ist daher grundsätzlich garantiert; davon zu unterscheiden ist die Frage der Zulässigkeit von Tonoder Bildaufzeichnungen während der Verhandlung, zu deren Beantwortung auch Art 10 relevant wird. Während die Öffentlichkeit der Entscheidungen vorbehaltlos gewährleistet 89 wird, steht die Öffentlichkeit von Verhandlungen unter einem unmittelbar anwendbaren Eingriffsvorbehalt: Die Öffentlichkeit kann während der gesamten Verhandlung oder eines Teils derselben im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft ausgeschlossen werden, ferner wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder unter besonderen Umständen, wenn die Öffentlichkeit die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde (in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang). Dieser Vorbehalt weist inhaltlich große Parallelen zu den Gesetzesvorbehalten der Art 8 bis 11 EMRK auf;412 er ist allerdings als unmittelbar anwendbarer Vorbehalt zu verstehen, der kein Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage enthält, sondern selbst als Eingriffsgrundlage herangezogen werden kann.413 Eine Einschränkung der Öffentlichkeit von Verhandlungen muss demnach eines der in Art 6 I 2 ausdrücklich genannten Ziele verfolgen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.414 In Ausnahmefällen hat der EGMR auch anerkannt, dass es mit Art 6 I vereinbar 90 ist, dass eine mündliche Verhandlung gänzlich unterbleibt und nicht nur die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird; außergewöhnliche Umstände, die hierzu vorliegen müssen, hat der EGMR etwa in Fällen der Entscheidung über Ansprüche im Sozialversicherungsrecht angenommen, bei denen ausschließlich rechtliche und tech-
411 Morscher/Christ, EuGRZ 2010, 272 (273 f). 412 Für Einzelheiten und Abweichungen vgl ausf Grabenwarter Verfahrensgarantien, S 481 ff. 413 Grabenwarter/Pabel EMRK, § 24, § 89. 414 Vgl EGMR, Urt v 28.6.1984, 7819/77 ua, Series A, Vol 80, § 87 – Campbell u Fell; Urt v 14.11.2000, 35115/97, ECHR 2000-XII – Riepan; Urt v 4.12.2008, 28617/03, §§ 83 f – Belashev; Urt v 17.12.2013, 20688/04, §§ 74 f – Nikolova u Vandova.
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nische Fragen beantwortet werden, die auf Grund der Aktenlage angemessen entschieden werden können.415 Auch in Fällen, in denen Tatsachenfragen nicht streitig sind und Glaubwürdigkeitsbeurteilungen keine Rolle spielen, sodass das Gericht den Fall vertretbar auf Grund der Aktenlage entscheiden kann, hat der EGMR das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im genannten Sinn angenommen.416 Wenn erörtert werden muss, ob Behörden Tatsachen richtig ermittelt haben, wenn das Gericht sich ein eigenes Bild von den betroffenen Personen und ihren Aussagen machen muss oder wenn das Gericht sich über bestimmte Punkte Klarheit verschaffen muss, können außergewöhnliche Umstände jedenfalls nicht angenommen werden.417 91 Daneben hat die Rspr weitere Gründe entwickelt, aus denen eine öffentliche Verhandlung oder die öffentliche Verkündung eines Urt unterbleiben kann. Für die öffentliche Verhandlung geht die stRspr davon aus, dass keine Verletzung des Grundrechts vorliegt, wenn die betroffene Prozesspartei auf das Recht verzichtet hat. Ein wirksamer Verzicht kann aber nur angenommen werden, wenn er freiwillig und unzweideutig erfolgt ist. Das Kriterium der Unzweideutigkeit des Verzichts kann nach der Rspr des EGMR nicht nur bei einer ausdrücklichen Erklärung, sondern im Fall einer konkludenten Handlung gegeben sein.418 Für strafrechtliche Verfahren gelten strengere Anforderungen hinsichtlich der Eindeutigkeit eines Verzichts, als dies bei zivilrechtlichen Verfahren der Fall ist; in Strafverfahren muss der Verzicht grundsätzlich ausdrücklich erklärt werden.419 Eine Ausnahme davon gilt nur in Verfahren außerhalb des Kriminalstrafrechts, in denen nur eine geringe Strafe droht; dort kann ein ausdrücklicher Verzicht unterbleiben.420 In zivilrechtlichen Verfahren hingegen liegt ein antragsbedürftiges Recht auf Abhaltung einer öffentlichen Verhandlung vor, wenn die Anberaumung einer solchen in den innerstaatlichen Regelungen nicht zwingend vorgesehen, sondern in das Ermessen des Gerichts gestellt ist: Ein stillschweigender Verzicht wird folglich nur dann ausgeschlossen, wenn das Gesetz ausdrücklich vorsieht, dass keine mündliche Verhandlung stattfindet, ein Antrag daher mit Sicherheit erfolglos bliebe,421 sowie in
415 EGMR (GK), Urt v 23.11.2006, 73053/01, ECHR 2006-XIV, §§ 41 ff – Jussila; EGMR, Urt v 10.12.2009, 49616/06, §§ 19 f – Koottummel; Urt v 5.4.2016, 33060/10, §§ 59 ff – Helmut Blum; Urt v 9.6.2016, 44164/14, §§ 22 ff – Madaus; Urt v 16.3.2017, 23621/11, EuGRZ 2017, 526, §§ 34 f – Fröbrich. 416 EGMR, Urt v 18.12.2008, 69917/01, § 73 – Saccoccia. 417 EGMR (GK), Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, § 191 – Ramos Nunes de Carvalho e Sá. 418 EGMR, Urt v 23.6.1983, 6878/75 ua, Series A, Vol 43, § 59 – Le Compte, Van Leuven u De Meyere; Urt v 21.2.1990, 11855/85, Series A, Vol 171-A, § 66 – Håkansson u Sturesson; Urt v 24.6.1993, 14518/89, Series A, Vol 263, § 58 – Schuler-Zgraggen. 419 EGMR, Urt v 20.12.2001, 32381/96, § 26 – Baischer. 420 EGMR (GK), Urt v 23.11.2006, 73053/01, ECHR 2006-XIV, § 48 – Jussila. 421 EGMR (Pl), Urt v 30.11.1987, 8950/80, Series A, Vol 127-B, § 54 – H./Belgien; Urt v 26.9.1995, 18160/ 91, Series A, Vol 325-A, § 31 – Diennet.
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Fällen, in denen das innerstaatliche Recht keine Regelungen betreffend die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung enthält und es der Praxis der innerstaatlichen Gerichte entspricht, nicht öffentlich zu verhandeln.422 Ausnahmsweise ist ein Verzicht zur Rechtfertigung des Unterbleibens der Verhandlung nicht hinreichend, wenn ein wichtiges öffentliches Interesse entgegensteht.423 In Rechtsmittelverfahren kann eine Verhandlung grundsätzlich – wenn eine 92 solche in erster Instanz stattgefunden hat – auch ohne einen Verzicht unterbleiben,424 es sei denn sie ist ausnahmsweise für die Beweiserhebung und –würdigung und die Lösung von Rechtsfragen oder für den Verfahrensausgang für den Betroffenen bedeutend und notwendig.425 Eine mündliche Verhandlung in der Rechtsmittelinstanz kann jedoch das Unterbleiben einer solchen in einer unteren Instanz nur dann heilen, wenn die Rechtsmittelinstanz über volle Entscheidungsbefugnis in Rechts- und Tatsachenfragen verfügt; in allen anderen Fällen liegt eine Verletzung von Art 6 vor, wenn die mündliche Verhandlung in der Instanz unterbleibt, in der in vollem Umfang über Rechts- und Tatsachenfragen entschieden wurde.426 Aus Art 6 I EMRK erwächst grundsätzlich ein Recht auf öffentliche Verkündung 93 der Entscheidungen; dieses hat der EGMR aber in einer teleologischen Reduktion auf einen Anspruch auf Veröffentlichung der Entscheidung beschränkt, um dem Standard in den Vertragsstaaten zu entsprechen. Den Anforderungen des Art 6 I ist Genüge getan, soweit der Kontrollzweck, dem die Veröffentlichung dient, erfüllt wird; hierzu ist nur entscheidend, dass die Entscheidung des Gerichts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird; kann dies auf eine andere Art und Weise ebenso gut erreicht werden wie bei öffentlicher Verkündung, sind die Anforderungen des Grundrechts erfüllt.427 Sowohl der Spruch als auch dessen Begründung sind zu veröffentlichen.428 Die Tatbestände, die eine Beschränkung des Rechts auf eine Verhandlung zu rechtfertigen zu vermögen, sind auf das Recht auf Verkündung bzw Veröffentlichung nicht anwendbar. Dem gleichzeitig geltenden und zu berücksichtigenden Gebot des Schutzes der Privatsphäre nach Art 8 EMRK kann durch Anonymisierungen von Entscheidungen Rechnung getragen werden.
422 EGMR, Urt v 21.9.2006, 12643/02, § 96 – Moser (zum österreichischen Außerstreitgesetz 1854). 423 EGMR, Urt v 21.2.1990, 11855/85, Series A, Vol 171-A, § 66 – Håkansson u Sturesson; Urt v 28.5.1997, 16717/90, Rep 1997-III, § 62 – Pauger. 424 Vgl dazu EGMR, Urt v 12.11.2002, 28394/95, § 37 – Döry; Urt v 8.2.2005, 55853/00, § 30 – Miller. 425 EGMR, Urt v 29.10.1991, 11826/85, Series A, Vol 212-A, §§ 37 ff – Helmers; EGMR (Pl), Urt v 29.10.1991, 12631/87, Series A, Vol 212-C, § 34 – Fejde; vgl Grabenwarter Verfahrensgarantien, S 526 mwN. 426 EGMR (GK), Urt v 6.11.2018, 55391/13 ua, § 192 – Ramos Nunes de Carvalho e Sá. 427 EGMR (Pl), Urt v 8.12.1983, 7984/77, Series A, Vol 71, § 27 – Pretto ua. 428 EGMR, Urt v 17.1.2008, 14810/02, ECHR 2008-I, §§ 45 f – Ryakib Biryukov.
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e) Das Gebot angemessener Verfahrensdauer 94 Nach Art 6 I EMRK hat das Gericht „innerhalb einer angemessenen Frist“ zu entscheiden. Diese Garantie ist einerseits Bestandteil des Gebots effizienten gerichtlichen Rechtsschutzes, sie steht andererseits aber in einem Spannungsverhältnis zu den einzelnen Gewährleistungen des Grundsatzes eines fairen Verfahrens, da ein Mehr an Verfahrensrechten regelmäßig dazu führt, dass das Verfahren länger dauert.429 Insb im Strafverfahren geht es darum, die Ungewissheit über den Ausgang eines Strafverfahrens möglichst kurz zu halten. 95 Die Berechnung der für das Grundrecht maßgeblichen Zeitspanne beginnt in Zivilverfahren mit der Erhebung der Klage,430 im Strafverfahren bereits vor Beginn des Hauptverfahrens in dem Zeitpunkt, in dem erste Schritte der Strafuntersuchung nach außen hin gesetzt werden.431 Ein Strafverfahren endet auch durch die formelle Einstellung des Verfahrens, wobei der Angeklagte davon Kenntnis erlangen muss.432 Auch die vorläufige Einstellung des Verfahrens nach § 154 II lit d StPO ist Ende des Verfahrens im Sinne des Art 6.433 Bei verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann auch die Dauer des vorangehenden (behördlichen) Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen sein. Das Ende des Verfahrens bildet regelmäßig die abschließende Entscheidung der letzten Instanz; dazu ist auch ein nachfolgendes verfassungsgerichtliches Verfahren zu zählen.434 Der EGMR berücksichtigt in letztem Fall jedoch die besondere Stellung der Verfassungsgerichte und deren spezielle Rolle im Rahmen der Rechtsgewährung.435 Die Untätigkeit eines Gerichts kann angemessen sein, soweit ein der Beschwerdeführerin dienendes Verfahren vor dem Verfassungsgericht abgewartet wird436 oder eine vom Verfassungsgericht an den Gesetzgeber gesetzte Frist zu gesetzlichen Neuregelung einer im Verfahren bedeutsamen verfassungswidrigen Bestimmung anhängig ist437. Die Dauer eines Vorabentschei-
429 EGMR (Pl), Urt v 28.6.1978, 6232/73, Series A, Vol 27, § 100 – König. 430 EGMR, Urt v 26.3.1992, 11760/85, Series A, Vol 234-B, § 43 – Editions Périscope. 431 EGMR, Urt v 15.7.1982, 8130/78, Series A, Vol 51, § 73 – Eckle; Urt v 10.12.1982, 8304/78, Series A, Vol 57, § 34 – Corigliano; Urt v 19.2.1991, 11804/85, Series A, Vol 195-B, § 16 – Manzoni; Urt v 2.10.2003, 41444/98, § 32 – Hennig. 432 EGMR, Urt v 4.4.2006, 7324/02, §§ 58 ff – Kobtsev. 433 EGMR, Ent v 3.2.2009, 37972/05 – Niedermeier. 434 EGMR, Urt v 27.7.2000, 33379/96, NJW 2001, 213, § 29 – Klein. Krit dazu Breuer, Beilage zur NJW 2002, 6. 435 EGMR (GK), Urt v 16.9.1996, 20024/92, Rep 1996-IV, §§ 57 ff – Süßmann; EGMR, Urt v 27.7.2000, 33379/96, NJW 2001, 213, §§ 39 ff – Klein; Urt v 10.12.2009, 13471/06, § 26 – Almesberger; EGMR (GK), Urt v 16.3.2010, 15766/03, ECHR 2010-II, § 109 – Oršuš ua. 436 EGMR, Urt v 16.09.2010, 16386/07, § 31 – Breiler. 437 EGMR, Ent v 10.02.2009, 30209/05 – Niedzwiecki (II).
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dungsverfahrens vor dem EuGH ist von der Verfahrensdauer, die den innerstaatlichen Behörden und Gerichten zuzurechnen ist, abzuziehen.438 Für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer stellt die Rechtsprechung auf eine Einzelfallbetrachtung ab, in der vier Kriterien als relevante, aber nicht abschließende Faktoren der Beurteilung zur Anwendung gelangen:439 Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer: Wenn der Ausgang des Verfahrens für die betroffenen Personen von besonderer Bedeutung ist, so führt in der Regel bereits eine kürzere Zeitspanne zu einer Verletzung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer. Vom Vorliegen einer solchen besonderen Bedeutung wird in Strafverfahren etwa bei Inhaftierung der betroffenen Person, im Zivilverfahren zum Beispiel bei familienrechtlichen Angelegenheiten oder bei Verfahren mit Auswirkungen auf den Lebensunterhalt, wie etwa arbeitsrechtlichen440 und schadensersatzrechtlichen441 Verfahren oder Entscheidungen über Rentenansprüche,442 ausgegangen. Verfahren über die Verletzung eines Rechts der EMRK aufgrund diskriminierender Behandlung wertet der EGMR ebenfalls als von besonderer Bedeutung in diesem Sinne.443 Komplexität des Falles: Wenn ein Verfahren im Hinblick auf Sach- oder Rechtsfragen ein besonderes Maß an Komplexität aufweist, kann eine vergleichsweise längere Verfahrensdauer gerechtfertigt sein (zB komplexe Wirtschafts-444 und Umweltstrafsachen445). Ein hohes Maß an Komplexität in diesem Sinne kann etwa auch dann bestehen, wenn aufgrund spezifischer Umstände des konkreten Falls eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit notwendig wird.446 Verhalten der Beschwerdeführerin: Wenn Beschwerdeführer das Verfahren durch eigenes Verhalten verzögern, ist dies für die Beurteilung der Verfahrensdauer relevant; es darf allerdings nicht zu ihrem Nachteil berücksichtigt werden, dass
438 EGMR (GK), Urt v 27.6.2017, 931/13, § 208 – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy. 439 Vgl hierzu exemplarisch EGMR (Pl), Urt v 29.5.1986, 9384/81, Series A, Vol 100, § 78 ff – Deumeland. 440 EGMR, Urt v 29.1.2004, 53084/99, § 56 – Kormacheva. 441 EGMR, Urt v 30.9.2004, 50222/99, § 70 – Krastanov. 442 EGMR (GK), Urt v 16.9.1996, 20024/92, 20024/92, Rep 1996-IV, § 61 – Süßmann. 443 EGMR (GK), Urt v 16.3.2010, 15766/03, ECHR 2010-II, § 48 – Oršuš ua (der EGMR betont hier die Bedeutung des Rechts auf Bildung als Verfahrensgegenstand). 444 Vgl EGMR, Urt v 13.7.2004, 37761/97, § 47 – Lislawska. 445 EGMR, Urt v 31.5.2001, 37591/97, EuGRZ 2001, 299, § 40 – Metzger; 46133/99 ua, ECHR 2003-IX, § 86 – Smirnova; vgl Roxin, StV 2001, 489 (491); Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 6, § 252 mwN. 446 EGMR, Urt v 17.2.2009, 28514/04, § 54 – Ancel; Urt v 13.10.2009, 2422/06 ua, § 30 – Tunce ua.
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sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ergreifen.447 Im Strafverfahren ist nicht gefordert, dass die Angeklagte mit den Strafverfolgungsbehörden aktiv zusammenarbeitet;448 eine mangelnde Kooperationsbereitschaft darf insoweit nicht zu Lasten der Beschwerdeführerin in die Beurteilung eingestellt werden. 100 Verhalten der Behörden: Als letztes Kriterium ist relevant, inwieweit die innerstaatlichen Behörden und Gerichte das Verfahren zügig betrieben haben;449 aus Art 6 folgt ein Recht auf Verfahrensbeschleunigung.450 Eine Überlastung der innerstaatlichen Gerichte, sei sie kurz- oder längerfristig, kann unter Umständen zu Lasten des Staates gehen. Nach der Rspr des EGMR haben die Mitgliedstaaten ihre Gerichtssysteme so einzurichten, dass sie den Anforderungen des Art 6 gerecht zu werden vermögen.451 Folglich kann etwa eine Nichtabberufung eines säumigen gerichtlich bestellten Sachverständigen seitens des Gerichts452 oder eine Bestellung von Sachverständigen, die für eine mündliche Verhandlung nicht zur Verfügung stehen453 zu Lasten des Staates gehen. Ebenso kann ein Nichtergreifen adäquater Mittel gegen das wiederholte Nichterscheinen von Zeugen und Beschuldigten vor Gericht als eine staatlich verschuldete Verfahrensverzögerung angesehen werden.454 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass sich auch aus Art 13 EMRK eine Pflicht für die Mitgliedstaaten ergibt, ein effektives Rechtsmittel gegen eine unangemessen lange Verfahrensdauer bereitzustellen.455 101 Diese Kriterien sind jene Faktoren, die der EGMR bei einer Entscheidung im Einzelfall zur Beurteilung der Verfahrensdauer und ihrer Angemessenheit heranzieht; sie entbinden nicht davon, den konkreten zu beurteilenden Sachverhalt und dessen Besonderheiten im Einzelnen zu betrachten und zu beurteilen; letztlich sind letztere ausschlaggebend.456 In einem Verfahren, das in erster Instanz bereits sehr
447 EGMR (Pl), Urt v 8.12.1983, 7984/77, Series A, Vol 71, § 34 – Pretto ua; EGMR (GK), Urt v 23.4.1987, 9816/82, Series A, Vol 117, § 57 – Poiss; EGMR, Urt v 11.12.2003, 50064/99, § 56 – Girardi; vgl aber andererseits EGMR, Urt v 24.7.2003, 46133/99 ua, ECHR 2003-IX, § 86 – Smirnova. 448 EGMR, Urt v 15.7.1982, 8130/78, Series A, Vol 51, § 82 – Eckle. 449 EGMR, Urt v 26.7.2007, 8140/04, § 21 – Vitzthum. 450 Gaede, wistra 2004, 166 (168); Krehl, NStZ 2006, 1 (4 f). 451 EGMR, Urt v 27.7.1997, Urt v 26.7.2005, 19773/92, Rep 1997-IV, § 40 – Philis (Nr 2); 27916/95, Rep 1998-VIII, § 38 – Podbielski. 452 Vgl EGMR, Urt v 8.7.2004, 20077/02, § 52 – Wohlmeyer Bau GmbH; Urt v 23.9.2004, 47877/99, § 90 – Rachevi. 453 EGMR, Urt v 21.10.2010, 43155/08, NJW 2011, 1055, § 28 – Grumann. 454 EGMR, Urt v 21.9.2004, 10675/02, § 65 – Kuśmierek; dazu auch EGMR, Urt v 13.7.2006, 38033/02, NVwZ 2007, 1035, §§ 43 f – Stork. 455 S dazu unten. 456 Vgl dazu EGMR (GK), Urt v 27.6.2017, 931/13, §§ 202 ff – Satakunnan Markkinapörssi Oy u Satamedia Oy.
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lange gedauert hat, kann in zweiter Instanz eine besondere Pflicht zur Beschleunigung bestehen. Maßnahmen, die einer solchen Verfahrensbeschleunigung dienen, können zum Beispiel die Einhaltung eines strengen Zeitplans oder die Festlegung unbedingt einzuhaltender Fristen sein.457 Nicht jede Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer stellt eine 102 Verletzung von Art 6 dar, weil kompensatorische Maßnahmen (zum Beispiel Einstellungen von Strafverfahren, Entschädigungszahlungen) ergriffen werden können.458 Entschädigungszahlungen, die faktisch nicht in einem angemessenen Zeitraum an die betroffenen Personen ausgezahlt werden, können eine Verletzung des Art 6 bei überlanger Verfahrensdauer jedoch nicht verhindern.459
2. Nulla poena sine lege (Art 7 EMRK) Fall 2: (EGMR (GK), Urt v 22.3.2001, 37201/97, ECHR 2001-II – K.-H. W./Deutschland) Der 50-jährige W hatte sich von 1970 bis 1973 zum Wehrdienst der Nationalen Volksarmee der ehemaligen DDR verpflichtet. Am 15.2.1972 tötete er mit fünf kurzen Feuerstößen von je zwei Schüssen einen Flüchtling, der versucht hatte, von Ost-Berlin durch die Spree schwimmend nach West-Berlin zu gelangen. Er wurde beglückwünscht, erhielt das Leistungsabzeichen der Grenztruppen der DDR und eine Geldprämie in Höhe von 150 Mark. Am 17.6.1993 verurteilte ihn die Jugendkammer des LG Berlin nach dem zur Tatzeit geltenden Recht der DDR (§ 113 StGB-DDR), wandte jedoch dann das mildere Strafgesetz der Bundesrepublik an und bestrafte ihn nach §§ 212, 213 StGB und §§ 1, 105 I Nr 1 JGG. Ist diese Verurteilung konventionskonform?
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Der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz) in 104 Art 7 EMRK enthält zum einen ein Rückwirkungsverbot und zum anderen ein Klarheitsgebot, das für den Gesetzgeber gilt. Der EGMR geht davon aus, dass Art 7 eine herausragende Stellung im Schutzsystem der EMRK einnimmt und es es sich bei der aus der Bestimmung erwachsenden Garantie um ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips handelt.460 Art 7 ist gem Art 15 EMRK ein absolutes, notstandsfest garantiertes Recht und dementsprechend auch im Hinblick auf die Schutzpflichten der Mitgliedstaaten aus anderen Konventionsgarantien einer Abwägung
457 EGMR, Urt v 25.2.2010, 36395/07, § 44 – Müller. 458 EGMR, Urt v 13.11.2008, 10597/03, §§ 68 f – Ommer; Ent v 12.2.2009, 2027/06 – Mitterbauer; Ent v 7.7.2009, 12895/05 – Stein; Urt v 20.6.2019, 497/17, NJW 2020, 1047, §§ 54 ff – Chiarello. 459 EGMR, Urt v 21.12.2010, 45867/07 ua, §§ 32, 36 – Gaglione ua. 460 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 202 – Ilnseher.
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nicht zugänglich.461 Art 7 dient einem wirksamen Schutz vor willkürlicher Verfolgung, Verurteilung und Bestrafung.462 Der Anwendungsbereich der Bestimmung entspricht dem des Art 6 EMRK. Das GG enthält eine Art 7 entsprechende Garantie in Art 103 II.463 Art 49 GRCh geht im Wortlaut über Art 7 hinaus, indem er normiert, dass eine mildere Strafe zu verhängen ist, soweit der Gesetzgeber nach der Begehung der Tat eine solche eingeführt hat (Art 49 I 3 GRCh); zudem stellt Art 49 III GRCh ein Gebot der Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes auf, das Art 7 nicht enthält.464 105 Art 7 ist nur auf Verurteilungen und die Verhängung von Strafen, nicht auf andere Entscheidungen im Rahmen eines Strafverfahrens, insbesondere auch nicht auf solche, die den Strafvollzug betreffen,465 anwendbar. Der EGMR beurteilt in autononomer Interpretation des Begriffs der „Strafe“, inwieweit eine innerstaatliche Maßnahme als Verurteilung bzw Strafe im Sinne des Art 7 zu qualifizieren und damit dem Gewährleistungsumfang des Grundrechts zu unterwerfen ist.466 Dabei ist die Frage, ob die in Rede stehende Maßnahme im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer „Straftat“ verhängt wurde, Ausgangspunkt und wichtiger Faktor der Entscheidung, ob eine Strafe im Sinne der EMRK vorliegt; die Verurteilung ist dabei nur ein Kriterium unter anderen, bei dessen Fehlen die Anwendbarkeit des Art 7 nicht ausgeschlossen ist;467 weitere erhebliche Faktoren sind die Charakterisierung der Maßnahme nach innerstaatlichem Recht, die Art und der Zweck der Maßnahme, die mit ihrer Schaffung und Umsetzung verbundenen Verfahren sowie die Schwere der Maßnahme, wobei letztere nicht allein entscheidend sein kann, weil auch präventive Maßnahmen erhebliche Auswirkungen auf die betroffene Person haben können.468 Die Verhängung eines lebenslangen Berufsverbots für Ärzte stellt danach etwa ebenso eine Strafe dar469 wie die Einziehung von Grundstücken zu
461 EGMR, Urt v 14.4.2011, 30060/04, § 48 – Jendrowiak; Urt v 24.11.2011, 4646/08, § 107 – O.H./ Deutschland. 462 EGMR (GK), 21906/04, ECHR 2008-I, § 137 – Kafkaris; 19359/04, ECHR 2009-VI, § 117 – M./Deutschland. 463 Näheres zum unterschiedlichen Umfang von Art 103 II GG und Art 7 EMRK bei Kadelbach in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 15 Rn 6 ff. 464 Ausf etwa Jarass GRCh, Art 49 Rn 1 ff; Alber in: Stern/Sachs, GRCh, Art 49 Rn 1 ff. 465 Vgl dazu EGMR (GK), Urt v 12.2.2008, 21906/04, ECHR 2008-I, § 142 – Kafkaris; EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, § 121 – M./Deutschland; EGMR (GK), Urt v 21.10.2013, 42750/09, ECHR 2013-VI, § 85 – Del Río Prada. 466 EGMR (GK), Urt v 17.9.2009, 10249/03, NJOZ 2010, 2726, § 110 – Scoppola (Nr 2); Urt v 21.10.2013, 42750/09, ECHR 2013-VI, § 81 – Del Río Prada; Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 203 – Ilnseher. 467 EGMR (GK), Urt v 28.6.2018, 1828/06 ua, § 217 – G.I.E.M. S.r.l. ua. 468 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 203 – Ilnseher. 469 EGMR, Urt v 12.1.2016, 33427/10, § 30 – Gouarré Patte.
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Lasten von Eigentümern, denen illegale Baulanderschließung vorgeworfen wurde.470 Die infolge einer strafrechtlichen Verurteilung ergangene Anordnung, genetisches Material zur Erstellung eines DNA-Profils zur Verfügung zu stellen und dessen Speicherung in einer Datenbank, wurden im Hinblick auf ihre Natur, ihren Zweck und ihre Schwere hingegen nicht als Strafen in diesem Sinne qualifiziert.471 Die Einordnung der Sicherungsverwahrung als Maßregel der Besserung und Si- 106 cherung nach deutschem Strafrecht ist für die Beurteilung der Anwendbarkeit des Art 7 daher – zumindest nicht allein – maßgeblich.472 Im Jahr 2009 gelangte der EGMR zu dem Schluss, dass die gemäß der damals geltenden Fassung des StGB in Deutschland angeordnete und vollstreckte Sicherungsverwahrung als eine in separaten Abteilungen von Justizvollzugsanstalten vollzogene und keine psychische Störung voraussetzende Freiheitsentziehung, die sich insbesondere nicht maßgeblich vom Vollzug einer Strafe unterschied, als Strafe im Sinne des Art 7 zu qualifizieren und das Rückwirkungsverbot damit bei nachträglicher Anordnung anzuwenden war.473 Das BVerfG entschied in der Folge allerdings, dass die Auslegung des Begriffs der Strafe nach Art 103 II GG nicht an Art 7 orientiert werden könne und an dem in der Auslegung des GG gewachsenen Begriff der Strafe, der Maßregeln der Besserung und Sicherung umfasse, festzuhalten sei.474 Das BVerfG nimmt in seiner Entscheidung zwar eine an den Garantien der EMRK orientierte völkerrechtsfreundliche Auslegung der Bestimmungen des GG vor, sieht deren Grenzen aber in jenen der Auslegung des GG und hält vor diesem Hintergrund an dem für das GG geltenden Begriff der Strafe fest, wonach die Sicherungsverwahrung als Maßregel der Besserung und Sicherung im Sinne des zweispurigen Sanktionensystems des deutschen Strafrechts gerade keine solche darstelle. Im Jahr 2012 stellte der EGMR dann erneut fest, dass die Sicherungsverwahrung, wie sie im Übergangszeitraum zwischen dem Urteil des BVerfG und der Anwendung des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012, das am 1.6.2013 in Kraft trat, vollstreckt worden war, noch immer eine Strafe im Sinne des Art 7 darstellte.475 In jüngerer Rechtsprechung geht der EGMR nunmehr – nach Änderung der deutschen Rechtslage und der Vornahme weitreichender Maßnahmen auf justizieller, legislativer und exekutiver Ebene, um den Vollzug der Sicherungsverwahrung an die Erfordernisse des GG und der EMRK an-
470 EGMR (GK), Urt v 28.6.2018, 1828/06 ua, §§ 212 ff – G.I.E.M. S.r.l. ua. 471 EGMR, Urt v 7.12.2006, 29514/05, ECHR 2006-XV – Van der Velden. 472 EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, § 126 – M./Deutschland. 473 EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, §§ 126 ff – M./Deutschland; Grabenwarter, JZ 2010, 857 (858); Müller, StV 2010, 207 (208 f); Pösl, ZJS 2011, 132 (134 f); Grabenwarter, EuGRZ 2012, 507. 474 Hierzu und zum Folgenden BVerfGE 128, 326, Rn 142. 475 EGMR, Urt v 7.6.2012, 65210/09 – G./Deutschland.
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zupassen –476 davon aus, dass eine gemäß dem neuen gesetzlichen Rahmen umgesetzte Sicherungsverwahrung, die im Einzelfall aufgrund einer psychischen Störung und im Hinblick auf die Behandlung dieser Störung unter Berücksichtigung der kriminellen Vorgeschichte der betroffenen Person angeordnet wird, keine Strafe im Sinne des Art 7 ist, auf die das Rückwirkungsverbot anzuwenden ist.477 Wesentlich ist – so der EGMR – dass der strafende Charakter der Sicherungsverwahrung und ihr Zusammenhang mit der begangenen Straftat im Einzelfall soweit in den Hintergrund treten, dass die Maßnahme nicht länger eine Strafe darstellt.478 Die „gewöhnliche“ Sicherungsverwahrung, die nicht im Hinblick auf die Behandlung einer psychischen Störung erfolgt, ist nach Auffassung es EGMR allerdings in der Regel weiterhin als „Strafe“ im Sinne des Art 7 anzusehen; hieran ändert es nichts, dass auch eine solche Sicherungsverwahrung gemäß den neuen gesetzlichen Regelungen vollzogen wird, die eine Verbesserung der materiellen Bedingungen und der Betreuung auch hier bewirken.479 107 Aus Art 7 ergibt sich so zum einen ausdrücklich ein Rückwirkungsverbot. Danach darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Bei der Beurteilung der Frage, ob Handlungen der betroffenen Person zur Tatzeit bereits Straftaten waren, genießen die innerstaatlichen Gerichte einen Spielraum; es ist vorrangig deren Aufgabe, das staatliche Recht auszulegen und anzuwenden.480 Art 7 EMRK verbietet die Rückwirkung sowohl für die Tatbestandsals auch für die Rechtsfolgenseite. Art 7 EMRK gebietet dabei auch die rückwirkende Anwendung milderer Gesetze in Fällen einer gesetzlichen Änderung, die zu einer Reduktion des Strafrahmens führt (lex mitior).481 Der EGMR wendet diesen Grundsatz auch in Fällen an, in denen eine für die betroffene Person günstige Änderung des materiellen Strafrechts erfolgt.482 Die in Folge einer während andauernder Inhaftierung der betroffenen Person erfolgten Gesetzesänderung, durch die die
476 S insbesondere § 66c StGB. 477 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 236 – Ilnseher. 478 EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 236 – Ilnseher. 479 EGMR, Urt v 19.4.2012, 61272/09 – B./Deutschland; EGMR (GK), Urt v 4.12.2018, 10211/12 ua, NJOZ 2019, 1445, § 228 – Ilnseher. 480 EGMR (GK), Urt v 22.3.2001, 34044/96 ua, ECHR 2001-II, §§ 49, 51, 66 – Streletz, Kessler u Krenz; Unionsrecht gehört im Hinblick auf dessen Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit aus der Perspektive der EMRK insoweit zum innerstaatlichen Recht, näher dazu Kadelbach in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 15 Rn 21. 481 EGMR (GK), Urt v 17.9.2009, 10249/03, NJOZ 2010, 2726, §§ 105 ff – Scoppola (Nr 2); EGMR, Urt v 24.1.2017, 67503/13 – Koprivnikar (lex mitior in Bezug auf die Verhängung einer Gesamtstrafe); vgl dazu auch EGMR, Urt v 12.7.2016, 8927/11 – Ruban. 482 EGMR, Urt v 3.12.2019, 22429/07 ua, §§ 64 ff – Parmak u Bakir.
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Höchstdauer für Sicherungsverwahrungen aufgehoben wurde, erfolgte rückwirkende Verlängerung einer Sicherungsverwahrung, betrifft nicht nur die Vollstreckung der Strafe, die in Übereinstimmung mit dem zur Tatzeit geltenden Gesetz verhängt wurde, sondern es wird dadurch vielmehr eine zusätzliche Strafe verhängt, die die betroffene Person rückwirkend aufgrund eines Gesetzes trifft, das erst nach der Begehung der Straftat in Kraft trat.483 Im Rahmen von Art 7 ist nicht nur das Gesetz an sich von Bedeutung. Es sind 108 auch die Rechtsprechung und Auslegungspraxis zu den im konkreten Fall anwendbaren Vorschriften, die als ständige Rechtsprechung und Auslegung qualifiziert werden können und die die Strafe an sich und nicht bloß die Bedingungen der Vollstreckung betreffen, im Licht des Rückwirkungsverbots zu beurteilen.484 So stellt es eine Verletzung von Art 7 dar, wenn eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung geändert wird und die betroffene Person im Moment ihrer Verurteilung weder die Änderung der Rechtsprechung noch deren Anwendbarkeit auf ihren Fall und eine dadurch bedingte Verlängerung der Haftdauer voraussehen konnte.485 Eine rückwirkende Anwendung einer Strafe kann ausnahmsweise mit Art 7 109 EMRK vereinbar sein. Für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen nach innerstaatlichem Recht berücksichtigt der EGMR etwa, ob Beschwerdeführer selbst an der Begründung einer Staatspraxis mitgewirkt haben, die die Strafbarkeit beseitigen soll. Angeklagte könnten – so der EGMR – ihr zunächst rechtswidriges Verhalten, das zu einer Verurteilung geführt habe, nicht mit der einfachen Feststellung rechtfertigen, dass es dieses Verhalten tatsächlich gab und in der Praxis ein dieses Verhalten legitimierender Rechtfertigungsgrund vorhanden war.486 Die Bestrafung für fortgesetzte Delikte, für die sich die Rechtslage während der Begehung änderte, ist grundsätzlich zulässig; es muss allerdings durch entsprechend klare Gesetze und Gerichtsentscheidungen ausgeschlossen sein, dass die vor Inkrafttreten gesetzten Handlungen die Höhe der verhängten Strafe beeinflussen oder sonstige negative Auswirkungen auf den Angeklagten haben.487 Der Hinweis auf das internationale Recht in Art 7 II nimmt Bezug auf Tatbestände des Völkerstrafrechts wie Kriegsver-
483 EGMR, Urt v 17.12.2009, 19359/04, ECHR 2009-VI, §§ 135 ff – M./Deutschland; Urt v 13.1.2011, 27360/ 04 ua, §§ 64 ff – Schummer; Urt v 7.6.2012, 61827/09, §§ 79–87 – K./Deutschland. 484 EGMR (GK), Urt v 21.10.2013, 42750/09, ECHR 2013-VI, §§ 98, 105 – Del Río Prada. 485 EGMR (GK), Urt v 21.10.2013, 42750/09, ECHR 2013-VI, § 117 – Del Río Prada; vgl hierzu das Sondervotum des Richters Nicolaou, der im hier genannten Aspekt eine Verletzung von Art 5 I sieht, eine Verletzung von Art 7 jedoch verneint. 486 EGMR (GK), Urt v 22.3.2001, 34044/96 ua, ECHR 2001-II, § 74 – Streletz, Kessler u Krenz. 487 EGMR, Urt v 21.1.2003, 45771/99, ECHR 2003-I, § 36 – Veeber (Nr 2); in diesem Sinne auch EGMR, Urt v 10.2.2004, 55103/00, §§ 26 ff – Puhk; EGMR (GK), Urt v 27.1.2015, 59552/08, ECHR 2015-I, §§ 59 ff – Rohlena.
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brechen, Völkermord uä.488 Als Ausnahme formuliert hat diese Regelung den gleichen Inhalt und die gleiche Zielsetzung wie die Bezugnahme auf das internationale Recht in Art 7 I; ursprünglich als Rechtfertigung der Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg und Tokio konzipiert, schließt Art 7 II die Berufung auf die Straffreiheit nach innerstaatlichem Recht in jenen Fällen aus, in denen das Völkerrecht die Strafbarkeit vorsieht.489 Art 7 II stellt in diesem Sinne lediglich eine kontextabhängige Klarstellung des Teils des Rückwirkungsverbots aus Art 7 I betreffend die Verantwortlichkeit dar, der integriert wurde, um sicherzustellen, dass es keinen Zweifel im Hinblick auf die Gültigkeit von Strafverfolgungen nach dem Zweiten Weltkrieg betreffend während dieses Kriegs begangener Verbrechen gab; Art 7 II stellt keine allgemeine Ausnahme zur Regel der nicht rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen dar.490 110 Neben dem Rückwirkungsverbot enthält Art 7 auch ein Gesetzmäßigkeitsund Klarheitsgebot bzw Bestimmtheitsgebot. Nur ein hinreichend bestimmtes und klares Gesetz darf einen Straftatbestand bestimmen und eine Strafe androhen; daraus folgt, dass ein Straftatbestand eindeutig vom Gesetz festgelegt sowie in diesem klar umschrieben sein muss und die aus der Verletzung des Tatbestands folgende Strafe im Gesetz definiert sein muss. Diesem Erfordernis wird dann Genüge getan, wenn dem Wortlaut der jeweiligen Vorschrift, soweit erforderlich mit Hilfe der Auslegung durch die Gerichte, zu entnehmen ist, für welche Handlungen und Unterlassungen das Individuum strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann und welche Strafe ihm droht.491 Art 7 enthält daher kein Verbot einer schrittweisen Klärung des Inhalts strafgesetzlicher Regelungen durch richterliche Auslegung;492 er setzt dabei aber voraus, dass die Rspr in sich widerspruchsfrei493 und ihre Entwicklung iE mit dem Wesen des Straftatbestands vereinbar und ausrei-
488 Strafbarkeit nach Völkerrecht bejaht in EGMR, Urt v 17.1.2006, 23052/04 ua, ECHR 2006-I – Kolk u Kislyiy (Verurteilung der Bf wegen der Beteiligung an Deportationen estnischer Zivilisten in die Sowjetunion im Jahr 1949); Ent v 17.3.2009, 13113/03, ECHR 2009-I – Ould Dah (Verurteilung in Frankreich wegen Folter in Mauretanien); EGMR (GK), Urt v 17.5.2010, 36376/04, ECHR 2010-IV – Kononov; s hierzu auch EGMR, Ent v 21.6.2011, 2615/10 – Polednová; EGMR (GK), Urt v 18.7.2013, 2312/08, ECHR 2013-IV, 70 ff – Maktouf u Damjanović; Harris/O’Boyle/Warbrick EMRK, S 500; Kreicker Art 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, 2002, S 81 f; Satzger, JuS 2004, 943. 489 Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 7 Rn 1, 11; Kadelbach in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/ GG, Kap 15 Rn 42 f. 490 EGMR (GK), Urt v 18.7.2013, 2312/08, ECHR 2013-IV, § 72 – Maktouf u Damjanović; Urt v 20.10.2015, 35343/05, ECHR 2015-VII, § 189 – Vasiliauskas. 491 EGMR (GK), Urt v 27.1.2015, 59552/08, ECHR 2015-I, § 50 – Rohlena. 492 EGMR, Urt v 11.6.2020, 15271/16 ua, NVwZ 2021, 137, §§ 35 ff – Baldassi ua. 493 Kadelbach in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 15 Rn 25 mwN.
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chend vorhersehbar ist.494 Die gesetzliche Grundlage einer Strafe muss für Adressaten hinreichend zugänglich sein;495 zudem müssen die Adressaten einer Bestimmung die Folgen ihres Verhaltens präzise vorhersehen können.496 Zudem darf das Strafgesetz nicht – etwa durch Analogieschlüsse – zu Lasten eines Angeklagten exzessiv ausgelegt werden.497 Aus Art 7 ergibt sich insoweit auch das Verbot, eine Person für eine die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer anderen begründende Handlung zu bestrafen.498 Das Bestimmtheitsgebot ist auch im Übrigen kein absolutes Gebot; vielmehr variieren die Anforderungen an den Grad der Bestimmtheit nach verschiedenen Kriterien499 wie etwa dem betroffenen Rechtsgebiet oder der Zahl und der Eigenschaften der Adressaten.500 Lösung Fall 2: Da W wegen einer Handlung oder Unterlassung strafrechtlich verurteilt worden ist, kommt Art 7 zur Anwendung. Fraglich ist, ob die Tötung an der Berliner Mauer zum Zeitpunkt ihrer Begehung strafbar war. Kein Zweifel besteht daran, dass die Tötung den Tatbestand des § 113 StGB-DDR (Totschlag) erfüllte. Fraglich ist, ob Rechtfertigungsgründe vorlagen. Diese könnten in der – wenngleich rechtsstaatlichen Standards nicht entsprechenden – Staatspraxis in der DDR gesehen werden, wonach die diensttuenden Grenzsoldaten im Fall einer geglückten Flucht mit strafrechtlichen Ermittlungen durch die Militärstaatsanwaltschaft zu rechnen hatten. Der EGMR räumt zwar ein, dass es eine solche Staatspraxis gegeben habe, die dieser Staatspraxis zu Grunde liegende Staatsräson müsse jedoch ihre Grenzen in der Verfassung und in der Gesetzgebung der DDR selbst finden, wobei zu berücksichtigen sei, dass das Recht auf Leben zur Tatzeit bereits international den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte eingenommen habe.501 Die Praxis habe offensichtlich gegen die in der DDR-Verfassung verankerten Grundrechte sowie gegen die völkerrechtliche Verpflichtung zur Wahrung von Menschenrechten verstoßen, die unter anderem durch die Ratifikation des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte begründet worden sei. Der EGMR bejaht auch die Vorhersehbarkeit der Verurteilung. Zwar sei W als junger Soldat der Indoktrinierung der jungen Rekruten der Volksarmee ausgesetzt gewesen und er habe die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen bei geglücktem Grenzübertritt eines Flüchtlings riskiert, doch habe es sich bei der Verfassung und dem StGB der DDR nicht um obskure Verordnungen gehalten, weshalb der Grundsatz, dass sich nie-
494 EGMR (GK), Urt v 22.11.1995, 20166/92, Series A, Vol 335-B, §§ 34 ff – S.W./Vereinigtes Königreich; EGMR, Ent v 13.12.2005, 7485/03 – Witzsch; Ent v 29.4.2008, 33290/07 – Garagin; vgl auch EGMR, Urt v 25.7.2013, 11082/06 ua, §§ 760 ff – Khodorkovskiy u Lebedev. 495 EGMR (GK), Urt v 20.10.2015, 35343/05, ECHR 2015-VII, §§ 167 f – Vasiliauskas. 496 EGMR (GK), Urt v 21.10.2013, 42750/09, ECHR 2013-VI, § 79 – Del Río Prada; Urt v 27.1.2015, 59552/ 08, ECHR 2015-I, §§ 59 ff – Rohlena. 497 EGMR, Urt v 25.5.1993, 14307/88, Series A, Vol 260-A, § 52 – Kokkinakis; EGMR (GK), Urt v 21.10.2013, 42750/09, ECHR 2013-VI, § 78 – Del Río Prada. 498 EGMR (GK), Urt v 28.6.2018, 1828/06 ua, § 274 – G.I.E.M. S.r.l. ua. 499 Cromheecke/Dhont Handboek EVRM, S 671 ff. 500 EGMR (GK), Urt v 20.10.2015, 35343/05, ECHR 2015-VII, §§ 170 ff – Vasiliauskas. 501 EGMR (GK), Urt v 22.3.2001, 34044/96 ua, ECHR 2001-II, § 72 – Streletz, Kessler u Krenz.
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mand auf die Unkenntnis des Gesetzes berufen könne, auch für W gelte. Außerdem habe sich W freiwillig auf drei Jahre verpflichtet, und er habe wie jeder Bürger der DDR die Art des Grenzregimes gekannt. Er habe also wissen müssen, dass die Verpflichtung zum Wehrdienst die Möglichkeit eingeschlossen habe, an die Grenze abkommandiert zu werden und auf unbewaffnete Flüchtlinge schießen zu müssen. Ein einfacher Soldat könne sich überdies „nicht voll und blindlings“ auf Befehle berufen, die offensichtlich nicht nur die ureigenen Rechtsgrundsätze der DDR, sondern auch die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte, insb das Recht auf Leben, das den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnehme, verletzten. Die Verurteilung verstoße daher iE nicht gegen Art 7.502
3. Das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung 112 Art 4 7. ZP EMRK gewährleistet das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung
(„ne bis in idem“). Gemäß Art 4 7. ZP EMRK darf niemand „wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz oder dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden“ darf. Deutschland hat das 7. Zusatzprotokoll zwar unterzeichnet, bisher allerdings nicht ratifiziert. Im GG findet sich die Gewährleistung als eines der sog grundrechtsgleichen Rechte in Art 103 III GG.503 Art 50 GRCh enthält ein Art 4 7. ZP EMRK entsprechendes Recht, nach dem niemand wegen einer Straftat, deretwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf.504 Art 4 7. ZP entfaltet keine zwischenstaatliche Geltung, sondern schützt nur vor einer erneuten Bestrafung oder Verhandlung durch „denselben“ Staat.505 Art 4 7. ZP EMRK ist zudem nur anwendbar, soweit es sich um (zwei) strafrechtliche Sanktionen iSd EMRK handelt.506 Der Begriff „strafrechtlich“ des Art 4 7. ZP EMRK entspricht dem Strafrechtsbegriff der Art 6 und 7 EMRK.507 Die Aberkennung der Staatsbürgerschaft stellt zum
502 Krit zum Urt Rau, NJW 2001, 3008, sowie Roellecke, NJW 2001, 3024 (3024 f). 503 S hierzu BVerfGE 3, 248 (250 ff); 75, 1 (8 ff). 504 Jarass GRCh, Art 50 Rn 1 ff; s zu Art 50 GRCh EuGH (GK), Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10, Rn 32 ff – Fransson; Urt v 20.3.2018, Rs C-537/16 – Garlsson Real Estate ua; Urt v 20.3.2018, Rs C-524/15 – Menci; Urt v 20.3.2018, Rs C-596/16 –Enzo di Puma. 505 Zur zwischenstaatlichen Geltung des Grundsatzes im übrigen Völker- und Europarecht, insb nach Art 54 Schengener Durchführungsübereinkommen vgl Kadelbach in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 29 Rn 24 ff. 506 EGMR, Ent v 9.10.2018, 19120/15, §§ 67 ff – Seražin; Ent v 8.9.2020, 37697/13, §§ 45 ff – Prina; Ent v 29.9.2020, 59389/16 ua, §§ 35 ff – Faller u Steinmetz. 507 EGMR (GK), Urt v 8.7.2019, 54012/10, §§ 50 ff – Mihalache mwN.
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Beispiel keine solche strafrechtliche Sanktion da.508 Das Bußgeld einer Finanzmarktaufsichtsbehörde ist hingegen unter bestimmten Umständen als strafrechtliche Sanktion zu qualifizieren.509 Von der „Sperrwirkung“ des Art 4 7. ZP EMRK sind daher erneute Sanktionierungen anderer Art nicht erfasst.510 Voraussetzung für die „Sperrwirkung“ der Bestimmung ist ein durch rechts- 113 kräftiges Urteil oder Freispruch endgültig abgeschlossenes strafrechtliches Verfahren.511 Dabei ist unerheblich, ob eine gerichtliche Entscheidung zum endgültigen Abschluss der Verfahrens führt;512 entscheidend ist vielmehr, dass die entscheidende Behörde vom innerstaatlichen Recht mit der Kompetenz ausgestattet ist, die ihr eine Prüfung in der Sache gestattet.513 Für die Feststellung, ob eine Entscheidung „endgültig“ im Sinne des Art 4 7. ZP EMRK ist, ist entscheidend, ob sie im konkreten Fall nach innerstaatlichem Recht einem „ordentlichen Rechtsmittel“ unterliegt.514 Der Gerichtshof hat die Frage offen gelassen, ob eine Gnadenentscheidung einen endgültigen Abschluss eines strafrechtlichen Verfahrens im Sinne des Art 4 7. ZP darstellt.515 Liegen zwei strafrechtliche Sanktionen vor, über die die Verfahren endgültig ab- 114 geschlossen sind, so stellt sich die Frage, ob sie wegen derselben „strafbaren Handlung“ („offence/infraction“) (idem) verhängt wurden.516 Nur, wenn eine zweite Bestrafung für dieselbe „strafbare Handlung“ erfolgt ist, greift das Verbot. Der EGMR geht seit der Entscheidung im Fall Zolotukhin517 nun in ständiger Rechtsprechung von einem sachverhaltsbezogenen Zugang aus und nimmt an, dass „dieselbe Handlung“ vorliegt und das Doppelbestrafungsverbot daher anwendbar ist, wenn dasselbe tatsächliche Verhalten zweimal verfolgt oder bestraft wird; dies gilt nach Auffassung des EGMR unabhängig davon, nach welchen Delikten bestraft oder verfolgt wird, und wie sich der Unrechtsgehalt oder die wesentlichen Gesichtspunkte der beiden Delikte zueinander verhalten; der EGMR lässt es auch genügen, wenn das Verhalten nur im
508 Vgl dazu EGMR, Urt v 25.6.2020, 52273/16 ua, §§ 63 ff – Ghoumid ua. 509 EGMR, Urt v 4.3.2014, 18640/10 ua, NJOZ 2015, 712, §§ 96 ff – Grande Stevens ua. 510 Europarat, Explanatory Report relating to Protocol Nr 7, HRLJ 1985, 82, § 32. 511 EGMR, Urt v 23.10.1995, 15963/90, Series A, Vol 328-C, § 53 – Gradinger (mit Anm Grabenwarter); dazu auch Kucsko-Stadlmayer, ecolex 1996, 50; EGMR, Urt v 29.5.2001, 27569/02, § 22 – Franz Fischer; Urt v 20.7.2004, 50178/99, ECHR 2004-VIII, § 37 – Nikitin. 512 EGMR (GK), Urt v 8.7.2019, 54012/10, § 95 – Mihalache. 513 EGMR (GK), Urt v 8.7.2019, 54012/10, § 97 – Mihalache. 514 EGMR (GK), Urt v 8.7.2019, 54012/10, §§ 115 ff – Mihalache. 515 EGMR (GK), Urt v 27.5.2014, 4455/10, ECHR 2014-III, § 66 – Marguš. 516 Hierzu EGMR (GK), Ent v 8.9.2005, 14939/03, ECHR 2009-I, §§ 58 ff –Sergey Zolotukhin. 517 EGMR (GK), Ent v 8.9.2005, 14939/03, ECHR 2009-I, §§ 58 ff – Sergey Zolotukhin; s auch bereits EGMR, Urt v 23.10.1995, 15963/90, Series A, Vol 328-C, § 55 – Gradinger.
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Wesentlichen identisch ist.518 Diese Auslegung des EGMR macht die mehrfache Verfolgung Beschuldigter wegen einer Tat durch unterschiedliche Gerichte oder Behörden auch dann unzulässig, wenn es sich um „echte“ Konkurrenzen iS. Idealkonkurrenzen handelt.519 Zuvor hatte der EGMR den Ansatz vertreten, das Doppelbestrafungsverbot sei nicht anwendbar, wenn dasselbe Verhalten nach (zumindest teilweise) unterschiedlichen Delikten bestraft oder verfolgt würde; umgekehrt formuliert lag „dieselbe Handlung“ danach nur vor, wenn die beiden Delikte, nach denen die Bestrafung erfolgte, identisch oder in wesentlichen Elementen gleich waren.520 115 Eine Verdopplung der Verfahren („bis“) ist nach der Rechtsprechung des EGMR nur gegeben, wenn kein „ausreichend enger inhaltlicher und zeitlicher Zusammenhang“ („sufficiently closely connected in substance and in time“) zwischen den Verfahren besteht; erlaubt es ein solcher Zusammenhang hingegen, die beiden Verfahren nach dem innerstaatlichen Recht als Teil eines integrierten Schemas von Sanktionen anzusehen, adressieren die beiden Verfahren unterschiedliche Gesichtspunkte der Zuwiderhandlungen und sind beide Verfahren für die betroffene Person vorhersehbar sowie verhältnismäßig, liegt keine Verdopplung des Verfahrens, sondern eine mit Art 4 7. ZP EMRK konforme Kombination von Verfahren vor.521 116 In Art 4 II 7. ZP EMRK ist auch klargestellt, dass der Grundsatz des ne bis in idem die Wiederaufnahme eines Verfahrens nicht ausschließt, soweit neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das frühere Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel522 aufweist.523
518 EGMR (GK), Ent v 8.9.2005, 14939/03, ECHR 2009-I, §§ 80 ff –Sergey Zolotukhin; der EGMR wendet diesen Ansatz seither in seinen Entscheidungen an, s EGMR, Urt v 16.6.2009, 13079/03, § 56 – Ruotsalainen; Urt v 25.6.2009, 55759/07, § 63 – Maresti; Urt v 14.1.2010, 2376/03, § 52 –Tsonyo Tsonev (Nr 2); EGMR (GK), Urt v 15.11.2016, 24130/11 ua – A. u B./Norwegen, NJOZ 2018, 1462, § 108; Urt v 8.7.2019, 54012/10, §§ 67 f – Mihalache; vgl auch: Mock, RTDH 2009, 867 ff. 519 Vgl österreichischer Verfassungsgerichtshof, B 559/08, VfSlg 18833/2009, der die Übernahme des sog „same-conduct“-Ansatzes der Zolotukhin-Rspr des EGMR ausdrücklich ablehnt und in ständiger Rspr davon ausgeht, dass die wesentlichen Gesichtspunkte der Delikte, nach denen bestraft wird, entscheidend sind; solange diese nicht identisch seien, kann danach ein und dasselbe tatsächliche Verhalten zweimal bestraft werden (s dazu auch VfGH, E 1698/2017, VfSlg 20.207/2017 und VfGH, E 507/2017, VfSlg 20.246/2018). 520 EGMR, Urt v 30.7.1998, 25711/94, § 26 – Oliveira; Urt v 29.5.2001, 37950/97, ECHR 2003-VI, §§ 25, 29 – Fischer. 521 EGMR (GK), Urt v 15.11.2016, 24130/11 ua, NJOZ 2018, 1462, §§ 112 ff, 121 ff – A. u B./Norwegen; Urt v 8.7.2019, 54012/10, §§ 82 f – Mihalache; vgl EGMR, Urt v 18.5.2017, 22007/11, §§ 49 ff – Jóhannesson ua; Urt v 8.10.2019, 72051/17, §§ 58 ff – Korneyeva. 522 EGMR (GK), Urt v 27.5.2014, 4455/10, ECHR 2014-III, §§ 139 ff – Marguš. 523 EGMR, Urt v 20.7.2004, 50178/99, ECHR 2004-VIII, §§ 37, 45 ff – Nikitin; Urt v 29.7.2008, 37959/02, § 74 – Xheraj; Urt v 9.1.2018, 43977/13, §§ 84 f – Kadusic; EGMR (GK), Urt v 8.7.2019, 54012/10, § 128 – Mihalache.
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4. Recht auf Nachprüfung einer gerichtlichen Verurteilung Art 2 7. ZP EMRK garantiert jeder Person, die von einem Gericht wegen einer straf- 117 baren Handlung verurteilt wurde, das Recht, das Urt von einem übergeordneten Gericht überprüfen zu lassen. Mit Art 2 7. ZP EMRK wird damit ein Instanzenzug in Strafverfahren garantiert, der effektiven Rechtsschutz bieten muss.524 Der Anwendungsbereich ist nur eröffnet, wenn eine Verurteilung „wegen einer strafbaren Handlung“ vorliegt; wird eine Person aus Mangel an Beweisen oder mangels Nachweis der Schuld nicht verurteilt, ist Art 2 7. ZP nicht anwendbar.525 Wenn zunächst eine (weisungsgebundene) Verwaltungsbehörde über eine strafrechtliche Verurteilung entschieden hat, müssen danach noch zwei Gerichtsinstanzen mit dem Fall befasst werden können.526 Der Begriff des „Gerichts“ entspricht insofern nicht jenem des Art 6 EMRK, als das nachprüfende Gericht hinsichtlich seiner Kompetenzen die Anforderungen des Art 6 nicht zwingend erfüllen muss. Auch bloße Revisionsinstanzen oder Gerichte, die über die Annahme oder Zulassung eines Rechtsmittels entscheiden, sind daher zur Nachprüfung im Sinne des Art 2 7. ZP EMRK geeignet und hinreichend.527 Darüber hinaus kann der Gesetzgeber Ausnahmen für Bagatellsachen in Fällen vorsehen, in denen ein Höchstgericht das Verfahren in erster Instanz geführt hat; gleiches gilt, wenn die Verurteilung erst in zweiter Instanz auf Grund eines Rechtsmittels gegen den Freispruch der ersten Instanz erfolgt ist (Art 2 II 7. ZP EMRK).
5. Das Recht auf Entschädigung für Fehlurteile (Art 3 7. ZP EMRK) Bei rechtskräftiger Verurteilung und nachfolgender Wiederaufnahme des Verfah- 118 rens mit dem Ergebnis der Unschuld des Verurteilten sieht Art 3 7. ZP EMRK eine Entschädigungspflicht des Staates für den bereits verbüßten Teil der ungerechtfertigten Strafe vor. Art 3 7. ZP EMRK ist nicht lex specialis zu Art 6 II EMRK, da die Bestimmungen unterschiedliche Teilbereiche des Strafprozesses betreffen und aus diesem Grund keinen identischen Anwendungsbereich haben; Art 3 7. ZP EMRK schließt die Anwendbarkeit des Art 6 II daher nicht aus.528 Die Betroffenen sind nach
524 EGMR, Urt v 30.10.2014, 17888/12 – Shvydka; Urt v 4.6.2015, 5425/11, ECHR 2015-II – Ruslan Yakovenko. 525 EGMR, Urt v 8.1.2009, 44062/05, §§ 35 ff – Patsouris; Urt v 8.1.2009, 44058/05, §§ 30 ff – Panou. 526 EGMR, Urt v 30.11.2006, 75101/01, §§ 83 ff – Grecu (Bekämpfung einer Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft). 527 EGMR, Ent v 31.8.1999, 34311/96 – Hubner. 528 EGMR, Urt v 5.11.2002, 48539/99, ECHR 2002-IX, § 105 – Allan.
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innerstaatlichem Recht zu entschädigen, wobei es unerheblich ist, ob im Recht des betroffenen Mitgliedstaats eine Regelung bezüglich der Entschädigung vorhanden ist oder nicht.529 Die Entschädigungspflicht entfällt, wenn Betroffene die Schuld daran tragen, dass die neu auftretenden Tatsachen nicht rechtzeitig bekannt geworden sind. Art 3 7. ZP EMRK ist auch nicht anwendbar, wenn die Anklage abgewiesen wurde oder der Angeklagte durch das erstinstanzliche Gericht oder nach der Einlegung von Rechtsmitteln durch ein höheres Gericht freigesprochen wurde.530 Zweifelhaft ist, ob Betroffenen jegliche Entschädigung zu versagen ist, wenn die Zurückhaltung der entsprechenden Tatsachen auch anderen Personen zuzuschreiben ist.531 Eine Anwendbarkeit der Entschädigungspflicht scheidet auch aus, soweit ein Urteil aufgrund einer abweichenden Würdigung solcher Tatsachen erfolgte, die bereits im Ausgangsverfahren bekannt waren.532 Des Weiteren muss die Unschuld der betroffenen Person im Nachhinein eindeutig durch das die rechtskräftige Verurteilung aufhebende Urteil bzw den das Urteil aufhebenden Gnadenakt anerkannt werden.533
III. Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen 119 Art 1 7. ZP EMRK enthält verfahrensrechtliche Regelungen in Bezug auf die Be-
endigung des Aufenthalts von ausländischen Personen. Als rechtsstaatliches Mindesterfordernis wird vorgeschrieben, dass Personen, die ihren rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates haben, nur auf Grund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden dürfen.534 Darüber hinaus werden bestimmte Rechte als mindestens zu gewährleistende Verfahrensrechte normiert, die in ausgebauter Form in Art 6 I und III EMRK enthalten sind. Wird einer Person die Anordnung einer Beendigung des Aufenthalts ohne Bezugnahme auf das Verhalten, das der betroffenen Person vorgeworfen wird, ausgehändigt, verletzt dies die Rechte aus Art 1 7. ZP.535 Die betroffene Person muss die Möglichkeit haben, Gründe vorzubringen, die gegen die Ausweisung sprechen; sie muss ih-
529 EGMR, Urt v 12.7.2012, 22999/06, ECHR 2012-III, § 51 – Poghosyan u Baghdasaryan. 530 Explanatory Report, HRLJ 5 (1985), 85. 531 Flinterman in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S 976 schlägt in solchen Fällen eine teilweise Entschädigung vor. 532 EGMR, Urt v 3.7.2008, 26601/02, §§ 41 ff – Matveyev. 533 Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 3 7. ZP EMRK, Rn 1. 534 Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung ist nach den innerstaatlichen Vorschriften zu beurteilen, s EGMR, 14139/03, ECHR 2006-XI, § 81 f – Bolat. 535 EGMR, Urt v 13.7.2010, 34621/03, §§ 53 ff – Ahmed.
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ren Fall prüfen lassen können und sich zu diesem Zweck vor der zuständigen Behörde vertreten lassen können.536 Ausnahmsweise kann eine ausländische Person gem Art 1 II 7. ZP ausgewiesen werden, ohne dass ihr diese Rechte gewährt werden, wenn die Ausweisung im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist oder aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgt.537 Trifft ein Gericht die Entscheidung, eine Person aus Gründen der nationalen Sicherheit auszuweisen, auf der Grundlage klassifizierter Informationen, die der betroffenen Person nicht zugänglich gemacht werden, muss dies, um die Rechte der Person aus Art 1 7. ZP nicht zu verletzen, durch hinreichende Gewährleistung von die Rechte der Person sichernden Verfahrensgarantien ausgeglichen werden.538 Der EGMR hat nicht ausgeschlossen, dass sich im Fall einer Aufenthaltsbeendi- 120 gung ausnahmsweise Fragen der Garantien aus Art 6 EMRK stellen können, wenn Umstände vorliegen, unter denen anzunehmen ist, dass der betroffenen Person im Zielstaat massive Verweigerungen eines fairen Verfahrens drohen; hier bedarf es allerdings eines strengen Unfairnesstests. Bloße Unregelmäßigkeiten oder fehlende prozessuale Gewährleistungen im Verfahren genügen nicht, es muss vielmehr ein Verstoß gegen die Prinzipien des fairen Verfahrens vorliegen, der so grundlegend ist, dass er einer Aufhebung oder Vernichtung des Wesensgehalts des von dieser Konventionsbestimmung garantierten Rechts gleichkäme; hinsichtlich der Beweislast der betroffenen Person sind dabei die gleichen Maßstäbe anzuwenden wie bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, die am Maßstab des Art 3 EMRK gemessen werden.539
IV. Das Recht auf wirksame Beschwerde Nach Art 13 EMRK hat jedermann, der eine Verletzung seiner durch die Konventi- 121 on geschützten Rechte behauptet, das Recht auf eine „wirksame Beschwerde“ bei einer innerstaatlichen Instanz. Art 47 GRCh enthält eine vergleichbare Garantie, ihr Anwendungsbereich ist jedoch weiter, da sie sich allgem auf die durch das Recht
536 Für Einzelheiten vgl Wiederin Aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Fremdenpolizeirecht, 1993, S 85 ff. 537 EGMR, Urt v 28.6.2007, 31753/02, § 55 – Kaya (Ausweisung aus Gründen der nationalen Sicherheit auf Grundlage einer Notstandsverordnung). 538 EGMR (GK), Urt v 15.10.2020, 80982/12, § 146 – Muhammad u Muhammad; s dazu auch EGMR, Urt v 17.5.2018, 19017/16 – Ljatifi. 539 EGMR (GK), Ent v 15.6.2017, 71537/14, §§ 62 ff – Harkins.
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der Union garantierten Rechte und Freiheiten erstreckt.540 Art 13 dient vor allem der Betonung und Durchsetzung der Subsidiarität des Rechtsschutzsystems der EMRK sowie der Effektuierung der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, effektive Mechanismen zur Vermeidung bzw Ahndung von Konventionsverletzungen im innerstaatlichen Verfahren einzuführen.541 122 Art 13 EMRK kann als akzessorisches Recht nur iVm einer materiellen Garantie der EMRK oder eines ZP zur EMRK gerügt werden.542 Wie bei Art 19 IV GG ist dabei nicht die tatsächliche Verletzung der Garantie der EMRK Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art 13 EMRK; es genügt vielmehr, dass die Beschwerdeführererin die Möglichkeit der Verletzung in einer durch die Konvention gewährleisteten Garantie geltend macht.543 Die Möglichkeit der Verletzung muss in vertretbarer Weise angenommen werden können.544 Ist diese Voraussetzung erfüllt, untersucht der EGMR eine mögliche Verletzung des Art 13 auch dann, wenn ein Verstoß gegen die materielle Garantie verneint wird.545 123 Die innerstaatliche Instanz kann in einem Gericht, insb auch in einem Verfassungsgericht bestehen. Sie muss jedoch nicht notwendigerweise gerichtlich organisiert sein; die Aufgabe kann auch einer Verwaltungsbehörde oder einem parlamentarischen Organ übertragen sein.546 Es muss sich aber um eine unabhängige und unparteiische Instanz handeln.547 Art 13 verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung eines Normenkontrollverfahrens.548 124 Art 13 EMRK gewährleistet einen Rechtsanspruch auf Zugang zu der innerstaatlichen Instanz, auf inhaltliche Entscheidung über die behauptete Verletzung durch diese und garantiert zudem, dass die Entscheidung durch die innerstaatliche Instanz eine adäquate Abhilfemöglichkeit im Falle einer tatsächlich vorliegenden Rechtsverletzung bietet. Diese kann in der Aufhebung der angefochtenen Maßnah-
540 Jarass GRCh, Art 47 Rn 1 ff. 541 Vgl EGMR, Urt v 22.1.2009, 45749/06 ua, § 87 – Kaemena u Thöneböhn; Urt v 19.6.2012, 29400/05, § 82 – Communist Party of Russia ua. 542 EGMR (GK), Urt v 23.2.2016, 11138/10, § 212 – Mozer. 543 EGMR (Pl), Urt v 6.9.1978, 5029/71, Series A, Vol 28, § 64 – Klass ua; Grabenwarter/Pabel in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap 14 Rn 34. 544 EGMR (GK), Urt v 13.12.2012, 39630/09, ECHR 2012-VI, § 258 – El-Masri; EGMR, Urt v 23.7.2003, 41872/10, ECHR 2013-IV, §§ 118 ff – M. A./Zypern. 545 EGMR, Urt v 25.3.1993, 13134/87, Series A, Vol 247-C, § 59 – Costello-Roberts. 546 Haefliger, FG zum Schweizerischen Juristentag, 1988, S 27 (29). 547 EGMR, Urt v 25.3.1983, 5947/72 ua, Series A, Vol 61, §§ 113 ff – Silver ua; Urt v 28.2.2019, 35394/97, ECHR 2000-V, §§ 44 ff – Khan. 548 EGMR (Pl), Urt v 21.2.1986, 8793/79, Series A, Vol 98, § 85 – James ua; Urt v 23.6.2011, 20493/07, § 83 – Diallo.
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me, aber auch in einer Entschädigung bestehen.549 Entscheidend ist, dass der Rechtsbehelf effektiv ausgestaltet ist.550 Dazu kann es unter Umständen und je nach betroffener materieller Garantie und vorliegendem Rechtsbereich notwendig sein, dass einem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung zukommt bzw zukommen kann551 oder das Verfahren zügig betrieben wird.552 Art 13 ist nicht verletzt, soweit das Fehlen eines effektiven Rechtsbehelfs Folge des eigenen, rechtswidrigen Verhaltens der betroffenen Personen ist und ein Rechtsbehelf bei Einhaltung der in einem Staat bestehenden Regelungen vorhanden gewesen wäre.553 Eine Verletzung des Rechts auf eine wirksame Beschwerde liegt auch vor, 125 wenn grundsätzlich effektive Rechtsbehelfe in diskriminierender Weise angewendet werden; wird bei Auslegung und Anwendung innerstaatlichen Rechts nachweislich diskriminierend vorgegangen, indem etwa in Verfahren in Bezug auf Hassreden gegenüber Minderheiten deren „exzentrisches Verhalten“ und die Pflicht, ihrerseits die Meinungen und Traditionen anderer zu respektieren, in den Vordergrund gestellt wird und die Verfahren überwiegend eingestellt werden, kann nicht davon ausgegangen werden, dass den Anforderungen des Art 13 genüge getan wird.554 Die Reichweite der Verpflichtungen aus Art 13 hängt von dem jeweiligen Kon- 126 ventionsrecht ab, in dessen Verbindung es geltend gemacht wird. So gewährleistet zB Art 13 iVm Art 3 EMRK bei Verdacht der Misshandlung von Inhaftierten neben der dem Staat aus Art 3 EMRK obliegenden Pflicht, eine sorgfältige und effektive Untersuchung der Vorfälle durchzuführen,555 ein subjektives Recht der Betroffenen auf Zugang zu einem wirksamen Untersuchungsverfahren und unter Umständen auch auf Zahlung einer Entschädigung.556 Bei behaupteten Verletzungen von Art 3
549 EGMR (GK), Urt v 29.3.2006, 36813/97, ECHR 2006-V, § 186 – Scordino (Nr 1), einige Staaten hätten laut EGMR die Situation „perfekt erfasst“, indem sie beide Arten von Rechtsmitteln kombiniert hätten; EGMR (GK), Urt v 15.6.2015, 13216/05, ECHR 2015-III, §§ 209 ff – Chiragov ua; Urt v 16.6.2015, 40167/06, ECHR 2015-IV, §§ 262 ff – Sargsyan. 550 EGMR (GK), Urt v 26.10.2000, 30210/96, ECHR 2000-XI, § 157 – Kudła; Urt v 18.12.2012, 22689/07, ECHR 2012-VI, § 78 – De Souza Ribeiro; EGMR, Urt v 23.7.2003, 41872/10, ECHR 2013-IV, § 137 – M. A./Zypern; Urt v 22.4.2014, 6528/11 ua, § 95 – A.C. ua/Spanien. 551 S dazu EGMR, Urt v 20.1.2011, 19606/08, §§ 132 ff – Payet; EGMR (GK), Urt v 18.12.2012, 22689/07, ECHR 2012-VI, §§ 82 f – De Souza Ribeiro; EGMR, Urt v 5.7.2016, 29094/09, §§ 64 ff – A.M./Niederlande; EGMR (GK), Urt v 15.12.2016, 16483/12, § 297 – Khlaifia ua. 552 EGMR, Urt v 15.1.2015, 62198/11, NJW 2015, 1433, §§ 136 ff – Kuppinger. 553 EGMR (GK), Urt v 13.2.2020, 8675/15 ua, NVwZ 2020, 697, §§ 242 f – N.D. u N.T./Spanien. 554 EGMR, Urt v 14.1.2020, 41288/15, §§ 151 ff – Beizaras u Levickas. 555 S dazu auch EGMR, Urt v 10.10.2019, 34016/18 – O.D./Bulgarien. 556 EGMR, Urt v 18.12.1996, 21987/93, Rep 1996-VI, § 98 – Aksoy; Urt v 12.7.2012, 22999/06, ECHR 2012III, § 46 – Poghosyan u Baghdasaryan; Urt v 6.9.2016, 73548/13, §§ 146 ff – W.D./Belgien.
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durch Haftbedingungen557 oder eine Isolationshaft558 gebietet Art 13 nach der Rspr des EGMR jedenfalls die Möglichkeit der Beschwerde an eine gerichtliche Instanz („judicial body“). Eine Verletzung von Art 13 iVm Art 3 EMRK liegt auch dann vor, wenn ein Mitgliedstaat keinen hinreichenden Rechtsschutz in Fällen von Misshandlungen durch Private gewährleistet.559 Hinsichtlich einer behaupteten Verletzung des Rechts auf Leben nach Art 2 EMRK nimmt der EGMR unter anderem auch eine aus Art 13 resultierende Verpflichtung der Mitgliedstaaten an, ein Verfahren vorzusehen, mit dem die mögliche Verantwortlichkeit staatlicher Stellen geklärt werden kann.560 Darüber hinaus muss der Betroffene die Möglichkeit haben, für die durch die Konventionsverletzung erlittenen materiellen und immateriellen Schäden Schadensersatz zu erhalten.561 Der EGMR stellt in solchen Fällen nunmehr sowohl eine Verletzung von Art 2 EMRK als auch eine solche von Art 13 fest.562 Art 13 wird in Fällen von Freiheitsentziehungen zu präventiven Zwecken auch im Zusammenhang mit Art 2 4. ZP EMRK relevant.563 Die Garantie aus Art 13 kann auch in Verbindung mit Art 3 1. ZP EMRK geltend gemacht werden; liegt die Möglichkeit der Verletzung der Garantie vor, muss ein effektiver Rechtsbehelf zur Überprüfung der Wahlergebnisse und Sitzverteilungen gewährleistet und unter Umständen eine Neuauszählung von Stimmen beantragt werden können.564 Hierbei ist es nicht zwingend notwendig, dass ein Gericht über die Gültigkeit der Wahl entscheidet, soweit die entscheidende Instanz mit hinreichenden Garantien der Unparteilichkeit ausgestattet ist, ihre Entscheidungsbefugnis im innerstaatlichen Recht hinreichend bestimmt festgelegt ist und wesentliche Verfahrensgarantien gewährt werden.565
557 EGMR, Urt v 10.3.2015, 14097/12 ua, § 98 – Varga ua; Urt v 24.3.2016, 48475/09, §§ 54 ff – Sakir; Urt v 6.9.2016, 14344/13, § 67 – Alimov. 558 EGMR (GK), Urt v 4.7.2006, 59450/00, ECHR 2006-IX, § 165 – Ramirez Sanchez. 559 EGMR (GK), Urt v 28.1.2014, 35810/09, ECHR 2014-I, §§ 175 ff – O’Keeffe; EGMR, Urt v 4.6.2020, 15343/15 ua – Association Innocence en Danger u Association Enfance et Partage. 560 EGMR, Urt v 19.2.1998, 22729/93, Rep 1998-I, § 107 – Kaya; Urt v 15.1.2004, 27699/95, § 96 – Tekdağ; Urt v 20.4.2004, 28298/95, §§ 103 ff – Buldan; Urt v 1.7.2010, 17674/02 ua, §§ 308 ff – Davydov ua; vgl auch EGMR, Urt v 13.3.2012, 2694/08, § 61 – Reynolds; Urt v 27.1.2015, 36925/10 ua, § 182 – Neshkov ua; Urt v 23.2.2016, 44883/09, §§ 331 ff – Nasr u Ghali; Urt v 13.4.2017, 26562/07 ua, NJOZ 2019, 458, § 627 – Tagayeva ua; s zu Art 13 iVm Art 2 EMRK auch EGMR (GK), Urt v 17.7.2014, 47848/08, ECHR 2014-V – Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu. 561 EGMR, Urt v 19.2.1998, 22729/93, Rep 1998-I, § 107 – Kaya; EGMR (GK), Urt v 10.5.2001, 29392/95, ECHR 2001-V, § 109 – Z. ua/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt v 14.3.2002, 46477/99, ECHR 2002-II, § 97 – Paul u Audrey Edwards. 562 Vgl EGMR, Urt v 15.1.2004, 27699/95, §§ 95 ff – Tekdağ, Urt v 13.7.2010, 45661/99, § 166 – Carabulea; Urt v 13.4.2017, 26562/07 ua, NJOZ 2019, 458 – Tagayeva ua; vgl Irmscher, EuGRZ 2006, 11 (15). 563 EGMR (GK), Urt v 23.2.2017, 43395/09, §§ 181 ff – De Tommaso. 564 EGMR (GK), Urt v 10.7.2020, 310/15, § 133 – Mugemangango. 565 EGMR (GK), Urt v 10.7.2020, 310/15, § 137 – Mugemangango.
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§ 11.1 Freiheit, Sicherheit, Justiz-und Verfahrensgrundrechte: EMRK
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Eine Verletzung von Art 13 in Verbindung mit Art 8 EMRK sowie mit Art 1 1. ZP EMRK stellte der EGMR in einem Fall fest, in dem es um mangelnden Zugang zu Wohnhäusern und Gräbern Familienangehöriger armenischer Staatsangehöriger im Zuge des Nagorny-Karabach-Konflikts ging.566 Im Verhältnis zu Art 13 sind die Verfahrensgarantien des Art 5 IV, V leges spe- 127 ciales, so dass der EGMR diesbezüglich regelmäßig keine gesonderte Prüfung vornimmt.567 Entgegen der früheren Rspr des EGMR568 ist es nicht ausgeschlossen, dass Art 13 auch in Verbindung mit einer behaupteten Verletzung einer der in Art 6 I gewährleisteten Verfahrensgarantien – etwa dem Recht auf Vollstreckung eines Gerichtsurteils binnen angemessener Frist – Anwendung findet.569
566 EGMR (GK), Urt v 14.6.2015, 40167/06, ECHR 2015-IV – Sargsyan. 567 EGMR, Urt v 5.2.2009, 21519/02, § 162 – Khadisov u Tsechoyev. 568 EGMR, Urt v 9.10.1979, 6289/73, Series A, Vol 32, § 35 – Airey; EGMR (Pl), Urt v 23.9.1982, 7151/75 ua, Series A, Vol 52, § 88 – Sporrong u Lönnroth. 569 EGMR, Urt v 15.1.2009, 33509/04, ECHR 2009-I, §§ 98 ff – Burdov (Nr 2); Urt v 15.10.2009, 40450/04, §§ 65 ff – Yuriy Nikolayevich Ivanov; EGMR (GK), Urt v 12.10.2017, 46852/13 ua, NJW 2019, 27, §§ 143 ff – Burmych ua.
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§ 11.2 Recht auf Freiheit und Sicherheit nach der GRCh Leitentscheidungen: EuGH, Rs C-105/03, Slg 2005, I-5285 ff – Pupino; EuGH (GK), Urt v 16.7.2015, Rs C237/15 PPU – Lanigan; EuGH (GK), Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709 ff – Aranyosi und Căldăraru; EuGH (GK), Urt v 15.2.2016, Rs C-601/15 PPU, NVwZ 2016, 1789 ff – J. N.; EuGH, Urt v 13.9.2017, Rs C-60/16, NVwZ 2018, 46 ff – Amayry; EuGH, Urt v 15.3.2017, Rs C-528/15, NVwZ 2017, 777 ff – Al Chodor; EuGH, Urt v 14.9.2017, Rs C-18/16 – K.; EuGH, Urt v 13.9.2017, Rs C-492/18 PPU, EuGRZ 2020, 16 ff – TC; EuGH, Urt v 27.5.2019, verb Rs C-508/18 u. C-82/19 PPU, NJW 2019, 2145 ff – OG u. PI; EuGH (GK), Urt v 17.12.2020, Rs C-808/18 – Kommission/Ungarn; EuGH, Urt v 9.10.2019, Rs C-489/ 19 PPU, NJW 2020, 203 ff – NJ; EuGH (GK), Urt v 19.12.2019, Rs C-752/18, NJW 2020, 977 ff – Deutsche Umwelthilfe; EuGH, Urt v 12.12.2019, verb Rs C-566/19 PPU u C-626/19 PPU, EuGRZ 2020, 16 ff – JR u YC; EuGH (GK), Urt v 8.11.2022, verb Rs C-704/20 u C-39/21, NVwZ-RR 2023, 261 ff – Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid/B, C u X.
Schrifttum: Amelung Die Entstehung des Grundrechtsschutzes gegen willkürliche Verhaftung, JURA 2005, 447 ff; Baldus/Heger Recht auf Freiheit und Sicherheit, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2020, § 18; Beukelmann Europäisierung des Strafrechts – Die neue strafrechtliche Ordnung nach dem Vertrag von Lissabon, NJW 2010, 2081 ff; Calliess Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, DVBl 2003, 1096 ff; Gaede Minimalistischer EU-Grundrechtsschutz bei der Kooperation im Strafverfahren, NJW 2013, 1279 ff; Gusy Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, VVDStRL 63 (2004), 153 ff; Klement Freiheit der Person, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, Bd 2, 2022, § 9; Leuschner Sicherheit als Grundsatz, 2018; Peyronnet Rétention des demandeurs d’asile et droit à la liberté et à la sûreté : Les errements stratégiques de la Cour de justice, La Revue des droits de l’homme, Actualités Droits-Libertés 2016, 1 ff; Reindl Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention – Der Schutz der persönlichen Freiheit und die Haft im Strafverfahren, 1997; Szczekalla Die sogenannten Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002; Trentmann Eurojust und Europäische Staatsanwaltschaft – Auf dem richtigen Weg?, ZStW 2017, 108 ff; Zeder Europastrafrecht, Vertrag von Lissabon und Stockholmer Programm: Mehr Grundrechtsschutz?, EuR 2012, 34 ff.
Fall 1 (EuGH (GK), Urt v 15.2.2016, Rs C-601/15 PPU, NVwZ 2016, 1789 ff – J. N.): J. N. reiste im September 1995 in die Niederlande ein und stellte am Einreisetag einen ersten Asylantrag, der jedoch abgelehnt wurde. Eine gegen die Ablehnung erhobene Klage wurde mit Urteil vom Juni 1997 als unbegründet abgewiesen. Zwischen November 1999 und Juni 2015 wurde J. N. in 21 Fällen, meist wegen Diebstahls, zu Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt. Im Juli 2013 stellte er einen dritten Asylantrag, der wiederum abgelehnt wurde. Zugleich gab der Staatssekretär J. N. auf, die EU unverzüglich zu verlassen und verhängte gegen ihn ein Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren. Im Januar 2015 wurde J. N. in den Niederlanden wegen Diebstahls und Verstoßes gegen das gegen ihn verhängte Einreiseverbot festgenommen und wegen der beiden Taten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Während der Verbüßung der Freiheitsstrafe stellte J. N. im Februar 2015 seinen insgesamt vierten Asylantrag, über den jedoch wegen des Gesundheitszustandes von J. N. nicht entschieden werden konnte. Im Juni 2015 wurde J.N. erneut wegen Diebstahls und Verstoßes
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gegen das gegen ihn verhängte Einreiseverbot festgenommen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die er bis September 2015 verbüßte. Da er wegen seines Gesundheitszustandes im September 2015 immer noch nicht zu seinem vierten Asylantrag angehört konnte, wurde er auf Grundlage der Vorschrift des niederländischen Ausländergesetzes, mit der Art 8 III UAbs 1 lit e der Aufnahmerichtlinie RL 2013/33/EU umgesetzt wird, erneut als Asylbewerber in Haft genommen. Art 8 III UAbs 1 lit e der Richtlinie RL 2013/33/EU gestattet die Inhaftnahme eines Antragstellers im Asylverfahren, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist. Die niederländischen Behörden vertraten die Auffassung, J. N. halte sich auf Grund des vierten Asylantrags zwar rechtmäßig in den Niederlanden auf, doch sei seine Inhaftierung zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt, weil er wegen Straftaten verurteilt worden sei und weiterer Straftaten verdächtigt werde. Dagegen erhob J. N. Klage, die jedoch erstinstanzlich abgewiesen wurde. Im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens machte J. N. geltend, seine Inhaftierung verstoße gegen Art 5 I lit f 2. Satzteil EMRK, der vorsehe, dass ein Ausländer nur in Haft genommen dürfe, wenn ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange sei. Werde ein Ausländer, der sich bis zur Entscheidung über seinen Asylantrag rechtmäßig in den Niederlanden aufhalte, in Haft behalten, verstoße dies gegen diese Bestimmung. Das Rechtsmittelgericht warf die Frage nach der Gültigkeit von Art 8 III UAbs 1 lit e der Richtlinie RL 2013/33/EU im Lichte von Art 6 GRCh auf und leitete daher ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH ein.
I. Systematische Einordnung Das Recht auf Freiheit und Sicherheit steht am Beginn des zweiten Kapitels der 2 GRCh über die höchstpersönlichen Freiheitsrechte und wird zu Recht als die „Mutter aller (Freiheits-)Grundrechte“1 bezeichnet, da es das auf eine lange Rechtstradition zurückblickende „Habeas corpus“-Recht aufnimmt, welches Schutz gegen willkürliche Freiheitsentziehungen durch die Staatsgewalt gewährleistet.2 Art 6 GRCh stimmt mit Art 5 I 1 EMRK überein. Nach den Charta-Erläuterungen und der Rechtsprechung des EuGH soll Art 6 GRCh der Garantie des Art 5 EMRK, welcher in den Erläuterungen zu Art 6 GRCh wörtlich wiedergegeben wird, entsprechen,3 so dass der Schutzgehalt des Art 6 GRCh wegen Art 52 III 1 GRCh nicht hinter der Konventionsgarantie zurückbleiben darf.4 In Bezug auf den Schutzgehalt ist der Wortlaut der Norm „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“ durchaus missverständlich, da darunter statt dem Schutz vor willkürlicher Freiheitsentzie-
1 Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 1. 2 Jarass GRCh, Art 6 Rn 2; Ogorek in: Stern/Sachs, GRCh, Art 6 Rn 1. 3 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303, 17 (19); EuGH, Urt v 15.2.2016, Rs C-601/15 PPU, NVwZ 2016, 1789, Rn 43 ff u 47 – J. N. 4 EuGH, Urt v 15.3.2017, Rs C-528/15, NVwZ 2017, 777, Rn 37 – Al Chodor; EuGH, Urt v 12.2.2019, Rs C492/18 PPU, EuGRZ 2020, 16, Rn 57 – TC; Jarass GRCh, Art 6 Rn 1.
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hung und Einschränkung der körperlichen Fortbewegungsfreiheit auch eine umfassende allgemeine Handlungsfreiheit nach dem Vorbild von Art 2 I GG verstanden werden könnte.5 Dass Letzteres jedoch nicht gemeint sein kann, ergibt sich aus der Anlehnung der Vorschrift an Art 5 EMRK.6 3 Der Schutzbereich von Art 6 GRCh umfasst zwei Gewährleistungen: Zum einen die individuelle Bewegungsfreiheit, die gemäß Art 52 III 1 iVm Art 6 GRCh nur auf gesetzlicher Grundlage und nur unter Beachtung der in Art 5 I lit a bis f EMRK genannten Haftgründe entzogen werden darf. Zum anderen gewährleistet Art 6 GRCh über Art 52 III 1 GRCh, dass bei einer Festnahme oder Inhaftierung die in Art 5 II-IV EMRK aufgelisteten Verfahrensanforderungen gewahrt werden, welche die Integrität des Betroffenen in hoheitlichem Gewahrsam sichern sollen.7 Die Vorschrift des Art 6 GRCh bindet über Art 51 I 1 GRCh nicht nur die Union selbst, sondern auch die Mitgliedstaaten, welche verpflichtet sind, bei einer Freiheitsentziehung die in Art 5 EMRK genannten Anforderungen zu beachten.8 4 Art 6 GRCh erlangte in der Rechtsprechung des EuGH in den letzten Jahren zunehmend Bedeutung, weil durch Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon die Union im Bereich der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art 82, 83 und 85 AEUV sowie im Rahmen der polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen gem. Art 87 ff AEUV weitere Kompetenzen erhalten hat.9 Damit wird Art 6 GRCh nicht nur bei der Durchführung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten iSv Art 51 I 1 GRCh wie etwa bei der Ausstellung und Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls,10 sondern zunehmend auch bei unionalen Rechtsakten relevant. Hinzu kommt, dass sich mit dem Stockholmer Programm11 aus dem Jahr 2010 und dem Post-Stockholm-Programm12 aus dem Jahr 2014 Ansätze einer umfassenden europäischen Politik der inneren Sicherheit zeigen, deren Akzente vor allem auf der Bekämpfung der Cyber-Kriminalität sowie der Steuerung und Koordination der Flüchtlingspolitik liegen,13 so dass die Bedeutung des Art 6 GRCh in Zukunft eher noch zunehmen dürfte. Bereits jetzt ist Art 6 GRCh im Asylrecht bei
5 Schorkopf in: in: Vorauflage, § 16 Rn 4. 6 Klement, in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 8. 7 EGMR (Pl), Urt v 2.3.1987, 9787/82, Series A114, § 40 – Weeks/Vereinigtes Königreich. 8 EGMR, Urt v 12.6.2003, 44672/98, NJW 2004, 2209, § 43 – Herz/Deutschland. 9 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 GRCh Rn 2. 10 Wutscher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 6 Rn 10. 11 Europäische Kommission, Mitteilung KOM (2010) 171 endg v 20.4.2010. 12 Europäische Kommission, Mitteilung KOM (2014) 154 endg v 11.3.2014. 13 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 GRC Rn 2. Andrea Edenharter
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der Auslegung und Anwendung des Dublin III-Regimes14 von Relevanz.15 Art 6 GRCh steht in engem Zusammenhang mit den justiziellen Rechten des sechsten Titels der Grundrechte-Charta (Art 47–50 GRC) und dem dazu ergangenen Sekundärrecht.16 Präzisiert und ergänzt wird Art 6 GRCh dabei insbesondere durch die Garantie spezieller Verfahrensrechte wie etwa das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht sowie die Verhältnismäßigkeit von Strafmaß und Strafe. Eine Verletzung der justiziellen Rechte einer in ihrer Freiheit beschränkten Person kann daher zugleich eine Verletzung in Art 6 GRCh begründen.17
II. Schutzbereich 1. Sachlicher Schutzbereich Art 6 GRCh schützt angesichts seiner historischen Vorgeschichte ausschließlich die 5 körperliche Fortbewegungsfreiheit. Konkret geht es darum, dass die Freiheit, einen bestimmten Ort verlassen zu können (positive Bewegungsfreiheit) bzw. sich an einen bestimmten Ort nicht begeben zu müssen (negative Bewegungsfreiheit), gewährleistet sein soll.18 Dies bedeutet, dass die Vorschrift vor allem gegen Freiheitsentziehungen durch Haft schützen soll. Teilweise wird vertreten, dass der Schutzbereich die gesamte körperliche Bewegungsfreiheit, dh auch das Recht, einen selbst gewählten Ort aufzusuchen und dort zu verbleiben, umfasse.19 Für eine derartige Ausweitung des Schutzbereichs könnte sprechen, dass die Freizügigkeitsgarantie des Art 45 I AEUV in bestimmten Konstellationen Schutzlücken aufweist, etwa in Bezug auf die Freiheit der Ausreise in Drittstaaten.20 Entscheidend gegen eine Ausweitung des Schutzbereichs ist jedoch einzuwenden, dass es dafür in der Entstehungsgeschichte des Art 6 GRCh keinerlei Anhaltspunkte gibt21 und überdies
14 VO (EU) Nr 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl 2013 Nr L 180/31. 15 Vgl EuGH, Urt v 13.9.2017, Rs C-60/16, NVwZ 2018, 46, Rn 43 ff – Amayry; EuGH (GK), Urt v 8.11.2022, verb Rs C-704/20 u C-39/21, NVwZ-RR 2023, 261 ff – Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid; Wutscher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 6 Rn 10. 16 Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 51 ff. 17 Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 51 ff. 18 Jarass GRCh, Art 6 Rn 6; Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 33. 19 So etwa Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 5. 20 Vgl Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 34. 21 Jarass GRCh, Art 6 Rn 6.
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die Garantie des Art 6 GRCh banalisiert würde, wenn daraus ein Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsortes konstruiert werden könnte.22 Daneben kann dem Schutzbereich des Art 6 GRCh auch über Art 53 GRCh kein Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung entnommen werden, da insoweit die uneinheitlichen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten entgegen stehen.23 Der Schutz der Sicherheit entfaltet neben dem Schutz der Freiheit keine eigenständige Bedeutung.24 Begründet wird dies mit einem Verweis auf die französische Rechtstradition, welche die Sicherheit als „garantie de la sécurité juridique de l’individu face au pouvoir“, mithin als Annexgarantie im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen, sieht.25 Daher ergibt sich aus Art 6 GRCh kein Anspruch auf Asyl, Einreise oder Nicht-Ausweisung.26 Andererseits hat der EuGH aber betont, dass das Recht auf Sicherheit gerade im Hinblick auf Maßnahmen zum Schutz vor Verbrechen bedeutsam sei.27 Außerdem könne das Recht auf Sicherheit Schutzmaßnahmen gegen Terrorismus und schwere Kriminalität legitimieren.28 Folgt man dieser Ansicht und stützt derartige Maßnahmen nicht auf Art 2 oder 3 GRCh, sondern auf Art 6 GRCh in seiner Schutzpflichtdimension,29 erfährt der Schutzbereich von Art 6 GRCh eine erhebliche Ausdehnung. Dadurch dürfte die Bedeutung des Grundrechts im Kampf gegen den Terrorismus steigen,30 gleichzeitig aber gehen die Konturen des Schutzbereichs weitgehend verloren und es besteht die Gefahr einer Nivellierung der insoweit spezielleren Grundrechtsgarantien,31 so dass gute Gründe dagegen sprechen, Art 6 GRCh zu einem Super-Grundrecht im Kampf gegen den Terrorismus auszubauen.
22 Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 34; Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 6 GRCh Rn 4. 23 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 GRCh Rn 8. 24 Jarass GRCh, Art 6 Rn 6a; Ogorek in: Stern/Sachs, GRCh, Art 6 Rn 9; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 GRCh Rn 9; s auch EGMR, Entsch v 1.6.2004, 24561/94, Rn 57 – Altun/Türkei; aA aber Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 94 ff; Leuschner Sicherheit als Grundsatz, 2018, S 72 ff u 187 ff. 25 Rivero Les libertés publiques, 1977, Bd 2, S 21; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 GRCh Rn 9; zu Art 5 EMRK s. Powell, EHRLR 6 (2007), 649 ff. 26 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 GRCh Rn 9; Grabenwarter/Pabel EMRK, § 21 Rn 3. 27 EuGH, Urt v 8.4.2014, Rs C-293/12, NJW 2014, 2169, Rn 42 – Digital Rights Ireland; Urt v 15.2.2016, Rs C-601/15, NVwZ 2016, 1789, Rn 53 – J. N.; ähnlich auch EuGH (GK), Urt v 20.9.2022, verb Rs C-793/19 u C794/19, NVwZ 2022, 1697, Rn 123 – SpaceNet AG ua, freilich ohne explizite Erwähnung von Art 6 GRCh. 28 EuGH, Urt v 8.4.2014, Rs C-293/12, NJW 2014, 2169, Rn 42 – Digital Rights Ireland; Jarass GRCh, Art 6 Rn 6a. 29 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 GRCh Rn 12; Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 6 GRCh Rn 5; gegen die Annahme einer Schutzpflicht aus Art 6 GRCh aber Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 6 Rn 14; Ogorek in: Stern/Sachs, GRCh, Art 6 Rn 9. 30 Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 6 Rn 15. 31 Dazu auch Leuschner Sicherheit als Grundsatz, 2018, S 85; Wutscher in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 6 Rn 21 f.
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2. Persönlicher Schutzbereich Art 6 GRCh schützt alle natürlichen Personen unabhängig von ihrem Alter und ih- 6 rer Geschäftsfähigkeit.32 Daher fallen auch Minderjährige in den persönlichen Schutzbereich.33 Der Schutz von Art 6 GRCh ist unabhängig von der Staatsangehörigkeit, erstreckt sich mithin auch auf Staatenlose und Drittstaatsangehörige.34 Auf juristische Personen und Personenvereinigungen hingegen ist das Grundrecht seinem Wesen nach nicht anwendbar, nachdem Art 6 GRCh von „Mensch“ spricht.35
III. Eingriffe Art 6 GRCh kann insbesondere durch Freiheitsentziehungen und Festnahmen be- 7 einträchtigt werden. Dies ergibt sich aus Art 5 I 2, II-IV EMRK iVm Art 52 III 1 GRCh. Unter einer Freiheitsentziehung versteht man „die Einschließung auf einen sehr begrenzten Raum auf eine nicht zu vernachlässigende Zeit“36 gegen den Willen des Betroffenen.37 Die Freiheitsentziehung ist von der bloßen Beschränkung der Bewegungsfreiheit zu unterscheiden. Die Abgrenzung erfolgt nach dem konkreten Sachverhalt unter Würdigung der Art und Dauer der Beeinträchtigung und den Auswirkungen und sonstigen Umständen des Falles.38 Erfasst werden ua die Untersuchungshaft, die Strafhaft, die Überstellungshaft im Rahmen des Dublin-III-Systems,39 die Sicherungsverwahrung und die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt.40 Auch die Aufhebung der Fähigkeit zum Erkennen der eigenen Umwelt, zur Bildung eines Willens oder zur Lenkung des Handelns durch diesen Willen, etwa durch die Verabreichung von Psychopharmaka, kann einen Eingriff in Art 6 GRCh begründen.41 Die bloße Beschränkung der Bewegungsfreiheit hingegen ist lediglich eine Freiheitsbeschränkung, die keinen Eingriff in Art 6 GRCh begründet,
32 EGMR, Urt v 2.3.1987, 9787/82, Series A114, Rn 40 – Weeks/Vereinigtes Königreich; Jarass GRCh, Art 6 Rn 7; Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 6 Rn 14. 33 EuGH, Urt v 26.4.2012, Rs C-92/12 PPU, FamRZ 2012, 1466, Rn 111 – Health Service Executive. 34 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 GRCh Rn 5. 35 Jarass GRCh, Art 6 Rn 7; Knecht in: Schwarze, EU-Komm, Art 6 GRCh Rn 3. 36 EGMR, Urt v 16.6.2005, 61603/00, RJD 2005-V, Rn 74 – Storck/Deutschland. 37 Jarass GRCh, Art 6 Rn 9. 38 EGMR, Urt v 26.6.1996, 19776/92, Reports 1996-III, Rn 42 – Amuur/Frankreich. 39 EuGH (GK), Urt v 15.2.2016, Rs C-601/15 PPU, NVwZ 2016, 1789, Rn 49 – J.N.; EuGH, Urt v 15.3.2017, C528/15, NVwZ 2017, 777, Rn 36 – Al Chodor. 40 EuGH, Urt v 26.4.2012, Rs C-92/12 PPU, FamRZ 2012, 1466 Rn 111 – Health Service Executive; s auch Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 38. 41 Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 38. Andrea Edenharter
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was sich schon aus Art 5 I 2 EMRK iVm Art 52 III GRCh ergibt. Auch der EuGH verneint bei bloßen Freiheitsbeschränkungen, etwa in Form der bloßen Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit, einen Eingriff in Art 6 GRCh.42 Ein Eingriff in Art 6 GRCh liegt nach Auffassung des EuGH hingegen vor bei der Unterbringung von Flüchtlingen in sog Transitzonen. In der Rechtssache Kommission/Ungarn hat der Gerichtshof entschieden, dass die Unterbringung von Flüchtlingen in sog Transitzonen an der ungarischen Grenze, die diese während der Dauer des Asylverfahrens nur in Richtung des Drittstaats Serbien verlassen konnten, als Haft iSv Art 2 lit h der Aufnahmerichtlinie RL 2013/33/EU anzusehen sei.43 Er begründete seine Entscheidung damit, dass die behauptete Möglichkeit einer „Rückkehr“ nach Serbien angesichts dort bei einer Einreise drohender Sanktionen und angesichts des damit verbundenen Abbruchs des Asylverfahrens in Ungarn den betroffenen Personen gerade nicht offen stand.44 Ein Eingriff in Art 6 GRCh liegt vor, wenn die Beeinträchtigung von einem Grundrechtsverpflichteten, dh von der Union oder den Mitgliedstaaten, ausgeht.45 Dies bedeutet, dass eine Richtlinie, welche eine Inhaftierung zulässt, einen Eingriff in Art 6 GRCh begründen kann.46 Ferner kann eine Beeinträchtigung von Art 6 GRCh erfolgen, wenn die Mitgliedstaaten einen Europäischen Haftbefehl ausstellen oder vollstrecken.47 Nach Art 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl48 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, jeden Europäischen Haftbefehl nach den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und den Vorgaben des Rahmenbeschlusses zu vollstrecken. In der Rechtssache Pupino hat der EuGH entschieden, dass der Grundsatz konformer Auslegung auch für Rahmenbeschlüsse gilt, so dass die Mitgliedstaaten ihr nationales Recht im Lichte des Rahmenbeschlusses auszulegen haben,49 was auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gilt.50 Dabei müssen sie die Unionsgrundrechte, dh auch Art 6 GRCh beachten, wobei im Kollisionsfall nach Art 53 GRCh die unionale Grund-
42 EuGH, Urt v 28.7.2016, Rs C-294/16 PPU, Rn 51 – JZ. 43 EuGH (GK), Urt v 17.12.2020, Rs C-808/18, Rn 159 ff – Kommission/Ungarn; aA aber EGMR (GK), Urt v 21.11.2019, 47287/15, §§ 220 ff – Ilias und Ahmed/Ungarn zur früheren ungarischen Rechtslage. 44 Zum Ganzen auch Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 34. 45 Jarass GRCh, Art 6 Rn 10. 46 Jarass GRCh, Art 6 Rn 10; Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 45. 47 EuGH, Urt v 15.2.2016, Rs C-601/15 PPU, NVwZ 2016, 1789, Rn 49 – J. N.; EuGH (GK), Urt v 16.7.2015, Urt v 16.7.2015, Rs C-237/15 PPU, Rn 58 ff – Lanigan; Urt v 5.4.2016, verb Rs C-404/15 u C-659/15 PPU, NJW 2016, 1709, Rn 100 – Aranyosi und Căldăraru; Jarass GRCh, Art 6 Rn 10. 48 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 Nr L 190/1, geändert durch Rahmenbeschluss 2009/299/JI, ABl 2009 Nr L 81/24. 49 EuGH, Rs C-105/03, Slg 2005, I-5285, Rn 42 ff – Pupino. 50 EuGH (GK), Urt v 26.2.2013, Rs C-399/11, NJW 2013, 1215, Rn 47 ff – Melloni.
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rechtsgarantie Anwendungsvorrang genießt.51 Unerheblich ist, ob der Eingriff durch eine Exekutivstelle oder durch ein Gericht erfolgt.52 Der Schutzbereich des Art 6 GRCh kann nach den Erläuterungen zur Grundrechte-Charta auch dann beeinträchtigt sein, wenn die EU Gesetzgebungsakte im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen auf Grundlage von Art 82, 83 und 85 AEUV erlässt, insbesondere über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen sowie über bestimmte Aspekte des Verfahrensrechts, sofern die betreffenden Vorschriften zu Freiheitsentziehungen führen können oder sich auf die Durchführung von Freiheitsentziehungen auswirken.53 Außerdem sind nach der auf Art 86 I AEUV iVm der EUStA-VO54 gestützten Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), welche ihre operative Tätigkeit im Jahr 2021 aufgenommen hat, Eingriffe in Art 6 GRCh durch Delegierte Europäische Staatsanwälte denkbar. Diese sind nicht nur dazu befugt, nationale Behörden zu strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen anzuweisen, sondern sie haben durch Art 28 I 1 EuStA-VO auch die Befugnis, solche Maßnahmen unmittelbar selbst zu treffen, so dass sie beispielsweise freiheitsentziehende Maßnahmen wie die Festnahme oder die Untersuchungshaft anordnen können.55Außerdem kann es bei militärischen Aktionen durch EU-geführte Einsatzkräfte im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu Eingriffen in Art 6 GRCh kommen, wobei freilich die nach Art 275 I AEUV fehlende Zuständigkeit des EuGH für die Grundrechtskontrolle im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu beachten ist.56 Ähnliches gilt für EUgeführte Polizeimaßnahmen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie für Aktionen der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Frontex), etwa, wenn an den EU-Außengrenzen aufgegriffene Geflüchtete durch Frontex-Angehörige in Sammelstellen für Geflüchtete eingewiesen werden.57 Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund des Umstandes, dass nach Art 82 der VO (EU) 2019/189658 über die Europäische Grenz- und Küstenwache die Einrichtung
51 EuGH (GK), Urt v 26.2.2013, Rs C-399/11, NJW 2013, 1215, Rn 57 ff – Melloni. 52 Jarass GRCh, Art 6 Rn 10. 53 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr C 303/1 (20); Ogorek in: Stern/Sachs, GRCh, Art 6 Rn 13; Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 6 Rn 15. 54 VO (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), ABl 2017 Nr L 283/1. 55 Ausf dazu Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 68; s dazu auch → Edenharter, § 4.2.1 Rn 18. 56 Ausf dazu Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 27 u 61. 57 Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 28; Ogorek in: Stern/Sachs, GRCh, Art 6 Rn 9. 58 VO (EU) 2019/1896 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2019 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr 1052/2013 und (EU) 2016/1624, ABl 2019 Nr L 295/1.
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einer ständigen Reserve von 10 000 EU-Grenzschutzbeamten vorgesehen ist, die nach Art 82 der VO auch mit eigenen Durchführungsbefugnissen einschließlich der Anwendung von Gewalt und Strafverfolgungsbefugnissen ausgestattet sind.59 Eine Beeinträchtigung von Art 6 GRCh kann sich schließlich auch daraus ergeben, dass die Grundrechtsverpflichteten nicht im Rahmen ihrer Zuständigkeiten gegen Freiheitsentziehungen durch Private vorgehen. Dabei ist freilich zu beachten, dass die Mitgliedstaaten eine entsprechende Schutzpflicht zum Tätigwerden gegen Freiheitsentziehungen Privater trifft, wenn der Anwendungsbereich der GrundrechteCharta nach Art 51 I 1 GRCh eröffnet ist.60 Eine unmittelbare Drittwirkung des Art 6 GRCh zwischen Privaten besteht hingegen grundsätzlich nicht.61
IV. Rechtfertigung 8 Bei Eingriffen in den Schutzbereich des Art 6 GRCh sind die Vorgaben des Art 52 I
GRCh zu beachten. Außerdem sind wegen Art 52 III 1 GRCh zusätzlich die Voraussetzungen des Art 5 I 2, II-IV EMRK einzuhalten.62 Eine Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich von Art 6 GRCh ist daher unter folgenden Voraussetzungen gerechtfertigt: (1) Der Eingriff erfolgt auf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage, welche die Voraussetzungen und das Verfahren der Freiheitsentziehung regelt, (2) die prozessualen und materiellen Voraussetzungen einer Freiheitsentziehung werden eingehalten, es liegt (3) ein Haftgrund vor und (4) das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird gewahrt.63 Die Haftgründe werden in Art 5 I 2 lit a bis f abschließend64 aufgezählt. Eine Freiheitsentziehung ist daher zulässig nach einer Verurteilung durch ein zuständiges Gericht auf Grund von straf- oder disziplinarrechtlichen Gründen (lit a). Weiterhin ist eine Freiheitsentziehung möglich, um eine gerichtliche Anordnung oder eine gesetzliche Verpflichtung zu erzwingen (lit b). Ein Haftgrund ist außerdem dann gegeben, wenn ein hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat oder wenn die Begehung einer Straftat oder die Flucht nach Begehung einer Straftat verhindert
59 S dazu Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 69. 60 Jarass GRCh, Art 6 Rn 11. 61 Ogorek in: Stern/Sachs, GRCh, Art 6 Rn 11. 62 EuGH (GK), Urt v 16.7.2015, Rs C-237/15 PPU, Rn 56 – Lanigan; Urt v 15.2.2016, Rs C-601/15 PPU, NVwZ 2016, 1789, Rn 77 – J. N.; Jarass GRCh, Art 6 Rn 12; aA aber Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 27 ff. 63 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 6 GRCh Rn 16; s auch EGMR, Urt v 24.11.1994, 17621/91, § 37 – Kemmache/Frankreich No. 3. 64 Jarass GRCh, Art 6 Rn 14; Bernsdorff in: Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 6 Rn 12.
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werden soll (lit c).65 Bei Minderjährigen ist eine Freiheitsentziehung zulässig zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde (lit d). Daneben ist eine Freiheitsentziehung möglich, wenn eine Verbreitung ansteckender Krankheiten verhindert werden soll, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern (lit e). Schließlich kommt eine Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise in Betracht, sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist (lit f). In allen Fällen muss die Freiheitsentziehung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen, dh sie muss zur Erreichung des damit verfolgten Zieles geeignet, erforderlich und angemessen sein.66 Der EuGH hat in den Grundsatzentscheidungen Al Chodor und TC entschieden, dass eine Freiheitsentziehung rechtmäßig sein müsse, was nicht nur voraussetze, dass sie eine Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht habe, sondern auch, dass sie hinreichend zugänglich, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbar ist, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden.67 Ferner müsse die Durchführung einer freiheitsentziehenden Maßnahme frei von Elementen bösen Glaubens oder der Täuschung seitens der Behörden sein.68
V. Verfahrensrechtliche Garantien und Schadensersatz Aus Art 5 II-IV EMRK iVm Art 52 III 1 GRCh ergeben sich daneben Anforderungen 9 an das Verfahren bei Freiheitsentziehungen. Nach Art 5 II EMRK ist im Fall einer Freiheitsentziehung der Betroffene „innerhalb möglichst kurzer Frist“ in verständlicher Form und Sprache über die Gründe für die Festnahme und die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen zu unterrichten.69 Im Fall von Art 5 I 2 lit c EMRK, dh insbesondere bei der Untersuchungshaft, ist der Festgenommene nach Art 5 III 1 1. Halbs. EMRK unverzüglich, dh innerhalb von zwei Tagen,70 einem Richter vorzuführen. Nach Art 5 III 1 2. Halbs EMRK ist in angemessener Zeit das Urteil zu fällen; andernfalls ist der Betroffene freizulassen. Es hängt vom jeweiligen Haftgrund
65 S dazu EGMR, Urt v 31.5.2022, 208/18, NLMR 2022, 231, Rn 114 ff – Taner Kılıç/Türkei (Nr 2). 66 Vgl EGMR, Urt v 30.3.2023, 21329/18, Rn 82 ff – J. A. ua/Italien; Ogorek in: Stern/Sachs, GRCh, Art 6 Rn 17; Jarass GRCh, Art 6 Rn 21. 67 EuGH, Urt v 15.3.2017, Rs C-528/15, NVwZ 2017, 777, Rn 38 – Al Chodor; Urt v 12.2.2019, Rs C-492/18 PPU, EuGRZ 2020, 16 Rn 58 – TC. 68 EuGH, Urt v 15.3.2017, Rs C-528/15, NVwZ 2017, 777, Rn 39 – Al Chodor; Urt v 12.2.2019, Rs C-492/18 PPU, EuGRZ 2020, 16, Rn 59 – TC. 69 Jarass GRCh, Art 6 Rn 23. 70 EGMR, Urt v 29.4.1999, 25642/94, RJD 1999-III = NJW 2001, 51, § 53 – Aquilina/Malta.
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und den konkreten Umständen des Einzelfalles, ua der Schwere der vorgeworfenen Straftat, der Kooperationsbereitschaft des Betroffenen hinsichtlich der Aufklärung des Falles sowie der Möglichkeit einer Haftentlassung gegen Kaution (Art 5 III 2 EMRK) ab, welche Haftdauer noch als verhältnismäßig anzusehen ist.71 Eine Untersuchungshaft von über fünf Jahren ist jedenfalls als Grundrechtsverstoß zu qualifizieren.72 Art 5 IV EMRK gewährt darüber hinaus bei allen Haftgründen einen Anspruch auf richterliche Haftkontrolle, welcher sich sowohl auf die Anordnung als auch die Fortdauer der Haft bezieht.73 Im Zusammenhang mit der Überstellung eines Drittstaatsangehörigen hat der EuGH entschieden, dass sich aus Art 6 GRCh auch die Verpflichtung der mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Haftmaßnahmen betrauten Justizbehörden ergibt, die Missachtung einer sich aus dem Unionsrecht ergebenden Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme, mithin das weitere Vorliegen von Haftgründen bei der Überstellungshaft, von Amts wegen zu prüfen.74 Bei einer Entscheidung, mit der die Inhaftnahme oder die Haftverlängerung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen angeordnet wird, sind nach der Rechtsprechung des EuGH ebenfalls strenge Garantien einzuhalten, insbesondere der Schutz vor Willkür.75 Ein solcher Schutz impliziere ua, dass eine Inhaftierung nur unter Beachtung allgemeiner und abstrakter Regeln, die deren Voraussetzungen und Modalitäten festlegen, angeordnet oder verlängert werden könne. Aus dem Sinn und Zweck von Art 5 EMRK schließlich ergibt sich ein Recht des Betroffenen auf Protokollierung der näheren Umstände der Freiheitsentziehung,76 was auch im Rahmen des Art 6 GRCh gelten muss.77 Einen Richtervorbehalt enthält Art 6 GRCh indes nicht. Allerdings haben die Mitgliedstaaten präventiv dem Schutz der persönlichen Freiheit durch entsprechende Verfahrensvorschriften sicher zu stellen. Dazu zählen etwa Vorkehrungen innerhalb der Exekutive, ua eine organisatorische Trennung von verfolgender und über die Freiheitsentziehung entscheidender Stelle.78 Dies bedeutet, dass für den Fall, dass nach dem Recht des Aus-
71 Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 73; Jarass GRCh, Art 6 Rn 24. 72 EGMR, Urt v 5.7.2001, 38321/97, NJW 2003, 1439, §§ 47 f – Erdem/Deutschland. 73 Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 74; Jarass GRCh, Art 6 Rn 25. 74 EuGH (GK), Urt v 8.11.2022, Rs C-704/20, C-39/21, NVwZ-RR 2023, 261, Rn 88 u 93 – Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid/B, C u X. 75 EuGH, Urt v 10.3.2022, Rs C-519/20, NVwZ 2022, 783, Rn 62 – K. 76 EGMR, Urt v 25.5.1998, 24276/94, Reports 1998-III, §§ 122–125 – Kurt/Türkei; Urt v 14.11.2000, 24396/ 94, §§ 84 f – Taş/Türkei. 77 Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 82; zust auch Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 55. 78 EuGH, Urt v 27.3.2019, verb Rs C-508/18 u C-82/19 PPU, NJW 2019, 2145, Rn 47 ff. – OG u PI; EuGH (GK), Urt v 27.5.2019, Rs C-509/18, Rn 26 ff – PF; EuGH, Urt v 9.10.2019, Rs C-489/19 PPU, NJW 2020, 203, Rn 38 ff – NJ; EuGH (GK), Urt v 24.11.2020, Rs C-510/19, Rn 47 ff – AZ; s auch Klement in: EnzEuR, Bd 2, § 9 Rn 54.
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§ 11.2 Recht auf Freiheit und Sicherheit nach der GRCh
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stellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, in dem Mitgliedstaat die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit in einer Weise gerichtlich überprüfbar sein muss, die den Erfordernissen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes voll und ganz genügt.79 Daneben folgt aus Art 6 GRCh die Pflicht, das Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit der gebotenen Sorgfalt und auch in angemessener Frist durchzuführen.80 Aus Art 5 V EMRK iVm Art 52 III 1 GRCh ergibt sich, dass jemand, der durch ein 10 Organ der EU oder durch ein mitgliedstaatliches Organ in Ausführung von Unionsrecht in seinem Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt wurde, einen Anspruch auf Schadensersatz hat. Bei einer Verletzung in Art 6 GRCh ist demnach der materielle und immaterielle Schaden ersatzfähig.81 Auf ein Verschulden des handelnden Organs kommt es dabei nicht an.82 Bei Rechtsverletzungen durch Unionsorgane kommt zudem ein Schadensersatzanspruch nach Art 340 AEUV bzw Art 41 III GRCh in Betracht.83 Lösung Fall 1: Der EuGH verwies zunächst auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art 5 I lit f EMRK, die nach Art 52 III GRCh bei der Auslegung von Art 6 GRCh zu berücksichtigen sei. Nach dieser, in der Rechtssache Nabil84 begründeten Rechtsprechung verstoße die Inhaftnahme eines Asylbewerbers gegen die fragliche EMRK-Bestimmung, wenn sie nicht im Hinblick auf eine Abschiebung angeordnet wurde. Zugleich betonte der EuGH aber, dass die EMRK mangels Beitritts der EU zu der Konvention nicht formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden sei, mit der Folge, dass die Prüfung der Gültigkeit von Art 8 III UAbs 1 lit e RL 2013/33/EU allein anhand der Charta-Grundrechte zu erfolgen habe. Aus den Erläuterungen zu Art 6 GRCh ergebe sich, dass die Rechte aus Art 6 GRCh den durch Art 5 EMRK garantierten Rechten entsprächen und dass Einschränkungen nicht über das hinaus gehen dürften, was nach Art 5 EMRK zulässig sei, doch dürfe dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des EuGH nicht berührt werden. Der Gerichtshof sah in Art 8 III UAbs 1 lit e RL 2013/33/ EU, der die Inhaftnahme eines Antragstellers im Asylverfahren gestattet, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist, einen Eingriff in das von Art 6 GRCh gewährleistete Recht auf Freiheit. Eine Verletzung des Wesensgehalts des Grundrechts verneinte der EuGH mit der Begründung, dass die Gewährleistung selbst nicht in Frage gestellt werde. Ferner sei auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt, da Art 8 II RL 2013/33/EU eine Inhaftnahme nur in Fällen ermöglicht, in denen sich weniger einschneidende Maßnahmen als nicht wirksam
79 80 81 82 83 84
EuGH, Urt v 12.12.2019, verb Rs C-566/19 PPU u C-626/19 PPU, EuGRZ 2020, Rn 62 – JR u YC. EuGH (GK), Urt v 16.7.2015, Rs C-237/15 PPU, Rn 57 f – Lanigan. Jarass GRCh, Art 6 Rn 4; Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 79 f. Baldus/Heger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 18 Rn 81. Ogorek in: Stern/Sachs, GRCh, Art 6 Rn 18. EGMR, Urt v 22.9.2015, 62116/12 – Nabil ua/Ungarn.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
erweisen und zudem nach Art 9 I RL 2013/33/EU bei der Haftanordnung wichtige, das Verfahren und die gerichtliche Überprüfung betreffende Garantien zu beachten seien. Zudem sei die Auslegung der Begriffe „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend geklärt. Außerdem steht Art 8 III UAbs 1 lit e RL 2013/33/EU nach Ansicht des EuGH und die damit einhergehende Einschränkung des Rechts auf Freiheit nicht außer Verhältnis zu den mit der Vorschriften bezweckten Zielen, nämlich dem Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung. Schließlich habe der Unionsgesetzgeber bei Erlass von Art 8 III UAbs 1 lit e RL 2013/33/EU das durch Art 5 I lit f 2. Satzteil EMRK gebotene und bei der Auslegung von Art 6 GRCh zu berücksichtigende Schutzniveau nicht verkannt. Es liege auch kein Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR vor, da dieser betont habe, dass ein laufendes Asylverfahren für sich genommen nicht bedeute, dass eine Person angesichts eines von ihr gestellten Asylantrags nicht mehr im Hinblick auf ihre Ausweisung inhaftiert wird, da eine etwaige Ablehnung dieses Antrags den Weg für den Vollzug der bereits beschlossenen Abschiebungsmaßnahmen frei machen könne. Daher sei Art 8 III UAbs 1 lit e RL 2013/33/EU mit den Vorgaben von Art 6 GRCh und Art 52 I, III GRCh zu vereinbaren.
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§ 11.3 Justiz- und Verfahrensgrundrechte nach der GRCh Leitentscheidungen: EuGH (GK), Urt v 20.4.2021, Rs C-896/19, EuGRZ 2021, 209 – Repubblika/Il-Prim Ministru; EuGH (GK), Urt v 2.2.2021, Rs C-481/19 – DB/Consob; EuGH (GK), Urt v 19.12.2018, Rs C-219/17, EuZW 2019, 128 – Berlusconi und Fininvest; EuGH (GK), Urt v 3.10.2013, Rs C-583/11 P, EuZW 2014, 22 – Inuit Tapiriit Kanatami; EuGH (GK), Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10, EuZW 2013, 302 – Åkerberg Fransson; EuG, Rs T-18/10, Slg 2011, II-5599 – Inuit Tapiriit Kanatami; EuGH, Rs C-279/09, Slg 2010, I-13849 – DEB; EuGH (GK), verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351 – Kadi u Al Bakaraat; EuGH (GK), Rs C-432/05, Slg 2007, I-2271 – Unibet; EuGH, Rs C-50/00 P, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores; Rs C-97/91, Slg 1992, I-6313 – Oleificio Borelli; Rs C-269/90, Slg 1991, I-5469 – TU-München; verb Rs C-143/88 u C-92/89, Slg 1991, I-415 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Rs C-213/89, Slg 1990, I-2433 – Factortame I. Schrifttum: Stotz Effektiver Rechtsschutz in der Europäischen Union, 2013; Gärditz Europäisches Verwaltungsprozessrecht, JuS 2009, 385 ff; v Danwitz Europäisches Verwaltungsrecht, 2008; MüllerGraff/Scheuing (Hrsg) Gemeinschaftsgerichtsbarkeit und Rechtsstaatlichkeit, EuR-Beiheft 3/2008; Schwarze Rechtsstaatliche Grundsätze für das Verwaltungshandeln in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 147 ff; Pache Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozeß, NVwZ 2001, 1342 ff.
I. Überblick 1. Bedeutung der Justiz- und Verfahrensgrundrechte im EU-Recht Die Justiz- und Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts haben sich in deutlicher Ori- 1 entierung am Vorbild der EMRK entwickelt, die in diesem Bereich mit den Art 5– 7 EMRK1 – anders als etwa bei den wirtschaftsbezogenen Grundrechten – ein breites Feld von Gewährleistungen bietet. Die dort festgehaltenen Verfahrensgarantien sind freilich für das EU-Recht von unterschiedlichem Gewicht: So spielten die klassischen Justizgrundrechte der Art 5 (persönliche Freiheit), Art 6 II–III (strafrechtliche Unschuldsvermutung, Garantien im Strafverfahren) und Art 7 EMRK (nulla poena sine lege) lange Zeit eine geringe Rolle, weil der Strafrechtsbezug des EU-Rechts in der Vergangenheit wenig ausgeprägt war. Dieses Bild hat sich aber schon in den letzten Jahren vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon durch die rasche Entwicklung der „polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS, Art 29 ff EUV/alt) gewandelt; diese Entwicklung setzt sich unter dem Vertrag von Lis
1 Dazu oben → Grabenwarter/Struth § 11.1. Jörg Gundel https://doi.org/10.1515/9783110716740-033
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sabon fort, der diese Felder in den AEUV integriert hat (Art 82 ff AEUV für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, Art 87–88 AEUV für die polizeiliche Zusammenarbeit; → dazu noch u Rn 44). Aber auch in den klassischen Feldern des EURechts haben diese Garantien ihre Bedeutung,2 etwa bei der Frage, ob durch nicht umgesetzte EU-Richtlinien Pflichten des Einzelnen begründet werden können, deren Missachtung dann auch strafrechtlich sanktioniert würde.3 2 Im Mittelpunkt stehen im EU-Recht jedoch weiterhin die Garantien eines fairen Verfahrens und eines effektiven Rechtsschutzes, wie sie die EMRK in Art 6 I (→ Grabenwarther/Struth § 11.1 Rn 55 ff) und Art 13 (→ vgl Grabenwarther/Struth § 11.1 Rn 121 ff) enthält. Sie finden ihre Ausprägungen in den verschiedenen Einzelgarantien, wie dem Anspruch auf rechtliches Gehör, dem Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf Akteneinsicht, auf die Begründung belastender Entscheidungen und eine gerichtliche Entscheidung in angemessener Zeit: Im Vordergrund stehen damit die rechtsstaatliche Ausgestaltung der Verwaltungsverfahren der EU-Organe und der nationalen Behörden beim Vollzug des EU-Rechts sowie – daran anschließend – die Sicherung einer effektiven gerichtlichen Kontrolle über dieses Verwaltungshandeln durch die EU-Gerichtsbarkeit und (soweit die Verfahren von den nationalen Behörden durchgeführt werden) durch die Gerichte der Mitgliedstaaten.
2. Quellen der Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts a) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als ursprünglicher Anknüpfungspunkt 3 Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon galten die Verfahrensgrundrechte
des EU-Rechts in ihrer Ausformung als allgemeine Rechtsgrundsätze des EU-
2 Zur grundsätzlichen Anerkennung des nulla-poena-Satzes auch im EU-Recht s bereits EuGH, Rs 63/83, Slg 1984, 2689, Rn 22 – Regina/Kirk: „Das Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften ist ein allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsgrundsatz, der in Artikel 7 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist und zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat.“ Die Garantie findet sich nun auch in Art 49 GRCh (zur GRCh s sogleich Rn 5). 3 Eine solche „umgekehrt vertikale Direktwirkung“ von Richtlinien zu Lasten des Einzelnen und „zugunsten“ des strafverfolgenden Staates hat der EuGH zu Recht abgelehnt, s (zu einem strafrechtlichen Fall) EuGH, Rs 80/86, Slg 1987, 3969 – Kolpinghuis = EuR 1988, 390 m abl Anm Richter; bestätigt durch EuGH (GK), verb Rs C-387/02, C-391/02 u C-403/02, Slg 2005, I-3565, Rn 74 – Berlusconi; in anderen Entscheidungen hat der EuGH festgehalten, dass auch die grundsätzlich zulässige und gebotene richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts nicht zur Verschärfung des Strafrechts führen darf, s EuGH, Rs C-168/95, Slg 1996, I-4705, Rn 42 – Luciano Arcaro; verb Rs C-74/95 u C-129/95, Slg 1996, I-6609, Rn 25 – Strafverfahren gegen X; zur Entwicklung der EuGH-Rspr zur Wirkung nicht umgesetzter Richtlinien s Gundel in: Frankfurter Komm, Art. 288 AEUV Rn 41 ff.
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§ 11.3 Justiz-und Verfahrensgrundrechte nach der GRCh
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Rechts,4 auch wenn der EuGH immer häufiger unmittelbar die Bestimmungen der EMRK zitiert hat. Angesichts dieser formalen Unabhängigkeit der Gewährleistung stellte sich auch immer wieder die Frage, inwieweit die zur EMRK erzielten Auslegungsergebnisse des EGMR für die parallel dazu geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts zu übernehmen sind.5 Zugleich sicherte diese Geltung als allgemeine Rechtsgrundsätze bisher aber auch eine Flexibilität, die im Rahmen der EMRK nicht immer gegeben ist: So ist es für die Anwendung der Garantie eines „fairen Verfahrens“ als Rechtsgrundsatz des EU-Rechts ohne Belang, ob der in Art 6 I EMRK beschriebene Anwendungsbereich (Zivil- und Strafsachen) betroffen ist:6 Die Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts gelten auch in Verwaltungs-7 und den anschließenden verwaltungsgerichtlichen8 Verfahren. Trotz des Wortlauts des Art 6 III EUV, der als Quelle der allgemeinen Rechts- 4 grundsätze neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als einzige völkervertragliche Quelle die EMRK benennt, ist das EU-Recht nicht auf die dort vorgefundenen Gewährleistungen beschränkt: Der EuGH hat bereits auch auf die im IPbpR9 enthaltenen Verfahrensgarantien Bezug genommen; darüber hinaus hat er auch schon Verfahrensgrundrechte anerkannt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten entstammen – eine solche Anerkennung ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die Gewährleistung in ihrer konkreten Ausformung in der Rechtsordnung nur eines Mitgliedstaats besteht.10
4 Hervorgehoben wird diese formale Unabhängigkeit von der EMRK etwa in EuG, Rs T-112/98, Slg 2001, II-729, Rn 59 f – Mannesmannröhren-Werke = EuZW 2001, 345 m Anm Pache; EuG, Rs T-347/94, Slg 1998, II-1751, Rn 311 – Mayr-Melnhof. Zum Mechanismus der allgemeinen Rechtsgrundsätze immer noch maßgeblich Lecheler Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, 1971; später nochmals ders, ZEuS 2003, 337 ff. 5 Für Bsp s u Fall 1 (Aussagefreiheit) und Rn 37 (rechtliches Gehör zu den Schlussanträgen der Generalanwälte im Verfahren vor dem EuGH); zur Parallelfrage für die entsprechenden Garantien der GRCh s Rn 5. 6 Dazu unten Rn 18. 7 So bereits EuGH, Rs 85/76, Slg 1979, 461, Rn 9 – Hoffmann-La Roche; später zB EuG, Rs T-348/94, Slg 1998, II-1875, Rn 80 – Enso Española. 8 Auch das in Art 47 GRCh festgehaltene Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren verzichtet auf die in Art 6 EMRK bestehende Eingrenzung des Anwendungsbereichs, s u Rn 6. 9 S EuGH, Rs 374/87, Slg 1989, 3283, Rn 31 – Orkem zu Art 14 II (Unschuldsvermutung) und Art 14 III lit g (Aussagefreiheit) des IPbpR. 10 S EuGH, Rs 155/79, Slg 1982, 1575 – AM u S = EuR 1983, 40 m Anm Mattfeld zum „legal privilege“, der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant (dieser Schutz greift danach anders als nach deutschem Recht auch dann ein, wenn sich die Unterlagen im Gewahrsam des Mandanten befinden); s a noch u Fn 47.
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b) Die Kodifikation durch die Grundrechtecharta 5 Diese historische Quelle des EU-Grundrechtsschutzes besteht gemäß Art 6 III EUV zwar fort; sie tritt nun aber gegenüber der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) in den Hintergrund, die mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon durch Art 6 I EUV den Status geltenden Rechts erlangt hat11 und die bisherigen Ergebnisse der Rechtsprechung kodifiziert. Sie enthält Verfahrensgarantien zunächst im Kapitel zu den Unionsbürgerrechten (Art 39–46 GRCh), wobei diese Verortung insoweit missverständlich ist, als die Gewährleistungen (zu Recht) nicht an die Unionsbürgerschaft anknüpfen, sondern auch Drittstaater und juristische Personen einbeziehen. Als neue übergreifende Garantie ist dort das „Recht auf eine gute Verwaltung“ enthalten (Art 41 I GRCh), das ein faires Verwaltungsverfahren gewährleisten soll;12 einzelne Ausprägungen sind beispielhaft („insbesondere“) in Art 41 II aufgeführt (→ dazu unten Rn 10, s a Kadelbach § 10.2 Rn 77 ff). Daneben finden sich dort auch eigenständige Gewährleistungen mit Verfahrensbezug, die hier aber nur erwähnt werden sollen: das Recht auf Zugang zu den Dokumenten der EU-Organe (Art 42 GRCh, → dazu Kadelbach § 10.2 Rn 74), das Recht zur Anrufung des Bürgerbeauftragten (Art 43 GRCh, → dazu Kadelbach § 10.2 Rn 71)13 und das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament (Art 44 GRCh, → dazu Kadelbach § 10.2 Rn 70 ff). Wei
11 Die Charta wurde allerdings schon zuvor als „Inspirationsquelle“ für die allgemeinen Rechtsgrundsätze herangezogen, s zB EuG, Rs T-54/99, Slg 2002, II-313, Rn 48 – max.mobil = EuZW 2002, 186 m Anm C Nowak; EuGH (GK), Rs C-540/03, Slg 2006, I-5769 – Parlament/Rat (Familienzusammenführung), Rn 38, 58 = EuZW 2006, 566 m Anm Fremuth; s allerdings auch EuG, Rs T-112/98, Slg 2001, II-729, Rn 76 – Mannesmannröhren-Werke: Keine Heranziehung in Bezug auf vor ihrer Proklamation erlassene Rechtsakte; dazu Cavicchi, Riv Ital Dir Pubbl Comunitario 2002, 599 ff. 12 Ausf Classen Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union, 2008; Pfeffer Das Recht auf eine gute Verwaltung, 2006; Bauer Das Recht auf eine gute Verwaltung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002; s auch Efstratiou in Trute ua (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S 281 ff; Goerlich, DÖV 2006, 313 (316 ff); Grzeszick, EuR 2006, 161 ff; Galetta in Stern/Tettinger (Hrsg) Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S 207 ff; dies, Riv Ital Dir Pubbl Comunitario 2005, 819 ff; Bullinger FS Brohm, 2002, S 25 ff; Michelet, AJDA 2002, 949 ff; Lais, ZEuS 2002, 447 ff; s zum in der Rspr des EuGH bereits seit langem präsenten Vorgängerbegriff „Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung“ früh schon Usher, Current Legal Problems 38 (1985), 269 ff. 13 Die Institution des Bürgerbeauftragten hat auf die Fortentwicklung der Verfahrensgarantien des EU-Rechts maßgeblichen Einfluss genommen, zunächst bei der Etablierung des Rechts auf Zugang zu EU-Dokumenten, in der Folge durch die Entwicklung des „Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis“, der das Recht auf eine gute Verwaltung weiter ausdifferenziert, rechtliche Verbindlichkeit bisher allerdings nicht erlangt hat; zu diesem Instrument zB Bourquain, DVBl 2008, 1224 ff; Efstratiou in Trute ua (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht, S 289 ff; Hill, DVBl 2002, 1316 (1318 f); Harden, RMUE 2001, 573 (614 ff); zu dieser Rolle des Bürgerbeauftragten s mwN Gundel in Schulze ua, ER, § 3 Rn 59 ff.
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tere zentrale Garantien sind im anschließenden Kapitel zu den justiziellen Rechten enthalten (Art 47, Art 50 CRCh): Hier gewährleistet Art 47 I, II GRCh in Anlehnung an Art 6 und 13 EMRK allgemein das Recht auf effektiven Zugang zu einem unparteiischen Gericht; daneben finden sich auch die aus der EMRK bekannten strafverfahrensrechtlichen Garantien der Unschuldsvermutung (Art 48 I GRCh, 6 II EMRK), des nulla-poena-Satzes (Art 49 GRCh, 7 EMRK) und des Verbots der Doppelbestrafung (Art 50 GRCh, Art 4 7. ZP EMRK). Auch insoweit stellt sich die Frage einer Übernahme der EGMR-Rechtsprechung zu den Garantien der EMRK, die nun in Art 52 III GRCh auch explizit angesprochen wird. Gegenüber der Orientierung an den Verfahrensgewährleistungen der EMRK ist 6 die GRCh mit ihrer systematischen Erfassung der Verfahrensrechte insofern ein Fortschritt, als erstmals deutlich zwischen den Rechten im Verwaltungsverfahren (Art 41 GRCh) und dem Anspruch auf gerichtliche Kontrolle und ein faires gerichtliches Verfahren (Art 47 GRCh) unterschieden und der Bereich des Verwaltungsverfahrens ausdrücklich geregelt wird. Trotz dieser Trennung sind allerdings Interferenzen zwischen beiden Bereichen unvermeidbar – das gilt etwa für die Geltung der Strafverfahrensgarantien in behördlichen Ermittlungsverfahren (s insbes zum Kartellrecht → Rn 15 ff) –, so dass in diesem Abschnitt insoweit auch die Rechte im Verwaltungsverfahren mitbehandelt werden (→ im Übrigen Kadelbach § 10.2 Rn 70 ff). Positiv schlägt auch zu Buche, dass die bei Art 6 EMRK problematische Beschränkung der Gewährleistungen auf Zivil- und Strafsachen14 in Art 47 GRCh (bei im Übrigen weitgehend übereinstimmendem Text) vermieden wird.15 Nachteilig ist allerdings, dass die Rechte im Verwaltungsverfahren nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art 41 GRCh nur gegenüber den EU-Organen eingeräumt werden,16 was durch den Textvergleich mit dem allgemein gefassten Art 47 GRCh besonders deutlich hervortritt; soweit der Verfahrensvollzug des EU-Rechts den Mitgliedstaaten obliegt, ist daher weiter auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückzugreifen.17 Insgesamt beschränkt sich die GRCh damit unter weitgehendem Verzicht auf
14 Zur Entwicklung der EGMR-Rechtsprechung s Gundel in Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 146 Rn 6 ff. 15 De lege ferenda plädieren zB Flauss, AJDA 2001, 1060 (1062); Hottelier, SZIER 2001, 175 (193 f) für die Aufgabe dieser gegenständlichen Begrenzungen des Art 6 EMRK nach dem Vorbild der GRCh. 16 Dazu U. Stelkens, ZEuS 2004, 129 (137 f); Lais, ZEuS 2002, 447 (457 f); krit Heringa/Verhey, MJ 8 (2001), 11 (30); wie hier auch die Weichenstellung von EuGH, Urt v 17.7.2014, verb Rs C-141/12 u C-372/12 – YS ua, EuR 2015, 80 (nur LS) m Anm Gundel; das begründet für die in Art 41 II GRCh aufgeführten Rechte im Ergebnis keinen Unterschied (s sogleich Fn 17), die Sprachengarantie des Art 41 IV GRCh (s u Rn 12) lässt sich aber nicht auf die Mitgliedstaaten erstrecken. 17 S Magiera in Meyer/Hölscheidt, ChGr, Art 41 Rn 9; zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten in dieser Konstellation s u Rn 42 f. Da Art 41 GRCh wiederum die bisherige Rspr zu den Verfahrens
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inhaltliche Neuerungen auf die verdeutlichende und systematisierende Zusammenführung von Verfahrensgewährleistungen, die entweder bereits an anderer Stelle normiert waren18, oder aber schon durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind; im Detail finden sich allerdings auch echte Neuerungen19.
c) Die Bedeutung des Sekundärrechts 7 Verfahrensgewährleistungen oder -rechte sind vielfach auch im Sekundärrecht
enthalten20. Dabei handelt es sich teils um nur deklaratorische Wiedergaben oder Präzisierungen des bereits nach Primärrecht geltenden Standes; ein Beispiel hierfür bildet der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Strafsanktion, der sich ausdrücklich zunächst nur in einer EG-Verordnung fand21, den der EuGH aber später als allgemeinen Rechtsgrundsatz und damit Bestandteil des Primärrechts anerkannt hat22 und der nun mit Art 49 I 3 GRCh auch Teil des geschriebenen Primärrechts ist23. Ähnliches gilt nun auch für die seit 2010 ergangenen
anforderungen an EU-Organe und Mitgliedstaaten „bekräftigt“ – so EuG, Rs T-54/99, Slg 2002, II-313, Rn 48 – max.mobil = EuZW 2002, 186 m Anm C Nowak, dürften sich inhaltlich keine Differenzen ergeben; s a U Stelkens, ZEuS 2004, 129 (138). 18 Das gilt zB für das Begründungserfordernis für Rechtsakte der EU gem Art 296 AEUV, das nun auch in Art 41 II GRCh als Teil des Rechts auf eine gute Verwaltung aufgeführt wird; auch die in Art 340 II AEUV normierte Schadenshaftung der EU wird in Art 41 III GRCh als Element der guten Verwaltung aufgeführt. 19 Das gilt zB für das Verbot der Doppelbestrafung, das durch Art 50 GRCh transnational ausgeweitet wird (s noch Fn 153), eingeschränkt auch für die Rückwirkung des milderen Strafgesetzes gem Art 49 I 3 GRCh, s u Fn 23. 20 So zB die VO 2988/95 des Rates v 18.12.1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl EG 1995 L 312/1, die einen allgemeinen Rahmen für den Erlass verwaltungsrechtlicher Sanktionen zum Schutz dieser Interessen setzt, und damit auch den Schutz des Einzelnen bewirkt; für ein Beispiel s Fn 21. 21 Art 2 II 2 der VO 2988/95 (Fn 20); s dazu zB EuGH, Rs C-295/02, Slg 2004, I-6369, Rn 40 ff – Gisela Gerken. 22 EuGH (GK), verb Rs C-387/02, C-391/02 u C-403/02, Slg 2005, I-3565, Rn 67 ff – Berlusconi; EuGH, Rs C-45/06, Slg 2007, I-2089, Rn 32 – Campina; Rs C-142/05, Slg 2009, I-4273, Rn 43 – Mickelsson (dazu Gundel, EuZW 2009, 833). Die Anerkennung dürfte dem EuGH auch dadurch leichter gefallen sein, dass die Garantie zu diesem Zeitpunkt bereits in den – allerdings noch nicht verbindlichen – Art 49 I 3 GRCh aufgenommen war. 23 Für Anwendungsfälle s EuGH, Urt v 6.10.2016, Rs C-218/15 – Paoletti; dazu Germelmann/Gundel, BayVBl 2017, 649 (653); EuGH, Urt v 7.8.2018, Rs C-115/17 – Clergeau ua, ZfZ 2018, 263; dazu Germelmann/Gundel, BayVBl 2019, 583 (589); zwischenzeitlich hat auch der EGMR diese Gewährleistung anerkannt, obwohl sie in der EMRK fehlt, s EGMR (GK), Urt v 17.9.2009, 10249/03 – Scoppola (No 2); dazu mwN Gundel FS Scheuing, 2011, S 58 (71 ff).
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Richtlinien zu den Rechten des Angeklagten im Strafverfahren24, die im Wesentlichen die Rechtsprechung des EGMR zu Art 6 EMRK kodifizieren25, die ohnehin über Art 47 GRCh und die Homogenitätsklausel des Art 52 III GRCh Bestandteil des Primärrechts ist. Teils handelt es sich aber auch um eigenständige Ergänzungen, deren Streichung in der Hand des EU-Gesetzgebers liegt26. Unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensgrundrechte werden hier nur solche Verfahrensregelungen behandelt, die auf das geschriebene Primärrecht oder auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückgeführt werden können.
3. Verpflichtete Durch die Verfahrensgrundrechte verpflichtet sind zunächst die EU-Organe 8 (Rn 10 ff): Der EU-Gesetzgeber darf keine verfahrensrechtlichen Gestaltungen wählen, die diese Rechte missachten, die EU-Exekutive muss bei den von ihr durchgeführten Verwaltungsverfahren die Rechte der Betroffenen beachten, und auch der Zugang zu den EU-Gerichten und das gerichtliche Verfahren unterliegen diesen Vorgaben: So müssen Verwaltungsentscheidungen zB in den von der Kommission betriebenen Kartellverfahren in angemessener Frist ergehen,27 und auch die überlange Verfahrensdauer bei einer anschließenden gerichtlichen Überprüfung ist ein Verstoß gegen Verfahrensgrundrechte.28
24 RL 2010/64/EU des EP und des Rates v 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren, ABl 2010 Nr L 280/1; RL 2012/13/EU des EP und des Rates v 22.5.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung im Strafverfahren, ABl 2012 Nr L 142/1; RL 2013/48/EU des EP und des Rates v 22.10.2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafsachen und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (…), ABl 2013 Nr L 294/1. 25 Dazu Polakiewicz, EuGRZ 2010, 11 ff; ders, ZEuS 2010, 1 ff. 26 Für ein Beispiel s u Fn 166. 27 S zB EuGH, Rs C-105/04 P, Slg 2006, I-8725, Rn 35 ff – FEG; zuvor EuG, verb Rs T-305/94 ua, Slg 1999, II-931, Rn 120 ff – Limburgse Vinyl; verb Rs T-213/95 u T-18/96, Slg 1997, II-1739, Rn 56 – SCK u FNK. 28 So zur Dauer eines Verfahrens vor dem EuG erstmals EuGH, Rs C-185/95 P, Slg 1998, I-8417 – Baustahlgewebe; dazu Schlette, EuGRZ 1998, 369 ff; Toner, CMLRev 36 (1999), 1345 ff; Pallaro, DCSI 2000, 493 ff; weiter EuGH, verb Rs C-238/99 P ua, Slg 2002, I-8375, Rn 206 ff – Limburgse Vinyl, m Anm Wesseling, CMLRev 41 (2004), 1141 ff; → zu den Rechtsfolgen Rn 40; → zur Rspr des EGMR Grabenwarther/ Struth § 11.1 Rn 94 ff.
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Daneben sind auch die Mitgliedstaaten durch die Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts verpflichtet: Die Verfahrensanforderungen binden auch die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte, wenn diese im Anwendungsbereich des EURechts tätig werden (Rn 42 ff); weiter sind beim Vollzug des EU-Rechts Kooperationsformen zwischen EU-Verwaltung und mitgliedstaatlichen Behörden entstanden, die die Verwirklichung der Verfahrensgrundrechte vor besondere Probleme stellen (Rn 59 ff).
II. Justiz- und Verfahrensgrundrechte gegenüber den EU-Organen 1. Verfahrensgrundrechte gegenüber den Verwaltungsorganen der EU a) Die einzelnen Rechte 10 Die bedeutsamsten Verfahrensrechte im Verwaltungsverfahren werden heute in
Art 41 II GRCh beispielhaft („insbesondere“) aufgezählt: das Recht auf Anhörung vor Erlass einer nachteiligen Maßnahme, das Recht auf Einsicht in die betreffenden Akten; darüber hinaus ist auch die dort aufgeführte, schon in Art 296 II AEUV vorgesehene Pflicht zur Begründung von Rechtsakten den Verfahrensgrundrechten zuzuordnen: Sie gilt zwar für alle Rechtsakte der EU, erfüllt im Fall belastender Entscheidungen der EU-Organe aber den besonderen Zweck, zum einen dem Betroffenen Aufschluss über die Gründe zu geben und zum anderen eine gerichtliche Kontrolle zu ermöglichen.29 11 Die Rechtsprechung des EuGH hatte schon zuvor geklärt, dass rechtliches Gehör vor allen belastenden Verwaltungsentscheidungen auch ohne ausdrückliche sekundärrechtliche Regelung gewährleistet werden muss.30 Nur in Ausnahmekonstellatio-
29 Hervorgehoben wird diese doppelte Funktion der Begründung zB in der Rspr zum Zugang zu EUDokumenten, etwa EuG, Rs T-123/99, Slg 2000, II-3269, Rn 64 – JT’s Corporation Ltd, mwN; Rs T-83/96, Slg 1998, II-545, Rn 63 – van der Wal; zur Begründung von Beihilfe-Beanstandungen EuG, verb Rs T204/97 u T-270/97, Slg 2000, II-2267, Rn 34 – EPAC; auch bei wettbewerbsrechtlichen Entscheidungen spielt die Begründung eine wesentliche Rolle, s etwa EuG, Rs T-348/94, Slg 1998, II-1875, Rn 109 ff – Enso Española. 30 So nachdrücklich EuGH, Rs C-135/92, Slg 1994, I-2885, Rn 39 – Fiskano; weiter zB Rs C-32/95 P, Slg 1996, I-5373, Rn 21 – Lisrestal; EuG, Rs T-42/96, Slg 1998, II-401, Rn 76 – Eyckeler u Malt; Rs T-50/96, Slg 1998, II-3773, Rn 59 – Primex Produkte; Rs T-170/06, Slg 2007, II-2601 – Alrosa, Rn 191 ff (dazu Le More, EuZW 2007, 722 ff; Idot, Europe 10/2007, 28 f); allerdings gilt dieses Anhörungsrecht nur für individuelle Rechtsakte, s EuGH, Rs C-221/09, Slg 2011, I-1655, Rn 49 – AJD Tuna; umfassend zur Entwicklung Nöhmer Das Recht auf Anhörung im europäischen Verwaltungsverfahren, 2013.
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nen kann es zulässig sein, das Gehör erst nach Erlass der Maßnahme zu gewähren, wenn dies zur Sicherung ihres Erfolgs erforderlich ist.31 Als notwendiges Element dieses Gehörs ist in der Rechtsprechung auch das akzessorische Akteneinsichtsrecht32 des Betroffenen anerkannt:33 Um effektiv Stellung nehmen zu können, muss er die zu seinen Lasten verwendeten Unterlagen kennen.34 Die Verpflichtung zur Begründung der am Ende des Verfahrens stehenden Entscheidung sichert die Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle und ist damit zugleich auch durch Art 47 GRCh gewährleistet35. Als spezifisch unionsrechtliches Verfahrensgrundrecht, das den Bürgern allein 12 gegenüber den EU-Organen eingeräumt ist,36 ist der Gebrauch der eigenen Sprache im Kontakt mit den EU-Organen zu erwähnen. Dieses Recht ist als Ausprägung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Amsterdam in das Primärrecht aufgenommen worden und findet sich heute in Art 24 IV AEUV (→ vgl Kadelbach § 10.2
31 So zum Fall der „smart sanctions“ EuGH (GK), verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 338 ff – Kadi u Al Bakaraat. 32 Dazu zB EuG, Rs T-23/99, Slg 2002, II-1705, Rn 169 ff – LR AF 1998; Rs T-36/91, Slg 1995, II-1847 – ICI; verb Rs T-10/92, T-11/92 u T-15/92, Slg 1992, II-2667 – Cimenteries CBR; Rs T-7/89, Slg 1991, II-1711 – Hercules Chemicals. 33 Die EU-Kommission hat die Grundsätze zur Handhabung dieses Rechts im Gefolge der EuGHRspr in einer im Amtsblatt veröffentlichten Mitteilung zusammengefasst, ABl 1997 Nr C 23/3; jetzt ist es explizit in Art 27 II der VO 1/2003 (zu dieser noch unten Fn 39) geregelt, s dazu C Nowak, DVBl 2004, 272 (275 f). 34 In einem kartellrechtlichen Verfahren hat EuGH, verb Rs 100/80 ua, Slg 1983, 1825, Rn 30 – Musique Diffusion daraus die Konsequenz gezogen, dass Belastungsmaterial, zu dem der Betroffene nicht Stellung nehmen konnte, durch das Gericht nicht zu seinen Lasten verwertet werden kann. Das Einsichtsrecht gilt allerdings auch nicht uneingeschränkt, sondern ist mit den Rechten anderer Beteiligter in Ausgleich zu bringen; so kann es in Kartellverfahren erforderlich werden, die Geschäftsgeheimnisse der Betroffenen vor der Einsichtnahme durch Dritte (etwa beschwerdeführende Wettbewerber) zu schützen. 35 S EuGH (GK), Urt v 4.6.2013, Rs C-300/11, EuGRZ 2013, 281–287 – ZZ/Home Department (dort zugleich zu den aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zulässigen Einschränkungen). 36 Dieses Recht gilt nicht gegenüber den mitgliedstaatlichen Behörden, für deren Tätigkeit wie selbstverständlich die Amtssprache des Aufenthaltsstaats gilt. Eine Ausnahme normiert Art 76 VII der VO 883/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl 2004 Nr L 166/1, der für den Bereich der Sozialsysteme bestimmt: „Die Behörden, Träger und Gerichte eines Mitgliedstaates dürfen die bei ihnen eingereichten Anträge und sonstigen Schriftstücke nicht deshalb zurückweisen, weil sie in der Amtssprache eines anderen Mitgliedstaates abgefasst sind (…).“ S zu dieser Bestimmung und vereinzelten weiteren Ausnahmeregelungen de Witte in Dinstein/Tabory (Hrsg) The Protection of Minorities and Human Rights, 1992, 277 (290 f); für ein Anwendungsbeispiel s EuGH, Rs C-6/67, Slg 1967, 294 – Teresa Guerra (zu einem Klageschriftsatz in italienischer Sprache vor einem belgischen Gericht).
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Rn 10); auch in Art 41 IV der Grundrechtecharta ist es niedergelegt. Es verpflichtet die EU-Organe, mit den Unionsbürgern in der von ihnen jeweils gewählten EUAmtssprache zu kommunizieren.37 Allerdings ist insbesondere nach der Vermehrung der Amtssprachen durch die verschiedenen Beitrittsrunden fraglich geworden, wie lange die Union noch bereit ist, sich diesen Luxus der „Allsprachigkeit“ zu leisten38; immerhin macht die Rechtsprechung in neuerer Zeit aber deutlich, dass die – wenn auch kostspielige – Berücksichtigung aller Amtssprachen zur Legitimation der EU im Kern unverzichtbar erscheint.39 13 Mit der Anerkennung weiterer ungeschriebener Verfahrensgrundrechte ist der Gerichtshof allerdings zu Recht zurückhaltend: So hat er die Anerkennung eines ungeschriebenen Anspruchs auf Rechtsbehelfsbelehrung, der im AEUV nicht als Voraussetzung für den Fristlauf der Nichtigkeitsklage (gem Art 263 VI AEUV grundsätzlich 2 Monate) erwähnt ist, abgelehnt.40 14 Ist eines der danach garantierten Rechte durch die EU-Organe im Verwaltungsverfahren missachtet worden, so kann die in diesem Verfahren ergangene Entscheidung wegen Verstoßes gegen eine wesentliche Formvorschrift (Art 263 II 2. Alt AEUV) durch die EU-Gerichte für nichtig zu erklären sein. Die Zuordnung zu diesem Klagegrund bedeutet zugleich, dass die (mögliche) Auswirkung des Verstoßes auf den Inhalt der Entscheidung maßgeblich für den Erfolg der Klage ist: Nur solche
37 Im Verhältnis zu den in Art 24 IV AEUV nicht aufgeführten verselbständigten Behörden der EU (sog Ämtern oder Agenturen der EU als Einheiten mit eigener Rechtspersönlichkeit) soll der Grundsatz der Allsprachigkeit nicht gelten, s EuG, Rs T-120/99, Slg 2001, II-2235 – Kik = EuR 2001, 764 m krit Anm Gundel (zum eingeschränkten Sprachenregime des EG-Markenamts in Alicante, das nur die Sprachen der fünf größten Mitgliedstaaten verwendet; die diese Einschränkung billigende Entscheidung des EuG ist durch EuGH, Rs C-361/01 P, Slg 2003, I-8283 – Kik, m Anm Shuibne, CMLRev 41 (2004), 1093 ff bestätigt worden). 38 Zur sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Sprachenregimes s Oppermann, ZEuS 2001, 1 ff; ders, NJW 2001, 2663 ff; zur Reformfrage zB Nabli, RFDA 2005, 177 ff; Van Der Jeught, JTDE 2004, 129 ff; Yvon, EuR 2003, 681 ff. 39 S EuGH (GK), Rs C-161/06, Slg 2007, I-10841 – Skoma-Lux: Eine nicht in allen Amtssprachen veröffentlichte VO ist auf dem Gebiet der nicht berücksichtigten Staaten nicht verbindlich; zum Hintergrund des Falls – der EU-Osterweiterung, die die Übersetzung des gesamten geltenden Sekundärrechts in die Sprachen der Beitrittsländer erforderlich machte – s Lasinski-Sulecki/Morawski, CMLRev 45 (2008), 705 ff; weiter EuG, Rs T-185/05, Slg 2008, II-3207 – Italien/Kommission: Die Beschränkung der Veröffentlichung von Stellenausschreibungen auf die internen Arbeitssprachen Englisch, Französisch und Deutsch ist unzulässig; dazu Bernard, Europe 1/2009, 8 f. 40 EuGH, Rs C-153/98 P, Slg 1999, I-1441, Rn 15 – Guérin Automobiles, Bestätigung von EuG, Rs T-275/ 97, Slg 1998, II-253, Rn 161 – Guérin Automobiles; krit dazu Martínez Soria, EuR 2001, 682 (694) mwN. Der EuGH hat hier festgehalten, dass eine solche Belehrungspflicht zwar in den meisten Mitgliedstaaten bestehe, dort aber nur Gegenstand des einfachen Gesetzesrechts sei.
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Fehler, die im konkreten Fall Auswirkungen haben konnten,41 gelten als Verstoß gegen eine „wesentliche Formvorschrift“.42
b) Insbesondere: Verfahrensrechte im Kartellverfahren Wichtigster Anwendungsbereich für Verfahrensgrundrechte unmittelbar gegen- 15 über den EU-Behörden ist das EU-Kartellrecht, das bisher vor allem von der Kommission selbst unmittelbar gegenüber den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern vollzogen wurde. Auch nach der Dezentralisierung der Kartellaufsicht durch die VO 1/200343, mit der diese Aufgabe weitgehend auf die mitgliedstaatlichen Behörden verlagert wird, bleibt der Kommission das Recht des unmittelbaren Zugriffs auf kartellrechtliche Verstöße im Einzelfall.44 In der Literatur ist die damit verbundene Verfahrensherrschaft der Kommission immer wieder problematisiert worden45. In diesem zumindest strafrechtsähnlichen Gebiet finden nicht nur die „all- 16 gemeinen Verfahrensgarantien“ Anwendung46: Darüber hinaus stellt sich die Frage nach Geltung und Reichweite weiterer gebietsspezifischer Gewährleistungen, wie
41 S zB EuG, Rs T-44/00, Slg 2004, II-2223, Rn 55 – Mannesmannröhren-Werke, wonach „Verteidigungsrechte durch einen Verfahrensfehler nur verletzt werden, wenn sich dieser auf die Verteidigungsmöglichkeiten der beschuldigten Unternehmen konkret ausgewirkt hat“. Vergleichbar ist im deutschen Recht § 46 VwVfG, s dazu Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (22 ff); Verfahrensfehler wirken sich damit vor allem in solchen Bereichen aus, in denen den EU-Organen ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist; s für ein Bsp EuG, Rs T-50/96, Slg 1998, II-3773, Rn 60, 71 – Primex Produkte. 42 Tatsächlich wird der Wortlaut des Art 263 II AEUV damit abweichend geordnet: Erforderlich ist nicht die Verletzung einer (bei abstrakter Betrachtung) „wesentlichen Formvorschrift“, sondern eine (im konkreten Fall) „wesentliche Verletzung“ einer Formvorschrift; so zu Recht Cremer in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 263 AEUV Rn 84. 43 Die VO 1/2003 des Rates v 16.12.2002 zur Durchführung der in den Art 81 und 82 des EG-Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl 2003 Nr L 1/1, ersetzt die zuvor geltende VO Nr 17 des Rates v 6.2.1962; zu den Verfahrensrechten nach der Reform zB Meyer/Kuhn, WuW 2004, 880 ff; Andreangeli, ELRev 31 (2006), 342 ff; zuletzt monographisch Fink Wirksamer Schutz der Verteidigungsrechte im EU-Kartellverfahren, 2021. 44 S zur Regelung der Zuständigkeiten Art 4 ff der VO 1/2003 (Fn 43); selbst im Fall eines bereits laufenden nationalen Verfahrens kann die Kommission noch eigene Ermittlungen einleiten, s EuG, Rs T-339/04, Slg 2007, II-521, Rn 79 – France Télécom. 45 S in jüngerer Zeit die Beiträge in Immenga/Körber (Hrsg) Die Kommission zwischen Gestaltungsmacht und Rechtsbindung, 2012; weiter Nascimbene, ELRev 38 (2013), 573 ff; Lidgard FS Lindh, 2012, S 403 ff; Ruiz Calzado/de Stefano, ebd, S 423 ff; in der Rechtsprechung haben diese Bedenken allerdings bisher kein Echo gefunden, s u Rn 18. 46 S auch Andreangeli EU Competition Enforcement and Human Rights, 2008, insbes S 15 ff; Bombois La protection des droits fondamentaux des entreprises en droit européen répressif de la concurrence, 2012.
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der Vertraulichkeit der Rechtsberatung47, der Unschuldsvermutung48, des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots49 oder des Verbots der Doppelbestrafung.50
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Fall 1: (EuGH, Rs C-374/87, Slg 1989, 3283 – Orkem) Im Rahmen von Ermittlungen wegen des Verdachts unzulässiger Preisabsprachen fordert die Kommission die in Deutschland ansässige X-AG zur Erteilung von Auskünften auf; nachdem diese nicht reagiert, erlässt die Kommission eine förmliche Entscheidung, wonach die X-AG (1) Auskunft darüber zu geben hat, welche anderen Unternehmen bei einem Treffen führender Verantwortlicher der X-AG mit verschiedenen, bisher aber noch nicht abschließend ermittelten Konkurrenzunternehmen vertreten waren, (2) mitzuteilen hat, welche Verabredungen oder sonstigen Verstöße gegen Art 101 AEUV bei diesen Treffen oder in der Folgezeit beschlossen worden sind. Die X-AG meint, dass sie die Fragen nicht beantworten müsse; die Anforderung dieser Angaben bedeute einen unzulässigen Zwang zur Selbstbelastung. Zu Recht?
18 Der Grundsatz des fairen Verfahrens, der für die EMRK in Art 6 verkörpert wird,
gilt auch in kartellrechtlichen Ermittlungsverfahren der Kommission; dies gilt un-
47 S schon Fn 10; zur Reichweite dieser Gewährleistung weiter EuG, verb Rs T-125/03 u T-253/03, Slg 2007, II-3523 – Akzo Nobel = EuR 2008, 514 m Anm Weiß; s auch Sladic, ZEuS 2007, 533 ff; Seitz, EuZW 2008, 204 ff; dies, EuZW 2004, 231 ff. 48 S zB EuG, Rs T-474/04, Slg 2007, II-4225 – Pergan Hilfsstoffe = EuR 2008, 703 m Anm Wegener: Die namentliche Erwähnung eines Unternehmens als (wegen Verjährung nicht mehr verfolgbarer) Teilnehmer an einem Kartell in der Begründung einer gegen andere Unternehmen ergangenen Entscheidung verletzt die Unschuldsvermutung; s weiter zur Problematik der Zurechnung von Kartellrechtsverstößen von Tochtergesellschaften an die Muttergesellschaft u Fn 63. 49 S zB EuGH, Rs C-3/06 P, Slg 2007, I-1331, Rn 23 ff – Groupe Danone: kein Verstoß durch strafschärfende Berücksichtigung eines Wiederholungsfalls bei Festsetzung der Bußgeldhöhe; dazu Seitz, EuZW 2007, 304 f; EuG, Rs T-99/04, Slg 2008, II-1501, Rn 113 ff – AC-Treuhand = EuR 2010, 207 m Anm Weitbrecht/Baudenbacher: kein Verstoß durch Geldbuße für Beihilfehandlungen; dazu von dem Bussche/Albrecht, EWS 2008, 416 ff. 50 S Art 50 GRCh; → zum Verbot der Doppelbestrafung nach Art 4 7. ZP EMRK Grabenwarter/Struth § 11.1 Rn 112 ff. Zur Problematik im EU-Kartellrecht s Böse, EWS 2007, 202 ff; Soltész/Marquier, EuZW 2006, 102 ff; Ameye, ECLR 25 (2004), 332 (339 f); aus der Rspr s grundlegend EuGH, Rs 14/68, Slg 1969, 1, Rn 10 f – Walt Wilhelm; weiter EuG, verb Rs T-236/01 ua, Slg 2004, II-1181, Rn 130 ff – Tokai Carbon: Eine parallele Sanktionierung nach nationalem und EU-Wettbewerbsrecht ist nach diesen Entscheidungen aufgrund der unterschiedlichen Schutzgüter nicht per se unzulässig, doch ist aus Billigkeitsgründen eine bereits verhängte Sanktion bei der folgenden Entscheidung mildernd zu berücksichtigen. Sanktionen durch Drittstaaten müssen nicht berücksichtigt werden, so EuGH, Rs C-308/04 P, Slg 2006, I-5977, Rn 26 ff – SGL Carbon; Rs C-328/05 P, Slg 2007, I-3921, Rn 24 ff – SGL Carbon; EuGH (GK), Urt v 14.2.2012, Rs C-17/10, EuZW 2012, 223 – Toshiba zur Zulässigkeit der nationalen Sanktionierung von Verstößen, die vor dem EU-Beitritt des Mitgliedstaats begangen und damit von EU-Sanktionen nicht erfasst wurden; dazu Boni, RAE 2012, 183 ff.
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abhängig davon, ob dieses Verfahren als Zivil- oder Strafsache im Sinne des Art 6 EMRK51 einzuordnen ist: Die EU-Gerichte konnten diese Frage lange offen lassen,52 weil die Geltung der Verfahrensanforderung als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Rechts davon nicht abhängig ist.53 Zwischenzeitlich dürfte die Einordnung als strafrechtlicher Vorwurf zwar zumindest der Sache nach anerkannt sein54, nachdem der EuGH die Anwendbarkeit der spezifisch strafrechtlichen Justizgewährleistungen in diesem Bereich akzeptiert hat. Dadurch wird allerdings die überkommene Ausgestaltung des Kartellverfahrens als von der Kommission geführtes und mit einer – gerichtlich überprüfbaren – Verwaltungsentscheidung abgeschlossenes Verfahren nicht in Frage gestellt:55 Tatsächlich folgt auch aus der EGMR-Rspr, dass außerhalb des Kernstrafrechts strafrechtliche Vorwürfe durch Behörden ohne Gerichtscharakter festgehalten werden können, wenn eine vollständige gerichtliche Kontrolle gesichert ist56. Das vor der Kommission geführte Verfahren als solches unterliegt damit Art 41 GRCh und nicht Art 47 GRCh57.
51 Zu den Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Art 6 I EMRK selbst → Grabenwarter/Struth § 11.1 Rn 55 ff. 52 So zB EuG, verb Rs T-213/95 u T-18/96, Slg 1997, II-1739, Rn 56 – SCK u FNK, zum Anspruch auf Erlass einer Kommissionsentscheidung in angemessener Frist: „Daher ist, ohne dass über die Anwendbarkeit des Art 6 I EMRK auf Verwaltungsverfahren vor der Kommission auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik zu entscheiden wäre, zu prüfen, ob die Kommission im vorliegenden Fall gegen diesen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoßen hat.“ Zu Recht hat EuGH, Urt v 11.7.2013, Rs C-439/11 P, NZKart 2013, 364 – Ziegler, daran festgehalten, dass die Kommission bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts nicht selbst als gerichtliche Instanz im Sinne des Art 6 I EMRK qualifiziert werden kann, auch wenn die verfahrensrechtlichen Garantien bereits in diesem Stadium gelten; ebenso bereits EuGH, verb Rs 100/80 ua, Slg 1983, 1825, Rn 7 – Musique Diffusion; verb Rs 209/78 ua, Slg 1980, 3125, Rn 80 – van Landewyck („Fedetab“); für Disziplinarverfahren der Kommission ebenso EuGH, Rs C-252/97 P, Slg 1998, I-4871, Rn 52 – N. 53 S auch Pache, NVwZ 2001, 1342 (1343); ders, EuGRZ 2000, 601 (603). 54 S (implizit) EuGH, Rs C-272/09 P, Slg 2011, I-12789, Rn 91 – KME Germany, explizit Rn 64 ff der Schlussanträge von GA Sharpston zu dieser Entscheidung; für die EMRK s EGMR, Urt v 27.9.2011, 43509/08, §§ 38 ff – Menarini Diagnostics SRL; dazu Bueren, EWS 2012, 363 ff; Abenhaim, RTDE 2012, 117 ff; Bombois, CDE 2011, 541 ff; im Anschluss daran für das EWR-Recht EFTA Court, Urt v 18.4.2012, Rs E-15/10, Rn 84 ff – Posten Norge; dazu Temple Lang, ELRev 37 (2012), 464 ff. 55 So ausdrücklich EuGH, Urt v 18.7.2013, Rs C-501/11 P, NZKart 2013, 334, Rn 33 ff – Schindler; s a Urt v 11.7.2013, Rs C-439/11 P, NZKart 2013, 364, Rn 156 ff – Ziegler; s a Urt v 3.5.2012, Rs C-289/11 P, Rn 35 f – Legris Industries mit der Klarstellung, dass das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und der Grundrechtecharta keine Neubewertung erfordere, weil der Grundrechtsstandard schon zuvor anerkannt war. 56 S dazu Gundel in Merten/Papier, HGR, Bd VI/1, 2010, § 146 Rn 53. 57 So nun EuGH, Urt v 11.7.2013, Rs C-439/11 P, NZKart 2013, 364, Rn 154 – Ziegler; EuGH (GK), Rs C110/10 P, Slg 2011, I-10439, Rn 48 – Solvay.
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Lösung Fall 1: Ein absolutes Recht zur Vermeidung von Selbstbelastungen besteht im EU-Recht nicht; der „nemo tenetur“-Grundsatz gilt danach nur für natürliche Personen in Strafverfahren, nicht aber für juristische Personen, denen ein wettbewerbsrechtliches Bußgeld droht.58 Die Garantie eines fairen Verfahrens, die auch hier anwendbar ist, zwingt jedenfalls in diesem Bereich nicht zur Anerkennung eines absoluten Schweigerechts; dennoch setzt sie dem Fragerecht der Kommission Grenzen. Die tatsächlichen Angaben zu (1) muss die X-AG danach tatsächlich erteilen, auch wenn sie Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen liefern, die schließlich zum Beweis eines Wettbewerbsverstoßes und zur Verhängung eines Bußgeldes führen können. Die Beantwortung der Fragen zu (2) würde dagegen nicht nur Indizien liefern, sondern verlangt eine eigene Bewertung des Sachverhalts durch das Unternehmen, die einem Geständnis gleichkommen würde. Die Verpflichtung zur Beantwortung solcher Fragen verstößt auch nach der Rechtsprechung des EuGH gegen das Recht auf ein faires Verfahren.59
20 Die Lösung der EU-Gerichte ist insofern nicht unproblematisch, als der EGMR in ei-
nem vergleichbaren Fall ein absolutes Recht zur Aussageverweigerung auf der Grundlage des Art 6 EMRK angenommen hat;60 in Kenntnis dieser Rechtsprechung haben EuG und EuGH die restriktivere Auslegung im Anwendungsbereich des EURechts bestätigt.61 Diese Divergenz könnte dadurch zu erklären sein, dass in den vom EuGH entschiedenen Fällen juristische Personen betroffen waren, auf die die ratio der Selbstbelastungsfreiheit nicht zutrifft.62 In diesen Zusammenhang der differenzierten Anwendung strafrechtlicher Gewährleistungen auf juristische Per-
58 EuGH, Rs 374/87, Slg 1989, 3283, Rn 31 – Orkem. 59 EuGH, Rs 374/87, Slg 1989, 3283, Rn 38 ff – Orkem. 60 EGMR, Urt v 25.2.1993, 10828/84, RUDH 1993, 232, Rn 41 ff, 44 – Funke = ÖJZ 1993, 532 (Zollverfahren), dazu Philippi, ZEuS 2000, 97 (114 ff); s auch noch EGMR, Urt v 17.12.1996, 19187/91, RJD 1996-VI, § 71 – Saunders (Ermittlungen der Börsenaufsicht); zu diesen Entscheidungen des EGMR und ihren Konsequenzen für das EU-Recht s auch Riley, ELRev 25 (2000), 264 (270 ff); einschränkend zum Ausschluss einer Pflicht zur Selbstbelastung aber die neuere EGMR-Rspr, s EGMR, Entsch v 10.9.2002, 76574/01, RJD 2002-VIII – Allen = ÖJZ 2003, 909; Urt v 8.4.2004, 38544/97, ÖJZ 2004, 853, §§ 39 ff – Weh. 61 EuG, Rs T-112/98, Slg 2001, II-729, Rn 70 ff – Mannesmann-Röhrenwerke = EuZW 2001, 345 m Anm Pache; EuGH, Rs C-301/04 P, Slg 2006 I-5915, Rn 45 ff – SGL Carbon (dazu zB Soyez, EWS 2006, 389 ff); verb Rs C-125/07 P ua, Slg 2009, I-8681, Rn 271 – Erste Group Bank AG. 62 Ähnlich Vondung Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, 2012, S 115 f; Bueren, ZEuS 2011, 485 (504 f); wohl auch Paeffgen, ZStW 2006, 275 (297). Hierauf für das deutsche Recht abstellend BVerfGE 95, 220, 241 f – Radio Dreyeckland (ablehnend dazu freilich Weiß, JZ 1998, 289 ff; ders, NJW 1999, 2236 f). Der EuGH hat diesen Gesichtspunkt in der Vergangenheit nicht explizit angeführt, s aber Rn 63 der Schlussanträge von GA Geelhoed zu EuGH, Rs C-301/04 P, Slg 2006, I-5915 – SGL Carbon sowie nun EuGH (GK), Urt v 2.2.2021, Rs C-481/19 – DB/ Consob, Rn 45, 48; dazu mwN Germelmann/Gundel, BayVBl 2022, 505 (513).
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sonen gehört auch die umstrittene Frage der Vereinbarkeit einer kartellrechtlichen Sanktionierung von Mutterunternehmen, denen keine eigene aktive Mitwirkung am Verstoß der Tochtergesellschaft nachgewiesen werden kann, mit der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK.63
2. Verfahrensgrundrechte vor den EU-Gerichten a) Zugang zu den EU-Gerichten aa) Direkter und indirekter Zugang zu den EU-Gerichten Die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes durch die Judikative der EU 21 betrifft zunächst die Frage der Eröffnung des Zugangs zum Gericht; grundsätzlich gehört eine wirksame gerichtliche Überprüfung von belastenden Entscheidungen der EU-Organe zu den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts.64 Der EuGH betont, dass der Vertrag „ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen“ hat, das die Kontrolle ihrer Handlungen durch die EU-Gerichte sicherstellt65. Diese Kontrolle erfolgt allerdings nicht stets in der Form des Primärrechtsschutzes, denn die Nichtigkeitsklage des Art 263 AEUV erfasst nur Handlungen der EU-Organe, die verbindliche Rechtswirkungen haben; im Übrigen verweist der Gerichtshof auf die Möglichkeit von Schadenersatzklagen gem Art 268, 340 AEUV66. Vollständig ist dieses System zudem von vornherein nur durch die Einbe- 22 ziehung der nationalen Gerichte: Ihnen ist der Rechtsschutz des Einzelnen gegen
63 Die Vermutung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft verstößt nach der EuGHRechtsprechung bei 100 %-igen Tochtergesellschaften nicht gegen den Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit, s nur EuGH, Rs C-97/08 P, Slg 2009, I-8237, Rn 60 ff – Akzo Nobel; Rs C-90/09 P, Slg 2011, I-1, Rn 37 ff – General Química; Rs C-521/09 P, Slg 2011, I-8947, Rn 54 ff – Elf Aquitaine; Urt v 3.5.2012, Rs C-289/11 P, Rn 45 ff – Legris Industries; Beschl v 13.12.2012, Rs C-593/11 P, Rn 42 ff – Alliance One International; EuGH, Urt v 8.5.2013, Rs C-508/11 P, Rn 46 ff – Eni SpA = EuZW 2013, 547 m Anm Nehl; dazu zB Kling, WRP 2010, 506 ff; Bosch, ZWeR 2012, 368 ff.; für den umgekehrten Fall einer Haftung der Tochtergesellschaft s EuGH (GK), Urt v 6.10.2021, Rs C-882/19, NJW 2021, 3583 – Sumal; dazu Cauffmann, MJ 29 (2022), 499 ff; Uebele, WuW 2021, 683 ff; Kersting/Otto, NZKart 2021, 653 ff. 64 So – wiederum für Wettbewerbsentscheidungen der Kommission – EuG, Rs T-348/94, Slg 1998, II1875, Rn 60 – Enso Española. 65 So zB EuGH (GK), Rs C-131/03 P, Slg 2006, I-7795, Rn 80 – Reynolds Tobacco ua/Kommission. 66 S zB zur Unzulässigkeit einer Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung der Kommission, Tabakhersteller vor amerikanischen Gerichten zu verklagen: EuGH (GK), Rs C-131/03 P, Slg 2006, I-7795, Rn 79 ff – Reynolds Tobacco ua/Kommission; weiter EuGH, Rs C-93/11 P, Slg 2011, I-92* (abgek Veröff), Rn 30 – Verein Deutsche Sprache, auch die Weitergabe von Informationen durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) kann nur mit der Schadenersatzklage verfolgt werden, s u Fn 154.
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unionsrechtswidriges Handeln der Mitgliedstaaten vollständig anvertraut67, und auch sein Zugang zum Gerichtshof zur Prüfung von Handlungen der EU-Organe erfolgt nach der Konzeption der Verträge und der bisherigen Handhabung durch die Rechtsprechung regelmäßig „indirekt“ auf dem Weg über die nationalen Gerichte und das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art 267 AEUV; diese Aufgabenverteilung wird durch den Reformvertrag von Lissabon im Grundsatz bestätigt68. Der Gerichtshof hat zwar unter Berufung auf den Charakter der EU als Rechtsgemeinschaft (s Art 19 I UA 1 EUV) den Grundsatz aufgestellt, dass stets eine Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung für unionsrechtlich begründete Rechtspositionen bestehen muss;69 zu Erweiterungen des direkten Zugangs zu den EU-Gerichten hat der Gesichtspunkt des lückenlosen Rechtsschutzes bisher aber fast ausschließlich in Fällen geführt, die nicht den Schutz individueller Rechte, sondern das Verhältnis der EU-Organe zueinander betrafen70 und die in den Kategorien des deutschen Verfassungsprozessrechts eher dem Organstreitverfahren zuzuordnen wären.71 Im Übrigen verweist der Gerichtshof auf den „Einstieg“ über das Vorabentscheidungsverfahren, über dessen Einleitung das vorlegende nationale Gericht entscheidet. Die nationalen Gerichte sind zwar in letzter Instanz gemäß Art 267 III AEUV zur Vorlage verpflichtet, wenn sich ein ernsthaftes Auslegungsproblem stellt;72 will das Gericht die Ungültigkeit von Sekundärrecht annehmen, so gilt die Vorlagepflicht sogar un-
67 S auch noch u Rn 69 f. 68 S den neu eingefügten Art 19 I UAbs 2 EUV: „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“ Zur begrenzten Erweiterung der Nichtigkeitsklage in Art 263 IV AEUV s Rn 28 ff. 69 So zB EuGH, Rs 294/83, Slg 1986, 1339, Rn 23 – Les Verts/Parlament. 70 S die zunächst gegen den Text des Vertrages erfolgte Anerkennung der Aktivlegitimation des Parlaments zur Verteidigung seiner Rechte durch EuGH, Rs C-70/88, Slg 1990, I-2041, Rn 23 – Parlament/Rat (Tschernobyl) = EuR 1990, 269 m Anm Hilf, die in Art 230 III EGV (Maastricht-Fassung) kodifiziert wurde (der Vertrag von Nizza hat das Parlament dann unter die privilegierten Kläger des Art 230 II EGV eingereiht); ähnlich für die Passivlegitimation Rs 294/83, Slg 1986, 1339, Rn 23 – Les Verts/Parlament (Wahlkampfkostenerstattung); EuG, verb Rs T-222/99, T-327/99 u T-329/99, Slg 2001, II-2823, Rn 47 ff – Martinez, de Gaulle ua/Parlament (Anerkennung des Fraktionsstatus von Gruppierungen im EP). 71 Eine Ausnahme bildet EuG, Rs T-411/06, Slg 2008, II-2771 – Sogelma = EuR 2009, 369 m Anm Gundel zum Rechtsschutz gegen Entscheidungen der EU-Agenturen, die im damaligen Art 230 EGV nicht als mögliche Beklagte aufgeführt waren; in Art 263 I 2 AEUV sind sie nun genannt, dazu auch Everling, EuR-Beih 1/2009, 71, 77 f. 72 Zu dieser Einschränkung der Vorlagepflicht durch die sog „acte clair-Doktrin“ s EuGH, Rs 283/81, Slg 1982, 3415 – CILFIT = EuR 1983, 161 m Anm Millarg; zuletzt EuGH (GK), Urt v 6.10.2021, Rs C-561/19 – Consorzio Italian Management ua = EuZW 2022, 41 m Bespr Jaeger S 18 ff = NJW 2021, 3303 m Bespr Hilpold S 3290 ff = NVwZ 2021, 1766 m Anm Böttcher = EuR 2022, 239 (nur LS) m Anm Palmstorfer/ Kreuzhuber.
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abhängig von seiner Stellung im Instanzenzug.73 Durch den Einzelnen unionsrechtlich erzwingbar ist die Vorlage jedoch nicht: Eine Nichtvorlagebeschwerde zum Gerichtshof ist nicht vorgesehen;74 das EU-Recht vertraut insoweit auf die korrekte Anwendung durch die nationalen Gerichte.75 Als mittelbare Sanktion steht unter sehr eingeschränkten Bedingungen nur die Möglichkeit der unionsrechtlichen Staatshaftung für Gerichtsurteile76 zur Verfügung. In den letzten Jahren ist zudem deutlich geworden, dass die dabei vorausgesetzte Prämisse der Existenz einer unabhängigen und funktionsfähigen Justiz in den Mitgliedstaaten keine Selbstverständlichkeit ist; der EuGH hat daher hervorgehoben, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Sicherung dieser Vorbedingung für die Funktionsfähigkeit des EU-Rechtsschutzsystems sich aus Art 19 I EUV ergibt, der (anders als Art 47 GRCh) unabhängig davon gilt, ob ein konkreter Streitfall unionsrechtlichen Bezug hat77.
73 Dazu und zur Ausnahme für den vorläufigen Rechtsschutz Rn 56. 74 Entsprechende Überlegungen finden sich zB bei Allkemper Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, 1995, 209 ff mwN. 75 In einzelnen Mitgliedstaaten besteht die Möglichkeit, unter Berufung auf das nationale Grundrecht des gesetzlichen Richters Verstöße der letzten fachgerichtlichen Instanz gegen die Vorlagepflicht des Art 267 III AEUV zu rügen, s für Art 101 I 2 GG BVerfGE 75, 223 – Kloppenburg; später zB BVerfG, Beschl v 9.1.2001, Rs 1 BvR 1036/99, JZ 2001, 923, m Anm Voßkuhle – R; BVerfG, Beschl v 30.1.2002, Rs 1 BvR 1542/00, NJW 2002, 1486 – V e.V.; BVerfG, Beschl v 21.5.2008, Rs 2 BvR 893/08, EuZW 2008, 679; BVerfG, Beschl v 25.8.2008, Rs 2 BvR 2213/06, EuGRZ 2008, 633 – C; für Österreich ebenso VerfGH Wien, Erk v 11.12.1995, Rs B 2300/95, EuGRZ 1996, 529. EU-rechtlich gefordert ist die Eröffnung dieser zusätzlichen Instanz nicht; in Mitgliedstaaten, die diese Möglichkeit nicht kennen, bleibt den Parteien des Ausgangsverfahrens die Möglichkeit der Beschwerde zum EGMR wegen Verletzung der Vorlagepflicht: Die willkürliche Verletzung einer solchen Pflicht kann ebenfalls als Verstoß gegen Art 6 EMRK (faires Verfahren) gerügt werden, so grundsätzlich (im konkreten Fall aber jeweils Willkür verneinend) EGMR, Entsch v 4.10.2001, 60350/00, RUDH 2001, 420 – Canela Santiago; EGMR, Entsch v 13.2.2007, 15073/03, EuGRZ 2008, 274 – John; erstmals einen Verstoß bejahend EGMR, Urt v 8.4.2014, 17120/09, Rn 31 ff – Dhahbi. 76 S dazu erstmals EuGH, Rs C-224/01, Slg 2003 I-10239 – Köbler = EuZW 2003, 718 m Anm Obwexer = EWS 2004, 19 m Anm Gundel 8 ff = JK 2004, EGV Art 10/02; weiter EuGH (GK), Rs C-173/03, Slg 2006, I5177 – Traghetti del Mediterraneo = JZ 2006, 1173 m Anm Haratsch; EuGH, Urt v 9.9.2015, Rs C-160/14 – Ferreira da Silva e Brito, EuZW 2016, 111, Rn 46 ff m Anm Wendenburg; EuGH (GK), Urt v 21.12.2021, Rs C-497/20, EuZW 2022, 127, Rn 80 – Randstad Italia SpA. 77 S zB EuGH (GK), Urt v 20.4.2021, Rs C-896/19, EuGRZ 2021, 209, Rn 36 ff – Repubblika/Il-Prim Ministru; EuGH, Beschl. v. 2.7.2020, Rs C-256/19 – S.A.D. Maler und Anstreicher OG, Rn 36 ff; zu dieser „Entfesselung“ des Art 19 EUV von den Anwendungsgrenzen des Unionsrechts s auch Griller, in: Grabenwarter/Vranes (Hrsg), Die EU im Licht des Brexits und der Wahlen: Faktoren der Stabilität und Desintegration, 2020, S 149 (161 ff); Wildemeersch, CDE 2021, 867 ff.
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bb) Zulässige Nichtigkeitsklagen Einzelner gegen die an sie gerichteten Beschlüsse 23 Diese Konzeption des indirekten Zugangs gilt auch, soweit Einzelne die Gültigkeit von Maßnahmen der EU-Organe zur Überprüfung stellen: Den direkten Zugang zu den EU-Gerichten eröffnet Art 263 IV AEUV ohne zusätzliche Voraussetzungen nur für diejenigen Kläger, die sich gegen an sie gerichtete Entscheidungen der EU-Organe wenden, also zB für den Adressaten einer Bußgeldentscheidung der Kommission in Wettbewerbssachen. Für diese zulässigen Klagen Einzelner führt dieser Weg heute stets zum EuG als Eingangsgericht, das mit der EEA zur Entlastung des EuGH, aber auch zur Verbesserung des Individualrechtsschutzes durch Schaffung einer eigenen Tatsacheninstanz78 errichtet worden war.79 24 Die Adressaten eines solchen Beschlusses müssen danach grundsätzlich binnen der in Art 263 VI AEUV vorgesehenen Frist von zwei Monaten die Nichtigkeitsklage erheben; unterbleibt diese, so wird die Entscheidung bestandskräftig und damit für den Adressaten verbindlich.80 Eine Rechtsbehelfsbelehrung, die den Betroffenen auf diese Klagemöglichkeit (und -obliegenheit) hinweist, ist weder im Vertrag noch im Sekundärrecht ausdrücklich vorgesehen; der EuGH hat sie auch nicht als durch die Erfordernisse eines fairen Verfahrens geboten angesehen.81 Allerdings kann in besonderen Ausnahmefällen ein entschuldbarer Irrtum des Klägers angenommen werden, der ein Fristversäumnis ausschließt.82
cc) Klagen Einzelner gegen allgemein geltende Regelungen 25 Für nicht an den Kläger gerichtete Handlungen der EU-Organe gilt nach der 2. Alter-
native des Art 263 IV AEUV, dass der Kläger durch den angegriffenen Rechtsakt „unmittelbar und individuell“ betroffen sein muss. Nach der von der Rechtsprechung seit langem verwendeten engen Auslegung des Erfordernisses der individuellen Betroffenheit – danach muss der Kläger durch den Rechtsakt „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen
78 3. Erwägungsgrund des Beschlusses zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, ABl 1988 Nr L 319/1. 79 S dazu rückblickend Azizi, ÖJZ 2002, 41 (44 ff); Lenaerts, CDE 2000, 323 ff; aus der Entstehungszeit Müller-Huschke, EuGRZ 1989, 213 ff; Cruz Vilaça/Pais Antunes Mélanges Boulouis, 1991, S 47 ff. 80 S zur Reichweite dieser Bestandskraft zB EuGH, Rs C-310/97 P, Slg 1999, I-5363, Rn 57 ff – AssiDomän = JK 2000, EGV Art 233/1. 81 EuGH, Rs C-153/98 P, Slg 1999, I-1441, Rn 15 – Guérin Automobiles; die Klägerin hat in diesem Fall Beschwerde gegen die 15 EG-Mitgliedstaaten vor dem EGMR erhoben, die als unzulässig zurückgewiesen wurde, s EGMR, Entsch v 4.7.2000, 51717/99, RUDH 2000, 119 ff – Guérin. 82 S zB EuG, Rs T-3/00, Slg 2001, II-717, Rn 22 – Pitsiorlas; EuGH, Rs C-193/01 P, Slg 2003, I-4837, Rn 20 ff – Pitsiorlas.
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heraushebender Umstände berührt“ werden und damit „in ähnlicher Weise individualisiert“ sein wie der Adressat eines Beschlusses83 – waren Nichtigkeitsklagen gegen normative Rechtsakte der EU regelmäßig unzulässig. Verordnungen oder Richtlinien sind nach diesen Voraussetzungen einer direkten Kontrolle durch den Einzelnen im Regelfall nicht ausgesetzt;84 anderes gilt nur in den seltenen Fällen „hybrider Rechtsakte“, die gleichzeitig normativ wirken und doch für bestimmte Einzelne individuelle Betroffenheit begründen85. Erst die durch den Vertrag von Lissabon angefügte 3. Alternative des Art 263 IV AEUV lockert diese Voraussetzungen für einen Teilbereich86, indem sie insoweit auf das Merkmal der individuellen Betroffenheit verzichtet. In der Literatur ist allerdings seit langem eine erweiternde Auslegung des 26 Merkmals der individuellen Betroffenheit zugunsten der Zulässigkeit von Direktklagen Einzelner gegen EU-Verordnungen unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes gefordert worden.87 Die EuGH-Rechtsprechung hat eine solche Auslegung aber konstant abgelehnt, weil effektiver Rechtsschutz auch durch die nationalen Gerichte auf dem Weg über das Vorabentscheidungsverfahren (Art 267 AEUV) gewährleistet ist.88 Dieser „indirekte Einstieg“ über ein Verfahren vor den nationalen Gerichten in Verbindung mit dem Einsatz des Vorabentscheidungsverfahrens ermöglicht regelmäßig die Überprüfung des Sekundärrechts. Allerdings wird diese Lösung in den Fällen, in denen die Herbeiführung dieser inzidenten Überprüfung sich als schwierig erweist, immer wieder in Frage gestellt. Hier ist insbesondere geltend gemacht worden, dass es dem Einzelnen un- 27 zumutbar sei, zunächst gegen eine – von ihm für ungültig gehaltene – strafbewehrte Bestimmung des EU-Rechts verstoßen zu müssen, um dann erst im folgenden
83 StRspr seit EuGH, Rs 25/62, Slg 1963, 213, 238 – Plaumann. 84 Dazu Gundel, VerwArch 2001, 81 ff. Dagegen sind die Anforderungen bei an Dritte gerichteten EUBeschlüssen (wozu auch die Beschlüsse an die Adresse der Mitgliedstaaten gehören) in vielen Fällen erfüllbar, s dazu mwN Mager, EuR 2001, 661 (673 ff). 85 S für den Fall der „smart sanctions“-Verordnungen, in dem diese Anforderungen erfüllt sind, u Rn 39; zuletzt für einen anderen Bereich EuG, Urt v 30.4.2014, Rs T-17/12, Rn 40 ff, 55 ff – Hagenmeyer u Hahn. 86 Dazu u Rn 28 ff. 87 Krit zur engen Auslegung zB Bleckmann FS Menger, 1985, S 872 (873 f, 882 ff); v Danwitz, NJW 1993, 1108 (1111 ff); Allkemper Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, 1995, S 64 ff; Reich in Micklitz/Reich (Hrsg) Public Interest Litigation before European Courts, 1996, S 3 ff; Schockweiler, JTDE 1996, 1 (8); Jacobs Mélanges Schockweiler, 1999, S 197 (203 ff); Dutheil de la Rochère, RevMC 2000, 223 (224 f). 88 S zum Stand vor der Jégo-Quéré-Entscheidung (zu ihr sogleich im Text Fall 2) Gundel, VerwArch 2001, 81 ff; zuletzt EuGH, Rs C-151/01 P, Slg 2002, I-1179, Rn 47 – La Conqueste SCEA (Bestätigung von EuG, Rs T-215/00, Slg 2001, II-181 – La Conqueste SCEA).
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Strafverfahren eine inzidente Prüfung durch Vorlage an den EuGH herbeiführen zu können; auch das EuG89 hatte sich dieser Argumentation zeitweise angeschlossen. Dem Argument ist allerdings entgegenzuhalten, dass eine inzidente Überprüfung durch die nationalen Gerichte nicht nur im Rahmen von Strafverfahren herbeigeführt werden kann – was tatsächlich nicht akzeptabel wäre90 –, sondern auch auf dem Weg der vorbeugenden Feststellungsklage gegenüber der zur Durchsetzung zuständigen nationalen Behörde möglich ist.91 Nachdem auf diese Weise der Rechtsschutz durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gesichert werden kann – und diese zur Eröffnung der entsprechenden Möglichkeiten auch unionsrechtlich verpflichtet sind92 –, besteht keine Notwendigkeit, die Voraussetzungen der 2. Alternative in einer Weise auszulegen, die die Zulässigkeitsvoraussetzung der individuellen Betroffenheit letztlich eliminiert. Auf diese durch den Wortlaut der Bestimmung gesetzten Grenzen hat schließlich auch der EuGH verwiesen und seine Rechtsprechung gegen die Kritik des EuG bestätigt; die Erfüllung von Erweiterungswünschen falle danach in die Zuständigkeit des Vertragsgebers93. 28 Dieser Hinweis ist im Entwurf des gescheiterten Verfassungsvertrages mit einer Regelung aufgenommen worden, deren Auslegung im neuen Umfeld des Vertrags von Lissabon zunächst unklar war: Der Verfassungsentwurf hatte den Text des bisherigen Art 230 IV EGV in Bezug auf das Erfordernis der individuellen Betroffenheit unberührt gelassen (er bildet die heutige 2. Alternative des Art 263 IV AEUV),
89 EuG, Rs T-177/01, Slg 2002, II-2365, Rn 45, 49 – Jégo-Quéré, unter Berufung auf die Schlussanträge von GA Jacobs zu EuGH, Rs C-50/00 P, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores; s noch u Rn 30 (Lösung Fall 2). 90 So ausdr EuGH (GK), Rs C-432/05, Slg 2007, I-2271, Rn 62, 64 – Unibet (zum Rechtsschutz gegen nationale Verstöße). 91 S für ein frühes Beispiel EuGH, Rs C-306/93, Slg 1994, I-5555 – SMW Winzersekt (Vorlagebeschluss des VG Mainz, ZLR 1994, 153 m Anm Koch). Inzwischen finden sich zahlreiche Beispiele solcher Vorlagen vor allem durch englische Gerichte, s zur (ersten) Tabakwerbe-RL Rs C-74/99, Slg 2000, I-8599 – Imperial Tobacco (zu dieser Vorlage Seidel, EuZW 1999, 369 ff), zur Tabakprodukt-RL Rs C-491/01, Slg 2002, I-11453 – BAT = EuR 2003, 80 m Anm Gundel, zur Mischfuttermittel-Etikettierungs-RL EuGH (GK), verb Rs C-453/03 ua, Slg 2005, I-10423, Rn 108 ff – ABNA = EWS 2006, 73 m Anm Gundel 65 ff. 92 Dazu zB Temple Lang, ELRev 28 (2003), 102 ff; Gundel, VerwArch 2001, 81 (105 ff). 93 EuGH, Rs C-50/00 P, Slg 2002, I-6677, Rn 44 f – Unión de Pequeños Agricultores = DVBl 2002, 1348 m Anm Götz; dazu auch Braun/Kettner, DÖV 2003, 59 ff; Malferrari/Lerche, EWS 2003, 254 ff; Rengeling FS Kutscheidt, 2003, S 93 ff; Röhl, Jura 2003, 830 ff; Usher, ELRev 28 (2003), 575 ff; Gilliaux, CDE 2003, 177 ff; Mehdi, RTDE 2003, 23 ff. In der Folge ebenso Rs C-258/02 P, Slg 2003, I-15105, Rn 58 – Bactria Industriehygiene; EuGH (Pl), Rs C-167/02 P, Slg 2004, I-3149, Rn 46 ff – Rothley ua = EuR 2004, 765 m Anm Lavranos; EuGH, Rs C-263/02 P, Slg 2004, I-3425, Rn 29 ff – Jégo-Quéré = JK 2004, EGV Art 230 IV/3; das EuG hat sich dieser Position gebeugt, s EuG, Rs T-155/02 R, Slg 2002, II-3239, Rn 39 – VVG; Rs T-321/02, Slg 2003, II-1997, Rn 27 ff – Vannieuwenhuyze-Morin.
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die Bestimmung aber durch die Einfügung einer 3. Alternative ergänzt,94 die auf das Erfordernis der individuellen Betroffenheit verzichtete. Jedoch war diese Erweiterung auf „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ im Sinne des Verfassungsvertrages beschränkt; sie galt damit nur für Durchführungs-Rechtsakte und erfasste das nun als „europäisches Gesetz“ (Verordnung) oder „Rahmengesetz“ (Richtlinie) bezeichnete Sekundärrecht nicht. Bei der Umwandlung des Verfassungsvertrags zum Reformvertrag ist der Text der Regelung dann – wohl eher versehentlich als bewusst – erhalten geblieben, obwohl der Vertrag im Übrigen zur vertrauten Terminologie des Sekundärrechts zurückgekehrt ist. Bei isolierter wörtlicher Lektüre hätte Art 263 IV AEUV damit nun einen weitergehenden Inhalt und würde die Direktklage Einzelner auch gegen Sekundärrechts-Verordnungen in weiterem Umfang zulassen.95 Das EuG96 hat mit einer inzwischen auch durch den EuGH97 bestätigten Grundsatzentscheidung eine solche weite Auslegung der 3. Alternative allerdings mit Blick auf diese Entstehungsgeschichte abgelehnt; nach der Rechtsprechung bezieht sich die neue Alternative nur auf Rechtsakte, die nicht in einem Gesetzgebungsverfahren (im Sinn des Art 289 III AEUV) ergangen sind; der „Verordnungscharakter“ wird damit als Hinweis auf Exekutiv-Rechtssetzung verstanden98. Auch im damit verbleibenden Anwendungsbereich hat die seither ergangene Rechtsprechung gezeigt, dass auch die Voraussetzungen der 3. Alternative nicht ohne weiteres erfüllbar sind.99 Fall 2: (EuG, Rs T-177/01, Slg 2002, II-2365 – Jégo-Quéré) Eine Kommissions-Verordnung, die auf der Grundlage einer Ermächtigung in einer Ratsverordnung erlassen wurde, sieht vor, dass in der Hochseefischerei nur noch Netze mit einer bestimmten Mindest-Maschenbreite verwendet werden dürfen. A, der mehrere von dieser Änderung betroffene Fischkutter betreibt, sieht durch die damit verbundene Verringerung der Fänge seinen Betrieb ge-
94 Dazu W Cremer, EuGRZ 2004, 577 ff; Mayer, DVBl 2004, 606 ff; Varju, EPL 10 (2004), 43 ff; Schwarze, EPL 10 (2004), 285 ff. 95 Dazu Everling, EuR-Beih 1/2009, 71 (74 f); ders, EuZW 2012, 376 ff, der gegen eine auf diese Entstehungsgeschichte abstellende restriktive Interpretation plädiert; ebenso Rabe, NJW 2007, 3153 (3157); entgegengesetzt Schröder, DÖV 2009, 61 (64); Hatje/Klindt, NJW 2008, 1761 (1767). 96 EuG, Rs T-18/10, Slg 2011, II-5599 – Inuit Tapiriit Kanatami = EWS 2012, 90 m Bespr Gundel S 65 ff = EuZW 2012, 395 m Bespr Everling S 376 ff = EuR 2012, 432 m Anm Petzold. 97 EuGH (GK), Urt v 3.10.2013, Rs C-583/11 P, EuZW 2014, 22 – Inuit Tapiriit Kanatami, m Bespr Streinz S 17 ff. 98 Die Beschränkung ist in gewisser Weise vergleichbar mit § 47 VwGO, der die prinzipale Normenkontrolle nur gegen untergesetzliche Normen des Landesrechts eröffnet; auch in anderen Mitgliedstaaten ist feststellbar, dass die Überprüfung exekutiver Rechtssetzung unter erleichterten Voraussetzungen möglich ist, s dazu Gundel, EWS 2012, 65 (67). 99 S dazu Gundel, EWS 2014, 22 ff; Rosenfeldt, EuZW 2015, 174 ff; s a Rn 30 (Lösung Fall 2).
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fährdet und die Regelung deshalb als unverhältnismäßig an. Er erhebt Klage zum EuG und meint, dass er angesichts der erheblichen Berührung seiner Interessen und des Gebots effektiven Rechtsschutzes als „individuell betroffen“ angesehen werden müsse, so dass die Klage zulässig sei. Ihm sei nicht zuzumuten, eine Überprüfung des Verbots vor den nationalen Gerichten dadurch herbeizuführen, dass er gegen die Bestimmung bewusst verstoße und ein strafrechtliches Verfahren auf sich nehme; andere Ausführungsakte, die er vor den nationalen Gerichten angreifen könne, seien nicht ersichtlich. Ist die Nichtigkeitsklage zulässig?
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Lösung Fall 2: Nachdem die Klage des A sich nicht gegen einen an ihn gerichteten Beschluss richtet, ist sie nur zulässig, wenn er durch die Verordnung unmittelbar und individuell betroffen ist, Art 263 IV 2. Alt AEUV, oder es sich um einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter handelt, der ihn unmittelbar betrifft und keine Durchführungsmaßnahmen benötigt, Art 263 IV 3. Alt AEUV. Vorliegend ist zwar die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit erfüllt, weil kein weiterer Rechtsakt zur Konkretisierung der Pflichten des A mehr erforderlich ist. Nach der bisher praktizierten Interpretation des Art 263 IV 2. Alt AEUV ist die individuelle Betroffenheit jedoch nur gegeben, wenn der Kläger sich in einer Situation befindet, die dem Adressaten einer Entscheidung vergleichbar ist: Er müsste aus dem Kreis anderer denkbarer Kläger in besonderer Weise herausgehoben sein. Bei Rechtsakten von allgemeiner Geltung ist diese Voraussetzung regelmäßig nicht erfüllt, Klagen Einzelner gegen solche normativen Rechtsakte sind damit regelmäßig nicht zulässig. Dies würde auch für die Klage des A gelten: Er ist von der Regelung nicht in anderer Weise betroffen als jeder andere Wirtschaftsteilnehmer, der sich entschließt, in diesem Bereich tätig zu werden.100 Das Gericht erster Instanz101 hatte im vorliegenden Fall diese Interpretation verworfen und entschieden, dass in Fällen, in denen die Beschreitung des Rechtswegs gegen nationale Ausführungsakte nicht zumutbar sei, das Merkmal zur Sicherung des in Art 6 und 13 EMRK sowie Art 47 GRCh gewährleisteten Gebots effektiven Rechtsschutzes so ausgelegt werden müsse, dass eine wesentliche Berührung der Interessen des Klägers genüge. Das Urteil wurde in der Folge vom EuGH102 aufgehoben, der eine solche Ausweitung als vom Wortlaut nicht gedeckt und durch die Rechtsschutzgarantie nicht geboten angesehen hat. Nach heutigem Rechtsstand ist zusätzlich die 3. Alternative des Art 263 IV AEUV zu prüfen: Nachdem der Rechtsakt durch die Kommission erlassen wurde, liegt kein Akt der Gesetzgebung, sondern ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter vor. Wie im Fall der 2. Alternative ist das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit erfüllt. Darüber hinaus dürfen auch keine Durchführungsmaßnahmen auf europäischer oder nationaler Ebene erforderlich sein;103 auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt, weil die Kommissionsverordnung bereits verbindliche Pflichten für A begründet. Auch das
100 EuG, Rs T-177/01, Slg 2002, II-2365, Rn 38 – Jégo-Quéré = EuZW 2002, 412 m Anm Lübbig = EWS 2002, 324 m Anm Schohe/Arhold. 101 EuG, Rs T-177/01, Slg 2002, II-2365, Rn 45, 49 – Jégo-Quéré, unter Berufung auf die Schlussanträge von GA Jacobs zu EuGH, Rs C-50/00 P, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores. 102 EuGH, Rs C-263/02 P, Slg 2004, I-3425 – Jégo-Quéré = JK 2004, EGV Art 230 IV/3. 103 Zur eigenständigen Bedeutung dieser Voraussetzung s Gundel, EWS 2014, 22 (24 f).
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vom EuG zusätzlich geprüfte Rechtsschutzbedürfnis104 ist gegeben, weil A im betreffenden Sektor aktuell tätig ist. Die Klage ist damit nach dem Rechtsstand des Vertrags von Lissabon gem Art 263 IV 3. Alt AEUV zulässig105.
Eine solche Erweiterung des direkten Rechtsschutzes, die auf den ersten Blick als 31 bürgerfreundliche Neuerung erscheint, kann allerdings auch nachteilige Konsequenzen haben: Wenn der Betroffene die ihm eröffnete Möglichkeit der Nichtigkeitsklage gegen einen ihm bekannten Rechtsakt der EU nicht nutzt, so ist ihm nach der „Textilwerke Deggendorf“-Rechtsprechung des EuGH eine spätere inzidente Überprüfung – etwa im Verfahren der Vorabentscheidung – versagt.106 Diese Präklusionsregel, mit der der Gerichtshof die Klagefrist des Art 263 VI AEUV gegen Umgehungen absichert, hatte bisher vor allem für adressatengerichtete Beschlüsse Bedeutung – etwa für an den Mitgliedstaat gerichtete Kommissionsentscheidungen, mit denen die Rückabwicklung unrechtmäßig gewährter nationaler Beihilfen angeordnet wird.107 Wird die Möglichkeit der prinzipalen Normenkontrolle durch die Zulassung von Direktklagen erweitert, steht zugleich auch die Ausweitung der korrespondierenden „Deggendorf-Regel“ auf solche Fälle in Frage;108 in Ausnahmefällen, in denen Klagen Einzelner gegen normative Rechtsakte nach der 2. Alternative als zulässig eingestuft wurden109, hat der EuGH die Präklusion auch schon ge-
104 S EuG, Urt v 14.11.2013, Rs T-456/11 – International Cadmium Association, insbes Rn 32; krit insoweit Gundel, EWS 2014, 22 (26 f). 105 S für das erste Urteil, in dem die Voraussetzungen erfüllt waren: EuG, Rs T-262/10, Slg 2011, II7697 – Microban = EWS 2012, 95 m Bespr Gundel S 65 ff; Peers/Costa, 8 EConstLRev (2012), 82, (88 ff). 106 So erstmals EuGH, Rs C-188/92, Slg 1994, I-833 – Textilwerke Deggendorf; s dazu Pache, EuZW 1994, 615 ff; Hoskins, 31 CMLRev (1994), 1399 ff; später Rs C-408/95, Slg 1997, I-6315, Rn 26 ff – Eurotunnel; Rs C-241/95, Slg 1996, I-6699, Rn 15 f – Acrington Beef; s a noch Rs C-178/95, Slg 1997, I-585, Rn 15 ff – Wiljo; EuGH (Pl), Urt v 27.11.2012, Rs C-370/12, NJW 2013, 29, Rn 41 – Pringle; EuGH (GK), Urt v 25.7.2018, Rs C-135/16 – Georgsmarienhütte, EuZW 2018, 814 m Anm Pompl; dazu Germelmann/Gundel, BayVBl 2019, 583 (594). 107 So der Sachverhalt der Textilwerke Deggendorf-Entscheidung: Ein Beihilfeempfänger, der von der zu seinem Nachteil ergangenen Kommissions-Entscheidung Kenntnis erhält, muss – da er die Voraussetzungen der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit erfüllt – von der damit in Art 263 IV AEUV eröffneten Klagemöglichkeit auch Gebrauch machen. Tut er es nicht, so ist ihm im nachfolgenden nationalen Verfahren um die Rückabwicklung der Einwand der Rechtswidrigkeit der Kommissionsentscheidung versagt. 108 Dazu Gundel, VerwArch 92 (2001), 81 (97 f); Köngeter, NJW 2002, 2216 (2218). GA Jacobs meinte allerdings, dass diese Regel nicht auf Rechtsakte normativen Charakters („allgemeine Handlungen“) ausgeweitet werden dürfe, s Rn 65 seiner Schlussanträge zu EuGH, Rs C-50/00 P, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores. 109 Zu solchen hybriden Rechtsakten s o Rn 25.
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prüft110. Auf die nun geschaffene eigenständige prinzipale Normenkontrolle nach der 3. Alternative sollte die Regelung allerdings nicht erstreckt werden, weil sonst statt einer Verbesserung des Rechtsschutzes eine Obliegenheit zu frühzeitigen Klagen geschaffen würde.111
b) Garantien im Verfahren vor den EU-Gerichten 32 Die Verfahrensgrundrechte spielen aber auch für das „Wie“ des Rechtsschutzes vor
den EU-Gerichten eine erhebliche Rolle; auch hier haben sich in neuerer Zeit Diskussionspunkte ergeben, die zum Teil auf den Vergleich der Praxis des EuGH mit den Anforderungen der EMRK und auch denen des nationalen Verfassungsrechts zurückgehen.
aa) Unabhängigkeit und Unparteilichkeit 33 Zu den Grundelementen der Rechtsschutzgarantie gehört die Entscheidung durch
unabhängige und unparteiliche Richter, wie sie auch Art 6 EMRK garantiert. In Bezug auf die Unabhängigkeit wird hier teilweise als bedenkliche Anomalie wahrgenommen, dass die Bestellung der EU-Richter befristet erfolgt und die – zulässige – Wiederbenennung in der Hand des jeweiligen Mitgliedstaats liegt.112 Allerdings entspricht die Befristung bei internationalen Gerichten der Üblichkeit; auch sollten die hohen Anforderungen, die Art 254 AEUV an Qualifikation und Erfahrung der Richter stellt, ihre Beeinflussbarkeit durch befürchtete negative Reaktionen des Heimatstaates ausschließen113. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen durch die Kandidaten wird nun zusätzlich durch den mit dem Vertrag von Lissabon geschaffenen Richterprüfungsausschuss (Art 255 AEUV) abgesichert.114 Hinsichtlich der Anforderungen
110 S EuGH, Rs C-239/99, Slg 2001, I-1197, Rn 30 ff – Nachi Europe; dazu Moloney, CMLRev 39 (2002), 393 ff. 111 S näher Gundel, EWS 2012, 65 (70 ff); zum Problem auch Schwensfeier, ELRev 37 (2012), 156 ff; Gänser/Stanescu, RDUE 2013, 747 (759 f); der EuGH hat sich insoweit noch nicht eindeutig geäußert, s EuGH (GK), Urt v 14.3.2017, Rs C-158/14 – A, B, C u D/Minister van Buitenlandse Zaken, EuZW 2017, 386 m Anm Gundel; dazu Germelmann/Gundel, BayVBl 2018, 689 (699). 112 Dazu Gundel, EuR-Beih 3/2008, 23 (27 f). 113 Hinzu kommt, dass die Entscheidungen des EuGH stets kollegial getroffen werden und damit keinem einzelnen Richter zuzuordnen sind, s Gundel, EuR-Beih 3/2008, 23 (28 ff); nur beim EuG können einfach gelagerte Rechtssachen durch Einzelrichter entschieden werden, s dazu Rengeling/Kotzur in RMG Hb Rechtsschutz, § 3 Rn 29. 114 Dazu zB Dumbrovský/Petkova/van der Sluis, CMLRev 51 (2014), 455 ff.
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an die Unparteilichkeit der Richter im konkreten Streitfall orientiert sich der EuGH an den zu Art 6 EMRK entwickelten Kriterien.115
bb) Gesetzlicher Richter Auch die Garantie des gesetzlichen Richters gilt für die EU-Gerichtsbarkeit;116 34 hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeiten bestehen hier auch keine Probleme. Diskutiert wurde vor allem die Bestimmung des gesetzlichen Richters bei der Besetzung der Richterbank in „überbesetzten“ Kollegien, etwa den Fünf-Richter-Kammern des EuGH,117 die in einer Besetzung von fünf Richtern entscheiden, denen teils aber bis zu sieben Richter zugewiesen waren. Nachdem das BVerfG118 hier in Bezug auf die deutsche Gerichtsbarkeit hohe Anforderungen an die abstrakte Festlegung der im konkreten Fall zur Entscheidung berufenen Mitglieder eines Kollegiums gestellt hatte, wurden in der deutschen Literatur entsprechende Forderungen auch an die Besetzungspraxis der EU-Gerichte gestellt.119 Der EuGH hat eine entsprechende Rüge zunächst mit der Begründung zurückgewiesen, dass eine Manipulation der Richterbank im konkreten Fall nicht ersichtlich war;120 in der Folgezeit wurde allerdings beschlossen, für jedes Gerichtsjahr eine Reihenfolge festzulegen, in der die Richter der überbesetzten Kammern zum Einsatz kommen.121 Ein weiterer, bisher nicht ausgeräumter Streitpunkt ist die Zuweisung der 35 Rechtssachen an die jeweiligen Kammern, denn anders als das EuG verfügt der EuGH bisher über keinen Geschäftsverteilungsplan: Die Bestimmung des Berichterstatters für eine Rechtssache erfolgt durch den Präsidenten, womit zugleich die Weichenstellung für die Zuweisung an die Kammer getroffen wird, der dieser Rich-
115 S zB EuGH (GK), verb Rs C-341/06 P u C-342/06 P, Slg 2008, I-4777, Rn 44 ff – Chronopost/UFEX mit intensiver Bezugnahme auf die EGMR-Rspr; EuGH, Rs C-308/07 P, Slg 2009, I-1059, Rn 41 ff – Atxalandabaso/EP (dazu Bernard, Europe 4/2009, 12 ff); die Regelung zum Ausschluss befangener Richter findet sich in Art 18 EuGH-Satzung. 116 Dazu Haase Die Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren auf europäischer Ebene, 2006, S 296 ff; Grzybek Prozessuale Grundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1993, S 76 ff. 117 Zu den einzelnen Spruchkörpern des EuGH s Rengeling/Kotzur in RMG Hb Rechtsschutz, § 3 Rn 22 ff; zur Neuordnung ihrer Zuständigkeiten im Rahmen der Osterweiterung der EU Gundel, EuR-Beih 3/2008, 23 (31 f). 118 S BVerfG (Pl), BVerfGE 95, 322. 119 Dazu etwa Mößlang, EuZW 1996, 69 ff mit Erwiderung Wichard, EuZW 1996, 305 f; s a Stotz, EuZW 1995, 749. 120 Dazu EuGH, Rs C-7/94, Slg 1995, I-1031 – Gaal = EuZW 1995, 670 m Anm Szczekalla = EuR 1995, 259 m Anm Wichard. 121 S ABl 1998 Nr C 299/1; das Vorgehen wurde dann in einem neu eingefügten Art 11c VerfO EuGH (ABl 2003 Nr L 147/17) geregelt, es findet sich nun in Art 28 der VerfO 2012, ABl 2012 Nr L 265/1.
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ter angehört122. Allerdings ist hierzu festgehalten worden, dass die Anforderungen an die gerichtsinterne Geschäftsverteilung in den Mitgliedstaaten stark differieren und nirgends mit vergleichbarer Strenge gehandhabt werden wie in Deutschland123.
cc) Rechtliches Gehör 36 Auch vor den EU-Gerichten ist das rechtliche Gehör zu gewährleisten: Die Parteien
müssen den gesamten Prozessstoff kennen und zu ihm Stellung nehmen können. In neuerer Zeit ist im Anschluss an die EGMR-Rechtsprechung unter diesem Gesichtspunkt die Position der Generalanwälte beim EuGH fraglich geworden, die dem Gerichtshof zum Abschluss der Verhandlungen über eine Rechtssache öffentlich einen zwar nicht verbindlichen, aber doch vielfach richtungweisenden Entscheidungsvorschlag unterbreiten (Art 49 der Satzung des EuGH, Art 82 der VerfO): Der EGMR verlangt in Bezug auf entsprechende Einrichtungen der nationalen Prozessordnungen unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit, dass die Parteien des Verfahrens zu diesen Entscheidungsvorschlägen noch Stellung nehmen können; diese dürfen danach nicht zwingend das „letzte Wort“ vor der gerichtlichen Entscheidungsfindung darstellen.124 38 Ob diese Rechtsprechung auf den EuGH tatsächlich übertragbar ist, wird auch deshalb bezweifelt, weil die Generalanwälte beim EuGH – anders als in den vom EGMR entschiedenen Fällen – selbst Mitglieder des Gerichts sind,125 ihre Anträge also als Beginn der abschließenden gerichtlichen Entscheidungsfindung begriffen werden können, zu der die Parteien keinen Beitrag mehr leisten.126 Der EuGH geht 37
122 Dazu Gundel, EuR-Beih 3/2008, 23 (33 ff); Puttler, EuR-Beih 3/2008, 133 ff. 123 So Classen in Schulze/Zuleeg, ER, 1. Aufl 2006, § 4 Rn 7 (in der 2. Aufl nicht mehr enthalten); s a Haase Die Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren auf europäischer Ebene, 2006, S 304 f; zur Bandbreite der Lösungen s die Beiträge in Langbroek/Fabri (Hrsg) The Right Judge for each Case – A study of case assignment and impartiality in six European judiciaries, 2007. 124 Aus der Rspr des EGMR s EGMR (GK), Urt v 20.2.1996, 19075/91, RJD 1996-I – Vermeulen = RTDH 1996, 615 m Anm Lambert = RTDE 1997, 375 m Anm Benoît-Rohmer; EGMR (GK), Urt v 20.2.1996, 15764/89, RJD 1996-I – Lobo Machado = RTDE 1997, 373 m Anm Benoît-Rohmer; EGMR (GK), Urt v 31.3.1998, 23043/93 u 22921/93, RJD 1998-II – Reinhardt u Slimane-Kaïd; EGMR (GK), Urt v 7.6.2001, 39594/98 – Kress = RTDE 2001, 809 m Anm Benoît-Rohmer S 727 ff. 125 Diesen Unterschied betont Tridimas, CMLRev 34 (1997), 1349 (1380 ff). 126 EuGH, Rs C-17/98, Slg 2000, I-665, Rn 14 – Emesa Sugar: „Die Schlussanträge stehen außerhalb der Verhandlung zwischen den Parteien und eröffnen die Phase der Beratung des Gerichtshofs. Sie sind deshalb keine an die Richter oder die Parteien gerichtete Stellungnahme, die von einer Behörde außerhalb des Gerichtshofs herrührte …, sondern die individuelle, begründete und öffentlich dargelegte Auffassung eines Mitglieds des Organs selbst.“ Ähnlich dann Rn 94 ff der Schlussanträge von GA Colomer zu EuGH, Rs C-356/98, Slg 2000, I-2623 – Kaba.
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jedenfalls davon aus, dass den Anforderungen eines fairen Verfahrens dadurch Genüge getan werden kann, dass die mündliche Verhandlung erneut eröffnet wird, wenn die Schlussanträge nach Auffassung des Gerichts Gesichtspunkte aufwerfen, die eine Stellungnahme der Parteien nahe legen;127 der EGMR hat diese Ausgestaltung nun gebilligt.128 Einem Belastungstest ist der Gehörsanspruch durch das Instrument der sog 39 „smart sanctions“ unterworfen worden: Mit diesem Begriff wird die neuere internationale Praxis bezeichnet, Sanktionen nicht mehr global gegen Staaten, sondern gezielt zB gegen des Terrorismus oder seiner Finanzierung verdächtige Einzelpersonen zu richten und auf diese Weise insbes ihr Vermögen „einzufrieren“; die EU trifft solche Maßnahmen durch Erlass von Verordnungen, gegen die eine Nichtigkeitsklage der Betroffenen trotz des Normcharakters der Verordnung129 unproblematisch zulässig ist, da die Voraussetzungen der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit erfüllt sind. Soweit solche Maßnahmen gegen Einzelpersonen vom UN-Sicherheitsrat beschlossen worden waren, hat das EuG aber aufgrund dieser internationalen Vorgabe eine materielle Kontrolle der Aufnahmeentscheidung abgelehnt130; sie erfolgte nur in Fällen, in denen die EU eigenständig über die Aufnahme entschieden hatte131. Der Gerichtshof hat diesen Ansatz korrigiert und festgehalten, 127 So EuGH, Rs C-17/98, Slg 2000, I-665, Rn 18 – Emesa Sugar, mit verschiedenen Bsp solcher (nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlichter) Beschlüsse in der Vergangenheit; Rs C-50/96, Slg 2000, I-743, Rn 22 ff – Deutsche Telekom; Rs C-266/97 P, Slg 2000, I-2135, Rn 63 f – VBA; dazu Lawson, CMLRev 37 (2000), 983 ff; Schilling, ZaöRV 2000, 395 ff; s a Gundel, EuR-Beih 3/2008, 23 (39 ff). 128 Eine Beschwerde gegen die Leitentscheidung des EuGH hat EGMR, Entsch v 13.1.2005, 62023/00, EuGRZ 2005, 234 – Emesa Sugar als unzulässig abgewiesen, weil der Anwendungsbereich des Art 6 EMRK nicht eröffnet war. In einem Fall, in dem diese Voraussetzung erfüllt war, hat nun EGMR, Entsch v 20.1.2009, 13645/05, EuGRZ 2011, 11 – Nederlandse Kokkelvisserij = ÖJZ 2009, 829 = NJW 2010, 3008 (nur LS) die Beschwerde mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass die Praxis des EuGH einen den Garantien der EMRK gleichwertigen Schutz gewährleiste; dazu Baumann, EuGRZ 2011, 1 ff; Bories, RevMC 2009, 408 ff; Russo, Riv dir int 2009, 1119 ff. 129 Tatsächlich handelt es sich trotz der Nennung von bestimmten Personen (auch) um einen normativen Akt, da die Tätigung von Geschäften mit den Betroffenen jedermann verboten wird, so EuGH (GK), verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 242 ff – Kadi u Al Bakaraat; s a Gundel, EWS 2012, 65 (71). 130 EuG, Rs T-315/01, Slg 2005, II-3649 – Kadi; Rs T-306/01, Slg 2005, II-3533 – Yusuf u Al Bakaraat = EuR 2006, 424 (nur LS) m Anm Möllers; dazu Schmahl, EuR 2006, 567 ff; Schmalenbach, JZ 2006, 349 ff; Tomuschat, CMLRev 43 (2006), 537 ff; Tietje/Hamelmann, JuS 2006, 299 ff; im Anschluss daran noch EuG, Rs T-253/02, Slg 2006, II-2139 – Ayadi; Rs T-49/04, Slg 2006, II-52* (abgek Veröff) – Hassan. 131 Für tatsächlich erfolgreiche Klagen in dieser Fallgruppe s EuG, Rs T-228/02, Slg 2006, II-4665 – Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran; dazu Eckes, CMLRev 44 (2007), 1117 ff; EuG, Rs T284/08, Slg 2008, II-3487 – People’s Mojahedin Organization of Iran (bestätigt durch EuGH (GK), Rs C-27/09 P, Slg 2011, I-13427); weiter EuG, Rs T-47/03, Slg 2007, II-73* (abgek Veröff) – Sison; Rs T-327/03, Slg 2007, II-79* (abgek Veröff) – Al-Aqsa.
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dass der unionsrechtliche Rechtsschutzstandard auch in diesem Fall eine richterliche Kontrolle verlangt132; die völkerrechtliche Verbindlichkeit der SicherheitsratsResolutionen werde dadurch nicht berührt. Allerdings hat der EuGH zugleich darauf hingewiesen, dass die Sicherheitsrelevanz des Beweismaterials es rechtfertigen kann, die gerichtliche Prüfung ohne Offenlegung gegenüber dem Kläger vorzunehmen133.
dd) Anspruch auf Entscheidung in angemessener Frist 40 Zum effektiven Rechtsschutz gehört auch die gerichtliche Entscheidung in an-
gemessener Frist; relevant wird hier zB das in Art 6 EMRK gegründete und in Art 47 GRCh übernommene Verbot einer überlangen Verfahrensdauer, das der EuGH schon vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon als verbindliche Vorgabe für seine Tätigkeit anerkannt hat.134 In Bezug auf die Rechtsfolgen eines Verstoßes hat der EuGH allerdings auch präzisiert, dass eine Aufhebung des Urteils oder die Reduktion einer verhängten Kartellbuße nicht in Betracht kommen, wenn die Verfahrensdauer keinen Einfluss auf das Entscheidungsergebnis hatte135; möglich sind in solchen Fällen nur Schadenersatzansprüche nach Art 340 II AEUV, die aber auch immaterielle Schäden umfassen136. 41 Für das Rechtsschutzsystem des EU-Rechts, das in erheblichem Umfang auf der Zusammenarbeit von EuGH und nationalen Gerichten im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens beruht, stellt sich hier das strukturelle Problem, dass die Verfahrensdauer gerade auch durch das Vorabentscheidungsverfahren verlängert werden
132 EuGH (GK), verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 280 ff, 332 ff – Kadi u Al Bakaraat = JA 2009, 477 m Anm Gundel; dazu Ohler, EuZW 2008, 630 ff; Kotzur, EuGRZ 2008, 673 ff; Schmalenbach, JZ 2009, 35 ff; Cassia/Donnat, RFDA 2008, 1204 ff; Simon/Rigaux, Europe 11/2008, 5 ff; Tridimas, ELRev 34 (2009), 103 ff. 133 EuGH (GK), verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P, Slg 2008, I-6351, Rn 344 – Kadi u Al Bakaraat unter Verweis auf EGMR (GK), Urt v 15.11.1996, 22414/93, RUDH 1997, 365, § 131 – Chahal; parallel für den Schutz von Geschäftsgeheimnissen in Verfahren vor den nationalen Gerichten Rs C-450/06, Slg 2008, I-581, Rn 43 ff – Varec. 134 S erstmals EuGH, Rs C-185/95 P, Slg 1998, I-8417 – Baustahlgewebe (zu einer Verfahrensdauer von 5 1/2 Jahren vor dem EuG). 135 So grundsätzlich EuGH (GK), Rs C-385/07 P, Slg 2009, I-6155, Rn 190 ff – Der Grüne Punkt; nochmals EuGH (GK), Urt v 26.11.2013, Rs C-58/12 P, EuZW 2014, 142, Rn 72 ff – Groupe Gascogne; dazu Scheel, EUZW 2014, 138 ff; krit Frenz, EWS 2013, 311 ff. 136 EuGH (GK), Urt v 26.11.2013, Rs C-58/12 P, EuZW 2014, 142, Rn 89 – Groupe Gascogne; weiter EuGH, Urt v 13.12.2018, verb Rs C-138/17 P ua – Gascogne Sack ua, NZKart 2019, 32; das gilt auch für juristische Personen, s zu Art 6 EMRK die Leitentscheidung EGMR (GK), Urt v 6.4.2000, 35382/97, RJD 2000-IV, 339, Rn 28 ff – Comingersoll SA = RUDH 2001, 279; dazu Ress FS Akira Ishikawa, 2001, S 429 ff; Emberland, BYIL 2003, 408 ff.
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kann. Allerdings hat auch der EGMR bei der Prüfung des Art 6 EMRK anerkannt, dass die dadurch bedingte Verlängerung im Interesse der Funktionsfähigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens hinzunehmen ist;137 zudem können die Konsequenzen durch Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes durch das vorlegende Gericht begrenzt werden138. Besonders problematisch sind die unvermeidlichen Verzögerungen allerdings in den erst in jüngerer Zeit vom EU-Recht erfassten Bereichen, die – wie die Zusammenarbeit in Strafsachen – unmittelbar die Freiheit der Person betreffen: Für diese Sektoren ist das Verfahren der Eilvorlage geschaffen worden, um dem besonderen Beschleunigungsbedürfnis Rechnung zu tragen.139
III. Anforderungen der Justiz- und Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts an die Mitgliedstaaten 1. Anwendbarkeit der Verfahrensgrundrechte auf das Handeln der Mitgliedstaaten Grundsätzlich haben die Grundrechte des EU-Rechts die Funktion, dem Handeln der 42 EU-Organe Grenzen zu setzen – während die Grundfreiheiten sich (nicht ausschließlich, aber in erster Linie) an die Mitgliedstaaten richten.140 Dennoch gelten die Grundrechte des EU-Rechts – und damit auch die Verfahrensgrundrechte – nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH in bestimmten Konstellationen auch gegenüber den Mitgliedstaaten (→ vgl Ehlers/Germelmann § 2.2 Rn 46 f). Dies gilt einmal in den Konstellationen, in denen die Mitgliedstaaten für den 43 Vollzug des EU-Rechts zuständig sind: Für die Geltung des Grundrechtsstandards
137 EGMR, Urt v 26.2.1998, 20323/92, RJD 1998-I, 436, § 95 – Pafitis; ebenso nochmals EGMR, Urt v 30.9.2003, 40892/98, RJD 2003-X, 45, Rn 61 – Koua Poirrez = RUDH 2003, 439; dazu krit Peukert Mélanges Ryssdal, 2000, S 1107 (1118 f); zustimmend dagegen Callewaert, RTDH 2005, 159 (164 f). 138 S u Rn 58 zur Gültigkeitsvorlage; der EuGH selbst kann dagegen im Vorabentscheidungsverfahren keine vorläufigen Maßnahmen treffen, s EuGH, Rs C-186/01 R, Slg 2001, I-7823 – Dory. 139 Art 104b VerfO, ABl EU 2008 L 24/39 (nun Art 107 der VerfO 2012, ABl EU 2012 L 265/1); dazu zB Kühn, EuZW 2008, 263 ff; Rieck, NJW 2008, 2958 ff; Bernard, Europe 5/2008, 5 ff; für Anwendungsfälle des seit dem 1.3.2008 geltenden Verfahrens s EuGH, Rs C-195/08 PPU, Slg 2008, I-5271 – Rinau (Zuständigkeit in Sorgerechtsverfahren); EuGH (GK), Rs C-66/08, Slg 2008, I-6041 – Kozlowski (Europäischer Haftbefehl); EuGH, Rs C-296/08 PPU, Slg 2008, I-6307 – Goicoechea; Rs C-61/11 PPU, Slg 2011, I-3015 – El Dridi; EuGH, Urt v 30.5.2013, Rs C-168/13 PPU – Jeremy F. Der durch den Vertrag von Lissabon angefügte Art 267 IV AEUV sieht bei Vorlagen, die Inhaftierte betreffen, eine Entscheidung „innerhalb kürzester Zeit“ vor. 140 Zur unterschiedlichen Struktur und Aufgabe von Grundrechten und Grundfreiheiten des EURechts s a Lecheler ER, S 219 ff, 224.
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kann es aus europarechtlicher Sicht keinen Unterschied machen, ob dieses Recht von den EU-Organen selbst durchgeführt oder diese Aufgabe – wie in den meisten Bereichen – grundsätzlich den Mitgliedstaaten übertragen wird;141 die „Verfahrensautonomie“ der Mitgliedstaaten142 beim Vollzug des EU-Rechts wird insoweit eingeschränkt. Diese für den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte allgemein gültige Aussage hat für die Verfahrensgrundrechte besondere Bedeutung: Nachdem das EU-Recht vor allem durch die Mitgliedstaaten vollzogen wird, gelten auch hier die Verfahrensgarantien, wie die Wahrung des rechtlichen Gehörs143 oder die Gewährleistung eines fairen Verfahrens;144 auch die nun in Art 47 III GRCh enthaltene Gewährleistung von Prozesskostenhilfe richtet sich primär auf die Verfahren von nationalen Gerichten145. 44 Zum Teil finden die Garantien überhaupt nur hier ein unmittelbares Anwendungsfeld: Das gilt insbes für die strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien, die im Titel VI der GRCh („Justizielle Rechte“) breiten Raum einnehmen. Zwar hat die Rechtsprechung des EuGH schon vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geklärt, dass das Strafrecht dem Zugriff des EU-Gesetzgebers nicht entzogen ist: Vorgaben für nationale Straftatbestände konnten schon damals nicht nur als Rahmenbeschlüsse auf Grundlage der früheren Art 31, 34 EUV, sondern auch auf Grundlage der Sachkompetenzen des EGV geschaffen werden146. Der Vertrag von Lissabon hat diesen Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, in dem eine Reihe von Rahmenbeschlüssen mit strafrechtlicher oder strafprozessualer Bedeutung er-
141 S für die Geltung der EU-Grundrechte in diesem Bereich zB EuGH, Rs C-2/92, Slg 1994, I-955, Rn 16 – Bostock; Rs C-5/88, Slg 1989, 2609 – Wachauf; Rs C-316/86, Slg 1988, 2213, Rn 22 – HZA Hamburg-Jonas: „… die Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts [obliegt] jeder mit der Anwendung dieses Rechts betrauten Behörde.“ Zum engeren Wortlaut des Art 41 GRCh, den man insoweit nicht als abschließende Regelung wird verstehen dürfen, s Rn 6. 142 Zu diesem Grundsatz s Gundel in Schulze ua ER, § 3 Rn 109 ff mwN; zu den parallelen Grenzen dieser Autonomie aus Art 4 III EUV s u Rn 49 ff. 143 Dazu etwa deutlich für gerichtliche Verfahren EuGH, Rs C-7/98, Slg 2000, I-1935, Rn 26, 42 – Krombach, m Anm Gundel, EWS 2000, 442 ff; bestätigend EuGH (GK), Rs C-341/04, Slg 2006, I-3813, Rn 63 ff – Eurofood; EuGH, Rs C-283/05, Slg 2006, I-12041, Rn 24 ff – ASML Netherlands; Rs C-394/07, Slg 2009, I-2563 – Gambazzi = EuZW 2009, 422 m Anm Sujecki. 144 S zur Herleitung von Beweisverwertungsverboten aus diesem Gesichtspunkt EuGH, Rs C-276/01, Slg 2003, I-3735, Rn 72 ff – Steffensen = EuZW 2003, 666 m Anm Schaller. 145 S zur Reichweite, insbes zur Berechtigung juristischer Personen EuGH, Rs C-279/09, Slg 2010, I13849 – DEB; dazu Oliver, CMLRev 48 (2011), 2023 ff; Simon, Europe 2/2011, 9 f (zu § 116 der deutschen ZPO, wonach juristischen Personen Prozesskostenhilfe nur gewährt wird, wenn das Unterbleiben der Rechtsverfolgung „allgemeinen Interessen zuwiderlaufen“ würde). 146 S erstmals EuGH (GK), Rs C-176/03, Slg 2005, I-7879 – Kommission/Rat = JZ 2006, 307 m Anm Heger; mit Einschränkungen bestätigt durch EuGH (GK), Rs C-440/05, Slg 2007, I-9097 – Kommission/Rat = ZUR 2008, 312 m Anm Fromm 301 ff.
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lassen wurde147, in den AEUV überführt (Art 82–86 AEUV). Auf dieser Grundlage erlassene Regelungen sind an den Justizgrundrechten zu messen148; sie werden aber auch künftig nur konkretisierungs- und umsetzungsbedürftige Vorgaben enthalten149, so dass die grundrechtskonforme Umsetzung – zB die Ausformung von Straftatbeständen unter Beachtung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots (Art 49 I GRCh)150 – in der Verantwortung des nationalen Gesetzgebers liegt151. Vom Sonderfall des Kartellrechts abgesehen, wird die EU in diesem Bereich in jedem Fall aber nur normsetzend tätig; die Strafrechtsanwendung bleibt in der Hand der Mitgliedstaaten, deren Strafverfolgungsbehörden152 und Gerichte153 damit die Hauptadres-
147 Neben dem bekannten Rahmenbeschluss des Rates v 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 Nr L 190/1 (dazu BVerfG, Rs 2 BvR 2236/04, BVerfGE 113, 273 – D) s zB den Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates v 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, ABl 2001 Nr L 82/1, dazu EuGH (GK), Rs C-105/03, Slg 2005, I-5285 – Pupino = JZ 2005, 838 m Anm Hillgruber = EuZW 2005, 433 m Anm Herrmann; EuGH, Rs C-467/ 05, Slg 2007, I-5557 – Dell’Orto; Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates v 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl 2005 Nr L 76/16; dazu Schneider FS Rengeling, 2008, S 401 ff. 148 S zur Vereinbarkeit der GeldwäscheRL (RL 2001/97/EG), die auch Anwälte bei Tätigkeiten außerhalb der Rechtsberatung der Anzeigepflicht unterwirft, mit dem Recht auf ein faires Verfahren: EuGH (GK), Rs C-305/05, Slg 2007, I-5305, Rn 26 ff – Ordre des Barreaux francophones et germanophone ua = EuZW 2007, 476 m Anm Michalke; zur Vereinbarkeit mit der EMRK dann (mit übereinstimmendem Ergebnis) EGMR, Urt v 6.12.2012, 12323/11, HRLJ 2012, 403 = NJW 2013, 3423 – Michaud; dazu Vondung, EuR 2013, 688 ff; Defferrard, Rec Dalloz 2013, 284 ff; zum Europäischen Haftbefehl Fn 151. 149 Die Rechtsgrundlage für die Normierung „europäischer“ Straftatbestände in Art 83 AEUV ermöglicht nur den Erlass von Richtlinien, die zudem lediglich „Mindestvorschriften“ enthalten können. 150 S zB EuGH, Rs C-405/10, Slg 2011, I-11035, Rn 48 – QB: Art 49 GRCh ist bei der strafrechtlichen Sanktionierung des EU-Abfallrechts durch die Mitgliedstaaten zu beachten. 151 So zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (Fn 147): EuGH (GK), Rs C-303/05, Slg 2007, I-3633 – Advocaten voor de Wereld = EuZW 2007, 373 m Anm Michalke: Der Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit bei bestimmten Kategorien von Straftaten verstößt nicht gegen den nulla poena-Satz, weil die Strafbarkeit nach dem Recht des Ausstellungsstaates diesen Anforderungen genügen muss. Auch BVerfGE 113, 273 – D betont die dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung belassenen Spielräume, die dieser allerdings nicht nur unter Beachtung der nationalen, sondern auch der EU-Grundrechte auszufüllen haben wird; zu dieser Frage der doppelten Bindung des Umsetzungsgesetzgebers s zB Calliess, JZ 2009, 113 (118 ff); Kingreen, JZ 2013, 801 ff. 152 Auch das Europäische Polizeiamt (Europol) übt nur Koordinierungsfunktionen aus, nach Art 88 AEUV soll dies auch künftig seine Hauptaufgabe bleiben; s zur gegenwärtigen und künftigen Ausgestaltung zB Ruthig in Wolters ua (Hrsg) Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008, S 97 ff; Amelung ebd S 233 ff; zum Rechtsschutz Schenke ebd S 367 ff; s weiter Davies in Trybus/ Rubini (Hrsg) The Treaty of Lisbon and the Future of European Law and Policy, 2012, S 325 ff. 153 Hier wirft zB das transnationale Verbot der Doppelbestrafung gem Art 50 GRCh angesichts der Vielgestaltigkeit der nationalen Strafverfahrensrechte erhebliche Probleme bei den Fragen auf, wie
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saten dieser Garantien sind. Das gilt selbst in dem am stärksten EU-rechtlich geprägten Bereich, in dem der Schutz der finanziellen Interessen der EU betroffen ist: Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF)154, das als Dienststelle der Kommission Ermittlungen durchführt, gibt nur Informationen an die mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden weiter, für deren Verwendung diese selbst verantwortlich sind155; auch die Europäische Staatsanwaltschaft, deren Schaffung Art 86 AEUV zur Verfolgung solcher Verstöße vorsieht156, wird nur anstatt der jeweiligen nationalen Staatsanwaltschaft vor den nationalen Gerichten tätig werden. 45 Darüber hinaus gelten die Grundrechte des EU-Rechts nach der Rechtsprechung des EuGH auch in Fällen, in denen die Mitgliedstaaten in Rechtspositionen eingreifen, die dem Einzelnen durch EU-Recht gewährt wurden: Soweit dies der Fall ist – zB mit nationalen Einschränkungen der Grundfreiheiten157 oder der Gleichbehandlung der Geschlechter im Arbeitsleben158 –, gelten damit auch die Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts, insbesondere der Anspruch auf effektive gerichtliche Kontrolle.159 Damit muss zB die Ausweisung eines Unionsbürgers durch
„dieselbe Tat“ zu bestimmen ist und welche ausländischen Entscheidungen als rechtskräftige Verurteilungen oder Freisprüche anzusehen sind; s dazu zB EuGH, Rs C-297/07, Slg 2008, I-9425– Bourquain; Rs C-150/05, Slg 2006, I-9327 – van Straaten; Rs C-467/04, Slg 2006, I-9199 – Gasparini; Wasmeier/Twaites, ELRev 31 (2006), 565 ff. 154 Zu ihm zB Gundel in Schulze ua, ER, § 3 Rn 50 ff mwN; speziell zu den Verfahrensrechten der Betroffenen s Decker Grundrechtsschutz bei Handlungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), 2008; Gleß/Zeitler, ELJ 7 (2001), 219ff; sa noch Fn 155. 155 S zum bekannten Fall des deutschen Journalisten Tillack, gegen den das OLAF nie erhärtete Bestechungsvorwürfe erhoben und Ermittlungen der belgischen Strafverfolgungsbehörden ausgelöst hatte: Die Klage gegen die Kommission wurde als teils unzulässig (zur Nichtigkeitsklage → Rn 21), teils unbegründet (Schadenersatzklage) abgewiesen, EuG, Rs T-193/04, Slg 2006, II-3995 – Tillack; dazu Wakefield, CMLRev 45 (2008), 199 ff. Dagegen wurde Belgien durch EGMR, Urt v 27.11.2007, 20477/ 05, NJW 2008, 2565 – Tillack wegen Verstoßes gegen Art 10 EMRK zu 10.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. Eine Haftung der Kommission für die Verletzung von Verfahrensrechten bei der Ermittlungs- und Informationstätigkeit von OLAF ist allerdings durchaus möglich, s EuG, Rs T-48/05, Slg 2008, II-1585 – Franchet und Byk/Kommission; dazu Niestedt/Boeckmann, EuZW 2009, 70 ff. 156 Dazu zB Zwiers The European Public Prosecutor’s Office, 2011, insbes S 355 ff; s die VO 2017/1939 des Rates v 12.10.2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), ABl Nr 2017 L 283/1; dazu Brière, CDE 2019, 149 ff; Hummer, ZfRV 2018, 4 ff; Heger, ZRP 2020, 115 ff; Christodoulou/Schneider, RSC 2021, 593 ff. 157 EuGH, Rs 222/86, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens (Anerkennung von Berufsabschlüssen aus anderen Mitgliedstaaten). 158 EuGH, Rs 222/84, Slg 1986, 1651, Rn 18 – Johnston (zur Überprüfbarkeit einer Ausnahme von der Regel des gleichberechtigten Zugangs zum Arbeitsplatz durch die nationalen Gerichte). 159 S EuGH, Rs 222/86, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens; Rs 222/84, Slg 1986, 1651, Rn 18 – Johnston, mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Art 6 und 13 EMRK; s a noch EuGH, Rs 179/84, Slg 1985, 2301, Rn 17 – Piercarlo Bozzetti: Es ist „Sache der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, zu bestimmen, welches Ge
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einen Mitgliedstaat, die in sein Freizügigkeitsrecht eingreift, sich an den Verfahrensrechten des EU-Rechts messen lassen.160 Dieser in der Rechtsprechung erreichte Stand wird zwar in Frage gestellt durch 46 die Formulierung in Art 51 I 1 GRCh, der nur die Durchführung und nicht auch die Beschränkung von EU-Recht durch die Mitgliedstaaten aufführt: Die Bestimmung kann damit als Einschränkung der bisherigen Rechtslage verstanden werden.161 Allerdings war von vornherein unwahrscheinlich, dass der Gerichtshof diesen Ansatz für eine Einschränkung aufnehmen würde, weil damit eine schwer erklärliche Rücknahme des EU-Grundrechtsschutzes durch die Charta verbunden wäre; zwischenzeitlich hat der EuGH in der aufsehenerrregenden Åkerberg-Fransson-Entscheidung den Anwendungsbereich der EU-Grundrechte sogar auf nationales Recht „im Umfeld“ von EU-Regelungen ausgedehnt162. Damit bleibt das Handeln der Mitgliedstaaten vom Geltungsanspruch der Unionsgrundrechte nur insoweit frei, als sich kein Zusammenhang mit einer unionsrechtlich geregelten Position herstellen lässt.163
2. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch die Grundfreiheiten Vor allem in der Fallgruppe der nationalen Eingriffe in unionsrechtliche Rechts- 47 positionen überschneiden sich die grundrechtlichen Gewährleistungen des EURechts mit den Vorgaben der Grundfreiheiten:
richt für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht, wobei die Mitgliedstaaten jedoch für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind.“ (Hervorh durch Verf). 160 Dagegen ist Art 6 EMRK nach der Rspr des EGMR auf Ausweisungsverfahren nicht anwendbar, da kein zivil- oder strafrechtliches Verfahren vorliegt, s EGMR (GK), Urt v 5.10.2000, 39652/98, RTDH 2002, 433, §§ 35 ff – Maaouia, m Anm Tigroudja; → Grabenwarter/Struth § 11.1 Rn 62. 161 „Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union … und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.“ (Hervorh durch Verf); s zu dieser Frage W Cremer, NVwZ 2003, 1452 ff; ders, EuGRZ 2011, 545 ff; ausdrücklich im Sinne einer Einschränkung des bisherigen Geltungsbereichs der EU-Grundrechte Huber, EuR 2008, 190 (196 ff); ders, EPL 14 (2008), 323 ff. 162 EuGH (GK), Urt v 26.2.2013, Rs C-617/10, EuZW 2013, 302 – Åkerberg Fransson = EuR 2013, 446 m Anm Kingreen für das Verbot der Doppelbestrafung; dazu Gstrein/Zeitzmann, ZEuS 2013, 239 ff; Kronenberger, RAE 2013, 147 ff; Marguery, MJ 20 (2013), 282 ff; Ritleng, RTDE 2013, 267 ff; zur Entwicklung s zuletzt Gambardella, CDE 2021, 241 ff. 163 Für einen solchen Fall EuGH, Rs C-299/95, Slg 1997, I-2629, Rn 16 – Kremzow, für eine Vorlage zu Verfahrensgarantien in einem Mordprozess: Allein die Tatsache, dass der Angeklagte durch den Haftvollzug an der Wahrnehmung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gehindert wäre, genügt nicht zur Annahme einer hinreichenden Verbindung; ähnlich EuGH, Rs C-291/96, Slg 1997, I-5531 – Grado u Bashir.
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So kann das allgemeine Verbot einer Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV) verlangen, dass EU-Bürgern vor Gericht dieselben sprachlichen Sonderrechte eingeräumt werden, die den Angehörigen einer nationalen Minderheit des betroffenen Staates zustehen;164 ebenso gilt, dass die Pflicht zur Leistung einer Prozesskostensicherheit nicht an die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats anknüpfen darf.165 Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten dürfen danach (im Anwendungsbereich des EU-Rechts) schon aufgrund der Grundfreiheiten auch in verfahrensrechtlichen Fragen nicht schlechter gestellt werden als die eigenen Staatsangehörigen. Dementsprechend finden sich Verfahrensgarantien auch im Sekundärrecht, das zu den Personenverkehrs-Grundfreiheiten erlassen wurde.166 Auch im Bereich des freien Warenverkehrs leitet der EuGH konkrete Anforderungen an das mitgliedstaatliche Verwaltungsverfahren unmittelbar aus der Grundfreiheit selbst her.167
164 S EuGH, Rs 137/84, Slg 1985, 2681 – Mutsch: Art 45 AEUV verlangt, dass einem deutschen Arbeitnehmer in einem Strafverfahren vor belgischen Gerichten der Gebrauch der deutschen Sprache gestattet wird, wenn dieses Recht Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit in Belgien zusteht. Ebenso zu Art 18 AEUV EuGH, Rs C-274/96, Slg 1998, I-7637 – Bickel u Franz = EuZW 1999, 82 m Anm Novak; dazu auch Hilpold, JBl 2000, 93 ff; Bultermann, CMLRev 36 (1999), 1325 ff; zuletzt nochmals EuGH, Urt v 27.3.2014, Rs C-322/13, EuZW 2014, 393 – Grauel Rüffer, m Anm Hilpold. Der Mindeststandard der EMRK gewährleistet insoweit nur die Beiziehung eines Dolmetschers, s Art 6 III lit e EMRK. 165 S EuGH, Rs C-323/95, Slg 1997, I-1711 – Hayes (zur früheren Fassung des § 110 ZPO) = ZEuP 1999, 964 m Anm Kubis: Verstoß gegen Art 18 AEUV; ebenso EuGH, Rs C-43/95, Slg 1996, I-4661 – Data Delecta (dazu Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff); Rs C-122/96, Slg 1997, I-5325 – Saldanha (dazu Ehricke, IPRax 1999, 311 ff). 166 S etwa die Verfahrensgarantien bei der Ausweisung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten in Art 31 der RL 2004/38 des EP und des Rates v 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten […], ABl 2004 Nr L 229/35; zu den (teils weitergehenden) Anforderungen in Art 8–9 der (Vorgänger-)RL 64/221, ABl 1964 Nr L 56/850, s EuGH, verb Rs C-482/01 u C-493/01, Slg 2004, I-5257, Rn 101 ff – Orfanopoulos und Oliveri; BVerwGE 124, 217; VGH BW, Urt v 29.6.2006, 11 S 2299/05, VBlBW 2007, 109 (Recht auf Widerspruchsverfahren); zur Vorgängerfassung der nun in Art 30 RL 2004/38 vorgesehenen Pflicht des Mitgliedstaats, dem Betroffenen die Gründe der Ausweisung mitzuteilen, s bereits EuGH, Rs 36/75, Slg 1975, 1219, Rn 33 – Rutili = EuR 1976, 237 m Anm Stein. 167 So zu den aus der Warenverkehrsfreiheit herzuleitenden Anforderungen an mitgliedstaatliche Zulassungsverfahren für Lebensmittelzusatzstoffe EuGH, Rs C-95/01, Slg 2004, I-1333, Rn 35 – Greenham und Abel = ZLR 2004, 193 m Anm Streinz u Anm Jarvis, CMLRev 41 (2004), 1395 ff = JK 2004, EGV Art 28/5: „Dieses Verfahren muss leicht zugänglich sein und innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden können; wenn es zu einer Ablehnung führt, muss die Ablehnungsentscheidung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens angefochten werden können.“
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3. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch das Gebot gleichwertigen und effektiven Schutzes (Art 4 III EUV) a) Stärkung der Verfahrensrechte durch das Effektivitätsgebot Vor allem im Bereich des mitgliedstaatlichen Vollzugs des EU-Rechts decken sich die 49 Verfahrensgrundrechte des Einzelnen vielfach mit den allgemeinen Anforderungen an einen gleichwertigen und effektiven Vollzug des EU-Rechts, die der Gerichtshof aus Art 4 III EUV herleitet: Diese beiden Grundsätze verlangen, dass zum einen das EU-Recht nicht zu ungünstigeren Bedingungen umgesetzt wird, als sie für im nationalen Recht begründete Rechtspositionen (Grundsatz der Gleichwertigkeit) bestehen;168 zum anderen müssen – unabhängig von einem solchen Vergleich – diese Positionen mit einem bestimmten Mindestmaß an Effektivität durchgesetzt werden können (Grundsatz der Effektivität).169 So lässt sich aus dem Gleichwertigkeitsgrundsatz herleiten, dass für EU-recht- 50 liche Ansprüche – zB für Anträge auf Rückerstattung unionsrechtswidriger Gebühren – nicht kürzere Fristen gelten dürfen, als sie für Ansprüche nach nationalem Recht vorgesehen sind;170 auch zusätzliche Verfahrensanforderungen in Bezug auf EU-rechtlich begründete Ansprüche sind nicht zulässig171. Ein schematisches Verbot abweichender Lösungen für EU-Sachverhalte enthält der Grundsatz allerdings nicht: Der gleichwertige Schutz schließt sachlich begründete Sonderlösungen für EU-Sach-
168 Dieser Aspekt wurde zunächst vielfach als Diskriminierungsverbot bezeichnet; doch kann diese Bezeichnung zu Missverständnissen und Verwechslungen führen – denn gemeint ist hier nicht eine Diskriminierung von Personen nach der Staatsangehörigkeit, sondern nach der „Herkunft“ des Anspruchs; der EuGH verwendet daher seit einiger Zeit den Begriff der Gleichwertigkeit, s etwa EuGH, Rs C-88/99, Slg 2000, I-10465, Rn 21 – Roquette frères; in anderen Entscheidungen findet sich auch die Bezeichnung als „Äquivalenzgrundsatz“, s EuGH, verb Rs C-279/96, C-280/96 u C-281/96, Slg 1998, I5025, Rn 27, 29 – Ansaldo Energia; Rs C-231/96, Slg 1998, I-4951, Rn 34 – Edis; Rs C-343/96, Slg 1999, I578, Rn 25 – Dilexport. 169 S dazu zB Schmidt-Aßmann FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S 487 (489 ff). Für den Sonderbereich des Schutzes der finanziellen Interessen der EU hat sich die vom EuGH vorgenommene Systematisierung im Text des Vertrages niedergeschlagen: Nach Art 325 IV AEUV ist die „Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes“ der Interessen der EU in den Mitgliedstaaten gefordert (Hervorh durch Verf). 170 Für einen solchen Fall s EuGH, Rs 240/87, Slg 1988, 3513 – Deville; Rs 309/85, Slg 1988, 355 – Barra; s a Rs C-231/96, Slg 1998, I-4951, Rn 21 ff – Edis. 171 S insbes EuGH (GK), Rs C-118/08, Slg 2010, I-635 – Transportes Urbanos für eine Regelung des spanischen Staatshaftungsrechts, die bei der haftungsrechtlichen Geltendmachung der Verletzung von EU-Recht die Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz verlangte, die bei der Geltendmachung von Verfassungsverstößen aber nicht gefordert war.
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verhalte nicht aus172. Aus dem Effektivitätsprinzip ergibt sich, dass in jedem Fall die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes möglich sein muss. Darüber hinaus muss dieser mit zumutbaren Bedingungen ausgestaltet werden, dh die Verfahrensregeln der Mitgliedstaaten dürfen die Rechtsdurchsetzung nicht „praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren“:173 So dürfen generell nicht zu enge Verfahrensfristen vorgesehen werden; prozessuale Präklusionsregeln dürfen nicht in einer Weise angewandt werden, die eine wirksame Durchsetzung der betroffenen Positionen vereitelt.174 Auch Beweislastregeln, die die Durchsetzung der Ansprüche übermäßig erschweren, sind unzulässig175 – unabhängig davon, ob sie auch für Ansprüche aus dem nationalen Recht gelten. Auf den Effektivitätsgrundsatz ist auch das durch den Gerichtshof herausgearbeitete Erfordernis einer mitgliedstaatlichen Haftung für Verstöße gegen EU-Recht zurückzuführen, die gegeben sein muss, wenn auf andere Weise die Durchsetzung des EU-Rechts nicht gesichert werden kann.176
b) Insbesondere: Anspruch auf Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte 51 Der Effektivitätsgrundsatz verlangt insbesondere – parallel zu Art 6 und 13 EMRK
sowie nun Art 47 GRCh – die Eröffnung des Zugangs zu einem Gericht. Hier hat der Gerichtshof zwar zunächst formuliert, dass das EU-Recht von den Mitgliedstaaten nicht die Eröffnung neuer, unbekannter Rechtsschutzmöglichkeiten verlange, sondern nur Rechtsschutz im Rahmen des nach nationalem Recht Möglichen fordere.177 Doch ist diese Aussage, die allein auf die Gewährleistung gleichwertigen Schutzes
172 S zB für die Regelung, die zu einer konzentrierten Gerichtszuständigkeit für EU-Agrarstreitigkeiten führt: EuGH, Urt v 27.6.2013, Rs C-93/12, Rn 40 ff – ET Agrokonsulting-04-Velko Stoyanov; auch die Beschränkung der nationalen Verfassungsbeschwerde auf die Geltendmachung nationaler Grundrechte stellt keinen Verstoß gegen den Gleichwertigkeitsgrundsatz dar, so zu Recht Rn 66 ff der Schlussanträge v 2.4.2014 von GA Bot zu EuGH, Urt v 11.9.2014, Rs C-112/13 – A; zum Problem auch Griebel, DVBl 2014, 204 ff. 173 So zB EuGH, Rs C-343/96, Slg 1999, I-578, Rn 25 – Dilexport; verb Rs C-279/96, C-280/96 u C-281/96, Slg 1998, I-5025, Rn 27 – Ansaldo Energia; verb Rs C-123/87 u C-330/87, Slg 1988, 4517, Rn 17 – Jeunehomme. 174 S EuGH, Rs C-312/93, Slg 1995, I-4599 – Peterbroeck; verb Rs C-430/93 u C-431/93, Slg 1995, I-4705 – van Schijndel; zu beiden Entscheidungen v Danwitz, UPR 1996, 323 ff; Heukels, CMLRev 33 (1996), 337 ff; Prechal, CMLRev 35 (1998), 681 ff; später zB Mas, ÖJZ 2002, 161 ff; Kment, EuR 2006, 201 ff. 175 S EuGH, verb Rs 331/85, 376/85 u 378/85, Slg 1988, 1099, Rn 12 f – Les Fils de Jules Bianco; Rs 199/82, Slg 1983, 3595, Rn 14 – San Giorgio; weiter zB Rs C-147/01, Slg 2003, I-11365, Rn 110 ff – Weber’s Wine World; s dazu auch Gundel FS Götz, 2005, S 191 ff. 176 So der Ausgangspunkt der EuGH-Rspr zur – aus den Anforderungen des Art 4 III EUV hergeleiteten – Staatshaftung der Mitgliedstaaten gegenüber dem Bürger für Verstöße gegen EU-Recht, EuGH, verb Rs C-6/90 u C-9/90, Slg 1991, I-5357 – Francovich. 177 EuGH, Rs 158/80, Slg 1981, 1805, Rn 44 – Rewe („Butterfahrten“).
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abstellte und den Grundsatz der Mindesteffektivität außer Acht ließ, nicht mehr wiederholt worden: Stattdessen hat der EuGH in späteren Entscheidungen ausdrücklich auch die Eröffnung bisher unbekannter Rechtsschutzmöglichkeiten verlangt, wenn dies zur effektiven Durchsetzung des EU-Rechts erforderlich schien.178 Auf den ersten Blick scheinen diese Anforderungen angesichts der Garantie des Art 19 IV GG für das deutsche Recht ohnehin gesichert; das Beispiel des Rechtsschutzes bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, der in Deutschland erst nach längerem Zögern entsprechend den Vorgaben der EG-Rechtsmittel-Richtlinie179 geregelt wurde180, zeigt aber, dass hier auch in der deutschen Rechtsschutz-Ordnung – nicht anders als in anderen Mitgliedstaaten – Anpassungsbedarf entstehen kann. Allerdings hat die EuGH-Rechtsprechung auch geklärt, dass dieser Rechtsschutz nicht notwendig stets in der Form von Primärrechtsschutz gewährleistet werden muss: Es kann genügen, dass der Verstoß in Form von Feststellungs- oder Schadenersatzklagen geltendgemacht werden kann181; das ist auch konsequent, weil auch der Rechtsschutz durch die EU-Gerichte nicht stets in der Form von Primärrechtsschutz erfolgt182. Fall 3: (Conseil d’Etat [F], 5.3.1999, AJDA 1999, 460)183 Die Parlamentsverwaltung des Mitgliedstaats X vergibt einen Auftrag zur Installation der Raumelektronik im Plenarsaal. Nach dem Recht des Mitgliedstaats sind Entscheidungen des Parlaments gerichtlich nicht überprüfbar. Der unterlegene Konkurrent Y, der trotz eines günstigeren Angebots
178 S etwa EuGH, Rs C-213/89, Slg 1990, I-2433 – Factortame I zur Pflicht der nationalen Gerichte, vorläufigen Rechtsschutz auch gegenüber EU-rechtswidrigem Gesetzesrecht zu gewähren; später zB EuGH, Rs C-13/01, Slg 2003, I-8679, Rn 50, 56 – Safalero; Rs C-462/99, Slg 2003, I-5197, Rn 35 – Connect Austria; diese Rspr wird jetzt in Art 19 I UAbs 2 EUV aufgenommen, s o Fn 68. 179 RL 89/665 v 21.12.1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, ABl 1989 Nr L 395/33; geändert durch die RL 2007/66 v 11.12.2007, ABl 2007 Nr L 335/31; dazu zB Seidel, EWS 2007, 529 ff; Frenz, VergabeR 2009, 1 ff. 180 Die Aufnahme der Regelung in §§ 97 ff GWB erfolgte mit Wirkung zum 1.1.1999; dazu und zu der zuvor erprobten „haushaltsrechtlichen Lösung“ zB Martin-Ehlers, EuR 1998, 648 ff; Byok, NJW 1998, 2774 ff; Pietzcker, ZHR 162 (1998), 427 ff. 181 So EuGH (GK), Rs C-432/05, Slg 2007, I-2271, Rn 55 ff – Unibet = JA 2007, 830 m Anm Gundel; umstritten ist die Frage im Vergaberecht, weil BVerfGE 116, 135 – S GmbH hier für den Bereich der gesetzlich nicht geregelten Vergaben unterhalb der sog Schwellenwerte eine verfassungsrechtliche Gewährleistung von Primärrechtsschutz verneint hat. Teile der deutschen Lit nehmen an, dass der Primärrechtsschutz unabhängig davon EU-rechtlich geboten sei, so zB Wollenschläger, NVwZ 2007, 388 (395 f); Niestedt/Hölzl, NJW 2006, 3680 (3681 ff); dazu Gundel, JURA 2008, 288 (292 ff). 182 S o Rn 21. 183 Fall nach Conseil d’Etat (F), Assemblée du contentieux 5.3.1999 – Président de l’Assemblée Nationale, AJDA 1999, 460 m Anm Raynaud/Fombeur S 401 (409 ff) = RDP 1999, 1810 m Anm Thiers 1785 ff = RFDA 1999, 343 mit Schlussanträgen von Regierungskommissarin Bergeal 333 ff.
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nicht berücksichtigt worden war, ruft dennoch das Verwaltungsgericht an und macht geltend, dass der Auftrag unter Verstoß gegen die RL zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge184 erteilt worden sei. Ist die Klage zulässig?
53 Parallel zum Effektivitätsgebot gilt dann im Anwendungsbereich des EU-Rechts
auch der EU-rechtliche Grundrechtsschutz: Das Gebot der Eröffnung von Rechtsschutz gegen Maßnahmen der nationalen Behörden, die in unionsrechtlich gewährte Rechtspositionen eingreifen, gilt also zum einen, weil dies zur effektiven Durchsetzung des EU-Rechts erforderlich ist, zum anderen, weil es sich aus dem EUrechtlichen Grundrechtsstandard ergibt; deutlich wird diese doppelte Funktion etwa beim Gebot der Gewährleistung vorläufigen Rechtsschutzes gegen nationales Recht, das gegen EU-Recht verstößt.185 Ähnliches gilt zB für die Unzulässigkeit nationaler Verfahrensfristen, die so kurz gehalten sind, dass dem Bürger eine tatsächliche Ausübung seiner durch das EU-Recht gewährten Rechte praktisch unmöglich gemacht oder unzumutbar erschwert wird;186 grundsätzlich ist die Limitierung materieller Rechte durch nationale Verfahrensfristen allerdings zulässig.187
184 RL 93/97 v 14.6.1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, ABl EG 1993 L 199/54 (zwischenzeitlich ersetzt durch die RL 2014/24/EU v 26.2.2014 über die öffentliche Auftragsvergabe (…), ABl 2014 Nr L 94/65). 185 EuGH, Rs C-213/89, Slg 1990, I-2433 – Factortame I; unmittelbar zu dieser Entscheidung auch Smith, EuZW 1992, 308 ff; Toth, CMLRev 27 (1990), 573 ff; Barav/Simon, RevMC 1990, 591 ff. Zu den Anforderungen an das nationale Prozessrecht in dieser Frage und den Auswirkungen auf das deutsche Recht s a Hauser, VBlBW 2000, 377 ff; Sommermann FS Blümel, 1999, S 523 ff; Schoch, DVBl 1997, 289 ff; präzisierend nun EuGH (GK), Rs C-432/05, Slg 2007, I-2271, Rn 78 ff – Unibet = JA 2007, 830 m Anm Gundel; dazu Anagnostaras, ELRev 33 (2008), 586 ff. 186 Dies betrifft vor allem die Rückerstattung von nationalen Abgaben und Gebühren, die unter Verstoß gegen EU-Recht erhoben, bzw die nachträgliche Gewährung von Leistungen, die unionsrechtswidrig verweigert wurden; zur ersten Fallgruppe s Gundel FS Götz, 2005, S 191 ff. 187 S in jüngerer Zeit EuGH, Rs C-453/00, Slg 2004, I-837 – Kühne und Heitz = EuR 2004, 590 m Anm Potacs = JZ 2004, 619 m Anm Ruffert = JK 9/04, EGV Art 10/3; EuGH (GK), verb Rs C-392/04 u C-422/04, Slg 2006, I-8559 – Arcor = JA 2007, 398 m Anm Gundel; zuletzt EuGH, Urt v 10.3.2022, Rs C-177/20 – Grossmania, EuZW 2022, 482 m Anm Gundel, Rn 49 ff. Auch bei der Prüfung des Verwaltungshandelns von EU-Organen betont der EuGH die Rechtssicherheit stiftende Funktion von Ausschlussfristen, etwa der Klagefrist des Art 263 VI AEUV, und die mit Fristablauf eintretende Bestandskraft, s zB EuGH, Rs C-310/97 P, Slg 1999, I-5363, Rn 57 ff – AssiDomän = JK 2000, EGV Art 233/1. Eine besonders weitgehende Ableitung aus dem Effektivitätsprinzip, nach der nationale Fristen nicht zu laufen beginnen, solange die dem Anspruch zugrunde liegenden EU-Richtlinien nicht umgesetzt sind (so EuGH, Rs C-208/90, Slg 1991, I-4269, Rn 21 ff – Emmott), hat der EuGH allerdings wieder zugunsten einer Einzelfall-Prüfung entschärft, s EuGH, Rs C-188/95, Slg 1997, I-6783 – Fantask und dazu Gundel, NVwZ 1998, 910 ff; Notaro, CMLRev 35 (1998), 1385 ff; nochmals EuGH (GK), Rs C-445/06, Slg 2009, I
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Lösung Fall 3: Die Klage des Y ist in Abweichung vom nationalen Recht zulässig: Der Grundsatz der Mindesteffektivität verlangt parallel zu Art 6, 13 EMRK die Möglichkeit einer Geltendmachung der Verletzung EUrechtlicher Positionen vor den nationalen Gerichten. Für das öffentliche Auftragswesen folgt dies zusätzlich aus dem Sekundärrecht.188 Entgegenstehende Grundsätze des nationalen Prozessrechts – wie die gerichtliche Immunität von Handlungen des Parlaments – müssen dem Vorrang des EURechts weichen. Dementsprechend hat der französische Conseil d’Etat im zugrunde liegenden Fall den in ständiger Rechtsprechung praktizierten Ausschluss der Gerichtskontrolle über „actes du parlement“ nicht angewandt, sondern die Klage als zulässig angesehen.189
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c) Konflikte zwischen Verfahrensgarantien und Effektivitätsgebot Im Einzelfall kann der Grundsatz der Effektivität des EU-Rechts allerdings auch zu 55 Lasten des Einzelnen gehen und in Konflikt zu seinen Schutzinteressen geraten;190 er ist insoweit ambivalent. So kann der Grundsatz der Effektivität bei zeitnah umzusetzenden Entscheidungen etwa gebieten, dass Rechtsmittel gegen belastende Entscheidungen nicht die im nationalen Recht vorgesehene aufschiebende Wirkung entfalten.191 Auch soweit solche Konflikte bestehen, ist der EuGH aber zu ausgleichenden 56 Lösungen gelangt. Besonders deutlich wird dies bei der Überprüfung der Gültigkeit
2119, Rn 53 ff – Danske Slagterier = EWS 2009, 176 m Anm Würtenberger = ZLR 2009, 438 m Anm Gundel; EuGH, Rs C-452/09, Slg 2011, I-4043, Rn 17 ff – Iaia. 188 Art 1 der RL 89/665 v 21.12.1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, ABl 1989 Nr L 395/33; geändert durch die RL 2007/66 v 11.12.2007, ABl 2007 Nr L 335/31. Die Vergaberichtlinien erfassen auch die öffentlichen Aufträge der nationalen Parlamente, s EuGH, Rs C-323/96, Slg 1998, I-5063 – Kommission/Belgien (Bauauftrag des flämischen Regionalparlaments). 189 In der Entscheidung des Conseil d’Etat wird dieser Zusammenhang – wie häufig – nicht angesprochen. Der EU-rechtliche Zwang zur Änderung der Rspr wird in den Schlussanträgen der Regierungskommissarin deutlich gemacht, RFDA 1999, 333 (338). 190 Etwa im Fall der Rückforderung von EU-rechtswidrig geleisteten Beihilfen, s EuGH, Rs C-24/95, Slg 1997, I-1591, Rn 37 – Alcan = EuZW 1997, 276 m Anm Hoenike; Rs C-232/05, Slg 2006, I-10071 – Kommission/Frankreich (Scott Paper/Kimberly-Clark) = JA 2007, 668 m Anm Gundel: Derselbe Grundsatz, der bewirkt, dass der Bürger unionsrechtswidrig eingeforderte Gebühren entgegen nationaler Ausschlussfristen zurückerhält, führt dazu, dass er auch unionsrechtswidrig erzielte Vermögenszuwächse nicht durch Berufung auf die nationale Ausschlussfrist des § 48 IV VwVfG verteidigen kann. Ähnlich zu Lasten des EU-Marktbürgers wirkt die Tafelwein-Entscheidung für die Möglichkeit vorläufiger Maßnahmen der Behörden, während die auf demselben Gedanken beruhende Factortame-Entscheidung (Rs C-213/89, Slg 1990, I-2433 – Factortame I) zugunsten des Bürgers wirkte. 191 EuGH, Rs C-217/88, Slg 1990, I-2879 – Kommission/Deutschland (Tafelwein-Destillation); dazu zB Vedder, EWS 1991, 10 ff; v Stülpnagel, DÖV 2001, 932 ff.
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von Sekundärrecht: Der Grundsatz, wonach sekundäres EU-Recht nicht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte als vertragswidrig verworfen werden kann, sondern diese Gerichte die Frage der Gültigkeit – über den Wortlaut des Art 267 III AEUV hinaus unabhängig von ihrer Stellung im Instanzenzug – dem EuGH vorlegen müssen, wenn sie die Ungültigkeit annehmen wollen (Verwerfungsmonopol des EuGH),192 ist geprägt vom Gedanken der effizienten Durchsetzung des EU-Rechts. Dem Bedenken, wonach auf diese Weise ein effektiver Rechtsschutz des Bürgers gegen vertragswidriges Sekundärrecht verfehlt werden könnte, weil zunächst der Ausgang des Vorabentscheidungsverfahrens abgewartet werden müsste, ist der Gerichtshof entgegengetreten, indem er den nationalen Gerichten den Erlass von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zugestanden hat, wenn sie zugleich ihrer Vorlagepflicht nachkommen:193 Eine vorläufige „Aussetzung“ des Geltungsanspruchs des Sekundärrechts wird danach unter der Voraussetzung akzeptiert, dass dem EuGH die Gelegenheit eröffnet wird, das abschließende letztverbindliche Wort in der betreffenden Gültigkeitsfrage zu sprechen194. Dieser richterrechtlich entwickelte Kompromiss erscheint als gelungener Ausgleich195 zwischen den Erfordernissen einer effektiven Anwendung des EU-Rechts und eines effektiven Rechtsschutzes des Einzelnen.196
192 So erstmals EuGH, Rs 314/85, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost; bestätigt durch EuGH (GK), Rs C-461/03, Slg 2005, I-10513 – Gaston Schul. 193 So EuGH, verb Rs C-143/88 u C-92/89, Slg 1991, I-415 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen = EuZW 1991, 313 m Anm Schlemmer-Schulte 307 ff = JZ 1992, 38 m Anm Gornig; Rs C-466/93, Slg 1995, I-3799 – Atlanta; Rs C-465/93, Slg 1995, I-3761 – Atlanta = JK 96, EGV Art 189/1, m Anm Bebr, CMLRev 33 (1996), 795 ff; für spätere Anwendungsfälle EuGH, Rs C-334/95, Slg 1997, I-4517 – Krüger GmbH; Rs C-183/95, Slg 1997, I-4315 – Affish BV. 194 Ist die Frage der Gültigkeit bereits anderweitig beim EuGH anhängig, kann das Gericht sogar auf eine eigene Vorlage verzichten, s EuGH, verb Rs C-143/88 u C-92/89, Slg 1991, I-415, Rn 33 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; nationale Behörden sind dagegen zu einer vorläufigen Aussetzung nicht befugt, so ausdrücklich EuGH (GK), verb Rs C-453/03 ua, Slg 2005, I-10423, Rn 108 ff – ABNA = EWS 2006, 73 m Anm Gundel 65 ff. 195 Von einer „salomonischen Lösung“ spricht Pietzcker FS 150 Jahre Carl Heymanns Verlag, 1995, S 623 (633). 196 Demgegenüber gesteht die Rspr des BVerfG den Fachgerichten in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die (vorläufige) Normverwerfungskompetenz gegenüber Gesetzen zu und behandelt Vorlagen nach Art 100 I GG in diesem Stadium als unzulässig, s BVerfGE 86, 382, 389 sowie OVG NW, Beschl v 10.4.1992, Rs 12 B 2298/90, NVwZ 1992, 1226; OVG Berlin, Beschl v 16.4.1992, Rs 4 S 39/91, NVwZ 1992, 1227 (Eine Ausnahme wird man machen müssen, wenn ein Hauptsacheverfahren nicht vorgesehen ist; s für eine Richtervorlage in einem solchen Fall BVerfG, Rs 1 BvL 20/81, BVerfGE 63, 131 – NDR-Staatsvertrag). Zum Vergleich von EuGH- und BVerfG-Rspr in dieser Frage s Pietzcker FS 150 Jahre Carl Heymanns Verlag, 1995, S 623 ff.
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Eine ähnlich abgewogene Lösung hat der Gerichtshof schließlich in einer ande- 57 ren Konstellation gefunden, in der sich das Bedürfnis nach Rechtssicherheit einerseits und die Erfordernisse effektiven Rechtsschutzes andererseits gegenüberstanden: Seit Beginn der 1980er Jahre nimmt der EuGH die Kompetenz in Anspruch, auch in Vorabentscheidungsverfahren die zeitliche Geltung seiner Entscheidungen zu beschränken;197 macht der Gerichtshof von dieser Möglichkeit Gebrauch, so wird die Feststellung der Ungültigkeit von Sekundärrecht oder eine bestimmte Auslegung des EU-Rechts, die einen Verstoß nationalen Rechts gegen dieses EU-Recht nach sich zieht, erst ab dem Zeitpunkt des Erlasses seiner Entscheidung wirksam. Grundsätzlich ist diese Einschränkung nicht zu beanstanden, auch wenn eine solche Rechtsfolgenmoderation im Vertrag selbst nur für die Nichtigkeitsklage erwähnt ist (Art 264 II AEUV): Sie ist eine Konsequenz der verfassungsgerichtlichen Funktion des EuGH.198 Doch musste bei genereller Anwendung dieser Lösung auch auf die Kläger des 58 Ausgangsverfahrens diese Rechtsfolgenbeschränkung dazu führen, dass den Klägern der Prozesssieg im Ergebnis wieder genommen wurde.199 Der Gerichtshof hat diese „Härte“ zunächst tatsächlich hingenommen; später hat er für diese Fälle dann den Grundsatz aufgestellt, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens und zudem auch alle Betroffenen, die parallel zu ihnen bereits vor Erlass der EuGH-Entscheidung gerichtliche oder außergerichtliche Rechtsmittel eingelegt haben, von der Beschränkung der Rückwirkung auszunehmen sind.200 Andernfalls werde der Kläger des Anspruchs auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz201 gegen Verletzungen des EURechts beraubt.
197 Zur Entwicklung der Rspr s zB Gundel FS Berg, 2011, S 54 ff; Wiedmann, EuZW 2007, 692 ff; Kokott/Henze, NJW 2006, 177 ff; Everling FS B Börner, 1992, S 57 ff. 198 Zur entsprechenden Regelung für Entscheidungen des BVerfG s § 79 BVerfGG; dem entspricht, dass die Kompetenzerweiterung des EuGH in der deutschen Literatur nicht problematisiert wurde, während in Frankreich Literatur und verwaltungsgerichtliche Rspr diese Kompetenz des EuGH zunächst ua unter Hinweis auf eine Überschreitung der richterlichen Funktionen nicht akzeptiert haben: In Frankreich fehlte bisher das Vorbild einer nachträglichen Verfassungskontrolle von Gesetzen, das die Erforderlichkeit einer solchen Regelung einsichtig macht; s Gundel Die Einordnung des Gemeinschaftsrechts in die französische Rechtsordnung, 1997, S 276 ff; s a die rechtsvergleichenden Hinweise bei Isaac, CDE 1987, 444 ff. 199 So der Einwand der Corte costituzionale (I), 21.4.1989 No 232/89 – Fragd Spa., Riv Dir Int 1989, 103; das italienische Verfassungsgericht hat dabei eine der „Solange-Rechtsprechung“ des BVerfG (zu ihr zB Lecheler ER, S 57 f; ders, JuS 2001, 120 ff) entsprechende „Letztkontrolle“ in Anspruch genommen; zur Kontroverse Azzena, Riv Trim Dir Pubbl 1992, 688 ff. 200 So programmatisch EuGH, Rs C-228/92, Slg 1994, I-1445, Rn 26 ff – Roquette frères; zuletzt EuGH (GK), Rs C-333/07, Slg 2008, I-10807, Rn 127 – Régie Networks; allerdings hat der Gerichtshof sich geweigert, diese ausgleichende Lösung rückwirkend auch auf die zuvor bereits abweichend entschiedenen Fälle zu erstrecken, s Rs C-20/88, Slg 1989, 1553 – Roquette frères. 201 So EuGH, Rs C-228/92, Slg 1994, I-1445, Rn 27 – Roquette frères.
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IV. Besondere Probleme bei „gestuften“ Verfahren und „gemischten“ Entscheidungen zwischen nationalen Behörden und EU-Kommission 1. Gestufte Verfahren a) Das Phänomen 59 Eine spezifische Form des Vollzugs des EU-Rechts sind gestufte Verfahren,
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in denen der Bürger zunächst allein in Kontakt mit den „ausführenden“ mitgliedstaatlichen Behörden tritt, während im Hintergrund die eigentliche Entscheidung durch die EU-Organe getroffen wird; diese Gestaltung wirft besondere Probleme für die Einhaltung der Verfahrensgarantien, aber auch für den Rechtsschutz gegenüber einmal getroffenen Entscheidungen auf. 60 Bei dieser Ausgestaltung, die zB im EU-Zollrecht anzutreffen ist, nehmen die nationalen Behörden den Antrag des Betroffenen entgegen und sind im „Normalfall“ auch zur eigenständigen Entscheidung befugt. Nur in bestimmten Zweifelsfällen sind sie verpflichtet, den Sachverhalt der Kommission zu unterbreiten; diese trifft dann eine verbindliche Entscheidung, die von den nationalen Behörden gegenüber dem Antragsteller umzusetzen ist. 61 Ähnliche Gestaltungen finden sich in der Verwaltung der Beihilfen der EU, etwa des EU-Sozialfonds (ESF) oder des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE): Hier sind nationale Stellen für die laufende Verwaltung und die Überwachung der Mittelverwendung zuständig; die verbindliche Entscheidung darüber, ob die Beihilfe endgültig gewährt oder aber stattdessen sogar Mittel zurückgefordert werden müssen, trifft jedoch die Kommission, wobei die Ausgestaltung im Detail variiert.203 Diese Gestaltung hat für das EU-Organ den Vorteil, dass ihm die Ent-
202 Dazu zB Sydow, DV 34 (2001), 517 ff; ausf Nehl Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, S 41 ff, 81 ff, 413 ff. 203 Zur Verteilung der Aufgaben zB EuGH, Rs C-413/98, Slg 2001, I-673 – DAFSE; zuvor zB Rs C-462/98 P, Slg 2000, I-7183 – Mediocurso (jeweils zur Förderung durch den ESF). Die Ausgestaltung kann allerdings in Abhängigkeit des anwendbaren Sekundärrechts stark variieren: So hat der EuGH für die EFRE-Förderung festgehalten, dass die Kommission den Mitgliedstaat zwar zur Erstattung an die EU verpflichten kann, wenn gegen die Fördervoraussetzungen verstoßen wird, dieser muss die Förderung aber nicht notwendig auch vom Empfänger zurückfordern; s EuGH, Rs C-15/06 P, Slg 2007, I2591 – Regione Siciliana = JA 2007, 828 m Anm Gundel. Besonders weitgehend in der Auflösung des Durchgriffs ist EuGH, Rs C-158/06, Slg 2007, I-5103 – Stichting ROM-projecten: Wenn die Beanstandung durch die Kommission auf der Missachtung von Fristen beruht, die der Empfänger nicht zu verantworten hat, weil der Mitgliedstaat sie ihm nicht mitgeteilt hatte, so muss der Staat die Summe zwar gegenüber der EU erstatten, er darf sie aber vom Empfänger aufgrund des EU-rechtlichen Vertrauens
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scheidungssteuerung in zweifelhaften Fällen erhalten bleibt, ohne dass es mit der Masse der unproblematischen Fälle konfrontiert würde.
b) Gefährdung der Rechte im Verwaltungsverfahren Diese Verfahrensgestaltung hat allerdings nicht nur Vorteile: Sie führt auch zu einer 62 Gefährdung der Verfahrensrechte der Betroffenen, weil die nach außen zuständige und die in der Sache entscheidende Stelle auseinanderfallen; dadurch kann das rechtliche Gehör beeinträchtigt werden, wenn nicht zusätzliche Vorkehrungen getroffen werden. Der EuGH hat diese Defizite zunächst gebilligt und darauf abgestellt, dass eine 63 unmittelbare Gewährung rechtlichen Gehörs für die Betroffenen im Sekundärrecht nicht vorgesehen sei.204 Seit der maßgeblichen TU-München-Entscheidung von 1991205 verlangt er aber insbesondere die Wahrung des rechtlichen Gehörs: In dieser Entscheidung ist auch klargestellt, dass diese Anforderung nicht von der Ausgestaltung des Sekundärrechts abhängen kann. Daran anschließende Entscheidungen haben mehrfach festgehalten, dass dies 64 dazu führen kann, dass die Kommission sich für ihre Entscheidung nicht allein auf die Kommunikation mit den zwischengeschalteten mitgliedstaatlichen Behörden verlassen darf, sondern dem Betroffenen ggf unmittelbar das Recht zur Stellungnahme gewähren muss, auch wenn ein solcher unmittelbarer Kontakt im Sekundärrecht nicht vorgesehen ist.206 Das ist zB dann geboten, wenn die Kommission von der Bewertung eines Sachverhalts durch die nationalen Behörden zum Nachteil des Betroffenen abweichen will,207 oder wenn ein Gesichtspunkt als maßgeblich für die Entscheidung herangezogen wird, zu dem der Antragsteller nicht Stellung beziehen konnte;208 auch
schutzes nicht zurückverlangen (zur Anwendbarkeit der EU-Grundrechte auf den Vollzug durch die Mitgliedstaaten s Rn 42 ff). 204 So zB EuGH, Rs 203/85, Slg 1986, 2049, Rn 13 ff – Nicolet; Rs 43/87, Slg 1988, 1557, Rn 13 f – Nicolet. 205 S insb EuGH, Rs C-269/90, Slg 1991, I-5469 – TU-München; später Rs C-135/92, Slg 1994, I-2885, Rn 39 – Fiskano; EuG, Rs T-346/94, Slg 1995, II-2841 – France-Aviation; Rs T-42/96, Slg 1998, II-401, Rn 74 ff – Eyckeler u Malt; Rs T-50/96, Slg 1998, II-3773, Rn 57 ff – Primex Produkte; dazu Lecheler/Gundel Übungen, S 97 ff. 206 So zum Zollrecht EuG, verb Rs T-186/97 ua, Slg 2001, II-1337 – Kaufring; zu dieser Entscheidung Heselink, ZfZ 2001, 321 ff. 207 So im Fall Kaufring (EuG, verb Rs T-186/97 ua, Slg 2001, II-1337): Hier hatten die nationalen Behörden angenommen, dass der Fehler für die Importeure nicht erkennbar war, die Kommission kam zur gegenteiligen Einschätzung; ähnlich der Sachverhalt von EuG, Rs T-42/96, Slg 1998, II-401 – Eyckeler u Malt; Rs T-50/96, Slg 1998, II-3773 – Primex Produkte. 208 So im Fall von EuGH, Rs C-269/90, Slg 1991, I-5469 – TU-München, s Rn 38 der Schlussanträge von GA Jacobs.
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die Akteneinsicht als Bestandteil des rechtlichen Gehörs muss die Kommission dem Antragsteller des Ausgangsverfahrens in solchen Fällen gewähren.209 Die Kommission hat sich diesen Vorgaben schließlich auch angepasst.210 65 Der EuGH hat in diesem Zusammenhang auch den bereits aus dem nationalen Recht bekannten Kompensationsmechanismus auf das EU-Recht angewandt, nach dem in Bereichen, in denen die inhaltliche Kontrolle der Entscheidung durch Beurteilungsspielräume der Verwaltung begrenzt ist, die Kontrolle der Einhaltung der Verfahrensrechte besondere Bedeutung gewinnt.211
c) Problematik des Rechtsschutzes 66 Die Stufung der Entscheidungszuständigkeiten führt darüber hinaus aber auch zu
Problemen für die Gewährleistung eines lückenlosen Rechtsschutzes: Wenn der Betroffene gegen die abschließende Entscheidung der nationalen Behörde vorgeht, so muss das nationale Gericht stets dem Gerichtshof vorlegen, wenn es zu der Auffassung gelangt, dass die zugrunde liegende Kommissionsentscheidung gegen EU-
209 Nachdrücklich EuG, Rs T-42/96, Slg 1998, II-401, Rn 79 ff – Eyckeler u Malt; Rs T-50/96, Slg 1998, II3773, Rn 62 f – Primex Produkte. 210 Die Kommission hatte zunächst versucht, die Auswirkungen der EuGH-Rspr auf ihre Verwaltungspraxis dadurch zu beschränken, dass den von den nationalen Behörden weitergeleiteten Anträgen eine schriftliche Erklärung des Antragstellers beizufügen war, in dem dieser versicherte, zu dem unterbreiteten Sachverhalt vollständig Stellung genommen zu haben (Art 87 1 I DVO-Zollkodex idF der Kommissions-VO 12/97, ABl 1997 Nr L 9/1). Das EuG hat in der Folge aber festgehalten, dass diese Ergänzung nur eine Verbesserung in der ersten Verfahrensphase vor den nationalen Behörden bedeutete, nicht aber das geforderte rechtliche Gehör zu den Gesichtspunkten sicherstellen konnte, die in der zweiten Phase die Kommission für entscheidend halten würde, s EuG, Rs T-42/96, Slg 1998, II-401, Rn 84 f – Eyckeler u Malt; Rs T-290/97, Slg 2000, II-15, Rn 44 ff – Mehibas Dordtselaan. Erst mit der Kommissions-VO 1677/98 zur Änderung der DVO-Zollkodex, ABl 1998 Nr L 212/18, wird dann eine rechtsprechungskonforme Regelung aufgenommen: „In allen Phasen des Verfahrens … teilt die Kommission, wenn sie eine Entscheidung zu Lasten des antragstellenden Beteiligten treffen will, diesem in einem Schreiben alle der Entscheidung zugrunde liegenden Argumente mit und übersendet ihm alle Unterlagen, auf die sie die Entscheidung stützt. Der Beteiligte nimmt innerhalb eines Monats … schriftlich Stellung.“ (Art 872a DVO-Zollkodex, parallel dazu Art 906a DVO-Zollkodex; die Regeln finden sich nun in Art 98 ff der Delegierten VO (EU) 2015/2446 der Kommission v 28.7.2015 zur Ergänzung der VO (EU) Nr 952/2013 des EP und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union, ABl 2015 Nr L 343/1). 211 S dazu etwa Schwarze FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 147 (160, 162 f); Kahl, VerwArch 95 (2004), 1 (9 f); deutlich EuGH, Rs C-269/90, Slg 1991, I-5469, Rn 14 – TU-München; hier hat sich die Rspr des EuGH unter dem Eindruck mehrfacher Vorlagen des BFH zu einer verschärften Verfahrenskontrolle von Kommissionsentscheidungen gewandelt.
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Recht verstößt.212 Dies führt zwar zu Verzögerungen, eine Prüfung bleibt aber möglich; anders könnte die Lage sein, wenn dem Betroffenen die Zwischenentscheidung der Kommission bereits bekannt war: Dann muss er bereits unmittelbar gegen diese Entscheidung vorgehen, um ihre Bestandskraft zu vermeiden.213 Erfährt er von der Existenz der Kommissionsentscheidung allerdings erst im Verfahren gegen die abschließende Entscheidung der nationalen Behörde, so wird man ihm die Einleitung eines weiteren Verfahrens kaum zumuten können; auch die Gefahr einer Umgehung der Klagefrist des Art 263 VI AEUV ist in diesen Fällen nicht gegeben.214
2. Rechtsschutzprobleme bei „gemischten“ Entscheidungen Neben den Fällen, in denen die Kommission im Hintergrund die Entscheidungen 67 trifft und diese von den nationalen Verwaltungen nur umgesetzt werden, bestehen auch Gestaltungen, bei denen die EU und die nationale Behörde jeweils eine Entscheidung in eigener Verantwortung treffen. Relevant wird dies bei Gestaltungen, die bei Beihilfen der EU anzutreffen sind. Fall 4: (EuGH, Rs C-97/91, Slg 1992, I-6313 ff – Oleificio Borelli)
X stellt einen Antrag auf Förderung eines landwirtschaftlichen Projekts aus den Regionalfördermitteln der EU. Nach der einschlägigen EU-Verordnung ist der Antrag bei der nationalen Behörde zu stellen und wird von dieser an die Kommission weitergeleitet; die Kommission kann den Antrag nur genehmigen, wenn auch der Mitgliedstaat sich entschieden hat, das Projekt zu fördern (und damit einen Teil der Finanzierung übernimmt). Im Fall des X lehnt der Mitgliedstaat eine solche Förderung ab; daraufhin weist auch die EUKommission den Antrag ab, obwohl die Genehmigungsvoraussetzungen im Übrigen vorliegen. Gegen diese Entscheidung der Kommission erhebt X Klage vor dem EuG; er macht geltend, dass die ablehnende Entscheidung der nationalen Behörde gegen EU-Recht verstoßen habe. Die Kommission hätte dies berücksichtigen und deshalb über die Förderung eine eigene positive Entscheidung fällen müssen: Dies sei der einzige Weg, die Einhaltung des EU-Rechts sicherzustellen, denn nach nationa-
212 Die grundlegende Entscheidung EuGH, Rs 314/85, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost betrifft ein solches Verfahren aus dem Zollbereich. 213 Dazu auch Lecheler/Gundel Übungen, S 95 ff. 214 Lecheler/Gundel Übungen, S 96 f; zu diesem Hintergrund der „Textilwerke Deggendorf“-Rspr s Rn 31; AA allerdings Nehl Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, S 429 ff, der stets die Wahrnehmung der Direktklage verlangt (aber auch konstatiert, dass dies nicht der Praxis des EuGH entspricht). Werden tatsächlich eine Nichtigkeitsklage und ein nationales Gerichtsverfahren parallel geführt, kann das nationale Gericht anstatt einer Gültigkeitsvorlage auch die Aussetzung des Verfahrens wählen, so EuGH, Rs C-375/07, Slg 2008, I-8691, Rn 64 ff – Heuschen & Schrouff.
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lem Prozessrecht werde die Entscheidung der nationalen Behörde als gerichtlich nicht selbständig angreifbare Zwischenentscheidung gewertet.
69 Die Besonderheit dieser Fälle liegt darin, dass die von den nationalen Behörden
getroffenen (Teil-)Entscheidungen nicht von der EU-Gerichtsbarkeit kontrolliert werden können: Der EuGH schließt eine solche Kontrolle über das nationale Verwaltungshandeln im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen die Kommissionsentscheidung aus, da eine solche Bewertung des mitgliedstaatlichen Verhaltens ausschließlich im Vertragsverletzungsverfahren (Art 258 f AEUV) vorgesehen sei.215 70 Dennoch verlangt die EU-rechtliche Garantie des effektiven und lückenlosen Rechtsschutzes, dass eine gerichtliche Kontrolle der staatlichen Entscheidung am Maßstab des EU-Rechts gewährleistet ist: Diese Überprüfung ist die Aufgabe der nationalen Gerichte, denen allgemein die Kontrolle der Behörden bei der Anwendung des EU-Rechts obliegt;216 sie können bzw müssen ggf den EuGH mit Fragen der Auslegung des zugrunde liegenden EU-Rechts befassen (Art 267 III AEUV). Der Vertrag von Lissabon hat diese Verantwortung der nationalen Rechtsordnungen und der nationalen Gerichte durch die Einfügung von Art 19 I UAbs 2 EUV ausdrücklich bestätigt.
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Lösung Fall 4: Die Klage des X gegen die ablehnende Kommissionsentscheidung ist zulässig. EuG/EuGH werden sie jedoch als unbegründet abweisen, sofern diese Entscheidung keine eigenen Mängel aufweist. Weder die Kommission noch der EuGH werden danach die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Mitgliedstaats überprüfen: Diese Kontrolle obliegt den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten. Dies gilt auch dann, wenn das nationale Verfahrensrecht diese Entscheidungen als unselbständige (und damit nicht eigenständig überprüfbare) Vorbereitungshandlungen versteht; die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sind unionsrechtlich verpflichtet, die Zulässigkeit entsprechender Klagen sicherzustellen. Auch in diesem Fall hat der Gerichtshof die Forderung lückenlosen Rechtsschutzes zwar anerkannt, sie aber als Verpflichtung der Mitgliedstaaten zugeordnet.
215 S bereits EuGH, Rs C-347/87, Slg 1990, I-1083, Rn 16 f – Triveneta Zuccheri m Anm Flynn, CMLRev 28 (1991), 444 ff; EuGH, verb Rs C-121/91 u C-122/91, Slg 1993, I-3873, Rn 55 ff – CT Control BV u JCT Benelux BV: Solche Überprüfungen sind ausschließlich im Vertragsverletzungsverfahren zulässig. 216 EuGH, Rs C-97/91, Slg 1992, I-6313, Rn 13 ff – Oleificio Borelli; dazu etwa García de Enterría, YEL 13 (1993), 19 ff; Galetta in Magiera/Sommermann (Hrsg) Verwaltung in der Europäischen Union, 2001, 63 (76 ff); Nehl Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, S 432 ff; ebenso zB EuGH, Rs C-151/01 P, Slg 2002, I-1179, Rn 47 – La Conqueste SCEA.
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Während die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der nationalen Behörde vor den zu- 72 ständigen Gerichten geprüft wird, wird allerdings die ablehnende Kommissionsentscheidung durch Zeitablauf bestandskräftig werden, Art 263 VI AEUV.217 Hat der nationale Rechtsbehelf schließlich Erfolg, so entsteht damit aber eine neue Sachlage, so dass die Kommission ohne Bindung an ihre vorangehende Entscheidung erneut über die Förderung entscheiden kann. Damit ist zwar auch in diesen Fällen im Ergebnis der Rechtsschutz gegen jeden Teil der Entscheidung gesichert; der Weg dazu ist aber aufwendig und kompliziert. Diese Lösung hat der EuGH bis in jüngste Zeit bestätigt218. Daneben hat sich al- 73 lerdings in jüngerer Zeit eine zweite Rechtsprechungslinie entwickelt, die das Problem der nationalen Verfahrensbeiträge zu einer auf Unionsebene getroffenen Entscheidung in anderer Weise löst: Mehrere Entscheidungen des Gerichtshofs zur EUBankenaufsicht behandeln einen sekundärrechtlich vorgesehenen Entscheidungsvorschlag einer nationalen Zentralbank gegenüber der EZB in einem Verfahren, das mit einer Entscheidung der EZB abgeschlossen wird, als nicht eigenständig vor den nationalen Gerichten angreifbaren Teil des Verfahrens auf Unionsebene219. Die Unionsrechtskonformität des nationalen Verfahrensbeitrags muss dann notwendig von den Unionsgerichten inzident geprüft werden. Beide Rechtsschutzmodelle stehen nach dieser Entwicklung in gewisser Weise als Alternativen nebeneinander; welchem Modell die jeweilige Verfahrensgestaltung zuzuordnen ist, wird maßgeblich davon abhängen, inwieweit das jeweilige Sekundärrecht das nationale Verwaltungshandeln als eigenständigen Verfahrensabschnitt ausgestaltet.
V. Zusammenfassung Die Justiz- und Verfahrensgrundrechte des EU-Rechts basieren in weiten Bereichen 74 auf den Direktiven der EMRK, die in die Grundrechtecharta übernommen wurden; im Vordergrund stehen die Gewährleistungen eines fairen Verfahrens und des effektiven Rechtsschutzes, aus denen sich zahlreiche Ableitungen (rechtliches Gehör,
217 Auch eine vorsorglich parallel erhobene Nichtigkeitsklage gegen die Kommissionsentscheidung könnte dies nicht verhindern: Sie wäre – wie im Fall Borelli – als unbegründet abzuweisen. 218 S zuletzt EuGH, Urt v 29.1.2020, Rs C-785/18 – GAEC Jeanningros; dazu mwN Germelmann/Gundel, BayVBl 2021, 583 (595); s auch noch Gundel, EWS 2022, 241 (244 f). 219 EuGH (GK), Urt v 19.12.2018, Rs C-219/17, EuZW 2019, 128 m Anm Gundel – Berlusconi und Fininvest; dazu Germelmann/Gundel, BayVBl. 2019, 583 (592 f); EuGH (GK), Urt v 3.12.2019, Rs C-414/18, EuZW 2020, 30 m Anm v Graevenitz/Krieger – Iccrea Banca/Banca d’Italia; dazu Germelmann/Gundel, BayVBl. 2020, 613 (616); s. auch Mersch, EuZW 2020, 781 ff; Brito Bastos, EUConstLRev 16 (2020), 63 ff; Markakis, Review of European Administrative Law 13 (2020), 109 ff.
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2. Teil: Der Europäische Grundrechtsschutz
Rechtsschutz in angemessener Zeit etc) ergeben. Diese Gewährleistungen werden ergänzt und ggf verstärkt durch die Grundsätze der gleichwertigen und effektiven Durchsetzung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten (Art 4 III EUV); in anderen Konstellationen müssen sie mit dem Grundsatz der Effektivität – der sich auch gegen die Verfahrensposition des Einzelnen kehren kann – in Ausgleich gebracht werden. Anders als andere Grundrechte des EU-Rechts, bei denen die Bindung des EU-Gesetzgebers im Mittelpunkt steht, wirken die Justiz- und Verfahrensgrundrechte vor allem als Beschränkung der Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, die das EU-Recht vollziehen.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union § 12 Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten Leitentscheidungen: EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3 ff – van Gend & Loos; Rs 6/64, Slg 1964, 1251 ff – Costa/ENEL; Rs 8/74, Slg 1974, 837 ff – Dassonville; Rs 33/74, Slg 1974, 1299 ff – van Binsbergen; Rs 36/74, Slg 1974, 1405 ff – Walrave und Koch; Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Rewe-Zentral AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein („Cassis de Dijon“); Rs C-340/89, Slg 1991, I-2357 ff – Vlassopoulou; verb Rs C-267/91 u C-268/91, Slg 1993, I-6097 ff – Keck u Mithouard; Rs C-384/93, Slg 1995, I-1141 ff – Alpine Investments; Rs C-55/94, Slg 1995, I-4165 ff – Gebhard; Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Rs C368/95, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1; Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2; Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1; Rs C-483/99, Slg 2002, I-4781 ff – Elf-Aquitaine; Rs C-60/00, Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6; Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Rs C-322/01, Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4; Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13; Rs C-142/05, Slg 2009, I-4273 ff – Mickelsson u Roos; Rs C-54/08, Slg 2011, I-4355, Rn 78 ff – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3; Urt v 12.7.2012, Rs C-171/11, EuZW 2012, 797 – Fra.bo = JK 2013, AEUV Art 34/46; Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15 – AGET Iraklis; Urt v 8.6.2017, Rs C-296/15 – Medisanus; Urt v 14.11.2018, Rs C-342/17 – Memoria Srl; Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17 – Österreich/Deutschland (Pkw-Maut); Urt v 3.2.2021, Rs C-555/19 – Fussl Modestraße Mayr/ProSieben Sat.1.
Schrifttum: Barnard The Substantive Law of the EU. The Four Freedoms, 7. Aufl 2022; Gundel Die Rechtfertigung von faktisch diskriminierenden Eingriffen in die Grundfreiheiten des EGV, JURA 2001, 79; Jarass Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten, EuR 1995, 202; ders Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten II, EuR 2000, 705; Martucci Droit du marché intérieur de l‘Union européenne, 2021; Ruffert Die Grundfreiheiten im Recht der Europäischen Union, JuS 2009, 97; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999.
I. Eigenart und Stellung der Grundfreiheiten im Gefüge des Unionsrechts 1. Bedeutung der Grundfreiheiten Die Grundfreiheiten der Europäischen Union (EU) gehören zu den Kerngewährleis- 1 tungen des Binnenmarktes. Sie haben in der Vertiefung der europäischen Integration und auch bei der Entwicklung des Unionsrechts durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stets eine wesentliche Rolle gespielt. Auch in Anbetracht der erheblichen Ausdifferenzierung des europäischen Wirtschaftsrechts durch sekundärrechtliche Harmonisierung stehen sie weiterhin im Zentrum der unionsDirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann https://doi.org/10.1515/9783110716740-034
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
rechtlichen Wirtschaftsverfassung.1 Als primärrechtliche Kerngarantien der Marktfreiheiten stellen sie gleichsam die Leitplanken für das europäische Binnenmarktrecht dar. Ihre Bedeutung für die europäische Integration leiten sie aus dieser zentralen Bedeutung für den Binnenmarkt her. Die Zielsetzungen der Union (Art 3 EUV) umfassen zwar heute im Einklang mit der übergeordneten Integrationsrichtung „einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art 1 UAbs 2 EUV) und verglichen mit den Anfängen der Gemeinschaftsverträge deutlich mehr als lediglich eine wirtschaftliche Kooperation; diese Inhalte sind allerdings unverändert von ausschlaggebender Bedeutung, und der wirtschaftliche Aspekt der Integration stellt weiterhin auch in der Außenwahrnehmung das entscheidende Charakteristikum der Union dar. So ist sie gerade auch eine Wirtschafts- und Währungsunion, die insbesondere einen Binnenmarkt umfasst (Art 3 III UAbs 1, IV EUV). Der Binnenmarkt bezeichnet dabei nach der Definition des Art 26 II AEUV einen Raum, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist.2 In ihm ist ein Grad der Liberalisierung wirtschaftlicher Tätigkeiten in den genannten Bereichen erreicht, von dem das globale Wirtschaftsrecht weit entfernt ist.3 Der Binnenmarkt, der auf das Gebiet der EU beschränkt ist, und die Grundfreiheiten, die in aller Regel4 nur Binnenmarktfälle erfassen, machen neben den institutionellen Besonderheiten der Union damit in besonderem Maße ihre spezifische Natur aus. Dabei wird der Binnenmarkt gemeinhin als großer politischer und ökonomischer Erfolg angesehen, der für die gesamte Union von essentieller Bedeutung ist.5 Dies stellt freilich nicht die Notwendigkeit in Frage, kontinuierliche Verbesserungen und Anpassungen an neue tatsächliche Herausforderungen vorzunehmen, um weiterhin bestehende Hindernisse abzubauen.6 2 Die Grundfreiheiten schützen insbesondere in ihrer (negativen) Abwehrfunktion7 vor Beeinträchtigungen des grenzüberschreitenden europäischen Wirt-
1 Vgl Martucci Droit du marché intérieur de l‘Union européenne, 2021, Rn 19; auch K ingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 13; zur Diskussion ferner Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 18 Rn 1 ff. 2 Zu den Begrifflichkeiten auch Martucci Droit du marché intérieur de l‘Union européenne, 2021, Rn 23 f. 3 Vgl zu Stand und Herausforderungen des WTO-Rechts etwa Matsushita/Schoenbaum/Mavroidis/ Hahn The World Trade Organization, 3. Aufl 2015, S 18 ff. 4 Zur Ausnahme der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit s noch unten Rn 95. 5 Vgl jüngst wieder Entschließung des Europäischen Parlaments v 18.1.2023 zum 30-jährigen Bestehen des Binnenmarkts: Würdigung der Errungenschaften und Ausblick auf künftige Entwicklungen, P9_TA(2023)0007. 6 S dazu etwa in jüngerer Zeit wieder Mitteilung der Kommission „Hindernisse für den Binnenmarkt ermitteln und abbauen“ v 10.3.2020, COM(2020) 93 final. 7 Näher zu den Funktionen noch unten Rn 49 ff.
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schaftsverkehrs, wobei sie in der Regel, jedoch nicht ausnahmslos8, Behinderungen durch die Mitgliedstaaten in den Blick nehmen. Die Bedeutung der Grundfreiheiten für den Binnenmarkt sowie die Relevanz eines funktionsfähigen Binnenmarktes für die europäische Integration hat dazu geführt, dass auch privates Handeln, welches die Marktfreiheiten beeinträchtigen kann, der Prüfung am Maßstab der Grundfreiheiten unterzogen wird. Dies wiederum führt dazu, dass die Grundfreiheiten nicht nur die Regulierungsspielräume der Mitgliedstaaten, sondern auch privatautonomes Handeln im Interesse der Gewährleistung einer grenzüberschreitenden Freiheit erheblich einengen. Widerstreitende Regulierungsinteressen insbesondere auf den Gebieten des Wirtschafts- und Sozialrechts müssen auf der Rechtfertigungsebene oder im Wege der sekundärrechtlichen Harmonisierung mit den Binnenmarktfreiheiten in Ausgleich gebracht werden.9 Dabei ist auch die EU selbst an die Grundfreiheiten gebunden, was wiederum bedeutet, dass auch ihre Handlungen sich an den Grundsätzen des Binnenmarkt- und Wettbewerbsrechts zu orientieren haben. Auch ihr stehen damit nicht unbegrenzte Möglichkeiten der Marktregulierung zur Verfügung, und auch sie ist gehalten, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Dabei sind die größeren rechtlichen Spielräume, die ihr aufgrund des Umstands eingeräumt sind, dass sie den Gesamtbinnenmarkt im Blick hat (Rn 74), nicht unbegrenzt. Überdies stellen das Binnenmarktziel und mit ihm die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht auch für die Unionsorgane Wertmaßstäbe dar, die für eine weitestgehende Freiheit marktlicher Prozesse streiten. Charakteristische Beispielsfälle aus der Rechtsprechung für unzulässige Bin- 3 nenmarktbeeinträchtigungen sind Importverbote für nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraute Biere10 oder Tabakwaren aus dem EU-Ausland,11 Einreiseverbote von Arbeitssuchenden aus anderen Mitgliedstaaten,12 Niederlassungsverbote für im EU-Ausland gegründete Gesellschaften sowie Sitzverlegungsverbote,13
8 Zu den Adressaten unten Rn 73 ff. 9 S noch unten Rn 149. 10 EuGH, Rs 178/84, Slg 1987, 1227, Rn 25 – Kommission/Deutschland. Vergleichbar zB EuGH, Rs 407/ 85, Slg 1988, 4233 ff – Drei Glocken (Zulässigkeit einer Einführung von Teigwaren nach Italien mit anderen Bestandteilen als in Italien vorgeschrieben). 11 EuGH, Urt v 26.4.2012, Rs C-456/10, EuZW 2012, 508 – ANETT = JK 2013, AEUV Art 34/3. 12 EuGH, Rs 39/86, Slg 1988, 3161, Rn 32 – Lair. 13 EuGH, Rs C-212/97, Slg 1999, I-1459, Rn 18 ff – Centros; Rs C-208/00, Slg 2002, I-9919, Rn 82 – Überseering = JK 2003, EGV Art 43/3; Rs C-167/01, Slg 2003, I-10155, Rn 101 – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; vgl auch EuGH, Urt v 12.7.2012, Rs C-378/10, EuZW 2012, 621, Rn 42 ff – Vale Epitesi (grenzüberschreitende Umwandlung von Gesellschaften) = JK 2013, AEUV Art 49, 54/1; Urt v 25.10.2017, Rs C-106/16 – Polbud = NJW 2017, 3639 m Bespr Kieninger S 3624 ff = EuZW 2017, 906 m Bespr Stelmaszczyk S 890 ff; dazu Barsan, Europe 3/2018, 6 ff; d’Avout, Rec Dalloz 2017, 2512 ff; Rammeloo, 25 MJ (2018),
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Ablehnungen der Kostenerstattung für ärztliche Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat,14 bestimmte staatliche Glücksspielmonopole15 sowie Genehmigungsvorbehalte für den Grundstückserwerb durch Ausländer oder für den Verkauf von Gesellschaftsanteilen16. Bezogen auf privates Handeln hat der Gerichtshof ebenfalls Vereinbarungen unter Privaten, wie etwa Ausländerregelungen der Berufsfußballverbände in Europa,17 die die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigten, für mit dieser Grundfreiheit unvereinbar gehalten. Zu beachten ist bei den Fällen des Binnenmarktrechts stets, dass die jeweils einschlägige unmittelbar anwendbare (Rn 10 ff) unionsrechtliche Verbotsnorm immer die konkrete Grundfreiheit und niemals die allgemeine Norm über den Binnenmarkt in Art 26 AEUV ist. Art 26 AEUV erfüllt als Zielbestimmung nicht die Kriterien der hinreichenden Bestimmtheit und Unbedingtheit und ist daher nicht unmittelbar anwendbar; die Norm ist überdies auch keine zuständigkeitsbegründende Rechtsgrundlage für den Erlass von Sekundärrecht.18
2. Die einzelnen Grundfreiheiten 4 Die Grundfreiheiten des europäischen Unionsrechts sind Binnenmarktfreiheiten,
haben also einen wirtschaftlichen Hintergrund und eine wirtschaftliche Zielsetzung. Sie sind nicht im Sinne der „Menschenrechte und Grundfreiheiten“ zu verstehen, die den Gegenstand der EMRK bilden und in ihren offiziellen Titel benannt sind. Das menschenrechtliche Verständnis der Grundfreiheiten, welches grundlegende Freiheitsrechte bezeichnet, auf der einen Seite sowie die Marktfreiheiten
87 ff; Simon, Europe 12/2017, 27 ff; monographisch Combet Le droit d’établissement des sociétés en droit de l’Union européenne, 2017. 14 EuGH, Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931, Rn 35 – Kohll (→ Rn 152 Fall 14); Rs C-157/99, Slg 2001, I-5473, Rn 97 ff – Smits u Peerboms; Rs C-385/99, Slg 2003, I-4509 – Müller-Fauré; Rs C-372/04, Slg 2006, I-4325, Rn 89 ff – Watts = JK 2007, EGV Art 49/15; Rs C-255/09, Slg 2011, I-10547, Rn 60 ff – Kommission/Portugal. 15 ZB EuGH, Rs C-316/07, Slg 2010, I-8069 ff – Markus Stoß ua = JK 2011, AEUV Art 49/1 (→ Rn 159 Fall 15); jüngst EuGH, Urt v 18.5.2021, Rs C-920/19 – Fluxus sro ua = NVwZ 2021, 1049 m Anm Sarafi. 16 Zur Vereinbarkeit „Goldener Aktien“ mit der Kapitalverkehrsfreiheit vgl EuGH, Rs C-367/98, Slg 2002, I-4731 ff – Kommission/Portugal = JK 2002, EGV Art 56/1; Rs C-483/99, Slg 2002, I-4783 – Kommission/Frankreich = RdE 2002, 277 m Anm Gundel = EWS 2002, 328 m Anm Ebke/Traub; Rs C-503/99, Slg 2002, I-4809 – Kommission/Belgien. S auch EuGH, Rs C-112/05, Slg 2007, I-8995 – Kommission/Deutschland = JK 2008, EGV Art 56/5 (Verstoß des VW-Gesetzes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit). Vgl aber auch zur Beseitigung der unionsrechtswidrigen Bestimmungen des VW-Gesetzes EuGH, Urt v 22.10.2013, Rs C-95/12, EuZW 2013, 946 – Kommission/Deutschland. 17 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 69 ff – Bosman. 18 Vgl nur Schröder in: Streinz, EUV/AEUV, Art 26 AEUV Rn 8.
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auf der anderen Seite haben zwar eine strukturelle Verwandtschaft und sind beide auf die Erweiterung von persönlichen Handlungsräumen ausgerichtet. Sie sind allerdings wegen der Unterschiede in der konkreten Zielsetzung und ihrer Reichweite klar voneinander zu trennen. Dem entspricht es, dass auch die europäischen Grundrechte der GRCh eine andere Kategorie der Rechte im Vergleich zu den Grundfreiheiten des Binnenmarktes darstellen. Der Begriff der „Grundfreiheit“ wird dabei im Text des AEUV nicht verwendet. Er ist dennoch seit langem anerkannt und fasst die folgenden Gewährleistungen zusammen: die Freiheit des Warenverkehrs (Art 28, 34, 35 AEUV; → Epiney, § 13 Rn 7 ff), die Freiheit des Personenverkehrs, bestehend aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art 45 AEUV; → Becker, § 14 Rn 1 ff) und der Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV; → Tietje, § 15), die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art 56 AEUV; → Pache, § 16) und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 63 AEUV; → v Wilmowsky, § 17). Auch die Vorschriften über die Zollunion, die im Binnenmarkt finanzielle Be- 5 lastungen von Waren wegen des Grenzübertritts ohne jede Rechtfertigungsmöglichkeit19 verbieten (Art 28, 30 AEUV),20 gehören systematisch zum Binnenmarktrecht und sind im Titel II über die Warenverkehrsfreiheit eingeordnet. Während Art 30 AEUV Ein- und Ausfuhrzölle sowie Abgaben gleicher Wirkung verbietet (sog tarifäre Handelshemmnisse), untersagen die Art 34, 35 AEUV alle mengenmäßigen Einund Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung (nichttarifäre Handelshemmnisse). Die Zollunion nimmt im Rahmen der Grundfreiheiten eine besondere Rolle ein, da Art 30 AEUV zwar den Bestimmungen über das Verbot nichttarifärer Handelshemmnisse in den Art 34, 35 AEUV strukturell vergleichbar ist. Die Verknüpfung mit der nach außen wirkenden Dimension des Gemeinsamen Zolltarifs (Art 31, 207 AEUV) hebt die Vorschriften über das Verbot von Binnenzöllen und zollgleichen Abgaben allerdings aus dem Kreis der reinen Binnenmarktfreiheiten heraus. Auch in Bezug auf das Recht auf Freizügigkeit der Unionsbürger (Art 21 AEUV), welches vom Gerichtshof je nach Fallkonstellation entweder alleine oder iVm dem Diskriminierungsverbot (Art 18 AEUV) geprüft wird (→ Buckler, § 10.3 Rn 14 ff), finden sich Stimmen, die hierin eine weitere Grundfreiheit sehen.21 Auch der Gerichtshof hat diese Terminologie bereits verwendet,22 wenngleich eher seine Aussage im Zentrum steht, dass der „Unionsbürgerstatus […] bestimmungsgemäß
19 Jüngst wieder EuGH, Urt v 6.12.2018, Rs C-305/17 – FENS; dazu Rigaux, Europe 2/2019, 22 ff. 20 Anerkannt sind hier nur Tatbestandsausnahmen. Vgl dazu EuGH, verb Rs 2/69 u 3/69, Slg XV (1969), 211 – Diamantarbeiders; Rs 46/76, Slg 1977, Rn 4 f – Bauhuis; Rs C-78/90 bis C-83/90, Slg 1992, I-1847 – Compagnie Commerciale de l’Ouest. 21 Vgl Obwexer Grundfreiheit Freizügigkeit, 2009; Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S 122 ff. Ähnl auch Streinz ER, Rn 1027, 1030. 22 Vgl EuGH, Rs C-224/98, Slg 2002 I-6191, Rn 29 – D’Hoop.
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der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein“ soll.23 In der Tat liegt bei dem Freizügigkeitsrecht eine enge strukturelle Verwandtschaft zu den Personenfreizügigkeiten vor. Auch unterliegt keinem Zweifel, dass das Zusammenwirken von allgemeiner Unionsbürgerfreizügigkeit und Diskriminierungsverbot erhebliche, mit den Grundfreiheiten strukturell vergleichbare Auswirkungen insbesondere im Hinblick auf das Aufenthaltsrecht und die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch Unionsbürger in anderen Mitgliedstaaten hat. Doch fehlt bei diesen Rechten der spezifische Bezug zu einer wirtschaftlichen Tätigkeit;24 es handelt sich hierbei daher anders als bei den Grundfreiheiten ieS nicht um spezielle „Marktbürgerrechte“,25 sondern um Rechte, die jedem Unionsbürger unabhängig von seiner Tätigkeit zustehen. Hieraus rechtfertigt sich auch, dass die nicht wirtschaftlich in den Mitgliedstaat integrierten Unionsbürger in Bezug etwa auf Sozialleistungen den Inländern nicht in demselben Maße gleichgestellt sind26 (Rn 17 ff) wie etwa die Wanderarbeitnehmer.27 Die Unionsbürgerrechte sind daher zwar weiterhin in territorialer Hinsicht binnenmarktbezogen, stellen aber der Sache nach Grundrechte dar, die den allgemeinen Status der Bürger regeln. Dementsprechend finden einige von ihnen auch ihr gleichlautendes Pendant in der GRCh.28 6 Die Anwendungsbereiche der klassischen Grundfreiheiten sind klar voneinander abgrenzbar. Die Warenverkehrsfreiheit bezieht sich in erster Linie auf den grenzüberschreitenden Handel mit Produkten,29 dh von körperlichen oder sonstigen handelbaren Gegenständen wie zB Elektrizität. Dabei ist nach der Rechtsprechung allein der Umstand, dass die Produkte tatsächlich Gegenstand des Handelsverkehrs sind, für die Warendefinition einschlägig (Rn 97). Die Waren müssen aus der Union stammen oder sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden
23 Grundl EuGH, Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193, Rn 31 – Grzelczyk. 24 Ebenso Streinz ER, Rn 820. 25 Zum Begriff des „Marktbürgers“ als spezifischen Funktionsbegriff in den Anfangsjahren der europäischen Integration Ipsen/Nicolaysen, NJW 1964, 339 (340 f). 26 Vgl aber für die Zulässigkeit einer Differenzierung von Sozialleistungen nach Lebenshaltungskosten am Wohnort EuGH, Urt v 16.6.2022, Rs C-328/20 – Kommission/Österreich = EuZW 2022, 806 m Anm v Brocke. 27 Vgl für Wanderarbeitnehmer etwa die VO 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union; aus der Rechtsprechung EuGH, Rs 9/74, Slg 1974, 773 – Casagrande; verb Rs 389/ 87-390/87, Slg 1989, 723 – Echternach; Rs 263/86, Slg 1988, 5365 – Humbel; Rs C-76/05, Slg. 2007, I-6849 – Schwarz; Urt v 20.6.2013, Rs C-20/12 – Giersch; Urt v 19.4.2014, Rs C-507/12, Rn 39 ff – Saint Prix; Urt v 14.12.2016, Rs C-238/15 – Linares Verruga ua; dazu Bruck, Europe 2/2017, 18 f. Für (ehemalige) Selbständige (bezogen auf nachwirkenden Schutz) EuGH, Urt v 20.12.2017, Rs C-442/16 – Florea Gusa; dazu Rigaux, Europe 2/2018, 49 f. 28 Näher dazu → Kadelbach, § 10.2 Rn 4 ff, 40 ff. Vgl auch Martucci Droit du marché intérieur de l‘Union européenne, 2021, Rn 317. 29 Vgl Jarass, EuR 1995, 202 (205).
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(Art 28 II, Art 29 AEUV).30 Dann sind sie den ursprünglichen Unionswaren gleichgestellt.31 Aus dem Verbot der mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 34 AEUV) ergibt sich nicht nur ein Diskriminierungsverbot, sondern ein weites Beschränkungsverbot nach Maßgabe der Dassonville-Formel des EuGH, welches nur bezogen auf bestimmte Vertriebsmodalitäten im Anwendungsbereich der Keck-Rspr erneut auf ein Diskriminierungsverbot und dabei de facto in vielen Fällen auf ein Verbot von Marktzutrittshindernissen verengt wird (Rn 42). Die Warenverkehrsfreiheit ist überdies die Grundlage des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Erzeugnissen, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden.32 Die Rspr zu den Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung nach Art 35 AEUV folgt einer anderen Dogmatik; Dassonville- und Keck-Rspr sind auf sie nicht übertragbar. In den (praktisch eher seltenen) Fällen mit Ausfuhrregelungen sieht die Rspr nun, nachdem sie anfänglich auf die Regulierung von Warenströmen abgestellt hatte, den Tatbestand des Art 35 AEUV als Verbot direkter und indirekter Diskriminierungen an (Rn 38). Die Personenverkehrsfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Nie- 7 derlassungsfreiheit sind in besonderem Maße Ausdruck der Integrationstiefe des europäischen Binnenmarktes, weil sie Konstellationen in den Blick nehmen, in denen nicht lediglich Waren die Grenze überschreiten, sondern natürliche und juristische Personen perspektivisch auf Dauer in den Markt und die Rechts- und Gesellschaftsordnung eines anderen Mitgliedstaates zu integrieren sind. Die Herausforderung dieser Freizügigkeit, die jeder Mitgliedstaat anzunehmen hat und die nicht zu einem geringen Teil eine Mitursache für die Abkehr des Vereinigten Königreichs von der Union gewesen ist,33 gehört zu den Kernprinzipien und den prägenden Charakteristika des europäischen Binnenmarktrechts. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit sind zwei unterschiedliche Grundfreiheiten, die allerdings gemeinsame dogmatische Strukturen aufweisen. Sie sind primär einschlägig, wenn
30 Waren stammen aus der EU, wenn sie in einem Mitgliedstaat vollständig gewonnen, hergestellt oder wesentlich be- oder verarbeitet worden sind, vgl Art 60 VO 952/2013 (Zollkodex der Union). Im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden sich diejenigen Waren aus dritten Ländern, für welche die Einfuhr-Förmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind (Art 29 AEUV). 31 EuGH, Rs 41/76, Slg 1976, 1921, Rn 14/21 – Donckerwolcke. 32 Vgl EuGH, Rs 174/82, Slg 1983, 2445, Rn 26 – Sandoz; Rs 120/78, Slg 1979, 649, Rn 6, 14 f – Rewe-Zentral AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein („Cassis de Dijon“); verb Rs C-267/91 u C-268/91, Slg 1993, I-6097 Rn 16 f – Keck u Mithouard; Rs C-110/05, Slg 2009, I-519, Rn 34 – Kommission/Italien. S aus der Lit Möstl, CMLRev 47 (2010), 405 ff; Snell in: Barnard/Peers, EU, S 343 ff; Streinz ER, Rn 1005 ff. 33 Vgl Lübke in: Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel, Brexit, 2. Aufl 2020, § 11 Rn 1 mwN.
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natürliche Personen (Unionsbürger iSd Art 20 AEUV) oder (im Falle der Niederlassung auch) Gesellschaften (Art 54 AEUV; → Tietje, § 15 Rn 6 ff) in einen anderen Mitgliedstaat übersiedeln wollen, um sich dort unselbstständig (dh in abhängiger Beschäftigung als Arbeitnehmer34) oder dauerhaft selbstständig im Wege der Niederlassung auf der Grundlage einer festen Einrichtung wirtschaftlich zu betätigen. Mit dieser Garantie sind weitere Rechtspositionen verbunden, die erforderlich sind, um die wirtschaftliche Betätigung auszuüben zu können. Beispielhaft benennt Art 45 III lit a, b, d AEUV das Recht, sich um im EU-Ausland angebotene Stellen zu bewerben, sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet zu verbleiben.35 Wesentlich für die praktische Wirksamkeit der Freizügigkeit des Arbeitnehmers ist zudem, dass auch seinen Familienangehörigen die Freizügigkeitsgarantien zugutekommen.36 Auch Arbeitgeber37 und Arbeitsvermittler38 können sich auf die Freiheit berufen. Die Niederlassungsfreiheit schützt die selbstständig erwerbstätigen Unionsbürger39 und erstreckt sich auch auf die Gründung und Leitung von Unternehmen (Art 49 U A II AEUV) sowie von Agenturen und Zweigniederlassungen. In der Rechtsprechung haben sich die Gewährleistungsgehalte der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit von einem engeren Diskriminierungsverbot hin zu Beschränkungsverboten erweitert, jedenfalls soweit Marktzutrittshindernisse erfasst sind.40 Die Berechtigten werden sowohl vor Reglementierungen des Wegzugsstaates41 als auch des Zuzugsstaates42 geschützt.
34 Vgl Art 1 I VO 492/2011 („Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis“). 35 Näher → Becker, § 14 Rn 19 ff. 36 Näher → Becker, § 14 Rn 29. Zu den Kindern vgl EuGH, Rs C-413/99, Slg 2002, I-7091, Rn 52 – Baumbast; Rs C-480/08, Slg 2010, I-1107, Rn 60 ff – Teixeira. Zu dieser Frage existiert neben umfangreicher Rechtsprechung auch ein dichtes Netz sekundärrechtlicher Garantien; vgl etwa Art 10 VO 492/2011, Art 7 RL 2004/38. 37 EuGH, Rs C-350/96, Slg 1998, I-2521, Rn 16 ff – Clean Car Autoservice; → Becker, § 14 Rn 28. 38 EuGH, Rs C-208/05, Slg 2007, I-181, Rn 24 – ITC = JK 2007, EGV Art 39/6. 39 Geschützt wird sogar die selbständig ausgeübte Prostitutionstätigkeit, vgl EuGH, Rs C-268/99, Slg 2001, I-8615, Rn 32 ff – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2. 40 S dazu noch unten Rn 43 ff. 41 Vgl zB EuGH, Rs C-9/02, Slg 2004, I-2409, Rn 45 ff – de Lasteyrie du Saillant = JK 2004, EGV Art 43/5 (Verbot der Wegzugsbesteuerung). Vgl aber auch EuGH, Rs C-210/06, Slg 2008, I-9641 ff – Cartesio, wonach die Verhinderung des Wegzugs einer Gesellschaft wegen nationalen Rechts, das den Gesellschaftssitz im Inland vorschreibt, keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt. 42 Vgl zB EuGH, Rs C-167/01, Slg 2002, I-10155, Rn 105 – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4 (Gründung einer Gesellschaft im EU-Ausland zwecks Umgehung der Vorschriften des inländischen Gesellschaftsrechts); Urt v 12.7.2012, Rs C-378/10, EuZW 2012, 621, Rn 48 ff – VALE Építési (Umwandlung einer dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegenden Gesellschaft in eine inländische Gesellschaft mittels Gründung).
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Die Dienstleistungsfreiheit ist strukturell der Warenverkehrsfreiheit insoweit 8 ähnlich, als sie sich auf den Austausch von – in ihrem Falle freilich unverkörperten – Leistungen bezieht und der Aspekt der Freizügigkeit von Personen nur akzessorisch und, verglichen mit den Personenverkehrsfreiheiten, zeitlich begrenzt relevant wird. Dennoch wird im europäischen Binnenmarktrecht, wie dies auch im internationalen Handelsrecht der Fall ist,43 zwischen Warenhandel und Dienstleistungserbringung klar unterschieden. Insbesondere im Bereich sekundärrechtlicher (Teil-)Harmonisierung bestehen Sonderregeln mit hoher Praxisrelevanz. Dies gilt vornehmlich für die DienstleistungsRL 2006/123,44 die nach der nun eindeutigen Rspr des EuGH auch – anders als die Grundfreiheiten der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheiten selbst, für die sie Teilharmonisierungen vornimmt – auf reine Inlandssachverhalte angewandt werden kann.45 Die Dienstleistungsfreiheit bezieht sich auf in der Regel entgeltlich erbrachte Leistungen im grenzüberschreitenden Verkehr, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen (Art 57 I AEUV; → Tietje, § 15 Rn 83ff ) und soweit nicht der besondere Bereich des Verkehrs betroffen ist (Art 58 I, Art 90 ff AEUV).46 Die Formulierung des Vertragstextes legt auf den ersten Blick eine Subsidiarität der Dienstleistungsfreiheit nahe; in der Sache wendet der EuGH jedoch zur Feststellung der jeweils einschlägigen Grundfreiheit eine Schwerpunktbetrachtung an (Rn 100 ff). Die Dienstleistungen können auf unterschiedliche Weise erbracht werden. Geschützt werden dabei sowohl die Leistungserbringer als auch die Leistungsempfänger. Es ist möglich, dass sich entweder der Leistungserbringer (aktive Dienstleistungsfreiheit) oder der Leistungsempfänger (passive Dienstleistungsfreiheit) vorübergehend in den anderen Mitgliedstaat begibt. Ebenso können Leistungserbringer und Leistungsempfänger zum Zwecke der Erbringung der Dienstleistung gemeinsam einen dritten Mitgliedstaat aufsuchen.47 In diesen drei Fallgruppen garantiert die Dienstleistungsfreiheit auch die für die
43 Vgl Matsushita/Schoenbaum/Mavroidis/Hahn The World Trade Organization, 3. Aufl 2015, S 555 ff. 44 Zur DienstleistungsRL 2006/123 vgl Barnard, CMLRev 45 (2008), 323 ff; Calliess, DVBl 2007, 336 ff; Waldheim Dienstleistungsfreiheit und Herkunftslandprinzip, 2008, S 306 ff. 45 EuGH, Urt v 30.1.2018, verb Rs C-360/15 u C-31/16, Rn 109 – X und Visser Vastgoed Beleggingen = NVwZ 2018, 307 m Anm Kümper = EuZW 2018, 244 m Anm Schaumburger = DVBl 2019, 233 m Bespr Battis/Hennig, S 197 ff; dazu auch Bonneville/Broussy/Cassagnabère/Gänser, AJDA 2018, 1026 (1033 f); Renders/Delforge/Polet, JDE 2018, 180 ff; Roset, Europe 3/2018, 21 f. Zuvor dazu schon Schiff, EuZW 2015, 899 ff; Reinstadler/Reinalter, ZfRV 2016, 124 ff; van Rijn, CDE 2017, 193 ff. Ebenso EuGH, Urt v 22.9.2020, verb Rs C-724/18 u C-727/18 – Cali Apartments SCI u HX. 46 Vgl Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 56 AEUV Rn 15 ff. Dazu etwa (Fall Uber) EuGH, Urt v 20.12.2017, Rs C-322/16 – Asociación Profesional Elite Taxi = EuZW 2018, 131 m Anm König; dazu Daniel, Europe 2/2018, 50 f; Renders/de Valkeneer, JDE 2018, 47 f. 47 Vgl Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 56/57 AEUV Rn 29 ff.
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Dienstleistungserbringung notwendige Personenfreizügigkeit. Schließlich gibt es Fallkonstellationen, in denen Leistungserbringer und Leistungsempfänger in ihrem Aufenthaltsstaat verbleiben und nur die Leistung – zB auf postalischem Wege oder mittels Telekommunikation oder Online-Korrespondenz – die Grenze überquert (Korrespondenzdienstleistungsfreiheit);48 diese Fälle der Dienstleistungsfreiheit weisen keinen Aspekt der Personenfreizügigkeit auf. Von den Personenverkehrsfreiheiten grenzt sich die Dienstleistungsfreiheit dadurch ab, dass sie nur den vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Staat erfasst, nicht aber eine dauerhafte Integration schützt; sie darf also nicht mit einer dauerhaften Niederlassung im Zielstaat verknüpft sein. Dies betrifft insbesondere die Leistungserbringung in der Fallgruppe der aktiven Dienstleistungsfreiheit sowie der beiderseitigen Grenzüberschreitung von Dienstleistungserbringer und -empfänger. Dass der Dienstleistungserbringer von seinem Heimatstaat aus die betreffenden Leistungen dauerhaft anbietet, hat das Kriterium der „vorübergehenden Erbringung“ natürlich nicht im Blick; es bezieht sich nur auf den zur Erbringung erforderlichen Grenzübertritt. 9 Die Kapitalverkehrsfreiheit gewährleistet die Übertragung von Geld- oder Sachwerten (zB Direktinvestitionen wie dem Erwerb von Kontrollbeteiligungen an Unternehmen, aber auch Portfolioinvestitionen zur reinen Kapitalanlage, Immobilieninvestitionen, Transferzahlungen, Wertpapiergeschäfte usw) über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinweg. Eine wesentliche Besonderheit im Vergleich zu den anderen Grundfreiheiten besteht in dem Umstand, dass die Kapitalverkehrsfreiheit nicht nur im Binnenmarkt, sondern auch im Verhältnis zu Drittstaaten anwendbar ist. Der Freiheit des Zahlungsverkehrs unterfallen alle Zahlungen in Erfüllung einer Gegenleistung mit grenzüberschreitendem Bezug (→ v Wilmowsky, § 17 Rn 5); auch sie ist gegenüber anderen Mitgliedstaaten wie gegenüber Drittstaaten in gleicher Weise eröffnet.49 Zum Verhältnis der Grundfreiheiten zueinander vgl Rn 97 ff.
48 Das kann auch der Fall sein, wenn Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfänger in demselben Staat ansässig sind und nur die Dienstleistung als solche die Grenze überquert (sog Korrespondenzdienstleistung, zB Inanspruchnahme einer Finanzdienstleistung über das EU-Ausland). Näher zum Ganzen auch Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 56/57 AEUV Rn 40 ff. 49 Vgl dazu Korte in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 105 ff; Sedlaczek/Züger in: Streinz, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 26 f. Wie die Erbschaftssteuer fällt auch die steuerliche Behandlung von Geld- oder Sachspenden unter die Vertragsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr, vgl EuGH, Rs C-318/07, Slg 2009, I-359, Rn 27 – Persche = JK 2009, EGV Art 56/6; zur Besteuerung des grenzüberschreitenden unentgeltlichen Verleihs von Kraftfahrzeugen vgl EuGH, Urt v 26.4.2012, Rs C-578/10 bis C-580/10, EuZW 2012, 551 – Staatssecretaris van Financiën = JK 2013, AEUV Art 63/1.
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3. Unmittelbare Geltung der Grundfreiheiten Das Unionsrecht stellt eine von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten un- 10 abhängige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten dar; der EuGH bezeichnet sie daher als besondere, „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“.50 Unmittelbare Geltung bedeutet, dass die Normen des Unionsrechts ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens geltendes Recht auch in den Mitgliedstaaten werden und dort durch die zuständigen Stellen einschließlich der Gerichte Beachtung finden müssen.51 Anders als dies für völkerrechtliche Normen der Regelfall ist,52 bedarf es für unionsrechtliche Normen nicht einer gesonderten Übernahme in die mitgliedstaatliche Rechtsordnung bzw eines gesonderten mitgliedstaatlichen Rechtsanwendungsbefehls.53 Der Rechtsgrund der unmittelbaren Geltung des Unionsrechts liegt in der Eigenständigkeit und in den besonderen Charakteristika der Unionsrechtsordnung,54 die aus der Übertragung nationaler Hoheitsgewalt auf die EU folgen.55 Diese äußern sich beispielsweise in der institutionellen Struktur der Union mit der herausgehobenen Kontrollstellung der Kommission, ihren Sanktionsmöglichkeiten und der obligatorischen Gerichtsbarkeit des EuGH, seinem Kooperationsverhältnis mit den mitgliedstaatlichen Gerichten, den umfangreichen sachlichen Kompetenzen der Union sowie insbesondere ihren Rechtssetzungsbefugnissen. Unmittelbare Geltung im innerstaatlichen Recht beanspruchen dabei nur diejenigen unionsrechtlichen Normen, die hierfür auch geeignet sind. Dies ist dann der Fall, wenn sie inhaltlich hinreichend bestimmt und unbedingt sind. Hier wird dann zuweilen auch im Unterschied zur unmittelbaren Geltung des Unionsrechts von einer unmittelbaren Wirkung oder Anwendbarkeit gesprochen.56 Dies gilt insbesondere im – hier nicht im Detail weiter zu verfolgenden – besonderen Feld der Direktwirkung von nicht (fristgerecht) umgesetz-
50 Grundl EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3 ff – van Gend & Loos. S auch EuGH, Gutachten vom 18.12.2014, GA 2/13, Rn. 157 – Beitritt der Union zur EMRK; Urt v 10.12.2018, Rs C-621/18, Rn 44 – Wightman ua. Anderes gilt nur im Falle ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen (zB späteres Inkrafttreten einzelner Vorschriften im Falle eines Beitritts), s sogleich im Text. 51 Vgl EuGH, Rs 106/77, Slg 1978, 629, Rn 14, 16 – Simmenthal. 52 Zum völkerrechtlichen „Sekundärrecht“ vgl etwa Germelmann, AVR 52 (2014), 325 (341 ff). 53 Zu der Differenzierung je nach dualistischer oder monistischer Sichtweise des Völkerrechts vgl beispielhaft Schweitzer/Dederer Staatsrecht III, Rn 787 ff. 54 Grundl EuGH, Rs 6/64, Slg 1964, 1251, 1269 – Costa/ENEL. 55 In Deutschland bestimmt sich die Übertragung der Hoheitsrechte auf die EU nach Art 23 I 2 GG. Näher dazu BVerfGE 52, 187 (199); 73, 339 (372) = JK 87, GG Art 24 I/1; 75, 223 (241); 89, 155 ff = JK 94, GG Art 23/1; 123, 267 (355 f) = JK 2009, GG Art 38 I/18; 126, 286 (302) = JK 2010, GG Art 12/16. 56 Vgl dazu bspw Ehlers in: Schulze ua, ER, § 11 Rn 9 f.
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ten Richtlinien.57 Dabei wird zuweilen darauf abgestellt, ob das Unionsrecht den Unionsbürgern und sonstigen Privatpersonen Rechte verleiht oder Pflichten auferlegt.58 Eine Differenzierung in der – ohnedies in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich verwendeten – Terminologie führt hier aber letztlich nicht weiter, zumal sich gerade die Rechtsprechung zur Richtliniendirektwirkung in die Dogmatik der unmittelbaren Geltung von Unionsrecht nahtlos einfügt: Die Umsetzungsnotwendigkeit der Richtlinie iSd Art 288 III AEUV beinhaltet kein Erfordernis eines mitgliedstaatlichen Transformationsakts oder Rechtsanwendungsbefehls. Die Richtlinie bindet in ihrer Zielsetzung den Gesetzgeber vielmehr unmittelbar und überlässt ihm lediglich Ausgestaltungsspielräume; versäumt er die Umsetzungsfrist, erstreckt sich die unmittelbare Geltung auch auf andere Stellen wie Gerichte und Behörden, sofern die Voraussetzungen der hinreichenden Bestimmtheit und Unbedingtheit erfüllt sind und keine Ausnahme nach dem der umgekehrtvertikalen oder der horizontalen Direktwirkung gegeben ist. Die Frage der Verleihung von Rechten an Einzelne bezieht sich auf die Möglichkeit der Geltendmachung der Direktwirkung. So setzt die Berufung auf die unmittelbar geltende Norm vor den nationalen Gerichten typischerweise eine Berechtigung oder ein rechtlich anerkanntes Interesse des Betroffenen voraus.59 Allerdings ist sie nicht im eigentlichen Sinne Voraussetzung der unmittelbaren Geltung. 11 Für das Primärrecht und damit auch die Grundfreiheiten gelten die Begrenzungen der Richtliniendirektwirkung nicht. Vielmehr gelten alle Grundfreiheiten heute unmittelbar und ohne eine fortbestehende Umsetzungsfrist in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Alle Grundfreiheiten sind in ihrem Wortlaut hinreichend bestimmt und unbedingt. Sie binden nicht nur den nationalen Gesetzgeber, sondern begründen auch Rechte, auf die sich die geschützten Personen (zum Kreis der Berechtigten vgl Rn 43 ff) auch und gerade vor den nationalen Gerichten berufen können; korrespondierend erlegen sie den Bindungsadressaten wie neben dem Gesetzgeber insbesondere den nationalen Behörden60 unbedingte Verpflichtungen auf.61
57 Vgl dazu zB EuGH, Rs 148/78, Slg 1979, 1629 – Ratti; Rs 41/74, Slg 1974, S. 1337 – Van Duyn; Rs 80/86, Slg 1987, 3969 – Kolpinghuis Nijmegen; Rs C-91/92, Slg 1994, I-3325 – Faccini Dori; Rs 152/84, Slg 1986, 723 – Marshall = EuR 1986, 265 m Anm Nicolaysen S 370 ff; Urt v 7.8.2018, Rs C-122/17, RIW 2018, 674 – David Smith; dazu Simon, Europe 10/2018, 17 f; Urt v 6.11.2018, verb Rs C-569/16 u C-570/16 – Stadt Wuppertal/Bauer u Willmeroth/Broßonn; dazu Driguez, Europe 1/2019, 40 f. 58 EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3, 24 ff – van Gend & Loos; Rs 106/77, Slg 1978, 629, 643 f – Simmenthal; Kadelbach Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S 57 ff. 59 Vgl zu dieser Schutzzwecküberlegung EuGH, Rs C-226/97, Slg 1998, I-3711 – Lemmens. 60 Näher dazu Rn 73. 61 Vgl EuGH, Rs 41/74, Slg 1974, 1337 (Arbeitnehmerfreizügigkeit) – van Duyn; Rs 2/74, Slg 1974, 631, 652 (Niederlassungsfreiheit) – Reyners; Rs 33/74, Slg 1974, 1299 (Dienstleistungsfreiheit) – van Binsbergen.
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Die früher generell vorgesehenen Übergangszeiten62 sind heute abgelaufen. Lediglich im Fall des Beitritts neuer Mitglieder zur EU können in der Beitrittsakte, die ihrerseits primärrechtlichen Charakter hat, oder im sonstigen Vertragsrecht wiederum Übergangsvorschriften vorgesehen werden. Hiervon ist in der Vergangenheit regelmäßig in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit Gebrauch gemacht worden, um einen Anpassungszeitraum für die Märkte der bestehenden Mitgliedstaaten zu schaffen. Die für die jüngst beigetretenen Mitgliedstaaten vorgesehenen Übergangsbestimmungen sind mittlerweile abgelaufen; zuletzt durfte der Zugang kroatischer Staatsangehöriger zum Arbeitsmarkt der anderen EU-Länder bis maximal zum 30.6.2020 beschränkt werden.63 Das Verhältnis der Grundfreiheiten zum sachlich einschlägigen Sekundärrecht 12 (Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse, Art 288 II-IV AEUV) wird durch die Grundsätze der Normenhierarchie und der Spezialität geprägt. In keinem Fall darf das Sekundärrecht den Grundfreiheiten widersprechen; dies ergibt sich aus seiner normenhierarchischen Stellung.64 Daher muss es auch im Lichte der Grundfreiheiten ausgelegt werden.65 Dem Unionsgesetzgeber bleibt es grds unbenommen, Sekundärrechtsbestimmungen zu erlassen, welche die Freiheit verstärken, indem sie mitgliedstaatliche Beschränkungsmöglichkeiten abbauen, oder die Garantien der Grundfreiheiten konkretisieren. Dies setzt voraus, dass hierfür eine Ermächtigungsgrundlage im AEUV vorgesehen ist. Allerdings geht in mehrpoligen Rechtsverhältnissen die Freiheit des einen fast immer zu Lasten der Freiheit des anderen, was die Notwendigkeit von abwägenden Ausgleichslösungen bedingt. So mögen unterschiedliche mitgliedstaatliche Werbeverbote für Tabakerzeugnisse geeignet sein, den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr zu beschränken. Wenn sie ihrerseits aber aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sind, führen sie zu Hindernissen im gemeinsamen Markt, was die Harmonisierung durch eine sekundärrechtliche Maßnahme sinnvoll erscheinen lässt. Verbietet die EU durch eine Richtlinie aber nahezu vollständig die Werbung für Tabakerzeugnisse in der Presse und im Rundfunk,66 werden nicht nur Hemmnisse für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr (in Gestalt unterschiedlicher Verbote) ausgeräumt. Vielmehr werden gleichzeitig die sowohl durch die Unionsgrundrechte (Art 16 GRCh) als auch durch die Grundfreiheiten garantierten Freiheitsrechte der Tabakindustrie, Presseunter-
62 Art 7 I, Art 31, 33, 35, Art 48 I, Art 52 I, Art 59 I, Art 67 EWGV. 63 Vgl ABl 2012 Nr L 112/1 mit Anhang V (S 67). 64 Vgl auch EuGH, Rs C-51/93, Slg 1994, I-3879 Rn 11 – Meyhui; Rs C-169/99, Slg 2001, I-5901, Rn 37 – Schwarzkopf. 65 Vgl zu einem Beispielsfall EuGH, Rs C-346/06, Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert. 66 Vgl dazu EuGH, Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament u Rat (TabakwerbeRL II) = JK 2007, EGV Art 95 I/4.
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nehmen und Rundfunkanstalten beschränkt.67 Auch diese sekundärrechtlichen Beschränkungen der Grundfreiheiten, die die mitgliedstaatlichen Regelungen gleichsam ersetzen, müssen sich rechtfertigen lassen, wobei der EU prinzipiell dieselben Rechtfertigungsgründe wie den Mitgliedstaaten zustehen.68 Auch für die Vereinbarkeit des Sekundärrechts mit den Grundfreiheiten gelten grundsätzlich dieselben Prüfungsmaßstäbe wie für das mitgliedstaatliche Recht, was die Gewährleistungsgehalte (Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot, Rn 38 ff)69 angeht. Allerdings gesteht der EuGH dem Unionsgesetzgeber hier typischweise (und anders als im Fall der Unionsgrundrechte) weitere Ermessensspielräume zu als den Mitgliedstaaten. Er prüft daher selten die Konformität des Sekundärrechts mit den Grundfreiheiten70 und nimmt nur in Ausnahmefällen Verstöße an.71 Dies mag an zwei Umständen liegen. Zum einen verfolgt der Unionsgesetzgeber bzw jedenfalls die initiativberechtigte (Art 17 II EUV, Art 293 AEUV) Kommission regelmäßig eher die Interessen und Bedürfnisse des Binnenmarktes als dies für die Mitgliedstaaten angenommen werden kann. Allein der vereinheitlichende Effekt des Unionssekundärrechts hat oftmals bereits binnenmarktfördernde Wirkung. Zum anderen ergeben sich die Vorgaben für das Handeln des Unionsgesetzgebers nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 II EUV) aus den jeweiligen Rechtsgrundlagen der Unionspolitiken.72 Diese benennen ihrerseits präzise die Voraussetzungen, unter denen der Unionsgesetzgeber handeln darf. So setzt Art 114 I AEUV voraus, dass der Rechtsakt der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes herstellen oder verbessern muss, indem er tatsächliche Defizite iSv Hemmnissen für den freien Warenoder Dienstleistungsverkehr beseitigt oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen abbaut;73 dabei sind auch Produktverbote im Rahmen der Harmonisierung möglich.74
67 Der EuGH ist hierauf in seiner Entscheidung in der Rs C-380/03, Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/ Parlament u Rat (TabakwerbeRL II) = JK 2007, EGV Art 95 I/4, nicht eingegangen. 68 EuGH, verb Rs C-154/04 u C-155/04, Slg 2005, I-6451, Rn 48 ff – Alliance for Natural Health und Nutri-Link; Leible/T. Streinz in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 34 AEUV Rn 36 f. 69 Wie hier Scheffer Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers, 1997, S 141 ff, 171 ff; aA noch, aber wenig überzeugend Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995, S 191 ff (nur Bindung an das Diskriminierungsverbot). 70 Vgl hier die Auflistung der Rspr bei Zazoff Der Unionsgesetzgeber als Adressat der Grundfreiheiten, S 19 f, 79 ff (der Verf geht zu Unrecht davon aus, dass die EU grds nur an die positive Seite der Grundfreiheiten – nicht die negativen – gebunden ist). 71 EuGH, Rs 80/77 u 81/77, Slg 1978, 928, Rn 35 f, 38 – Commissionaires Réunis. 72 Zur Auslegung der Grundfreiheiten im Lichte der Kompetenzordnung vgl Valta Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S 436 ff. 73 EuGH, Rs C-376/98, Slg 2000, I-8419, Rn 84 – Deutschland/Parlament und Rat (TabakwerbeRL I). 74 Vgl EuGH, Urt v 4.5.2016, Rs C-547/14, Rn 64 – Philip Morris Brands ua; Urt v 22.11.2018, Rs C-151/17, Rn 72 – Swedish Match.
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Ferner sieht Art 114 III AEUV für die Rechtsangleichung in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz ein hohes Schutzniveau vor. Schon um kompetenzgemäß zu sein, müssen also die Belange des Binnenmarktes beachtet werden, so dass unverhältnismäßige Einschränkungen der Grundfreiheiten typischerweise bereits die Kompetenznorm verletzen werden.75 Soweit deren Voraussetzungen aber erfüllt sind, können Einschränkungen der Grundfreiheiten durch diesbezügliche Sekundärrechtsbestimmungen jedenfalls grds gerechtfertigt werden. Liegt eine sachlich einschlägige primärrechtskonforme Sekundärrechts- 13 norm vor, geht sie im Sinne der Anwendung der jeweils spezielleren Norm den Grundfreiheiten vor, wenn davon auszugehen ist, dass der Unionsgesetzgeber den Sachverhalt kompetenzgerecht abschließend geregelt hat.76 Ebenso wie im nationalen Recht77 ist diejenige Rechtsquelle anzuwenden, die dem zu entscheidenden Fall am nächsten steht.78 Das primärrechtskonforme Sekundärrecht versperrt dann den Rückgriff auf die Grundfreiheit.79 Nur soweit es keine abschließenden Regelungen trifft, entfalten die Grundfreiheiten weiterhin ihre Wirkungen und sind als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Zurückgedrängt werden können die Grundfreiheiten vor allem durch horizontale, sektorübergreifende Sekundärrechtsbestimmungen, wie dies etwa für die Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt (DienstleistungsRL 2006/123) zutrifft.80 Umgekehrt lassen sich aus nicht anwendbaren Sekundärrechtsbestimmungen uU Anhaltspunkte für eine Auslegung der Grundfreiheiten entnehmen: so zB für die Vereinbarkeit der Vergabe öffentlicher Aufträge unterhalb der in den Vergaberichtlinien81 festgelegten Schwellenwerte mit den Grundfreihei-
75 Vgl EuGH, Rs C-376/98, Slg 2000, I-8419, Rn 99 ff – Deutschland/Parlament und Rat (TabakwerbeRL I). 76 Vgl etwa EuGH, Urt v 16.7.2015, Rs C-95/14, Rn 32 ff – UNIC = EuZW 2015, 873 m Anm Gundel; dazu auch Rigaux, Europe 10/2015, 23 f. 77 S nur Ehlers/Pünder in: dies, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl 2022, § 2 Rn 93. 78 EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649, Rn 8 – Rewe-Zentral AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein („Cassis de Dijon“); Rs C-108/09, Slg 2010, I-12213, Rn 41 – Ker-Optika; Urt v 12.7.2012, Rs C-171/11, EuZW 2012, 797, Rn 17 ff – Fra.bo = JK 2013, AEUV Art 34/2 (→ Rn 76 Fall 6); v Bogdandy, JZ 2001, 157 (166); Oexle, AbfallR 2003, 284 (288). 79 EuGH, Rs C-322/01, Slg 2002, I-14887, Rn 52 – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4 (→ Rn 29 Fall 1). 80 Für einen Vorrang der Garantien der DienstleistungsRL gegenüber denen der Grundfreiheiten schon auf tatbestandlicher Ebene s EuGH, Urt v 11.6.2020, Rs C-206/19 – „KOB” SIA; dazu Abenhaïm, Europe 8/2020, 21 81 Vgl RL 2014/24 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/ EG, ABl 2014 Nr L 94/65; RL 2014/25 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG, ABl 2014 Nr L 94/243; RL 2014/23 über die Konzessionsvergabe, ABl 2014 Nr L 94/1; RL 92/13 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemein
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ten.82 Erweist sich freilich eine sekundärrechtliche Bestimmung als primärrechtswidrig, weil sie etwa nicht kompetenzgerecht erlassen wurde, unverhältnismäßig ist oder Grundrechte verletzt, verliert sie ihre Abschirmungswirkung, und der Rückgriff auf die Grundfreiheit ist erneut frei.
4. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten 14 Ihre besondere praktische Wirksamkeit verdanken die Grundfreiheiten ihrer sub-
jektiv-rechtlichen Dimension. Denn ein freier Waren-, Personen-, Dienstleistungsund Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten kann sich nur entwickeln, wenn die Grundfreiheiten nicht nur Bindungen erzeugen, sondern dem Einzelnen die Rechtsmacht eingeräumt wird, sich gegenüber den Verpflichteten auf die Freiheitsverbürgungen zu berufen. Seit dem Urteil van Gend & Loos83 besteht Übereinstimmung darüber, dass die Grundfreiheiten nicht nur objektiv-rechtliche Wirkungen entfalten, sondern dem Schutz der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer zu dienen bestimmt sind. Somit stellen sie (iSd deutschen Sprachgebrauchs) subjektive Rechte dar.84 Dies bedeutet, dass sie vor den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten vom Einzelnen direkt geltend gemacht werden können (Rn 138 ff). In Anbetracht der unmittelbaren Geltung und des Anwendungsvorrangs der unionsrechtlichen Grundfreiheiten sowie infolge des Kooperationsverhältnisses zwischen Unionsgerichten und nationalen Gerichten, die sämtlich für die Umsetzung des Unionsrechts verantwortlich sind und deren direkter Austausch durch den Mitgliedstaat nicht in Frage gestellt werden darf,85 hat sich die Fortentwicklung der Grundfreiheiten durch den EuGH in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verbreiten und durchsetzen können.
schaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energieund Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor, ABl 1992 Nr L 76/14. 82 Vgl EuGH, Rs C-59/00, Slg 2001, I-9505, Rn 20 ff – Vestergaard; verb Rs C-147/06 u C-148/06, Slg 2008, I-3565, Rn 20 – SECAP u Santorso; Rs C-376/08, Slg 2009, I-12169, Rn 22 – Serrantoni; Mitteilung der EUKommission ABl 2006 Nr C 179/2. 83 EuGH, Rs 26/62, Slg 1963, 3, 25 – van Gend & Loos. 84 Allgemein zur Frage, wann klagefähige Rechte aus dem Unionsrecht hergeleitet werden können, vgl Ehlers Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999, S 47 ff; dens, DVBl 2004, 1441 (1445 f). 85 EuGH, Rs 106/77, Slg 1978, 629, Rn 24 – Simmenthal; Urt v 24.6.2019, Rs C-573/17, Rn 61 f – Popławski; Urt v 22.2.22, Rs C-430/21, Rn 53 ff – RS.
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5. Vorrang der Grundfreiheiten Das Unionsrecht wird über das Prinzip der unmittelbaren Geltung hinaus durch den 15 Grundsatz des Anwendungsvorrangs geprägt.86 Kollidieren Unionsrecht und nationales Recht, kommt Ersterem nach Ansicht des EuGH in jedem Falle der Vorrang zu; Letzteres wird im Anwendungsbereich des Unionsrechts verdrängt.87 Hieraus folgt der – im Vergleich zum Völkerrecht durchsetzungsstärkere – supranationale Charakter des Unionsrechts. Das Vorrangprinzip verlangt einen Anwendungs-, nicht einen Geltungsvorrang,88 so dass das dem Unionsrecht widersprechende nationale Recht gültig bleibt, aber in dem Umfang unanwendbar ist und durch das Unionsrecht verdrängt wird, in dem dieses selbst unmittelbare Anwendung verlangt. Zur Nichtanwendung des dem Unionsrecht widersprechenden nationalen Rechts sind alle mit der Rechtssache befassten staatlichen Instanzen (wie Regierung, Verwaltung und Gerichte89) – und darüber hinaus auch die privaten Bindungsadressaten der Grundfreiheiten (Rn 75 ff ) – verpflichtet. Auch der Gesetzgeber hat aus Gründen der Rechtsklarheit die durch den Anwendungsvorrang geschaffene Rechtslage nachzuvollziehen und darf etwa unionsrechtswidrige Bestimmungen nicht aufrechterhalten, auch wenn sie keine Wirkung mehr entfalten.90 Diese Grundsätze, die für das gesamte primäre und sekundäre Unionsrecht gelten, beanspruchen auch für die Grundfreiheiten Geltung. Auch sie nehmen ausnahmslos am Anwendungsvorrang teil.91
86 Ausführlich dazu Streinz ER, Rn 207 ff. 87 Vgl EuGH, Rs 6/64, Slg 1964, 1251, 1271 – Costa/ENEL; Rs 11/70, Slg 1970, 1125, Rn 3 – Internationale Handelsgesellschaft; Rs C-213/89, Slg 1990, I-2433, Rn 18 – Factortame. 88 EuGH, Rs C-184/89, Slg 1991, I-297, Rn 19 – Nimz; BVerfGE 75, 223 (244); 85, 191 (204) = JK 92, GG Art 3 II, Art 3 III/6; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 ff. Zur Diskussion über Ausnahmemöglichkeiten (Nichtigkeit) vgl Ehlers/Pünder in: dies, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl 2022, § 2 Rn 110 sowie allg auch Ehlers, JURA 2011, 187 (190). S auch (Anpassungspflicht) EuGH, Rs C-144/99, Slg 2001, I3541 – Kommission/Niederlande. 89 Vgl EuGH, Rs 103/88, Slg 1989, 1839, Rn 28 ff – Fratelli Costanzo; Rs C-341/08, Slg 2010, I-47, Rn 80 – Petersen; Rs C-243/09, Slg 2010, I-9849, Rn 61 – Fuß. 90 EuGH, Rs C-144/99, Slg 2001, I-3541 – Kommission/Niederlande. 91 So steht bspw die Arbeitnehmerentsende-RL 96/71, ausgelegt im Lichte des Art 56 AEUV, nationalen Tariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge entgegen, s EuGH, Rs C-346/06, Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert. Auch aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts bestehen hier keinerlei Zweifel; der Kern des Binnenmarktrechts, den die Grundfreiheiten bilden, steht in keinerlei Zusammenhang mit Elementen der deutschen „Verfassungsidentität“, die das Bundesverfassungsgericht in seiner nicht durchweg präzisen Definition dem Zugriff des Unionsrechts und damit auch dem Vorrangprinzip entziehen will; s insbesondere BVerfGE 123, 267 (340 ff, 402) = JK 2009, GG Art 38 I/18; 126, 286 (301 f) = JK 2010, GG Art 12/16; ferner auch BVerfGE 37, 271 (279) – Solange I; 73, 339 (375 ff) = JK 87, GG Art 24 I/1 – Solange II; 89, 155 (174 f).
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6. Abgrenzung zu anderen Rechten des primären Unionsrechts 16 Das Primärrecht der EU (dh das Vertragsrecht der EU und EAG inklusive der Pro-
tokolle und Anhänge, Art 51 EUV, die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze und das die Verträge ergänzende Gewohnheitsrecht) gewährleistet neben den Grundfreiheiten zahlreiche weitere Rechte. Sie sind von den Grundfreiheiten abzugrenzen. Diese Rechtspositionen können allerdings in unterschiedlicher Weise zu den Grundfreiheiten in Beziehung treten. So laufen ihre Gewährleistungen wie im Fall der Wirtschaftsgrundrechte nicht selten parallel zu den von den Grundfreiheiten geschützten Interessen des freien Binnenmarktes. Andere Grundrechte können als rechtlich geschütztes Interesse in Konflikt mit den Garantien der Grundfreiheiten geraten, so dass letztlich eine Abwägungsentscheidung im Wege der Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich wird. Die Gewährleistung der Freizügigkeit nach der Unionsbürgerschaft erweitert in sachlicher Hinsicht die Freizügigkeitsgarantien der Grundfreiheiten und tritt neben diese als Auffanggewährleistung. Entsprechendes gilt für das allgemeine Diskriminierungsverbot des Vertrages.
a) Unionsgrundrechte 17 Eine besondere strukturell-systematische Nähe wie auch eine besondere Bedeutung
für die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes wie der europäischen Integration insgesamt kommt neben den Grundfreiheiten insbesondere den Unionsgrundrechten zu, die in der Grundrechtecharta kodifiziert sind und sich zudem aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts iSd Art 6 III EUV ergeben (→ Ehlers/ Germelmann, § 2.2). Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte unterscheiden sich allerdings in verschiedener Hinsicht.92 Dies betrifft zunächst ihre Zielsetzung. Die Grundfreiheiten verfolgen in erster Linie das Ziel der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes (Art 26 II AEUV), also dienen einem objektiven Ziel der europäischen Integration. Diese übergeordnete Zielsetzung verhindert zwar nicht die subjektive Rechtsqualität der Grundfreiheiten, die im Gegenteil die objektive Zielerreichung fördert (vgl Rn 14). Die Grundfreiheiten bestehen allerdings nicht ausschließlich im individuellen Interesse. Die Unionsgrundrechte hingegen schützen die unterschiedlichen Freiheiten und die Gleichheitsrechte ebenso wie die Rechtspositionen der Solidarität, die Bürgerrechte und die justiziellen Rechte im Interesse des Einzelnen.93 Freilich sind auch die Unionsgrundrechte und ihr Schutz über Art 2
92 Ebenso Lecheler ER, S 219. 93 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 5 ff unterscheidet zwischen den transnationalen Integrationsnormen der Grundfreiheiten und den supranationalen Legitimationsnormen der Unionsgrundrechte. Den Grundfreiheiten wird eine negative, den Unionsgrundrechten
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und 3 I EUV Bestandteil der Werte und Ziele der Unionsrechtsordnung. Dennoch überwiegt ihre subjektiv-rechtliche Zielsetzung deutlich die objektiv-rechtliche, die letztlich den Individualschutz nur unterstreicht, kein eigenes übergeordnetes Ziel verfolgt und auch in der Dogmatik der europäischen Grundrechte nicht ausgeprägt ist.94 Ein weiterer Unterschied liegt im sachlichen Anwendungsbereich. Anders als die Unionsgrundrechte gelten die Grundfreiheiten nur für grenzüberschreitende Sachverhalte (Rn 39, 45). Reine Inlandssachverhalte werden von ihnen nicht erfasst. Der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte hingegen richtet sich nach Art 51 I GRCh und erfasst die Mitgliedstaaten immer dann, wenn sie Unionsrecht umsetzen oder im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln, was auch der Fall sein kann, wenn bezogen auf den Grundrechtsträger gerade kein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben ist. Ferner unterscheiden sich Grundrechte und Grundfreiheiten in ihren primä- 18 ren Adressaten, wiewohl der Kreis der Verpflichteten im Ergebnis ähnlich ist. So richten sich die Grundfreiheiten primär gegen die Mitgliedstaaten, die Unionsgrundrechte primär gegen die EU. Dies folgt aus ihren unterschiedlichen Funktionen, die auf der einen Seite den Binnenmarkt schützen sollen (Grundfreiheiten), andererseits vornehmlich die Hoheitsgewalt der Union einhegen sollen (Grundrechte). Allerdings binden in sekundärer Hinsicht die Grundfreiheiten auch die Unionsorgane und die Grundrechte auch die Mitgliedstaaten (Art 51 I GRCh), um die jeweiligen Zielsetzungen der Rechtsgarantien vollständig abzudecken. Private werden (unter bestimmten Voraussetzungen) von der Rechtsprechung unmittelbar an die Grundfreiheiten gebunden (Rn 57 ff); eine unmittelbare Direktwirkung der Unionsgrundrechte ist hingegen zumindest nicht in der Breite anerkannt; im Bereich der Gleichheitsrechte lassen sich entsprechende Ansätze in der Rechtsprechung beobachten, die bei den Freiheitsrechten bislang nicht anerkannt sind.95 In Bezug auf die Berechtigung erfassen sowohl die Grundrechte als auch die Grundfreiheiten natürliche Personen. Juristische Personen können sich ebenfalls auf die Grundfreiheiten und diejenigen Grundrechte berufen, die keinen ausschließlich persönlichkeitsbezogenen Inhalt haben.96 Staatliche Einrichtungen können sich zwar auf die Grund
eine positive Integrationswirkung zugesprochen (Rn 7). Die Entgegensetzung von negativer und positiver Zielsetzung ist problematisch. Unstr ist zudem, dass die EU nicht nur auf rechtstaatlichen Erfordernissen beruht, die in den Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten zum Ausdruck kommen, sondern auch und gerade auf der Demokratie (Art 2 EUV). 94 Näher → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 17 ff. S im Vergleich dazu zur deutschen Dogmatik Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 125 ff. 95 S im Überblick Rodin in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, S 491 (497 f, 500 ff); Stein Drittwirkung im Unionsrecht, 2016, S 55 ff, 73 ff. Näher → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 97. 96 Für die Grundrechte s noch → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 68ff.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
freiheiten (Rn 66), aber nur in Ausnahmefällen auch auf die Unionsgrundrechte97 berufen. 19 In struktureller Hinsicht ähneln sich Grundrechte und Grundfreiheiten, weil in beiden Fällen Eingriffe in ihre Gewährleistungsgehalte nur zulässig sind, wenn hierfür Rechtfertigungsgründe angeführt werden können und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Inhaltlich betreffen die Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte wegen ihrer unterschiedlichen Zielsetzungen (Rn 29 ff) im Regelfall unterschiedliche Gewährleistungen. Eine parallele Anwendbarkeit besteht jedoch dann, wenn eine berufliche und unternehmerische Betätigung sowohl grundrechtlich als auch grundfreiheitlich geschützt wird.98 Wird ein Sachverhalt tatbestandlich sowohl von Grundfreiheiten als auch den Unionsgrundrechten erfasst, stehen beide Gewährleistungen im Grundsatz überschneidungsfrei nebeneinander; ein Spezialitätsverhältnis zwischen ihnen besteht nicht. Dies bedeutet, dass für beide Garantien eine gesonderte Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen wäre. Freilich wird in vielen Fällen die Abwägung ebenfalls parallele Ergebnisse hervorbringen; daher stellt die Rspr zuweilen auch nur auf eine der beiden Gewährleistungen ab.99 Denkbar ist aber insbesondere auch eine Parallelität im Sinne einer wechselseitigen Verstärkung durch einerseits das individualschützende Element der grundrechtlichen Gewährleistung und andererseits die Schutzfunktion der Grundfreiheit zugunsten des gesamten Binnenmarktes.100 Hierbei kann die Prüfung ihren Ausgangspunkt jeweils bei der im Schwerpunkt durch die Maßnahme betroffenen Gewährleistung nehmen. Die Rspr des Gerichtshofs ist hier nicht eindeutig. So werden staatliche Maßnahmen häufig in erster Linie den Binnenmarkt treffen, unionsrechtliche Harmonisierungsakte hingegen die individuellen Freiheiten. Hilfsweise kann auch mit Blick auf die – freilich vage – Vorrangbestimmung des Art 52 II GRCh (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 28) zunächst von der betroffenen Grundfreiheit ausgegangen werden. Dies hat der Gerichtshof in mehreren Fällen mitgliedstaatlicher Maßnahmen angenommen.101 In jüngerer Zeit stellt er indes durchaus auch
97 → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 71. 98 Vgl Art 15, 16 GRCh (mit Art 15 II). S auch Gundel, ZHR 180 (2016), 323 (329 f); Martucci Droit du marché intérieur de l‘Union européenne, 2021, Rn 383. 99 So zB EuGH, Urt v 7.9.2022, Rs C-391/20, Rn 56 – Boriss Cilevičs ua = EuZW 2022, 906 m Anm Wienbracke; dazu Bonneville/Gänser/Iljic, AJDA 2022, 2343 (2348 f); Rigaux, Europe 11/2022, 33 f; hier stellte der EuGH darauf ab, dass die Prüfung der Niederlassungsfreiheit auch die Beeinträchtigungen der Art 15–17 GRCh erfasse. S ferner EuGH, Urt v 13.2.2014, Rs C-367/12, Rn 20 ff – Sokoll-Seebacher; hier bezog sich die Vorlagefrage nur auf die Grundfreiheit, der EuGH erwähnte das parallele Grundrecht gleichwohl kurz. 100 Vgl zB EuGH, Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15, Rn 62 ff – AGET Iraklis = NJW 2017, 1723 m Anm Gundel. 101 S EuGH, Urt v 30.4.2014, Rs C-390/12, Rn 57 ff – Pfleger = EuZW 2014, 597; zust van der Mei, 22 MJ (2015), 432 (438 f); für das Verhältnis von Dienstleistungsfreiheit und Eigentumsgarantie EuGH, Urt
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stärker auf eine parallele Prüfung der Grundrechte neben den Grundfreiheiten ab.102 Entscheidend dürfte insofern der Schwerpunkt des Fallproblems bzw die von den Parteien angebotene Argumentation sein. Einen dogmatisch zwingenden Vorrang gibt es nicht. Verstärken die Unionsgrundrechte den Schutz der Grundfreiheiten (etwa in- 20 dem sie auch andere, individualrechtliche Aspekte unter Schutz stellen), kommt ihnen in der Sache die Funktion einer Schranken-Schranke zu, insofern es um die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten geht (Rn 170; → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn. 31). In prüfungstechnischer Hinsicht ist es hier möglich, entweder zwei parallele Prüfungen nebeneinander durchzuführen oder aber das schutzverstärkende Grundrecht inzident als Schranken-Schranke zu prüfen. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergeben sich insofern nur wenig Anhaltspunkte, weil hier die Orientierung an gesonderten Klagegründen oder Vorlagefragen vorherrscht. Liegt keine inhaltliche Parallelität der Gewährleistungen vor, kann es zu Überschneidungen oder zu Konflikten kommen, vor allem wenn es um die Rechtmäßigkeit von Beschränkungen der Grundfreiheiten oder der Unionsgrundrechte geht.103 Als Bestandteile des EU-Primärrechts sind die Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte gleichrangig und müssen demgemäß aufeinander abgestimmt interpretiert werden.104 Ein abstrakter Vorrang zugunsten einer der beiden Kategorien besteht nicht. Überschneidungen können insofern bestehen, als die Grundfreiheiten immer dann verletzt werden, wenn ihre Beeinträchtigung zwar auf einen primärrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund gestützt werden kann, der Eingriff aber gleichwohl Unionsgrundrechten widerspricht. Diese können dabei thematisch einem ganz anderen Bereich als den wirtschaftsbezogenen Gewährleistungen der Grundfreiheiten entstammen. In diesem Falle bietet sich eine inzidente Prüfung des Grundrechts als Schranken-Schranke an. Für den Fall, dass die Unionsgrundrechte mit den Grundfreiheiten kollidieren, ist im Wege einer der deutschen Lehre von der praktischen Konkordanz entsprechenden Abwägung zu ermitteln, welche primärrechtliche Verbürgung sich im konkreten Fall durchsetzt (Rn 151; → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 10). Denkbar ist auch eine Kombination der beiden Konstellationen, wenn nämlich sich der Eingriff in die Grundfreiheit sach-
v 11.6.2015, Rs C-98/14 – Berlington Hungary, Rn 90 f = RIW 2015, 828; s auch Gundel, ZHR 180 (2016), 323 (329 f). 102 Vgl für das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit aus Art 16 GRCh EuGH Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15 – AGET Iraklis = NJW 2017, 1723 m Anm Gundel = EuZW 2017, 229 m Anm Franzen. 103 AA Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 27. 104 Jarass GRCh, Einl, Rn 10, 25; Martucci Droit du marché intérieur de l‘Union européenne, 2021, Rn 380. Ausführlich unter Auswertung der Rspr Fallon in: Liber amicorum Melchior Wathelet, 2018, S 399 ff.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
lich auf eine widerstreitende grundrechtliche Gewährleistung stützt, die ihrerseits aber mit einem anderen Grundrecht auf der Ebene der Schranken-Schranke in Konflikt gerät.105
b) Allgemeines Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV 21 Art 18 I AEUV verbietet „unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge“ jede
Diskriminierung „aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ (→ Buckler, § 10.3). Wie der Vorbehalt zeigt, kommt Art 18 AEUV nur zum Zuge, wenn die Verträge keine besondere Regelung der Nichtdiskriminierung vorsehen.106 Da die Grundfreiheiten jedenfalls auch Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbieten (Rn 38), steht Art 18 AEUV in einem Subsidiaritätsverhältnis zu den Grundfreiheiten, tritt also hinter diese zurück.107 Eine Ausnahme ist in der Rspr zuweilen in Fällen zu beobachten, in denen der EuGH zwar eine bestimmte Marktfreiheit für prinzipiell anwendbar hält, aber die geschützte Tätigkeit nicht als ihr Hauptthema betrachtet; so hat er etwa in Tourismus-Fällen, bei denen nur einzelne Elemente der Urlaubsaktivität einer spezifischen Grundfreiheit wie der Dienstleistungsfreiheit unterfielen, in Verbindung mit dieser daneben auf Art 18 AEUV zurückgegriffen.108 Dies erscheint heute mit Blick auf das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger nach Art 21 AEUV nicht mehr zwingend erforderlich. Entscheidend ist für Art 18 AEUV wie im Falle der Grundfreiheiten, dass die Norm nur dann einschlägig ist, wenn die Diskriminierung im Anwendungsbereich des Vertrages stattfindet. Dies setzt im Regelfall einen grenzüberschreitenden Bezug voraus, der in einem wichtigen Anwendungsfeld des Art 18 AEUV durch die allgemeine Freizügigkeit nach der Unionsbürgerschaft gemäß Art 21 AEUV begründet wird.109 Die erneute gesonderte Erwähnung der Gleichbehandlung der Unionsbürger in Art 9 EUV führt zu keiner Erweiterung des Gewährleistungsgehalts.
105 Vgl EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 24 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. 106 EuGH, Rs C-49/89, Slg 1989, 4441, Rn 19 – Corsica Ferries France; Rs C-193/94, Slg 1996, I-929, Rn 20 – Skanavi u Chryssanthakopoulos. 107 Vgl EuGH, Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 38 ff – Österreich/Deutschland (Pkw-Maut). 108 Vgl EuGH, Rs 186/87, Slg 1989, 195 – Cowan = NJW 1989, 2183 m Anm Hackspiel S 2166 ff.; Rs C-45/ 93, Slg 1994, I-911 – Kommission/Spanien = EuZW 1994, 473 m Anm von Borries; EuGH, Rs C-388/01, Slg 2003, I-721 – Kommission/Italien. S in anderem Zusammenhang, aber dogmatisch ähnlich auch EuGH, verb Rs C-92/92 u C-326/92, Slg 1993, I-5145, Rn 17 – Phil Collins. 109 Vgl zB EuGH, Rs C-85/96, Slg 1998, I-2691, Rn 62 – Martínez Sala; Urt v 4.10.2012, Rs C-75/11, Rn 39 – Kommission/Österreich; Urt v 2.6.2016, Rs C-233/14, Rn 78 – Kommission/Niederlande. Anders EuGH, Rs C-224/98, Slg 2002, I-6191 – D’Hoop = EuZW 2002, 635 m Anm Bode.
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c) Sonstige Gleichheitsrechte Neben Art 18 AEUV ergeben sich aus dem Vertrag und aus der GRCh in erheblichem 22 Ausmaße weitere allgemeine (Art 20 GRCh) und besondere Gleichheitsrechte (zB Art 21 GRCh, Art 157 I AEUV). Weder der von der Rspr als allgemeiner Rechtsgrundsatz entwickelte und in Art 20 GRCh positivierte allgemeine Gleichheitssatz (→ Classen, § 9.2 Rn 21 ff) noch die besonderen Gleichheitssätze der Art 157 I AEUV, 21 GRCh werden von den Grundfreiheiten verdrängt, weil diese Normen (auch und gerade) andere Formen der Ungleichbehandlungen verbieten.110 Die Eröffnung ihrer Anwendungsbereiche stehen entweder in der Norm selbst (Art 157 I AEUV) oder bestimmen sich bei den Grundrechten nach der allgemeinen Charta-Vorschrift des Art 51 I GRCh. Traditionell besondere Bedeutung kommt der Bestimmung des Art 157 AEUV zu, die den Frauen und Männern mit unmittelbarer Wirkung111 auch im Verhältnis zu nichtstaatlichen Arbeitgebern ein gleiches Entgelt garantiert (selbst wenn nur Inländer betroffen sind) und darüber hinaus weitere Festlegungen für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen trifft (→ Classen, § 9.2 Rn 56ff ).112 Sie ist stets als unmittelbar auch Privaten gegenüber verbindlich anerkannt. Diese Vorschriften haben einen anderen Regelungsgehalt als die Grundfreiheiten und treten daher neben diese. Weiteren Normen geht es wie den grundfreiheitlichen Diskriminierungsver- 23 boten um das Verbot einer Schlechterstellung der EU-Ausländer gegenüber den Inländern sowie um die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt. Hinzuweisen ist etwa auf die auch den Einzelnen schützenden Verbote der Art 92113 und 110114 AEUV. Die Vorschriften ergänzen oder verdrängen als leges speciales die Grundfreiheiten in ihren jeweiligen Anwendungsbereichen.115 Gele
110 Art 21 II GRCh entspricht der Regelung des Art 18 AEUV und tritt daher hinter die Grundfreiheiten zurück, soweit deren Diskriminierungsverbote zum Zuge kommen. 111 EuGH, Rs 43/75, Slg 1976, 455, Rn 4 ff – Defrenne. 112 Die Quotenregelungen im öffentlichen Dienst (vgl EuGH, Rs C-450/93, Slg 1995, I-3051, Rn 21 ff – Kalanke; Rs C-409/95, Slg 1997, I-6363, Rn 23 ff – Marschall = JK 98, GG Art 3 II/8; Rs C-158/97, Slg 2000, I-1875, Rn 13 ff – Badeck) sowie die Beschäftigung von Frauen in den Streitkräften (vgl EuGH, Rs C273/97, Slg 1999, I-7403, Rn 21 ff – Sirdar; Rs C-285/98, Slg 2000, I-69, Rn 10 ff – Kreil = JK 2000, EGV Art 141/2) sind vom EuGH schwerpunktmäßig am sekundären Unionsrecht gemessen worden. Denkbar ist aber heute auch eine direkte Begründung über Art 21, 23 GRCh; s auch EuGH, Rs C-236/09, Slg 2011, I-773, Rn 32 – Association belge des Consommateurs Test-Achats = JK 2011, RL 2004/113, Art 5 II/1. 113 Vgl EuGH, C-195/90, Slg 1992, I-3141, Rn 13 ff – Kommission/Deutschland. 114 Vgl EuGH, Rs 57/65, Slg 1966, 257, 265 ff – Alfons Lütticke; Rs 106/84, Slg 1986, 833 – Kommission/ Dänemark; Rs 243/84, Slg 1986, 875 – John Walker; Rs C-167/05, Slg 2008, I-2127 – Kommission/Schweden. 115 Zur Abgrenzung von Art 110 AEUV und Art 30 AEUV vgl etwa EuGH, Rs 158/82, Slg 1983, 3573 – Kommission/Dänemark; Rs C-17/91, Slg 1992, I-6523 – Lornoy; Rs C-78/90 bis C-83/90, Slg 1992, I-1847 – Compagnie Commerciale de l’Ouest.
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gentlich verbieten die EU-Vorschriften auch andere Ungleichbehandlungen. ZB sind nach Art 40 II UAbs 2 AEUV Diskriminierungen zwischen Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Union im Rahmen einer gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte auszuschließen. Hier besteht schon in sachlicher Hinsicht kein Vorrang der binnenmarktgerichteten Grundfreiheiten.
d) Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft 24 In einem engen systematischen und strukturellen Verwandtschaftsverhältnis zu
den Grundfreiheiten stehen auch die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft, welche ihrerseits den Anwendungsbereich der Verträge iSd Art 18 AEUV eröffnen. Der EuGH sieht in der Unionsbürgerschaft eine Regelung des grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten (→ Buckler, § 10.3 Rn 7 ff)116 und leitet daraus weitreichende Folgerungen und Rechtspositionen ab. Mit der Unionsbürgerschaft verknüpft sich abseits der politischen Rechte der Art 22 ff AEUV insbesondere ein Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht (Art 20 II UAbs 1 S 2 lit a, 21 I AEUV). Dieses setzt ähnlich wie die Grundfreiheiten in aller Regel einen grenzüberschreitenden Bezug innerhalb der Europäischen Union voraus.117 Allerdings erkennt der EuGH in diesem Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers überdies auch einen Kernbereich des Unionsbürgerrechts an, der einem besonderen Schutz unterliegt. Dies führt nach der Rechtsprechung auch dann zu einem Schutz des Aufenthaltsrechts, wenn im konkreten Fall ein grenzüberschreitender Bezug nicht gegeben ist, der Unionsbürger durch die in Rede stehende staatliche Maßnahme aber dazu gezwungen wäre, die Union insgesamt zu verlassen, und damit auch sein Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht verlöre. Dies ist für Fallkonstellationen ohne grenzüberschreitenden Bezug entschieden worden, wenn Aufenthaltsrechte von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen, wie namentlich sorgeberechtigten Eltern, beendet werden sollten
116 Vgl EuGH, Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193, Rn 31 – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; krit zur Europäisierung der Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht durch den „Unionsbürgerstaat“ Schoch FS Hailbronner, 2013, S 355 ff. 117 Es erfasst dann auch Auslieferungskonstellationen, auch wenn das Ausländerrecht weiter nicht harmonisiert ist; s EuGH, Urt v 6.9.2016, Rs C-182/15 – Petruhhin = EuGRZ 2016, 546; dazu Gazin, Europe 11/2016, 12 f; Urt v 6.9.2017, Rs C-473/15 – Schotthöfer & Steiner/Adelsmayer; Urt v 17.12.2021, Rs C398/19 – Generalstaatsanwaltschaft Berlin; dazu Rigaux, Europe 2/2021, 21 f. Zu den Grenzen des Inländergleichbehandlungsgebots in Auslieferungsfällen (geboten bei dauerhaft ansässigen Unionsbürgern, nicht aber bei durchreisenden) s aber auch EuGH, Urt v 10.4.2018, Rs C-191/16, NJW 2018, 1529 – Pisciotti; dazu Bonneville/Broussy/Cassagnabère/Gänser, AJDA 2018, 1026, 1028 f; Coutts, CMLRev 56 (2019), 521 ff; Rigaux, Europe 6/2018, 14; EuGH, Urt v 13.11.2018, Rs C-247/17 – Raugevicius; dazu Bonneville/Cassagnabère/Gänser/Markarian, AJDA 2019, 443 (447 f).
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und der Unionsbürger zu diesen in einem Abhängigkeitsverhältnis stand.118 In der Sache führt diese Lesart der Unionsbürgerschaft in den Kernbestandssituationen zu einem aus dem Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers abgeleiteten Aufenthaltsrecht auch der Drittstaatsangehörigen. Freilich ist auch dieses Recht nicht absolut, sondern kann etwa aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (nicht aber allein wegen der Inanspruchnahme von Sozialhilfe119) eingeschränkt werden.120 Das Freizügigkeitsrecht verbietet nicht nur Beschränkungen eines Wegzugs in 25 einen anderen Mitgliedstaat – etwa in Gestalt der Kürzung von Sozialleistungen121 oder einer Erhöhung der Steuer122 – sowie der Einreise, des Aufenthalts und der freien Bewegung im Zuzugsstaat,123 vielmehr entnimmt der EuGH Art 21 iVm Art 18 AEUV zugleich ein Recht auf Inländergleichbehandlung124, das ebenso wie die aufenthaltsrechtliche Dimension durch die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38 seine sekundärrechtliche Ausformung erhalten hat (zur Inländerdiskriminierung vgl Rn 39)125 und durch die Rechtsprechung stark ausdifferenziert worden ist. Das Gebot der Inländergleichbehandlung untersagt direkte ebenso wie indirekte Diskriminierungen. Aus dem Recht auf Inländergleichbehandlung kann sich daher insbesondere ein Recht auf Teilhabe an sozialen Vergünstigungen (Rn 58) und auf gleichberechtigten
118 EuGH, Rs C-34/09, Slg 2011, I-1177 – Ruiz Zambrano; s auch EuGH, Urt v 13.9.2016, Rs C-304/14, Rn 23 ff – CS; s auch Rigaux, Europe 12/2016, 12 ff; EuGH, Urt v 5.5.2022, verb Rs C-451/19 u C-532/19 – Subdelegación del Gobierno de Toledo/XU ua; dazu Rigaux, Europe 7/2022, 18 ff. Zu den Grenzen der Kernbereichsrspr EuGH, Rs C-434/09, Slg 2011, I-3375 – McCarthy; Rs C-256/11, Slg 2011, I-11315, Rn 66 ff – Dereci = JK 2011, RL 95/46, Art 28/1. Insb zum Kriterium des Kindeswohls EuGH, Urt v 10.5.2017, Rs C-133/15, EuGRZ 2017, 377 – Chavez-Vilchez ua; dazu Rigaux, Europe 7/2017, 25 f; Leboeuf, JDE 2017, 321 f; Urt v 8.5.2018, Rs C-82/16, NVwZ 2018, 1859 – K.A. ua; dazu Rigaux, Europe 7/2018, 13 ff. S ferner Hailbronner/Thym, NJW 2011, 2008 ff; van Eijken/de Vries, ELRev 36 (2011), 704 ff. Für ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Ehegatten, das anders als die eheliche Gemeinschaft ausnahmsweise genügen können soll, s EuGH, Urt v 27.2.2020, Rs C-836/18 – Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real/RH; dazu Neier, CMLRev 58 (2021), 549 ff; Rigaux, Europe 4/2020, 15 ff. 119 EuGH, Urt v 27.2.2020, Rs C-836/18, Rn 48 f – Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real/RH. 120 EuGH, Urt v 13.9.2016, Rs C-304/14 – CS; s auch EuGH, Urt v 13.9.2016, Rs C-165/14 – Rendón Marín. 121 EuGH, Rs C-406/04, Slg 2006, I-6947, Rn 39 – De Cuyper = JK 2007, EGV Art 18/1. 122 EuGH, Rs C-520/04, Slg 2006, I-10685, Rn 39 – Turpeinen. 123 Das gilt auch für die Rückkehr in den eigenen Heimatstaat, s EuGH, Urt v 6.10.2021, Rs C-35/20 – A/Syyttätä = InfAuslR 2021, 419. 124 Grundl EuGH, Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193, Rn 34 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; vgl auch EuGH, Rs C-413/99, Slg 2002, I-7091 – Baumbast; Rs C-224/98, Slg 2002, I-6191 – D’Hoop; Rs C-209/03, Slg 2005, I-2119 – Bidar = JK 2005, EGV Art 12 I/2; Rs C-147/03, Slg 2005, I-5969 – Kommission/Österreich = JK 2006, EGV Art 12/3; Rs C-456/02, Slg 2004, I-7573 – Trojani; Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735, Rn 66 ff – Bressol; krit Hailbronner, NJW 2004, 2185 ff; ders, JZ 2005, 1138 (1139 f); Sander, DVBl 2005, 1014 ff. 125 Zur Freizügigkeitsrichtlinie Iliopoulou, RDUE 2004, 523 ff.
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Zugang zu sonstigen Leistungsansprüchen ergeben; auch hier existiert eine mittlerweile fein ausdifferenzierte Rechtsprechung des Gerichtshofs, die den Gleichbehandlungsansprüchen der Unionsbürger ua die Leistungsfähigkeit der weiterhin nicht harmonisierten sozialen Sicherungssysteme der Union gegenüberstellt und von den Mitgliedstaaten abwägende Lösungen unter Berücksichtigung einer europäischen Mindestsolidarität als Untergrenze verlangt (→ Kadelbach, § 10.2 Rn 45).126 Insofern stellt heute die AufenthaltsRL 2004/38 den (im Lichte der Unionsbürgerschaft einzelfallbezogen auszulegenden) sekundärrechtlichen Rahmen dar.127 Insbesondere akzeptiert der EuGH mitgliedstaatliche Anforderungen an die Manifestation der Verbundenheit des Antragstellers mit dem Staat, in dem er die soziale Vergünstigung beantragt; deren Verhältnismäßigkeit ist beispielsweise im Bereich von Studienbeihilfen eine stete Abwägungsfrage.128 26 Das Recht auf Freizügigkeit nach Art 21 AEUV iVm Art 18 AEUV hat sich in der Rechtsprechung zu einem Auffangrecht entwickelt.129 Inhaltlich überschneidet es sich in seinen Dimensionen als Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot mit den Gewährleistungsgehalten der Personenverkehrsfreiheiten ieS (Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit) wie auch der ebenfalls personelle Elemente aufweisenden Dienstleistungsfreiheit. In ihrem systematischen Verhältnis gehen die Grundfreiheiten dem Recht auf Freizügigkeit aus Art 21 AEUV wie auch aus Art 21 AEUV iVm dem Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV vor, soweit die Berechtigten als Wirtschaftssubjekte im Rahmen ihrer grundfreiheitlich geschützten Tätigkeit angesprochen werden und eine Diskriminierung oder Beschränkung aufgrund der Staatsangehörigkeit vorliegt. Der Auffangcharakter des Rechts auf Freizügigkeit iVm Art 18 AEUV zeigt sich etwa im Namensrecht. So soll die Ablehnung, den Namen eines Kindes anzuerkennen, der in einem anderen Mitgliedstaat be-
126 Vgl etwa EuGH, Rs C-184/99, Slg. 2001, I-6193 – Grzelczyk; Rs C-456/02, Slg. 2004, I-7573 – Trojani; Urt v 19.9.2013, Rs C-140/12, Rn 69 ff – Brey; Urt v 11.11.2014, Rs C-333/13 – Dano; Urt v 15.9.2015, Rs C67/14 – Alimanovic; dazu Simon, Europe 11/2015, 13 f.; Urt v 25.2.2016, Rs C-299/14 – García-Nieto = NJW 2016, 1145; Urt v 14.6.2016, Rs C-308/14 – Kommission/Großbritannien; dazu O’Brien, CMLRev 54 (2017), 209 ff; Driguez, Europe 8/2016, 27 f; Urt v 15.7.2021, Rs C-709/20 – GC/The Department for Communities in Northern Ireland = EuZW 2021, 801 m Bespr Wollenschläger S 795 ff; dazu Driguez, Europe 10/2021, 19 f. S auch Arestis in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, S 57 ff. 127 Vgl EuGH, Urt v 11.11.2014, Rs C-333/13 – Dano; Urt v 15.9.2015, Rs C-67/14 – Alimanovic. 128 Dazu etwa EuGH, Rs C-209/03, Slg 2005, I-2119 – Bidar; Urt v 18.7.2013, verb Rs C-523/11 u C-585/11 – Prinz und Seeberger; Urt v 26.2.2015, Rs C-359/13 – Martens; dazu Rigaux, Europe 4/2016, 18 ff; Urt v 2.6.2016, Rs C-233/14, NVwZ 2016, 1076 – Kommission/Niederlande =; dazu Daniel, Europe 8/2016, 29 f. Für den Fall eines Wanderarbeitnehmerkindes auch EuGH, Urt v 10.7.2019, Rs C-410/18 – Aubriet, dazu Rigaux, Europe 10/2019, 24 f. 129 Dörr FS Rengeling, 2008, S 205 (213).
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stimmt und eingetragen wurde, gegen Art 21 iVm 18 AEUV verstoßen können130, wohingegen für die Löschung eines im Wege der Erwachsenenadoption erworbenen Adelstitels anderes angenommen wurde131. Gleiches gilt für seine Einwirkungen in das mitgliedstaatliche Personenstandsrecht.132 Allerdings hat das Auffangrecht auch Grenzen und höhlt nicht die staatspolitischen Dimensionen von Staatsbesuchen innerhalb der Union aus.133 Keinerlei Überschneidungen ergeben sich auch mit den sonstigen Unionsbürgerrechten wie dem Wahlrecht (Art 22 AEUV), dem Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz in Drittländern (Art 23 AEUV), dem Petitionsrecht (Art 24 AEUV) sowie dem Recht auf Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane (Art 15 AEUV).
e) Ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts Von den Grundfreiheiten abzugrenzen sind schließlich die ungeschriebenen all- 27 gemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, die der EuGH auf der Grundlage des Art 19 I 2 EUV vornehmlich als Ausprägung der Rechtstaatlichkeit (Art 2 S 1 EUV) aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den internationalen Verträgen im Wege der wertenden Rechtsvergleichung abgeleitet hat. Zu nennen sind einerseits die Unionsgrundrechte iSd Art 6 III EUV (vgl bereits Rn 17 ff), andererseits etwa das Gesetzmäßigkeitsprinzip, die verfahrensrechtlichen Grundsätze der Rechtssicherheit (Bestimmtheit, Vertrauensschutz, Verbot der Rückwirkung)134 oder das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Rn 159 ff). Viele dieser Rechtsgrundsätze – namentlich die zunächst von der Rspr entwickelten Unionsgrundrechte sowie die Rechte auf eine gute Verwaltung135 – sind mittlerweile positiviert worden. Soweit dies noch nicht geschehen ist, behalten die allgemeinen Rechtsgrundsätze ihre Bedeutung, weil die mitgliedstaatlichen (oder unionalen) Beschränkungen der Grundfreiheiten an ihnen gemessen werden müssen. Ihnen kommt in der Sache die
130 Vgl EuGH, Rs C-353/06, Slg 2008, I-7841, Rn 22 ff – Grunkin u Paul = JK 2009, EGV Art 18/3. S auch EuGH, Rs C-148/02, Slg 2003, I-11613 – Garcia Avello. 131 EuGH, Rs C-208/09, Slg 2010, I-13693, Rn 93 ff – Sayn-Wittgenstein; dazu Besselink, CMLRev 49 (2012), 671 ff. Vgl auch EuGH, Rs C-391/09, Slg 2011, I-3818, Rn 71 – Runevič-Vardyn und Wardyn; Urt v 2.6.2016, Rs C-438/14, NJW 2016, 2093 – Bogendorff von Wolffersdorff; dazu Cusas, JDE 2016, 317 ff; Janal, GPR 2017, 67 ff; Simon, Europe 8/2016, 14 f; EuGH, Urt v 8.6.2017, Rs C-541/15 – Freitag; dazu Simon, Europe 8/2017, 18 f. 132 Vgl jüngst EuGH, Urt v 14.12.2021, Rs C-490/20 – Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“ (Anerkennung von Personenstandsurkunden mit Abkunft von zwei Müttern) = IPRax 2022, 271 m Bespr Kohler S 226 ff.; dazu Rigaux, Europe 2/2022, 12 ff; d’Avout/Legendre, Rec Dalloz 2022, 331 ff. 133 EuGH, Urt v 16.10.2012, Rs C-364/10 – Ungarn/Slowakei; dazu Rossi, CMLRev 50 (2013), 1451 ff. 134 Näher zum Ganzen Schwarze Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl 2005, S 911 ff, 1135 ff. 135 Vgl nunmehr Art 41 GRCh.
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Funktion von Schranken-Schranken zu. Sachlich sind sie in ihren Gewährleistungsgehalten indes von den Grundfreiheiten als Marktgarantien klar zu trennen.
7. Dogmatik der Grundfreiheiten 28 Obwohl die Grundfreiheiten von konstitutiver Bedeutung für den Wirtschaftsver-
kehr in der Union sind, besteht über ihre dogmatische Strukturierung keine letztgültige Einigkeit. Auch der EuGH verfolgt nicht immer eine klare Linie, wobei etliche Unklarheiten sich auch aus den zuweilen komplexen und uneinheitlichen Formulierungen sowie dem allgemeinen Mangel an dogmatischer Ausarbeitung der Entscheidungen ergibt. Feste Rechtsprechungslinien, die bestimmte dogmatische Weichenstellungen auch über längere Zeiten hinweg beibehalten, lassen sich jedenfalls identifizieren. Dabei lassen sich aber in allen Grundfreiheiten Strukturidentitäten feststellen, die einheitliche dogmatische Lösungen erfordern, allerdings keine vollständige Gleichbehandlung der Grundfreiheiten vornehmen.136 Differenzierungen bleiben also weiterhin erforderlich. Lediglich unter diesen Prämissen kann von einer Konvergenz der Grundfreiheiten gesprochen werden, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch tatsächlich zu beobachten ist.137 Daher ist es möglich, in der Folge die übergreifenden Aspekte der Grundfreiheiten, was Problemstellungen und Lösungsansätze, aber auch fortbestehende Differenzierungen angeht, in den Blick zu nehmen. Die darauf folgenden Beiträge des Lehrbuchs gehen sodann auf die Freiheiten im Einzelnen ein.
II. Zielsetzungen, Gewährleistungsgehalte und Funktionen der Grundfreiheiten Fall 1: (EuGH, Rs C-322/01, Slg 2003, I-4887 ff – DocMorris I = JK 2004, EGV Art 28/4) Das in den Niederlanden ansässige Unternehmen DocMorris betreibt einen staatlich genehmigten Versandhandel mit apothekenpflichtigen Medikamenten. Über das Internet werden Humanarzneimittel auch in deutscher Sprache zum Kauf angeboten. Der deutsche Apothekerverband sah darin einen Verstoß gegen das deutsche Arzneimittelgesetz von 1998 (AMG) und klagte vor dem Landgericht auf Unterlassung nach den §§ 1, 13 UWG. Das Landgericht hatte Zweifel an der Unionsrechtskonformität der maßgeblichen, den Verkauf von Medikamenten im Internet verbietenden Bestimmung des AMG und legte dem EuGH nach Art 267 AEUV die Frage vor, ob die Bestimmung mit Art 34 AEUV vereinbar ist.
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136 S schon Lecheler ER, S 222. 137 Deutlich zurückhaltender Steinberg, EuGRZ 2002, 13 ff.
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Abwandlung Fall 1: (EuGH, verb Rs C-171/07 u C-172/07, Slg 2009, I-4171 – Apothekerkammer des Saarlandes (DocMorris II) = JK 2009, EGV Art 43/11): Verstößt das deutsche Apothekenrecht, welches Personen, die keine Apotheker sind, den Besitz und den Betrieb von Apotheken verwehrt, gegen die Niederlassungsfreiheit der niederländischen Kapitalgesellschaft DocMorris?
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1. Die Binnenmarktzielsetzung und der sachliche Anwendungsbereich der Grundfreiheiten Zielsetzung der Grundfreiheiten ist es, den europäischen Binnenmarkt iSd Art 26 31 AEUV (Rn 1) zu schaffen und abzusichern. Sie bilden die primärrechtliche Basis und grundlegende Wertentscheidung, welche durch sekundärrechtliche Harmonisierungsmaßnahmen ergänzt werden, die in aktiver Weise und damit noch wirkungsvoller eine Herstellung eines Binnenmarktes nach wettbewerblichen Grundsätzen bewirken können. Die Grundfreiheiten, die in erster Linie als Verbotsnormen gegenüber den Mitgliedstaaten konzipiert sind, können eine derartige positiv-gestaltende Wirkung nur in begrenztem Umfang erfüllen. Um ihre Durchsetzungskraft als Leitgrundsätze des Binnenmarktes zu entfalten, sind sie auf eine subjektive Rechtsqualität angewiesen (Rn 17). Gefahren für den Binnenmarkt rühren dabei zum einen von Diskriminierungen direkter oder indirekter Art her. Ein funktionsfähiger, wettbewerbsorientierter Binnenmarkt verlangt, dass die Grundfreiheiten allen Marktteilnehmern unabhängig von ihrer Herkunft Ansprüche auf diskriminierungsfreien Zugang zu den EU-ausländischen Märkten gewähren. Zum anderen erfordert er gleichzeitig die Beschränkung der staatlichen Regulierungsmöglichkeiten auch dann, wenn sie sich nicht als diskriminierend darstellen. Hieraus rechtfertigt sich die Funktion der Grundfreiheiten als reine Beschränkungsverbote, die allerdings in ihrem Umfang nach den einzelnen Grundfreiheiten dogmatische Unterschiede aufweisen. Im Zentrum der Zielsetzung steht in diesen Fällen die Sicherstellung des grenzüberschreitenden Marktzugangs. Von den Grundfreiheiten als Marktfreiheiten klar abgrenzbar sind bürgerliche oder politische Rechte, sofern sie nicht ihrerseits die Stellung des Einzelnen auch als Marktbürger berühren.138 Hierbei kommen den Grundfreiheiten verschiedene Funktionen zu, die man in 32 die Kategorien der Abwehr-, Schutz-, Leistungs- und Verfahrensrechte einordnen
138 Vgl EuGH, Rs C-465/01, Slg 2004, I-8291, Rn 30 ff – Kommission/Österreich: Verletzung des Art 45 AEUV wegen Ausschlusses der Arbeitnehmer und Angestellten aus anderen Mitgliedstaaten der EU (oder des EWR) vom passiven Wahlrecht in der Kammer für Arbeiter und Angestellte.
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kann, auch wenn diese eher der deutschen grundrechtlichen Tradition entsprechende Kategorisierung unionsrechtsdogmatisch keine exakte Entsprechung findet. Während positive (Schutz-)Pflichten der Mitgliedstaaten anerkannt sind (Rn 52 ff) und auch Teilhaberechte häufig sind (Rn 58 ff), tritt die verfahrensrechtliche Dimension (Rn 57 ff) als eigenständige Funktion selten hervor. Allerdings wohnen im Interesse der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts (effet utile) alle genannten Funktionen den Garantien der Grundfreiheiten inne. Dabei hat die an deutsche Kategorien angelehnte Sortierung eine gewisse Übersichtlichkeit für sich, wenngleich die Rechtsprechung insofern nicht immer eindeutig in der dogmatischen Zuordnung ist. Rechtstechnisch bedeutsamer ist allerdings die Unterscheidung der Gewährleistungsgehalte der Grundfreiheiten in ein Diskriminierungsverbot (Rn 38 ff), das man als eine gleichheitsrechtliche Funktion betrachten kann, und ein Beschränkungsverbot (Rn 41 ff), welches freiheitsrechtliche Züge aufweist. In der Sache ist auch hier der dogmatische und prüfungstechnische Unterschied nicht erheblich; denn in beiden Fällen erfolgt die Tatbestands- ebenso wie die Rechtfertigungsprüfung strukturell in derselben Weise. Bei letzterer müssen ein Rechtfertigungsgrund vorliegen und die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Eine wesentliche Besonderheit liegt allerdings darin, dass im Falle direkter Diskriminierungen die Auswahl der Rechtfertigungsgründe begrenzt ist (Rn 139). 33 Auch ein objektiv-rechtlicher Aspekt, wie ihn die deutsche Grundrechtsdogmatik kennt (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 60), tritt dabei wegen des ausdrücklichen Binnenmarktziels des Art 26 AEUV als eigenständige Funktion zurück.139 Im Übrigen folgt aus den Grundfreiheiten natürlich auch unabhängig von ihrer subjektivrechtlichen Funktion eine (objektivrechtliche) Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu ihrer Einhaltung. Auch haben sie als Unionsprimärrecht Anteil an dem allgemeinen Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung. Danach muss das einschlägige mitgliedstaatliche Recht (einschließlich des Privatrechts) im Lichte der Grundfreiheiten (grundfreiheitskonform) ausgelegt werden; Gleiches gilt für das Sekundärrecht der Union.140 Diese Auslegungsregel ändert allerdings die inhaltliche Reichweite der Grundfreiheiten und die Kompetenzordnung (Art 5 EUV) nicht. Will die EU die Grundfreiheiten konkretisieren oder erweitern oder das einschlägige mitgliedstaatliche Recht angleichen, muss sie von den Ermächtigungen zur Ausgestaltung der Grundfreiheiten (zB Art 46, 50, 53, 59, 60 AEUV) – oder anderen Ermächtigungen der Verträge, wie der Rechtsangleichungsvorschriften Art 114, 115 AEUV – Gebrauch machen.
139 Generell ablehnend Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 200 f. 140 Vgl auch Jarass, EuR 1991, 211 (222); dens, EuR 1995, 202 (211); Zuleeg, VVDStRL 53 (1993), 154 (165 ff).
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Wegen des übergeordneten Binnenmarktziels erfassen die Grundfreiheiten 34 nach der zutreffenden stRspr des EuGH141 – anders als die Unionsgrundrechte – nur grenzüberschreitende Sachverhalte.142 Ausreichend ist dafür, dass jedenfalls ein Element des Sachverhaltes über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausgeht. Während der EuGH ursprünglich darauf abgestellt hat, dass allein die hypothetische Möglichkeit eines Grenzübertritts nicht ausreicht,143 sind die Anforderungen über die Annahme einer Grenzüberschreitung in der jüngeren Rechtsprechung kontinuierlich gesenkt worden,144 so dass auch die konkrete und belegbare Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Inanspruchnahme der Grundfreiheit ausreicht.145 Allerdings ist die Rspr hier nicht abschließend klar, da der Gerichtshof zuweilen auch den Nachweis der Grenzüberschreitung etwa von Kunden verlangt;146 nicht ausreichend dürfte (jedenfalls bei der Entscheidung eines Einzelfalls, s sogleich Rn 35) regelmäßig die bloß abstrakte Möglichkeit sein.147 In der Sache sind unterschiedliche Anknüpfungspunkte und Perspektiven mög- 35 lich, einen Binnenmarktbezug zu begründen, wobei es im Einzelnen es schwierig sein kann, interne von grenzüberschreitenden Sachverhalten abzugrenzen.148 So schließt der Umstand, dass ein Inländer seinen Heimatsstaat verklagt hat, noch nicht aus, die zugrundeliegende nationale Vorschrift am Maßstab der Grundfreiheiten zu überprüfen. Dies gilt in jedem Fall, sofern eine hinreichend verfestigte
141 Vgl zB EuGH, Rs 175/78, Slg 1979, 1129, Rn 11 – Saunders; Rs C-332/90, Slg 1992, I-341, Rn 9 – Steen I; Rs C-132/93, Slg 1994, I-2715, Rn 9 – Steen II; verb Rs C-29/94 bis C-35/94, Slg 1995, I-301, Rn 10 ff – Aubertin; Rs C-134/95, Slg 1997, I-195, Rn 19 ff – USSL nº 47 di Biella; Rs C-212/06, Slg 2008, I-1683, Rn 52 – Gouvernement de la Communauté française, Gouvernement wallon/Gouvernement flamand (Flämische Pflegeversicherung); Rs C-434/09, Slg 2011, I-3375 Rn 45 – McCarthy. 142 Vgl auch Gundel, DVBl 2007, 269 (270 f). AA zB Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, S 201, 203, 209 f; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 55 ff. 143 EuGH, Rs 180/83, Slg 1984, 2539, Rn 18 – Moser; Rs C-299/95, Slg 1997, I-2629, Rn 16 – Kremzow. 144 Vgl Lippert Der grenzüberschreitende Sachverhalt im Unionsrecht, 2013, S 198 ff, 229; Potvin-Solis in: Neframi (Hrsg), Renvoi préjudiciel et marge d’appréciation du juge national, 2015, S 39 ff; Martucci in: Dubout/Maitrot de la Motte (Hrsg), L’unité des libertés de circulation, 2013, S 43 ff. 145 Vgl für die (passive) Dienstleistungsfreiheit von Urlaubern im Bereich des Glückspiels EuGH, Urt v 11.6.2015, Rs C-98/14 – Berlington Hungary = RIW 2015, 828; dazu Simon/Rigaux, Europe 8/2015, 25 ff. Für Patienten eines Zahnarztes aus anderen Mitgliedstaaten EuGH, Urt v 4.5.2017, Rs C-339/15 – Vanderborght. Ferner auch EuGH, Urt v 15.11.2016, Rs C-268/15, Rn 50 ff – Ullens de Schooten. 146 EuGH, Urt v 3.12.2020, Rs C-311/19, Rn 25 – BONVER WIN. 147 Vgl EuGH, Beschl v 4.6.2019, Rs C-665/18, Rn 24 – Pólus Vegas. Weitergehend aber wiederum EuGH, Urt v 19.12.2019, Rs C-465/18, Rn 33 – AV ua/Comune di Bernareggio; dazu Rigaux, Europe 2/ 2020, 27 f. 148 Vgl zB Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 140 ff.
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Rechtsposition in Rede steht, die der Betreffende durch einen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat und die er nun in seinen Heimatstaat mitnehmen möchte.149 Als noch weitergehend erweist sich die Problematik, wenn die streitgegenständliche Vorschrift nicht nur die Rechtsposition des inländischen Klägers berührt, sondern auch die Interessen von Personen oder Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten, auch wenn solche Personen an dem Rechtsstreit nicht beteiligt sind. In diesen Fällen wird die Frage zumeist bereits in prozessualer Hinsicht relevant. Im Falle objektiver Kontrollverfahren wie bei Vertragsverletzungsverfahren ist die mitgliedstaatliche Norm in ihrer abstrakten Breite relevant, so dass allein die mögliche Berührung ausländischer Fälle für die Annahme eines grenzüberschreitenden Bezugs ausreicht. Im Vorabentscheidungsverfahren ist hingegen der Fall des Klägers des Ausgangsverfahrens entscheidend. Hier muss der Binnenmarktbezug konkret dargelegt werden; dabei kann man auf den Kläger selbst oder auf Personen abstellen, auf deren Inanspruchnahme der Grundfreiheit er sich etwa als Vertragspartner berufen kann.150 Sofern das nationale Recht sich aus einer autonomen Entscheidung heraus im Interesse der Inländergleichbehandlung in vergleichbaren reinen Inlandsfällen an das unionsrechtliche Ergebnis gleichsam koppelt, lässt die Rechtsprechung dies indes auch im Vorabentscheidungsverfahren für die Entscheidungserheblichkeit genügen, um zu der grundfreiheitlichen Bewertung Stellung zu beziehen; hier ist der grenzüberschreitende Bezug dann durch den autonomen Nachvollzug bzw die Anordnung durch das nationale Recht sichergestellt.151 Dagegen scheidet der grenzüberschreitende Bezug im konkreten Fall aus, sofern sich ein Inländer gegenüber seinem Heimatstaat auf eine Grundfreiheit beruft, die nur Unionsausländern zusteht, um eine innerstaatliche Vorschrift anzugreifen. Im Vorabentscheidungsverfahren entfällt hier auch die Entscheidungserheblichkeit der auf die Grundfreiheit bezogenen Vorlagefrage. Denn das nationale Recht könnte nach den Grundsätzen der Inländerdiskriminierung (sogleich Rn 39) und den Grenzen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ihm ge-
149 Vgl für Berufstätigkeiten und akademische Grade bei den Personenverkehrsfreiheiten EuGH, Rs 115/78, Slg 1979, 399 – Knoors; Rs C-370/90, Slg 1992, I-4265 – Singh; Rs C-19/92, Slg 1993, I-1663 – Kraus. 150 Vgl bspw EuGH, Urt v 4.5.2017, Rs C-339/15 – Vanderborght; dazu Daniel, Europe 7/2017, 34 f; Stuyck, JDE 2017, 324 ff. S allerdings weitergehend für die bloße Möglichkeit eines grenzüberschreitenden Interesses von Wirtschaftsteilnehmern EuGH, Urt v 19.12.2019, Rs C-465/18, Rn 33 – AV ua/Comune di Bernareggio. 151 Vgl EuGH, Urt v 19.7.2012, Rs C-470/11, Rn 20 f – SIA Garkalns; Urt v 8.5.2013, Rs C-197/11 u C-203/11, Rn 34 f – Libert ua; Urt v 12.5.2016, verb Rs C-692/15 bis C-694/15, Rn 27 – Security Service ua; dazu Rigaux, Europe 7/2016, 28 f; Urt v 14.11.2018, Rs C-342/17 – Memoria Srl; dazu Rigaux, Europe 1/2019, 26 f; s auch Gundel, DVBl 2007, 269 (274). S zu den Grenzen aber auch EuGH, Urt v 15.11.2016, Rs C-268/15, Rn 54 – Ullens de Schooten; dazu Simon, Europe 1/2017, 12 f.
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genüber auch im Falle einer Unionsrechtswidrigkeit in grenzüberschreitenden Fällen durchaus aufrechterhalten bleiben. Einen Sonderfall bilden freilich die Konstellationen der Kernbestandsrechtsprechung im Bereich der Unionsbürgerfreizügigkeit (Rn 5ff). Lässt sich ein grenzüberschreitender Bezug feststellen, ist ein Vergleich zwischen dem inländischen und dem ausländischen Sachverhalt anzustellen.152 Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten verbietet, EU-Ausländer 36 (Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten oder juristische Personen bzw teilrechtsfähige Personen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten) schlechter als Inländer zu behandeln.153 Inländern kommt das Diskriminierungsverbot nur dann zugute, wenn sie sich aufgrund ihres Verhaltens gegenüber ihrem Mitgliedstaat in einer Lage befinden, die sich mit derjenigen anderer Personen, die in den Genuss der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbar ist.154 So ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt beispielsweise gegeben, wenn ein Inländer (respektive eine nach inländischen Vorschriften gegründete juristische Person) eine Ware in einen anderen Mitgliedstaat ausführen oder eine ausgeführte Ware reimportieren will155, sich zwecks Annahme einer Arbeit, einer Niederlassung156 oder Erbringung einer Dienstleistung in das EU-Ausland begeben möchte,157 vom Inland aus dienstleistend in anderen Mitgliedstaaten in Erscheinung zu treten beabsichtigt oder einen Kapital- und Zahlungsverkehr mit dem EU-Ausland (oder bei der Grundfreiheit: auch einem Drittstaat: Rn 9) abwickeln möchte. In allen diesen Fällen greift eine Berufung des Inländers auf die Grundfreiheiten gegenüber dem eigenen Staat durch. Ferner kann auch eine frühere Ansässigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausreichend sein. Hat ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats zuvor in einem anderen Mitgliedstaat die erforderliche Qualifikation für einen be-
152 Geht es nicht um die Beurteilung einer mitgliedstaatlichen, sondern einer EU-Maßnahme, ist stets ein grenzüberschreitender Sachverhalt anzunehmen. 153 Zu Einheimischenprivilegierungen im Kommunalrecht s Roeßing Einheimischenprivilegierungen und EG-Recht, 2008, S 125 ff, sowie → Rn 173 Fall 18. 154 EuGH, Rs 115/78, Slg 1979, 399, Rn 24 – Knoors; Rs C-107/94, Slg 1996, I-3089, Rn 32 – Asscher. 155 EuGH, C-240/95, Slg 1996, I-3179, Rn 10 – Rémy Schmit. 156 Zur Verlagerung des Sitzes der Geschäftsleitung einer Gesellschaft in das EU-Ausland vgl EuGH, Rs 81/87, Slg 1988, 5483, Rn 1 ff – Daily Mail; ferner EuGH, Rs C-210/06, Slg 2008, I-9641 ff – Cartesio. S auch EuGH, Rs C-212/97, Slg 1999, I-1459, Rn 18 ff – Centros; Rs C-208/00, Slg 2002, I-9919, Rn 82 – Überseering = JK 2003, EGV Art 43/3; Rs C-167/01, Slg 2003, I-10155, Rn 101 – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; Urt v 12.7.2012, Rs C‑378/10, EuZW 2012, 621, Rn 42 ff – Vale Epitesi (grenzüberschreitende Umwandlung von Gesellschaften) = JK 2013, AEUV Art 49, 54/1; Urt v 25.10.2017, Rs C-106/16 – Polbud. 157 EuGH, Rs C-224/97, Slg 1999, I-2517, Rn 12 – Ciola = JK 2000, EGV Art 49/1; Rs C-55/98, Slg 1999, I7641, Rn 20 – Vestergaard; Urt v 2.4.2020, Rs C-830/18, NVwZ 2020, 704 – Landkreis Südliche Weinstraße/PF; dazu Gazin, Europe 6/2020, 30.
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stimmten Beruf gemäß der Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie (RL 2005/ 36) erlangt, darf er sich seinem eigenen Mitgliedstaat gegenüber auf die Personenverkehrsfreiheiten berufen, um im Inland Zugang zu dem Beruf zu erlangen.158 Darüber hinaus kommen die Grundfreiheiten auch den Vertragspartnern der die Freiheit ausübenden Personen zugute,159 wie etwa die Freizügigkeit der Arbeitnehmer den Arbeitgebern160 oder die Dienstleistungsfreiheit den Dienstleistungsempfängern (Rn 8). So kann sich beispielsweise ein Tourist aus dem EU-Ausland, von dem in einem staatlichen Museum höhere Eintrittsgelder als von den Einheimischen erhoben werden, auf die Dienstleistungsfreiheit berufen.161 Bei den Vertragspartnern kann es sich auch um Inländer handeln, sofern im Übrigen der grenzüberschreitende Sachverhalt gegeben ist. Schließlich ist bereits erwähnt worden, dass die Personenfreiheiten auch die (aus- oder inländischen) Familienangehörigen der (primär) Berechtigten schützen (Rn 7). 37 Da rein innerstaatliche Sachverhalte nicht an den Grundfreiheiten gemessen werden können, impliziert dies zugleich, dass den Mitgliedstaaten eine (reine) Inländerdiskriminierung durch die Grundfreiheiten nicht untersagt wird.162 Sie sind auf diese Fälle in aller Regel nicht anwendbar.163 Selbst wenn aus dem Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV iVm den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft entgegen der Rspr des EuGH das Verbot einer Inländerdiskriminierung vereinzelt abgeleitet wird,164 müssen die Grundfreiheiten diesen Vorschriften doch als leges speciales vorgehen. Deshalb ist es zB nicht unionsrechtswidrig, das deutsche Rein-
158 Vgl EuGH, Rs 115/78, Slg 1979, 399, Rn 24 f – Knoors; Rs 246/80, Slg 1981, 2311, Rn 19 – Broekmeulen. 159 Jarass, EuR 2000, 705 (708). 160 EuGH, Rs C-350/96, Slg 1998, I-2521, Rn 16 ff – Clean Car Autoservice. 161 Der EuGH koppelt diese hier jedoch mit Art 18 AEUV. S EuGH, Rs C-45/93, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien = EuZW 1994, 473 m Anm von Borries; Rs C-388/01, Slg 2003, I-721, Rn 14 f – Kommission/Italien = JK 2003, EGV Art 49/7. 162 Eingehend Gundel, DVBl 2007, 269 ff; Poiares Maduro in: Kilpatrick/Novitz/Skidmore, The Future of Remedies in Europe, 2000, S 117 ff. Vgl zB auch Streinz ER, Rn 851, auch zur Terminologie („umgekehrte Diskriminierung“ und „Inländerdiskriminierung“), nach der beide Begriffe als gleichwertig anzuerkennen sind. S ebenso Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, S 20 ff. 163 Anderes gilt nach der neueren Rspr für die sekundärrechtliche Ausprägung der DienstleistungsRL, die auch auf reine Inlandssachverhalte Anwendung findet; s EuGH, Urt v 30.1.2018, verb Rs C-360/15 u C-31/16, Rn 109 – X und Visser Vastgoed Beleggingen = NVwZ 2018, 307 m Anm Kümper = EuZW 2018, 244 m Anm Schaumburger = DVBl 2019, 233 m Bespr Battis/Hennig, S 197 ff; Urt v 22.9.2020, verb Rs C-724/18 u C-727/18 – Cali Apartments SCI u HX. Vgl insofern auch Germelmann/ Gundel, BayVBl 2019, 613 (614): faktische Reduktion der Anwendungsfälle der Inländerdiskriminierung. 164 ZB Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, S 220 ff. AA zu Recht → Buckler, § 10.3 Rn 21 ff.
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heitsgebot für Bier nur für deutsche Brauereien oder die Meisterprüfung nach der Handwerksordnung nur für deutsche Handwerker aufrechtzuerhalten.165 Ob Inländerdiskriminierungen mit dem nationalen Recht vereinbar sind, bestimmt dieses selbst.166 Während etwa in Österreich167 und Italien168 ein Verfassungsverstoß angenommen wird, verbietet das deutsche Verfassungsrecht eine solche Diskriminierung in der Regel nicht. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art 3 I GG scheidet bereits deshalb aus, weil die Vorschrift nur Bindungswirkungen für den jeweiligen Hoheitsträger innerhalb seines Kompetenzbereichs entfaltet und somit unionsrechtliche Regelungen nicht mit nationalen verglichen werden können.169 Der Umstand, dass die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte auf die EU übertragen hat, bedeutet nicht, dass das gesamte Primärrecht der EU so zu behandeln ist, als habe es die Bundesrepublik selbst erlassen.170 Zudem betrifft die Behandlung grenzüberschreitender und innerstaatlicher Vorgänge unterschiedliche Sachverhalte; der Aspekt der europarechtlichen Integration, ein wesentliches Moment des Diskriminierungsverbots, ist in reinen Inlandssachverhalten nicht anwendbar.171 Die deutschen Freiheitsrechte (namentlich Art 12 GG) stehen einer Inländerdiskriminierung dann entgegen, wenn das Regelungsziel wegen der Ausklammerung der EU-Ausländer nicht mehr oder nicht auf verhältnismäßige Art und Weise erreicht werden kann. So lässt sich eine Bindung nur der deutschen Brauereien an das Reinheitsgebot des Bieres oder nur der deutschen Handwerker an das grds Bestehen einer Meisterprüfung nicht mehr rechtfertigen, wenn das in den Verkehr gebrachte Bier überwiegend aus dem Ausland stammt und nicht nach dem Reinheitsgebot gebraut wurde respektive das Handwerk in Deutschland überwiegend von Unionsbürgern aus dem EU-Ausland ohne Meisterprüfung ausgeübt wird. Der deutsche Gesetzgeber gerät freilich auch darüber hinaus unter einen Rechtfertigungsdruck, weil er die Erforderlichkeit der zusätzlichen Anforderungen für die deutschen Anbieter verfassungsrechtlich im Lichte der zu erfüllenden Aufgabe begründen muss. Aber auch wenn eine Inländerdiskriminierung verfassungsrechtlich zulässig ist, entfalten die Grundfreiheiten einen politischen Anpassungsdruck. Vielfach haben
165 Zur Unionsrechtswidrigkeit für Importverbote für nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraute Biere aus dem EU-Ausland vgl Rn 3 Fn 10. 166 Krit hierzu Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, S 371 ff. 167 ÖstVerfGH, ÖZW 1999, 51; EuGRZ 1997, 362; EuZW 2001, 219. 168 Corte costituzionale, 30.12.1997 – No 443, RIDPC 1998, 246. 169 BVerfGE 21, 54, 68; 51, 43, 58 f; 79, 127, 158; 116, 135, 159 ff. 170 Vgl demgegenüber aber auch Kokott in: Lehner (Hrsg) Grundfreiheiten im Steuerrecht der EUStaaten, 2000, S 1 (16); Gundel, DVBl 2007, 269 (272); Riese/Noll, NVwZ 2007, 516 (520 f). Ferner zum Ganzen Wesser Grenzen zulässiger Inländerdiskriminierung, 1995, S 165 ff. 171 Gundel, DVBl 2007, 269 (272 f). Vgl auch Albers, JZ 2008, 708 (712 ff); Bösch, JURA 2009, 91 ff.
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die deutschen Gerichte angenommen, dass jedenfalls von den bestehenden Ausnahmemöglichkeiten zugunsten der Wirtschaftsteilnehmer großzügig Gebrauch gemacht werden muss.172
2. Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote a) Das Diskriminierungsverbot im Text der Grundfreiheiten 38 Den Grundfreiheiten werden in jedem Falle besondere Diskriminierungsverbote
entnommen, die das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV bereichsspezifisch konkretisieren.173 Dies ergibt sich zwar nicht in jedem Falle auf den ersten Blick aus dem Text der Verträge, ist aber allgemein anerkannt und auch zwingend. Ein Binnenmarkt lässt sich nicht verwirklichen, wenn EU-Ausländer im Falle eines grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs schlechter als Inländer behandelt werden. Dementsprechend bestimmt Art 36 S 2 AEUV, dass Einfuhr- oder Ausfuhrbeschränkungen zwar unter gewissen Voraussetzungen zulässig sind, diese aber niemals „ein Mittel der willkürlichen Diskriminierung“ (oder eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten) sein dürfen. Wenn Art 34 AEUV von „mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen“ und „Maßnahmen gleicher Wirkung spricht, so liegt auf der Hand, dass Ungleichbehandlungen von inländischen und ausländischen Waren in jedem Fall ebenfalls als derartige beschränkende Maßnahmen anzusehen sind.174 Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gebietet schon ihrem Wortlaut nach „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung“ (Art 45 II AEUV), die Niederlassungsfreiheit umfasst die Aufnahme und die Ausübung von Tätigkeiten „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen“ (Art 49 II AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit ermöglicht den vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Staat „unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt“ (Art 57 S 3 AEUV). Der Kapital- und Zahlungsverkehr schützt vor Beschrän-
172 Vgl zu dem Inverkehrbringen von Bier, das nicht dem deutschen Reinheitsgebot entspricht, BVerwGE 123, 82, 85 ff; zu den Ausnahmebewilligungen zur Eintragung in die Handwerksrolle BVerfG (K), EuGRZ 2005, 740 = JK 2006, GG Art 12 I/80. Generell zur Vereinbarkeit des Handwerksrechts mit dem Unions- und Verfassungsrecht Ehlers in: ders/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 1, 4. Aufl 2019, § 19 Rn 7 ff. 173 Vgl Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, S 7; → Classen, § 9.2 Rn 16, 15; Meyer Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht, 2002, S 29 f; vgl aber auch Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Recht, 2003, S 136. 174 Zur Abgrenzung im Welthandelsrecht, das klarer nach der Grenzbezogenheit der Maßnahme abgrenzt und „Maßnahmen gleicher Wirkung“ nicht ausdrücklich aufführt, s Matsushita/Schoenbaum/Mavroidis/Hahn The World Trade Organization, 3. Aufl 2015, S 212 mwN.
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kungen „zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ (Art 63 I, II AEUV). Bei den Beschränkungen kann es sich wie im Falle des freien Warenverkehrs auch und gerade um diskriminierende Belastungen handeln.
b) Der Vergleichsmaßstab Wann eine Diskriminierung iSd Grundfreiheiten vorliegt, hängt von dem zugrunde 39 zu legenden Vergleichsmaßstab ab. Die Grundfreiheiten beziehen sich auf Maßnahmen „zwischen den Mitgliedstaaten.“175 Sie richten sich primär auf Marktzugang (Rn 42 ff), nicht auf vollständige Marktgleichheit im gesamten Unionsgebiet. Diese kann im jeweils betroffenen Bereich idR nur harmonisierendes Sekundärrecht erreichen.176 Die Grundfreiheiten verbieten Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit oder wegen des Grenzübertritts. Bei Gesellschaften ist Anknüpfungspunkt ihr Sitz, nicht die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter.177 Dagegen fungieren die Grundfreiheiten nicht als Maßstab für sonstige Ungleichbehandlungen. Sie unterscheiden sich hier von den grundrechtlichen Diskriminierungsverboten (Rn 40). Diskriminierend können dabei auch Maßnahmen sein, die nicht alle Inländer begünstigen, sondern zB nur die Bewohner eines bestimmten Ortes oder einer bestimmten Region;178 in diesen Fällen kann eine faktische Diskriminierung vorliegen. Statt von einem Verbot der Schlechterbehandlung bzw Diskriminierung der EU-Ausländer wird in der Rspr zuweilen von einem Gebot der Inländer(gleich)behandlung gesprochen.179 In der Sache ist dasselbe gemeint, wenngleich streng genommen das Verbot einer Schlechterstellung die sog Inländerdiskriminierung nicht ausschließt (Rn 37).
c) Arten der Diskriminierung Eine Diskriminierung liegt vor, wenn Gleiches ungleich und Ungleiches gleich be- 40 handelt wird.180 Die Diskriminierung kann offen, unmittelbar, direkt, formal bzw
175 So ausdrücklich Art 34 AEUV; ähnlich die Art 45 I, II AEUV, 49 UAbs 1 AEUV, 56 UAbs 1 AEUV, 63 I, II AEUV. 176 Vgl für das Beispiel von Versicherung und Haftung Germelmann/Gundel, BayVBl 2021, 617 (624). 177 Vgl nur EuGH, Urt v 14.2.2019, Rs C-630/17, EWS 2019, 40, Rn 66 – Milivojević. 178 EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139, Rn 41 – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1 (→ Rn 77 Fall 7); Rs C-388/01, Slg 2003, I-721, Rn 14 – Kommission/Italien = JK 2003, EGV Art 49/7. 179 Vgl zB EuGH, Rs C-101/94, Slg 1996, I-2691, Rn 12 – Kommission/Italien. 180 EuGH, Rs C-279/93, Slg 1995, I-225, Rn 21 – Schumacker; Rs C-282/07, Slg 2008, I-10767, Rn 32 – Truck Center. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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rechtlich oder aber versteckt, mittelbar, indirekt, materiell bzw faktisch sein. Die Begriffe werden idR synonym verwendet.181 In der Rechtsprechung des EuGH ist die Unterscheidung fest etabliert; sie findet sich nicht nur im Bereich der Grundfreiheiten, sondern – freilich im Kontext anderer Diskriminierungsgründe – auch bei den grundrechtlichen Diskriminierungsverboten. Im ersten Fall ergibt sich die Differenzierung zwischen inländischen und grenzüberschreitenden Sachverhalten zum Nachteil der die Grenze überschreitenden Produkte oder Personen ausdrücklich aus der getroffenen Regelung (zB weil schon durch das Recht auf die ausländische Herkunft einer Ware oder die Staatsangehörigkeit abgestellt wird), im zweiten (in der Praxis weitaus häufigeren) Fall werden die Produkte oder Personen ausländischer Herkunft182 zwar nicht als solche angesprochen und ausdrücklich unterschiedlichen Regelungen unterworfen; sie werden aber typischerweise stärker und damit negativ betroffen.183 Das Anknüpfungskriterium ist somit nur vordergründig neutral. Angeknüpft wird vielmehr an die Auswirkungen einer Maßnahme.184 Eine faktische Diskriminierung ist bspw gegeben, wenn eine Kennzeichnungspflicht für Verbrauchsgüter in der Sprache des Gebietes besteht, in welches das Erzeugnis auf den Markt gebracht werden soll.185 Entsprechendes ist anzunehmen, wenn durch die Kennzeichnung dem Verbraucher ein negatives Signal gegeben werden soll, dass es sich um (minderwertige) Importware handele.186 Auch Vorschriften, die nach dem Wohn-, Aufenthalts- oder Beschäftigungsort unterscheiden, können als versteckte Diskriminierung anzusehen sein, weil sie sich auf EU-Ausländer zumeist anders auswirken als auf die im eigenen Land wohnenden oder arbeitenden Personen.187 Doch ist dann näher zu prüfen, ob sich die gebietsansässigen Gebietsfremden tatsächlich in einer vergleichbaren Situation befinden.188 So hat der EuGH eine
181 Ausführlich dazu Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Recht, 2003, S 52 ff. Zur Frage, ob das deutsche Recht vom europäischen lernen kann, Fehling FS Würtenberger, 2013, S 669 ff. 182 Soweit eine Grenzüberschreitung trotz Inländerbetroffenheit gegeben ist, werden die inländischen Produkte oder Personen den ausländischen gleichgestellt. 183 Vgl etwa EuGH, Rs 152/73, Slg 1974, 153, Rn 11 f – Sotgiu; Slg 1988, 4635, Rn 30 – Beentjes; Rs C-322/ 01, Slg 2003, I-14887, Rn 74 f – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4 (→ Rn 29 Fall 1); Rs C-73/08, Slg 2010, I2735, Rn 41 – Bressol. 184 Vgl Craig/de Búrca EU, S 599. 185 Vgl EuGH, Rs C-33/97, Slg 1999, I-3175, Rn 36 ff – Colim. 186 Vgl EuGH, Rs 207/83, Slg 1985, 1205, Rn 21 – Kommission/Großbritannien; Urt v 16.7.2015, Rs C-95/ 14, Rn 32 ff – UNIC = EuZW 2015, 873 m Anm Gundel; allg dazu auch Hojnik, CMLRev 49 (2012), 291 ff. 187 Vgl EuGH, Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735, Rn 45 – Bressol, sowie die Rspr-Nachw bei Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Recht, 2003, S 116. 188 Vgl Kokott/Ost, EuZW 2011, 496 (497).
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mitgliedstaatliche Voranmeldepflicht lediglich für selbstständige Dienstleistungserbringer aus anderen Mitgliedstaaten zwecks Überprüfung der Einhaltung des Rechts nicht als Diskriminierung angesehen, weil die Behörden im Hinblick auf die inländischen Dienstleistungserbringer über hinreichend andere Möglichkeiten verfügen, die Einhaltung des Rechts zu kontrollieren und sicherzustellen.189 Nicht ausreichend sind lediglich potenzielle faktische Diskriminierungen. Ob eine faktische Diskriminierung vorliegt, kann häufig zweifelhaft sein (vgl Fall 7). Dies kann insbesondere für den Fall von Werbeverboten im Einzelfall umstritten sein; denn zwar treffen diese inländische wie ausländische Produkte oder Dienstleistungen in gleicher Weise.190 Jedoch kann es je nach seiner Ausgestaltung (vollständiges oder nur Teilwerbeverbot) und den Verbrauchsgewohnheiten in einem Mitgliedstaat den weniger etablierten ausländischen Anbietern den Zugang zum Markt stärker behindern als ihren inländischen Konkurrenten; das gilt jedenfalls dann, wenn ein Produkt an sich in dem betreffenden Mitgliedstaat nicht verbreitet ist und es nicht lediglich um die allgemeinen Marktzutrittsschwierigkeiten eines neuen Produktes handelt.191 Der EuGH legt grds einen sehr weiten Diskriminierungsbegriff zugrunde. Auf eine Benachteiligungsabsicht des Mitgliedstaates kommt es nicht an. Die Unterscheidung von formalen und faktischen Diskriminierungen ist insbesondere für die Rechtfertigung der Beschränkungen von Grundfreiheiten von Bedeutung, weil hier Unterschiede in den zur Verfügung stehenden Rechtfertigungsgründen bestehen (Rn 152). Zur Abgrenzung von Diskriminierungen und Beschränkungen vgl noch Rn 114 ff.
3. Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote Der durch die Grundfreiheiten geschützte grenzüberschreitende freie Produkt- und 41 Personenverkehr kann nicht nur durch diskriminierende, sondern auch durch unterschiedslos geltende mitgliedstaatliche Regelungen, welche In- und Ausländer in gleicher Weise betreffen, behindert oder unmöglich gemacht werden. Die Unterscheidung zwischen Diskriminierungen im Vergleich zu Inländern und reinen Be-
189 EuGH, Urt v 19.12.2012, Rs C-577/10, EuZW 2013, 234, Rn 49 ff – Kommission/Belgien = JK 2013, AEUV Art 56/1. Die Differenzierung ist zweifelhaft. Im Ergebnis hat der EuGH aber eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die grenzüberschreitende Voranmeldepflicht angenommen. 190 Vgl so etwa EuGH, Rs C-412/93, Slg 1995, I-179, Rn 22 – Leclerc-Siplec; Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 41 ff – Herbert Karner. 191 S im Detail EuGH, verb Rs C-34/95 bis C-36/95, Slg 1997, I-3843 – De Agostini; Rs C-405/98, Slg 2001, I-1795 – Gourmet International Products.
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schränkungen, die beide den wirtschaftlichen Austausch behindern können, ist aus dem Welthandelsrecht bekannt, wenngleich hier anders als im Unionsrecht unterschiedliche Normen für die jeweiligen Garantien einschlägig sind und auch die Zulässigkeitsmaßstäbe deutlich stärkere Unterschiede aufweisen.192 Die Erstreckung der grundfreiheitlichen Garantien auf reine Beschränkungsverbote weitet deren Anwendungsbereich deutlich aus und erhöht signifikant deren Auswirkungen auf die mitgliedstaatliche Rechtsordnungen und ihre Regulierungsmaßnahmen.
a) Beschränkung der Grundfreiheiten und Marktzutrittsverbote 42 Reine Beschränkungen des grenzüberschreitenden Verkehrs sind in einer Vielzahl von Fällen denkbar. So ist der selbstständige Betrieb eines zulassungspflichtigen Handwerks in Deutschland grds nur gestattet, wenn der Betriebsleiter die Meisterprüfung bestanden hat.193 Würde dieses Erfordernis auch auf EU-Ausländer erstreckt,194 die dauernd handwerkliche Leistungen in Deutschland erbringen wollen, könnte der Maßnahme zwar uU eine faktische Diskriminierungswirkung abgesprochen werden. Sie hätte aber gleichwohl zur Folge, dass der Marktzutritt von EU-Ausländern erheblich beeinträchtigt wird, weil es Meisterprüfungen im Ausland (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht gibt und nicht erwartet werden kann, dass die Ausländer oder die für sie arbeitenden Personen in leitender Stellung vor ihrer selbstständigen beruflichen Betätigung in Deutschland erst eine Meisterprüfung ablegen. Das Beispiel derartiger Marktzugangsbeeinträchtigungen zeigt, dass faktisch diskriminierende und rein beschränkende Maßnahmen in ihrer Wirkung durchaus nahe beieinander liegen können. Dies gilt sowohl für die Beeinträchtigungswirkung bezogen auf den einzelnen (präsumtiven) Marktteilnehmer als auch bezogen auf den Binnenmarkt als Ganzen. Daher wäre die geschilderte Maßnahme als Verstoß gegen die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit (sowie ggf gegen das Sekundärrecht195) zu werten gewesen, weil die Grundfreiheiten nicht nur Diskriminierungs-, sondern auch Beschränkungsverbote enthalten. Dies kommt bereits im Wortlaut der Vertragsbestimmungen zum Ausdruck, da in ihnen zumin-
192 Näher Matsushita/Schoenbaum/Mavroidis/Hahn The World Trade Organization, 3. Aufl 2015, S 179 ff, 215 ff. 193 Vgl §§ 1, 7 HwO. Das Erfordernis der Meisterprüfung ist insb durch die Altgesellenregelung des § 7b HwO sowie die Möglichkeit der Erlangung einer Ausnahmeregelung nach § 8 HwO erheblich abgeschwächt worden. 194 Tatsächlich ist dies nicht der Fall, vgl § 9 HwO iVm EU/EWR-HandwerkVO. Vgl auch EuGH, Rs C58/98, Slg 2000, I-7919 – Josef Corsten. Näher zum Ganzen Ehlers in: ders/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 1, 4. Aufl 2019, § 19 Rn 56 ff. 195 RL 2005/36 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen.
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dest teilweise von Beschränkungen gesprochen wird.196 Der EuGH hat den Grundfreiheiten allerdings erst nach und nach neben Diskriminierungsverboten auch Beschränkungsverbote entnommen. Die Zurückhaltung gilt in erster Linie für die Personenverkehrsfreiheiten wegen ihrer besonderen und nachhaltigen Rückwirkungen auf die nationalen Rechtsordnungen (Rn 6). Für die Warenverkehrsfreiheit erfolgte die Anerkennung eines Beschränkungsverbots bereits im Jahre 1974. In der Leitentscheidung Dassonville sah er als Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen (Art 34 AEUV) „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten (an), die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern.“197 Gerade die Möglichkeit nur mittelbarer und potenzieller Beeinträchtigungen führt zu einem besonders weiten Tatbestand, den der Gerichtshof in der Folge zum einen durch eine Ausweitung der Rechtfertigungsgründe im Wege der Cassis-Rechtsprechung (Rn 153 ff), dann aber auch auf der Tatbestandsebene mit Hilfe der Keck-Formel (Rn 120, 121) erneut eingeschränkt hat. Dies führt im Ergebnis dazu, dass im Bereich der Warenverkehrsfreiheit nur rein hypothetische Beschränkungen der Grundfreiheit von der Dassonville-Formel nicht erfasst werden und durch die Keck-Formel nur im Bereich bestimmter Vertriebsmodalitäten das weite Beschränkungsverbot erneut auf ein Verbot formaler und faktischer Diskriminierungen verengt wird. Diese tatbestandliche Komplexität findet sich bei den anderen Grundfreiheiten nicht in der gleichen dogmatischen Ausgefeiltheit, auch wenn dort mittlerweile überall entsprechende Grundlinien verfolgt werden. Bereits im Bereich des Art 35 AEUV, der ebenfalls zur Warenverkehrsfreiheit gehört, wählt die Rechtsprechung einen abweichenden Ansatz. Hier definierte der EuGH lange Zeit die Maßnahmen gleicher Wirkung nach der Ausfuhrbeschränkungen betreffenden Vorschrift des Art 35 AEUV ungleich enger, iSe spezifischen Beschränkung der Ausfuhrströme.198 In der neueren Rspr des EuGH ist diese restriktive Formel aufgegeben worden, gleichwohl aber keine vollständige Annäherung an die Dogmatik des Art 34 AEUV und die Dassonville- und Keck-Formeln erreicht worden. Der Gerichtshof stellt hier darauf ab, dass die staatliche Maßnahme Ausfuhren stärker als den inländischen Absatz betrifft, also (formal oder faktisch) diskriminierend ist.199 Als weites Be
196 Nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist sprachlich etwas anders formuliert. 197 EuGH, Rs 8/74, Slg 1974, 837, Rn 5 – Dassonville. 198 Sog Groenveld-Formel, vgl EuGH, Rs. 15/79, Slg 1979, 3409, Rn 7 – Groenveld. Vgl krit Brigola, EuZW 2009, 479 (482); Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheit nach dem EG-Vertrag, 2000, S 745 ff; Schroeder in: Streinz, EUV/AEUV, Art 35 AEUV Rn 5. 199 EuGH, Rs C-205/07, Slg 2008, I-9947, Rn 40 ff – Gysbrechts; dazu Roth, CMLRev 47 (2010), 509 ff; Brigola, EuZW 2009, 479 ff; Defossez, CDE 2009, 409 ff; s auch EuGH, Urt v 21.6.2016, Rs C-15/15, Rn 36 ff – New Valmar = EuZW 2016, 717; dazu Hatzopoulos, JDE 2016, 267 ff; Rigaux, Europe 8/2016,
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schränkungsverbot ist durch die Rechtsprechung auch die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) gekennzeichnet worden. Unter Beschränkungen fallen hier alle Anforderungen, die „geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistenden zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.“200 In der Sache ist mit dieser abweichenden Formel ein entsprechend umfassendes Verständnis des Beschränkungsverbots wie bei der Warenverkehrsfreiheit erreicht. Eine Übertragung der KeckFormel hat der Gerichtshof hingegen bislang nicht vorgenommen, sondern hat sich zur Begrenzung der Weite des Beschränkungsverbots einer Kern- und Randbereichsbetrachtung bedient (Rn 136). In der Sache führt auch diese Lösung zu einer partiellen Rückführung des Tatbestands der Dienstleistungsfreiheit in seinen Randbereichen zu einer Reduzierung auf ein Diskriminierungsverbot, allerdings in einer dogmatisch deutlich weniger ausdifferenzierten und auch schwieriger subsumtionsfähigen Art und Weise. Dass die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 63 AEUV), die historisch jüngste Grundfreiheit, auch unterschiedslos geltende Beschränkungen verbietet, folgt bereits aus dem eindeutigen Wortlaut („alle“ Beschränkungen).201 Eine Übertragung der Gedanken der Keck-Formel wird auch hier diskutiert (Rn 135). 43 Ob die Personenverkehrsfreiheiten ieS, dh Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, als Beschränkungsverbote ausgelegt werden können, war lange strittig; im Ausgangspunkt sind sie als Diskriminierungsverbote gefasst gewesen, die erst später zu Beschränkungsverboten erweitert wurden.202 Insbesondere in seinem (das unterschiedslos im In- und Ausland angewandte Transfersystem im Profifußball betreffenden) Bosman-Urteil203 hat der EuGH die Frage, ob auch ein Beschränkungsverbot garantiert sei, für die Arbeitnehmerfreizügigkeit positiv beantwortet. Mitte der neunziger Jahre wurde in verschiedenen Urteilen die Niederlas-
26 f; Brigola, EuZW 2017, 5 ff; Urt v 17.9.2020, Rs C-648/18 – ANRE = RdE 2020, 538 m Anm Gundel. Für eine weitergehende Angleichung noch Schlussanträge GA Trstenjak, Rs C-205/07, Rn 41 ff, 49 ff, 65 – Gysbrechts; auch Streinz ER, Rn 918. 200 Vgl im Ansatz schon EuGH, Rs 33/74, Slg 1974, 1299, Rn 10 ff – van Binsbergen. S weiter EuGH, Rs C-55/94, Slg 1995, I-4165, Rn 37 – Gebhard. Vgl auch EuGH, Rs C-272/94, Slg 1996, I-1905, Rn 10 – Guiot; verb Rs C-369/96 u C-376/96, Slg 1999, I-8453, Rn 33 – Arblade; Rs C-165/98, Slg 2001, I-2189, Rn 22 – Mazzoleni; Rs C-285/01, Slg 2003, I-8219, Rn 95 – Burbaud; Rs C-518/06, Slg 2009, I-3491, Rn 62 – Kommission/Italien. 201 Näher dazu Glaesner in: Schwarze, EU-Komm, Art 63 AEUV Rn 20 ff. Zu den Schwierigkeiten der Anwendung des Beschränkungsverbots im Steuerrecht vgl Kokott/Ost, EuZW 2011, 496 (498). Vgl auch → v Wilmowsky, § 17 Rn 17 ff. 202 Vgl Streinz ER, Rn 830, 836. Für Beschränkungsverbote bereits Ehlers, NVwZ 1990, 810 (811); Behrens, EuR 1992, 145 (151 ff). 203 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 92 ff – Bosman.
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sungsfreiheit entsprechend interpretiert.204 Eine Beschränkung der Personenverkehrsfreiheiten liegt insbesondere vor, wenn sich zwar keine offene oder versteckte Schlechterstellung grenzüberschreitender Vorgänge feststellen lässt, wohl aber die Grenzüberschreitung und damit der Marktzutritt selbst behindert wird.205 Eine solche Behinderung kann selbst dann gegeben sein, wenn die Inländer noch schlechter als die EU-Ausländer behandelt werden.206 Bei den Personenverkehrsfreiheiten ist in der Rechtsprechung allerdings stets eine gewisse Zurückhaltung in Bezug auf die Weite des Beschränkungsverbots zu beobachten gewesen. Hier sind regelmäßig nur solche Beschränkungen tatbestandsmäßig, die auch tatsächlich in der Lage sind, den Arbeitnehmer oder Selbständigen vom Marktzutritt abzuhalten oder abzuschrecken; allein der Umstand, dass es ihm nicht möglich ist, alle Vorteile seiner Heimatrechtsordnung in den Zielstaat „mitzunehmen“, führt nicht zu einer tatbestandlichen Beschränkung.207 Daher ist richtigerweise das Beschränkungsverbot bei den Personenverkehrsfreiheiten von vorneherein auf Marktzutrittshindernisse zu verengen.208
204 Vgl namentlich EuGH, Rs C-19/92, Slg 1993, I-1663, Rn 16 f – Kraus; Rs C-55/94, Slg 1995, I-4165, Rn 34 ff – Gebhard; vgl zum Letzteren Ehlers/Lackhoff, JZ 1996, 467 (468). Ausf zum Ganzen Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 358 ff. 205 Vgl etwa für die Gründung von Zweigniederlassungen EuGH, Rs C-212/97, Slg 1999, I-1459, Rn 39 – Centros. Ferner auch EuGH, Urt v 10.12.2015, Rs C-594/14, Rn 22 ff – Kornhaas = EuZW 2016, 155 m Bespr Kindler S 136 ff (Anwendung einer Regelung des deutschen Insolvenzrechts auf eine in Deutschland tätige Ltd ohne Infragestellung der Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Gesellschaft und ohne Sonderregelung wegen des Status als Ltd). Nach der Rechtssache Graf (Rs C-190/98, Slg 2000, I-493, Rn 23) hat der EuGH eine unterschiedslos anwendbare Regelung über Kündigungsabfindungen nicht als Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit eingestuft, weil sie die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates nicht ernstlich daran hindern oder davon abhalten wird, ihr Herkunftsland für eine bessere Stellung zu verlassen. Ähnl für Urlaubsansprüche EuGH, Urt v 13.3.2019, Rs C-437/17 – Gemeinsamer Betriebsrat EurothermenResort Bad Schallerbach; dazu Driguez, Europe 5/2019, 27. Für die Beamtenversorgung bei grenzüberschreitendem Dienstherrnwechsel EuGH, Urt v 13.7.2016, Rs C-187/15 – Pöpperl/Land Nordrhein-Westfalen = DÖV 2017, 383 m Bespr Bokeloh S 378 ff; dazu Driguez, Europe 10/2016, 22. Für die Anrechnung von Vordienstzeiten EuGH, Urt v 10.10.2019, Rs C-703/17 – Adelheid Krah/Universität Wien = EuZA 2020, 522 (nur LS) m Anm Vinzenz/Burger; Urt v 23.4.2020, Rs C-710/18 – WN/Land Niedersachsen = EuZA 2020, 476 (nur LS) m Anm Rasche/Sülzle; dazu Abenhaïm, Europe 6/2020, 31. S aus der Lit auch Jarass, EuR 2000, 705 (711); Biondi in: Scritti in Onore di Giuseppe Tesauro, 2014, Vol 2, S 1389 (1392 ff). 206 Vgl EuGH, Rs C-176/96, Slg 2000, I-2681, Rn 47 ff – Lehtonen, wonach Transferfristen für Basketballspieler die Arbeitnehmerfreizügigkeit von EU-Ausländern selbst dann verletzen können, wenn für inländische Spieler noch längere Fristen gelten. 207 Vgl etwa EuGH, Urt v 13.3.2019, Rs C-437/17 – Gemeinsamer Betriebsrat EurothermenResort Bad Schallerbach; dazu Driguez, Europe 5/2019, 27. 208 Vgl aus jüngerer Zeit EuGH Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15 – AGET Iraklis; Urt v 14.4.2016, Rs C-522/ 14, Rn 20 – Sparkasse Allgäu = EuZW 2016, 463 m Anm Musil; dazu Michel, Europe 6/2016, 25. Differenzierend zu Recht auch Streinz ER, Rn 838 ff.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
Liegt ein solches im konkreten Falle nicht vor, sind nur formal oder faktisch diskriminierende Maßnahmen tatbestandlich. Besonders konsequent wendet der EuGH diese Differenzierung auch im Bereich des Steuerrechts an.209 44 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Grundfreiheiten alle in dem einen oder dem anderen Umfang nicht nur Diskriminierungs-, sondern auch Beschränkungsverbote normieren. Dies kann heute als gesichert angenommen werden. Die konkreten subsumtionsfähigen Formeln und Tests unterscheiden sich (und sind in der Prüfung auch grundfreiheitsspezifisch anzuwenden), zielen aber alle insbesondere auf nationale Maßnahmen (oder solche der Union), die geeignet sind, die Ausübung dieser Freiheiten zu behindern. Eine Beschränkung ist aber jedenfalls anzunehmen, wenn die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den Marktzugang von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten betreffen und damit den Handel im Binnenmarkt behindern können.210 Da die Eignung ausreicht, bedarf es grundsätzlich keines Nachweises, dass die Maßnahme tatsächlich diese Wirkung hat.211 Das Beschränkungsverbot gilt sowohl für den Sitzstaat (Herkunfts- oder Heimatstaat) als auch den Aufnahmestaat (Zielstaat). Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen stellen dagegen nicht bereits deshalb eine Beschränkung dar, weil andere Mitgliedstaaten die in ihrem Gebiet ansässigen Wirtschaftssubjekte weniger strengen oder wirtschaftlich interessanteren Vorschriften unterwerfen.212
209 Hier prüft die Rspr idR nur ein Diskriminierungsverbot; s EuGH, Urt v 26.4.2018, Rs C-233/16 u C234/16, Rn 20 ff – ANGED; Urt v 26.2.2020, Rs C-788/18, Rn 19 ff – Stanleybet Malta; Urt v 3.3.2020, Rs C75/18, EWS 2020, 100 – Vodafone; Urt v 3.3.2020, Rs C-323/18, RIW 2020, 239 – Tesco-Global; dazu Cazet, Europe 5/2020, 42 f; Urt v 25.2.2021, Rs C-712/19 – Novo Banco SA; dazu Bruyas, Europe 4/2021, 20 f; ausf Klenk Die Grenzen der Grundfreiheiten, 2019, S 172 ff. Entsprechend für Abgaben auch EuGH, Urt v 26.4.2018, Rs C-233/16 u C-234/16, EWS 2018, 149 – ANGED – Asociación Nacional de Grandes Empresas de Distribución; Urt v 26.4.2018, Rs C-236/16 u C-237/16 – ANGED; Urt v 27.4.2022, Rs C-674/20 – Airbnb Ireland/Région de Bruxelles-Capitale = EuZW 2022, 802 m Anm Gundel; dazu auch Rigaux, Europe 6/ 2022, 22 f; EuGH, Urt v 22.12.2022, Rs C-83/21 – Airbnb Ireland u Airbnb Payments. 210 EuGH, Rs C-518/06, Slg 2009, I-3491, Rn 64 – Kommission/Italien (Kfz-Haftpflichtversicherung), vgl ebenso EuGH, Rs C-400/08, Slg 2011, I-1915 – Kommission/Spanien (Einzelhandelsgeschäfte). Zum Kriterium des Marktzugangs im Rahmen der (eine Beschränkung voraussetzenden) Keck-Formel vgl Rn 128 ff. 211 EuGH, Rs C-231/05, Slg 2007, I-6373, Rn 42 – Oy AA. 212 EuGH, Rs C-518/06, Slg 2009, I-3491, Rn 63 – Kommission/Italien. Vgl auch Rn 166.
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b) Grundfreiheitliche Beschränkungsverbote und Grundrechte Die Frage, ob die Grundfreiheiten zugleich als grundrechtliche Freiheitsrechte zu 45 verstehen sind, ist im Schrifttum umstritten.213 Sie ist mit der Einordnung als Beschränkungsverbot sachlich verknüpft, deckt sich mit ihr aber nicht. Denn Beschränkungsverbote können auch bei reinen Marktfreiheiten gegeben sein, die keine Grundrechte im traditionellen Verständnis darstellen. Unabhängig von der dogmatischen Einordnung ist klar, dass gerade die Auslegung der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote eine weitergehende Marktöffnung erreicht und die Eindringtiefe des Unionsrechts in das Recht der Mitgliedstaaten erheblich verstärkt hat. Im Bereich der Unionsgrundrechte ist deren Prägekraft für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (noch) deutlich umstrittener.214 Die strukturelle Ähnlichkeit der Gewährleistungsgehalte der Grundfreiheiten mit denen der Grundrechten spricht dabei für eine Gleichsetzung, die übergeordnete Einbindung in das Binnenmarktziel sowie die historische Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Union eher dagegen. In der Tat erscheint eine Gleichsetzung von Grundrechten und Grundfreiheiten spätestens seit dem Inkrafttreten der GRCh und der klaren textlichen und systematischen Trennung nicht mehr überzeugend; eine weiterhin mögliche Einordnung als grundrechtsähnliche Rechte ist wenig aussagekräftig, da es sich unbestrittenermaßen in beiden Fällen um subjektive Rechte handelt. Dabei ist nicht zu verkennen, dass eine grundrechtliche Anreicherung des Binnenmarktzieles dieses stärken könnte. Dennoch bleibt es auch nach allen Sichtweisen dabei, dass die Grundfreiheiten nur anwendbar sind, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt (Rn 3439), was für die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte nicht unabdingbar ist.215 Dies gilt sowohl für das Diskriminierungsverbot als auch für das Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten. Dabei ist es durchaus möglich, dass Grundrechte und Grundfreiheiten parallel 46 zueinander ihre Schutzwirkung entfalten (Rn 19). So kann eine wirtschaftliche Aktivität, die durch die Binnenmarktfreiheiten geschützt ist, gleichzeitig auch durch die Wirtschaftsgrundrechte der GRCh geschützt sein; dies ist etwa für Berufs-, Unternehmer- und Eigentumsfreiheit (Art 15 ff GRCh) denkbar. Auch können Grundfreiheiten und Grundrechte im konkreten Fall eng miteinander verzahnt sein können.
213 Für ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten zB Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 115 ff; ders in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 68 ff. Vgl auch Jarass, EuR 1995, 202 (216 ff), der jedenfalls den Grundfreiheiten aber auch Beschränkungsverbote entnimmt (s auch dens, EuR 2000, 705 (710 ff)). Eine Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten befürwortet Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages und Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S 346 ff. 214 Vgl. dazu → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 26, 119. 215 Vgl. dazu → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 105.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
In der Entscheidung Carpenter hat der EuGH die Ausweisung einer sich illegal im Vereinigten Königreich aufhaltenden philippinischen Staatsangehörigen, die mit einem britischen Staatsangehörigen verheiratet war, als Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit des Ehemanns angesehen, weil sich die Trennung der Eheleute nachteilig auf das Familienleben, welches durch Art 8 I EMRK und zugleich durch die Unionsgrundrechte (heute Art 9 u 33 GRCh) geschützt ist, sowie damit auf die Bedingungen auswirke, unter denen der Ehemann von der Dienstleistungsfreiheit Gebrauch machen könne (→ Pache, § 16 Rn 128, 131).216 Dieses Verständnis des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten ist in der Tat weit und hat das Potenzial, nahezu alle nationalen Regulierungen, die auch grenzüberschreitende Auswirkungen haben, zu erfassen, sofern ein hinreichend konkreter Anknüpfungspunkt zu einem vom Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten erfassten, dh binnenmarktrelevanten Sachverhalt gegeben ist.217 Dies ist im Fall Carpenter eine durchaus logische und konsequente Anwendung des weiten Beschränkungsverbots der Dienstleistungsfreiheit, welche hier den Schutz der Ehe gleichsam unterstützt, weil die staatliche Maßnahme rein tatsächlich in beide Schutzgüter eingriff.218 Für den Bereich des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger aus Art 20, 21 AEUV hat der Gerichtshof heute mit seiner Kernbestandsrechtsprechung (Rn 35) einen anderen dogmatischen Weg gewählt, der jedoch die Carpenter-Rechtsprechung nicht ersetzt, sondern die zusätzliche Komplikation eines fehlenden Binnenmarktbezuges löst. Dieses Aufenthaltsrecht ist allerdings mangels wirtschaftlichen Binnenmarktbezuges nur bedingt als echte Grundfreiheit einzuordnen. Es nimmt eine Sonderstellung ein, welche sich durch die doppelte systematische Verankerung in AEUV wie in der GRCh auch zeigt. Zwar setzt es grundsätzlich einen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraus, betrifft sachlich dann aber kein Marktthema, sondern eine eher menschenrechtliche Gewährleistung.219
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Lösung Fall 1: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gem Art 267 I lit a, II AEUV bestehen keine Bedenken. 1. Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit: Art 34 AEUV verbietet Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten. Das Verbot des AMG 1998 betrifft den
216 EuGH, Rs C-60/00, Slg 2002, I-6279, Rn 39 – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6. 217 Vgl Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages und Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S 308 ff, 346 ff; Wilson Die Rechte von Drittstaatsangehörigen nach Gemeinschaftsrecht, 2007, S 126. 218 Krit zur Entscheidung hingegen Puth, EuR 2002, 860 (865 ff); Mager, JZ 2003, 204 (206 f); Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (573); Wilson Die Rechte von Drittstaatsangehörigen nach Gemeinschaftsrecht, 2007, S 121 ff. 219 Näher → Buckler, § 10.3 Rn 6 f.
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Handel zwischen den Mitgliedstaaten, den auch DocMorris betreibt, so dass ein grenzüberschreitender Sachverhalt hier vorliegt (vgl zum Kriterium Rn 39, 45, 95 ). Im Hinblick auf eine mögliche Sperre der Grundfreiheit durch spezielleres Sekundärrecht unterscheidet der EuGH, ob die Arzneimittel in Deutschland zugelassen sind oder nicht. In Deutschland nicht zugelassene Arzneimittel dürfen nach § 73 I AMG 1998 unabhängig vom Verkaufsmodus nicht in das deutsche Hoheitsgebiet eingeführt werden. Diese Norm setzt Art 6 I RL 2001/83 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel um, der bestimmt, dass ein Arzneimittel in einem Mitgliedstaat erst dann in den Verkehr gebracht werden darf, wenn dies von der dort zuständigen Behörde genehmigt worden ist. Der EuGH sieht hierin eine abschließende Regelung für mitgliedstaatliche Beschränkungsmaßnahmen in Bezug auf nicht zugelassene Arzneimittel, so dass diese nicht mehr am Maßstab des Art 34 AEUV zu messen sind. Anhaltspunkte, dass die RL ihrerseits selbst gegen das höherrangige Primärrecht verstoßen könnte, sind nicht ersichtlich, so dass ihre Gültigkeit nicht in Frage steht. Soweit sich das Verbot des Versandhandels hingegen auf in Deutschland zugelassene Arzneimittel erstreckt, enthält die RL keine abschließende Regelung. Daher nimmt der EuGH zu Recht an, dass diesbezüglich der Anwendungsbereich der durch Art 34 AEUV garantierten Warenverkehrsfreiheit eröffnet ist. 2. Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts: Art 34 AEUV ist ein weites Beschränkungsverbot nach Maßgabe der Dassonville-Formel (Rn 42). Das in § 43 I AMG 1998 geregelte Verbot des Versandhandels mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln erfüllt deren Kriterien, nach denen jede Regelung, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen ist. Hier ist zumindest eine mittelbare und potenzielle Beeinträchtigung anzunehmen. Fraglich ist, ob hier eine Tatbestandsausnahme nach der Keck-Rspr (Rn 120 ff) vorliegt, die den Tatbestand des Art 34 AEUV in ihrem Anwendungsbereich auf ein Diskriminierungsverbot verengt. Keine mengenmäßigen Beschränkungen sind danach bloße Verkaufsmodalitäten, die weder formal noch faktisch diskriminierend sind. Eine bestimmte Verkaufsmodalität ist hier in dem nicht produktbezogenen Verbot des Versandhandels zu sehen. Auch sind die Regelungen nicht formal diskriminierend, weil sie für alle betroffenen in- wie ausländischen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben. Fraglich ist allerdings, ob sie auch den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten in gleicher Weise berühren. Dies verneint hier der EuGH, weil die inländischen Apotheker auch die Möglichkeit hätten, die Arzneimittel in ihren Apotheken zu verkaufen, so dass sich das Verbot des Versandhandels auf sie weniger stark auswirke als auf die ausländischen Apotheker, die diese Möglichkeit typischerweise nicht in gleicher Weise hätten. Damit sind die Voraussetzungen für die Keck-Ausnahme wegen der faktischen Diskriminierung durch das Versandhandelsverbot nicht erfüllt, und das Verbot des § 43 I AMG 1998 stellt eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung dar.
3. Rechtfertigung der Beeinträchtigung: Die Rechtfertigungsnorm des Art 36 AEUV ist nur anwendbar, wenn nicht der Sachbereich durch sekundäres Unionsrecht abschließend geregelt worden ist (ansonsten könnte die unionsrechtliche Harmonisierung durch nationales Recht unterlaufen werden). Da dies auf den Versandhandel von im Inland zugelassenen Arzneimitteln nicht zutrifft, kann § 43 I AMG 1998 auf den Rechtfertigungsgrund „Schutz der Gesundheit und des Lebens“ iSd Art 36 AEUV gestützt werden. Dieser Rechtfertigungsgrund gilt gleichermaßen für formale wie faktische Diskriminierungen sowie reine Beschränkungen. Weiterhin muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Insbesondere muss die nationale Maßnahme zur Erreichung des Schutzziels erforderlich sein. Hierbei differenziert der EuGH zwischen verschreibungspflichtigen und verschreibungsfreien Arzneimitteln. Im zuletzt genannten Fall sei das Gefahrenpotential gering. Auch könne über das Internet eine für diese Medikamente hinreichende Information oder Beratung vorgesehen werden. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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Dagegen sei bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln der persönliche Kundenkontakt notwendig. Deshalb verletze die Regelung des § 43 I AMG 1998 den Art 34 AEUV insoweit, als sie sich auf Medikamente erstreckt, die im Importstaat zugelassen sind und nicht der Verschreibungspflicht unterliegen.220
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Lösung Abwandlung Fall 1: Auch hier ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben, da die niederländische Gesellschaft in Deutschland den Betrieb einer Apotheke anstrebt. Die Bestimmung, welche Personen, die keine Apotheker sind, den Besitz und den Betrieb von Apotheken verwehrt, hält Nichtapotheker aus anderen Mitgliedstaaten davon ab, in Deutschland eine Apotheke zu betreiben und beschränkt so ihren Marktzutritt und damit die Niederlassungsfreiheit. Diskriminierungsfreie Beschränkungen können durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Das Fremdbesitzverbot dient einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses, nämlich der Gewährleistung einer sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung. Der EuGH hält den Ausschluss von Nichtapothekern zur Erreichung des verfolgten Ziels sowohl für geeignet als auch für erforderlich (die Angemessenheit wird nicht geprüft). In Anbetracht der Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung dürften die Mitgliedstaaten strenge Anforderungen an die mit dem Einzelhandelsvertrieb der Arzneimittel betrauten Personen stellen. Als weniger beschränkende Maßnahmen kommen die Verpflichtung zur Anwesenheit eines Apothekers in der Apotheke, der Abschluss einer Versicherung oder ein System angemessener Kontrollen und wirksamer Maßregeln in Betracht. Doch lässt sich nach Ansicht des EuGH auch mit Blick auf den den Mitgliedstaaten überlassenen Wertungsspielraum nicht feststellen, dass dadurch die Gesundheitsgefahren ebenso wirksam wie durch ein Fremdbesitzverbot bekämpft werden können.221
4. Funktionen der Grundfreiheiten als Abwehrrechte und als Grundlage positiver staatlicher Handlungspflichten Fall 2: (EuGH, Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2) Nach Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme, auf die indes durch den Mitgliedstaat keine weiteren Maßnahmen ergriffen wurden, erhebt die EU-Kommission vor dem EuGH Klage auf Feststellung, dass die Französische Republik gegen Art 34 AEUV verstoßen hat. Begründet wird dies damit, dass französische Landwirte seit vielen Jahren Anschläge auf Lastwagen verüben, mit denen Obst und Gemüse aus Spanien und Italien nach Frankreich importiert wird. Die französische Regierung verteidigt sich mit dem Hinweis, dass sie die Aktivitäten der Landwirte missbillige und alle ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen getroffen habe, um die Vorfälle einzudämmen. Mehr könne man nicht tun, um die Anschläge zu verhindern. In der Tat scheut die französische Regierung aus in
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220 Näher zum Ganzen Ruffert, JURA 2005, 258 ff. 221 Krit Herrmann, EuZW 2009, 415 ff; vgl zum Ganzen auch Classen, JURA 2010, 56 ff.
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nenpolitischen Gründen eine Auseinandersetzung mit den Landwirten und setzt nur begrenzte Ressourcen zur Verhinderung der Vorfälle ein.
a) Überblick über die Wirkungsweise des Diskriminierungs- und des Beschränkungsverbots Sofern die mitgliedstaatlichen Maßnahmen nicht gerechtfertigt sind (Rn 139 ff), er- 50 geben sich sowohl aus dem Diskriminierungs- wie aus dem Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten Abwehrrechte. Wenn der Betroffene Nachteile erleidet oder zu erleiden droht, begründet diese abwehrrechtliche Funktion Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche. Da auch hier die Prinzipien der unmittelbaren Geltung und des Anwendungsvorrangs greifen, sind diese Ansprüche im nationalen Recht unmittelbar anwendbar und können direkt vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden. Beruht die Diskriminierung auf der Vorenthaltung einer Vergünstigung, hat der Berechtigte grds einen Anspruch auf Gleichstellung, der ebenfalls direkt vor den nationalen Gerichten eingeklagt werden kann. Im gegebenen Fall bezieht sich der Gleichbehandlungsanspruch auf den Erlass einer neuen Regelung (Rn 58) und in bestimmten Fällen auf eine verfahrensrechtliche Absicherung (Rn 60). In der Rechtsprechung des EuGH finden sich immer wieder Beispiele für positi- 51 ve staatliche Handlungspflichten auf der Basis der Grundfreiheiten. Eine ausdifferenzierte Dogmatik zu ihrer Begründung ist dabei freilich nicht vorhanden. Dennoch steht diese Rechtsprechung im Einklang mit den positiven Handlungspflichten, die im grundrechtlichen Bereich auch in der Rechtsprechung des EGMR anerkannt sind.222 Der teleologische Hintergrund dieser Handlungspflichten folgt aus dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des europäischen Unionsrechts (effet utile) sowie aus der allgemeinen Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten aus Art 4 III EUV. In der Rechtsprechung sind derartige Pflichten in der Form von Schutzpflichten im Bereich einzelner Grundfreiheiten, namentlich der Warenverkehrsfreiheit, anerkannt (Rn 53); es stellt sich damit ua die Frage einer Übertragung auch auf die anderen. Wenngleich der Gerichtshof die vergleichbaren Problemkonstellationen des Schutzes vor Behinderungen durch Privater hier konstruktiv abweichend löst (Rn 79), erscheinen die Begründungsmuster und der Zweck doch allgemein einsetzbar und damit übertragbar. Ebenfalls nicht mit letzter Klarheit beantwortet ist die Frage nach der Reichweite weiterer individueller Ansprüche, die auf der Grundlage der Grundfreiheiten auf positives hoheitliches Handeln der Mitgliedstaaten gerichtet sind. In Ermangelung geeigneter direkter prozessualer Rechtsschutzformen tritt die Präzi
222 Vgl. dazu → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 55. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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sierung der subjektiv-rechtlichen bzw Anspruchsdimension der Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zurück. Die Geltendmachung der grundfreiheitlich fundierten Individualansprüche erfolgt typischerweise vermittelt über das nationale Recht. Diesem obliegt die Ausgestaltung der innerstaatlichen Anspruchsgrundlagen im Bereich der positiven staatlichen Handlungspflichten sowie der prozessualen Durchsetzungsmittel im Einklang mit den Grundsätzen der Effektivität und der Gleichbehandlung iSd Art 4 III EUV. Nach dem deutschen Verständnis, welches unionsrechtlich freilich nicht den dogmatischen Maßstab bildet, kann dabei eine Einteilung nach originären Leistungsrechten (Rn 57) und abgeleiteten Teilhabeansprüchen (Rn 58) naheliegen. Letztlich wird man der positiven Funktion der Grundfreiheiten im Grundsatz beide Anspruchsformen entnehmen können, sofern sie erforderlich sind, um den unionsrechtswidrigen, beispielsweise diskriminierenden Zustand zu beseitigen. Während dies für Teilhaberechte denkbar erscheint, dürften echte Leistungsrechte kaum je unionsrechtlich gefordert sein.
b) Staatliche Schutzpflichten 52 Positive Handlungspflichten des Staates richten sich im Regelfall auf Schutzgewähr
gegen rechtswidrige Eingriffe Dritter und gehen mit korrespondierenden Individualansprüchen einher. Dies ist im Bereich der Grundrechte sowohl in der deutschen Dogmatik223 als auch im Bereich der EMRK224 anerkannt. Im Unionsrecht können positive Schutzpflichten sowohl aus den Unionsgrundrechten225 als auch aus den Grundfreiheiten hergeleitet werden. Dabei sind beide Schutzpflichtenkategorien voneinander zu unterscheiden. Wenn die aus den Grundfreiheiten abzuleitenden Schutzpflichten in Konflikt mit der Ausübung von (Unions-)Grundrechten geraten können und zwischen beiden Rechten ein Ausgleich herzustellen ist, können die Schutzpflichten aus den Unionsgrundrechten ihrerseits uU eine Beschränkung der Grundfreiheiten gebieten (Rn 151). 53 Die Annahme von Schutzpflichten zugunsten der Grundfreiheiten beruht auf der Erwägung, dass die effektive Umsetzung des Binnenmarktes nicht nur solche Handelshemmnisse in den Blick nehmen kann, die von den Mitgliedstaaten oder der EU selbst ausgehen, sondern auch Maßnahmen Privater erhebliche Binnenmarktgefährdungen darstellen können. Um diese einzuhegen, bestehen konstruktiv zwei Möglichkeiten: Zum einen können wie bei den Grundrechten staatliche Schutzpflich-
223 Vgl die Rechtsprechungsnachweise bei Sachs in: ders, GG, Vor Art 1 GG Rn 35. Näher dazu Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S 51 ff; krit Isensee FS Großfeld, 1999, S 485 (500 ff). 224 → Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 35. 225 → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 56.
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ten aus den Grundfreiheiten hergeleitet werden und die Mitgliedstaaten (oder die EU) so gleichsam zu Garanten der Grundfreiheiten226 gemacht werden, die ggf verpflichtet sind, gegen die privaten Behinderungen einzuschreiten. Die alternative Lösung besteht zum anderen darin, eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten anzuerkennen und damit Privatpersonen in gleicher Weise wie die Mitgliedstaaten und die Union an die Verbote der Grundfreiheiten zu binden.227 Der EuGH wendet in seiner Rechtsprechung beide Varianten an, wobei er auf die Variante der Schutzpflichtlösung typischerweise im Bereich der Warenverkehrsfreiheit zurückgreift228 und die unmittelbare Drittwirkung bei den anderen Grundfreiheiten, namentlich der Dienstleistungs-, der Niederlassungs- und Arbeitnehmerfreiheit heranzieht.229 Einen zwingenden dogmatischen Grund für diese differenzierende Anwendung gibt es nicht. Die Frage einer Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit auf die anderen Grundfreiheiten stellt sich wegen der Anerkennung einer Direktwirkung der übrigen Grundfreiheiten gegenüber Privaten in weniger akuter Weise, da im Regelfall die Inanspruchnahme der Privaten selbst für ihre Grundfreiheitsverstöße für den Binnenmarkt funktional dasselbe Ergebnis wie die Schutzpflichtlösung erzielt. Allerdings spricht auch kein grundsätzlicher Einwand gegen eine Ausdehnung der positiven staatlichen Schutzpflichten auf die anderen Grundfreiheiten, da sie der Warenverkehrsfreiheit gleichrangig und für den Binnenmarkt gleichfalls von zentraler Bedeutung sind. Im Gegenteil ist eine einheitliche staatliche Garantenstellung und eine zusätzliche Absicherung durch die Schutzpflichtlösung anzunehmen. Die Annahme einer aus den Grundfreiheiten fließenden Schutzpflicht ent- 54 spricht einerseits der allgemeinen Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten aus Art 4 III EUV. Ihr Bestehen macht deutlich, dass die Mitgliedstaaten nicht nur verpflichtet sind, Beeinträchtigungen des Binnenmarktes selbst zu unterlassen, sondern auch aktiv für dessen Funktionsfähigkeit einstehen müssen. Hinzu tritt die Bedeutung des Binnenmarktes für die europäische Integration als Ganzes. Dass die Grundfreiheiten die Grundpfeiler des gemeinsamen Marktes darstellen, unterstützt die Annahme mitgliedstaatlicher Schutzverpflichtungen. Das gilt allerdings nur, wenn die
226 Vgl Burgi, EWS 1999, 327 (329 f). 227 Näher dazu Rn 78. 228 EuGH, Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2 (→ Rn 49 Fall 2); Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Urt v 12.7.2012, Rs C171/11, EuZW 2012, 797, Rn 17 ff – Fra.bo = JK 2013, AEUV Art 34/2 (→ Rn 76 Fall 6). 229 EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405, Rn 16 ff – Walrave und Koch; Rs 13/76, Slg 1976, 1333, Rn 17 ff – Donà/Mantero; Rs 90/76, Slg 1977, 1091, Rn 4, 28 – Van Ameyde; Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 84 – Bosman; verb Rs C-51/96 u C-191/97, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège; Rs C-176/96, Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen; Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139 – Angonese = EuZW 2000, 468 m Anm Streinz/Leible S 459 ff.
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Grundfreiheiten gegenüber entgegenstehenden Rechten Privater Vorrang haben. So dürfen die Grundfreiheitsbeeinträchtigungen durch die Privaten nicht ihrerseits in Abwägung auch mit der Bedeutung der Grundfreiheiten gerechtfertigt sein. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn sich die beeinträchtigenden Handlungen der Privaten im Bereich legitimer Grundrechtsausübung bewegen. Das Unionsrechtsbinnenmarktrecht kann nicht in jedem Fall Vorrang vor den ebenfalls unionsrechtlich geschützten Grundrechten Privater beanspruchen. So kann eine Versammlung Privater die Freiheit des Warenverkehrs beeinträchtigen (zB durch Blockade der Brenner-Autobahn, um gegen die Umweltbelastung zu demonstrieren) und gleichzeitig von der Versammlungsfreiheit gedeckt sein. Schreitet der Mitgliedstaat gegen diese Versammlung nicht ein, muss hierin kein Verstoß gegen eine Schutzpflicht zugunsten der Warenverkehrsfreiheit liegen.230 In diesem Fall liegt in der Unterlassung des Einschreitens zwar ein Eingriff in die Grundfreiheit vor; dieser ist jedoch durch das entgegenstehende, auch unions(grund)rechtlich anerkannte Interesse gerechtfertigt, sofern nicht die Grenzen der Verhältnismäßigkeit überschritten werden. Der Gerichtshof hat diese positiven Schutzpflichten im Bereich der Warenverkehrsfreiheit anerkannt; sie korrespondieren hier in funktionaler Hinsicht mit seiner zurückhaltenden Annahme einer Bindung auch Privater an diese Grundfreiheit (Rn 78). 55 Besteht eine Verpflichtung zum Schutz der Grundfreiheiten, kann diese mit einem individuellen Anspruch des Betroffenen korrespondieren. Dies ist der Fall, wenn die verletzte Grundfreiheit auch seinen Interessen zu dienen bestimmt ist, wie dies etwa bei Marktteilnehmern der Fall ist, die wie zB Importeure an der Ausübung ihrer Grundfreiheiten gehindert werden. Allerdings steht das Wie des Schutzes grds im Ermessen der Mitgliedstaaten. Eine Verpflichtung zu einem bestimmten Einschreiten kann es nur in Ausnahmefällen geben. Wann der Einzelne einen Anspruch auf fehlerfreie Entscheidung bzw auf Vornahme bestimmter Schutzmaßnahmen hat, ist (ebenso wie im nationalen Recht) nicht abschließend geklärt.231 Entscheidend ist, ob der verursachte Zustand unionsrechtswidrig ist und nur durch eine bestimmte staatliche Maßnahme beseitigt werden kann. Ein Anspruch ist daher erst dann anzunehmen, wenn das Untätigbleiben einer unverhältnismäßigen Beschränkung der Grundfreiheit gleichkommt.
230 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 94 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3 → Epiney, § 13 Rn 17, 23. Näher dazu Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, 213. 231 Näher zu den grundfreiheitlichen Schutzpflichten und den damit verbundenen Konsequenzen Schwarze, EuR 1998, 53; Burgi, EWS 1999, 327; Riem Die Europäischen Grundfreiheiten als Rechtsgrundlagen von Leistungsansprüchen, 2010, S 31 f, 188 ff.
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Lösung Fall 2: Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen nicht. Die Kommission hat das in Art 258 AEUV vorgesehene Verfahren eingehalten. Begründet ist die Klage, wenn Frankreich gegen Art 34 AEUV verstoßen hat. Der freie Warenverkehr kann nicht nur durch Handlungen, sondern auch durch Unterlassungen eines Mitgliedstaates beeinträchtigt werden, wenn Privatpersonen den Handelsverkehr stören. Den Mitgliedstaaten obliegt insofern aus Art 34 AEUV und der allgemeinen Loyalitätspflicht des Art 4 III EUV eine positive Schutzpflicht zugunsten der Warenverkehrsfreiheit, um deren effektive Verwirklichung zu sichern. Es steht dabei grds im Ermessen der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständigen Mitgliedstaaten, zu entscheiden, welche Maßnahmen in einer solchen Situation am geeignetsten sind, um Beeinträchtigungen der Einfuhr zu verhindern und zu beseitigen. Da sich Frankreich im vorliegenden Fall aber offenkundig und beharrlich geweigert hat, ausreichende und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Sachbeschädigungen zu unterbinden, hat der EuGH zu Recht einen Verstoß gegen Art 34 AEUV angenommen. Welche konkreten Maßnahmen zu treffen sind, bleibt allerdings dann wiederum Frankreich überlassen.
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c) Rechte auf originäre Leistung, derivative Teilhaberechte sowie Verfahrensrechte Positive staatliche Pflichten außerhalb der Schutzgewährung sind deutlich seltener 57 begründbar. Dies gilt in besonderem Maße für echte originäre Leistungsrechte, da sich aus den Grundfreiheiten keine staatlichen Verpflichtungen zur Schaffung noch nicht vorhandener Einrichtungen oder zur Gewährung neuer Vergünstigungen ergeben. Deren Begründung kann durch Sekundärrecht erreicht werden, in aller Regel nicht aber aus den primärrechtlichen Grundlagen. Freilich ist es denkbar, dass der Mitgliedstaat, dessen nationale Regelungen gegen die Grundfreiheiten in ihrer Abwehrfunktion verstoßen und daher für Unionsbürger unanwendbar sind, für diese neue begünstigende grundfreiheitskonforme Regelungen schaffen muss. Weniger problematisch in der Einordnung erscheint dabei der Fall, dass ein Uni- 58 onsbürger unter Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot von einer staatlichen Leistung ausgeschlossen worden ist. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts wird die unionsrechtswidrige Ausschlussnorm unanwendbar und dem gleichheitswidrig Ausgeschlossenen das Recht auf Teilhabe an der betreffenden hoheitlichen Begünstigung eingeräumt. So leitet der EuGH in stRspr aus Art 18 iVm 21 AEUV ein abgeleitetes Teilhaberecht an denjenigen sozialen Vergünstigungen ab, die der Aufnahmestaat seinen Staatsbürgern gewährt (Rn 25). Gleiches gilt für soziale Vergünstigungen für Arbeitnehmer, die nach Art 45 AEUV auf Wanderarbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten sowie ihre Familienangehörigen erstreckt werden müssen. Dabei muss auch ein nur zeitweiliger Vorteil der Inländer unterbunden werden. Hier liegt keine echte Leistungs-, sondern eine Teilhabekonstellation vor, die gerade für Diskriminierungsfälle in aller Regel die Lösung darstellen wird. Dieses derivative Teilhaberecht nimmt an der unmittelbaren Geltung der betroffenen Grundfreiheit Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
teil und kann daher vor dem nationalen Gericht direkt geltend gemacht werden. Anders als im deutschen Recht, welches bei der Feststellung eines Gleichheitsverstoßes neben der Ausdehnung der Vergünstigung als Lösung auch ihre Streichung für alle oder aber die gleichheitskonforme Neuregelung vorsieht und im Bereich des Art 3 GG dem Gesetzgeber in aller Regel die Wahl bei der Auflösung des Gleichheitsverstoßes überlässt,232 führt die aus dem Anwendungsvorrang folgende Automatik im Unionsrecht typischerweise zur Ausdehnung der Vergünstigung. Dem nationalen Gesetzgeber bleibt dann freilich die Möglichkeit, den Sachverhalt in Übereinstimmung mit den Grundfreiheiten neu und auf andere Art zu regeln, die dann auch den Ausschluss der Vergünstigung für Inländer wie Ausländer zur Folge haben oder die Anknüpfung an andere, nunmehr gleichheitskonforme Kriterien erfordern kann.233 59 Die Verpflichtung zur Neuschaffung begünstigender Regelungen für Unionsbürger, die sich aus einem Verstoß gegen Grundfreiheiten ergeben und die nicht im Teilhabewege gelöst werden können, weil sie eine vorgängige staatliche Ausgestaltungsentscheidung erfordern, können der Leistungsdimension zugeordnet werden. Dennoch unterscheiden sie sich von klassischen Leistungskonstellationen, wenn sie lediglich auf eine begünstigende rechtliche Regelung gerichtet sind, bezüglich derer der Gesetzgeber Gestaltungsspielräume hat. Eine solche Konstellation findet sich im Bereich der Anerkennung von berufsqualifizierenden Abschlüssen in anderen Mitgliedstaaten. Wird zB ein Anwalt aus einem anderen Mitgliedstaat in Deutschland nicht zugelassen, weil er kein deutsches Staatsexamen abgelegt hat, stellt dies eine faktische Diskriminierung und damit eine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit bzw der Arbeitnehmerfreizügigkeit dar. Der Ausschluss verfolgt allerdings ein legitimes Allgemeininteresse, weil eine anwaltliche Tätigkeit in einem Mitgliedstaat die Kenntnis der dortigen Rechtsordnung verlangt. Allerdings ist ein vollständiger Ausschluss, welcher in Sache von dem in einem anderen Mitgliedstaat bereits vollständig ausgebildeten und zur Berufsausübung berechtigten Anwalt verlangen würde, im Zielmitgliedstaat erneut ein vollständiges Studium bzw Examen zu absolvieren, unverhältnismäßig; ein milderes Mittel bestünde darin, bereits erworbene Kenntnisse anzuerkennen und nur die für die ordnungsgemäße Berufsausübung im Inland erforderlichen weiteren Fähigkeiten in einer Ergänzungsprüfung nachzuweisen. Damit ist eine mitgliedstaatliche Regelung gerechtfertigt, die
232 Einen Anspruch auf die Leistung hat der Bürger nur in Ausnahmefällen, nämlich wenn eine verfassungsrechtliche oder (im Falle eines Verwaltungshandelns) gesetzliche Verpflichtung zur Bereitstellung der gleichheitswidrig vorenthaltenen Begünstigung besteht, wenn der Gesetzgeber ein komplexes Regelungssystem geschaffen hat und erkennbar daran festhalten will oder wenn eine Selbstbindung eingetreten ist (was grds nur im Hinblick auf die Verwaltung denkbar erscheint). Vgl zusammenfassend Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 687 ff, 700 ff. 233 Vgl dazu EuGH, Rs C-209/03, Slg 2005, I-2119 – Bidar = JK 2005, EGV Art 12 I/2.
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ein Verfahren zur Verfügung stellt, in dem die Gleichwertigkeit des im Herkunftsland erworbenen Diploms geprüft und dem Anwalt die Möglichkeit eröffnet wird, die noch fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten (zB im Hinblick auf den deutschen Rechtskreis) in einer (von der staatlichen Pflichtfachprüfung – Staatsexamen – zu unterscheidenden) Zusatzprüfung nachzuweisen. Dies hat der Gerichtshof aus den Grundfreiheiten abgeleitet und ist mittlerweile im Sekundärrecht niedergelegt worden.234 Damit folgt aus der Niederlassungsfreiheit bzw der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein positives Recht auf die Schaffung einer neuen Zugangsmöglichkeit zum Anwaltsberuf für Unionsbürger, die neben die vorhandenen innerstaatlichen tritt; denn es ist aus Sachgründen nicht wahrscheinlich und grundfreiheitlich nicht gefordert, dass der Mitgliedstaat hier die Ungleichbehandlung durch eine automatische Anerkennung ausländischer Diplome oder beruflicher Qualifikationen beseitigt. Diese positive Pflicht bezieht sich in den genannten Fällen typischerweise auf 60 die Schaffung neuer Verfahrensvorkehrungen. So hat der EuGH in seiner Vlassopoulou-Entscheidung davon gesprochen, dass eine „Prüfung […] nach einem Verfahren vorgenommen werden muss, das mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts […] in Einklang steht.“235 Deswegen erscheint es auch möglich, diese Fallgruppe als Ausdruck einer verfahrensrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten zu sehen. Diese ist in der Rechtsprechung durchaus zu beobachten,236 wenngleich sie dort idR nicht als solche bezeichnet wird. Die verfahrensrechtlichen Anforderungen ergeben sich häufig als Ergebnisse einer Verhältnismäßigkeitsabwägung, wenn der EuGH entweder mitgliedstaatliche Verfahrensanforderungen etwa im Bereich der Berufsausübung als unverhältnismäßig betrachtet237 oder er umgekehrt verfahrensrechtliche Vorgaben als mildere Mittel anstelle nicht gerechtfertigter mitgliedstaatlicher Eingriffsmaßnahmen zugunsten von an sich legitimen Schutzgütern ansieht. So hat der EuGH zB bei Eingriffen in die Kapitalverkehrsfreiheit Vorkehrungen für deren Vorhersehbarkeit verlangt, da nicht berechenbare staatliche Maßnahmen unverhältnismäßig wären.238 Auch hat er im Bereich der öffentlichen Auf-
234 Vgl Art 13, 14 RL 2005/36 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl 2005 Nr L 255/22 (m spät Änd); dazu Stork, GewA 2013, 338. Für die Zulässigkeit einer vergleichenden Prüfung der Diplome im Falle eines beantragten Zugangs zum juristischen Referendariat in Deutschland (von einem polnischen Unionsbürger, der über einen Master-Abschluss verfügt) vgl EuGH, Rs C-345/08, Slg 2009 I-11677, Rn 37 ff – Peśla = JK 9/10, AEUV Art 45/2. 235 EuGH, C-340/89, Slg 1991, I-2357, Rn 22 – Vlassopoulou. 236 Vgl Hirschberger Prozeduralisierung im europäischen Binnenmarktrecht, 2010, S 110 ff. 237 Vgl beispielhaft EuGH, Rs C-101/94, Slg 1996, I-2691, Rn 8 ff – Kommission/Italien. 238 Vgl etwa EuGH, Rs C-483/99, Slg 2002, I-4781, Rn 46 ff – Kommission/Frankreich („Goldene Aktien“) = RdE 2002, 277 m Anm Gundel = EWS 2002, 328 m Anm Ebke/Traub.
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tragsvergabe aus den primärrechtlichen Gewährleistungen der Art 49, 56 AEUV die Grundsätze der Gleichbehandlung, der Nichtdiskriminierung und der Transparenz abgeleitet und entschieden, dass sie es einer öffentlichen Stelle grds verbieten, Auftrags- oder Konzessionsvergaben ohne Ausschreibung vorzunehmen.239 61 Verfahrensrechtliche Absicherungen folgen zudem auch aus der praktischen Wirksamkeit (effet utile) der Grundfreiheiten selbst sowie aus der allgemeinen Loyalitätspflicht nach Art 4 III EUV. Da die Grundfreiheiten unmittelbare anwendbare subjektive Rechte gewähren, muss diesbezüglich für den Einzelnen effektiver Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten gegeben sein.240 Dies folgt auch aus Art 47 GRCh sowie Art 19 I UAbs 2 EUV, der rechtstaatliche Anforderungen an die nationalen Gerichte sowie deren Verfahren stellt.241 Daher sind die Mitgliedstaaten im Interesse der Durchsetzung des Unionsrechts auch zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet.242
III. Berechtigte der Grundfreiheiten 1. Natürliche Personen: Staatsangehörige der Mitgliedstaaten (Unionsbürger) 62 Die Grundfreiheiten berechtigen natürliche Personen. Dabei ist es unerheblich, ob
diese volljährig oder geschäftsfähig sind. Hierauf kann es nur für die Geltendmachung (zB in einem gerichtlichen oder einem Verwaltungsverfahren) ankommen (Rn 173 ff). Die Grundfreiheiten dienen dem Binnenmarkt, und ihre Gewährleistungsgehalte sind damit funktional bestimmt. Dies ist ein zentraler Unterschied zu menschenrechtlichen Gewährleistungen, die im Prinzip jedermann zustehen. Der
239 EuGH, Rs C-458/03, Slg 2005, I-8585, Rn 72 – Parking Brixen. Vgl a EuGH, Rs C-59/00, Slg 2001, I9505, Rn 20 ff – Vestergaard; Rs C-231/03, Slg 2005, I-7287, Rn 15 ff – Coname (Zugang zu angemessenen Informationen; vgl dazu Braun/Hauswaldt, EuZW 2006, 176 ff); verb Rs C-147/06 u C-148/06, Slg 2008, I-3565, Rn 20 – SECAP u Santorso; Rs C-376/08, Slg 2009, I-12169, Rn 22 – Serrantoni. 240 Vgl EuGH, Rs 222/84, Slg 1986, 1651, Rn 18 f – Johnston; Rs 222/86, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens; Rs C-104/91, Slg 1992, I-3003, Rn 15 – Borrell; Rs C-269/99, Slg 2001, I-9517, Rn 57 – Carl Kühne; Rs C-50/ 00 P, Slg 2002, I-6677, Rn 39 – Union de Pequeños Agricultores = JK 2003, EGV Art 230 IV/2; Tonne Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997, S 200 ff; Ehlers, DVBl 2004, 1441 f. 241 Grundsätzlicher auch EuGH, Urt v 27.2.2018, C-64/16 – Associação Sindical dos Juízes Portugueses; Urt v 25.7.2018, C-216/18 PPU – LM; EuGH, Urt v 5.11.2019, C-192/18 – Kommission/Polen; Urt v 24.6.2019, C-619/18 – Kommission/Polen; Urt v 8.4.2020, C-791/19 R – Kommission/Polen; Platon, JDE 2018, 253 ff; Rizcallah, JDE 2018, 348 ff; Ippolito, RTDE 2019, 273 ff. Zusammenfassend zuletzt Germelmann/Gundel, BayVBl 2022, 505, 506 ff. 242 Vgl EuGH, Rs C-213/89, Slg 1990, I-2433, Rn 19 – Factortame.
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Kreis der Berechtigten der Grundfreiheiten ist in personeller Hinsicht damit vor allem auf die Unionsbürger iSd Art 20 AEUV, dh die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten beschränkt. Dies folgt für die Personenverkehrsfreiheiten, also die Arbeitnehmer- und Niederlassungsfreiheit, sowie für die Dienstleistungsfreiheit aus dem Wortlaut der Verträge in Art 45 II, 49 UAbs 1, 56 UAbs 1 AEUV. Für die Freiheit des Waren- sowie des Kapital- und Zahlungsverkehrs gilt im Ausgangspunkt dasselbe. Allerdings bestehen hier Weiterungen. So ist für den Warenverkehr die Herkunft der Waren, nicht jedoch die Staatsangehörigkeit des Händlers bzw Im- oder Exporteurs entscheidend.243 Außerdem stellt Art 28 II AEUV für die Warenverkehrsfreiheit auf diejenigen Waren ab, die sich im Binnenmarkt rechtmäßig im freien Verkehr befinden, was auch für Waren der Fall sein kann, die ursprünglich aus Drittländern stammen, nun aber Unionswaren iSd Art 29 AEUV sind (Rn 6). Entscheidend ist hier dennoch nicht die Staatsangehörigkeit des Im- bzw Exporteurs, sondern das Herkunftsland innerhalb der Union. Die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit nach Art 63 AEUV bezieht als einzige Grundfreiheit ausdrücklich auch Drittstaatssachverhalte ein, was sich auf die personelle Berechtigung auswirkt (Rn 6). Die Unionsbürgerschaft (Rn 24) folgt den Staatsangehörigkeiten der Mitglied- 63 staaten. Entscheidend für die Grundfreiheitsberechtigung in personeller Hinsicht ist damit das jeweilige nationale Staatsangehörigkeitsrecht. Als deutsche Staatsangehörige sind zB alle Deutschen iSd Art 116 GG anzusehen.244 Irrelevant ist es, welchen der klassischen Anknüpfungstatbestände (ius sanguinis oder ius soli)245 das jeweilige mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeitsrecht zugrunde legt. Zu den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten gehören zT auch die Angehörigen überseeischer Länder und Hoheitsgebiete wie zB von Martinique246 (vgl näher dazu Rn 86). Die Unionsbürgerschaft selbst begründet keine eigene Regelungskompetenz der Union, die damit also auch die personellen Anwendungsbereiche der Grundfreiheiten nicht selbständig erweitern kann. Es ist Angelegenheit der Mitgliedstaaten, über den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Nach Art 20 I 2 AEUV ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt; sie ist damit ein abgeleitetes Recht.247 Allerdings kann das Unionsrecht im Rahmen der (anderen, allgemeinen) Unionskompetenzen mittelbar Auswirkungen auf die
243 Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 34 AEUV Rn 1; Haltern in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Art 34 AEUV Rn 28, jeweils mwN; aA Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 33. 244 Dies ergibt sich auch aus einer in die Schlussakte aufgenommenen Erklärung der Bundesrepublik Deutschland bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge (BGBl II 1957, 764). 245 Dazu Epping in: Ipsen, VR, § 7 Rn 87 ff. 246 Näher dazu Forsthoff/Eisendle in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 24 f. 247 BVerfGE 123, 267, 404 = JK 2009, GG Art 38 I/18.
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Regelungszuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts haben. Dies gilt beispielsweise für das Erlöschen im Falle doppelter Staatsangehörigkeiten248 oder die Gewährung der Staatsangehörigkeit, etwa durch Vergabe sog „goldener Pässe“ im Rahmen einer sog „investment citizenship“.249 So hat der EuGH angenommen, dass bei einem Verlust der Staatsangehörigkeit zu prüfen sei, ob die Auswirkungen der mitgliedstaatlichen Kompetenzausübung auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.250 Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union ist die Unionsbürgerschaft der britischen Staatsangehörigen automatisch fortgefallen, ohne dass es zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung kommen kann.251 64 Von der Frage der personellen Berechtigung aufgrund der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats zu unterscheiden ist das bereits erwähnte Erfordernis des grenzüberschreitenden Sachverhalts, welches in den meisten Fällen dazu führt, dass sich in erster Linie die EU-Ausländer auf die Grundfreiheiten berufen können. Nur bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (Rn 39 ff) sind auch die Inländer personell berechtigt; dies ist etwa in sog Rückkehrer-Fällen der Fall.252 Auch kann es genügen, dass der Betroffene von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, bevor er die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates erworben und so gleichsam den grenzüberschreitenden Sachverhalt selbst beseitigt hat.253 Ebenso kann das mitgliedstaatliche Recht aus eigener Entscheidungsgewalt die Garantien der Grundfreiheiten auf reine Inlandssachverhalte erstrecken (Rn 8). Besitzt eine Person sowohl die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU als auch eines
248 Vgl EuGH, Urt v 12.3.2019, Rs C-221/17, NVwZ 2019, 709 – Tjebbes ua = JZ 2019, 461 m Bespr Weber S 449 ff; dazu auch Bonneville/Cassagnabère/Gänser/Markarian, AJDA 2019, 1047, 1050 ff; Miny/Bouhon, RTDH 2019, 719 ff; Rigaux, Europe 5/2019, 7 ff. 249 Vgl zum Problem, das mit Blick auf Art 20 AEUV und die allgemeine Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten nach Art 4 III EUV besteht, Besson, 29 SZIER 2019, 525 ff; Cipolletti, Riv dir int 2014, 463 ff. S ferner zum anhängigen Vertragsverletzungsverfahren gegen Malta PM der Kommission, IP/22/ 5422 v 29.9.2022. Für kommerzielle Masseneinbürgerungen vgl Nettesheim, JZ 2011, 1030, (1034). 250 EuGH, Rs C-135/08, Slg 2010, I-1467, Rn 55 – Rottmann = JK 2010, AEUV Art 20/1; zust Kahl JURA 2011, 364, 368 f; EuGH, Urt v 12.3.2019, Rs C-221/17, NVwZ 2019, 709 – Tjebbes ua; EuGH, Urt v 18.1.2022, Rs C-118/20 – JY; dazu Rigaux, Europe 3/2022, 17 ff; Rondu, RTDE 2022, 367 ff; Stamatopoulos, JDE 2022, 339 ff; ferner Magiera in: Streinz, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 30; Schönberger in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 20 AEUV Rn 45. 251 EuGH, Urt v 9.6.2022, Rs C-673/20 – EP/Préfet du Gers = EuZW 2022, 852 m Anm Hilpold; dazu auch Guillard, RDUE 2022, 121 ff; Rigaux, Europe 8/2022, 15 ff. 252 Vgl EuGH, Urt v 12.7.2018, Rs C-89/17, NVwZ 2018, 1699 – Banger; dazu Rigaux, Europe 10/2018, 20 ff; Urt v 5.6.2018 – Rs C-673/16, NVwZ 2018, 1545 – Coman; dazu Bribosia/Rorive, JDE 2018, 344 ff.; Fulchiron/Panet, Rec Dalloz 2018, 1674 ff; Rigaux, Europe 8/2018, 7 ff. 253 EuGH, Urt v 14.11.2017, Rs C-165/16 – Lounes = JZ 2018, 203 m Anm Kämper/Rünzel; dazu Rigaux, Europe 1/2018, 13 ff.
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Drittstaates, reicht Ersteres aus.254 Teilweise werden weitere Anforderungen gestellt. ZB gesteht Art 49 UAbs 1 S 2 AEUV nur in der Union Ansässigen die Errichtung einer sekundären Niederlassung (Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen, Tochtergesellschaften) zu, so dass von einem Drittstaat aus sekundäre Niederlassungen nicht gegründet werden können; wegen der allgemeinen Freizügigkeitsregelungen ist es dabei unerheblich, von welchem Mitgliedstaat aus die Gründung erfolgt; dies kann auch ein anderer als der Herkunftsstaat des Gründers sein.255
2. Juristische Personen und Personenmehrheiten innerhalb der Union
Fall 3: Die deutsche Großstadt A ist alleinige Gesellschafterin einer Stadtwerke-GmbH, die vielfältige Leistungen auf dem Gebiet des Verkehrs-, Energie-, Wasser- und des Beratungssektors erbringt. Die GmbH möchte ihre wirtschaftlichen Dienste künftig in allen Mitgliedstaaten der EU anbieten. Als die staatliche Kommunalaufsichtsbehörde davon erfährt, fordert sie die Stadt A auf, darauf hinzuwirken, dass dies unterbleibt. Zur Begründung beruft sich die Behörde darauf, dass Gemeinden und damit auch deren wirtschaftliche Unternehmen an das in Deutschland geltende kommunalrechtliche Örtlichkeitsprinzip gebunden seien, sie sich von der Ausnahme der interkommunalen Zusammenarbeit abgesehen also grds nur auf dem Gebiet der Gemeinde betätigen dürften. A möchte wissen, ob das Verlangen der Behörde mit den Grundfreiheiten des Unionsrechts vereinbar ist.
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Auch juristische Personen und Personenmehrheiten werden in personeller Hin- 66 sicht durch die Grundfreiheiten geschützt. Das folgt bereits aus ihrer sachlichen Zielsetzung, der Förderung des Binnenmarkts iSd Art 26 AEUV, an dessen Funktionsfähigkeit sie erheblichen Anteil haben. Besonders deutlich findet sich diese Parallelität der personellen Berechtigung im Bereich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, in dem kraft ausdrücklicher Anordnung der Art 54 UAbs 1, 62 AEUV die Gesellschaften den natürlichen Personen, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, gleichgestellt werden. Unter Gesellschaften versteht der Vertrag solche des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften sowie die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen (Art 54 UAbs 2 AEUV).256 Der Gesellschaftsbegriff ist grundsätzlich weit zu verstehen, um das Binnenmarktziel effektiv zu fördern. Auf eine rechtliche Verselbstständigung kommt
254 Vgl EuGH, Rs C-369/90, Slg 1992, I-4239, Rn 11 – Micheletti. 255 Tiedje in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 54 AEUV Rn 41. 256 Vgl dazu Tiedje in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 54 AEUV Rn 19 ff.
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es daher nicht an. Entscheidend ist nur eine rechtlich vorstrukturierte Organisationsform, so dass deutsche BGB-Gesellschaften auch dann erfasst werden, wenn man ihnen – entgegen der deutschen Rspr – auch eine Teilrechtsfähigkeit absprechen würde.257 Aus der Erwähnung von Genossenschaften und juristischen Personen des öffentlichen Rechts folgt, dass auch der Begriff des Erwerbszwecks weit zu verstehen ist und nicht iSe Gewinnstrebens ausgelegt werden darf. Ausreichend ist vielmehr jede Teilnahme am Wirtschaftsleben mittels Angebots einer entgeltlichen, auf teilweise Kostendeckung abzielenden Tätigkeit.258 Damit sind nur Organisationseinheiten ausgenommen, die zB rein religiöse, karitative, kulturelle oder soziale Zielsetzungen verfolgen,259 also gleichsam überhaupt nicht am Binnenmarkt teilnehmen. Sie finden ihre Entsprechung in den wirtschaftlich nicht aktiven natürlichen Personen, für die der Gerichtshof im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch bei geringfügigen Beschäftigungen eine hinreichende Marktaktivität annimmt.260 Zu den berechtigten juristischen Personen gehören neben den Stiftungen und Vereinen auch die juristischen Personen des öffentlichen Rechts gesellschaftlicher oder staatlicher Provenienz und ferner die Staaten selbst, sofern sie sich (zB durch nichtrechtsfähige Betriebe) im EU-Ausland wirtschaftlich betätigen wollen. Insoweit unterscheiden sich Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte (Rn 17; → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 68); der Grund ist einmal mehr der funktionale Schutzzweck des Binnenmarktes, der über eine persönliche Freiheitsbetätigung hinausgeht. Gleichstellungsvoraussetzung der juristischen Personen mit den natürlichen Personen ist, dass die „Gesellschaften“ nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden sind und in der EU eine Präsenz (satzungsmäßigen Sitz, Hauptverwaltung, Hauptniederlassung) haben (Art 54 UAbs 1 AEUV). Auf die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter261 kommt es dann ebenso wenig an wie auf das Vorliegen einer tatsächlichen dauerhaften Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaates.262 Im Falle des Art 49 UAbs 1 S 2 AEUV müssen die Unionsbürger im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ansässig sein (Rn 63).
257 HM, vgl Forsthoff in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 5 ff. Zur Teilrechtsfähigkeit von BGB-Gesellschaften vgl BGHZ 146, 341. 258 Vgl auch Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 28 Rn 13 ff; Fischer in: Lenz/Borchardt, EUV/ AEUV, Art 54 AEUV Rn 2. 259 Müller-Graff in: Streinz, EUV/AEUV, Art 54 AEUV Rn 3. 260 EuGH, Rs 139/85, Slg 1986, 1741 – Kempf; Rs C-292/89, Slg 1991, I-745 – Antonissen; Rs C-138/02, Slg 2004, I-2703 – Collins; Rs C-413/01, Slg 2003, I-13187 – Ninni-Orasche. 261 Vgl Streinz ER, Rn 827. 262 Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 193 f.
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Da sich ein Binnenmarkt (Art 26 II AEUV) nicht verwirklichen lässt, wenn sich 67 Gesellschaften iSd Art 54 UAbs 2 AEUV nicht auf die Freiheit des Waren- sowie des Kapital- und des Zahlungsverkehrs berufen können, gilt insoweit dasselbe wie für die Inanspruchnahme der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. Selbst die Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt nach der Rspr des EuGH nicht nur natürlichen Personen zugute. Vielmehr kann sich auch ein Arbeitgeber – gleichsam im Sinne eines Reflexschutzes – auf Art 45 AEUV berufen, wenn er im Mitgliedstaat seiner Niederlassung einen Angehörigen aus einem anderen Mitgliedstaat mangels dessen Wohnsitzes im Inland nicht beschäftigen darf (Rn 7). Unerheblich ist, ob es sich bei dem Arbeitgeber um eine natürliche oder juristische Person handelt.263 Dies ist konsequent, weil auch der Arbeitnehmer als natürliche Person diese Grundfreiheitsverletzung rügen könnte und der Binnenmarktschutz in beiden Fällen gleichermaßen erforderlich ist. Lösung Fall 3: Das Unternehmen strebt Tätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten an, so dass ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben ist. Auf die sich aus Art 62 iVm 54 AEUV ergebende Niederlassungsfreiheit können sich alle juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen, und somit auch die öffentlichen Unternehmen berufen. Die Niederlassungsfreiheit ist für die Unternehmen in ihrem Gewährleistungsgehalt als ein Beschränkungsverbot zu verstehen, sofern Beschränkungen des Marktzutritts bestehen. Dies gilt uneingeschränkt gegenüber den anderen Mitgliedstaaten der EU. Die Grundfreiheiten vermitteln den privaten Unternehmen aber auch ein Marktaustrittsrecht gegen den eigenen Mitgliedstaat (so dass die Unternehmen europaweit tätig werden dürfen). Vielfach wird angenommen, dass für die öffentlichen Unternehmen Entsprechendes zu gelten hat.264 Hiergegen kann man einwenden,265 dass das Unionsrecht grds keine Vorgaben für die Organisation der Mitgliedstaaten enthält, sondern sie als Einheit behandelt, so dass die internen Bindungen und Aufgabenverteilungen kein Gegenstand des Unionsrechts darstellen und insbesondere keine Abwehrrechte auslösen. Allerdings berücksichtigt diese Sichtweise nicht hinreichend den Umstand, dass öffentliche Unternehmen durch Art 106 I AEUV den privaten Unternehmen in Bezug auf das Unionsrecht und damit auch auf den Binnenmarkt gleichgestellt werden, wenn sie wie diese am Wirtschaftsleben teilnehmen. Auch Art 345 AEUV schützt nur den unveränderten status quo, immunisiert aber nicht gegenüber der Geltung der Grundfreiheiten, sofern ein staatli-
263 Krit Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 34. 264 Vgl Nagel Gemeindeordnung als Hürde?, 1999, S 48 ff; dens, NVwZ 2000, 758 (761); Becker, ZNER 2000, 259 (261); Schwintowski, NVwZ 2001, 607 (610, 612); Jarass Kommunale Wirtschaftsunternehmen im Wettbewerb, 2002, S 41 ff; Langner Die örtliche Begrenzung kommunaler Wirtschaftstätigkeit und die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2008, S 115 ff; Naumann/Schmitz, NWVBl 2011, 208 ff (die sich dafür aussprechen, einer Gemeinde die Grundfreiheitsberechtigung abzusprechen, einer in Gemeindehand befindlichen Gesellschaft aber diese zuzubilligen). 265 Vgl auch Manthey Bindung und Schutz öffentlicher Unternehmen durch die Grundfreiheiten des europäischen Gemeinschaftsrechts, 2001, S 115 ff; Weiß, DVBl 2003, 564 ff.
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ches Verhalten Binnenmarktrelevanz aufweist.266 Das ist hier der Fall, weil das betreffende Unternehmen am Wirtschaftsverkehr als Wettbewerber teilnimmt. Damit ändert der Umstand, dass der Bund oder ein Land den Kommunen oder ihren Unternehmen Bindungen nach Art des deutschen kommunalen Wirtschaftsrechts auferlegt, welche Privaten gegenüber nicht gelten, nichts an der Geltung der Grundfreiheiten für deren wirtschaftliche Tätigkeit. Ein Eingriff in der Niederlassungsfreiheit in Form einer Marktaustrittsbeschränkung liegt also vor. Allerdings kann die Beschränkung gerechtfertigt sein, sofern der Mitgliedstaat hierfür erhebliche Gemeinwohlinteressen wie die Sicherstellung der Daseinsvorsorge oder die Stabilität der öffentlichen Haushalte anführen kann und die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Somit kann im Einzelfall trotz der Geltung der Grundfreiheiten für öffentliche Unternehmen im Gegensatz zu Privaten ein Marktaustrittsrecht gegenüber dem eigenen Mitgliedstaat zu versagen sein.
3. Drittstaatsangehörige sowie juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Union
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Fall 4: (EuGH, Rs C-452/04, Slg 2006, I-9521 – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16) A, eine Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz, vergibt Kredite. Etwa 90 % der Kredite gehen an in Deutschland ansässige Kunden. Nach dem deutschen KWG bedarf die Tätigkeit der gewerbsmäßigen Kreditvergabe im Inland durch ein in einem Drittstaat ansässigen Unternehmens unter bestimmten Voraussetzungen einer vorherigen Erlaubnis. A fehlte diese Erlaubnis. Die zuständige Behörde (BaFin) untersagte A deshalb im Einklang mit dem KWG die Kreditvergabe in Deutschland. Ist die Untersagung mit den Art 56 und 63 AEUV vereinbar?
70 Die Begrenzung des personellen Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten wird
im Einklang mit der Funktionalität des Binnenmarktes punktuell erweitert. Daher können sich unter bestimmten Voraussetzungen auch Drittstaatsangehörige oder juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Union auf die Grundfreiheiten berufen. Die Sachgründe sind hierbei unterschiedlich. Als einzige Grundfreiheit verbietet die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 63 AEUV) ausdrücklich auch Beschränkungen „zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“, berechtigt also auch Drittstaatsangehörige. Damit soll die freie Zirkulation des Kapitals in der EU ungeachtet seiner Herkunft ermöglicht267 und letztlich Investitionen von Kapital aus Drittstaaten in der Union angereizt werden, weil die Grundfrei-
266 EuGH, Rs 182/83, Slg 1984, 3677, Rn 7 – Fearon; Rs C-302/97, Slg 1999, I-3099, Rn 38 – Konle; Urt v 22.10.2013, verb Rs C‑105/12 bis C‑107/12, Rn 33 ff – Niederlande/Essent. 267 Vgl Schürmann in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art 63 AEUV Rn 18 f. Generell zur mittelbaren Wirkung der Grundfreiheiten für in Drittstaaten ansässige Unternehmen Sedemund, BB 2006, 2781 ff.
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heit hier eine – nicht reziproke – Schutzgewähr verspricht.268 Ferner unterfallen der Warenverkehrsfreiheit auch Waren aus dritten Ländern, die sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden (Art 28 II, 29 AEUV). Dies spricht dafür, alle mit solchen Waren handelnden Personen unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat in den Schutz einzubeziehen.269 Der Hintergrund dieser Erweiterung liegt in der Definition der Unionswaren, die für die Verschränkung von Binnenmarkt und internationalem Handel270 erforderlich ist. Dagegen schützen die Freiheiten, die einen Personenverkehr zum Gegenstand 71 haben (dh die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit) grds nur die Angehörigen der Mitgliedstaaten, dh die Unionsbürger. Hier werden also gerade keine Anreize für binnenmarktrelevante Migration aus Drittstaaten gesetzt, was sich durchaus mit der Situation im internationalen Wirtschaftsrecht deckt, in welchem schon der Dienstleistungsverkehr nicht zuletzt aufgrund seiner Migrationskomponente und den unterschiedlichen Qualifikationsanforderungen von zahlreichen Staaten nur zurückhaltend liberalisiert wird.271 Dennoch können sich aus den Freiheiten des Personenverkehrs abgeleitete Rechte für Drittstaatsangehörige ergeben. Dies ist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit bezogen auf die (möglicherweise aus Drittstaaten stammenden) Familienangehörigen der Berechtigten der Fall, da deren Situation im Aufnahmemitgliedstaat unmittelbare Auswirkungen auf den Wanderarbeitnehmer bzw Selbständigen selbst hat. Daher haben diese drittstaatsangehörigen Familienmitglieder einen eigenen, abgeleiteten Anspruch auf Einhaltung der betreffenden Grundfreiheiten, der neben den Anspruch des primär Grundfreiheitsberechtigten tritt; Diskriminierungen und Beschränkungen können ihnen gegenüber eine Verletzung dieser Freiheiten darstellen (Rn 7).272 Sind Gesellschaften iSd Art 54 AEUV nach
268 Vgl näher und auch zu den Grenzen Lecheler/Germelmann Zugangsbeschränkungen für Investitionen aus Drittstaaten im deutschen und europäischen Energierecht, 2010, S 46 ff, 112 ff. 269 Ebenso Jarass, EuR 2000, 705, (708); Schroeder in: Streinz, EUV/AEUV, Art 34 Rn 24. AA Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 79, mit dem Hinweis darauf, dass die Warenverkehrsfreiheit gem Art 217 AEUV Gegenstand von Assoziierungsabkommen sein kann. 270 Zu den „rules of origin“ im internationalen Handel Matsushita/Schoenbaum/Mavroidis/Hahn The World Trade Organization, 3. Aufl 2015, S 237 f. 271 Vgl Matsushita/Schoenbaum/Mavroidis/Hahn The World Trade Organization, 3. Aufl 2015, S 556 f; Lowenfeld International Economic Law, 2. Aufl 2008, S 120 ff. 272 Vgl EuGH, Urt v 10.5.2017, Rs C-133/15, EuGRZ 2017, 377, Rn 52 – Chavez-Vilchez ua; ferner auch Art 7 II, 9 ff RL 2004/38, Art 10 VO 492/2011. Näher zum Ganzen Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 39 AEUV Rn 29 ff; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 182. Zur Dienstleistungsfreiheit vgl Rn 46 (Fall Carpenter, → Pache, § 16 Rn 128, 131).
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den Vorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden und haben sie ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der EU, stehen sie den natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind. Hat ein Unternehmen aus einem Drittland eine Niederlassung in einem Mitgliedsstaat der EU gegründet, ist das Handeln der dem Unionsrecht unterworfenen Niederlassung (und nicht nur der Muttergesellschaft aus dem Drittland) zuzurechnen, wenn die Tätigkeit der Niederlassung auf die Einwohner des Mitgliedstaates ausgerichtet ist.273 Dies ist insbesondere im Zuge des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union relevant geworden, da in der Union ansässige (oder während der Zeit zwischen Austrittsnotifikation und Wirksamwerden des Austritts explizit zu diesem Zwecke gegründete) Zweigniederlassungen britischer Unternehmen in den Mitgliedstaaten weiterhin die unionsrechtlichen Freizügigkeiten genießen. Schließlich kann sich aus Abkommen der EU mit dritten Staaten eine Gleichstellung der Drittstaatsangehörigen mit den Angehörigen der Mitgliedstaaten (Unionsbürgern) ergeben, weil solche Abkommen als integrierende Bestandteile der Unionsrechtsordnung angesehen werden.274 So garantiert Art 28 I EWR-Abk275 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten und den EFTA-Staaten. Auch mit der Schweiz ist ein Freizügigkeitsabkommen abgeschlossen worden.276 Die Abkommen begründen unmittelbare Rechte für den Einzelnen entsprechend Art 45 AEUV.277 Das Assoziationsabkommen der EWG mit der Türkei278 sowie der auf dieser Grundlage getroffene Assoziationsratsbeschluss Nr 1/80 räumen den türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen zwar kein Recht auf Einreise und Aufnahme einer ersten Beschäftigung, wohl aber ein Recht auf ordnungsgemäße Beschäftigung entsprechend Art 45 AEUV ein, das stufenweise in Abhängigkeit von der Dauer ihrer Beschäftigung erreicht wird.279 Hiermit ist dann auch ein unmittelbar anwendbares Aufenthaltsrecht verbunden.280
273 Vgl EuGH, Urt v 13.5.2014, C-131/12, Rn 55 (unmittelbar nur die Auslegung des Art 4 I lit a der RL 95/46 betreffend) – Google Spain. 274 EuGH, Rs 181/73, Slg 1974, 449, Rn 2, 6 – Haegeman; Rs 104/81, Slg 1982, 3641, Rn 13 – Kupferberg; Rs 12/86, Slg 1987, 3719, Rn 7 – Demirel. 275 Sart II Nr 310. 276 Abl 2002 Nr L 114/6. Vgl dazu Kahil-Wolff/Mosters, EuZW 2001, 5. 277 Vgl Franzen in: Streinz, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 50; Forsthoff/Eisendle in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 34. 278 ABl 1963 Nr L 217, 3687; zum Nachzugsrecht von Familienangehörigen vgl EuGH Urt v 10.7.2014, C-138/13 – Sprachtest; Urt v 8.5.2018, Rs C-82/16, NVwZ 2018, 1859 – K.A. ua; dazu Rigaux, Europe 7/ 2018, 13 ff. 279 Näher dazu Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 24 ff; Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 110 ff. 280 EuGH, Rs C-192/89, Slg 1990, I-3461, Rn 26 ff – Sevince.
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Lösung Fall 4: 1. Vereinbarkeit der Untersagung mit Art 63 AEUV: Ein grenzüberschreitender Sachverhalt ist gegeben: A vergibt Kredite von der Schweiz aus nach Deutschland. Die möglicherweise einschlägige Kapitalverkehrsfreiheit erfasst auch Drittstaatsfälle, so dass für den grenzüberschreitenden Sachverhalt ein Binnenmarktbezug nicht erforderlich ist, sondern auch Drittstaatsbezüge ausreichen. Auch Unternehmen aus Drittstaaten können sich auf Art 63 AEUV berufen. Die Vergabe von Darlehen und Krediten von Gebietsfremden an Gebietsansässige unterfällt auch dem Kapitalverkehr, da Kapital über die Grenzen bewegt wird. Allerdings fragt sich, ob diese Grundfreiheit hier anwendbar ist. Hier könnte ein Vorrang der Dienstleistungsfreiheit bestehen. Nach stRspr stellt die Tätigkeit der Kreditvergabe durch ein Kreditinstitut eine Dienstleistung iSd Art 49 AEUV dar. Allerdings setzt dies voraus, dass die Dienstleistungsfreiheit ihrerseits nicht subsidiär ist. So könnte sich aus den Art 57 UAbs 1, 58 I AEUV ergeben, dass die Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr gegenüber denjenigen über den freien Kapitalverkehr zurücktreten. Der EuGH ist dieser Auffassung nicht gefolgt. Eine nationale Bestimmung, die sich zugleich auf die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit bezieht, kann die Ausübung beider Freiheiten gleichzeitig hindern. Die in Rede stehende nationale Maßnahme muss dann beiden Freiheiten entsprechen, falls sich nicht herausstellt, „dass unter den Umständen des Einzelfalls eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann“. Diese Abgrenzung ist nach der Schwerpunktmethode vorzunehmen. Der EuGH ist der Auffassung, dass der Schwerpunkt bei dem vorliegenden Kreditgeschäft bei der Dienstleistungsfreiheit liegt und die Kapitalverkehrsfreiheit für den zu beurteilenden Sachverhalt im Vergleich hierzu „völlig zweitrangig“ ist. Dies kann man mit Blick auf den Umstand begründen, dass die zentrale wirtschaftliche Leistung nicht (wie bei einer Investition) die Bewegung des Kapitals ist, sondern die Darlehensleistung, die als solche vergütet wird. Die Beeinträchtigung des Kapitalverkehrs ist daher nach Ansicht des EuGH nur eine zwangsläufige Folge der Beschränkung des Dienstleistungsverkehrs. Dies kann man in Zweifel ziehen, weil für Drittstaatsangehörige nur ein begrenzter grundfreiheitlicher Schutz zur Verfügung steht, so dass für sie diese Zweitrangigkeit schwerlich anzunehmen ist. Allerdings ist mit dem EuGH die Schwerpunktmethode nach objektiven Kriterien durchzuführen. Der Vertrag sieht ein austariertes Schutzsystem vor, in dem Drittstaatsangehörige nur in den begrenzten Fällen des Art 63 AEUV grundfreiheitsberechtigt sind und Tätigkeiten, die nach dem objektiven Schwerpunkt anderen Grundfreiheiten vorrangig zuzuordnen sind, nicht im Lichte eines subjektiven Schutzinteresse gleichsam „kapitalverkehrsfreiheitsfreundlich“ ausgelegt werden können. Damit scheidet Art 63 AEUV als Prüfungsmaßstab aus. 2. Vereinbarkeit der Untersagung mit Art 56 AEUV: In Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit fehlt es an einem grenzüberschreitenden Sachverhalt, weil diese Grundfreiheit nicht auf Drittstaatsfälle anwendbar ist, sondern stets einen Binnenmarktbezug verlangt. Auch wenn als Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs alle Maßnahmen anzusehen sind, welche die Ausübung dieser Grundfreiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen und das Erfordernis einer Erlaubnis, das die Untersagung begründet, eine solche Maßnahme darstellt, kann sich A als Drittstaatsunternehmen mangels grenzüberschreitenden Sachverhalts und mangels personeller Anwendbarkeit doch nicht auf die Dienstleistungsfreiheit berufen. 3. Ergebnis: Somit stehen die Grundfreiheiten den getroffenen bankenaufsichtlichen Maßnahmen nicht entgegen.
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IV. Adressaten der Grundfreiheiten 1. Mitgliedstaaten der EU 73 Adressaten der Grundfreiheiten sind in erster Linie die Mitgliedstaaten der Union.
Da die Grundfreiheiten unmittelbare Wirkung im innerstaatlichen Recht entfalten (Rn 10), ist der Begriff des Mitgliedstaates in einem funktionalen Sinne zu verstehen. Erfasst werden alle Träger von Staatsgewalt auf allen Stufen des Staates. Dazu gehören neben Bund, Ländern und Kommunen sowie den sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts staatlicher Provenienz einschließlich der Kammern281 auch die den zur Gänze unmittelbar oder mittelbar von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts getragenen juristischen Personen des Privatrechts (wie die staatlichen oder kommunalen Eigengesellschaften). Gebunden wird sowohl der Mitgliedstaat, in dem der Empfänger der wirtschaftlichen Leistung sitzt oder in dem die Niederlassung begehrt wird, als auch der Ausgangsstaat.282 Damit können sich die Grundfreiheitsberechtigten sowohl gegenüber Eingriffen des Zielstaats als auch solchen des Herkunftsstaats wehren. Beeinträchtigungen des Binnenmarktes können von beiden gleichermaßen ausgehen. Unerheblich ist, welcher Handlungsformen sich die Mitgliedstaaten bedienen.283 Auch werden alle Einrichtungen, deren Verhalten einem Mitgliedstaat aufgrund des von ihm ausgeübten beherrschenden Einflusses zugerechnet werden kann, in Anspruch genommen.284 Einen beherrschenden Einfluss kann der Staat zB ausüben, wenn die Mitglieder der nicht zur staatlichen Verwaltungsorganisation gehörenden Einrichtung vom Staat ernannt und aus öffentlichen Mitteln finanziert werden285 oder wenn die der staatlichen Aufsicht unterstehende Einrichtung mit Rechten ausgestattet wird, „die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.“286 Dieses weite Verständnis dient der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes.
281 Vgl zu den Standesorganisationen mit hoheitlichen oder hoheitsähnlichen Befugnissen EuGH, verb Rs 266/87 u 267/87, Slg 1989, 1295, Rn 15 f – Royal Pharmaceutical Society; Rs C-292/92, Slg 1993, I-6787, Rn 15 ff – Hünermund. 282 Jarass, EuR 2000, 705 (714). 283 Vgl EuGH, Rs 249/81, Slg 1982, 4005, Rn 3 ff – Kommission/Irland („Buy Irish“). 284 Vgl EuGH, Rs C-222/82, Slg 1983, 4083, Rn 16 f – Apple and Pear Development Council; Rs 302/88, Slg 1990, I-4625, Rn 16 ff – Hennen Olie; vgl auch EuGH, Rs C-325/00, Slg 2002, I-9993, Rn 14 ff – Kommission/Deutschland (CMA-Gütezeichen). Vgl auch Art 2 lit b RL 2006/111 über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen sowie über die finanzielle Transparenz innerhalb bestimmter Unternehmen. 285 EuGH, Rs 302/88, Slg 1990, I-4625, Rn 15 – Hennen Olie. 286 Vgl EuGH, Rs C-188/89, Slg 1990, I-3313, Rn 18 – Foster/British Gas.
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2. Europäische Union Neben den Mitgliedstaaten ist in zweiter Linie auch die EU selbst respektive ihre Or- 74 gane und damit wegen der Identität der Organe287 auch die EURATOM an die Grundfreiheiten gebunden.288 Zum einen kann der Binnenmarkt ebenfalls durch Maßnahmen der EU behindert werden. Zum anderen sollen die Grundfreiheiten im gesamten Unionsgebiet Beachtung finden. Sie stehen als primärrechtliche Rechtsquellen an der Spitze der unionsrechtlichen Normenhierarchie und gehen daher im Kollisionsfall dem Sekundärrecht (Art 288 AEUV) vor.289 Es wäre auch widersprüchlich, wenn die Union den Mitgliedstaaten Pflichten auferlegen dürfte, die für sie selbst nicht gelten (vgl Rn 12). Für die EURATOM gelten allerdings weitgehende Besonderheiten290 (auf die hier nicht eingegangen werden soll; vgl auch Rn 101). Allerdings ist zu beachten, dass die Unionsorgane eher selten dezidiert binnenmarktschädliche Maßnahmen ergreifen werden; gerade die im Regelfall initiativberechtigte (Art 17 II EUV) Kommission ist ihrer Aufgabe nach (Art 17 I 1 EUV) auf die Förderung gerade auch des Binnenmarktziels (Art 3 III UAbs 1 EUV, Art 26 AEUV) verpflichtet. Der Gerichtshof kann den Unionsorganen daher auch weitergehende Ermessensspielräume beim Erlass von binnenmarktrelevantem, auch regulierendem Sekundärrecht einräumen, als dies für unilaterale Maßnahmen der Mitgliedstaaten der Fall ist.291
3. Privatpersonen Fall 5: (EuGH, Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779 ff – Viking = JK 2008, EGV Art 43/9)
V, eine Gesellschaft finnischen Rechts, gehört ua das unter finnischer Flagge fahrende Schiff Rosella, welches auf dem Seeweg zwischen Tallinn (Estland) und Helsinki (Finnland) verkehrt. V ist nach finnischem Recht und geltendem Tarifvertrag gehalten, der Besatzung Löhne gem dem finnischen Lohnniveau zu zahlen. Wegen unmittelbarer Konkurrenz mit estnischen Schiffen, die auf derselben Linie mit geringeren Lohnkosten verkehren, wurde die Rosella mit Verlust betrieben. Daher plant V das Schiff auszuflaggen und in Estland registrieren zu lassen, um einen neuen Tarifvertrag mit einer
287 Vgl Art 106a I EAGV. 288 Vgl EuGH, Rs 37/83, Slg 1984, 1229, Rn 18 – REWE; C-51/93, Slg 1994, I-3879, Rn 11 – Meyhui; EuG, Urt v 7.9.2022, Rs T-713/20 – OQ/Kommission; Jarass, EuR 1995, 202 (211). Gegen eine Bindung der EU an die Grundfreiheiten Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art 34–36 AEUV Rn 112. Art 51 I GRCh spricht in Bezug auf die Charta-Rechte von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. 289 Zum Anwendungsvorrang des niederrangigen Rechts vgl Rn 13. Wenig überzeugend v Bogdandy, JZ 2001, 157, 166, der annimmt, dass lediglich offensichtliche Verstöße der Rechtssetzungsorgane der Union verboten sind. 290 Art 92 ff EAGV. 291 In diesem Sinne auch Lecheler ER, S 220.
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estnischen Gesellschaft abzuschließen. Hiergegen wandte sich die Finnish Seamen’s Union (FSU), eine finnische Gewerkschaft für Seeleute, und informierte die International Transport Workers‘ Federation (ITF), eine Dachorganisation mit Sitz in (dem damaligen Mitgliedstaat) Großbritannien, der sich 600 Gewerkschaften aus 140 Staaten angeschlossen haben. Die ITF übersandte ihren Mitgliedern ein Rundschreiben, in dem sie diese anwies, mit V keine Verhandlungen zu führen. Die ITF verfolgt im Kampf gegen „Billigflaggen“ die Politik, zu verhindern, dass ein Schiff unter der Flagge eines anderen Staates fährt als desjenigen, in dem das wirtschaftliche Eigentum am Schiff liegt. V möchte wissen, ob die gewerkschaftlichen Maßnahmen mit der Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) vereinbar sind.
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Fall 6: (EuGH, Urt v 12.7.2012, Rs C-171/11, EuZW 2012, 797 – Fra.bo = JK 3/13, AEUV Art 34/46) Der italienischen Gesellschaft Fra.bo SpA wurde von der deutschen Zertifizierungsstelle DVGW (einem privaten, von der Bundesrepublik unabhängigen Verein) das zuvor gewährte Zertifikat entzogen, wonach von Fra.bo hergestellte und von ihr vertriebene Kupferfittings mit dem deutschen Recht als konform angesehen wurden. Die Fra.bo möchte wissen, ob auf die Normierungs- und Zertifizierungstätigkeit der DVGW die Warenverkehrsfreiheit des Art 34 AEUV anwendbar ist.
Fall 7: (EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1) Der Kl des Ausgangsverfahrens A ist italienischer Staatsangehöriger deutscher Muttersprache. Er ist in der Provinz Bozen wohnhaft und hat sein Studium in Österreich absolviert. Er bewarb sich auf eine Ausschreibung hin bei einer privaten Bankgesellschaft in Bozen (Bekl). Für die Zulassung zum Auswahlverfahren forderte die Bankgesellschaft den Nachweis der Zweisprachigkeit in Form einer Bescheinigung der öffentlichen Verwaltung, die nur in Bozen ausgestellt wird und deren zugrundeliegende Prüfung aus Gründen der Terminierung und der begrenzten Plätze praktisch nur von in Bozen ansässigen Personen absolviert wird. Da A die Bescheinigung nicht beibrachte, wurde seine Bewerbung abgewiesen. Er trägt vor, dass er durch sein Studium hinreichend seine Sprachkenntnisse nachgewiesen habe, überdies könne er bereits Tätigkeiten in beiden Sprachen nachweisen. Nach Einreichung einer Klage bei einem italienischen Gericht setzte dieses das Verfahren aus und ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung der Frage, ob der in Art 45 AEUV niedergelegte Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer einer Beschränkung des Nachweises der Zweisprachigkeit auf ein bestimmtes Diplom entgegensteht.
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78 Der EuGH hat in mittlerweile ständiger Rspr die Bindung von Privatpersonen an die
Grundfreiheiten anerkannt. Hierbei geht es nicht um die unproblematische Feststellung, dass die Grundfreiheiten Schutz vor diskriminierenden oder freiheitsbeschränkenden privatrechtlichen Normen gewähren, weil diese den Staaten zuzurechnen und damit staatliche Maßnahmen sind.292 In der Sache handelt es sich hierbei vielmehr um eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, die di-
292 Ausführlich dazu Perner Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 2013, S 145 f.
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rekte Verpflichtungen aus dem Primärrecht gegenüber Privatpersonen begründet. Die Bindung der Privaten hat er im Hinblick auf die Personenverkehrsfreiheiten – also die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit – sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV anerkannt.293 Der Hintergrund dieser Rspr ist einmal mehr die effektive Durchsetzung der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes, den Private bei entsprechender Marktmacht oft in ähnlicher Weise beeinträchtigen können wie die mitgliedstaatlichen Eingriffsmaßnahmen. Auch soll verhindert werden, dass die den Mitgliedstaaten untersagten Beschränkungen der Grundfreiheiten durch Handlungen Privater in Ausnutzung ihrer Vertragsfreiheit umgangen werden. Angeknüpft wird also an den Grundsatz des effet utile, und zwar sowohl im Hinblick auf das Diskriminierungsals auch das Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten.294 Die Fälle betrafen ursprünglich Maßnahmen, in denen es um den Schutz Einzelner vor der Macht privater Verbände – intermediärer Gewalten – ging295, also um das Innenverhältnis der Verbandsunterworfenen zu ihrem Verband.296 ZB wurden Regelungen der internationalen Sportverbände,297 wonach Rennfahrer und Schrittmacher bei Radweltmeisterschaften dieselbe Nationalität besitzen müssen298 oder der Ausländeranteil europäischer Profifußballer begrenzt war299, als nicht vereinbar mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit angesehen. In der Rechtssache Viking (→ Rn 75 Fall 5) wurde vom EuGH klargestellt, dass sich die Bindung Privater auch auf das Außenverhältnis zu Dritten bezieht (Bindung einer Gewerkschaft eines Gewerkschaftsverbandes gegenüber dem Arbeitgeber), also generell und außerhalb bestehender Vertragsbeziehungen anzunehmen ist. Im Bereich der Warenverkehrsfreiheit hatte der EuGH anders als bei den Personenverkehrsfreiheiten eine unmittelbare Drittwirkung zunächst abgelehnt300, dies in seiner Fra.bo-Entscheidung (→ Rn 76 Fall 6) jedoch in differen-
293 Vgl EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405, Rn 16 ff – Walrave und Koch; Rs 13/76, Slg 1976, 1333, Rn 17 ff – Donà/Mantero; Rs 90/76, Slg 1977, 1091, Rn 4, 28 – Van Ameyde; Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 84 – Bosman; verb Rs C-51/96 u C-191/97, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège; Rs C-176/96, Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen. Für Art 18 iVm 21 AEUV EuGH, Urt v 13.6.2019, Rs C-22/18, Rn 38, EuGRZ 2019, 339 – TopFit u Biffi; dazu Rigaux, Europe 8/2019, 16 ff. 294 Vgl EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995 I-4921, Rn 45, 83, 96, 114 – Bosman. 295 Näher dazu Kronberg Voraussetzungen und Grenzen der Bindung von Sportverbänden an die Europäischen Grundfreiheiten, 2011, S 54 ff. 296 Vgl zur Unterscheidung von Innen- und Außenverhältnis auch Ludwigs/Weidermann, JURA 2014, 152 (154, 156). 297 Zur Standesorganisation vgl EuGH, Rs C-309/99, Slg 2002, I-1577 – Wouters. 298 EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405, Rn 16, 19, 20, 24 – Walrave u Koch. 299 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 – Bosman. 300 EuGH, Rs 311/85, Slg 1987, 3801, Rn 30 – Vlaamse Reisbureaus; Rs 65/86, Slg 1988, 5249, Rn 11 – Bayer/Süllhöfer; Rs C-159/00, Slg 2002, I-5031, Rn 74 – Sapod Audic. Vgl aber auch EuGH, Rs 58/80, Slg
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zierter Weise korrigiert. Danach soll Art 34 AEUV in unmittelbarer Direktwirkung auf die Normungs- und Zertifizierungstätigkeit einer privaten Einrichtung mit Monopolstellung Anwendung finden, wenn die Erzeugnisse, die von dieser Einrichtung zertifiziert wurden, nach den nationalen Rechtsvorschriften als mit dem nationalen Recht konform angesehen werden und dadurch ein Vertrieb von Erzeugnissen, die nicht von dieser Einrichtung zertifiziert wurden, erschwert wird.301 Ob die unmittelbare Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit hier tragend von dem Aspekt der staatlichen Verweisung abhing und nur bei solchen privaten Marktzugangsschranken anwendbar ist, die vom Staat gleichsam mit besonderer Wirksamkeit ausgestattet werden, ist umstritten.302 Zwar lässt sich der Grundsatz der Effektivität auch in anderen Konstellationen für eine unmittelbare Direktwirkung gegenüber Privaten ins Feld führen.303 Jedoch ist im Bereich der Warenverkehrsfreiheit zu beachten, dass mit der Schutzpflichtenrechtsprechung (Rn 53) hier noch eine alternative, funktional vergleichbare Option besteht, um privaten Einschränkungen der Grundfreiheiten zu begegnen. Sie bleibt auch neben der Fra.bo-Konstellation anwendbar.304 In der Tat liest sich die Rspr zur unmittelbaren Drittwirkung von Grundfreiheiten im Bereich der Warenverkehrsfreiheit differenzierter als bei anderen Grundfreiheiten: Nur diejenigen Fälle, in denen die Binnenmarktgefahr durch eine besondere staatlich vermittelte Wirksamkeit der privaten Maßnahme begründet wird, unterfallen der Direktwirkung.305 In allen anderen Fällen sind die Gefahren durch die Erfüllung staatlicher Schutzpflichten zu lösen, nicht durch eine direkte Bindung der Privaten an die Warenverkehrsfreiheit. Diese Differenzierung erscheint auch deshalb nicht fernliegend, weil eine vollumfängliche Übertragung des weiten Beschränkungsverbots der Grundfreiheiten in einer Direktwirkung gegenüber Privaten deren Handlungsmöglichkeiten unangemessen beeinträchtigen bzw einem steten Rechtfer-
1981, 181, Rn 17 – Dansk Supermarked (wonach Vereinbarungen zwischen Privaten in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen des Vertrages über den freien Warenverkehr abweichen dürfen; dies hatte hier indes nur indirekte Bedeutung, vermittelt über die Qualifizierung der Lauterkeit von Handelspraktiken; denn der Eingriff erfolgte direkt durch das Gesetz). 301 EuGH, Urt v 12.7.2012, Rs C-171/11, EuZW 2012, 797 – Fra.bo = JK 2013, AEUV Art 34/2 (→ Rn 76 Fall 6); dazu Crespo van de Kooij, LIEI 40 (2013), 363 ff; Defossez, RTDE 2013, 171 ff; Kloepfer/Greve, DVBl 2013, 1148 ff; Roth, EWS 2013, 16 ff; Schmahl/Jung, NVwZ 2013, 607 ff; Schweitzer, EuZW 2012, 765 ff; van Harten/Nauta, ELRev 38 (2013), 677 ff. 302 In diese Richtung Schweitzer, EuZW 2012, 765 (768); generell krit zu der Fra.bo-Entscheidung Schmahl/Jung, NVwZ 2013, 607 (610 ff). Näher Germelmann, GewArch 2014, 333 (337). 303 In diesem Sinne vgl Ludwigs/Weidermann, JURA 2014, 152 (160 f); Müller-Graff, EuR 2014, 3 ff. 304 Richtig Schmahl/Jung, NVwZ 2013, 607 (610). 305 Germelmann, GewArch 2014, 333 (337). Aus der Fra.bo-Entscheidung lässt sich richtigerweise nur eine Geltung der Grundfreiheiten für private Regelwerke ableiten, die an die Stelle staatlicher Normen treten.
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tigungsdruck aussetzen würde. Im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten sind die meisten Fälle (mit Ausnahme der umstrittenen Angonese-Entscheidung, → Rn 77 Fall 7) durch eine besondere Marktmacht und ein Binnenmarktschädigungspotenzial des von der Verpflichtung betroffenen Privaten geprägt gewesen. Eine Entwicklung von Kriterien zur Eingrenzung der unmittelbaren Direktwirkung hat der Gerichtshof bislang nicht geleistet. Allein das Effektivitätsprinzip erscheint insofern als Begründung nicht tragfähig. Nicht entschieden hat der EuGH bisher, ob auch eine unmittelbare Drittwirkung der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (Art 63 AEUV) in Betracht kommt. Dies wäre indessen unter Beachtung der genannten Kautelen konsequent und würde sich in die Rspr einfügen.306 In der Tat ist die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfrei- 79 heiten zwar aus Sicht des Binnenmarktziels und seines Schutzbedürfnisses verständlich und aus Effektivitätsgründen auch begründbar. Hinzu kommt, dass die EuGH-Rspr mittlerweile gefestigt und eine Rspr-Änderung nicht zu erwarten ist. Daher muss sich die Rechtspraxis auf eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten einstellen. Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass sie nicht unproblematisch ist307 und dies bei ihrer Anwendung berücksichtigt werden muss. Dies gilt sowohl für die dogmatische Begründung wie auch für die rechtlichen Folgerungen. Wenngleich die Zielsetzung des Binnenmarktes und der effet utile-Grundsatz für die Annahme der unmittelbaren Drittwirkung sprechen, lässt sie sich mit dem Wortlaut der Bestimmungen (für Art 34 AEUV: „zwischen den Mitgliedstaaten“) und ihrer Systematik nur schwer in Einklang bringen. Beide deuten darauf hin, dass die Grundfreiheiten sich nur an mitgliedstaatliches Handeln wenden. Die Bindung der Union folgt aus der Normenhierarchie. Der Befund, dass nur hoheitliches Handeln durch die Grundfreiheiten begrenzt werden soll, ergibt sich ebenfalls aus der Konzeption der Rechtfertigungsgründe, die der Vertrag für Beeinträchtigungen der
306 Vgl auch GA Maduro, Rs C-438/05, Slg 2007, I-10784, Rn 48 – Viking (→ Rn 75 Fall 5), und GA Trstenjak, Schlussanträge v. 28.3.2012, Rs C-171/11, Rn 44 – Fra.bo (→ Rn 76 Fall 6). 307 Krit zur Rspr des EuGH auch Kingreen in: v Bogdandy/Bast, Europ VfR, S 746 ff; Jaensch Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, S 81 ff; Kluth, AöR 122 (1997), 557 (568 ff); Streinz/ Leible, EuZW 2000, 459 (464 ff); Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, 213 (220); Remmert, JURA 2003, 13 ff; Pießkalla, NZA 2007, 1144 (1146); Schmahl/Jung, NVwZ 2013, 607 (610 ff); Stein Drittwirkung im Unionsrecht, 2016, S 19 ff, 131 ff; Streinz ER, Rn 882; diff Perner Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 2013, S 170 f. Für eine unmittelbare Drittwirkung Steindorff FS Lerche, 1993, S 575 (581 ff); Ganten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, S 56 ff; Wernicke Die Privatwirkung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S 201 ff; Parpart Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S 185 ff; Brigola Das System der EG-Grundfreiheiten, 2004, S 90. Vgl auch Förster Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2007, 52 ff, S 213 f u Preedy Die Bindung Privater an die Europäischen Grundfreiheiten, 2005, S 128 ff.
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Grundfreiheiten zur Verfügung stellt. Dies zeigt sich insbesondere bei Rechtfertigungsgründen wie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit. Auch die in der Rspr anerkannten zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls (Rn 127) sind auf ein staatliches Tätigwerden und die Verfolgung staatlicher Belange, die gerade dem Gemeinwohl dienen sollen, zugeschnitten. Private verfolgen mit ihren Handlungen hingegen idR andere Zwecke als die Träger hoheitlicher Gewalt und sind insbesondere nicht dem Allgemeinwohl verpflichtet. Private handeln in Ausübung ihrer grundrechtlichen Freiheiten, die Einschränkungen aus Gründen des Gemeinwohls nur ausnahmsweise und auch nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit dulden müssen. Auch verfolgen sie häufig dezidiert wirtschaftliche Interessen, wohingegen der Mitgliedstaat bei der Berufung auf Rechtfertigungsgründe nur solche nichtwirtschaftlicher Art in Anspruch nehmen kann (Rn 153). In der Vertragssystematik ist der Schutz des Wettbewerbs vor privaten Handlungen durch die Wettbewerbsvorschriften (Art 101 ff AEUV) vorgesehen, die nur qualifizierte Gefährdungshandlungen als tatbestandlich ansehen308; im Übrigen ist die Erstreckung von Verpflichtungen auf Private idR dem Sekundärrecht vorbehalten.309 80 Diese dogmatischen Probleme spiegeln sich in den nicht mit letzter Sicherheit geklärten Anwendungsfragen der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten. Zunächst stellt sich die Frage, ob sämtliche Private an die Grundfreiheiten gebunden sind. In den vom EuGH entschiedenen Rechtsachen ging es idR um Private, die eine dem Staat vergleichbare Machtposition mit einem ähnlichen Gefährdungspotential für den Binnenmarkt innehatten. Dies gilt in vergleichbarer Weise für Sportvereinigungen im Rahmen vertraglicher Bindungen wie auch für Gewerkschaften mit zumindest faktischer Durchsetzungsmacht. Daher ist es auf Widerspruch gestoßen, dass der Gerichtshof das Diskriminierungsverbot des Art 45 II AEUV in seiner Entscheidung Angonese (→ Rn 77 Fall 7) auch auf „normale“ private Arbeitgeber bezogen hat.310 Auch in späteren Entscheidungen hat er allgemein da
308 Dabei verbieten die Wettbewerbsvorschriften nicht sämtliche handelsbehindernden privaten Verhaltensweisen, vielmehr müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein (bspw Wettbewerbsverfälschung, unternehmerisches und nicht rein privates Handeln, marktbeherrschende Stellung; vgl Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 (464)). 309 Zur Direktwirkung nicht umgesetzter Richtlinien zB EuGH, Rs 148/78, Slg 1979, 1629 – Ratti; Rs 41/74, Slg 1974, S. 1337 – Van Duyn; Rs 80/86, Slg 1987, 3969 – Kolpinghuis Nijmegen; Rs C-91/92, Slg 1994, I-3325 – Faccini Dori; Rs 152/84, Slg 1986, 723 – Marshall = EuR 1986, 265 m Anm Nicolaysen S 370 ff; Urt v 7.8.2018, Rs C-122/17, RIW 2018, 674 – David Smith; dazu Simon, Europe 10/2018, 17 f; Urt v 6.11.2018, verb Rs C-569/16 u C-570/16 – Stadt Wuppertal/Bauer u Willmeroth/Broßonn; dazu Driguez, Europe 1/2019, 40 f. 310 Zur Kritik der Fra.bo-Entscheidung des EuGH vgl Fn 302; für eine umfassende Bindung der Privaten Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 45 Rn 57. Eine allgemeine unmittelbare Dritt
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von gesprochen, dass das Diskriminierungsverbot nicht nur für die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regelnder Tarifverträge, sondern auch für „alle Verträge zwischen Privatpersonen“ gilt.311 Dies leitet der EuGH auch daraus ab, dass Art 45 II AEUV eine spezifische Ausprägung des Art 18 AEUV darstellt. In der Tat lässt sich auch in der Rspr des EuGH zur Direktwirkung der EU-Grundrechte eine Tendenz erkennen, jedenfalls die im Primärrecht verankerten Diskriminierungsverbote in ihrer Bindungswirkung auch auf Privatpersonen zu erstrecken. Allerdings wirft diese Begründung eine weitere Schwierigkeit im Bereich der Grundfreiheiten auf. Denn entnimmt man der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein sich an alle Private richtendes Diskriminierungsverbot, liegt es nahe, für das Beschränkungsverbot Entsprechendes anzunehmen.312 Ansonsten müsste man den Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheit je nachdem unterschiedlich fassen, ob ein Eingriff durch den Staat oder durch einen Privaten vorliegt. Dies ist zwar nicht undenkbar, aber in der Rspr bisher nicht erkennbar. Die Differenzierung wäre auch im Abgrenzungsbereich zwischen faktischer Diskriminierung und Marktzutrittsbeschränkung nicht einfach zu leisten. Allerdings scheint der Gerichtshof im Bereich der Direktwirkung der Grundrechte einen Schwerpunkt auf die Gleichbehandlungsansprüche zu legen.313 Ein weiteres Problem besteht darin, dass aus der bisherigen Rspr nicht eindeutig erkennbar ist, ob das weite Verständnis der Bindung auch „normaler“ Privatpersonen nur für die Arbeitnehmerfreizügigkeit anzunehmen ist oder ob für die sonstigen Grundfreiheiten Entsprechendes anzunehmen ist. Man könnte annehmen, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit typischerweise ein Machtgefälle (zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer) betrifft, das für die sonstigen Grundfreiheiten nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann.314 Allerdings bestehen in der Rspr keine Anhaltspunkte für eine derartige Differenzierung, zumal binnenmarktbeeinträchtigende Machtpositionen auch im Bereich der anderen Personenverkehrsfreiheiten vorstellbar sind. Insbesondere ist eine Vergleichbarkeit mit der Machtposition intermediärer Akteure wie von Verbänden bei normalen Arbeitgebern in der Pauschalität nicht anzunehmen. Die Inbezugnahme des Machtgefälles eignet sich daher eher als Erklärungsansatz und Abwägungskriterium neben anderen im Einzelfall, weniger
wirkung des Art 18 AEUV befürwortend v Bogdandy in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 25 ff; aA Holoubek in: Schwarze, EU-Komm, Art 18 AEUV Rn 44 f. 311 EuGH, Rs C-94/07, Slg 2008, I-5939, Rn 45, 48 – Raccanelli; Urt v 25.6.2012, Rs C-172/11, NZA 2012, 863, Rn 36, 51 – Erny. Freilich handelte es sich in beiden Fällen nicht um „durchschnittliche“, sondern um größere und in ihrem Feld marktmächtige Arbeitgeber. 312 Schmahl/Jung, NVwZ 2013, 607 (610); Ludwigs/Weidermann, JURA 2014, 152 (161); aA Preedy Die Bindung Privater an die Europäischen Grundfreiheiten, 2005, S 55, 60 f. 313 S dazu noch → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 97. 314 Ludwigs/Weidermann JURA 2014, 152 (157 f).
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aber für eine zwingende Begründung einer allgemeinen Ausweitung der Direktwirkung, die eher die potenzielle Binnenmarktschädlichkeit in den Blick nehmen müsste. 81 Schließlich besteht ein grundlegendes Problem der Rspr zur unmittelbaren Direktwirkung der Grundfreiheiten in der Anwendung der Rechtfertigungsgründe. Denn die Grundfreiheiten gelten natürlich auch gegenüber Privaten nicht uneingeschränkt. Allerdings sind sowohl die ausdrücklichen (Rn 143 ff) als auch die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe (Rn 152 ff) auf die Rechtfertigung staatlichen Handelns zugeschnitten. Gleichwohl gibt es für den Fall der direkten Bindung Privater an die Grundfreiheiten keine alternativen Rechtfertigungsgründe. Im Gegenteil nimmt der EuGH auch hier an, dass die üblichen, am Allgemeinwohl ausgerichteten Rechtfertigungsgründe auch von den betreffenden Privaten geltend gemacht werden können.315 Dies ist dann denkbar, wenn sich Eigeninteresse mit Allgemeininteresse überschneiden. Allerdings wird dies nicht immer der Fall sein. Daher müssen die Rechtfertigungsgründe im Falle der unmittelbaren Bindung Privater an die Grundfreiheiten modifiziert werden (näher dazu Rn 157). An die Gemeinnützigkeit der Erwägungen dürfen nicht dieselben Anforderungen wie im Falle staatlichen Handelns gestellt werden. Auch dürfen wirtschaftliche Erwägungen, die privatautonomem Handeln typischerweise eigen sein können, die Rechtfertigung nicht ausschließen. Schließlich müssen auch (vollständig oder überwiegend) privatnützige Gründe als Rechtfertigung grundsätzlich anerkannt werden; denn sofern es sich hierbei um eine durch die Unionsgrundrechte geschützte Tätigkeit handelt, verlangen diese einen verhältnismäßigen Ausgleich mit den Anforderungen der betroffenen Grundfreiheit. Das Binnenmarktziel beansprucht hier ebenso wenig wie im Falle der staatlichen Schutzpflichten (Rn 52) einen absoluten Vorrang. 82 Verletzen Private die sie unmittelbar bindenden Grundfreiheiten, können sich daraus sowohl Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche (§ 1004 BGB, auch in analoger Anwendung) als auch Schadensersatzansprüche (insbes aus § 823 II BGB iVm den Grundfreiheiten als Schutzgesetze) ergeben.316 Eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten ändert zudem im Grundsatz nichts an den Verpflichtungen des Staates. Dies gilt in jedem Falle für die abwehrrechtliche Dimension der Grundfreiheiten, so dass der Staat hinsichtlich ihm zurechenbarer etwaiger Unterstützungshandlungen am Maßstab der Grundfreiheiten zu messen ist. Auch die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bleibt unverändert. Nicht eindeutig in der Rspr geklärt ist das Verhältnis zwischen unmittelbarer Drittwir
315 Vgl besonders deutlich EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 86 f – Bosman. Ferner zB EuGH, Rs C-350/96, Slg 1998, I-2521, Rn 24 – Clean Car Autoservice. 316 Ludwigs/Weidermann, JURA 2014, 152 (153). AA Schweitzer, EuZW 2012, 765 (768; in Bezug auf § 823 II BGB). Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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kung der Grundwirkung der Grundfreiheiten und positiven staatlichen Schutzpflichten, die ihrerseits subjektive Ansprüche begründen. Im Bereich der Warenverkehrsfreiheit wendet der Gerichtshof sie parallel an, wobei sich indes die Anwendungsbereiche im Detail unterscheiden (Rn 19). Bei den anderen Grundfreiheiten ist dies nicht so deutlich erkennbar. In der Sache erscheint aber auch hier eine Übertragung der Parallelität der Schutzpflichten für die Realisierung der Grundfreiheiten zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten gegenüber Privaten möglich. Denkbar erschiene es auch hier, eine Abgrenzungslinie entlang der Marktmächtigkeit und dem Gefährdungspotenzial des privaten Handelns vorzunehmen und in Modifikation der Rspr die Handlungen „normaler“ Privatpersonen nur den staatlichen Schutzpflichten zu unterwerfen.
Lösung Fall 5: 1. Anwendungsbereich des Art 49 AEUV: Art 49 AEUV verbietet Beschränkungen der freien Niederlassungen von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt hier vor; denn V plant eine Ausflaggung, neue Registrierung und damit die stabilisierte Verlegung eines Teils des Schifffahrtsbetriebs auf unbestimmte Dauer von Finnland nach Estland. Dies betrifft die Niederlassungsfreiheit. Art 54 iVm 49 AEUV garantiert das Recht auf Niederlassung auch den Gesellschaften iSd Vorschrift. 2. Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts: Es stellt sich sodann zunächst die Frage, ob die Vorschrift geeignet ist, einem Privatunternehmen Rechte zu verleihen, auf die es sich gegenüber einer Gewerkschaft oder einem Gewerkschaftsbund berufen kann. Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sind zunächst die Mitgliedstaaten. Nach stRspr des EuGH gelten die Art 45, 49 und 56 AEUV aber nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstrecken sich auch auf Regelwerke anderer Art, welche die abhängige Erwerbswirtschaft, die selbstständige Arbeit und die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen (vgl vor allem EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405 Rn 17 – Walrave und Koch). So erinnert der EuGH auch hier daran, dass die Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Selbstständigen sowie der freie Dienstleistungsverkehr gefährdet wären, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse neutralisiert werden könnte, die nicht dem öffentlichen Recht unterliegende Vereinigungen und Einrichtungen im Rahmen ihrer rechtlichen Autonomie setzen. Gerade bei Arbeitsbedingungen, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten teilweise durch Gesetze oder Verordnungen, teilweise durch Tarifverträge Privater geregelt sind, bestünde die Gefahr, dass eine Beschränkung der in den Grundfreiheiten vorgesehenen Verbote auf Maßnahmen der öffentlichen Gewalt bei ihrer Anwendung zur Ungleichheit führen würde. Unerheblich sei, dass es sich bei einer Gewerkschaft oder einem Gewerkschaftsverband nicht um eine quasi-öffentliche Einrichtung handele. Ferner komme es nicht darauf an, ob die Vereinigung oder Einrichtung eine Regelungsfunktion wahrnehme respektive über quasi-legislative Befugnisse verfüge. Aus alledem folgert der EuGH, dass kollektive Maßnahmen von Gewerkschaften oder Gewerkschaftsverbänden grds auch in den Gewährleistungsgehalt der Niederlassung eingreifen können, die genannten Personen also Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheit sind. In seinem Gewährleistungsgehalt deckt Art 49 AEUV nicht nur ein Diskriminierungs-, sondern auch ein Beschränkungsverbot ab. Eine Beschränkung liegt bereits vor, wenn eine Maßnahme es weniger attraktiv macht, von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. Im Bereich der Nieder-
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lassungsfreiheit (wie auch der Arbeitnehmerfreizügigkeit) bezieht sich dies auf Marktzutrittshindernisse. So wären nach Ansicht des EuGH die in Art 49, 54 AEUV gewährten Rechte „sinnentleert, wenn der Herkunftsstaat Unternehmen verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen“ (Rn 69 des Urt). Ebenso zu bewerten sind wegen der Bindung der Gewerkschaften an die Grundfreiheit Kollektivmaßnahmen der FSU und der ITF mit dem Zweck, die Reeder an einer Ausflaggung zu hindern. Dies soll hier durch die Boykottierung des Abschlusses von Tarifverträgen erreicht werden. Die Unternehmen könnten dann ihre Schiffe nicht mehr in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen registrieren lassen, dessen Staatsangehörigkeit die wirtschaftlichen Eigentümer dieser Schiffe besitzen. Damit sind die gewerkschaftlichen Maßnahmen zumindest geeignet, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Sinne eines Marktzutritts zu beschränken. 3. Rechtfertigung: Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist nur zulässig, wenn sich FSU und ITF auf einen Rechtfertigungsgrund berufen können. Dies wirft die Frage nach der Übertragbarkeit der Rechtfertigungsgründe des Vertrages auf Private auf. Ein geschriebener Rechtfertigungsgrund nach Art 52 AEUV ist hier indes nicht erkennbar. In Betracht kommen zwingende Gründe des Allgemeininteresses (Rn 152 ff), die flexibler ausgelegt werden können. Überdies müssen die Maßnahmen verhältnismäßig sein (Rn 159 ff) ist. Hier kommt zum einen der Arbeitnehmerschutz in Betracht, der grds ein berechtigtes Allgemeininteresse darstellt. Denkbar ist zudem eine Berufung der Gewerkschaften auf ihr Grundrecht aus Art 12 GRCh (Vereinigungsfreiheit) und Art 28 GRCh (Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen).317 Auch der Schutz von Grundrechten ist ein tauglicher Rechtfertigungsgrund. Entscheidend ist hier die Verhältnismäßigkeitsabwägung. Wie der EuGH ausführt, ist es Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob die kollektiven Maßnahmen wirklich geeignet sind, die Erreichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Nicht rechtfertigen lasse es sich, wenn Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände Reeder generell daran hindern, ihre Schiffe in einem anderen Staat als dem registrieren zu lassen, dessen Staatsangehörigkeit die wirtschaftlichen Eigentümer dieser Schiffe besitzen. ZB dürfe eine Umregistrierung nicht bekämpft werden, wenn sie keine schädlichen Auswirkungen auf die Arbeitsplätze hat. Auch sei zu prüfen, ob im Rahmen der tariflichen Auseinandersetzung mildere Mittel zu finden seien, die das Schutzziel erreichen, aber die Niederlassungsfreiheit weniger belasten.
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Lösung Fall 6: 1. Anwendungsbereich des Art 34 AEUV: Eine abschließende Harmonisierung der Anforderungen an die Verkehrsfähigkeit der hier in Rede stehenden Produkte besteht nicht. Nach Art 6 II RL 89/106 dürfen die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen von Bauprodukten, die weder Gegenstand einer harmonisierten Norm noch einer europäischen technischen Zulassung sind, in ihrem Gebiet gestatten, wenn diese Produkte nationalen Vorschriften, die im Einklang mit dem EU-Recht stehen, entsprechen. Hier unterliegt das betreffende EU-ausländische Produkt nur nationalen Anforderungen im Zielstaat. Damit kann auf die Zertifizierung die Warenverkehrsfreiheit anwendbar sein, da ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben ist.
317 Vgl zur Koalitionsfreiheit zB Zwanziger, DB 2008, 294 (296). Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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2. Verpflichtungsadressat der Warenverkehrsfreiheit: Allerdings ist fraglich ist, ob die Warenverkehrsfreiheit auch private Rechtsträger bindet. Denn hier führt nicht der Staat das Zertifizierungsverfahren selbst durch; auch hat er den DVGW hiermit nicht betraut, so dass ihr Handeln ihm zurechenbar wäre. Der EuGH bejaht im vorliegenden Fall die Bindung der privaten Einrichtung DVGW an die Warenverkehrsfreiheit, da ihr Handeln hier in vergleichbarer Weise wie staatliche Maßnahmen Behinderungen des freien Warenverkehrs zur Folge haben. Zum einen weist der EuGH darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber im nationalen Recht (hier § 12 IV AVBWasserV aF318) Vermutungen aufgestellt hat, dass die vom DVGW zertifizierten Erzeugnisse dem nationalen Recht entsprechen. Zum anderen verfüge der DVGW in der Praxis gleichsam um ein Monopol, da er als einzige Einrichtung die in Rede stehenden Kupferfittings zertifizieren könne. Denn Alternativverfahren wie die Prüfung durch Sachverständige im konkreten Fall seien aus administrativen und finanziellen Gründen unpraktikabel. In der Praxis würde auch stets auf die betreffenden Kupferfittings zurückgegriffen, so dass die Stellung des DVGW zentral sei und er de facto die Befugnis habe, den Zugang von Erzeugnissen für die in Rede stehenden Kupferfittings zum deutschen Markt zu regeln. Damit begründe in der Praxis das Fehlen einer Zertifizierung durch den DVGW für den Vertrieb der betreffenden Erzeugnisse auf dem deutschen Markt eine erhebliche Erschwerung. Dementsprechend sei Art 34 AEUV auf die Normungs- und Zertifizierungstätigkeit des DVGW in unmittelbarer Drittwirkung anzuwenden. Er ist insofern – und wohl auch nur in dieser Sonderkonstellation – also dem Mitgliedstaat gleich zu behandeln. Würde die Fallfrage eine weitere Prüfung verlangen, bemäße sie sich in der Sache nach dem üblichen Muster der Dassonville-Formel, die jede Maßnahme, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung betrachtet. Für mitgliedstaatliche Maßnahmen hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit vorliegt, wenn der Mitgliedstaat ohne triftige Rechtfertigung die Wirtschaftsteilnehmer, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und/oder vertriebene Bauprodukte in seinem Hoheitsgebiet vertreiben möchten, dazu veranlasst, nationale Konformitätszeichen zu erwerben, oder die von anderen Mitgliedstaaten ausgestellten Zulassungsbescheinigungen nicht berücksichtigt (EuGH, Rs C-432/03, Slg 2005, I-9665 – Kommission/Portugal). Auch hier lässt sich der Verbraucherschutz als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund für die Zertifizierungstätigkeit des DVGW anführen; sein Verfahren und seine Ergebnisse müssen aber den Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügen.
Lösung Fall 7: 1. Zulässigkeit der Vorlage: Die Vorlage bezieht sich auf die Auslegung des Art 45 AEUV und damit auf die Auslegung des Vertrages iSv Art 267 I lit a AEUV. Bedenken gegen die Zulässigkeit der Vorlage könnten sich deshalb ergeben, weil es an ihrer Entscheidungserheblichkeit fehlt, wenn es auf die Entscheidung des EuGH nicht ankommt. Die Grundfreiheiten setzen im Grundsatz einen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraus, beziehen sich also nicht auf reine Inlandsfälle, es sei denn es liegt einer der anerkannten engen Ausnahmefälle (Rn 39 f) vor. A, der von Geburt an Bewohner der Provinz Bozen war, bewirbt sich bei einer italienischen Bank. Der einzige Auslandsbezug besteht in seinem Studium in Österreich. Hierdurch könnte er unter die Fallgruppe der Rückkehrer fallen, wenn er
318 Geändert durch Art 8 VO zur Neuregelung des gesetzlichen Messwesens und zur Anpassung an europäische Rechtsprechung v 11.12.2014, BGBl I S 2010. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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im Ausland eine Rechtsposition erworben hat, die ihm im Inland nicht genommen werden darf. Allerdings hat er nie in einem anderen Staat eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt, was ein klassischer Anknüpfungspunkt für einen Rückkehrerfall wäre. Auch ist es sehr zweifelhaft, ob er durch das Studium in Österreich eine Rechtsposition bezogen auf die spätere Berufstätigkeit erworben hat, da hier kein spezifischer Zusammenhang wie etwa im Bereich der Qualifikationsanerkennung besteht. Allerdings besteht insofern ein Bezug zum Rechtsstreit, als er gerade seine im Auslandsstudium erworbenen Kenntnisse als Nachweis für eine hinreichende Sprachkompetenz im Deutschen nutzen möchte. Damit ist ein grenzüberschreitender Bezug anzunehmen. In prozessualer Hinsicht kommt hinzu, dass der EuGH die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage nur in klar liegenden Ausnahmefällen verneint. Nach stRspr wird das Ersuchen eines nationalen Gerichts nur zurückgewiesen, wenn „offensichtlich“ kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Unionsrechts und dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens besteht.319 Eine solche Offensichtlichkeit verneint der EuGH hier. Im Übrigen gesteht er dem nationalen Gericht einen Ermessensspielraum dahingehend zu, ob es für die Lösung seines Falles einer Auslegungsentscheidung des EuGH bedarf. 2. Entscheidung zur Sache: Vereinbarkeit des Sprachnachweises mit Art 45 AEUV: Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt vor (s o). Die Frage der Vereinbarkeit stellt sich nur, wenn Art 45 AEUV auch Privatpersonen bindet. Obwohl es hier nicht um intermediäre Gewalten (gesellschaftliche Institutionen mit besonderen Machtbefugnissen) geht, kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass das in Art 45 AEUV ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auch für Privatpersonen im Sinne „normaler“ Arbeitgeber gilt. Das Gericht stützt sich hierbei auf drei Argumente: Seinem Wortlaut nach schließe Art 45 AEUV eine unmittelbare Anwendung auf Privatpersonen nicht aus (1), die Arbeitnehmerfreizügigkeit könne nicht nur durch staatliche, sondern auch durch private Maßnahmen behindert werden (2), und schließlich gebiete es die einheitliche Anwendung des Unionsrechts, Art 45 AEUV nicht anders als Art 18 und 157 AEUV auszulegen, die ebenfalls jegliche Diskriminierung auch durch Privatpersonen verhindern sollten (3). Man könnte in neuerer Zeit auch den Vergleich zur Rspr zu den grundrechtlichen Diskriminierungsverboten allgemein (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 52) ziehen. Folgt man dieser (keineswegs zwingenden) Argumentation, ist auch die verklagte private Bankgesellschaft an Art 45 AEUV gebunden. Die von der Bekl aufgestellte Verpflichtung, wonach der Zugang zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Personal vom Besitz einer einzigen Sprachenbescheinigung der Verwaltung in Bozen abhängig ist, stellt auch eine (faktische) Diskriminierung dar, da es für Personen, die nicht in der Provinz Bozen wohnen schwierig oder praktisch unmöglich ist, die Bescheinigung zu erwerben. Die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten werden damit im Verhältnis zu den Einwohnern der Provinz Bozen benachteiligt. Dabei ist unerheblich, dass auch andere italienische Staatsangehörige aus anderen Regionen des Landes den gleichen Schwierigkeiten begegnen wie die EU-Ausländer. Ob der A hier selbst unter die Gruppe der Benachteiligten fällt oder als Einwohner der Provinz Bozen die Chance gehabt hätte, das Zertifikat zu erwerben, ist für den EuGH für die Annahme der faktischen Diskriminierung ebenfalls gleichgültig. Die Diskriminierung lässt sich nach Ansicht des EuGH auch nicht durch „sachliche Erwägungen“ rechtfertigen. Zwar sei es legitim, von einem Bewerber um eine Stelle Sprachkenntnisse eines bestimmten Niveaus zu verlangen. Es müsse aber als unverhältnismäßig angesehen werden, wenn es unmöglich sei, die Nachweise auf andere Weise zu erbringen als durch ein bestimmtes, in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaates ausgestelltes Diplom. Daher hat der EuGH einen Verstoß gegen Art 45 AEUV angenommen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Privatautonomie der Bekl und
319 So zB EuGH, Rs C-230/96, Slg 1998, I-2055, Rn 21 – Cabour. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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ihren grundrechtlichen Positionen aus Art 15, 16 GRCh nimmt er nicht vor. Allerdings würde auch bei einer näheren Abwägung in Anbetracht der Möglichkeit, die für das Personal erforderlichen Sprachkenntnisse auf andere, keineswegs unzuverlässigere Weise sicherzustellen, das Interesse der Bekl an der Wahl eines konkreten Nachweisverfahrens in seiner Schutzbedürftigkeit zurücktreten.
V. Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten Der räumliche Geltungsbereich der Grundfreiheiten stellt in der Praxis selten ein 86 Problem dar. Er entspricht dem räumlichen Anwendungsbereich des AEUV, der sich aus Art 52 EUV und Art 355 AEUV ergibt. Dies ist in erster Linie das Staatsgebiet der Mitgliedstaaten, dh jener Teil der Erdoberfläche, des darunter befindlichen Bodens, des Luftraums sowie der Gewässer, über die der Staat nach völkerrechtlichen Grundsätzen320 die Gebietshoheit ausübt. Verändert sich das Hoheitsgebiet eines Staates (wie zB nach der deutschen Wiedervereinigung), wird entsprechend dem Prinzip der beweglichen Vertragsgrenzen (vorbehaltlich vertraglicher Sonderregelungen) der Geltungsbereich des Vertrages einschließlich der Grundfreiheiten ausgedehnt. Auch bestimmte überseeische und sonstige Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten unterfallen den Verträgen (Art 355 I, III, IV AEUV), während die europäischen Zwergstaaten (zB Andorra, Monaco, San Marino, Vatikanstadt), die selbst keine Mitgliedstaaten der Union sind, nur teilweise in den Geltungsbereich der Verträge einbezogen sind.321 Auch in Art 355 II und V AEUV finden sich Ausnahmen von der Geltung des Unionsrecht hinsichtlich bestimmter Gebiete der Mitgliedstaaten, wobei durch den Austritt des Vereinigten Königreichs der Großteil dieser Regelungen obsolet geworden ist.322 Für die räumliche Anwendbarkeit der Grundfreiheiten ist erforderlich, dass die betreffenden Rechtsbeziehungen aufgrund des Ortes, an dem sie entstanden sind oder an dem sie ihre Wirkung entfalten, einen räumlichen Bezug zum Gebiet der EU aufweisen.323 Dabei können die Grundfreiheiten über die Außengrenzen der EU hinaus wirken, wenn ein enger Bezug zum Recht eines Mitgliedstaates und damit zu den einschlägigen Regeln des Unionsrechts besteht. So hat der
320 Vgl Proelß in: Graf Vitzthum/ders, VR, V Rn 14 ff; Epping in: Ipsen, VR, § 7 Rn 5. 321 Nach der Erklärung Nr 3 zu Art 8 EUV trägt die EU der besonderen Lage der Länder mit geringer territorialer Ausdehnung Rechnung, die spezifische Nachbarschaftsbeziehungen zur Union erhalten. Teilweise gehören die Länder zum Zollgebiet der Union. 322 Vgl Schmalenbach in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 355 AEUV Rn 8 f. S aber Art 355 V lit a AEUV hinsichtlich der zu Dänemark gehörenden Färöer. 323 Vgl im Hinblick auf einen auch außerhalb der EU tätigen Radsportverband EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405, Rn 28 f – Walrave u Koch.
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EuGH etwa entschieden, dass sich eine belgische Staatsangehörige, die in der deutschen Botschaft in Algier beschäftigt ist, auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann.324 Auch die völkerrechtlich zulässige Ausübung wirtschaftlicher Nutzungsrechte der Mitgliedstaaten außerhalb ihres Hoheitsgebiets, etwa im Bereich der seerechtlichen Ausschließlichen Wirtschaftszone und des Festlandssockels ist abseits spezifischer sekundärrechtlicher Bestimmungen etwa der EU-Fischereipolitik (Art 38 ff AEUV) der Bindung an die Grundfreiheiten des Vertrages unterworfen.325
VI. Zeitlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten 87 Der Vertrag zur Gründung der EWG ist am 1.1.1958 in Kraft getreten. Mit Ablauf der
Übergangsfristen haben die Grundfreiheiten unmittelbare Wirkung erlangt (Rn 10). Damit bestimmt sich die Auslegung der Grundfreiheiten grds nach dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens und der unmittelbaren Anwendbarkeit.326 In seltenen Ausnahmefällen (wenn eine objektiv existierende, bedeutende Unsicherheit über die Tragweite der Unionsbestimmung bestand und die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen gegeben ist327) kann sich aus dem unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit die Notwendigkeit ergeben, die Rechtswirkungen einer die Grundfreiheiten konkretisierenden Entscheidungen des EuGH nach Maßgabe des Art 264 II oder 267 AEUV auf die Zukunft zu beschränken; diese Zuständigkeit obliegt allerdings allein dem EuGH und nicht den nationalen Gerichten.328 Für neu der EG bzw der EU beigetretene Staaten richtet sich der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Grundfreiheiten nach der Beitrittsakte (Rn 10);329 eine Vorwirkung der Grundfreiheiten oder einzelner Bestandteile von ihnen kann natürlich auch im Rahmen einer Beitrittsassoziation vereinbart werden, wobei aber typischerweise differenzierte Lö-
324 EuGH, Rs C-214/94, Slg 1996, I-2253, Rn 15 ff – Boukhalfa. 325 Vgl Streinz ER, Rn 115 f. 326 Vgl EuGH, verb Rs C-367/93 u C-377/93, Slg 1995, I-2229, Rn 42 – Roders; Rs Slg 1998, I-5325, Slg 1998, I-5325, Rn 46 – Kommission/Frankreich. 327 EuGH, Rs 61/79, Slg 1980, 1205, Rn 17 – Denkavit italiana, verb Rs C-367/93 u C-377/93, Slg 1995, I2229, Rn 43 – Roders; Rs C-184/99, Slg 2001, I-6193, Rn 53 – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1. 328 Näher dazu EuGH, C-104/98, Slg 2000, I-3625, Rn 34 – Buchner; EuGH, Urt v 28.7.2016 – Rs C-379/ 15, Rn 36 ff – Association France Nature Environnement; dazu Germelmann/Gundel, BayVBl 2017, 649 (657); ferner Ehlers in: ders/Schoch, RS, § 9 Rn 86 mwN. Zum Geltungsanspruch des Unionsrechts in zeitlicher Hinsicht sowie zur (vom EuGH bisher stets abgelehnten) übergangsweisen Hinnahme unionsrechtswidriger Zustände vgl Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585 (587 ff). 329 Vgl für den kroatischen Beitritt EuGH, Urt v 14.2.2019, Rs C-630/17, EWS 2019, 40, Rn 66 – Milivojević; dazu Péraldi-Leneuf, Europe 4/2019, 22 f.
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sungen vorherrschen.330 Gem Art 53 EUV gelten die Verträge auf unbegrenzte Zeit. Eine Austrittsmöglichkeit, die rechtlich als eine mit besonderen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen verknüpfte Kündigung zu verstehen ist,331 sieht das Unionsrecht in Art 50 EUV vor. Mit Wirksamwerden des Austritts nach Art 55 III EUV verliert das Unionsrecht und damit auch die Grundfreiheiten in und gegenüber dem austretenden Mitgliedstaat die Geltung.332 Übergangsfristen können im Austrittsübereinkommen nach Art 55 II 2 EUV vereinbart werden.333 Die Möglichkeit eines Ausschlusses von Mitgliedstaaten war hingegen lange umstritten, da hierfür eine ausdrückliche vertragliche Grundlage fehlt und somit allenfalls in Extremsituationen ein Rückgriff auf das allgemeine Völkervertragsrecht der WVK bzw des entsprechenden Gewohnheitsrechts denkbar erschien.334 Heute wird dies in Anbetracht der Spezialregelung des Art 7 EUV sowie der Freizügigkeitsrechte aufgrund der Unionsbürgerschaft, die der Gerichtshof als zentrale Rechtsposition der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ansieht, nicht mehr möglich sein.335 Allenfalls kann eine einstweilige Suspendierung von mitgliedstaatlichen Rechten bei schwerwiegender Verletzung von Fundamentalprinzipien nach Maßgabe der Art 7 II, III EUV und Art 354 AEUV zulässig sein. Diese Rechtsfolge ist jedoch an faktisch kaum überwindbare politische Hürden geknüpft.336 Im Hinblick auf die Grundfreiheiten kommt diese Rechtsfolge ohnedies nur in Betracht, insofern die Rechte aus den Grundfreiheiten für den das Unionsrecht verletzenden Mitgliedstaat günstig sind, während seine Verpflichtungen aus ihnen nach Art 7 III UAbs 2 EUV fortbestehen. Es wird überdies zu berücksichtigen sein, dass die Grundfreiheiten in erster Linie den Bürgern des zu
330 Vgl Titel IV und V des (ehemaligen) Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Kroatien andererseits v 28.1.2005, ABl 2005 Nr L 26/3; ferner EuGH, Rs C-268/99, Slg 2001, I-8615 – Jany ua; s auch Schmalenbach in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 217 AEUV Rn 8 mit Blick auf das Beitrittsassoziationsabkommen mit der Türkei. 331 Vgl Art 56 WVK; s auch Streinz ER, Rn 107 ff mwN zum Streit über die Austrittsmöglichkeit vor Einfügung des Art 50 EUV. 332 Für die Personenverkehrsfreiheiten Lübke in: Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel, Brexit, 2. Aufl 2020, § 11 Rn 24 ff; für den Warenhandel Georg/Klindt ebd, § 12 Rn 13 ff; s auch Bronger/Scherer/Söhnchen, EWS 2016, 131 ff. 333 Vgl für den Beispielsfall des Austritts des Vereinigten Königreichs Lübke in: Kramme/Baldus/ Schmidt-Kessel, Brexit, 2. Aufl 2020, § 11 Rn 43; für den Warenhandel Georg/Klindt ebd, § 12 Rn 18. 334 Vgl zum Problem Calliess in: ders/Ruffert, EUV/AEUV, Art 50 EUV Rn 52 f; näher Hanschel, NVwZ 2012, 995 (999 f), jeweils mwN. 335 So jedenfalls (im Zusammenhang mit der Frage der Rücknahmemöglichkeit der Austrittsnotifikation nach Art 50 EUV) EuGH (Plenum), Urt v 10.12.2018, Rs C-621/18, Rn 64 f – Wightman ua = EuZW 2019, 31 m Anm Kainer = NVwZ 2019, 143 m Bespr Kämmerer S 129 ff. = EuR 2019, 263 m Anm Thiele; dazu auch Simon, Europe 2/2019, 12 ff. 336 Vgl aus jüngerer Zeit Germelmann, DÖV 2021, 193 (195) mwN.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
sanktionierenden Staates zugutekommen, was in Anbetracht des Basisprinzips der Nichtdiskriminierung (Art 2 EUV) sowie den in Art 3 III EUV verankerten Unionszielen eine Einschränkung der Grundfreiheiten sicherlich kaum je wahrscheinlich macht.
VII. Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten 88 Für die Überprüfung der Vereinbarkeit von Maßnahmen mit den Grundfreiheiten
des Unionsrechts hat sich bisher kein festes Schema eingebürgert; die Rspr des EuGH ist nicht zuletzt wegen ihres Prozessrechts, welches im Bereich des Art 267 AEUV an konkreten Vorlagefragen, im Falle des Art 257 AEUV an konkreten Vertragsverletzungsvorwürfen und im Falle des Art 263 AEUV an konkreten Klagegründen orientiert ist, hier nicht immer eindeutig.337 Doch lässt sich eine zweckmäßige Prüfungsabfolge identifizieren, die ähnlich wie bei der Prüfung von Grundrechtsverletzungen (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 79; § 2.2 Rn 112 ff) unterschiedliche Stufen beinhaltet. Wenngleich eine unveränderte Übertragung nicht sachgerecht erscheint, kann man auch bei den Grundfreiheiten die Ebenen des (sachlichen und persönlichen) Anwendungsbereichs, des Gewährleistungsgehalts (ähnlich dem grundrechtlichen Schutzbereich; Rn 89 ff), der (idR durch staatliche Maßnahme erfolgende) Beeinträchtigung (Rn 112ff) und der Rechtfertigung (durch geschriebene und ungeschriebene Gründe; Rn 139 ff) unterscheiden. Wichtiger als der schematische Ablauf der Prüfung ist stets die logisch richtige Anordnung der Probleme des Falles, so dass auch Abweichungen von dem hier vorgeschlagenen Vorgehen möglich sind.
1. Anwendungsbereich der Grundfreiheiten Fall 8: (EuGH, Rs C-137/09, Slg 2010, I-13019 ff – Josemans = JK 2011, AEUV Art 56/1). Die Niederlande verfolgen eine Politik der Toleranz gegenüber dem Verkauf und Konsum von Cannabis. Dies hat zur Einrichtung sog Coffeeshops geführt. Um den Drogentourismus einzuschränken, hat der Gemeinderat von Maastricht bestimmt, dass nur Personen, die ihren tatsächlichen Wohnsitz in den Niederlanden haben, der Zutritt zu Coffeeshops gestattet ist. J betreibt in der Gemeinde Maastricht einen Coffeeshop, in welchem weiche Drogen, alkoholfreie Getränke sowie Esswaren verkauft und konsumiert werden. Da er auch nicht in den Niederlanden wohnhaften Personen Zutritt gewährte, verfügte der Bürgermeister von Maastricht die Schließung des Shops. Steht diese Maßnahme im Einklang mit den Grundfreiheiten?
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337 Vgl dazu etwa Simon Le système juridique communautaire, 3. Aufl 2001, Rn 431, 523, 566. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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Fall 9: (EuGH, Rs C-4/91, Slg 1991, I-5627 ff – Bleis)
Die deutsche Staatsangehörige B hat beim französischen Bildungsministerium die Zulassung zum externen Auswahlverfahren für den Erwerb eines Befähigungsnachweises für das Lehramt an höheren Schulen im Fach Deutsch beantragt. Der Antrag wurde wegen ihrer Staatsangehörigkeit abgelehnt. Das daraufhin angerufene französische Gericht hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Beschäftigung als Lehrkraft für das höhere Lehramt eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung iSd Art 45 IV AEUV darstellt.
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Die Grundfreiheiten vermögen ihren Schutz nur zu entfalten, wenn ein Tun, Dulden 91 oder Unterlassen in sachlicher, personeller, räumlicher und zeitlicher Hinsicht an den Grundfreiheiten gemessen werden kann. Problematisch ist in den meisten Fällen (nur) der sachliche Anwendungsbereich. Der Schutz der Grundfreiheiten ist in sachlicher Hinsicht an sechs Vorausset- 92 zungen geknüpft, von denen indes im konkreten Fall nicht immer alle problematisch sein und damit explizit geprüft werden müssen:
a) Anwendbarkeit der Grundfreiheiten: Kein vorrangiges Sekundärrecht Zunächst müssen die Grundfreiheiten anwendbar sein. Dies ist nicht der Fall, wenn 93 das Sekundärrecht eine abschließende Regelung trifft (Rn 13)338 und seinerseits wirksam ist. Eine Ungültigkeit des Sekundärrechts kommt bei einem Verstoß gegen Primärrecht in Betracht. Dies kann beispielsweise eine fehlende oder unzutreffende Rechtsgrundlage sein; auch ist es möglich, dass das Sekundärrecht mit den Grundfreiheiten kollidiert.339 In diesen Fällen muss allerdings erst der Verstoß des Sekundärrechts gegen das höherrangige Recht positiv festgestellt werden, um durch die Rechtsfolge der Nichtigkeit bzw Unwirksamkeit340 den Weg zur Anwendung der Grundfreiheiten frei zu machen. Allein der Umstand, dass sich die Grundfreiheiten einen anderen Maßstab zur Verfügung stellen, genügt nicht, da es gerade Aufgabe des Sekundärrechts ist, durch Harmonisierung bestehende Binnenmarkthindernisse abzubauen. Enthält das Sekundärrecht von vorneherein keine abschließende Regelung, 94 sondern nur eine Teilregelung, sind in den Lücken, die es lässt, die Grundfreiheiten
338 EuGH, Urt v 16.7.2015, Rs C-95/14, Rn 32 ff – UNIC. Für die DienstleistungsRL EuGH, Urt v 11.6.2020, Rs C-206/19 – „KOB” SIA; dazu Abenhaïm, Europe 8/2020, 21. 339 Vgl Schlussanträge GA Bot, Rs C-573/12, Rn 65 ff – Ålands Vindkraft unter Berufung auf ua EuGH, Rs C-457/05, Slg 2007, I‑8075, Rn. 32 ff – Schutzverband der Spirituosen-Industrie. 340 Dazu Germelmann Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der EU, 2009, S 407 ff.
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weiterhin als ergänzende Kontrollmaßstäbe heranzuziehen.341 In diesen Fällen sind sie anwendbar, aber eben nur für den nicht sekundärrechtlich geregelten Teilbereich.
b) Grenzüberschreitender Bezug 95 Sodann muss ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben sein. Diese Voraus-
setzung ist stets zu prüfen. Sie ist nur in Ausnahmefällen, in denen das nationale Recht den sachlichen Anwendungsbereich autonom auf reine Inlandssachverhalte erweitert oder aber im Bereich des Aufenthaltsrechts der Unionsbürgerschaft deren Kernbereich betroffen ist, entbehrlich (vgl Rn 39 ff, 45). Im Falle der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit erfüllt auch ein grenzüberschreitender Bezug in einen Drittstaat das Erfordernis; ansonsten ist stets nur ein Binnenmarktbezug ausreichend.
c) Personeller, räumlicher und zeitlicher Anwendungsbereich 96 Der personelle Anwendungsbereich ist nur im Bedarfsfall gesondert zu prüfen. Die
Grundfreiheiten schützen nur bestimmte Personen, nämlich im Regelfall Unionsbürger, im Falle der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit auch Drittstaatsangehörige (Rn 62 ff). Ferner setzt ihre Anwendung voraus, dass der Geltungsbereich der Grundfreiheiten in räumlicher (Rn 87) und zeitlicher (Rn 88) Hinsicht gegeben ist. Wegen der Einzelheiten kann auf die oben getroffenen Ausführungen verwiesen werden. Diese Voraussetzungen sind selten problematisch.
d) Einschlägige Grundfreiheit – Abgrenzungsfragen 97 Ferner ist die einschlägige Grundfreiheit zu identifizieren. So werden nur be-
stimmte Verhaltensweisen von Personen geschützt: nämlich solche, die sich auf den Warenverkehr, die Betätigung von (abhängig beschäftigten) Arbeitnehmern, die (selbständige) Niederlassung, den Dienstleistungsverkehr sowie den Kapitaloder Zahlungsverkehr beziehen (vgl Rn 6 ff). Nicht wirtschaftliches Verhalten wird nur im Rahmen des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürgerschaft nach Art 21 AEUV geschützt. Die einschlägigen Garantien sind eigenständig (dh unionsrechtlich autonom und nicht nach den Maßstäben des nationalen Rechts) auszule
341 Vgl EuGH, Urt v 8.6.2017, Rs C-296/15 – Medisanus = EuZW 2017, 895 m Anm Gundel; dazu Roset, Europe 8/2017, 32 ff; zur Massenentlassungs-RL im Verhältnis zur Niederlassungsfreiheit EuGH, Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15, Rn 32 ff – AGET Iraklis = NJW 2017, 1723 m Anm Gundel = EuZW 2017, 229 m Anm Franzen; dazu Driguez, Europe 2/2017, 36 f.
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gen. Dies gilt beispielsweise für den Arbeitnehmerbegriff, aber auch für den Begriff der Ware.342 So ist etwa der Erwerb von Elektrizität als Fall des Warenverkehrs einzustufen, weil der Warenbegriff der Sicht des Handelsverkehrs den Vorrang gegenüber der Frage der Verkörperung iSd Sacheigenschaft einräumt.343 Der EuGH bevorzugt die systematisch-teleologische Methode, wobei er sich vom effet utile des Unionsrechts leiten lässt.344 Dies hat zur Folge, dass der Schutz der Grundfreiheiten typischerweise weit, die Ausnahme- und Beschränkungsmöglichkeiten demgegenüber eng ausgelegt werden. In manchen Fällen besteht die Notwendigkeit einer Abgrenzung der Grund- 98 freiheiten untereinander. Die Abgrenzung erfolgt nach objektiven Kriterien und nach dem Schwerpunkt der betroffenen Tätigkeit. So ist zB im Falle des Erwerbs eines Lotterieloses nicht die Warenverkehrsfreiheit anwendbar, sondern die Dienstleistungsfreiheit, weil die Einräumung einer Gewinnchance eine Dienstleistung darstellt, die nach objektiven Maßstäben den Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit verglichen mit dem Erwerb des sie verkörpernden Objekts bildet.345 Die Werbung kann für ein Produkt als flankierendes Recht der Warenverkehrsfreiheit anzusehen sein (Annexrecht), so dass ihre Beschränkung gleichzeitig eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit darstellt.346 Gleichzeitig kann sich die Werbung aber ebenso als selbständige Dienstleistung darstellen.347 Entscheidend ist hier die jeweilige Fallkonstellation und die jeweils zu behandelnde Fragestellung. Fällt ein Verhalten in den Anwendungsbereich mehrerer Grundfreiheiten, kön- 99 nen die Grundfreiheiten grds nebeneinander anwendbar sein. Das ist etwa dann der Fall, wenn sich das Verhalten in Teilkomplexe aufspalten lässt. Möchte sich zB eine Gesellschaft aus dem EU-Ausland im Inland niederlassen, um von dort aus Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat zu erbringen, ist wegen der Trennbarkeit der Verhaltensweisen sowohl die Niederlassungs- als auch die Dienstleistungsfreiheit betroffen. Auch wenn es sich um einen einheitlichen Vorgang handelt, schließen sich die Grundfreiheiten wegen der unterschiedlichen Normzwecke und der letztlich unterschiedlichen Aktivitäten (Niederlassung einerseits, Erbringung
342 Lecheler ER, S 225 ff, 253 f. 343 StRspr; s EuGH, Rs 6/64, Slg 1964, 1251, 1274 – Costa/ENEL; Rs C-393/92, Slg 1994, I-1477, Rn 28 – Almelo; Urt v 6.12.2018, Rs C-305/17 – FENS. 344 Allg zur Rolle dieses teleogischen Topos in der EuGH-Rspr Tomasic Effet utile, 2013. 345 EuGH, Rs C-275/92, Slg 1994, I-1039, Rn 23 ff – Schindler = EuZW 1994, 311 m Anm Stein. 346 Vgl etwa EuGH, Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 45 – Herbert Karner. Zur Unvereinbarkeit eines diskriminierenden Werbeverbots für Waren mit der Warenverkehrsfreiheit vgl → Rn 118 Fall 11. 347 Vgl zB EuGH, Rs C-384/93, Slg 1995, I-1141, Rn 39 – Alpine Investments. Zur Zuordnung eines Vertriebs von Waren vgl EuGH, Rs C-108/09, Slg 2010, I-12213, Rn 42 ff – Ker-Optika; zur Dienstleistungsfreiheit EuGH, Rs C-429/02, Slg 2004, I-6613 – Bacardi France (Loi Evin) = EWS 2004, 411 m Anm Gundel S 398 ff.
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von Dienstleistungen andererseits) nicht notwendigerweise aus. So kann eine einheitliche staatliche Maßnahme gleichzeitig mehrere wirtschaftliche Aktivitäten gleichzeitig betreffen und dann am Maßstab unterschiedlicher Grundfreiheiten zu beurteilen sein.348 Schwieriger zu beurteilen ist der Fall, wenn eine einzelne wirtschaftliche Aktivität thematisch unter mehrere unterschiedliche Grundfreiheiten fassbar ist. So kann der Kapitaltransfer in das Ausland zum Zwecke der Gründung einer Gesellschaft oder der Beteiligung an ihr sowohl die Kapitalverkehrs- als auch die Niederlassungsfreiheit berühren.349 Hier können bezogen auf die einheitliche Aktivität zwei wirtschaftliche Zielrichtungen unterschieden werden, so dass sich die staatliche Maßnahme gegen unterschiedliche Aspekte des einheitlichen wirtschaftlichen Vorgangs richtet (einerseits Grenzübertritt des Kapitals, andererseits Gründung der Gesellschaft bzw Beteiligung an ihr mit diesem Kapital). Es ist in diesen Fällen dann die Frage nach der Abgrenzung der Grundfreiheiten voneinander zu stellen. Einer Parallelität steht der Gerichtshof eher ablehnend gegenüber.350 Lässt sich die Handlungsweise nach ihrem Schwerpunkt eindeutig einer Grundfreiheit zuordnen und sind auch die anderen Grundfreiheiten demgegenüber „zweitrangig“, ist deren Anwendungsbereich gar nicht erst eröffnet, und sie treten hinter der vorrangigen Grundfreiheit im Sinne eines Spezialitätsverhältnisses zurück.351 So wird man etwa die Mitnahme des Umzugsguts beim Umzug von einem Mitgliedstaat in einen anderen zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit sowie die in diesem Zusammenhang erfolgenden Direktinvestitionen der Niederlassungs- und nicht der Warenverkehrs- oder der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit zuzuordnen haben.
348 Die Rspr des EuGH ist nicht eindeutig. So hat der EuGH teilweise davon gesprochen, dass die Schutzbereiche der Art 45, 49 u 56 AEUV einander ausschließen (EuGH, Rs C-55/94, Slg 1995, I-4165, Rn 20 – Gebhard). Das bezieht sich aber auf die Beurteilung einzelner Aktivitäten. Sind durch eine staatliche Maßnahme mehrere Grundfreiheiten betroffen, begnügt er sich zuweilen mit einer Gesamtschau oder stellt zB einen Verstoß gegen „Art 48, 52“ (heute Art 45, 49 AEUV) fest (EuGH, Rs C334/94, Slg 1996, I-1307, Rn 24 – Kommission/Frankreich; Rs C-151/96, Slg 1997, I-3327, Rn 16 – Kommission/Irland). Wie hier Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 AEUV Rn 23. 349 Vgl zB EuGH, Rs C-484/93, Slg 1995, I-3955, Rn 8 ff – Svensson u Gustavsson; Rs C-503/99, Slg 2002, I-4809, Rn 58 f – Kommission/Belgien („Goldene Aktien“). 350 Zur Nachzeichnung der Rspr s Lecheler/Germelmann Zugangsbeschränkungen für Investitionen aus Drittstaaten im deutschen und europäischen Energierecht, 2010, S 112 ff. 351 Vgl zB EuGH, Rs C‑275/92, Slg 1994, I-1039, Rn 20 ff – Schindler; Rs C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn 45 – Herbert Karner; Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 24 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (→ Rn 160 Fall 16); Rs C-452/04, Slg 2006, I-9521, Rn 34 – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16 (→ Rn 69 Fall 4); dazu Sedemund, BB 2006, 2781 ff; Vigneron/Steinfeld, CDE 2007, 239 ff; O'Brien, CMLRev 44 (2007), 1483 ff. Ferner EuGH, Rs C-108/09, Slg 2010, I-12213, Rn 43 – Ker-Optika; Urt v 8.6.2017, Rs C-580/15, Rn 25 f – Van der Weegen; Urt v 30.1.2020, Rs C-725/18 – Anton van Zantbeek VOF.
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Gerade im Bereich des Verhältnisses der Kapitalverkehrsfreiheit zur Nieder- 100 lassungsfreiheit hat der EuGH seine Schwerpunktmethode konkretisiert und konsequent angewendet.352 Handelt es sich bei der wirtschaftlichen Aktivität um Direktinvestitionen wie beim Erwerb von Kontrollbeteiligungen an Unternehmen in einem anderen Mitgliedstaat, so ist ausschließlich die Niederlassungsfreiheit, nicht aber Kapitalverkehrsfreiheit einschlägig, weil der Wirtschaftsteilnehmer hier eine Integration in den Markt des anderen Mitgliedstaates vorhat. Handelt es sich hingegen nur um Portfolioinvestitionen zur Geldanlage, ist nur die Kapitalverkehrsfreiheit anwendbar, weil hier der kapitalbezogene Aspekt im Vordergrund steht. Betrifft eine staatliche Maßnahme, wie zB im Steuerrecht, beide Fallkonstellationen wirtschaftlicher Tätigkeit, bleiben beide Grundfreiheiten für ihren jeweiligen Sachbereich (Direktinvestition oder Portfolioinvestition) anwendbar;353 denn hier geht es streng genommen nicht um die Abgrenzung bezogen auf eine wirtschaftliche Aktivität, sondern um die Erfassung mehrerer wirtschaftlicher Aktivitäten durch eine übergreifende staatliche Maßnahme. Aber auch die Schwerpunktbetrachtung führt dabei idR nicht zu einer Verkürzung des Schutzes der Grundfreiheiten, weil sich die Gewährleistungsgehalte, Beeinträchtigungsmodalitäten und Rechtfertigungsmöglichkeiten von Beeinträchtigungen der verschiedenen Grundfreiheiten weitgehend angenähert haben; sowohl die Niederlassungsfreiheit als auch die Kapitalverkehrsfreiheit enthalten Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote und sind mit geschriebenen wie ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen ausgestattet. Anders ist die Situation in Bezug auf Drittstaatsangehörige, weil diese sich nur auf den freien Kapital- und Zahlungsverkehr, nicht aber auf die nicht drittstaatsbezogene Niederlassungsfreiheit berufen können (Rn 69 ff). Im Falle des Vorrangs der letzteren ist ihre (Direkt-)Investition durch keine Grundfreiheit geschützt, da wegen der Spezialität der Niederlassungsfreiheit die Kapitalverkehrsfreiheit auch nicht wiederauflebt. Damit entscheidet die Schwerpunktsetzung darüber, ob das Unionsrecht überhaupt Schutzwirkungen entfaltet (vgl → Rn 69 Fall 4). Dieser Ansatz der Rspr kann kritisiert werden, weil er in Drittstaatsfällen für die „größeren“ (Direkt-)Investitionen einen schwächeren Schutz als für die „kleineren“ (Portfolio-)Investitionen ge
352 S zB EuGH, Urt v 13.11.2012, Rs C-35/11 – Test Claimants in the FII Group Litigation; Urt v 3.9.2020, Rs C-719/18, Rn 39 ff – Vivendi SA = EuZW 2020, 989 m Anm Samardzic; dazu Bassani, Europe 11/2020, 17 f. Zum Ganzen mwN Germelmann, EuZW 2008, 596 ff; Lecheler/Germelmann Zugangsbeschränkungen für Investitionen aus Drittstaaten im deutschen und europäischen Energierecht, 2010, S 112 ff. 353 Vgl EuGH, Rs C-436/00, Slg 2002, I-10829 – X u Y; Rs C-374/04, Slg 2006, I-11673 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation; Rs C-446/04, Slg 2006, I-11753 – Test Claimants in the FII Group Litigation; Beschl v 23. 4. 2008, Rs C-201/05 – Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation; Rs C-157/05, Slg 2007, I-4051 – Holböck.
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währt;354 letztlich aber ist die Grundwertung des Vorrangs der Niederlassungsfreiheit sachgerecht, da der Schutz einer derart intensiven Form der wirtschaftlichen Integration in den Binnenmarkt in der Systematik der Marktfreiheiten den Unionsbürgern vorbehalten ist und die Direktinvestition nie sicher von der Niederlassungskomponente entkoppelt werden kann. Dass damit der Schutz der Kapitalverkehrsfreiheit auf Portfolioinvestitionen verengt wird, ist systematisch hinnehmbar. 101 Ein Rangverhältnis zwischen den Grundfreiheiten besteht abseits der Spezialitäts- und Schwerpunktbetrachtungen grds nicht. Zwar sind nach dem Wortlaut des Art 57 UAbs 1 AEUV Dienstleistungen nur bestimmte Leistungen, „soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen“, was iSe Subsidiarität verstanden werden kann. Allerdings spielt eine solche Betrachtungsweise in der Praxis wegen der Schwerpunktmethode des EuGH keine Rolle; entscheidend ist, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit als Dienstleistung zu betrachten ist und ob auf dieser Aktivität der Schwerpunkt liegt, gegen den sich der Eingriff richtet. Demzufolge geht es bei Art 57 UAbs 1 AEUV nach Ansicht des EuGH nur um die Definition der Dienstleistungen, ohne zwischen der Dienstleistungsfreiheit und den übrigen Grundfreiheiten einen Vorrang festzulegen, der im Übrigen auch nicht aus Art 58 II AEUV abgeleitet werden kann.355 Die Bestimmungen des EAGV hingegen gehen als leges speciales dem AEUV und damit auch den Grundfreiheiten vor (vgl auch Rn 53).
e) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheiten 102 Ein spezielles Feld bildet die Frage der missbräuchlichen Inanspruchnahme unions-
rechtlicher Rechtspositionen. Indessen ist größte Zurückhaltung bei der Annahme von Missbrauchstatbeständen geboten, und sind diese auch nur bei konkreten Hinweisen in der konkreten Fallgestaltung zu prüfen. Zwar hat der EuGH in einigen Entscheidungen davon gesprochen, dass eine missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf das Unionsrecht (und damit auch auf die Grundfreiheiten) nicht statthaft ist.356 Das Missbrauchsverbot ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unions-
354 IdS etwa Hindelang The Free Movement of Capital and Foreign Direct Investment, 2009, S 111; Schön FS Wassermeyer, 2005, S 489 (500); Schönfeld, DB 2007, 80 (81). 355 EuGH, Rs C-452/04, Slg 2006, I-9521, Rn 32 f – Fidium Finanz = JK 2007, EGV Art 49/16 (Rn 69 Fall 4). Die Bestimmung des Art 58 II AEUV richtet sich nach Meinung des EuGH (aaO) namentlich an den Unionsgesetzgeber und ist mit der potenziell unterschiedlichen Entwicklung bei der Liberalisierung der Dienstleistungen auf der einen Seite und des Kapitalverkehrs auf der anderen Seite zu erklären. 356 Vgl grundlegend EuGH, Rs C-212/97, Slg 1999, I-1459, Rn 24 – Centros mit zahlreichen w Nachw. S zum Missbrauchsverbot auch Edwards/Farmer in: Essays in Honour of Sir Francis Jacobs, 2008, Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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rechts.357 Dies kann man dahingehend deuten, dass im Falle einer missbräuchlichen Inanspruchnahme eine Berufung auf die aus der Grundfreiheit folgenden subjektiven Rechte ausgeschlossen sind. Vergleichend kann insofern darauf hingewiesen werden, dass Art 17 EMRK (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 84, 89, 103) und 54 GRCh (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 117) die missbräuchliche Inanspruchnahme von Rechten ausdrücklich verbieten. Freilich führt das Verbot der missbräuchlichen Inanspruchnahme damit auch nur dann zu einer Unanwendbarkeit der Grundfreiheit, wenn im konkreten Fall (etwa in einem Vorabentscheidungsverfahren) um subjektive Rechte gestritten wird. In einem objektiven Kontrollverfahren wie etwa dem Vertragsverletzungsverfahren wird ein Missbrauch von Grundfreiheiten als Ausschlussgrund typischerweise nicht in Betracht kommen. Vom Missbrauch einer auf den Grundfreiheiten beruhenden Rechtsposition 103 kann gesprochen werden, wenn das in Rede stehende Verhalten sie bewusst in einer Weise benutzt, dass ihre Zielsetzungen verfehlt und umgangen werden und so der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr dazu benutzt wird, sich ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen. Es sind also zwei Elemente erforderlich: Die „Gesamtwürdigung der objektiven Umstände” muss erkennen lassen, dass „trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen” das Regelungsziel verfehlt wird; damit einhergehen muss die „Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden”.358 Vielfach dürfte es sich nur um „immanente“ Schutzbereichsbegrenzungen handeln, die sich aus dem Erfordernis der Widerspruchsfreiheit des Unionsrechts ergeben. So kann der Verkauf von Suchtmitteln bereits deshalb nicht auf die Freiheit des Warenverkehrs gestützt werden, weil dies den Schutzpflichten der Unionsgrundrechte offenkundig zuwiderlaufen würde.359 Hierin liegt nicht im engeren Sinne ein Rechtsmissbrauch, da das Recht diesen Verhaltensweisen schlicht generell den Schutz versagt. Auch die Prüfung, ob die Grundfreiheit unanwendbar ist, weil etwa in Wirklichkeit kein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt, stellt keine wirkliche Missbrauchsprüfung dar.
S 205 ff; de la Feria, CMLRev 45 (2008), 395 ff; Germelmann, EuZW 2008, 596 (599 f); Szpunar in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, 623 ff; Buckler, EuR 2018, 371 ff. 357 EuGH, Rs C-321/05, Slg 2007, I-5795 – Kofoed; Simon/Rigaux in: Mélanges en hommage à Guy Isaac, tome II, 2004, S 559 ff; Buckler, EuR 2018, 371 ff. 358 EuGH, Rs C-110/99, Slg 2000, I-11569, Rn 52 f – Emsland Stärke; dazu Weber, LIEI 31 (2004), 43 ff; EuGH, Rs C-515/03, Slg 2005, I-7355 – Eichsfelder Schlachtbetrieb; Urt v 22.11.2017, Rs C-251/16 – Cussens ua/Brosnan. 359 EuGH, Urt v 19.11.2020, Rs C-663/18 – BS ua = ZLR 2021, 58 m Anm Rottmeier; dazu Chaaben, RUE 2021, 218 ff; Rigaux, Europe 1/2021, 26 f. Dabei ist für die Anwendbarkeit der Grundfreiheit entscheidend, ob eindeutig nur eine Einordnung als Suchtmittel in Betracht kommt oder ob eine Gesundheitsschädlichkeit nicht hinreichend klar nachweisbar ist (s → Rn 90 Fall 9).
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Der Fall des Missbrauchs liegt komplexer und beruht auf der Verkehrung der grundfreiheitlichen Ziele bei gleichzeitiger formal korrekter Inanspruchnahme der Rechtsposition. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Vergünstigungen, die den Schutz des Einzelnen zu dienen bestimmt sind und diesem daher ein subjektives Recht einräumen, grds auch in Anspruch genommen werden dürfen.360 Der Sinn der Grundfreiheiten besteht gerade darin, den Wirtschaftsteilnehmern die Möglichkeit einzuräumen, sich die Vorteile des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs zunutze zu machen, ohne dass eine enge Kontrolle der Zwecke der wirtschaftlichen Tätigkeit in Betracht käme. So steht es zB im Belieben des Einzelnen, eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat zu errichten, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen, mag die Gesellschaft in diesem Staat auch keine echte eigene wirtschaftliche bzw gewinnbringende Tätigkeit entfalten. Ein missbräuchliches oder betrügerisches Verhalten ist hierin noch nicht zu sehen.361 Anderes nimmt der EuGH zB an, wenn es sich bei der Auslandsgründung um eine „rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung“ zum Zwecke der Steuerumgehung handelt.362 In der Tat finden sich gerade im Bereich des Steuerrechts Beispiele für unzulässige Umgehungen der Grundfreiheiten.363 Allerdings ist auch hier die Verneinung der Anwendbarkeit des Schutzes der Grundfreiheit die Ausnahme; denn schließlich ist es in erster Linie Sache der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass sich einige ihrer Staatsangehörigen unter Missbrauch der durch Unionsrecht geschaffenen Erleichterungen der Anwendung des nationalen Rechts entziehen. Damit wird die Vielzahl der (weniger eindeutigen) Fälle auf der Rechtfertigungsebene zu behandeln sein.364 Lösung Fall 8: 1. Verkauf von Cannabis: Sofern das von J angebotene Cannabis ausschließlich als Suchtstoff einzustufen ist, dessen Gefährlichkeit für die menschliche Gesundheit wegen seines THC-Gehalts feststeht, kann sich J nicht auf die Grundfreiheiten (und subsidiär auch nicht auf Art 18 iVm 21 AEUV) berufen. Bei reinen Suchtmitteln schließt der EuGH den Schutz der Grundfreiheiten schon generell
360 ZB hat es der EuGH nicht als missbräuchlich angesehen, wenn eine im 6. Monat schwangere chinesische Staatsbürgerin allein deshalb nach Nordirland einreist, um nicht nur ihrem dort geborenen Kind mit dem automatischen Erwerb der (irischen) Staatsangehörigkeit (ius soli) die Unionsbürgerrechte, sondern auch sich selber (zwecks Versorgung des Kindes) ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich (damals noch EU-Mitgliedstaat) zu verschaffen: EuGH, Rs C-200/02, Slg 2004, I-9925, Rn 34 ff – Zhu u Chen. 361 EuGH, Rs C-167/01, Slg 2003, I-10155, Rn 132 ff – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4. 362 EuGH, Rs C-196/04, Slg 2006, I-7995, Rn 55 – Cadbury Schweppes. Vgl ferner zB EuGH, Rs C-524/04, Slg 2007, I-2107 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation. 363 Germelmann, EuZW 2008, 596 (599) mwN. 364 Vgl EuGH, Rs C-212/97, Slg 1999, I-1459, Rn 20 – Centros.
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tatbestandlich aus; hier ist bereits ihr Anwendungsbereich nicht eröffnet.365 Nimmt man dies hier an, so kann offenbleiben, ob in Bezug auf den hier in Rede stehenden stationären Verkauf schwerpunktmäßig die Waren- oder die Dienstleistungsfreiheit anwendbar wäre. Sofern hingegen bei den betreffenden Produkten die Gefährlichkeit nicht eindeutig nachgewiesen ist, weil bspw der THC-Wert unter dem anerkanntermaßen gefährlichen Niveau liegt, ist für ihren Verkauf der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit bzw der Dienstleistungsfreiheit eröffnet. Stellt man darauf ab, dass die Coffeeshops vielfach besucht werden, um Cannabis zu kaufen und ggf in den Heimatmitgliedstaat mitzunehmen, stünde der Aspekt des Warenhandels im Vordergrund; bei einem Konsum vor Ort wäre vorrangig die Dienstleistungsfreiheit berührt. In tatbestandlicher Hinsicht liegt wegen des weiten Beschränkungsverbots der Dassonville-Formel (unmittelbare oder mittelbare, tatsächliche oder potenzielle Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Handels) bzw dem Äquivalent bei der Dienstleistungsfreiheit (verhindern, behindern oder weniger attraktiv machen) auch eine Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts vor. Diese kann der Mitgliedstaat aber aus Gründen des Gesundheitsschutzes (Art 36 AEUV bzw Art 52 iVm 62 AEUV) im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip rechtfertigen, wenn hinreichend nachgewiesen ist, dass trotz fortbestehender wissenschaftlicher Ungewissheit tatsächliche Gesundheitsgefahren auch bei einem niedrigeren THC-Gehalt zu befürchten sind.366 2. Verkauf von alkoholfreien Getränken und Esswaren: Das Zutrittsverbot für die Gebietsfremden berührt die Waren- und Dienstleistungsfreiheit. Da beim Verkauf von alkoholfreien Getränken und Esswaren der Gesichtspunkt des freien Warenverkehrs gegenüber der Dienstleistungsfreiheit als „völlig zweitrangig“ angesehen wird (und Art 18 AEUV ohnehin nur subsidiär gilt), sieht der EuGH allein Art 56 AEUV als einschlägig an. Der Umstand, dass nur „Ansässigen“ der Zutritt zu den Coffeeshops gestattet wird, stellt eine versteckte Diskriminierung dar, weil die Gefahr besteht, dass sich die Unterscheidung hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirkt. Diskriminierungen können nach Art 62 iVm 52 I AEUV ua aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der Gesundheit der Bürger gerechtfertigt sein, wenn sich die Maßnahme als verhältnismäßig erweist. Diese Voraussetzungen hält der EuGH in der Entscheidung Josemans für gegeben, weil das Verbot, Gebietsfremden den Zutritt zu Coffeeshops zu gestatten, dazu beitrage, den Drogentourismus erheblich zu begrenzen und die durch ihn verursachten Probleme zu verringern (gut vertretbar wäre es, die Differenzierung zwischen Ansässigen und Nichtansässigen als inkohärent und damit nicht als erforderlich anzusehen367).
f) Nichtvorliegen von Bereichsausnahmen Schließlich darf keine Bereichsausnahme vorliegen, die eine bestimmte Tätigkeit a 106 priori aus dem Schutzbereich der Grundfreiheiten ausklammert. Hiervon sind nur wenige Fallgestaltungen betroffen, da das Unionsrecht und insbesondere die Bin-
365 EuGH, Rs C-137/09, Slg 2010, I-13019 ff – Josemans = JK 2011, AEUV Art 56/1; krit Purnhagen, EuZW 2011, 225; Schröder, JZ 2011, 629 ff. Bestätigung der Rspr durch EuGH, Urt v 19.11.2020, Rs C-663/18 – BS ua = ZLR 2021, 58 m Anm Rottmeier; dazu Chaaben, RUE 2021, 218 ff; Rigaux, Europe 1/2021, 26 f. 366 EuGH, Urt v 19.11.2020, Rs C-663/18, Rn 88 – BS ua. S auch EuGH, Rs C-333/08, Slg 2010, I-727, Rn 83 ff – Kommission/Frankreich. 367 Vgl auch Schröder, JZ 2011, 629 (631).
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nenmarktfreiheiten als Grundlagen der Integration anzusehen sind und daher die vollständige Herausnahme von Sachverhalten aus ihrem Anwendungsbereich nicht mit dem Ziel des effet utile des Unionsrecht vereinbar wäre. 107 Zunächst ist klarzustellen, dass zwischen Bereichsausnahmen, die eine vollständige Freistellung von den Regelungen der Grundfreiheiten bewirken, und Rechtfertigungsgründen, die nur ausnahmsweise und nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung eine an sich gegen die Grundfreiheiten verstoßende staatliche Maßnahme gestatten, zu unterscheiden ist. Klar ist schon nach der Vertragssystematik, dass die geschriebenen Gründe der Art 36, Art 45 III, Art 52 I (iVm Art 62) und Art 65 I AEUV der Rechtfertigungsebene zuzuordnen sind. Ebenso wenig stellen sich die ungeschriebenen zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls, wie sie der EuGH in seiner grundlegenden Cassis de Dijon-Entscheidung aus dem Jahre 1979368 für den freien Warenverkehr geschaffen und in der Folge auch für alle anderen Grundfreiheiten anerkannt hat (Rn 153 f), als (tatbestandliche) Bereichsausnahmen dar. Sie sind entgegen einzelner Annahmen der früheren Literatur, die teils uneindeutige frühe Formulierungen des EuGH zugrundelegte,369 als Rechtfertigungsgründe ausgestaltet, wie sich seit Längerem auch eindeutig aus der Rspr des EuGH selbst ergibt.370 Sie ergänzen die geschriebenen, nicht analogiefähigen Rechtfertigungsgründe, indem sie ihre Lücken schließen, und erfordern eine volle Rechtfertigungsund Verhältnismäßigkeitsprüfung. 108 Damit bleiben lediglich die vom Vertrag selbst ausdrücklich anerkannten Bereichsausnahmen. Sie finden sich in den Personenfreizügigkeiten. So findet die Garantie der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung (Art 45 IV AEUV; → Rn 89 Fall 8; → Becker, § 14 Rn 27). In vergleichbarer Weise erstrecken sich auch die Bestimmungen über die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nicht auf die Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (Art 51 UAbs 1 iVm 62 AEUV; → Tietje, §§ 15 Rn 5; Pache, § 16 Rn 99). Zudem kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission beschließen, dass die Kapitel über die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit auf bestimmte Tätigkeiten keine Anwendung finden (Art 51 UAbs 2 iVm Art 62 AEUV). Von dieser
368 EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649, Rn 8 – Rewe-Zentral AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein („Cassis de Dijon“). S auch EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 8 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. 369 Vgl für immanente Tatbestandsausnahmen zB Jestedt/Kaestle, EWS 1994, 26 (27); Schilling, EuR 1994, 50 (52). 370 Vgl zB EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 18 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1; verb Rs C‑34/95 bis C‑36/95, Slg 1997, I-3843, Rn 46 – De Agostini; Hirsch, ZEuS 1999, 503 (511); Lecheler/Gundel Übungen, S 107, 109 f; Jarass, EuR 2000, 705 (719).
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(sachlich nicht gerechtfertigten) Bestimmung ist kein Gebrauch gemacht worden. Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, gelten gem Art 106 II AEUV die Vorschriften des Vertrages nur, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Auch hierin kann eine Bereichsausnahme gesehen werden, wenngleich die Struktur der Norm hier der Rechtfertigungsebene nähersteht,371 weil kein Tätigkeitsbereich an sich von der vertraglichen Bindung ausgenommen wird, sondern im Einzelfall restriktiv zu prüfen ist, ob die Geltung der Grundfreiheit eine Aufgabenerfüllung im konkreten Fall unmöglich machen würde.372 Wenn in der Literatur vereinzelt die Ansicht vertreten wird, dass auch die ge- 109 schriebenen sachlichen Bereichsausnahmen der Art 45 IV, Art 51 UAbs 1 (iVm Art 62) AEUV als Schrankenregelungen in Gestalt von Rechtfertigungsnormen anzusehen seien,373 ist dies weder vom Wortlaut der Bestimmungen („keine Anwendung“, „gelten …, soweit“; im englischen Text: „shall not apply“, „shall be the subject of the rules … insofar“; im französischen Text: „ne sont pas applicables“; „sont soumises aux règles, dans les limites“) noch von der vertraglichen Systematik her überzeugend.374 So zeigt die Gegenüberstellung von Art 51 und 52 AEUV, dass der Vertrag zwischen Bereichsausnahmen und Rechtfertigungsbestimmungen unterscheidet. In Art 52 AEUV wird die Rechtfertigungsebene ausdrücklich angesprochen. Wäre Art 51 AEUV ebenfalls eine Rechtfertigungsnorm, wäre die gesonderte Regelung erklärungsbedürftig. Dabei sind Bereichsausnahmen ebenso wie unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand einer Norm durchaus einer relativierenden Abwägung zugänglich.375 Der Abwägungsprozess verläuft aber nicht identisch wie bei Rechtfertigungsvorschriften. So geht es hier nicht darum, eine praktische Konkordanz zwischen kollidierenden Rechtsgütern im Einzelfall herzustellen, sondern die Bereichsausnahmen
371 So auch Jarass, EuR 2000, 705 (718). 372 EuGH, Rs C-393/92, Slg 1994 I-1477, Rn 46 ff – Almelo. Näher zu dieser Norm vgl Gundel in: MünchKommWettbR, Bd 1 (EUWettbR), 3. Aufl 2020, Art 106 AEUV Rn 74 ff, zur Rechtfertigungswirkung Rn 113 ff. 373 Vgl namentlich Jarass, EuR 1995, 202 (221 f); dens FS Everling Bd I, 1995, S 593 (604 f); dens, EuR 2000, 705 (717 f). 374 Vgl Ehlers, NVwZ 1990, 810 (812); Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 76 f; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheitsoder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 152 f; Streinz ER, Rn 868. 375 Vgl etwa BVerwGE 81, 155 (158 f), wonach ein Ausweisungsgrund schwerwiegend iSd (inzwischen außer Kraft getretenen) § 48 I AuslG (vgl nunmehr §§ 50 ff AufenthG) ist, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat.
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teleologisch im Lichte der Vertragsbestimmungen nachvollziehend auszulegen und im gegebenen Falle schon auf der abstrakten Ebene zu begrenzen. In diesem Sinne spricht der EuGH zB davon, dass die Ausnahmen nicht weiter reichen dürfen, „als der Zweck es erfordert, um dessen Willen sie vorgesehen sind.“376 110 Mit der grundlegenden Bedeutung der Grundfreiheiten für das Binnenmarktziel des Art 26 AEUV geht einher, dass die Bereichsausnahmen als unionsrechtliche Freistellungsregelungen ihrem Ausnahmecharakter entsprechend eng auszulegen sind. Ihre Reichweite bestimmt sich ebenso wie diejenige der Rechtfertigungsgründe nach dem Unionsrecht und nicht nach mitgliedstaatlichem Recht (vgl auch Rn 10 u 15); die Letztentscheidungsbefugnis liegt also beim EuGH.377 Nach dessen zutreffend restriktiver Rspr zählen zu den Beschäftigungen in der öffentlichen Verwaltung iSv Art 45 IV AEUV nur diejenigen Stellen, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind.“ Hinzukommen muss „ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten …, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“.378 Es muss also das Band der Staatsangehörigkeit erforderlich sein, damit der Staat dem Betreffenden die Aufgabe guten Gewissens übertragen kann. Unter die Ausnahmeregelung fallen somit zB Richter, Soldaten und Polizeibeamte, nicht aber allgemein Beschäftigte der öffentlichen Verwaltung, wie etwa in den Bereichen Forschung, Bildungswesen, Gesundheitswesen oder Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität.379 Eine Ausübung öffentlicher Gewalt iSv Art 51 UAbs 1 AEUV ist in gleicher Weise nur anzunehmen, wenn die Wahrung der Interessen, deren Schutz diese Bestimmung den Mitgliedstaaten erlaubt, in den Worten des EuGH „unbedingt erforderlich“ ist.380 Auch hier muss also der Charakter der Aufgabe das Staatsangehörigkeitsband und das besondere
376 Vgl EuGH, Rs 2/74, Slg 1974, 631, Rn 42 f – Reyners. Vgl ferner EuGH, Rs 147/86, Slg 1988, 1637, Rn 10 – Kommission/Griechenland; EuGH, Rs C-54/08, Slg 2011, I-4355, Rn 78 ff – Kommission/ Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. 377 Vgl etwa (für Art 45 IV AEUV) EuGH, Rs 149/79, Slg 1980, 3881, Rn 19 – Kommission/Belgien, vgl auch → Rn 89 Fall 8. 378 EuGH, Rs 149/79, Slg 1980, 3881, Rn 10 – Kommission/Belgien; Rs C-290/94, Slg 1996, I-3285, Rn 34 – Kommission/Griechenland. Nach hM müssen die genannten Kriterien kumulativ vorliegen. Näher zum Ganzen Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 134 ff; Franzen in: Streinz, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 146 ff; Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 110 ff. 379 Vgl Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 138 ff mit Rspr-Nachw. 380 Vgl EuGH, Rs C-404/05, Slg 2007, I-10239, Rn 37, 46 – Kommission/Deutschland. S auch restriktiv EuGH, Urt v 16.6.2015, Rs C-593/13 – Rina Services = EuZW 2015, 638 m Anm Malferrari.
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Treueverhältnis erfordern. Dies dürfte nur anzunehmen sein, wenn die Tätigkeit mit der Befugnis verbunden ist, einseitig rechtlich verbindliche Anordnungen zu treffen.381 Nicht erfasst werden Hilfs- oder Vorbereitungstätigkeiten für die Ausübung öffentlicher Gewalt, sowie Tätigkeiten, deren Ausübung die Beurteilungsoder Entscheidungsbefugnisse dieser Behörden oder Gerichte unberührt lässt.382 Dementsprechend hat der EuGH festgestellt, dass die Tätigkeit der Notare nicht unter Art 51 I AEUV fällt (und die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art 49 AEUV verstoßen hat, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt hat).383 Auch bei der Anwendung des Art 106 II AEUV muss die Ausnahme von der Geltung der Vertragsvorschriften erforderlich sein, weil sie die Aufgabenerfüllung verhindern würde.384 Ohnehin darf nach Art 106 II 2 AEUV die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaße beeinträchtigt werden, das dem Interesse der EU zuwiderläuft. Lösung Fall 9: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gem Art 267 AEUV bestehen keine Bedenken; es handelt sich um eine Auslegungsvorlage. Eine Beschäftigung iSv Art 45 IV AEUV ist nach der Rspr nur anzunehmen, wenn sie „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“ (EuGH, Rs C-4/91, Slg 1991, I-5627, Rn 6 – Bleis). Als Ausnahme vom Grundprinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist Art 45 IV AEUV so auszulegen, dass sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der durch die Norm geschützten Interessen unbedingt erforderlich ist. Die pädagogische Tätigkeit eines Lehrers ist nicht typischerweise mit hoheitlichen (einseitigen) Befugnissen verbunden. Zudem ist nicht ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat unerlässlich. Daher stellt die Beschäftigung als Lehrkraft für das höhere Lehramt keine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung iSd Art 45 IV AEUV dar.
381 Vgl auch Schlussanträge GA Mayras, Rs 2/74, Slg 1974, 631, 665 – Reyners (wenn der Staat „dem Bürger gegenüber von Sonderrechten, Hoheitsprivilegien und Zwangsbefugnissen Gebrauch macht“). Näher dazu Jarass, RIW 1993, 1 (4); Tiedje in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 51 AEUV Rn 7 ff; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 158. 382 EuGH, Rs C-54/08, Slg 2011, I-4355, Rn 87 ff – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3. 383 EuGH, Rs C-54/08, Slg 2011, I-4355, Rn 78 ff – Kommission/Deutschland = JK 2012, AEUV Art 49/3; Urt v 9.3.2017, Rs C-342/15 – Piringer = NJW 2017, 1455 m Anm Böttcher = EuZW 2017, 394 m Bespr Waldhoff S 382 ff; dazu Michel, Europe 5/2017, 23 f. 384 Vgl EuGH, Urt v 7.11.2018, Rs C-171/17, MMR 2019, 237 – Kommission/Ungarn; dazu Idot, Europe 1/ 2019, 28. Allg Gundel in: MünchKommWettbR, Bd 1 (EUWettbR), 3. Aufl 2020, Art 106 AEUV Rn 93 ff; Voet van Vormizeele in: Schwarze, EU-Komm, Art 106 AEUV Rn 70 ff.
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2. Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts der Grundfreiheiten Fall 10: (EuGH, Rs C-20/03, Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjer = JK 2006, EGV Art 28/6) Der Niederländer B verkauft in Belgien auf öffentlichen Straßen ohne die nach belgischem Recht erforderliche Genehmigung Abonnements für deutsche und niederländische Zeitschriften. Das belgische Gericht möchte wissen, ob das Genehmigungserfordernis mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
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a) Handeln, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten 113 Ist der Anwendungsbereich der Grundfreiheit eröffnet, muss die Beeinträchtigung
ihres Gewährleistungsgehalts geprüft werden. Diese wird im Regelfall in einer staatlichen Maßnahme eines Mitgliedstaats liegen, kann aber auf in einem Akt der Union liegen oder – im Falle der Direktwirkung der Grundfreiheit – auch durch einen Privaten erfolgen. Denn als Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten kommen nach der Rspr des EuGH nicht nur die Mitgliedstaaten und die EU, sondern uU auch Privatpersonen in Betracht (Rn 75 ff). Welcher Art die Maßnahme ist, kann sich dabei unterscheiden. Der Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten kann durch ein aktives Tun, welches rechtsförmig oder informell sein kann, aber auch durch ein Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten beeinträchtigt werden, sofern eine Rechtspflicht zum Tätigwerden besteht, weil dann die Duldung oder Unterlassung dem Handeln gleichsteht. Positive Handlungspflichten bestehen beispielsweise in Form der Gewährung hoheitlichen Schutzes (Rn 55).
b) Beschränkung oder Diskriminierung 114 Der Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten umfasst Beschränkungs- sowie Dis-
kriminierungsverbote. Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten setzt also voraus, dass entweder eine (formale oder faktische) Diskriminierung (Rn 38 ff) oder eine (unterschiedslos anwendbare und wirkende) Beschränkung (Rn 41 ff) in Betracht kommt. Dabei ist es zweckmäßig, diese beiden Arten der Beeinträchtigung auch terminologisch voneinander zu trennen. Zwar ist eine Unterscheidung auf Tatbestandsebene nicht immer erforderlich, wenn nicht – wie etwa bei den Vertriebsbedingungen im Fall der Keck-Rechtsprechung (Rn 130) – die genaue Einordnung schon hier erfolgen muss; auch auf der Rechtfertigungsebene kann eine Unterscheidung vorzunehmen sein, wenn die Einschlägigkeit der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe in Rede steht (Rn 127). Damit gebietet es die Klarheit trotz der zuweilen geringen tatsächlichen Unterschiede zwischen faktischen Diskriminierungen und Beschränkungen doch, die Art der Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts jedenfalls terminologisch eindeutig zu kategorisieren. Daher ist es nicht
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zweckmäßig, den Begriff der Beschränkung – wie dies zuweilen auch der EuGH tut – als Oberbegriff entsprechend der (vorzugswürdigen) übergreifenden Bezeichnung als Beeinträchtigung zu verwenden.385 Ein solcher Gebrauch kann durchaus zu Missverständnissen führen, die sich etwa in der Deutung der Rechtfertigungsvoraussetzungen niederschlagen können (Rn 128). Auch der Wortlaut der Verträge in den Art 49 UAbs 1, Art 56 UAbs 1, Art 63 I, II AEUV darf nicht in dem Sinne verstanden werden, dass von diesen Grundfreiheiten nur reine Beschränkungen verboten würden; im Gegenteil sind natürlich ebenso die gravierenderen Beeinträchtigungen in Form der Diskriminierungen verboten.
aa) Diskriminierungsbegriff Der Diskriminierungsbegriff des EuGH ist sehr weit zu verstehen (Rn 40). Er bezieht 115 sich lediglich auf die Staatsangehörigkeit bzw den grenzüberschreitenden Vorgang, nicht hingegen auf sonstige Ungleichbehandlungen (zB allein von Erzeugern und Verbrauchern oder von Männern und Frauen). Er erfasst formale wie faktische Diskriminierungen, dh solche, die eine negative rechtliche Ungleichbehandlung an die Staatsangehörigkeit bzw die Grenzüberschreitung anknüpfen, und solche, die einen grenzüberschreitenden Vorgang in tatsächlicher Hinsicht im konkreten Zusammenhang oder typischerweise schlechter als einen rein internen behandeln (Rn 40).386 Eine Schlechterstellung in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn sich die Differenzierungen nicht ohne Rückgriff auf ein Kriterium mit grenzüberschreitendem Bezug oder grenzüberschreitender Auswirkung (zB Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, Herstellungsort, Niederlassungsort, Sprache usw) begründen lassen. Das Diskriminierungsverbot enthält im Grundsatz ein Schlechterstellungsverbot.387 Dieses entspricht in der Regel einer Inländergleichbehandlung, kann über dieses aber hinausgehen, weil das Diskriminierungsverbot eine Besserstellung der EUAusländer gegenüber den Inländern nicht verbietet (Rn 36). Ein Anspruch der Inländer auf Gleichbehandlung gegenüber den EU-Ausländern ist typischerweise kein Problem des Unionsrechts, sondern des nationalen (Verfassungs-)Rechts (Rn. 37). Die Art und Weise, in der gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen wird, ist 116 unerheblich, was erneut die Weite des Verbots betont und seine Wirkungskraft erhöht. Die Schlechterstellung des grenzüberschreitenden Vorgangs kann daher in gleicher Weise auf finalem Handeln beruhen oder unbeabsichtigt sein, auf einen
385 Näher zum Sprachgebrauch Valta Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S 103 ff. 386 Teilweise wird die Vergleichbarkeit von grenzüberschreitendem und Inlandssachverhalt erst auf der Rechtfertigungsebene geprüft. Vgl Kokott/Ost, EuZW 2011, 496 (499). 387 Vgl zB EuGH, Rs 186/87, Slg 1989, 195, Rn 10 ff – Cowan; Jarass, EuR 1995, 202 (216).
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Rechts- oder einen Realakt zurückgehen388 und schwerwiegende oder geringe Beeinträchtigungen nach sich ziehen.389 In Anlehnung an die Dassonville-Formel im Bereich des freien Warenverkehrs390 (Rn 6) wird man zudem Diskriminierungen auch unabhängig davon als tatbestandsmäßig ansehen können, ob sie unmittelbar oder mittelbar verursacht worden sind und ob sie tatsächlich oder potenziell wirken. Lediglich ganz entfernte Wirkungszusammenhänge im Sinne eher hypothetischer Ungleichbehandlungen dürften allerdings ebenso wie bei den Beschränkungen (Rn 126) auszuscheiden sein. Das gilt zumal dann, wenn ein Verstoß Privater gegen Grundfreiheiten in Betracht kommt.
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Lösung Fall 10: Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt vor: B verkauft Abonnements für deutsche und niederländische Zeitschriften in Belgien. Betroffen ist hier die Warenverkehrsfreiheit des Art 34 AEUV, da Zeitschriften als geldwerte körperliche Gegenstände, die dem Handelsverkehr unterliegen, Waren sind. Abschließende sekundärrechtliche Regelungen über den Vertrieb von Zeitschriften existieren nicht. Nach der Dassonville-Formel ist die Warenverkehrsfreiheit von ihrem Gewährleistungsgehalt ein weites Beschränkungsverbot. Das Genehmigungserfordernis könnte damit eine Maßnahme gleicher Wirkung iSd Art 34 AEUV sein, weil sie zumindest potenziell und mittelbar den grenzüberschreitenden Zeitschriftenhandel beeinträchtigen kann. Die nationale Regelung über den Verkauf auf öffentlichen Straßen betrifft, was Zeitschriftenabonnements angeht, aber nur eine bestimmte Verkaufsmodalität, nämlich den Vertrieb im Wege des ambulanten Gewerbes. Verkaufsmodalitäten stellen nach der Keck-Rspr (Rn 128) keine Maßnahmen gleicher Wirkung dar, wenn sie zum einen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben (= nicht formal diskriminierend sind), und zum anderen den Absatz der ausländischen Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht schlechter stellen als den Absatz inländischer Produkte (= nicht faktisch diskriminierend sind). Das Genehmigungserfordernis gilt unterschiedslos für alle Wirtschaftsteilnehmer. Es liegt damit keine formale Diskriminierung vor. Doch könnte eine faktische (indirekte, versteckte) Diskriminierung gegeben sein. Nach Ansicht des EuGH im Ausgangsfall ließ sich anhand der ihm vorliegenden Angaben nicht mit Sicherheit feststellen, ob durch die nationale Regelung über den ambulanten Verkauf der Absatz von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten stärker beeinträchtigt wird als der von Erzeugnissen aus Belgien. Doch ist zu berücksichtigen, dass hier nur eine einzelne Art des Verkaufs untersagt wird. Es könnte daher die beeinträchtigende Wirkung für den Absatz ausländischer Waren zu unbedeutend und zufällig sein, als dass sie für geeignet gehalten werden könnte, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern oder auf andere Weise zu stören. In diesem Falle würde der Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit ausscheiden. Nimmt man hingegen eine tatsächliche Möglichkeit der Beeinträchtigung des Absatzes an und stellt man zugleich eine stär-
388 Vgl für den Fall staatlich finanzierter Werbekampagnen EuGH, Rs 249/81, Slg 1982, 4005, 4023 Rn 27 f – Kommission/Irland („Buy Irish“); Rs C-222/82, Slg 1983, 4083, Rn 16 f – Apple and Pear Development Council. 389 Vgl Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages und Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S 353 f. Vgl aber auch Rn 126. 390 Freilich geht die Dassonville-Formel über Diskriminierungen hinaus und erfasst auch reine Beschränkungen.
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kere Belastung ausländischer Produkte fest, weil diese etwa gerade auf die betreffende Absatzform besonders angewiesen sein sollten, läge eine faktische Diskriminierung vor, sodass die Keck-Formel nicht erfüllt und der Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit gegeben wäre. In diesem Fall wäre zu prüfen, ob das Genehmigungserfordernis durch ein Ziel des Allgemeininteresses iSd der – im Falle bloß faktischer Diskriminierungen anwendbaren – Cassis-Rspr (Rn 153 f) gerechtfertigt ist (hier: Verbraucherschutz) und ob es in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Ziel steht.
bb) Beschränkungsbegriff Fall 11: (EuGH, Rs C-470/93, Slg 1995, I-1923 ff – Mars)
Die M-GmbH führt aus Frankreich Eiscremeriegel nach Deutschland ein, die in Frankreich von einem amerikanischen Konzern zum Zwecke des europaweiten Vertriebs rechtmäßig hergestellt werden. Im Rahmen einer Werbekampagne ist die in den Eisriegeln enthaltene Menge um 10 % erhöht worden. Auf der Verpackung wurde hierauf mittels des Aufdrucks „plus 10 %“ auf farblich hervorgehobener Fläche hingewiesen, wobei der Hinweis deutlich mehr als 10 % der Gesamtfläche des Riegels ausmachte. Ein in Deutschland gegründeter Verein zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs klagt vor einem deutschen Gericht auf Unterlassung der Werbeaktion. Einerseits liege ein Verstoß gegen das GWB vor. Der Aufdruck „plus 10 %“ sei geeignet, beim Verbraucher die Vorstellung hervorzurufen, das neue Erzeugnis werde zum gleichen Preis wie das alte angeboten. Die Händler dürften daher nicht den Preis erhöhen. Eine Preisbindung sei aber nicht mit dem GWB vereinbar. Andererseits sei die optische Gestaltung irreführend, da Verbraucher annehmen könnten, die Vergrößerung sei bedeutender (nämlich so groß wie der Raum des Aufdrucks) als angegeben (nämlich 10 %). Das deutsche Gericht möchte der Klage stattgeben, hat aber Bedenken, ob dies mit Art 34 AEUV vereinbar ist.
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Fall 12: (EuGH, Rs C-110/05, Slg 2009, I-519 – Kommission/Italien): Mit Vertragsverletzungsklage (Art 258 AEUV) beantragte die EU-Kommission beim EuGH festzustellen, dass das in der italienischen Straßenverkehrsordnung vorgesehene Verbot, Anhänger an Motorräder anzukoppeln, gegen die Warenverkehrsfreiheit verstößt.391
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Dem weiten Diskriminierungsbegriff entspricht ein ebenfalls weiter Beschrän- 120 kungsbegriff. Dies lässt sich besonders deutlich am Beispiel der Rspr zur Warenverkehrsfreiheit zeigen, die gleichsam prototypisch für ein weites Verständnis der reinen Beschränkung ist, allerdings nicht unverändert auf alle anderen Grundfreiheiten übertragen werden kann; gerade im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten bestehen bestimmte Besonderheiten. Der freie Warenverkehr nach Art 34 AEUV verbietet nicht nur mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne von
391 Vgl auch → Epiney, § 13. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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Kontingentierungen (die in dieser Form in Bezug auf die Unionsstaaten heute kaum noch vorkommen), sondern auch alle Maßnahmen gleicher Wirkung.392 Nach der Dassonville-Formel des EuGH fällt darunter jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“ (Rn 42). Dies bedeutet, dass es auf die Finalität, Vorhersehbarkeit und rechtliche Qualität der Maßnahme ebenso wenig ankommt wie auf ihre aktuell spürbare Wirkung, so dass auch noch nicht eingetretene, aber mögliche Behinderungen sowie geringfügige Schutzbereichsbeeinträchtigungen393 als Beschränkungen anzusehen sind. Im Ergebnis ist danach nur auf die (tatsächliche oder potenzielle) Wirkung der Maßnahme bzw auf den (tatsächlichen oder potenziellen) Erfolg abzustellen. Eine Beschränkung im Sinne einer Maßnahme gleicher Wirkung nach Art 34 AEUV liegt bereits dann vor, wenn die (grenzüberschreitende) Ausübung der Warenverkehrsfreiheit in irgendeiner Weise behindert oder weniger attraktiv gemacht wird oder diese Wirkung zumindest möglich ist. Hierbei finden sich in der Rspr des EuGH (neben dem Diskriminierungsverbot) insbesondere zwei Kategorien von Fällen. Im Fall der ersten Kategorie steht die Frage im Vordergrund, ob der freie Zugang der Ware zu den Märkten des Zielstaats behindert wird.394 Das Kriterium der Marktzugangsbehinderung ist eine nach der Binnenmarkt-Teleologie gravierende Beschränkung, die in vielen Fällen in einer oder nahe an einer faktischen Diskriminierung liegen wird, wenn ausländischen Produkten der Zugang zum Zielmarkt faktisch erschwert wird. Dies kann etwa bei Mindestpreisanforderungen der Fall sein, weil ausländische Produkte dann nicht mehr von ihren möglicherweise geringeren Gestehungskosten wirtschaftlich profitieren können und somit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber eingeführten inländischen Waren verlieren.395 Behindert wird die Freiheit des Warenverkehrs etwa auch, wenn sich ein staatlicher Beamter in amtlicher Eigenschaft negativ über eingeführte Waren äußert, selbst wenn keine sonstigen Maßnahmen ergriffen worden sind.396 Das Marktzutrittskriterium taucht in seiner fak-
392 Zur Ausfuhrfreiheit vgl Rn 42. 393 Vgl EuGH, Rs C-126/91, Slg 1993, I-2361, Rn 20 ff – Yves Rocher = JK 94, EWGV Art 30/4. 394 Vgl etwa EuGH, Rs C-110/05, Slg 2009, I-519, Rn 33 ff – Kommission/Italien, → Rn 119 Fall 12; Rs C142/05, Slg 2009, I-4273, Rn 25 ff – Mickelsson u Roos; Rs C-108/09, Slg 2010, I-12213, Rn 49 – Ker-Optika; Urt v 26.4.2012, Rs C-456/10, EuZW 2012, 508, 509, Rn 33 ff – ANETT. S dazu auch Brigola, EuZW 2012, 248 (252); Streinz, EuZW 2012, 511 (512). 395 EuGH Urt v 23.12.2015, Rs C-333/14, Rn 32 – Scotch Whisky Association ua = NJW 2016, 621 m Anm Hoffmann; dazu auch Rigaux, Europe 2/2016, 22 ff. 396 EuGH, Rs C-470/03, Slg 2007, I-2749, Rn 66 – A.G.M-COS.MET Srl = JK 2008, EGV Art 28/8. Vgl auch zur (eine Beschränkung darstellenden) staatlich veranlassten Vergabe von Gütezeichen, die die Qualität eines Produktes mit der nationalen Herkunft verknüpfen Rs C-325/00, Slg 2002, I-9993, Rn 14 ff – Kommission/Deutschland (CMA-Gütezeichen) m Anm Leible, EuZW 2003, 23 ff.
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tisch diskriminierenden Form auch im Rahmen der Anwendung der Keck-Formel im freien Warenverkehr auf (Rn 128); liegt tatsächlich ein vollständig nichtdiskriminierendes Marktzutrittshindernis vor, so kann man überdies bezweifeln, ob es sich um „bestimmte Vertriebsmodalitäten“ handelt, weil eine Gefahr für den grenzüberschreitenden Handeln begründet wird. Dabei stellt das Marktzutrittskriterium nicht erst eine Rückausnahme dar, sondern begründet positiv das Vorliegen einer Beschränkung. Die zweite Kategorie stellt auf die Situation des Produktes im Zielmarkt ab, 121 nämlich darauf, ob Anforderungen an Erzeugnisse oder deren Verwendung gestellt werden, wenn die Produkte in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden.397 Diese Fallgruppe ist etwa gegeben, wenn eine in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Ware einer zusätzlichen Kontrolle unterworfen wird398 oder wenn Vorschriften über die Beschaffenheit der Ware,399 über die Bezeichnung,400 ihre Zubereitung401 oder ihre Verwendung402 beachtet werden müssen. In solchen Fällen liegt stets eine Beschränkung vor; im Falle der Vertriebsmodalitäten hat die KeckRspr eine Verengung des Beschränkungsbegriffs hin zu einem Diskriminierungsverbot vorgenommen (Rn 128). Die Rechtsprechung zur Freiheit des Warenverkehrs ist auf die anderen 122 Grundfreiheiten zwar nicht uneingeschränkt übertragbar, die grundsätzlichen Auslegungslinien sind hier jedoch vergleichbar (Rn 42). Auch die Dienstleistungsfreiheit und die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit sind als ähnlich weite Beschränkungsverbote wie die Warenverkehrsfreiheit zu verstehen, wenngleich die Dassonville-Formel dort keine Anwendung findet. Im Sinne der Rspr liegt eine Beeinträchtigung nicht nur dann vor, wenn die Ausübung der Grundfreiheit „verhindert“ oder tatsächlich „behindert“ wird, sondern es reicht insoweit auch aus, wenn sie „weniger attraktiv“ gemacht wird. Im Bereich der Dienstleistungsfreiheit sowie der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit ist dies weit zu verstehen, so dass nicht nur Maßnahmen, die von der Nutzung der Grundfreiheit abschrecken können und
397 Dieses Kriterium hatte der EuGH bereits im Fall „Cassis de Dijon“ für maßgeblich erachtet, EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Rewe-Zentral AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein („Cassis de Dijon“). 398 EuGH, Rs C-390/99, Slg 2002, I-607, Rn 36 f – Canal Satélite Digital; Rs C-244/06, Slg 2008, I-505, Rn 28 ff – Dynamic Medien = JK 2008, EGV Art 28/10 (→ Rn 143 Fall 13). 399 Vgl zB EuGH, Rs C-17/93, Slg 1994, I-3553, Rn 11 – van der Veldt. 400 Vgl zB EuGH, Rs 27/80, Slg 1980, 3839, Rn 15 – Fietje. 401 EuGH, verb Rs C-158/04 u C-159/04, Slg 2006, I-8135, Rn 19 – Alfa Vita. 402 EuGH, Rs C-110/05, Slg 2009, I-519, Rn 33 ff – Kommission/Italien; → Rn 119 Fall 12; Rs C-142/05, Slg 2009, I-4273, Rn 25 ff – Mickelsson u Roos.
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somit potenziell marktzutrittsbeschränkende Wirkung haben, sondern alle Behinderungen auch auf dem Markt des Zielstaates Beschränkungen darstellen können.403 Die unterschiedslos geltenden wie wirkenden Beeinträchtigungen können sowohl vom Zielstaat als auch vom Herkunftsstaat ausgehen, wobei letzterer typischerweise nur Marktzutrittshindernisse schaffen kann.404 Im Bereich der Arbeitnehmer- und der Niederlassungsfreiheit ist das Kriterium des „weniger attraktiv Machens“ enger zu begreifen. Hier kann nicht jede Unannehmlichkeit auf dem Markt des Zielstaates eine tatbestandliche Beschränkung sein, weil die Berechtigten sich sonst im Extremfall auf die Mitnahme ihrer Arbeits- und Sozialbedingungen des Heimatstaates berufen könnten, die für sie möglicherweise günstiger oder auch nur gewohnter wären als die des Aufnahmestaates.405 Hier liegt ein deutlicher Unterschied zu den Dienstleistungen und Kapitalbewegungen, die anders als mobile Personen nur punktuelle Berührungen mit dem Zielstaat haben und sich dort nicht dauerhaft integrieren müssen. Daher ist zu Recht in der Rspr des Gerichtshofs angenommen worden, dass neben den Diskriminierungen im Zielstaat nur solche Beschränkungen tatbestandlich sind, die eine tatsächliche realistische Möglichkeit der Abschreckung von der grenzüberschreitenden Tätigkeit mit sich bringen.406 Damit verengt sich hier das Beschränkungsverbot auf ein Verbot von Marktzutrittshindernissen, die dann aber auch rein tatsächlich wirken können und nicht intendiert sein müssen. 123 Ob das Beschränkungsverbot in seiner weiten Auslegung auch dann anwendbar ist, wenn Private die Grundfreiheiten tangieren, lässt sich der EuGH-Rspr bisher nicht entnehmen. Richtigerweise wird man es in Anwendung einer Interessenabwägung mit der Stellung des Privaten (Rn 78) restriktiver als bei staatlichen 403 Krit zur Unschärfe des Kriteriums „Attraktivitätsminderung“ GA Mischo, Rs C-255/97, Slg 1999, I2835, Rn 57 – Pfeiffer/Löwa. Vgl auch Thiemann Rechtsprobleme der Marke Sparkasse, 2008, S 163, wonach das Kriterium dazu verleitet, die Grundfreiheiten von Ansprüchen auf behinderungsfreien Grenzübertritt in Leistungsansprüche auf möglichst attraktive Gestaltung grenzüberschreitender Aktivitäten umzudeuten. 404 EuGH, Rs C-384/93, Slg 1995, I-1141, Rn 35, 38 – Alpine Investments; Rs C-518/06, Slg 2009, I-3491, Rn 64 – Kommission/Italien (Kfz-Haftpflichtversicherung). 405 Vgl EuGH, Urt v 13.7.2016, Rs C-187/15, Rn 24 – Pöpperl/Land Nordrhein-Westfalen; Urt v 18.7.2017, Rs C-566/15, Rn 34 f – Erzberger = NJW 2017, 2603 m Anm Kainer = JZ 2017, 1001 m Anm Krause; dazu Driguez, Europe 10/2017, 38 f. S auch EuGH, Urt v 12.5.2021, Rs C-27/20 – CAF; dazu Driguez, Europe 7/2021, 27 f. 406 Vgl EuGH, Rs C-190/98, Slg 2000, I-493, Rn 25 – Graf; Urt v 18.7.2017, Rs C-566/15, Rn 34 ff – Erzberger; Urt v 8.7.2021, Rs C-71/20 – VAS Shipping; dazu Gazin, Europe 10/2021, 20. Angenommen wurde eine derart behindernde Wirkung in EuGH, Urt v 21.9.2017, Rs C-125/16 – Malta Dental Technologists Association (Einsatz von im Inland wie im Ausland ausgebildeter Zahntechniker nur nach Zwischenschaltung eines Zahnarztes); dazu Cazet, Europe 11/2017, 32; ferner für Inkompatibilitätsregeln EuGH, Urt v 27.2.2020, Rs C-384/18 – Kommission/Belgien; dazu Abenhaïm, Europe 4/2020, 24.
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Maßnahmen interpretieren müssen. Während Diskriminierungen tatbestandsmäßig sind, dürften Beschränkungen durch Private nur dann tatbestandsmäßig sein, wenn durch sie tatsächlich der Marktzugang behindert wird, also eine reale Gefahr für den Binnenmarkt besteht.
cc) Begrenzungen des weiten Gewährleistungsgehalts und Erweiterung der Rechtfertigungsmöglichkeiten Denn der äußerst weite Beschränkungsbegriff des EuGH, der sich deutlich von den 124 an das Vorliegen von Grundrechtseingriffen in Deutschland gestellten Anforderungen absetzt, führte dazu, dass eine schier unübersehbare Zahl mitgliedstaatlicher Maßnahmen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten einem Rechtfertigungstest unterzogen werden konnte und musste. So hat der EuGH zB auch das Sonntagsverkaufsverbot in Wales407 oder das (früher) in Deutschland geltende wettbewerbsrechtliche Verbot einer Preisgegenüberstellung408 als Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit angesehen. Es sei zwar wenig wahrscheinlich, dass sich die Verbraucher durch derartige Regelungen vom Erwerb der Erzeugnisse abhalten ließen. Gleichwohl könnten aber negative Folgen für das Verkaufsvolumen und folglich auch für das Einfuhrvolumen nicht ausgeschlossen werden.409 Entsprechendes hat er für Werbeverbote entschieden, die ebenfalls Auswirkungen auf die Verbraucherentscheidung haben können und die sich je nach Ausgestaltung und Marktsituation an der Schnittstelle zwischen reinen (Marktzutritts-)Beschränkungen und faktischen Diskriminierungen bewegen.410 Die Weite des Beschränkungsverbots der Warenverkehrsfreiheit nach der Das- 125 sonville-Formel machte es in der historischen Entwicklung der Rspr erforderlich, eine neue Austarierung zwischen dem Schutz des Binnenmarktes mit den subjektiven Rechten der Marktteilnehmer sowie den Regulierungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten zu schaffen, denen mit den geschriebenen Rechtfertigungsgründen des Art 36 AEUV nur begrenzte, nicht analogiefähige Handlungsbereiche offenstanden. Die Gefahr einer Uferlosigkeit des Gewährleistungsgehalts des Art 34 AEUV, einer allzu rigiden Beschränkung mitgliedstaatlicher Handlungsfähigkeiten auch in Fall-
407 EuGH, Rs C-145/88, Slg 1989, 3851, Rn 13 – Torfaen/B & Q; vgl auch EuGH, Rs C-332/89, Slg 1991, I1027, Rn 9 – Marchandise ua; Rs C-169/91, Slg 1992, I-6635, Rn 10 – Stoke-on-Trent u Norwich/B & Q. 408 EuGH, Rs C-126/91, Slg 1993, I-2361, Rn 11 f – Yves Rocher = JK 94, EWGV Art 30/4; vgl auch EuGH, Rs 286/81, Slg 1982, 4575, Rn 14 f – Oosthoek. 409 So für das Sonntagsverkaufsverbot EuGH, Rs C-312/89, Slg 1991, I-997, Rn 8 – Conforama. 410 Vgl EuGH, verb Rs C‑34/95 bis C‑36/95, Slg 1997, I‑3843, Rn 42 ff – De Agostini; Rs C‑405/98, Slg 2001, I‑1795, Rn 15 ff – Gourmet International Products = EuZW 2001, 251 m Anm Leible; dazu auch Rigaux, Europe 5/2001, 5; Koutrakos, ELRev 26 (2001), 391; Rs C-322/01, Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris.
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gestaltungen, die keine ernsthafte Gefahr für den Binnenmarkt darstellen, sowie eine mit dem weiten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten einhergehende wachsende Belastung des EuGH auch in binnenmarktirrelevanten Fällen hat zu verschiedenen Begrenzungsschritten geführt.
(1) Ungewisse, hypothetische Auswirkungen 126 So ist zunächst eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten nach der Rspr des EuGH
dann auszuscheiden, wenn die Auswirkungen auf die Freiheit zu ungewiss und zu indirekt, also gleichsam noch nicht einmal potenziell, sondern eher hypothetisch sind. Als Kriterium kommt also vor allem die Wahrscheinlichkeit von binnenmarktbeeinträchtigenden Kausalverläufen in Betracht.411 Hierher gehören daher mitgliedstaatliche Regelungen, deren Auswirkungen auf den grenzüberschreitenden Verkehr nicht schlechthin ausgeschlossen sind, aber auch keinerlei messbar erhöhtes Risiko für den Binnenmarkt darstellen. Weniger relevant ist bei einem feststehenden Kausalverlauf die Spürbarkeit der Beeinträchtigung, die der EuGH regelmäßig nicht als Maßstab für die Betroffenheit der Grundfreiheit heranzieht; im Binnenmarktrecht gibt es anders als im Wettbewerbsrecht also grundsätzlich keine De-minimisAusnahme.412 Diese Ungewissheitsgrenze muss in gleicher Weise für das Beschränkungs- wie für das Diskriminierungsverbot angenommen werden, wobei diskriminierende Regeln typischerweise die Vermutung der Binnenmarktschädlichkeit in sich tragen. Verlässlich lässt sich die Grenze nur im Einzelfall bestimmen.413 Der Gerichtshof hat sie zunächst für die Warenverkehrsfreiheit herausgearbeitet,414 aber später auch aus den anderen Grundfreiheiten abgeleitet.415 So soll die Leistung einer 411 Vgl EuGH, Rs C-254/98, Slg 2000, I-151, Rn 30 – Schutzverband gegen den unlauteren Wettbewerb/TK-Heimdienst Sass = JK 2000, EGV Art 28/1; Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 130 f – Österreich/Deutschland (Pkw-Maut); ferner → Epiney, § 13 Rn 52 ff; vgl auch Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34 – 36 AEUV Rn 57. 412 Vgl EuGH, Rs 16/83, Slg 1984, 1299, Rn 20 – Prantl; Rs C-49/89, Slg 1989, 4441, Rn 8 – Corsica Ferries France; Rs C-212/06, Slg 2008, I-1683, Rn 52 – Gouvernement de la Communauté française, Gouvernement wallon/Gouvernement flamand (Flämische Pflegeversicherung); ferner Tiedje in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 56 AEUV Rn 102; zum Wettbewerbs- und Beihilfenrecht Brinker in: Schwarze, EU-Komm, Art 101 AEUV Rn 51 f; Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 107 AEUV Rn 38. 413 Vgl näher dazu Becker, EuR 1994, 162 (170); Ebenroth FS Pieper, 1998, S 133 (142); Oliver, CMLRev 36 (1999), 97 ff; Deckert/Schroeder, JZ 2001, 88 (90). 414 EuGH, Rs C-69/88, Slg 1990, I-583, Rn 11 – Krantz; Rs C-93/92, Slg 1993, I-5009, Rn 12 – CMC Motorradcenter. 415 Vgl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH, Rs C-190/98, Slg 2000, I-493, Rn 25 – Graf (kein Abfindungsanspruch bei Kündigung seitens des Arbeitnehmers), für die Niederlassungsfreiheit verb Rs C-418/93 ua, Slg 1996, I-2975, Rn 32 – Semeraro Casa Uno ua (Ladenschlussregelungen), anders
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Prozesskostensicherheit vor belgischen Zivilgerichten nur für Ausländer die Warenverkehrsfreiheit nicht betreffen, weil der Umstand, dass Bürger eines anderen Mitgliedstaates aus diesem Grund zögern, Waren an Kunden mit belgischer Staatsangehörigkeit zu verkaufen, zu ungewiss und zu mittelbar sei, als dass eine solche nationale Maßnahme als geeignet angesehen werden könne, den innergemeinschaftlichen Handel zu behindern. Auch allgemein geltende mitgliedstaatliche baurechtliche Vorgaben, die ua auch Ladengeschäfte erfassen können, sind in einer evtl handelsbeeinträchtigenden Wirkung zu entfernt und hypothetisch, um den Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit zu erfüllen. Sofern eine Maßnahme wegen ihrer Ungewissheit nicht als Beeinträchtigung der Grundfreiheiten betrachtet werden kann, ist es doch nicht ausgeschlossen, dass sie ggf in einem nichtwirtschaftlichen Kontext negative Auswirkungen auf die Freizügigkeit der Unionsbürger entfalten kann. Der EuGH prüft hier gelegentlich, ob sie mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV vereinbar ist.416 Dies ist allerdings nur dann unproblematisch, wenn es nicht um die Beurteilung wirtschaftlicher Sachverhalte geht, weil bei diesen das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten dem allgemeinen Diskriminierungsverbot vorgeht und demzufolge den Rückgriff auf dieses sperrt.417
(2) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Die in historischer Betrachtung erste Eingrenzung des weiten Tatbestands der Wa- 127 renverkehrsfreiheit und, ihr folgend, der anderen Grundfreiheiten durch die Rspr erfolgte durch die Schaffung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe, welche die durch den weiten Tatbestand des Beschränkungsverbots geschrumpften mitgliedstaatlichen Handlungsmöglichkeiten wieder zum Teil kompensieren sollten. So hat der EuGH zunächst in seiner Cassis-Rspr herausgearbeitet, dass Beschränkungen sowie faktische (nicht hingegen formale) Diskriminierungen der Grundfreiheiten hingenommen werden müssen, wenn sie auf zwingenden Erfordernissen beruhen.418 Den Mitgliedstaaten wurden so zusätzliche Rechtfertigungsoptionen für die weniger binnenmarktfeindlichen Beeinträchtigungsformen der faktischen Diskri-
EuGH, Rs C-212/06, Slg 2008, I-1683, Rn 51 f – Gouvernement de la Communauté française, Gouvernement wallon/Gouvernement flamand (Flämische Pflegeversicherung); für die Dienstleistungsfreiheit EuGH, Rs C-211/08, Slg 2010, I-5267, Rn 68 ff – Kommission/Spanien (Kostentragung nach einer ungeplanten Krankhausbehandlung). 416 Vgl EuGH, Rs C-43/95, Slg 1996, I-4661, Rn 16 ff – Data Delecta; Rs C-122/96, Slg 1997, I-5325, Rn 25 ff – Saldanha. 417 Vgl EuGH, Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17, Rn 38 ff – Österreich/Deutschland (Pkw-Maut). 418 EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Rewe-Zentral AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein („Cassis de Dijon“); Craig/de Búrca EU, S 699 ff.
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minierung und der reinen Beschränkungen zur Verfügung gestellt, die aufgrund der offenen Formulierung der ungeschriebenen Gründe als zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls hinreichende Flexibilität schufen (näher dazu Rn 153 ff).
(3) Tatbestandseinschränkung durch die Keck-Formel bei der Warenverkehrsfreiheit (Art 34 AEUV) 128 Eine echte Verengung des Tatbestands hat der Gerichtshof erstmals in der Rechtssache Keck für die Warenverkehrsfreiheit vorgenommen (→ Epiney, § 13 Rn 41 ff).419 Hierbei handelt es sich nach der klaren Dogmatik der Rspr nicht um eine Steuerung auf der Rechtfertigungsebene, sondern um eine echte Tatbestandsreduzierung, und zwar um eine Rückführung des Beschränkungsverbots auf ein Diskriminierungsverbot für den besonderen Sachbereich der Vertriebsbedingungen. Der Sache nach widersprechen sich daher Beschränkungsbegriff und Keck-Kriterien nicht, sondern ergänzen sich. Denn während mittels des Beschränkungsverbotes positiv definiert wird, wann eine Maßnahme gleicher Wirkung gegeben ist, klammern die Keck-Kriterien negativ bestimmte Maßnahmen wieder aus, die nicht vom Tatbestand des Art 34 AEUV erfasst werden und damit auch nicht gerechtfertigt werden müssen. 129 Der Gerichtshof nahm für diese von der Keck-Formel erfassten Maßnahmen weitgehend pauschal eine nicht hinreichende Gefährlichkeit für den grenzüberschreitenden Handel an. In der Rechtssache Keck hat es der Gerichtshof abgelehnt, das französische Verbot, Waren unter Einkaufspreis weiterzuverkaufen, an der Garantie des (heutigen) Art 34 AEUV zu messen. Entgegen der bis dahin geltenden Rspr seien mitgliedstaatliche Regelungen, die nur bestimmte Verkaufsmodalitäten betreffen, nicht als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen, weil sie iSd Urteils Dassonville nicht geeignet seien, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern. Voraussetzung ist nach der Entscheidung des EuGH allerdings, dass die Regelungen erstens für alle betreffenden Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, sie also nicht formal diskriminierend sind, und zweitens den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren, also auch keine faktische Diskriminierung begründen.420 In der Sache führt dies dazu, dass die vom Gerichtshof benannten „bestimmten Verkaufsmodalitäten“, aus deren Kreis
419 EuGH, verb Rs C-267/91 u C-268/91, Slg 1993, I-6097, Rn 14 ff – Keck. S hierzu statt vieler Behrens, EuR 1992, 145 ff; Roth, ZHR 1995, 78 (86 f); Oliver Free movement of goods in the European Community, 3. Aufl 1996, S 100 ff; dens, CMLRev 36 (1999), 97 ff; Craig/de Búrca EU, S 715 ff; zur Entwicklung Haltern ER, Rn 1658 ff; Kröger, EuR 2012, 468 ff; Brigola, EuZW 2012, 248 ff. 420 EuGH, verb Rs C-267/91 u C-268/91, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck.
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man nur besonders gravierende Beschränkungen auszuscheiden hat, nur dann den Tatbestand der Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit erfüllen, wenn sie formal oder faktisch diskriminierend sind. Im Anwendungsbereich der Keck-Formel wird also aus dem weiten Beschränkungsverbot der Dassonville-Formel ein bloßes Diskriminierungsverbot; diese Rspr ist mittlerweile durch zahlreiche Entscheidungen des EuGH immer wieder bestätigt worden, wenngleich sie sich auf den freien Warenverkehr nach Art 34 AEUV beschränken.421 Eine Ablösung der Keck-Formel durch eine Alternativstruktur, die sich eher als teleologischer Erklärungsansatz der Tatbestandseinschränkung denn als echte subsumtionsfähige Formel eignet,422 ist also nicht anzunehmen, wenngleich ihr Anwendungsbereich eng bleibt (sogleich Rn 130). Keine Anwendung findet sie ferner auf die Fälle des Art 35 AEUV, da diese Norm trotz des vergleichbaren Wortlauts in der Rspr eine andere Tatbestandsstruktur aufweist (Rn 42).423 Die Bestimmung, was als „bestimmte Verkaufsmodalität“ bzw. „Vertriebsmoda- 130 lität“ zu begreifen ist, hat die Rspr in erster Linie durch eine Abgrenzung klargestellt.424 Die Trennlinie verläuft zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen. Die Grundidee hinter dieser Unterscheidung liegt in der Erwägung, dass produktbezogene Maßnahmen im Grundsatz eine Veränderung am Produkt erforderlich machen, damit es in den Zielmitgliedstaat exportiert werden kann, und somit gleichsam automatisch dessen Marktzutritt erschweren. Letzteres ist bei vertriebsbezogenen Maßnahmen nicht gleichermaßen zwingend zu befürchten, da sie nicht am Produkt selbst ansetzen, sondern nur die Modalitäten seines Inverkehrbringens betreffen. Dass von diesen Verkaufsmodalitäten Marktzutrittshindernisse ausgehen, ist jedenfalls dann weniger wahrscheinlich, wenn sie in keiner Weise dis421 Jüngst wieder EuGH, Urt v 21.9.2016, Rs C-221/15 – Établissements Fr. Colruyt = EuZW 2017, 24 m Anm Hieber; dazu Rigaux, Europe 11/2016, 22 f; Urt v 15.7.2021, Rs C-190/20 – DocMorris NV/Apothekerkammer Niederrhein; dazu Rigaux, Europe 10/2021, 16 ff; Sack, WRP 2022, 403 ff. Vgl zur Rspr die Nachw bei Schroeder in: Streinz, EUV/AEUV, Art 34 AEUV Rn 55 ff; Müller-Graff in: vd Groeben/ Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 34 AEUV Rn 255. Vgl auch EuGH, Urt v 19.10.2016, Rs C-148/15 – Deutsche Parkinson Vereinigung = NVwZ 2016, 1793 m Anm Ludwigs = EuZW 2016, 958 m Bespr Mittwoch S 936 ff = NJW 2016, 3771 m Bespr Brigola S 3761 ff; dazu auch Rigaux, Europe 12/2016, 27 f. Hier weist der EuGH nicht ausdrücklich auf die Keck-Formel hin, prüft aber in der Sache die faktische Diskriminierung durch die schwerere Belastung der ausländischen Anbieter. 422 Zur Diskussion um eine Ablösung der Keck-Formel durch einen „Dreistufentest“ s zB Cremer/ Bothe, EuZW 2015, 413 ff; Schütze, ELRev 41 (2016), 826 ff; Berrod in: Liber Amicorum Paul Demaret, 2013, Vol 1, S 281 ff; Streinz ER, Rn 922 ff; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 56. 423 S dazu EuGH, Rs C-205/07, Slg 2008, I-9947, Rn 40 ff – Gysbrechts; Urt v 21.6.2016, Rs C-15/15 – New Valmar = EuZW 2016, 717; dazu Hatzopoulos, JDE 2016, 267 ff; Rigaux, Europe 8/2016, 26 f; Brigola, EuZW 2017, 5 ff. 424 S auch Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 34 AEUV Rn 252 ff.
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kriminierend wirken, da dann für alle inländischen wie ausländischen Produkte im Ausgangspunkt dieselben Chancen am Markt bestehen. Daher sollen nach der KeckRspr im Gegensatz zu den produktbezogenen Maßnahmen die vertriebsbezogenen Maßnahmen nicht als Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit gelten, wenn sie unterschiedslos wirken. Die Abgrenzung von produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen kann allerdings im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten.425 Eine schematische Trennung lässt sich nicht klar durchführen.426 Als produktbezogene Regelung hat der EuGH zB Regelungen über die Bezeichnung, Form, Abmessung, Zusammensetzung, Aufmachung, Etikettierung und Verpackung von Waren angesehen.427 Als Vertriebsmodalitäten (Verkaufsmodalitäten) eingestuft wurden etwa Ladenschlussregelungen428, das Verbot von Fernsehwerbung für bestimmte Erzeugnisse429 oder das Verbot des Vertriebs einer bestimmten Säuglingsnahrung außerhalb von Apotheken430. Werbeverbote stellen zumeist Verkaufsmodalitäten dar. Wird dagegen auf einem Produkt geworben (vgl → Rn 118 Fall 11), so ist die Maßnahme produktbezogen, weil eine Änderung am Produkt erforderlich wird. Handelt es sich um ein generelles Werbeverbot, ist die Rechtslage ebenfalls differenziert zu bewerten.431 Ist das Werbeverbot für alle Produkte gleichermaßen diskriminierungsfrei ein massiver Eingriff in die Vermarktbarkeit, so könnte man daran zweifeln, dass eine binnenmarktungefährliche „bestimmte“ Verkaufsmodalität vorliegt und damit der Anwendungsbereich der Keck-Formel ausscheidet. Trifft das Totalwerbeverbot ausländische Produkte aufgrund der Marktsituation tatsächlich schwerwiegender, so ist jedenfalls die Voraussetzung der Nichtdiskriminierung nicht erfüllt, und die Keck-Ausnahme scheitert aus diesem Grund. 131 Eine weitere Abgrenzung wird neben der Gegenüberstellung von produkt- und vertriebsbezogenen (verkaufsbezogenen) Maßnahmen hinsichtlich solcher Regelungen des Warenverkehrs notwendig, die die Verwendung der Produkte nach dem Erwerb betreffen. So stellt sich die Frage, ob Nutzungsregelungen bzw Verwendungsmodalitäten (wie das Verbot der Benutzung von Wassermotorradrä-
425 Vgl etwa für Bake-off-Produkte, die erst im Zielmitgliedstaat fertiggestellt werden: EuGH, verb Rs C-158/04 u C-159/04, Slg 2006, I-8135, Rn 19 – Alfa Vita; Rs C-416/00, Slg 2003, I-9343, Rn 28 ff – Morellato. 426 Vgl auch Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 AEUV Rn 48 f; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 125.→ Epiney, § 13 Rn 43 ff 427 EuGH, verb Rs C-267/91 u C-268/91, Slg 1993, I-6097, Rn 15 – Keck. 428 EuGH, verb Rs C-401/92 u C-402/92, Slg 1994, I-2227, Rn 14 – t’Heukske. 429 EuGH, verb Rs C‑34/95 bis C‑36/95, Slg 1997, I-3843, Rn 39 f – De Agostini; s auch Rs C-412/93, Slg 1995, I-179, Rn 22 – Leclerc-Siplec. 430 EuGH, Rs C-391/92, Slg 1995, I-1621, Rn 15 – Kommission/Griechenland. 431 Vgl Stein, EuZW 1995, 435 (436).
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dern außerhalb bezeichneter Gewässer432) den Verkaufsmodalitäten gleichzustellen sind. Der EuGH nimmt diese Gleichsetzung nicht an, was sich nicht nur aus seiner in jüngerer Zeit zu beobachtenden restriktiven Handhabung der Keck-Rspr erklärt, die sich etwa in einer weiten Auslegung des Diskriminierungstatbestandes widerspiegelt (Rn 42).433 Dies steht durchaus im Einklang mit dem Bestreben des Gerichtshofs, den freien Zugang zu den Märkten zu effektivieren (Fall 12). Sie beruht auch auf den grundlegend unterschiedlichen Folgen für den Binnenmarkt, die einerseits Vertriebsmodalitäten, andererseits Verwendungsmodalitäten haben. Zwar kann man es für weit hergeholt halten, dass selbst ein nationales Tempolimit auf Autobahnen der Warenverkehrsfreiheit unterfallen muss, weil es die Nutzung und den Kauf eines besonders schnellen Fahrzeugs beeinflusst. Allerdings steht hier natürlich weiterhin die Rechtfertigungsebene zur Verfügung. Verwendungsmodalitäten sind anders als Vertriebsmodalitäten stets binnenmarktrelevant, weil sie das Ziel des grenzüberschreitenden Handels, den Einsatz des Produkts, betreffen. Sie machen somit zwar nicht wie produktbezogene Maßnahmen Änderungen an dem Produkt notwendig; aber das Produkt kann (ohne Änderungen) dann in bestimmten Weisen nicht mehr genutzt werden. Zudem geht es hierbei um die gegenseitige Anerkennung von Erzeugnissen, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht wurden, welches eines der zentralen Leitprinzipien des Binnenmarktrechts darstellt. Damit stellt die Verwendungsmodalität stärker als die Vertriebsmodalität den (diskriminierungsfreien) Zugang zum Markt in einem anderen Mitgliedstaat in Frage, auch wenn die Verwendungsbeschränkungen alle Produkte in gleicher Weise treffen. In der Sache ist dem EuGH also in seiner Weigerung der Erstreckung der Keck-Formel auf Verwendungsmodalitäten zuzustimmen. Schließlich ist gerade auch für die Keck-Formel und ihre zweite Voraussetzung, 132 das Fehlen jeder formalen wie faktischen Diskriminierung zu beachten, dass der Diskriminierungsbegriff des Vertrages bekanntermaßen weit gefasst ist (Rn 38). Dies führt dazu, dass insbesondere faktische Diskriminierungen tendenziell leicht anzunehmen sind, wenn eine Vertriebsmodalität ausländische Güter tatsächlich schlechter als inländische stellt bzw stärker belastet. Ein Beispiel für eine faktisch diskriminierende Vertriebsmodalität ist eine nationale Buchpreisbindung: Von
432 Vgl EuGH, Rs C-142/05, Slg 2009, I-4273 – Mickelsson u Roos. S auch GA Bot, Rs C-110/05, Slg 2009, I-519, Rn 87 ff, 107 ff – Kommission/Italien (→ Rn 119 Fall 12). 433 Vgl auch EuGH, Urt v 26.4.2012, Rs C-456/10, EuZW 2012, 508, Rn 33 ff – ANETT. Allgemein krit zu der Keck-Rspr GA Maduro, verb Rs C-158/04 u C-159/04, Slg 2006, I-8135, Rn 34 – Alfa Vita; GA Bot, Rs C110/05, Slg 2009, I-519, Rn 77 ff – Kommission/Italien (→ Rn 119 Fall 12); GA Spuznar, Rs C-311/19, Rn 65 ff – BONVER WIN. Vgl zum Ganzen auch Brigola, EuZW 2012, 248 ff, der freilich hieraus wohl zu Unrecht eine Abkehr von der Keck-Rspr sieht.
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einer solchen Regelung sind inländische und ausländische Bücher gleichermaßen betroffen. Jedoch werden die inländischen Importeure und ausländischen Verleger daran gehindert, Mindestpreise für den Handel anhand der Merkmale des Einfuhrmarktes festzulegen. Dagegen steht es inländischen Verlegern frei, auf ihre Erzeugnisse Mindestpreise für den Verkauf auf dem inländischen Markt selbst festzulegen.434 Auch Werbeverbote, die ausländischen Produkten den Marktzutritt schwerer machen als den vergleichbaren inländischen neu eingeführten Produkten, stellen faktische Diskriminierungen dar.435 Hier ist eine präzise Abgrenzung zwischen Marktzutrittshindernis (für alle) und Diskriminierung nicht immer leicht zu treffen. Auch Doppelbelastungen aufgrund der anwendbaren Rechtsordnungen, die den Absatz der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich zusätzlich behindern, können im Einzelfall faktische Diskriminierungen darstellen. Gleiches gilt für die Beeinträchtigung der Verwendung von einheitlichen Werbekonzeptionen (Euromarketing) im Einzelfall.436 Über das Vorliegen der Voraussetzung der Keck-Kriterien entscheidet letztverbindlich der EuGH.437 Die Beweislast für das Vorliegen einer rechtlichen oder tatsächlichen Ungleichbehandlung trägt derjenige, der sich auf einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit beruft.438 Allerdings sind Vermutungsregelungen nach der EuGH-Rspr möglich.439
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Lösung Fall 11: Durch den Verkauf der Eisriegel aus Frankreich in Deutschland liegt ein grenzüberschreitender Sachverhalt vor, so dass der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten eröffnet ist. Hier könnte die Warenverkehrsfreiheit nach Art 34 AEUV einschlägig sein. Da die Eisriegel des amerikanischen Konzerns in Frankreich hergestellt werden, handelt es sich um eine aus einem Mitgliedstaat stammende Ware
434 EuGH, Rs C-531/07, Slg 2009, I-3717 – Fachverband der Buch- und Medienwirtschaft/LIBRO = JK 2010, AEUV Art 34/1. 435 EuGH, verb Rs C‑34/95 bis C‑36/95, Slg 1997, I-3843, Rn 42 ff – De Agostini; Rs C-405/98, Slg 2001, I1795, Rn 15 ff – Gourmet International Products = EuZW 2001, 251 m Anm Leible; dazu auch Rigaux, Europe 5/2001, 5; Koutrakos, ELRev 26 (2001), 391. Vgl ferner EuGH, Rs C-322/01, Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris, wonach das Verbot eines Versandhandels mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln die ausländischen Apotheker stärker iSd Keck-Rspr als die inländischen berühren soll, weil die inländischen Apotheker andere Vertriebswege haben. Anders EuGH, Rs C-412/93, Slg 1995, I-179, Rn 22 – Leclerc-Siplec für die Frage des Verbotes der Ausstrahlung von Werbemitteilungen ohne große Reichweite; hier sah der EuGH keine Marktzutrittbehinderhung, weil „nur eine bestimmte Form der Förderung (Fernsehwerbung) einer bestimmten Methode des Absatzes (Vertrieb) von Erzeugnissen“ verboten wurde. S ferner Barnard, ELRev 26 (2001), 35; Fromont/Verdure, RTDE 2011, 717. 436 Vgl in diese Richtung EuGH, Rs C-255/97, Slg 1999 I-2835, Rn 20 – Pfeiffer/Löwa; ebenso wohl Streinz ER, Rn 920. 437 Krit Lenz, NJW 2004, 332 f. 438 Vgl in diese Richtung EuGH, verb Rs C‑34/95 bis C‑36/95, Slg 1997, I-3843, Rn 44 – De Agostini. 439 IdS EuGH, Rs C-322/01, Slg 2003, I-14887, Rn 74 – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4.
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(Art 28 II AEUV). Ein staatliches (durch Wettbewerbsvorschriften und Gerichtsurteil ausgesprochenes) Verbot, das sich gegen das Inverkehrbringen der Ware in Deutschland richtet, greift in den Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheit ein, da es sich iSd Dassonville-Formel (Rn 42, 114) als eine Maßnahme gleicher Wirkung darstellt; es beschränkt den grenzüberschreitenden Handel mittelbar, weil es auf die Käuferentscheidung abzielt, und zumindest potenziell, weil nicht auszuschließen ist, dass eine weniger großflächige und damit womöglich weniger wirksame Werbung weniger zum Kauf des Produkts anreizt. Es geht hierbei auch nicht nur um eine bloße Verkaufsmodalität iSd Keck-Rspr (Rn 114 ff). Vielmehr ist die Maßnahme produktbezogen. Der Produktbezug ergibt sich aus dem Umstand, dass die angegriffene Werbung auf der Verpackung angebracht ist und ein Verbot M oder den Konzern zwingen würde, die Ausgestaltung der Ware durch eine neue Verpackung zu verändern. Die Rechtfertigungsgründe (vgl Rn 139 ff) des Art 36 AEUV greifen für die Ziele des Verbots nicht ein. In Betracht kommen nur die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe der Cassis-Formel, die hier anwendbar sind, weil die staatliche Maßnahme unterschiedslos gilt, also nicht faktisch diskriminierend ist. Allerdings können die Beschränkungen auch nicht durch zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls gerechtfertigt werden. Denn letztlich wurden die Interessen der Verbraucher gewahrt. Die Preise sind nicht erhöht worden. Auch kann ein verständiger Verbraucher zwischen der Größe des Werbeaufdrucks und der Mengenerhöhung unterscheiden. Soweit die Händler während der kurzen Dauer der fraglichen Werbekampagne mittelbar gezwungen werden, ihre Preise nicht zu erhöhen, dient auch dies dem Verbraucherschutz. Damit kann das Werbeverbot nicht auf ein zwingendes Erfordernis gestützt werden. Zumindest würde es die Warenverkehrsfreiheit unverhältnismäßig beschränken. Daher muss das Gericht wegen des Vorrangs der unmittelbar anwendbaren unionsrechtlichen Regel (Rn 10) die Unterlassungsklage abweisen.
Lösung Fall 12: Bedenken gegen die Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art 258 AEUV bestehen nicht. In der Sache sind die Grundfreiheiten anwendbar, weil ein (zu unterstellender) grenzüberschreitender Verkauf von Anhängern den notwendigen Binnenmarktbezug herstellt. Anwendbar ist die Warenverkehrsfreiheit nach Art 34 AEUV, da Anhänger körperliche Gegenstände im Handelsverkehr sind. Das weite Beschränkungsverbot nach der Dassonville-Formel ist hier berührt, weil ein Verwendungsverbot im Zielstaat dort potenziell die Käufer von einer Kaufentscheidung abhalten wird und so mittelbar der grenzüberschreitende Handel Gefahr läuft zu schrumpfen. Fraglich ist, ob eine Nutzungs- bzw Verwendungsmodalität vorliegt und eine solche Modalität wie Verkaufsmodalitäten iSd Keck-Rspr zu behandeln ist. Von der Grundstruktur ist auch die Verwendungsmodalität nicht produktbezogen, weil keine Änderungen am Produkt erforderlich sind. Der EuGH geht auf die Frage der Übertragung der Keck-Rspr indes nicht ausdrücklich ein, sondern hebt insofern hervor, dass Art 34 AEUV die Verpflichtung widerspiegelt, sowohl die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der gegenseitigen Anerkennung von Erzeugnissen, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden, einzuhalten als auch Erzeugnissen aus der Union einen freien Zugang zu den nationalen Märkten zu gewähren. Er stellt ferner darauf ab, ob der Zugang zum Markt eines Mitgliedstaates für Erzeugnisse aus den Mitgliedstaaten behindert wird. Für Anhänger, die nicht eigens zum Anhängen an Motorräder konzipiert wurden, hält der Gerichtshof dies nicht für erwiesen (da die Anhänger auch von anderen Kfz genutzt werden können). Als Beschränkung wird dagegen das Verbot insoweit angesehen, als es die Nutzung von Anhängern betrifft, die spezifisch für Motorräder produziert wurden. Das Verwendungsverbot habe damit erheblichen Einfluss auf das Kaufverhalten der Verbraucher. Dies wirke sich wiederum auf den Marktzugang der Erzeugnisse aus Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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und behindere deren Einfuhr. Insofern besteht die Binnenmarkt-Unbedenklichkeit, die das Telos der Keck-Formel bildet, gerade nicht. Auch mag zwar keine Produktbezogenheit im eigentlichen Sinne vorliegen, doch trifft das Verbot der Verwendung des Produkts die Vertragspartner sogar stärker als die Obliegenheit, Anpassungen am Produkt vorzunehmen, um es verkehrsfähig zu machen. Damit bleibt der Tatbestand des Art 34 AEUV hier erfüllt. Jedoch sieht der EuGH die Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit durch zwingende Erfordernisse des allgemeinen Gemeinwohls iSd Cassis-Rspr als gerechtfertigt an (Sicherheit des Straßenverkehrs) und gesteht Italien insofern einen Beurteilungsspielraum zu.
(4) Übertragbarkeit der Keck-Rspr auf die anderen Grundfreiheiten? 135 Ob sich die Grundsätze der Keck-Rspr auf die anderen Grundfreiheiten übertra-
gen lassen, ist nicht abschließend geklärt. Die jüngere Rspr, die im Ganzen eine eher restriktive Haltung zur Keck-Ausnahme einnimmt und insbesondere ein weites Diskriminierungsverständnis zugrunde legt (Rn 38), spricht im Ergebnis ebenso wie der Umstand, dass der Gerichtshof trotz unterschiedlicher Möglichkeiten bislang keine ausdrückliche Übertragung vorgenommen hat, gegen eine Anwendung im Bereich der übrigen Grundfreiheiten. Die Keck-Ausnahme mit ihren präzise formulierten Voraussetzungen bleibt damit eine Besonderheit des freien Warenverkehrs. Dabei käme eine Übertragung auf die Dienstleistungsfreiheit, aber auch auf die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit durchaus in Betracht und ist auch erwogen worden. So hat der EuGH hat in der Entscheidung Alpine Investments (in der es um das Verbot einer grenzüberschreitenden Telefonwerbung ging) die Kriterien der Keck-Entscheidung auch für die Dienstleistungsfreiheit in Betracht gezogen, die aber letztlich keine Anwendung finden konnte, weil hier ein Marktzugangshindernis für die Dienstleistung errichtet wurde, das wegen der von der Keck-Entscheidung abweichenden Eingriffsrichtung (Beschränkung durch den Herkunftsstaat) gerade nur zu einer Erschwerung der aus diesem Mitgliedstaat stammenden Leistungen führte.440 In der Folge hat der Gerichtshof dann auch bei der Dienstleistungsfreiheit nicht mehr auf die Keck-Grundsätze zurückgegriffen.441 Gleiches gilt für die Kapitalverkehrsfreiheit, bei der er die Anwendung dieser Rspr ebenfalls vermied.442 Bei beiden Grundfreiheiten ist in den Fällen, in denen lediglich (unverkörperte) Produkte bzw (produktähnliche) Leistungen die Grenze überschreiten, eine strukturelle Vergleichbarkeit mit der Warenverkehrsfreiheit gegeben. Alle die-
440 EuGH, Rs C-384/93, Slg 1995, I-1141, Rn 33 ff – Alpine Investments. 441 Vgl EuGH, Rs C-134/03, Slg 2005, I-1167 – Viacom Outdoor; verb Rs C-544/03 u C-545/03, Slg 2005, I7723 – Mobistar; Urt v 8.6.2017, Rs C-580/15, Rn 29 ff – Van der Weegen. S auch EuGH, Urt v 3.12.2020, Rs C-311/19 – BONVER WIN. 442 EuGH, Rs C-171/08, Slg 2010, I-6817 Rn 65 ff – Kommission/Portugal.
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se Grundfreiheiten sind tatbestandlich weit gefasste Beschränkungsverbote und damit einer Begrenzung im Randbereich zugänglich, bei der, entsprechend der teleologischen Begründung der Keck-Formel443, die staatlichen Eingriffsmaßnahmen nicht geeignet sind, den Binnenmarkt zu beeinträchtigen, da sie den Marktzugang für ausländische Anbieter nicht versperren und diese Anbieter auch nicht stärker behindern als inländische. Allerdings ist natürlich die Abgrenzung zwischen (unkörperlicher) Dienstleistung bzw Kapitalbewegung auf der einen und einer „Erbringungsmodalität“ auf der anderen Seite schwieriger als die Trennung zwischen produktbezogenen Maßnahmen bei (körperlichen) Waren und reinen Verkaufsmodalitäten. Überdies ist jedenfalls die Dienstleistungsfreiheit durch die Einbeziehung von Personen als Dienstleistungserbringern der Niederlassungs- und Arbeitnehmerfreizügigkeit ebenfalls verwandt; bei diesen beiden Grundfreiheiten kommt wegen des schon ursprünglich engeren Verständnisses des Beschränkungsverbots (va Marktzutrittshindernisse; Rn 43) eine Übertragung der Keck-Rspr richtigerweise von vorneherein nicht in Betracht. So hat der Gerichtshof die Keck-Ausnahme auch hier zu Recht nicht angewandt.444 Daher neigt die Rspr jedenfalls bei der Dienstleistungsfreiheit zu einem dem 136 Keck-Gedanken zwar funktionell vergleichbaren Ansatz, der aber subsumtionstechnisch weniger präzise gefasst ist. Sie unterscheidet zwischen einem Kernbereich der Dienstleistungsfreiheit, der betroffen ist, sofern der Zugang zum Markt beeinträchtigt wird, und innerhalb dessen uneingeschränkt das Beschränkungsverbot gilt, und einem Randbereich, der beeinträchtigt wird, sofern die staatliche Maßnahme ohne Auswirkung auf den Zugang der Dienstleistung zum Markt ist, und bei dem nur ein Diskriminierungsverbot gilt.445 Damit sind ähnlich wie bei den Personenverkehrsfreiheiten der Niederlassungsfreiheit und der Arbeitnehmerfreizügigkeit alle Beschränkungen des Zugangs (nicht nur Diskriminierungen) verboten (zB bei Anforderungen an die Qualifikation des Dienstleistungserbringers, an den Kreis der Dienstleistungsempfänger und bei Niederlassungserfordernissen), aber
443 EuGH, verb Rs C-267/91 u C-268/91, Slg 1993, I-6097, Rn 17 – Keck. 444 Vgl zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 102 f – Bosman, zur Niederlassungsfreiheit EuGH, Rs C-518/06, Slg 2009, I-3491, Rn 62 ff – Kommission/Italien; Urt v 10.12.2015, Rs C-594/14, Rn 22 ff – Kornhaas = EuZW 2016, 155 m Bespr Kindler S 136 ff = EWS 2016, 48 m Bespr Wansleben S 72 ff (ohne ausdrückliche Erwähnung der Keck-Rspr). 445 Vgl EuGH, Rs C-134/03, Slg. 2005, I-1167 – Viacom Outdoor; verb Rs C-544/03 u C-545/03, Slg 2005, I7723 – Mobistar; Urt v 8.6.2017, Rs C-580/15, Rn 29 ff – Van der Weegen. Entsprechend auch (ohne diese Terminologie) EuGH, Urt v 3.3.2020, Rs C-482/18, EWS 2020, 104, Rn 24 ff – Google Ireland Ltd; Urt v 3.12.2020, Rs C-311/19, Rn 30 ff – BONVER WIN; Urt v 27.4.2022, Rs C-674/20 – Airbnb Ireland/Région de Bruxelles-Capitale = EuZW 2022, 802 m Anm Gundel; dazu auch Rigaux, Europe 6/2022, 22 f; Urt v 22.12.2022, Rs C-88/21 – Airbnb Ireland u Airbnb Payments.
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bei nicht zugangsrelevanten Maßnahmen nur Ungleichbehandlungen tatbestandlich relevant (zB bei Vorgaben für Geschäftsöffnungszeiten, dem Erbringungsort, der Werbung sowie nicht prohibitiv hohen Gebühren und Abgaben). Für die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit erscheint die Rspr noch weitgehend offen, so dass hier entsprechende Maßstäbe angewendet werden können.
dd) Zuordnungsschwierigkeiten 137 Generell ist wegen des weiten Verständnisses der faktischen Diskriminierung eine
präzise Abgrenzung zu reinen Beschränkungen nicht immer leicht. Auch der Gerichtshof führt sie nicht immer klar durch und subsumiert auch nicht in klassischer Weise. Dies gilt gerade dann, wenn es für die tatbestandliche Prüfung irrelevant ist, ob eine faktische Diskriminierung oder eine reine Beschränkung vorliegt. Zudem kann man eine Diskriminierung auch immer zugleich als Beschränkung betrachten. In Bezug auf die Diskriminierung hat sich gezeigt, dass unterschiedliche Geltung (formale bzw direkte bzw offene Diskriminierung) und unterschiedliche Wirkung (faktische bzw indirekte bzw versteckte Diskriminierung) auseinanderfallen können und damit die Bezeichnung als „unterschiedslos geltende bzw anwendbare“ Maßnahme noch nichts über die Einordnung als faktisch („unterschiedlich wirkende“) diskriminierende Beeinträchtigung oder komplett neutrale Beschränkung, die Inländer wie Ausländer „gleichermaßen betrifft“, aussagt. So lag in der Rechtssache Cassis de Dijon,446 in der es um die Beschränkung des Warenverkehrs für alkoholische Getränke durch Festsetzung eines Mindestalkoholgehalts ging, zwar formal eine für Inund Ausländer unterschiedslos geltende Maßnahme vor. Tatsächlich war die Inlandsproduktion aber im Vorteil, weil sie typischerweise bereits dem Standard entsprach und somit ohne zusätzliche Anpassungskosten vermarktet werden konnte.447 In keiner Weise diskriminierend, sondern nur beschränkend wirken dagegen zB allgemein geltende Transferregeln im professionellen Sport,448 nationale Regelungen, nach denen inländischen und EU-ausländischen Arbeitnehmern kein Abfindungsanspruch zusteht, wenn sie ihr Arbeitsverhältnis selbst kündigen,449 sowie nationale Regelungen, die inländische und EU-ausländische Arbeitgeber zur Zahlung eines Mindestlohns an ihre Arbeitnehmer verpflichten.450 Eine Verletzung (nur) des Beschränkungsverbots ist sogar denkbar, wenn die Inländer typischerweise schlechter
446 447 448 449 450
EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Rewe-Zentral AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein. Gundel, JURA 2001, 79 (83). Vgl EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 99 – Bosman. EuGH, Rs C-190/98, Slg 2000, I-493, Rn 15 ff – Graf. EuGH, Rs C-164/99, Slg 2002, I-787, Rn 16 ff – Portugaia Construções = JK 2002, EGV Art 49 ff/5.
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als die EU-Ausländer behandelt werden.451 Dass der EuGH in seiner Rspr häufig auf eine Abgrenzung von Diskriminierung und Beschränkung verzichtet und nur den einen oder anderen Aspekt prüft,452 leuchtet aus prozessökonomischen Gründen ein, wenn bereits die eine der verschiedenen Beeinträchtigungsarten erfüllt ist. Hinzu kommt, dass er wie im Fall der Dassonville-Formel alternative Tatbestandsumschreibungen entwickelt hat, die zwar der Abgrenzung zwischen Diskriminierung und Beschränkung nicht widersprechen, aber gewissermaßen quer zu ihr stehen und eine genauere Differenzierung verschleiern können. So ist es möglich, dass der Gerichtshof bei offenen Diskriminierungen nur hierauf (und nicht in der Folge auch auf die Beschränkung) abstellt.453 Auch kann es sein, dass im Falle eines Zusammentreffens von faktischen Diskriminierungen und Beschränkungen jedenfalls dann, wenn der Markt- oder Berufszugang als solcher behindert und damit in den Kernbereich der Gewährleistung eingegriffen wird, nur das Beschränkungsverbot geprüft wird.454 Allerdings kann es ebenso vorkommen, dass er nacheinander unterschiedliche Beeinträchtigungsarten, wie zB bei einer Ablehnung einer Diskriminierung in der Folge das Beschränkungsverbot, prüft.455 Bedeutsam werden präzise Abgrenzungen nur in den begrenzten folgenden 138 Konstellationen, in denen sie ergebnisrelevant sind: Auf Tatbestandsebene ist es unerheblich, ob eine formale oder faktische Diskriminierung oder eine Marktzutrittsbeschränkung vorliegt. Sie alle greifen in den Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten ein. Bei der Warenverkehrsfreiheit ist allein im Falle bestimmter Vertriebsmodalitäten relevant, ob eine reine (nicht diskriminierende) Beschränkung oder eine formale oder faktische Diskriminierung vorliegt, da nur letztere tatbestandsmäßig sind. Bei den anderen Grundfreiheiten lässt sich die Rspr dahingehend zusammenfassen, dass die wesentliche Abgrenzungslinie zwischen Marktzutrittsbeschränkungen, die auch ohne Diskriminierung tatbestandsmäßig sind,
451 Vgl Hirsch, ZEuS 1999, 503 (509), mit Hinweis auf EuGH, Rs C-15/96, Slg 1998, I-47 ff – SchöningKougebetopoulou (in dem Fall ging es um die Anwendbarkeit einer BAT-Regelung, die eine Höhergruppierung von Fachärzten im öffentlichen Dienst vorsieht, wenn sie über eine bestimmte Zeitdauer als Fachärzte im BAT-Anwendungsbereich tätig waren). 452 Vgl bspw EuGH, Urt v 9.3.2017, Rs C-342/15 – Piringer = NJW 2017, 1455 m Anm Böttcher = EuZW 2017, 394 m Bespr Waldhoff S 382 ff; dazu Michel, Europe 5/2017, 23 f. 453 Vgl zB EuGH, Rs C-45/93, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien. Vgl auch Valta Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S 103 ff. 454 Hierfür ist die Cassis de Dijon-Entscheidung (EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Rewe-Zentral AG/ Bundesmonopolverwaltung für Branntwein) ein Beispiel. Vgl ebenfalls für eine Marktzugangsargumentation bei einer faktischen Schlechterstellung von Auslandssachverhalten EuGH, Urt v 27.1.2022, Rs C-788/19 – Kommission/Spanien. 455 Vgl EuGH, Urt v 13.3.2019, Rs C-437/17, Rn 26 ff – Gemeinsamer Betriebsrat EurothermenResort Bad Schallerbach.
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und solchen Beeinträchtigungen liegt, die sich nicht auf den Marktzutritt auswirken und daher zumindest faktisch diskriminierend wirken müssen. Allgemein gesagt, verengt sich die Grundfreiheit, die im Kernbereich ein Beschränkungsverbot ist, im Randbereich auf ein Diskriminierungsverbot.456 Auf der Rechtfertigungsebene457 ist es gleichgültig, ob eine faktische Diskriminierung oder eine reine Beschränkung vorliegt, da auf beide dieselben Rechtfertigungsgründe, nämlich sowohl geschriebene als auch ungeschriebene, angewendet werden können. Die Trennlinie der relevanten Unterscheidung liegt hier gegenüber den formalen Diskriminierungen, auf die nur die geschriebenen Rechtfertigungsgründe anwendbar sind. Freilich kann sich gerade in der Fallbearbeitung eine klare Abgrenzung bzw eine Subsumtion unter die vom EuGH verwendeten Formeln aus Gründen der Übersichtlichkeit durch Tatbestands- und Rechtfertigungsebene hindurch anbieten, auch wo es streng genommen im Ergebnis auf sie nicht ankommt.
3. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten 139 Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten können gerechtfertigt werden. Dies setzt
insbesondere das Vorliegen eines ausdrücklichen (Rn 143 ff) oder eines ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes (Rn 152 ff) sowie als „Schranken-Schranken“ insbesondere eine Verhältnismäßigkeitsprüfung (Rn 159 ff) voraus. Die Rechtfertigungsgründe unterliegen dabei als Begriffe des Unionsrechts der Auslegungshoheit des EuGH.458 Die Beweislast für die Rechtfertigung trägt grds der Verpflichtete.
a) Keine abschließende Regelung durch Sekundärrecht und Eingriffe auf gesetzlicher Grundlage 140 Der Rückgriff auf die Rechtfertigungsgründe des Vertrages setzt allerdings zunächst voraus, dass das Sekundärrecht der EU keine abschließende Regelung bezüglich der Rechtfertigungsanforderungen trifft.459 Dies kann der Fall sein, wenn in ei-
456 Vgl Lecheler/Gundel Übungen, S 177 f. S ferner idS Jarass, EuR 2000, 705 (711), wonach ein Eingriff in den Kernbereich der Grundfreiheiten generell als Beschränkung einzustufen ist, unabhängig davon, ob er zu einer Schlechterbehandlung im jeweiligen Fall führt. Zum Ganzen auch Eilmannsberger, JBl 1999, 345 (347 ff). 457 Dazu sogleich Rn 139 ff. 458 Lecheler ER, S 241. 459 Vgl EuGH, Rs C-322/01, Slg 2003, I-14887 ff, Rn 102 – DocMorris (→ Rn 29, Fall 1) = JK 2004, EGV Art 28/4; für die Niederlassungsfreiheit Müller-Graff in: Streinz EUV/AEUV, Art 52 AEUV Rn 6. Für die DienstleistungsRL EuGH, Urt v 16.6.2015, Rs C-593/13, Rn 28, 40 – Rina Services.
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nem Sachbereich Harmonisierungsmaßnahmen hinsichtlich des konkret verfolgten Schutzziels getroffen worden sind (zB hinsichtlich des Gesundheitsschutzes) und einen Rückgriff der Mitgliedstaaten auf das primärrechtliche Schutzgut damit versperren.460 Dies ergibt sich als notwendige Folge des Vorrangs des Unionsrechts (Rn 10). Diese Konstellation ist von derjenigen zu unterscheiden, in der das Sekundärrecht bereits den Rückgriff auf die Grundfreiheiten insgesamt sperrt, weil der gesamte Sachbereich vollständig sekundärrechtlich geregelt ist (Rn 140).461 Sofern dies nicht der Fall ist, ist es denkbar, dass sich aus dem Sekundärrecht mit einem begrenzteren Geltungsanspruch nur Vorgaben hinsichtlich der Voraussetzungen oder Modalitäten der Rechtfertigung ergeben. Besondere Bedeutung hat dies im Bereich des Aufenthaltsrechts.462 Für die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit benennt zudem die DienstleistungsRL 2006/123 unzulässige Anforderungen, die von einer Rechtfertigung ausgeschlossen werden.463 In anderen Bereichen eröffnet die Richtlinie hingegen ausdrücklich den Rückgriff auf die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe, wie sie aus dem Bereich der Grundfreiheiten bekannt sind.464 Im Fall einer vollständigen oder teilweisen Vorgabe der Rechtfertigungsvoraussetzungen durch das Sekundärrecht müssen dessen Regelungen vorrangig beachtet werden. Eine Ergänzung oder Durchbrechung kommt nur dann in Betracht, wenn das Sekundärrecht entweder eine Lücke enthält, also ergänzungsbedürftig ist, oder aber seinerseits gegen Primärrecht verstößt,465 weil es die Abwägung widerstreitender primärrechtlicher Rechtspositionen wie Grundfreiheiten und Grundrechte nicht korrekt vornimmt; hier ist dann entweder eine primärrechtskonforme Auslegung oder eine Ersetzung des Sekundärrechts durch die primärrechtlichen Vorgaben geboten. Fehlt ein entsprechender Anhaltspunkt im Sachverhalt des konkreten Falles, ist aber in der Regel davon auszugehen, dass der Interessenausgleich des Primärrechts angemessen ist. Hiervon zu unterscheiden ist der Fall, dass sich das eine Grundfreiheit beein- 141 trächtigende Tun, Dulden oder Unterlassen eines Mitgliedstaates (oder eines Pri-
460 Vgl EuGH, Rn 215/87, Slg 1989, 617, Rn 15 – Schumacher; Rs C-317/92, Slg 1994, I-2039, Rn 12 ff – Kommission/Deutschland; Rs C-320/93, Slg 1994, I-5243, Rn 14 – Ortscheit; Rs C-5/94, Slg 1996, I-2553, Rn 18 ff – Hedley Lomas. 461 Vgl EuGH, v 14.3.2013, C-216/11, Rn 27 – Kommission/Frankreich; ferner Jarass, EuR 2000, 705 (719 f); vgl aber auch Art 114 IV ff AEUV und dazu im Überblick Streinz ER, Rn 996 ff. 462 Vgl Art 27, 28 der AufenthaltsRL 2004/38. 463 Zu Art 14 RL 2006/123 vgl EuGH, Urt v 16.6.2015, Rs C-593/13, Rn 28, 40 – Rina Services = EuZW 2015, 638 m Anm Malferrari. 464 Allerdings legt sie die Rechtfertigungsvoraussetzungen selbst fest; s Art 15 III RL 2006/123 und dazu EuGH, Urt v 4.7.2019, Rs C-377/17 – Kommission/Deutschland (HOAI) = DVBl 2019, 1540 m Anm Hermanns = EuZW 2019, 660 m Anm Schäfer = NJW 2019, 2529 m Bespr Orlowski S 2505 ff = NVwZ 2019, 1120 m Anm Oriwol/Honer = RIW 2019, 517; dazu auch Metz, EWS 2020, 26 ff. 465 Vgl zB EuGH, Rs C-434/02, Slg 2004, I-11825, Rn 59 – Arnold André GmbH.
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vaten) unmittelbar oder mittelbar auf Sekundärrecht stützt.466 Dann ist dieses und nicht das mitgliedstaatliche Recht am Maßstab der Grundfreiheiten zu messen; das nationale Recht teilt im Falle des Verstoßes des Sekundärrechts gegen die Grundfreiheit dessen Schicksal. Dabei ist es unerheblich, ob der Sekundärrechtsakt im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art 289 I AEUV) oder besonderen Gesetzgebungsverfahren (Art 289 II AEUV) ergangen ist oder ob es sich um delegierte Rechtsakte (Art 290 AEUV) oder Durchführungsakte der Union (Art 291 AEUV) handelt. Bei delegierten Rechtsakten ist in formeller Hinsicht darauf zu achten, dass sich die Befugnis, die Grundfreiheiten zu beeinträchtigen, mit hinreichender Bestimmtheit im Wesentlichen (Art 290 I UAbs 2 AEUV) aus den Delegationsermächtigungen (Verordnung, Richtlinie oder Beschluss, Art 288 II–IV AEUV) ergibt. 142 Allerdings ist anders als im Falle der Grundrechte für eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten eine gesonderte gesetzliche Rechtsgrundlage nicht Voraussetzung für die Rechtfertigung. Zwar bedürfen nach der Rspr des EuGH „in allen Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder – natürlichen oder juristischen – Person einer Rechtsgrundlage.“467 Allerdings bezieht sich dieser Vorbehalt des Gesetzes als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, der sich explizit auch in Art 52 I 1 GRCh wiederfindet, nur auf die Einschränkung der Unionsgrundrechte. Es existiert mit anderen Worten kein ausdrücklicher oder impliziter Gesetzesvorbehalt für den Eingriff in die Grundfreiheiten.468 Im Gegenteil kann im Grundsatz jedes staatliche (oder im Anwendungsbereich der unmittelbaren Drittwirkung auch private) Handeln die Grundfreiheiten beeinträchtigen und hierfür einen Rechtfertigungsgrund anführen. Dies erscheint auch naheliegend, weil gerade im Bereich des Binnenmarktes in Anbetracht der unterschiedlichen Traditionen der Mitgliedstaaten ein gesetzliches Handeln nicht ausnahmslos die Regel sein dürfte. Insofern spielen für die Grundfreiheiten die Unklarheiten, welche die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen für den Gesetzesbegriff bedeuten,469 keine wesentliche Rolle. In der Praxis wird es allerdings häufig der Fall sein, dass es sich um Eingriffsmaßnahmen in Gesetzesform oder sonstiger Rechts-
466 Mittelbar ist das Sekundärrecht betroffen, wenn zwar eine nationale Vorschrift angewendet wird, diese aber auf einer korrekten Umsetzung einer Richtlinie der EU beruht. 467 EuGH, verb Rs 46/87 u 227/88, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst. 468 In der Lit wird die Problemstellung kaum diskutiert. Gegen Geltung eines Gesetzesvorbehalts Frenz GF, Rn 519. 469 Entscheidend ist das Vorliegen einer klaren, hinreichend bestimmten und ausreichend zugänglichen Rechtsgrundlage. Dann lässt auch der EGMR eine Einschränkung der EMRK-Rechte auch durch ungeschriebenes Recht zu (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 87 ff). Gleiches ist für die Unionsgrundrechte anzunehmen (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 126 ff). Vgl auch Jarass, EuR 1995, 202 (222).
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§ 12 Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten
satzform handelt. Dies gilt jedenfalls, sofern zugleich ein Eingriff in die Grundrechte wie zB der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh), der unternehmerischen Freiheit (Art 16 GRCh) oder des Eigentums (Art 17 GRCh) gegeben ist, weil dann das Grundrecht gem Art 52 I 1 GRCh einen Gesetzesvorbehalt für seinen Gewährleistungsgehalt aufstellt. Die Grundfreiheiten werden nach gefestigter Rspr verletzt, wenn ihre Einschränkung den Unionsgrundrechten widerspricht (Rn 17, 140; → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 26). Bedeutsamer als die Frage eines Gesetzesvorbehalts ist das Erfordernis, dass im Falle staatlicher Ermessensbetätigung diese auf objektiven, nicht diskriminierenden, im Voraus bekannten Kriterien beruht.470 Dieses Erfordernis ist allerdings eher dem Bereich der Verhältnismäßigkeit zuzuordnen, weil ein Verstoß gegen diese Kriterien jedenfalls nicht das mildestmögliche Mittel darstellt.
b) Geschriebene Rechtfertigungsgründe Fall 13: (EuGH, Rs. C-262/02, Slg 2004, I-6569 ff – Kommission/Frankreich = JK 2005, EGV Art 49/12)
Ein frz Gesetz, die „Loi Evin“, verbietet Alkoholwerbung im Fernsehen. Betroffen ist davon auch die indirekte Werbung, die nicht als eigener Werbespot gesendet wird, sondern beim Ausstrahlen einer Sendung zwangsläufig mitübertragen wird, wie zB die Banden- oder Trikotwerbung bei der Übertragung von Sportereignissen. Erfasst von dem Verbot sind auch im Ausland stattfindende Sportereignisse, wenn dabei indirekte Werbung zu sehen ist. Ist das frz Gesetz mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar?
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Der Vertrag enthält für alle Grundfreiheiten geschriebene Rechtfertigungsgrün- 144 de (Art 36, 45 III, 52 (iVm 62), 64, 65 AEUV). Alle Regelungen erlauben zumindest eine Beschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung und (oder) Sicherheit. Für die Beschränkung des Warenverkehrs nennt der Vertrag zahlreiche weitere Rechtfertigungsgüter (Sittlichkeit, Gesundheit, Leben, nationales Kulturgut, gewerbliches und kommerzielles Eigentum).471 Die Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit darf aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie der öffentlichen Gesundheit472 beschränkt werden. Eine Beschränkung der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs ist insbesondere im Verhältnis zu Drittstaaten
470 EuGH, Urt v 8.5.2013, verb Rs C-197/11 u C-203/11, EuZW 2013, 507, Rn 57 – Libert ua. 471 Nach Art 36 S 2 AEUV dürfen die Verbote oder Beschränkungen kein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder verschleierten Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen (→ Epiney, § 13 Rn 94). Vgl mit weiteren Fallbeispielen auch Craig/de Búrca EU, S 684 ff. 472 Vgl zur Unterbindung des Drogentourismus in den Niederlanden EuGH, Rs C-137/09, Slg 2010, I13019, Rn 60 ff – Josemans = JK 2011, AEUV Art 56/1 (→ Rn 89 Fall 8), abl Anm Schröder, JZ 2011, 629 ff.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
(Art 64 AEUV) sowie aus steuerlichen Gründen erlaubt (Art 65 I AEUV). Hierbei sollen die Schranken der Niederlassungsfreiheit unberührt bleiben (Art 65 II AEUV), was aber für das Verhältnis der beiden Grundfreiheiten keine entscheidende Bedeutung hat. Lediglich für das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV enthält der Vertrag keine expliziten geschriebenen Rechtfertigungsgründe, wenn man nicht für den praktisch bedeutsamsten Anwendungsfall der allgemeinen Freizügigkeit nach Art 18 iVm Art 21 AEUV eine geschriebene Rechtfertigungsmöglichkeit aus den „in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ iSd Art 21 I AEUV ableiten und die Rechtfertigungsgründe der Grundfreiheiten so gleichsam inkorporieren möchte. Die Rspr ist in dieser Hinsicht dogmatisch unbefriedigend, weil sie im Falle formaler Diskriminierungen, die lediglich durch geschriebene Gründe gerechtfertigt werden können (Rn 143 ff), insofern keine klare Stellung bezieht.473 145 Die geschriebenen Rechtfertigungsgründe gelten für sämtliche Formen der Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten, dh ebenso für formale und faktische Diskriminierungen wie reine Beschränkungen. Dies gilt auch für die ihrer Formulierung nach nur für „Sonderregelung[en] für Ausländer“ geltende Bestimmung des Art 52 I AEUV (iVm Art 62 AEUV), die a maiore ad minus auch unterschiedslose Beschränkungsmaßnahmen rechtfertigen können.474 Dieser weite Anwendungsbereich erklärt sich aus dem Umstand, dass der Vertrag die Gründe selbst benennt und sie in restriktiver Weise besonders wichtige Allgemeingüter schützen. In diesem Anwendungsbereich liegt der wesentliche Unterschied zu den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen, die auf formale Diskriminierungen nicht anwendbar sind. 146 Für die Frage der Einschlägigkeit des jeweiligen Rechtfertigungsgrundes ist die Zielsetzung der Eingriffsmaßnahme relevant. Hierbei ist in erster Linie ihre objektive Zielsetzung entscheidend,475 nicht die subjektive oder erklärte Absicht des Mitgliedstaats bzw der Union. Dabei sind sie zuweilen einer Auslegung zugänglich. So hat der Gerichtshof die Zielsetzung der Mitgliedstaaten, den Klimawandel zu bekämpfen, in dogmatisch wohl nicht unangreifbarer Weise außer dem Umweltschutz auch dem Rechtfertigungsgrund des Gesundheitsschutzes zugeordnet,476 da dieser als geschriebener Rechtfertigungsgrund die betroffenen formal diskriminierenden
473 Vgl zuletzt EuGH, Urt v 10.2.2022, Rs. C-522/20 – OE = IPRax 2022, 373 m Bespr Hau S 342 ff; dazu auch Engel, GPR 2022, 164 ff; Idot, Europe 4/2022, 45. 474 Vgl EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 28 – Omega; ebenso auch Streinz ER, Rn 865. 475 Vgl Cremer, NVwZ 2004, 668 (673). 476 EuGH, Urt v 1.7.2014, Rs C-573/12 – Ålands Vindkraft = NVwZ 2014, 1073 m Anm Ehrmann = EuZW 2014, 620 m Anm Ludwigs = RdE 2014, 380 m Anm Gundel = EuR 2014, 567 m Anm Glinski; Urt v 11.9.2014, verb Rs C-204/12 bis C-208/12 – Essent Belgium; dazu Germelmann, EurUP 2014, 329 ff; ferner EuGH, Urt v 29.9.2016, Rs C-492/14 – Essent Belgium II = RdE 2016, 505 m Anm Gundel = EnWZ 2016,
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mitgliedstaatlichen Maßnahmen rechtfertigen konnte. Für den – ungeschriebenen – Grund des Umweltschutzes allein wäre dies nicht ohne Weiteres möglich gewesen.477 Diese Auslegung des Verhältnisses von Gesundheitsschutz und Umweltschutz hat zwar durchaus eine gewisse tatsächliche Plausibilität für sich und nähert sich auch Ansätzen auf internationaler Ebene an, die Umwelt- und Gesundheitsschutz immer stärker integriert betrachten.478 Sie ist jedoch aus unionsrechtsdogmatischer Sicht angreifbar, weil sie zum einen nicht der primärrechtlichen Abgrenzung der Unionspolitiken entspricht (Art 168 AEUV einerseits, Art 191, 192 AEUV andererseits) und insofern die Grenzen der Gesundheitspolitik unter Zugrundelegung einer umweltschutzpolitischen Langfristperspektive allzu weit ausdehnt. Auch mögen konkrete gesundheitspolitische Ziele mit spezifischen Umweltschutzzielen wenig zu tun haben. Zum anderen entspricht sie auch nicht dem restriktiven Ansatz, den der EuGH sonst im Falle der geschriebenen Rechtfertigungsgründe vertritt. Verfolgen die Mitgliedstaaten Ziele, die mit dem sonstigen Unionsrecht – na- 147 mentlich dem Sekundärrecht – kollidieren, vermögen diese nicht die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten zu rechtfertigen, da sie bereits wegen Verstoßes gegen dieses speziellere Recht unanwendbar sind. IdR sind dann die Grundfreiheiten bereits als Prüfungsmaßstab nicht anwendbar (Rn 93). Die Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Maßnahmen aufgrund der „öffentlichen 148 Ordnung und (oder) Sicherheit“ kommt nur in restriktiv bestimmten Fällen in Betracht. Diese unionsrechtlichen Rechtsbegriffe sind nämlich – wie die Schrankenregelungen insgesamt und gänzlich anders als im deutschen (Sicherheits- und Ordnungs-)Recht – nach stRspr des EuGH eng auszulegen.479 Dies wird insbesondere aus dem Ausnahmecharakter sowie dem Gebot effektiver Freiheit und Gleichheit herge508 m Anm Nysten; dazu Bruck, Europe 11/2016, 25 f; Urt v 22.6.2017, Rs C-549/15, Rn 85, 89 – E.ON Biofor Sverige = RdE 2017, 524 m Anm Gundel; dazu Roset, Europe 8/2017, 40 f. 477 Hier ist die Rspr schon länger dogmatisch unbefriedigend; s EuGH, Rs C-2/90, Slg 1992, I-4431 – Kommission/Belgien = EuZW 1992, 577 m Anm Tostmann; Rs C-209/98, Slg 2000, I-3743 Rn 48 ff – Sydhavnens; Rs C-379/98, Slg. 2001, I-2099 – PreussenElektra = EuZW 2001, 242 m Anm Ruge = RdE 2001, 137 m Anm Lecheler. 478 Vgl den sog One Health-Ansatz, den etwa die WHO vertritt; s die Resolution der World Health Assembly, WHA74.7 v 31.5.2021, „Strengthening WHO preparedness for and response to health emergencies“; ferner den „One health joint plan of action (2022‒2026): working together for the health of humans, animals, plants and the environment“ der UN Food and Agriculture Organization (FAO), des United Nations Environment Programme (UNEP), der World Organisation for Animal Health (WOAH, ehem OIE) und der World Health Organization (WHO) v 14.10.2022, insb S 47 f; bezogen auf die Klimawandel auch Stephen/Duncan/Pollock in: Zinsstag/Schelling/Crump/Whittaker/Tanner/Stephen, One Health, 2. Aufl 2021, S 205 ff. 479 Vgl etwa EuGH, Rs 41/74, Slg 1974, 1337, Rn 18 – Van Duyn; Rs 46/76, Slg 1977, 5, Rn 12 ff – Bauhuis; Rs 113/80, Slg 1981, 1625, Rn 7 – Kommission/Irland; Rs C-205/89, Slg 1991, I-1361, Rn 9 – Kommission/ Griechenland; krit Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 86 f.
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leitet. Es müssen staatliche Interessen von fundamentaler Bedeutung berührt sein,480 welche die Grundinteressen der Gesellschaft481 (öffentliche Ordnung) oder die innere oder äußere Sicherheit (öffentliche Sicherheit) betreffen, also wesentlich für die Existenz des Staates sind.482 Nicht dazu gehört beispielsweise der Verbraucherschutz (der, soweit es um die Irreführung der Verbraucher geht, auch nicht dem Gesundheitsschutz, sondern den ungeschriebenen zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls, Rn 107, zugerechnet wird).483 Die konkreten Umstände, die zB die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, können von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein. Deshalb billigt der EuGH den zuständigen innerstaatlichen Behörden einen Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den Vertrag gesetzten Grenzen zu.484 Gleiches gilt für den Gesundheitsschutz, hinsichtlich dessen der Gerichtshof den Mitgliedstaaten ebenfalls Beurteilungsspielräume hinsichtlich des angestrebten Niveaus und der geeigneten Maßnahmen einräumt.485 Zu den Problemen bei der Anwendung der Schrankenregelungen im Falle einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch Private vgl Rn 75 ff, 157.
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Lösung Fall 13: Die Ausstrahlung grenzüberschreitender Fernsehsendungen unterfällt wegen des Binnenmarktbezugs den Grundfreiheiten. Einschlägig ist hier die Dienstleistungsfreiheit, da durch die Werbeunternehmen eine entgeltliche, selbständige Leistung erbracht wird.486 Zunächst war die Frage einer abschließenden sekundärrechtlichen Harmonisierung zu prüfen; die sekundärrechtlichen Regelungen der EU zur Fernsehwerbung bezogen sich aber nicht auf die indirekte Fernsehwerbung, so dass Art 56 AEUV anwendbar blieb. Das frz Gesetz beschränkt die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs, die ein weites Beschränkungsverbot darstellt, da es die Bereitstellung bestimmter Werbung verhindert bzw behindert. Zulässig ist eine solche Beschränkung gem Art 62 iVm 52 AEUV ua aus Gründen der Gesundheit; diese geschriebenen Rechtfertigungsgründe gelten nicht nur für diskriminierende Maßnahmen gegenüber Ausländern, sondern a fortiori auch für reine Beschränkungen. Maßnahmen, welche die Möglichkeiten der Werbung für alkoholische Getränke einschränken und damit zur Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs beitragen, tragen jedenfalls zum Schutz der öffentlichen Gesund-
480 Vgl Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 11 f (vgl auch Lösung → Rn 105 Fall 8). 481 EuGH, Rs C-54/99, Slg 2000, I-1335, Rn 17 – Église de scientologie. 482 Vgl EuGH, Rs 72/83, Slg 1983, 2727, Rn 34 – Campus Oil. 483 Vgl EuGH, Rs 177/83, Slg 1984, 3651, Rn 18 f – Th. Kohl KG. 484 EuGH, Rs 41/74, Slg 1974, 1337, Rn 18 – Van Duyn; Rs 30/77, Slg 1977, 1999, Rn 33 – Bouchereau; Rs C-36/02, Slg 2004 I-9609, Rn 31 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (→ Rn 160 Fall 16). 485 EuGH, Rs C-141/07, Slg 2008, I-6935, Rn 51 – Kommission/Deutschland; verb Rs C-171/07 u C-172/07, Slg 2009, I-4171 – Apothekerkammer des Saarlands (Doc Morris II) = EuZW 2009, 49 m Anm Herrmann; s auch Streinz/Herrmann, EuZW 2006, 455 ff; dies, BayVBl 2008, 1 ff; Kruis, EuZW 2007, 175 ff; Hancher/Sauter, CMLRev 47 (2010), 117; ferner EuGH, Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735, Rn 62 ff – Bressol ua; Urt v 8.6.2017, Rs C-296/15 – Medisanus = EuZW 2017, 895 m Anm Gundel. 486 Vgl auch EuGH, verb Rs C‑34/95 bis C‑36/95, Slg 1997, I-3843, Rn 48 – De Agostini.
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heit bei. Der EuGH hat die frz Fernsehwerbungsregelung auch für verhältnismäßig erachtet (ohne die Angemessenheit der Regelung näher zu prüfen).487 Typischerweise bestehen im Bereich des Gesundheitsschutzes Einschätzungsprärogativen der Mitgliedstaaten, was das angestrebte Niveau und die zur Zielerreichung ergriffenen Maßnahmen angeht.
Nicht im eigentlichen Sinne zu den geschriebenen Rechtfertigungsgründen gehören 150 Normen des sonstigen Primärrechts, die uU eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten rechtfertigen können.488 Hier sticht in erster Linie Art 106 II AEUV hervor, der im Falle der Gefahr der Verhinderung der Erbringung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse von der Einhaltung jeder Vertragsvorschrift, also auch der Grundfreiheiten befreien kann;489 hierin kann man in vertretbarer Weise auch eine Begrenzung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten sehen (Rn 93). Für den Fall, dass eine nationale Maßnahme nicht nur eine Maßnahme gleicher Wirkung iSd Art 34 AEUV, sondern auch eine Beihilfe darstellt, weil sie den in bestimmten Teilen eines Staatsgebiets ansässigen Betrieben einen prozentualen Anteil an öffentlichen Lieferaufträgen garantiert, muss man neben Art 34 AEUV auch das Beihilfenrecht der Art 107 ff AEUV parallel anwenden. Zwischen beiden unionsrechtlichen Vorgaben für die Mitgliedstaaten besteht kein Spezialitätsverhältnis.490 Dementsprechend ist es auch möglich, dass eine staatliche Maßnahme beide Verbote verletzt. Allerdings sind auch die Rechtfertigungsregelungen nicht wechselseitig austauschbar und übertragbar. Das Beihilfeverbot bemisst sich allein nach den Art 107 ff AEUV, die Rechtfertigungsvorschriften für die Grundfreiheiten werden hierdurch nicht berührt. Aus diesem Grunde obliegt es der Kommission, im Beihilfeprüfverfahren bei gegebenem Anlass beide Rechtsbereiche gesondert nach den jeweils einschlägigen Maßstäben zu prüfen und bei Verstoß gegen eine Grundfreiheit eine beihilferechtliche Genehmigung mangels Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt zu versagen, auch wenn das Beihilfeverbot über Art 107 II, III AEUV überwunden werden könnte.491 Eine parallele Rechtfertigung ist nur denkbar, wenn in beiden Fällen Art 106 II AEUV einschlägig ist.
487 S auch EuGH, Rs C-429/02, Slg. 2004, I-6613 – Bacardi France (Loi Evin) = EWS 2004, 411 m Anm Gundel S 398 ff. 488 Zum Zusammenspiel der Grundfreiheiten mit den Kompetenzen der EU vgl Valta Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S 295 ff. 489 Vgl allg Gundel in: MünchKommWettbR, Bd 1 (EUWettbR), 3. Aufl 2020, Art 106 AEUV Rn 113 ff mwN zur Entwicklung der Rspr. 490 Vgl etwa EuGH, Rs C-379/98, Slg. 2001, I-2099 – PreussenElektra = RdE 2001, 137 m Anm Lecheler. S auch EuGH, Rs C-21/88, Slg 1990, I-889 – Du Pont de Nemours Italiana. 491 Vgl EuGH, Rs 73/79, Slg 1980, 1533, Rn 11 – Kommission/Italien; Rs C-225/91, Slg. 1993, I-3203, Rn 41 – Matra/Kommission; Rs C-156/98, Slg 2000, I- 6857, Rn 78 ff– Kommission/Deutschland.
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Auch die mit den Grundfreiheiten gleichrangigen Unionsgrundrechte können auf der Rechtfertigungsebene in Betracht kommen. Allerdings musste man sie bis zum Inkrafttreten der GRCh unter die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe subsumieren. Seit der GRCh ist auch eine andere Sichtweise möglich, wobei auch die Grundrechte keine klassischen geschriebenen Rechtfertigungsgründe iSd Binnenmarktfreiheiten darstellen. Sie sind nur wegen der hierarchischen Gleichrangigkeit als Rechtfertigungsgründe einschlägig, nicht aber auf das Recht der Grundfreiheiten in gleicher Weise abgestimmt wie die geschriebenen Gründe ieS. Daher ist auch nicht mit letzter Klarheit sicher, ob die Berufung auf Grundrechte auch formal diskriminierende Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten rechtfertigen können. Hiergegen spricht, dass nicht in erster Linie ihre Gewährleistungen selbst, sondern das Schutzziel, das der Mitgliedstaat zu ihren Gunsten verfolgt, für diesen einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt; die primärrechtliche Stellung der Grundrechtsgewährleistungen verleiht diesem Ziel normenhierarchisch allerdings zusätzliches Gewicht und Durchschlagskraft. Ein Beispiel für eine Heranziehung der (damals ungeschriebenen) Grundrechte ist die Rechtssache Schmidberger (→ Epiney, § 13 Rn 83), in der der EuGH eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit wegen des Nichteinschreitens der österreichischen Behörden gegen die Sperrung der Brenner-Autobahn durch Demonstranten für gerechtfertigt erachtete und es für ausreichend ansah, dass sich der Mitgliedstaat gerade auf die Ermöglichung der Ausübung der Unionsgrundrechte der Demonstranten auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit berief. Diese Berufung auf den Schutz der Grundrechte sei geeignet, eine Beschränkung von Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Unionsrecht für ihn bestehen.492 In Anbetracht der Abwägungsnotwendigkeit zwischen den beteiligten Interessen dürfte dies heute auch nicht in Widerspruch zu Art 52 II GRCh stehen. Von dieser Konstellation zu unterscheiden ist die Heranziehung der Grundrechte als „Schranken-Schranken“ der Eingriffsmaßnahmen (Rn 158 ff). Nicht eindeutig klar ist auch, ob als – in diesem Falle eindeutig ungeschriebener – Rechtfertigungsgrund die Berufung auf den Schutz nationaler Grundrechte oder Rechte aus der EMRK ausreichen kann oder ob sich das Gewährleistungsziel des Mitgliedstaats immer auf Unionsgrundrechte beziehen muss. Der Frage kommt wegen Art 52 III, IV, Art 53 GRCh keine wesentliche Bedeutung zu. Allerdings ist aus normenhierarchischen Gründen für die Einschränkbarkeit der Grundfreiheiten richtigerweise in erster Linie auf die Unionsgrundrechte zurückzugreifen.493 Erst nach einem Beitritt der Union zur EMRK
492 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 74 – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3 → Epiney, § 13 Rn 83. 493 Vgl auch Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, 213 (215 f); aA Schorkopf, ZaöRV 64 (2004), 125 (140); v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 53 Rn 6.
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(Art 6 II EUV)494 könnten die EMRK-Rechte sowohl die Organe der EU als auch die Mitgliedstaaten kraft der Inkorporation in das Unionsrecht (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 23; § 2.2 Rn 34) binden. Nur soweit spezifische mitgliedstaatliche grundrechtliche Gewährleistungen bestehen, die der Staat schützen möchte, kann dieses Anliegen als ungeschriebenes Erfordernis des Gemeinwohls geltend gemacht werden, wobei dann allerdings der Schutzwunsch des Staates nicht durch das Gewicht der grundrechtlichen Garantie gestützt wird. Die EMRK-Rechte und die nationalen Grundrechte können ihre Wirkung zudem insofern entfalten, als sie mit dazu beitragen, die ausdrücklichen Schranken des Vertrages (zB die Frage, was unter öffentlicher Ordnung oder unter öffentlicher Sicherheit zu verstehen ist) oder die ungeschriebenen Schranken (Rn 152 f) zu konkretisieren. Sie sind weiterhin Rechtserkenntnisquellen nach Art 6 III EUV und haben nach Art 52 III, IV, Art 53 GRCh Einfluss auf die Inhalte der Unionsgrundrechte.
c) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Fall 14: (EuGH, Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931 ff – Kohll)
Nach luxemburgischem Recht werden die Kosten einer ärztlichen Behandlung im Ausland von der gesetzlichen Krankenversicherung nur erstattet, wenn auf einer Auslandsreise ein Notfall eintritt oder der Patient zuvor eine Genehmigung der Krankenversicherung eingeholt hat. Der luxemburgische Staatsangehörige K möchte eine Zahnregulierung in Deutschland vornehmen lassen. Die Genehmigung hierfür ist ihm aber verweigert worden. Er möchte wissen, ob dies mit den Grundfreiheiten vereinbar ist.
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aa) Notwendigkeit der Entwicklung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe Entnimmt man einerseits den Grundfreiheiten nicht nur ein weites Diskriminie- 153 rungs-, sondern (wie vor der Entwicklung der Keck-Rspr; Rn 121 ff) ein auch in den Randbereichen weites Beschränkungsverbot und legt man andererseits die (geschriebenen) Rechtfertigungsgründe des Vertrages äußerst eng und analogiefeindlich aus, so führt dies zu einem sehr geringen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten, wenn sie im Anwendungsbereich des Vertrages tätig sind. Dies wird der Regelungsintention der Grundfreiheiten jedoch nicht gerecht, die legitime politische Entscheidungen der Mitgliedstaaten aus sachlichen Gemeinwohlgründen nicht versperren möchte. Der EuGH hat deshalb in seiner grundlegenden Cassis de DijonEntscheidung zunächst für den Bereich des freien Warenverkehrs zwingende Er
494 S dazu aus jüngerer Zeit Germelmann/Gundel, BayVBl 2021, 583 mwN. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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fordernisse des Gemeinwohls als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe für die Mitgliedstaaten anerkannt (Rn 155). Darunter werden im allgemeinen Interesse liegende Zwecke verstanden, die von den Mitgliedstaaten definiert werden können, aber als unionsrechtliche Begrifflichkeit der Letztkontrolle des EuGH unterliegen. Existiert Sekundärrecht der EU, müssen sich die zwingenden Erfordernisse auch daran messen lassen. Allerdings bleibt gleichwohl durch das Erfindungsrecht der Mitgliedstaaten diesen eine relevante Entscheidungsprärogative. In der Folge hat der Gerichtshof auch für die anderen Grundfreiheiten ungeschriebene Rechtfertigungsgründe nach dem gleichen Muster anerkannt, wobei die Terminologie ohne Unterschied in der Sache leicht variiert.495 Insofern besteht in der Sache also kein Unterschied zwischen den einzelnen Grundfreiheiten, wenngleich man freilich nur bei der Warenverkehrsfreiheit von einer Anwendung der „Cassis-Formel“ sprechen sollte. Im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten wird häufig die Gebhard-Entscheidung des EuGH in Bezug genommen, die in vergleichbarer Weise von „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ spricht.496 154 Anders als die geschriebenen Rechtfertigungsgründe sind die ungeschriebenen nicht abschließend zu verstehen. Sie können also von den Mitgliedstaaten entsprechend ihren Bedürfnissen geschaffen und angepasst werden. Sie weisen daher die notwendige Flexibilität auf, die den geschriebenen Gründen fehlt. Als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe sind etwa der Verbraucherschutz497, die Lauterkeit des Handelsverkehrs, das Umweltrecht, kulturelle Zwecke wie die Erhaltung der Medienvielfalt498 oder die Sicherstellung der kulturellen Pluralität,499 ferner die Bekämp-
495 Vgl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit zB EuGH, C-237/94, Slg 1996, I-2617, Rn 19 – O’Flynn: „objektive […] Erwägungen“; für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit EuGH, Rs C-76/90, Slg 1991, I-4221, Rn 15 ff – Säger/Dennemeyer: „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“; EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3589, Rn 8 – Familiapress: „Allgemeininteresse“ = JK 98, EGV Art 30/1; Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll (→ Rn 152 Fall 14); Rs C-255/97, Slg 1999, I-2835, Rn 19 – Pfeiffer/Löwa: „zwingende Gründe des Gemeinwohls“; ebenso EuGH, Rs C-385/99, Slg 2003, I-4509, Rn 73 – MüllerFauré; für den Kapital- und Zahlungsverkehr vgl Kokott/Ost, EuZW 2011, 496 (500). 496 EuGH, Rs C-55/94, Slg 1995, I-4165, Rn 37 – Gebhard. Für die Dienstleistungsfreiheit kann auch bereits die Entscheidung EuGH, Rs 33/74, Slg 1974, 1299, Rn 10 ff – van Binsbergen angeführt werden. 497 Vgl Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV, Rn 45 ff; Schroeder in: Streinz, EUV/AEUV, Art 36 AEUV Rn 36 ff. 498 Jüngst wieder EuGH, Urt v 3.9.2020, Rs C-719/18, Rn 39 ff – Vivendi SA = EuZW 2020, 989 m Anm Samardzic; dazu Bassani, Europe 11/2020, 17 f; Urt v 3.2.2021, Rs C-555/19 – Fussl Modestraße Mayr/ ProSieben Sat.1 = NVwZ 2021, 785 (nur LS) m Anm Gundel = ZUM 2021, 330 m Bespr Bornemann S. 555 ff u Holznagel S. 549 ff; Tribout, Europe 4/2021, 21 f. S auch Cunha Rodrigues in: Liber amicorum Vassilios Skouris, 2015, 187 ff. 499 EuGH, Urt v 11.12.2019, Rs C-87/12 – TV Play Baltic.
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fung des Wohnungsmangels500 oder die Sicherheit des Straßenverkehrs501 anerkannt worden.502 Auch die Bewahrung der Landessprache503 und die Sicherstellung der Kontrollmöglichkeiten durch die nationalen Behörden können Rechtfertigungsgründe darstellen.504 Ein zwingender Grund kann auch die Effektivität505 und Kohärenz des nationalen Steuersystems sein.506 Gleiches gilt für den Arbeitnehmerschutz zB im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung507 und den Beschäftigungsschutz bei der Massenentlassung.508 Doch kommen auch sonstige im Allgemeininteresse liegende Zwecke mit Ausnahme rein wirtschaftlicher Gründe509 in Betracht. Der Cassis-Rspr ist ein Wertungswiderspruch vorgeworfen worden, weil die enge Auslegung der ausdrücklichen Schrankenregelungen und die Verneinung ihrer Analogiefähigkeit nicht mit der großzügigen Anerkennung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe in Einklang gebracht werden könne.510 Als methodische Alternative ist vorgeschlagen worden,
500 EuGH, Urt v 22.9.2020, verb Rs C-724/18 u C-727/18 – Cali Apartments SCI u HX (Fall Airbnb) = EuZW 2020, 1078 m Anm Schröck/Ruzin = NJW 2021, 41 m Anm Mayer/Hardan; dazu auch Hatzopoulos, CMLRev 58 (2021), 905 ff; Simon/Rigaux, Europe 11/2020, 19 f. 501 Vgl aus neuerer Zeit zB EuGH v 20.3.2014, C-639/11, Rn 54 – Kommission/Polen. 502 Kingreen in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 213 ff. 503 Vgl für den Hochschulunterricht in der Amtssprache im Interesse des Schutzes der nationalen Identität des Mitgliedstaats (Art 4 II EUV) EuGH, Urt v 7.9.2022, Rs C-391/20, Rn 66 ff – Boriss Cilevičs ua = EuZW 2022, 906 m Anm Wienbracke; dazu Bonneville/Gänser/Iljic, AJDA 2022, 2343 (2348 f); Rigaux, Europe 11/2022, 33 f. 504 Hier legt der EuGH allerdings typischerweise strenge Verhältnismäßigkeitsmaßstäbe an; s EuGH, Urt v 16.4.2013, Rs C-202/11 – Anton Las = EWS 2013, 248; dazu Cloots, CMLRev 51 (2014), 623 ff; Michel, Europe 6/2013, 23 f; Potvin-Solis, RAE 2013, 375 ff; Sprenger, EuZA 2013, 493 ff; EuGH, Urt v 21.6.2016, Rs C-15/15 – New Valmar = EuZW 2016, 717; dazu Hatzopoulos, JDE 2016, 267 ff; Rigaux, Europe 8/2016, 26 f; Brigola, EuZW 2017, 5 ff. 505 EuGH, Urt v 30.1.2020, Rs C-725/18 – Anton van Zantbeek VOF = EuZW 2020, 431 m Anm Wienbracke. 506 Vgl Kokott/Ost, EuZW 2011, 496 (500 ff). 507 EuGH, Rs C-113/89, Slg 1990, I-1417 – Rush Portuguesa; verb Rs C-49/98 ua, Slg 2001, I-7831 – Finalarte; Rs C-164/99, Slg 2002, I-787 – Portugaia Construções; Urt v 18.9.2014, Rs C-549/13 – Bundesdruckerei/ Stadt Dortmund = NVwZ 2014, 1505 m Anm Schrotz/Raddatz = EuZW 2014, 942 m Anm Knauff. Zur Arbeitssicherheit EuGH, Urt v 11.2.2021 – verb Rs C-407/19 u C-471/19 – Katoen Natie Bulk Terminal NV ua/Belgische Staat u Middlegate Europe NV/Ministerraad; dazu Driguez, Europe 4/2021, 19 f. 508 EuGH Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15 – AGET Iraklis = NJW 2017, 1723 m Anm Gundel = EuZW 2017, 229 m Anm Franzen. 509 Vgl EuGH, Rs C-120/95, Slg 1998, I-1831, Rn 39 – Decker; Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll (→ Rn 152 Fall 14); Rs C-254/98, Slg 2000, I-151, Rn 33 – Schutzverband gegen den unlauteren Wettbewerb/TK-Heimdienst Sass = JK 2000, EGV Art 28/1; Rs C-385/99, Slg 2003, I-4509, Rn 72 – Müller-Fauré; Urt v 20.12.2017, Rs C-419/16 – Simma Federspiel; dazu Gazin Europe 2/2018, 48; Urt v 27.2.2018, Rs C-563/17, Rn 79 ff – Associação Peço a Palavra = EuZW 2019, 288 m Anm Schmidt; dazu Roset, Europe 4/2019, 21. 510 Vgl Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 52, 120 f.
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die ausdrücklichen Tatbestandsmerkmale der „öffentlichen Ordnung“ und der „öffentlichen Sicherheit“ erweiternd auszulegen.511 Allerdings lässt sich dies zum einen heute wegen der gefestigten Rspr des EuGH nicht mehr ernstlich vertreten. Zudem erklärt sich das Vorgehen des Gerichtshofs aus dem Umstand, dass sich die geschriebenen Rechtfertigungsgründe auf alle Formen der Beeinträchtigung, die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe dagegen nur auf bestimmte Beeinträchtigungen beziehen, sie also partiell unterschiedliche Funktionen erfüllen (vgl sogleich Rn 155).
bb) Anwendbarkeit der ungeschriebenen Schranken auf Beschränkungen und faktische Diskriminierungen 155 Die Cassis-Rspr ist für unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, dh ausschließlich für nicht formal diskriminierende Beschränkungen, entwickelt worden.512 In seiner Rspr bezieht der EuGH den Rechtfertigungsgrund der zwingenden Erfordernisse auch auf faktische Diskriminierungen.513 Dies ist zum einen terminologisch konsequent, weil faktische Diskriminierungen nur unterschiedlich „wirken“, nicht aber unterschiedlich „gelten“ bzw „anwendbar sind“. Freilich ist zuzugestehen, dass die Rspr des EuGH nicht immer eindeutig klingt, wenn etwa klare Fälle einer reinen Beschränkung in Rede stehen. Zum anderen ist die Einbeziehung faktischer Diskriminierungen auch sachlich konsequent, weil die Trennlinie zwischen diesen und den reinen Beschränkungen oftmals und gerade in Marktzutrittssituationen schwierig zu ziehen ist. Überdies sind sie für den Binnenmarkt deutlich weniger schädlich als formale Diskriminierungen. In der Lit ist dennoch sowohl die Auffassung zu finden gewesen, dass lediglich reine nichtdiskriminierende Beschränkungen durch die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe erfasst werden könnten, als
511 Vgl Schweitzer/Hummer/Obwexer ER, Rn 1400; Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996), 200 (217); dazu Schorkopf, EuR 2009, 645 (658); Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV, Rn 87. 512 Vgl zB EuGH, Rs 113/80, Slg 1981, 1625, Rn 10 – Kommission/Irland; Rs C-275/92, Slg 1994, I-1039, Rn 51 ff – Schindler; Rs C-124/97, Slg 1999, I-6067, Rn 31 – Läärä = JK 2000, EGV Art 49/2. S auch Schlussanträge GA Sharpston, Rs C-95/14, Rn 53 f – UNIC. 513 Vgl EuGH, Rs C-55/98, Slg 1999, I-7641, Rn 21 ff – Vestergaard; Rs C-388/01, Slg 2003, I-721, Rn 21 ff – Kommission/Italien = JK 2003, EGV Art 49/7; vgl auch EuGH, Rs C-379/98, Slg 2001, I-2099, Rn 73 – PreussenElektra; Craig/de Búrca EU, S 736 f; Nowak/Schnitzler, EuZW 2000, 627 ff; Nowak, VerwArch 93 (2002), 368 (374); Gundel, JURA 2001, 79 ff – mit umfangreichen Nachw der Rspr. Missverständlich war die Entscheidung EuGH, Rs C-224/97, Slg 1999, I-2517, Rn 16 – Ciola = JK 2000, EGV Art 49/1, die so klang, als ob sich diskriminierende Maßnahmen mit dem Unionsrecht nur vereinbaren ließen, wenn sie unter eine „ausdrücklich abweichende Bestimmung“ fielen. Die folgende Rspr hat dieses Verständnis falsifiziert. Aus der Lit vgl wie hier bspw Boger Die Anwendbarkeit der Cassis-Formel auf Ungleichbehandlungen im Rahmen der Grundfreiheiten, 2004, S 197 ff; Epiney in: Bieber/dies/ Haag/Kotzur, EU, § 11 Rn 58; Haltern ER, Rn 1607; Milstein, EuZW 2013, 514, 515.
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auch wird teilweise die Ansicht vertreten, dass jegliche Diskriminierung einschließlich der formalen durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt werden kann.514 Beide Auffassungen überzeugen indes nicht. Die erste Auffassung ist unnötig restriktiv und löst das von der Cassis-Rspr in Angriff genommene Problem der mangelnden Flexibilität der Rechtfertigungsebene nicht. Ein geschlossener, nicht erweiterungsfähiger Kanon von Rechtfertigungsmotiven wäre für die Fallgruppe der faktisch diskriminierenden Maßnahmen ebenso unangemessen wie im Falle der „reinen“ Beschränkungen.515 Spätestens seit der Keck-Rspr, die bestimmte Beschränkungen schon aus dem Tatbestand ausschließt, zeigt sich, dass eine Doppelung auf der Rechtfertigungsebene nicht sachgerecht ist, sondern nur eine Erweiterung auf faktische Diskriminierungen eine Flexibilitätssteigerung erreichen kann. Die zweite Auffassung hingegen geht zu weit. Da formale Diskriminierungen besonders schwer wiegen und dem Binnenmarktkonzept diametral zuwiderlaufen, lassen sich diese nur durch ausdrückliche Schrankenregelungen rechtfertigen.516 In jedem Falle wirkt die Verhältnismäßigkeitsprüfung (Rn 159 ff) als Korrektiv.
Lösung Fall 14: Da im Falle des Genehmigungserfordernisses ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt, ist der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten eröffnet. In Betracht kommt hier die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) des Dienstleistungserbringers (Arzt) als auch die des Dienstleistungsempfängers (K). Eine Dienstleistung ist jede selbstständige Leistung nicht-körperlicher Art, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird, wobei sich der Dienstleistungserbringer (aktive Dienstleistungsfreiheit) bzw -empfänger (passive Dienstleistungsfreiheit) nur vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begibt. Diese Kriterien sind für die hier in Rede stehenden zahnärztlichen Leistungen erfüllt. Dabei ist es auch unerheblich, dass das Unionsrecht im Bereich der medizinischen Versorgung die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit weitgehend unberührt lässt und nach Art 168 AEUV im Gesundheitsbereich gerade keine Harmonisierungskompetenzen gegeben sind. Denn unabhängig von einer Unionskompetenz müssen die Grundfreiheiten stets beach-
514 Vgl Weiß, EuZW 1999, 493 (497); Schroeder ER, § 14 Rn 51; Kahl, GPR 2015, 183 ff; auch Schlussanträge GA Bot, verb Rs C-204/12 bis C-208/12, Rn 92 ff – Essent Belgium und Rs C-573/12, Rn 79 ff – Ålands Vindkraft unter der Voraussetzung einer „verstärkten“ Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dieser Vorschlag ist vom EuGH (Urt v 1.7.2014, Rs C-573/12 – Ålands Vindkraft; Urt v 29.9.2016, Rs C-492/14 – Essent Belgium II) nicht aufgenommen worden. 515 Gundel, JURA 2001, 79 (83). 516 So auch EuGH, Rs 113/80, Slg 1981, 1625, Rn 7 f, 10 f – Kommission/Irland; EuGH, Rs C-388/01, Slg 2003, I-721, Rn 19 – Kommission/Italien; Rs C-153/08, Slg 2009, I-9735, Rn 37 – Kommission/Spanien; Rs C-64/08, Slg 2010, I-8219, Rn 34 – Ernst Engelmann; Rs C-155/09, Slg 2011, I-65, Rn 69 – Kommission/ Griechenland; Urt v 28.1.2016, Rs C-375/14 Rn 25 ff – Laezza; dazu Daniel, Europe 3/2016, 49 f; Urt v 8.6.2017, Rs C-296/15 – Medisanus = EuZW 2017, 895 m Anm Gundel; dazu Roset, Europe 8/2017, 32 ff; EuGH, Urt v 14.2.2019, Rs C-630/17, EWS 2019, 40, Rn 66 – Milivojević; dazu Péraldi-Leneuf, Europe 4/ 2019, 22 f.
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tet werden.517 Eine medizinische Leistung verliert nicht deshalb ihren Charakter als Dienstleistung und damit auch nicht ihre Binnenmarktrelevanz, weil der Patient, nachdem er den ausländischen Leistungserbringer für die erhaltene Behandlung bezahlt hat, später die Übernahme der Kosten dieser Behandlung durch einen nationalen Gesundheitsdienst beantragt.518 Die Dienstleistungsfreiheit ist als weites Beschränkungsverbot konzipiert, die nicht nur formale und faktische Diskriminierungen, sondern jede Maßnahme verbietet, die die Ausübung der Freiheit verhindert, behindert oder weniger attraktiv macht. Hier liegt durch das Genehmigungserfordernis in der luxemburgischen Regelung eine staatliche Maßnahme vor, die in den Gewährleistungsgehalt des Art 56 AEUV eingreift. Da sie auf den Ort der Behandlung, nicht die Nationalität des Erbringers oder Empfängers, anknüpft und die Kosten in Luxemburg praktizierender Ärzte aus dem EU-Ausland erstattet werden, liegt keine formale (direkte) Diskriminierung vor. Die Regelung wirkt sich aber typischerweise nachteilig auf Ärzte in anderen Mitgliedstaaten und damit ausländische Staatsangehörige aus. Daher ist eine faktische (indirekte) Diskriminierung anzunehmen. Sie stellt hier zugleich eine erhebliche Behinderung des Zugangs zu den Dienstleistungen dar, auch wenn nicht die Entgegennahme der Leistung durch den Patienten verboten, sondern nur die Erstattung der Kosten abgelehnt wird. Als Rechtfertigungsgründe kommen sowohl die in Art 62 iVm 52 AEUV genannten geschriebenen als auch die ungeschriebenen zwingenden Gründe des Allgemeininteresses in Betracht. Beide Gruppen sind hier einschlägig und anwendbar, weil die Regelung sich „nur“ als faktische, nicht als formale Diskriminierung darstellt, für welche die ungeschriebenen Gründe nicht anwendbar wären. Die luxemburgische Regelung soll dem Gesundheitsschutz, der Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung sowie der Erhaltung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems dienen. Hierbei handelt es sich um relevante Gesichtspunkte und nicht nur um rein wirtschaftliche Gründe. Jedoch ist die Maßnahme nicht verhältnismäßig. So ist eine Gefährdung der geschützten Interessen des Gesundheitsschutzes sowie der flächendeckenden Versorgung bei einer Erstattungsregel nicht ersichtlich und deren möglicher fördernder Beitrag nicht erkennbar. Auch die Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems ist nicht gefährdet, wenn nur Behandlungskosten nach den Tarifen des Versicherungsstaats erstattet werden. Hierin läge ein milderes Mittel gegenüber einer – im Falle fehlender Genehmigung – vollständigen Versagung der Erstattung. Somit darf die luxemburgische Regelung nicht angewendet werden. Anders ist der Fall hinsichtlich der Erstattungspflicht für Kosten einer stationären Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat zu beurteilen. Hier kann diese von einer vorherigen Genehmigung des jeweiligen Sozialversicherungsträgers abhängig gemacht werden, um das Entstehen typischerweise erheblicher Kosten zu verhindern. Allerdings verlangt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass das Genehmigungserfordernis auf objektiven und nichtdiskriminierenden Kriterien beruht, die im Voraus bekannt sind, damit dem Ermessen der nationalen Behörden Grenzen gesetzt werden und eine missbräuchliche Ausübung verhindert wird.519
517 Die Grundfreiheiten finden auch auf Krankenversicherungssysteme Anwendung, denen – wie das deutsche und anders als das hier geschilderte luxemburgische – das Sachleistungsprinzip zugrunde liegt, EuGH, Rs C-157/99, Slg 2001, I-5473, Rn 55 – Smits u Peerboms. 518 EuGH, Rs C- 444/05, Slg 2007, I-3185, Rn 21 – Stamatelakis = JK 2008, EGV Art 49/18. 519 EuGH, Rs C-385/99, Slg 2003, I-4509, Rn 81, 85 – Müller-Fauré; Rs C-444/05, Slg 2007, I-3185, Rn 35 – Stamatelakis = JK 2008, EGV Art 49/18. Vgl zur Erstattung von Krankheitskosten auch EuGH, Rs C-120/ 95, Slg 1998, I-1831, Rn 34 ff – Decker; Rs C-255/09, Slg 2011, I-10547, Rn 60 ff, 70 ff – Kommission/Portugal. Zum Recht der Mitgliedstaaten, das Schutzniveau der Gesundheit ihrer Bevölkerung zu bestimmen, und den daraus folgenden Beurteilungsspielraum für den Erlass nationaler Vorschriften, vgl EuGH, Rs C-141/07, Slg 2008, I-6935, Rn 51 – Kommission/Deutschland = JK 2009, EGV Art 28/11.
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d) Rechtfertigungsgründe im Falle des Handelns Privater Unklar geblieben ist in der Rspr des EuGH bisher, welche Schranken für das Han- 157 deln unmittelbar an die Grundfreiheiten gebundener Privater (Rn 75) in Betracht zu ziehen sind. Die Basislinie dürfte darin bestehen, dass eine Rechtfertigung, die bei einem hypothetischen Staatshandeln möglich gewesen wäre, auch den Privaten zugestanden werden muss.520 Dies wird aber zumindest nicht im Regelfall weiterhelfen. Zumindest die geschriebenen Rechtfertigungsgründe sind auf das Handeln der Mitgliedstaaten (und ggf der EU) zugeschnitten. So pflegen Private anders als die Mitgliedstaaten nicht zum Zwecke der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit tätig zu werden. Denkbar wäre es, den Privaten bei einem Zuwiderhandeln gegen die Grundfreiheiten eine Rechtfertigungsmöglichkeit aufgrund der ungeschriebenen zwingenden Gründe des Allgemeininteresses (Rn 153 ff) zu eröffnen.521 Allerdings erscheint auch hier zweifelhaft, ob der Private in der Tat im „Allgemeininteresse“ handeln wollte. Denn Private verfolgen idR privatnützige Interessen. Daher liegt es näher, den Blick von den staatsbezogenen Rechtfertigungsgründen abzuwenden und über diese hinaus Privaten eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten bereits dann zu erlauben, wenn sie sich auf „sachliche Gründe“522 berufen können und die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten verhältnismäßig ist. Als sachliche Gründe sind insbesondere die von den Unionsgrundrechten geschützten Interessen anzusehen. Da diese auch die berufliche und unternehmerische Freiheit sowie das Eigentumsrecht schützen (Art 15–17 GRCh), muss dem Privaten im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten (Rn 141 f) ebenfalls die Berufung auf wirtschaftliche Gründe gestattet werden. Alles weitere hängt dann von der Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung ab.523 ZB dürfte ein Abstellen auf die Staatsangehörigkeit, dh eine formale Diskriminierung, grds nicht verhältnismäßig sein.
520 Vgl zu diesem Ansatz Ludwigs/Weidermann, JURA 2014, 152 (163 f). 521 IdS EuGH, Rs C-438/05, Slg 2007, I-10779, Rn 75 f – Viking Line (→ Rn 75 Fall 5). 522 IdS EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139, Rn 42 – Angonese (→ Rn 77 Fall 7). 523 Vgl auch Ganten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, S 56 ff; Wernicke Die Privatwirkung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S 176 f; Preedy Die Bindung Privater an die Europäischen Grundfreiheiten, 2005, S 177 f; Löwisch Die horizontale Drittwirkung der Europäischen Grundfreiheiten, 2009, S 276 f; Perner Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 2013, S 134 f, Ludwigs/Weidermann, JURA 2014, 152 (163 f); eine Drittwirkung iE abl Graber Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2002, S 276 f; Stein Drittwirkung im Unionsrecht, 2016, S 131 ff.
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e) „Schranken-Schranken“ 158 Dürfen die Grundfreiheiten beschränkt werden, unterliegt die Rechtfertigung ihrerseits Gegenschranken respektive „Schranken-Schranken“. Darunter sind die Beschränkungen zu verstehen, die für die Verpflichteten der Grundfreiheiten (namentlich die Mitgliedstaaten) gelten, wenn sie dem Gebrauch der Grundfreiheiten (etwa wegen zwingender Erfordernisse) Schranken ziehen. Das Unionsprimärrecht kann den Mitgliedstaaten keine Rechtfertigung gestatten, die ihrerseits primärrechtlich nicht gestattet wäre; dies würde einen Wertungswiderspruch innerhalb der Unionsrechtsordnung darstellen.524 Als Schranken-Schranken kommen damit insbesondere die Unionsgrundrechte (Rn 170 ff) in Betracht. Stets zu prüfen ist zudem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Rn 159 ff), der systematisch ebenfalls hierher zu rechnen ist.
aa) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Fall 15: (EuGH, verb Rs C-316/07 ua, Slg 2010, I-8069 ff – Markus Stoß ua = JK 2011, AEUV Art 49/1) S vermittelt Sportwetten in Deutschland für Rechnung verschiedener im EU-Ausland ansässiger Unternehmen. Die deutschen Behörden haben diese Tätigkeit unter Berufung auf das bestehende staatliche Monopol für Sportwetten untersagt. S möchte wissen, ob dies mit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit vereinbar ist.
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Fall 16: (EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13) Die deutsche O-GmbH, die Spielhallen betreibt, ist dazu übergegangen, in einer Anlage mit dem Namen „Laserdrome“ Unterhaltungsspiele mit simulierten Tötungshandlungen an Menschen zu betreiben, wobei die Spieler mit maschinenpistolenähnlichen Laserzielgeräten auf die an der Kleidung der Spieler angebrachten Sensorenempfänger zielen. In anderen Mitgliedstaaten sind solche Spiele üblich. Die Berechtigung, das Spiel in Deutschland zu betreiben, hat O von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Firma erworben. Außerdem wird die Ausrüstung der Spieler von dieser Firma aus dem betreffenden Mitgliedstaat geliefert. Die zuständige deutsche Behörde hat den Betrieb des Spiels verboten, weil es menschenverachtend sei. Nach Verhandlungen vor deutschen Gerichten hat sich das BVerwG als letzte verwaltungsgerichtliche Instanz an den EuGH mit der Frage gewandt, ob die Untersagung des Spiels mit den Grundfreiheiten des Unionsrechts vereinbar ist.
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Fall 17: (EuGH, Rs C-244/06, Slg 2008, I-505 ff – Dynamic Medien = JK 2008, EGV Art 28/10) Die A-Media AG vertreibt japanische Bild- und Tonträger im Versandhandel über ihre Internetseite. Die Filme wurden vor ihrer Einfuhr vom Vereinigten Königreich (damals Mitgliedstaat der EU) nach
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524 Lecheler ER, S 221. Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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Deutschland durch die A-Media AG vom British Board of Film Classification (BBFC) nach den im Vereinigten Königreich geltenden Bestimmungen über den Schutz Minderjähriger überprüft. Das deutsche Jugendschutzgesetz (JuSchG) untersagt den Versandhandel mit Bildträgern, die nicht in Deutschland geprüft worden sind und keine Angabe über die Altersfreigabe tragen. Ein deutsches Gericht möchte wissen, ob das Versandhandelsverbot iSd JuSchG mit Art 34 AEUV vereinbar ist.
Die wohl zentrale Kontrollfunktion im Bereich der Beschränkung der Grundfrei- 162 heiten kommt nach stRspr des EuGH dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu; diese ist als zwingende Rechtfertigungsvoraussetzung stets zusätzlich zu den geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen zu prüfen.525 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (der auch als Übermaßverbot bezeichnet werden kann)526 stellt einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts dar. Hierbei ist die auf die Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten (Art 5 IV EUV) bezogene Komponente527 von der Ausprägung zu unterscheiden, die die Unionsgrundrechte und die Grundfreiheiten betrifft und hierbei primär dem Individualschutz dient. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist in den Freiheitsrechten (vgl Art 52 I 2 GrCh → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 133) und im Rechtsstaatsprinzip (Art 2 EUV) verankert und findet in der EMRK (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 90) wie auch im nationalen Recht seine Entsprechung.528 Im Bereich der Grundfreiheiten kann man die Notwendigkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung textlich in dem Erfordernis eines „gerechtfertigten“ Eingriffs (Art 36, 45 III, Art 52 I iVm Art 62, 65 I lit b AEUV) ablesen und implizit auch in den „zwingenden“ Erfordernissen bzw Gründen des Allgemeinwohls enthalten sehen. Keine maßgebliche eigenständige Bedeutung kommt im Bereich der Grundfreiheiten einer Wesensgehaltsschranke
525 Vgl – mit leicht abweichender Terminologie – prägnant EuGH, Rs C-55/94, Slg 1995, I-4165, Rn 37 – Gebhard; s aus jüngerer Zeit auch EuGH, Urt v 23.12.2015, Rs C-333/14, Rn 33 – Scotch Whisky Association ua = NJW 2016, 621 m Anm Hoffmann; Urt v 31.5.2018, Rs C-190/17 – Zheng; dazu Daniel, Europe 7/2018, 24 f; Urt v 13.11.2018, Rs C-33/17 – Čepelnik; dazu Driguez, Europe 1/2019, 29 f. Der EuGH benennt nicht ausdrücklich das Kriterium der Angemessenheit. Ferner zur Verhältnismäßigkeit statt vieler Craig/de Búrca EU, S 583 ff; Pache, NVwZ 1999, 1033 ff; Jarass, EuR 2000, 705 (721 ff); Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000; Schwab Der Europäische Gerichtshof und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 2001; Koch Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtssprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003; v Danwitz, EWS 2003, 393 ff – jeweils mit zahlreichen Nachw der Rspr. 526 Allg zur Terminologie vgl Krebs, JURA 2001, 228 ff. 527 Vgl dazu auch Art 5 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Prot Nr 2, Sart II Nr 147). 528 Vgl v Danwitz in: Cardonnel/Rosas/Wahl (Hrsg) Constitutionalising the EU Judicial System, 2012, S 367, 367 („out of the general legal principles it is the most frequently invoked before and examined by the Court“).
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zu, wie sie für die Unionsgrundrechte nach Art 52 I 1 GRCh anerkannt ist und vom Gerichtshof auch in seiner Prüfung fruchtbar gemacht wird (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 132). Das besondere Gewicht und die Tiefe des Eingriffs ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. 163 Wie in der deutschen Dogmatik529 verlangt auch im Unionsrecht die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zunächst, dass mit ihr legitime Gemeinwohlziele verfolgt werden; diese ergeben sich aus den geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen. Sodann müssen die eingesetzten Mittel zur Erreichung des Ziels geeignet, erforderlich und angemessen sein.530 Geeignetheit bedeutet, dass das Mittel den Zweck fördern muss.531 Hierbei prüft der EuGH insbesondere, ob die Beschränkung der Grundfreiheit das mit ihr verfolgte Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen vermag; diese Rspr hat sich schwerpunktmäßig im Bereich staatlicher Glücksspielrestriktionen herausgebildet, der EuGH erweitert sie aber auch auf andere Felder.532 Auch gegenüber dem Unionsgesetzgeber kann dieses Prinzip in Stellung gebracht werden.533 Nicht kohärente Maßnahmen sind nicht geeignet, die Beschränkung zu rechtfertigen (Fall 15). Die Kohärenz stellt insoweit nicht einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund dar, sondern kann ein Eignungskriterium oder aber ein Erforderlichkeitskriterium (dh das gegenüber einer inkohärenten Regelung mildere Mittel) sein. Erforderlich ist ein Mittel, wenn der Zweck nicht durch eine geringere Belastung bei gleicher Wirksamkeit erreicht werden kann. Als angemessen ist eine Maßnahme anzusehen, wenn sie in einem recht ge-
529 Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im deutschen Recht zusammenfassend Kingreen/Poscher Grundrechte, Rn 405 ff. 530 Vgl auch EuGH, Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 21 – Schräder; Rs C-108/96, Slg 2001, I-837, Rn 31 f – MacQuen. 531 Vgl etwa EuGH, Urt v 6.3.2018, verb Rs C-52/16 u C-113/16 – SEGRO und Horváth = EuZW 2018, 330 m Anm Ludwigs; dazu Rigaux, Europe 5/2018, 27 ff; Urt v 3.9.2020, Rs C-719/18, Rn 39 ff – Vivendi SA = EuZW 2020, 989 m Anm Samardzic. 532 EuGH, Rs C-243/01, Slg 2003, I-13031, Rn 115 – Gambelli; verb Rs C-338/04, C-359/04 u C-360/04, Slg 2007, I-1891, Rn 53 – Placanica; dazu Cuyvers, CMLRev 45 (2008), 515; EuGH, Rs C-169/07, Slg 2009, I1721, Rn 55 – Hartlauer; Rs C-137/09, Slg 2010, I-13019, Rn 70 ff – Josemans = JK 2011 AEUV Art 56/1 (→ Rn 89 Fall 8); Urt v 28.2.2018, Rs C-3/17 – Sporting Odds Ltd; dazu Simon, Europe 4/2018, 23 f; s auch Pache in: Schulze ua, ER § 10 Rn 57; monographisch Schuster Das Kohärenzprinzip in der Europäischen Union, 2017. Für den Gesundheitsschutz s etwa EuGH, Urt v 23.12.2015, Rs C-333/14, Rn 37 – Scotch Whisky Association ua; für den Verbraucherschutz EuGH, Urt v 4.7.2019, Rs C-377/17, Rn 89 ff – Kommission/Deutschland (HOAI). Keine überzeugende Auseinandersetzung mit dem Kohärenzkriterium im Bereich des Arbeitnehmerschutzes durch vergaberechtliche Sozialkriterien in EuGH, Urt v 17.11.2015, Rs C-115/14 – RegioPost/Stadt Landau = EuZW 2016, 104 m Bespr Siegel S 101 ff = EWS 2015, 327 m Bespr Germelmann, EWS 2016, 69 ff. 533 Vgl EuGH, Urt v 22.11.2018, Rs C-151/17, Rn 59 – Swedish Match; dazu Bassani, Europe 1/2019, 13 f.
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wichteten und wohl abgewogenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung der Grundfreiheit steht (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn). Lösung Fall 15: Ein grenzüberschreitender Sachverhalt ist gegeben. Das staatliche Monopol beeinträchtigt die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art 49, 56 AEUV), indem es den Zugang zum Sportwettenmarkt sowohl für Unternehmen, die nur grenzüberschreitende Leistungen anbieten, und solche, die eine Niederlassung im Zielmitgliedstaat beabsichtigen, behindert. Es dient aber zwingenden Gründen des Allgemeininteresses (Bekämpfung der Spielsucht, Verbraucherschutz, Betrugsvorbeugung), die hier, da das Monopol keine formal diskriminierende Maßnahme darstellt, als Rechtfertigung anwendbar sind. In Frage steht allerdings die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Der EuGH stellt insofern die folgenden Erwägungen an: So steht es grundsätzlich im „Ermessen“ der Mitgliedstaaten darüber zu entscheiden, ob die mit dem Glückspielsektor verbundenen Gefahren durch ein Monopol wirksamer bekämpft werden können als durch eine Kontrolle zugelassener privater Veranstalter (wie zT in anderen Mitgliedstaaten). Er gewährt den Mitgliedstaaten also Gestaltungsspielräume hinsichtlich der geeigneten Maßnahmen. Umgehungen ändern an der grundsätzlichen Eignung nichts. Auch verlangt er zur Rechtfertigung eines staatlichen Monopols nicht unbedingt eine Untersuchung, die die Eignung und Erforderlichkeit belegt. Wohl aber müssten die Maßnahmen zur Verwirklichung der staatlichen Ziele dadurch beitragen können, dass sie die Wetttätigkeiten in kohärenter und systematischer Weise begrenzen. Daher darf der Mitgliedstaat insbesondere keine widersprüchlichen Anreize setzen. Dies bezieht sich (1) zunächst auf die Werbung des Inhabers eines derartigen Glückspielmonopols für andere ebenfalls von ihm angebotene Arten von Glückspielen. Zwar darf er Werbemaßnahmen vornehmen, um die Verbraucher auf sein Angebot hinzulenken (und von illegalen Spielmöglichkeiten abzulenken). Diese Werbemaßnahmen unterliegen aber einer strengen Erforderlichkeitskontrolle, da sie nicht darauf abzielen dürfen, den Spieltrieb der Verbraucher zu fördern. Unzulässig sind also Werbemaßnahmen des Monopolinhabers, die auf eine Maximierung der erwarteten Wetteinnahmen gerichtet sind und zu aktiver Teilnahme am Spiel auffordern. Überdies ist das Monopol unverhältnismäßig (ungeeignet oder nicht erforderlich), wenn (2) andere Arten von Glückspiel von privaten Veranstaltern mit einer Erlaubnis betrieben werden dürfen und der Differenzierungsgrund nicht sachlich erklärbar ist. Insbesondere darf der Mitgliedstaat in Bezug auf andere Arten von Glückspielen, die nicht unter das Monopol fallen und zudem ein höheres Suchtpotential als die dem Monopol unterliegenden Spiele aufweisen, keine Politik der Angebotserweiterung betreiben. Sind diese (nicht abschließend, sondern indikativ zu verstehenden) Kriterien verletzt, bestehen aus Sicht des Gerichtshofs Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Monopol und mit ihm die Binnenmarktbeeinträchtigung nicht geeignet ist, jedenfalls aber nicht erforderlich ist, um den Spielbetrieb mit seinen Gefahren in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen und zu kontrollieren.
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Der EuGH und das EuG prüfen die Verhältnismäßigkeit einer Beeinträchtigung der 165 Grundfreiheiten mit einer anderen Schwerpunktsetzung als dies im deutschen Recht für grundrechtliche Sachverhalte der Fall ist (vgl auch → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 135). Das Sekundärrecht wird selten am Maßstab der Grundfreiheiten gemessen (Rn 93); auch hier ist eine Überprüfung der Verhältnismäßigkeit erforderlich. Allerdings wird die Rspr hier den Unionsorganen weitergehende ErmessensDirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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spielräume gewähren als den Mitgliedstaaten. Soweit der EuGH eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten anerkennt (Rn 75), existiert noch keine abschließend ausgeformte Rspr, die Besonderheiten einer Verhältnismäßigkeitsprüfung benennen würde; hier ist dem privaten Handeln des Einzelnen angemessener Raum einzuräumen (Rn 157), während staatsähnliche Eingriffe privater Einrichtungen nach den allgemeinen Grundsätzen zu betrachten sein werden. Werden die Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten beeinträchtigt, werden diesen trotz der Letztkontrolle des EuGH über die Auslegung der Rechtfertigungsgründe (Rn 153) hinsichtlich der Beurteilung der Legitimität und der Eignung der verfolgten Ziele in bestimmten Sachbereichen, wie etwa im Gesundheitsschutz, Einschätzungs- und Gestaltungsspielräume zuerkannt.534 Das weitere Ausmaß der Prüfung hängt dabei von der Gewichtigkeit der mitgliedstaatlichen Interessen ab. Auch kann den Mitgliedstaaten ein „bestimmtes Ermessen“ zuerkannt werden, wenn die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten der Wahrung moralischer oder kultureller Belange dient, weil solche Erwägungen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sein können.535 Hier spiegelt sich eine Zurückhaltung, die sich auch in der Rspr des EGMR im Bereich des Konventionsrechts beobachten lässt (→ Ehlers/Germelmann, § 2.1 Rn 95). Tendenziell strenger ist der Kontrollmaßstab, wenn es um offene Diskriminierungen (statt um unterschiedslos anwendbare Beeinträchtigungen) geht.536 So lassen sich für offene Diskriminierungen kaum überzeugende Gründe finden, jedenfalls aber zumeist mildere iSd Erforderlichkeit. Auch Marktzutrittsbeschränkungen können strengere Prüfungsmaßstäbe erfordern.537 Eine pauschale Kontrollreduktion bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit wird man heute nicht mehr anerkennen können, auch wenn hier die Interessen der Mitgliedstaaten typischerweise stark berührt sein können. Entscheidend ist der Einzelfall. 166 Stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Verfügung, kommt es auf die Erforderlichkeit an, also die Untersuchung, ob der angestrebte Zweck mit weniger restriktiven Mitteln erreicht werden kann.538 Der Umstand, dass andere Mitgliedstaaten weniger strenge Schutzvorschriften erlassen haben, spricht noch nicht gegen 534 EuGH, Rs C-141/07, Slg 2008, I-6935, Rn 51 – Kommission/Deutschland; verb Rs C-171/07 u C-172/07, Slg 2009, I-4171 – Apothekerkammer des Saarlands (Doc Morris II); Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735, Rn 62 ff – Bressol ua; Urt v 8.6.2017, Rs C-296/15 – Medisanus = EuZW 2017, 895 m Anm Gundel. S hingegen andererseits auch EuGH, Urt v 19.10.2016 – Rs C-148/15, Rn 39 ff – Deutsche Parkinson Vereinigung (Nachweispflichten bei Prognosen). 535 EuGH, Rs C-244/06, Slg 2008, I-505, Rn 44 – Dynamic Medien Verlag = JK 2008, EGV Art 28/10 (→ Rn 161 Fall 17). 536 Vgl auch Jarass, EuR 2000, 705 (723). 537 Vgl Streinz ER, Rn 875. 538 Vgl zu einem Beispielsfall (die Erforderlichkeit verneinend) EuGH, Rs C-28/09, Slg 2011, I-13525, Rn 139 ff – Kommission/Österreich.
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die Erforderlichkeit.539 Nicht erforderlich ist eine nationale Regelung aber, wenn das Ziel der Maßnahme bereits durch gleichwertige Anforderungen des Herkunftsstaates erreicht wird.540 So bedarf es keiner erneuten Überprüfung von Personen und Produkten, soweit bereits ausreichende Prüfungen oder Kontrollen im Herkunftsland durchgeführt worden sind.541 Dieses Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bzw Herkunftslandprinzip prägt den Binnenmarkt insgesamt.542 Bspw ist die Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit einer in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft aus Gründen des Gläubigerschutzes wegen einer geringeren Mindestkapitalausstattung dann nicht erforderlich, wenn die Gesellschaft als eine solche ausländischen Rechts auftritt. Die potenziellen Gläubiger sind in diesem Falle hinreichend darüber unterrichtet, dass andere Mindestkapitalaufbringungsund -erhaltungsvorschriften als im Inland gelten.543 Ebenso fehlt es an der Erforderlichkeit einer generellen Vorabmeldungspflicht für ausländische Dienstleistungserbringer zum Zwecke der Betrugsbekämpfung zu der Aufdeckung von Scheinselbständigkeit und Schwarzarbeit.544 Eine Besonderheit der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei den Grundfreiheiten 167 gegenüber dem deutschen Recht, aber auch im Vergleich zur Unionsgrundrechtsprüfung (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 133)545 ist der Umstand, dass die Rspr im Falle des Bestehens legitimer Zwecksetzungen vielfach eine zweistufige Prüfung vornimmt, dh den Schwerpunkt auf die Überprüfung der Geeignetheit und Erfor-
539 Vgl EuGH, Rs C-384/93, Slg 1995, I-1141, Rn 50 ff – Alpine Investments; Rs C-3/95, Slg 1996, I-6511, Rn 42 – Broede; Rs C-124/97, Slg 1999, I-6067, Rn 36 – Läärä = JK 2000, EGV Art 49/2; Rs C-67/98, Slg 1999, I-7289, Rn 34 – Zenatti; Rs C-108/96, Slg 2001, I-837, Rn 33 f – MacQuen; Rs C-429/02, Slg. 2004, I6613 – Bacardi France (Loi Evin) (→ Rn 143 Fall 13); Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 38 – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13 (→ Rn 160 Fall 16); Rs C-244/06, Slg 2008, I-505, Rn 49 – Dynamic Medien Verlag (→ Rn 161 Fall 17) = JK 2008, EGV Art 28/10. 540 Vgl EuGH, Rs C-76/90, Slg 1991, I-4221, Rn 15 ff – Säger/Dennemeyer; Rs C-293/93, Slg 1994, I-4249, Rn 19 – Houtwipper; Rs C-55/94, Slg 1995, I-4186, Rn 38 f – Gebhard. 541 EuGH, C-340/89, Slg 1991, I-2357, Rn 15 ff – Vlassopoulou; Rs C-330/03, Slg 2006, I-801, Rn 27 ff – Colegio de Ingenieros de Caminos = JK 2006, EGV Art 43/6; EuGH, Urt v 28.4.2022, Rs C-86/21 – Gerencia Regional de Salud de Castillia y León/Delia = EuZW 2022, 617 m Anm Hilbrandt/Sturm = ZESAR 2022, 500 m Bespr Schubert/Prüwer S 467 ff. 542 Vgl dazu (auch mit Blick auf die sekundärrechtliche Harmonisierung) Streinz ER, Rn 1005 ff; Möstl, CMLRev 47 (2010), 405 ff; ferner historisch Snell in: Barnard/Peers, EU, S 343 ff. Ferner auch EuGH, Urt v 3.3.2022, Rs C-634/20 – A/Sosiaalija terveysalan lupaja valvontavirasto = ZESAR 2022, 441 m Anm Peramato/Sendner; dazu Rigaux, Europe 5/2022, 22 f. 543 Vgl EuGH, Rs C-167/01, Slg 2003, I-10155, Rn 135 – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; näher dazu Leible, EuZW 2003, 677 ff; De Diego Die Niederlassungsfreiheit von Scheinauslandsgesellschaften in der Europäischen Gemeinschaft, 2004, S 124 ff. 544 EuGH, Urt v 19.12.2012, Rs C-577/10, EuZW 2013, 234, Rn 53 ff – Kommission/Belgien. 545 Vgl dazu Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 52 GRCh Rn 65 ff.
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derlichkeit legt546 und auf eine Kontrolle der Angemessenheit verzichtet.547 Teilweise werden Fragen der Angemessenheit im Rahmen der Bewertung der Zielsetzung, teilweise im Rahmen der Eignung oder Erforderlichkeit der Maßnahmen untersucht, was insofern vorteilhaft ist, als eine wertungslastige Angemessenheitsprüfung reduziert und die einzelnen Argumentationskriterien objektiver strukturiert werden. Inwieweit die Rspr zu den Unionsgrundrechten in der Zukunft Rückwirkungen auch auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen der Grundfreiheiten haben kann, bleibt abzuwarten.
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Lösung Fall 16: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens nach Art 267 AEUV bestehen keine Bedenken. In Betracht kommt in sachlicher Hinsicht ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) und die Freiheit des Warenverkehrs (Art 34 AEUV). 1. Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit: Die Grundfreiheiten setzen das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts voraus. Ein solcher ist hier gegeben, weil die O-GmbH ihr „Laserdrome“ in der von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Firma entwickelten und vermarkteten Spielvariante betreibt. Sachlich umfasst die Dienstleistungsfreiheit nach Art 57 I AEUV die Bereitstellung von Leistungen, die idR gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen (Art 57 UAbs 1 AEUV). Die Dienstleistungserbringung darf insbesondere nicht zu einer dauerhaften Niederlassung des Dienstleistungserbringers in dem Zielmitgliedstaat führen, da in diesem Falle die Niederlassungsfreiheit einschlägig wäre. Das trifft auf die Vermarktung des Spiels, das auf einer entgeltlichen (Franchise-)Leistung beruht, allerdings nicht zu; hier überschreitet nur die Dienstleistung selbst die Grenzen. Da sich nicht nur der Erbringer, sondern auch der Empfänger (hier die deutsche Gesellschaft) im Falle der Erbringung von Dienstleistungen auf die Freiheit berufen kann, ist der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit betroffen. 2. Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts der Dienstleistungsfreiheit: Die Dienstleistungsfreiheit ist in der Rspr als ein weites Beschränkungsverbot anerkannt. Hier ist die Untersagungsverfügung
546 ZB fehlt einem zum Zwecke der allgemeinen Beschränkung des Alkoholkonsums sowie insbesondere des Jugendschutzes erlassenen schwedischen Gesetz, das die Einfuhr von Alkoholika nur über eine staatliche Alkoholverwaltung erlaubt, nach Auffassung des EuGH sowohl die Geeignetheit (da das Einfuhrverbot für Private die Nachfrage nach Alkoholika nur auf die staatliche Verwaltung umlenkt) als auch teilweise die Erforderlichkeit (da das Einfuhrverbot unabhängig vom Alter gilt). Vgl EuGH, Rs C-170/04, Slg 2007, I-4071, Rn 50 ff – Rosengren = JK 2007, EGV Art 28/8. 547 Typisch EuGH, Rs C-167/01, Slg 2003, I-10155, Rn 133 mwN – Inspire Art = JK 2004, EGV Art 43/4; Rs C-73/08, Slg 2010, I-2735, Rn 63 – Bressol. Krit statt vieler v Danwitz, EWS 2003, 393 (395 ff). Teilweise wird die Angemessenheit zwar erwähnt, aber durch die Erforderlichkeit definiert, vgl EuGH, Rs C463/00, Slg 2003, I-4581, Rn 69 – Kommission/Spanien („Goldene Aktien“); Rs C-429/02, Slg 2004, I6613 – Bacardi France (Loi Evin) (→ Rn 143 Fall 13). Eine Angemessenheitsprüfung durchführend dagegen zB EuGH, Rs 265/87, Slg 1989, 2237, Rn 21 – Schräder; Rs C-60/00, Slg 2002, I-6279, Rn 42 – Carpenter (→ Pache, § 16 Rn 128); Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659, Rn 79 – Schmidberger (→ Epiney, § 13 Rn 83).
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der deutschen Behörde ohne Ansehen der Staatsangehörigkeit des Erbringers oder des Empfängers der Dienstleistung ergangen; es ist auch nicht feststellbar, dass die ihr zugrundeliegende Rechtsauffassung ausländische Anbieter tatsächlich stärker betrifft als vergleichbare inländische Unternehmen. Es liegt somit keine Diskriminierung, sondern eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs vor. Dieser betrifft auch den Zugang der Franchise-Dienstleistung zum deutschen Markt, so dass eine Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts der Dienstleistungsfreiheit gegeben ist und sich die Frage einer Tatbestandsreduktion nicht stellt (Rn 106 ff).
3. Rechtfertigung der Beeinträchtigung: Die Untersagungsverfügung müsste sich auf einen geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund stützen lassen und verhältnismäßig sein. Unerheblich ist, ob sie – wie hier – auf einer (deutschen) gesetzlichen Grundlage beruht. Nach Art 62 iVm 52 I AEUV darf die Dienstleistungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Ordnung beschränkt werden; dieser Rechtfertigungsgrund ist auf alle Arten von Beeinträchtigungen des Gewährleistungsgehalts anwendbar. Der Begriff der öffentlichen Ordnung iSd Unionsrechts ist indes eng zu verstehen. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das von der deutschen Behörde verfolgte Ziel, die Menschenwürde zu schützen, ist ein solch grundlegendes Interesse, welches auch durch den Grundrechtsschutz im europäischen Unionsrecht (Art 1 GRCh) ausdrücklich anerkannt wird; es ist daher aus Sicht des EuGH (aaO, Rn 34) „unzweifelhaft“ mit dem Unionsrecht vereinbar. Auf die besondere Stellung der Menschenwürde in der deutschen Grundrechtsordnung (Art 1 I GG) soll es aus Sicht des EuGH daher nicht weiter ankommen. Die Maßnahme ist auch geeignet, die Menschenwürde zu schützen. Hier gesteht der Gerichtshof in Bezug auf die Umsetzung der Ziele der öffentlichen Ordnung den Mitgliedstaaten Einschätzungsspielräume zu. Nicht erforderlich wäre die Untersagungsverfügung, wenn das verfolgte Ziel ebenso sicher mit Maßnahmen erreicht werden kann, die den freien Dienstleistungsverkehr weniger einschränken. Auch auf diese Frage erstreckt der Gerichtshof die Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten. Insbesondere ist es aus seiner Sicht nicht nötig, dass in Bezug auf das Schutzniveau und die zur Zielerreichung ergriffenen Maßnahmen Einigkeit besteht. So ist es unschädlich, dass in dem anderen Mitgliedstaat das Spiel betrieben werden darf. Im Gegenteil ist die Erforderlichkeit nur in Bezug auf die von den deutschen Behörden ergriffenen Maßnahmen und die von ihnen zugrunde gelegte Zielsetzung zu untersuchen. Ein milderes Mittel ist hier nicht ersichtlich, wenn in der streitigen Spielvariante eine Gefahr für die Menschenwürde gesehen wird, zumal die Untersagungsverfügung nur diese eine bestimmte Variante des Laserspiels betrifft (Verbot auf menschliche Ziele zu schießen und somit das Töten von Menschen zu spielen). Auch gegen die Angemessenheit der Maßnahme bestehen keine Bedenken. Somit verstößt die behördliche Verfügung nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit. 4. Anwendungsbereich der Freiheit des Warenverkehrs: Da die Spielausrüstung eine Ware darstellt, fällt der Erwerb der Ausrüstung aus dem anderen Mitgliedstaat unter die durch Art 34 AEUV geschützte Freiheit des Warenverkehrs; auch hier liegt ein grenzüberschreitender Sachverhalt vor. Durch die Untersagung kann die O-GmbH davon abgehalten werden, die fragliche Ausrüstung zu erwerben. Allerdings ist nach der Rspr des EuGH zu fragen, ob eine nationale Maßnahme, die sowohl den freien Dienstleistungs- als auch den Warenverkehr beeinträchtigt, einen objektiven Schwerpunkt in ihrer Zielrichtung aufweist, was wiederum zur Folge hätte, dass sie nur im Hinblick auf eine der beiden Grundfreiheiten zu überprüfen ist. Diese Schwerpunktmethode nimmt der Gerichtshof an, wenn im konkreten Fall „eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann“ (EuGH, aaO, Rn 26). Hier tritt die Einfuhr der Waren hinter die Dienstleistung vollständig zurück, da sie nur den Zweck verfolgt, die für die untersagte Laserspielvariante speziell entwickelte Ausrüstung bereitzustellen; ihre Beschränkung ist damit eine zwangsläufige Folge der Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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Beschränkung der durch das ausländische Franchise-Unternehmen erbrachten Dienstleistung. Der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit ist damit nicht eröffnet; die Grundfreiheit ist hier subsidiär.
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Lösung Fall 17: Ein grenzüberschreitender Sachverhalt war im Zeitpunkt der EuGH-Entscheidung gegeben. Betroffen ist hier die Warenverkehrsfreiheit nach Art 34 AEUV, da die Filme Waren darstellen. Das Vertriebsverbot iSd JuSchG könnte als Maßnahme gleicher Wirkung (Art 34 AEUV) iSd Dassonville-Formel anzusehen sein. Diese setzt die Möglichkeit einer unmittelbaren oder mittelbaren, tatsächlichen oder potenziellen Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Handels voraus (Rn 95). Hier liegt eine tatsächliche und unmittelbare Beeinträchtigung vor. Denn zusätzliche nationale Kontrollen für Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht worden sind, erhöhen die Kosten und stellen auch im Übrigen eine Behinderung des grenzüberschreitenden Handels dar. Da die Maßnahme produktbezogen ist, stellen Kontrolle und Kennzeichnungspflicht für Bildträger auch keine bestimmten Verkaufsmodalitäten iSd Keck-Rspr (Rn 114 ff) dar. Folglich handelt es sich um eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen iSv Art 34 AEUV. Denkbar ist indes eine Rechtfertigung, wobei hier die staatlichen Zielsetzungen (zwar nicht unter die geschriebenen Gründe des Art 36 AEUV, wohl aber) unter die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe der zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls iSd Cassis-Rspr (Rn 153) gefasst werden können. Mangels formaler Diskriminierung sind diese hier anwendbar. Das JuSchG verfolgt den Zweck des Schutzes von Kindern, der ein berechtigtes Gemeinwohlinteresse darstellt. Allerdings muss die Maßnahme auch verhältnismäßig sein. Das ist nur der Fall, wenn die Beschränkungen des freien Warenverkehrs zum einen geeignet sind, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, was hier angesichts der Kontrolle anzunehmen ist. Sie müssen allerdings zum anderen auch erforderlich sein, dh nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels notwendig ist (auf die Angemessenheit geht der EuGH hier nicht ein). Der EuGH bejahte hier neben der Geeignetheit auch die Erforderlichkeit, nahm also wegen der besonderen Fallkonstellation und der betroffenen Interessen eine Ausnahme vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung an. Der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat (hier Deutschland) für andere Jugendschutz-Modalitäten als ein anderer Mitgliedstaat (damals Vereinigtes Königreich) entschieden hat, soll aus seiner Sicht hier keinen Einfluss auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der nationalen Bestimmungen haben. Diese seien allein an dem fraglichen Ziel und dem Schutzniveau zu messen, welches der betroffene Mitgliedstaat gewährleisten will. Er räumt dem Zielmitgliedstaat hier also Ermessensspielräume ein, was sicherlich nicht auf jede Art von Schutzmaßnahmen in jedem anderen Sektor übertragbar ist. Der EuGH stellt stattdessen hier auf prozedurale Sicherungen ab: Das Prüfverfahren muss leicht zugänglich sein und innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden können. Ferner muss, wenn es zu einer Ablehnung führt, die Ablehnungsentscheidung in einem gerichtlichen Verfahren angefochten werden können. Diese Voraussetzungen hat der EuGH beim JuSchG als erfüllt angesehen, so dass die erneute Kontrolle verhältnismäßig ist und ein Verstoß gegen Art 34 AEUV ausscheidet.
bb) Unionsgrundrechte und sonstige Primärrechtsbestimmungen 170 Die Grundfreiheiten können nur dann wirksam eingeschränkt werden, wenn die
betreffenden Maßnahmen auch den Anforderungen des primären Unionsrecht im Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
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Übrigen gerecht werden. Insbesondere sind die Unionsgrundrechte (Rn 12 f) sowohl von der EU als auch von den Mitgliedstaaten zu beachten. Bei der Einschränkung der Grundfreiheiten ist der Anwendungsbereich der Grundrechte eröffnet. Dies ist seit langem in der Rspr anerkannt.548 Die Unionsgrundrechte binden die Mitgliedstaaten zwar nur bei der Durchführung des Unionsrechts (Art 51 I 1 GRCh). Unter Durchführung ist aber auch die Anwendung des Unionsrechts zu verstehen (ausführlich → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 76 ff), so dass eine Einschränkung der unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten (wie in der Vergangenheit bei den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen nach Art 6 III EUV) auch an den Unionsgrundrechten der GRCh zu messen ist. Die Unionsgrundrechte können nicht nur mit den Grundfreiheiten kollidieren (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 27 ff), sondern auch den Schutz der Grundfreiheiten verstärken (Rn 17; → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 29).549 Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass die Schrankenregelungen550 und zwingenden Erfordernisse551 „im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen sind“. So werden die Medienvielfalt und die Rechte der Verbraucher durch Art 11 II, Art 38 GRCh geschützt. Wird die Freiheit des Warenverkehrs aus an sich berechtigten Gründen (zB der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit bzw im Allgemeininteresse liegender Zwecke) beeinträchtigt, würde die Beeinträchtigung aber der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt oder dem Verbraucherschutz abträglich sein, ist auf der Ebene des Primärrechts, das insofern keine hierarchischen Abstufungen kennt und in sich widerspruchsfrei sein muss,552 eine Abwägung zwischen der Warenverkehrsfreiheit und den Unionsgrundrechten der Medienfreiheit und des Verbraucherschutzes einerseits sowie den für die Beeinträchtigung sprechenden Gründen andererseits geboten.553 Entsprechendes kann sich bei Ausweisungsfällen ergeben; so hat der EuGH anerkannt, dass im Falle der Betroffenheit von Kindern auch deren Grundrechte aus den Art 7 und 24 GRCh zu berücksichtigen sind.554
548 S nur EuGH, Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925, Rn 43 f – ERT; Urt v 21.12.2016, Rs C-201/15 – AGET Iraklis, Rn 63 f. 549 Zu dem gem Art 52 II GRCh im Sinne der Verträge auszulegenden Art 15 II GRCh s schon Rn 151; → Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 27. 550 EuGH, Rs C-260/89, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT. 551 EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. 552 Man kann das auch als „Einheit der Unionsrechtsordnung“ bezeichnen; s. Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S 459 f; krit Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 166 ff. Die Bezeichnung der „Widerspruchsfreiheit“ erscheint indes aussagekräftiger. 553 EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. 554 EuGH, Urt v 13.9.2016, Rs C-304/14, Rn 36 – CS; Urt v 10.5.2017, Rs C-133/15, EuGRZ 2017, 377, Rn 70 f – Chavez-Vilchez ua; dazu Rigaux, Europe 7/2017, 25 f; Leboeuf, JDE 2017, 321 f.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
Solche mehrdimensionalen Abwägungserfordernisse können sich oftmals ergeben. So hat der EuGH in der Rechtssache Carpenter (Rn 46; → Pache, § 16 Rn 128) eine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit deshalb für unionsrechtswidrig erachtet, weil die Beeinträchtigung im konkreten Fall dem Unionsgrundrecht auf Achtung des Familienlebens widersprach. Begrenzen die Unionsgrundrechte die Einschränkbarkeit der Grundfreiheiten (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 28), entfalten sie ihre Wirkung als „Schranken-Schranken“ oder als Auslegungsregeln für die Interpretation der Schrankenregelungen. Nicht (jedenfalls nicht unmittelbar) zu prüfen ist vom EuGH oder vom EuG, ob die Beschränkung der Grundfreiheiten mit den nationalen Grundrechten vereinbar ist (Rn 151). Dies folgt aus der normenhierarchischen Stellung der nationalen Grundrechte, die niemals direkt den Grundfreiheiten oder den unionsrechtlich gestatteten Rechtfertigungsgründen gegenübergestellt werden können und damit auch in den Abwägungsprozess nicht eingestellt werden können. Die nationalen Grundrechte stellen aber gem Art 52 IV, Art 53 GRCh, 6 III EUV eine Rechtserkenntnisquelle für die Auslegung der Unionsgrundrechte dar (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 43 ff). Gleiches gilt für die EMRK-Rechte (Art 52 III, Art 53 GRCh, Art 6 III EUV). Nach einem Beitritt der EU zur EMRK (Art 6 II EUV) wären auch die EMRK-Rechte Bestandteil der Unionsrechtsordnung und somit von der Unionsgerichtsbarkeit im Auslegungswege heranzuziehen, auch wenn sie keinen primärrechtlichen Rang hätten (→ Ehlers/Germelmann, § 2.2 Rn 22 ff). Neben den Unionsgrundrechten müssen ferner die (sonstigen) allgemeinen Rechtsgrundsätze (Rn 27) – zu denen etwa auch das Erfordernis der Rechtssicherheit einschließlich des Vertrauensschutzes zu zählen ist555 – im gegebenen Fall bei der Einschränkung der Grundfreiheiten beachtet werden. Die EU muss bei einer Einschränkung der Grundfreiheiten durch Sekundärrecht die Anforderungen der kompetenzrechtlichen Trias des Art 5 I EUV (Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, Subsidiaritätsgrundsatz, kompetenzrechtlicher Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) beachten; auch in ansonsten formeller Hinsicht muss das Sekundärrecht mit den primärrechtlichen Vorgaben vereinbar sein.
555 Vgl zB EuGH, verb Rs C-143/88 u C-92/89, Slg 1991, I-415, Rn 49 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Rs C-201/02, Slg 2004, I-723, Rn 56 – Delena Wells; s auch schon Lecheler Der EuGH und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, 1971, S 83 ff.
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4. Schematische Zusammenfassung Fasst man die Überlegungen zusammen, bietet es sich an, die Grundfreiheiten wie 172 folgt zu prüfen; das Schema bildet dabei keine zwingende, sondern nur eine zweckmäßige Prüfungsabfolge ab: I.
Anwendbarkeit der Grundfreiheit (Rn 89) 1. Kein abschließendes (primärrechtskonformes) Sekundärrecht (Rn 93; nur bei entsprechendem Anhaltspunkt im Sachverhalt zu prüfen) 2. Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (Rn 95) – Binnenmarktbezug – bei Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit auch Drittstaatsbezug – ausnahmsweise entbehrlich (nur) bei Kernbereichsbeeinträchtigung des Freizügigkeitsrechts nach Art 21 AEUV 3. Zeitliche Anwendbarkeit (Rn 87; nur zu prüfen, wenn problematisch) 4. Räumliche Anwendbarkeit (Rn 86; nur zu prüfen, wenn problematisch) 5. Persönlicher Anwendungsbereich (Rn 62 ff) – Unionsbürger, juristische Personen innerhalb der Union – ggf Drittstaatsangehörige (insb bei der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit) 6. Sachlich einschlägige Grundfreiheit: Vorliegen einer sachlich geschützten Tätigkeit – zB Warenbegriff / Dienstleistungsbegriff / Arbeitnehmerbegriff /Niederlassungsbegriff / Definition des Kapitalverkehrs – ggf Abgrenzung der Grundfreiheiten voneinander (Rn 97) 7. Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheit (Rn 102); sehr restriktiv zu verstehen, nur bei entsprechendem Anhaltspunkt im Sachverhalt zu prüfen) 8. Keine Bereichsausnahme (Rn 106 ff): nur bei Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit – Art 45 IV / Art 51 UAbs 1 / Art 51 UAbs 1 iVm 62 AEUV
II. Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts (Rn 113) 1. Maßnahme (Handeln, Dulden oder Unterlassen) eines Verpflichteten (Rn 113 ff) – Mitgliedstaaten, Union – im Rahmen der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundfreiheiten auch Privatpersonen (Rn 75 ff) – bei mitgliedstaatlichem Unterlassen: Begründung einer Handlungspflicht aus der Grundfreiheit iVm Art 4 III EUV (Rn 54)
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2.
3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheit a) Diskriminierungsverbot (Rn 38) aa) Formale Diskriminierung (Rn 40, 114) bb) Faktische Diskriminierung (Rn 40, 114) b) Beschränkungsverbot (Rn 31, 118) aa) Keine rein entfernte, hypothetische Beeinträchtigung (Rn 116) bb) Beschränkung – Warenverkehrsfreiheit (Art 34 AEUV): (1) mengenmäßige Einfuhrbeschränkung oder (2) Maßnahme gleicher Wirkung = Dassonville-Formel: „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel (a) unmittelbar oder mittelbar, (b) tatsächlich oder potentiell zu behindern“ (3) Keine Tatbestandsausnahme nach der Keck-Rspr (Rn 121 ff): (a) „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ (NB: nach der Rechtsprechung des EuGH sind „Verwendungsmodalitäten“ nicht gleichgestellt), die (b) „für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und … den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren“ (= weder formal noch faktisch diskriminierend sind) – bei den anderen Grundfreiheiten: entsprechende Umschreibungen: (1) Maßnahmen, die die Ausübung der Freiheit „verhindern, behindern, weniger attraktiv machen“ (2) nach der Rspr keine Übertragung der Keck-Rspr, aber Differenzierung: (a) Kernbereich der Grundfreiheit: sofern der Zugang zum Markt beeinträchtigt wird, gilt uneingeschränkt das Beschränkungsverbot = jede Behinderung des Zutritts, nicht nur Diskriminierungen sind verboten (b) Randbereich der Grundfreiheit: sofern die geschützte Aktivität ohne Auswirkung auf den Marktzugang betroffen ist, gilt nur ein Diskriminierungsverbot; nur Ungleichbehandlungen sind tatbestandlich relevant
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(z. B. Vorgaben für Geschäftsöffnungszeiten, Erbringungsort, Werbung, nicht prohibitiv hohe Gebühren und Abgaben) (aa) formale Diskriminierungen (bb) faktische Diskriminierungen: Maßnahmen, die Ausländer/grenzüberschreitende Sachverhalte im Vergleich zur Inländern/rein internen Sachverhalten benachteiligen
III. Rechtfertigung der Beeinträchtigung (Rn 139 ff) 1. abschließende Regelung der Rechtfertigungsmöglichkeit durch Sekundärrecht (nur bei entsprechendem Anhaltspunkt im Sachverhalt zu prüfen) 2. geschriebene Rechtfertigungsgründe (Art 36, Art 45 III, Art 52 iVm 62, Art 64, Art 65 AEUV) (Rn 143 ff) a) Schutzgut (abschließender Katalog, eng zu interpretieren, nicht analogiefähig) – ggf Berücksichtigung der sachlichen Erfordernisse im Falle eines Handelns Privater (Rn 157) b) anwendbar auf alle Arten von Beeinträchtigungen (formale und faktische Diskriminierungen, reine Beschränkungen) 3. ungeschriebene Rechtfertigungsgründe (Rn 152) a) zwingendes Erfordernis des Gemeinwohls (mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume unter Kontrolle des EuGH) b) keine formale Diskriminierung (Rn 155) – Sonderfall: Umweltschutz (Rechtfertigungsmöglichkeit auch für formal diskriminierende Maßnahmen) – Berücksichtigung der sachlichen Erfordernisse im Falle eines Handelns Privater (Rn 157) 4. Verhältnismäßigkeit (Rn 159 ff) – insbesondere Erforderlichkeitsprüfung, hierbei gegebenenfalls Berücksichtigung der Standards/Wertungen aus dem Sekundärrecht – ggf besondere Berücksichtigung der Eingriffstiefe (Wesensgehalt, Rn 162) 5. Grenzen („Schranken-Schranken“) a) keine rein wirtschaftliche Motivation b) kein Verstoß gegen Unionsgrundrechte oder sonstiges Unionsprimärrecht (Rn 170 f)
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
VIII. Rechtsschutz 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen
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Fall 18: In der Stadthalle der deutschen Gemeinde G findet einmal im Jahr ein beliebter Regionalmarkt statt,556 auf dem typische Produkte aus der Region veräußert werden. Betrieben wird die Stadthalle von einer gemeindeeigenen GmbH. Deren Bestimmungen sehen vor, dass Mietverträge für die Marktstände nur mit regionalen Betrieben geschlossen werden. K stellt in einer Fabrik in Portugal Trachtenbekleidung her, darunter auch Jacken, die in der Region von G traditionell getragen werden. Diese Jacken möchte er auf dem kommenden Regionalmarkt in G anbieten. Die GmbH hat auf seine Anfrage jedoch erklärt, dass er nicht berücksichtigt werden könne, da sein Betrieb nicht aus der Region stamme. K fragt, auf welchem Rechtsweg er gegen G vorgehen kann.
174 Da die Grundfreiheiten unmittelbar anwendbar sind (Rn 10) und dem Einzelnen
Rechte verleihen (Rn 14), kann sich dieser gegen eine Verletzung der Grundfreiheiten vor Gericht direkt zur Wehr setzen. Dies gilt sowohl für Beeinträchtigungen durch die Union, durch die Mitgliedstaaten wie auch im Falle der Direktwirkung gegen Private. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Handelns der Union obliegt allein der Unionsgerichtsbarkeit.557 Als Klageart kommt die Nichtigkeitsklage (Art 263 IV AEUV), die Untätigkeitsklage (Art 265 III AEUV) oder die Schadensersatzklage (Art 268 AEUV) in Betracht.558 Richtet sich das Rechtsschutzbegehren gegen eine mitgliedstaatliche Maßnahme oder ein Handeln Privater, sind die jeweiligen mitgliedstaatlichen Gerichte zuständig. Der Rechtsweg bestimmt sich nach dem nationalen Prozessrecht.559 In Deutschland sind für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gem § 40 I 1 VwGO grds die Verwaltungsgerichte, für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten gem § 13 GVG grds die ordentlichen Gerichte (Zivilgerichte) zuständig. Die Grundfreiheiten können in beiden Kategorien von Streitigkeiten den Entscheidungsmaßstab bilden. Zu unterscheiden ist daher zwischen der Rechtsnatur der Grundfreiheiten und dem Rechtscharakter diesbezüglicher Streitigkeiten. Für die Rechtswegbestimmung stellt die Rspr in Deutschland auf den Rechtscharakter des Rechtsverhältnisses ab, aus dem der geltend gemachte Anspruch hergeleitet wird,
556 Vertiefend zu öffentlichen Einrichtungen Roeßing Einheimischenprivilegierungen und EGRecht, 2008, S 205 ff. 557 Grdl EuGH, Rs 314/85, Slg 1987, 4199, Rn 15 ff – Foto-Frost; dazu Glaesner, EuR 1990, 143 ff; ferner EuGH, Rs C-27/95, Slg 1997, I-1847 – Woodspring DC. 558 Näher dazu Ehlers in: ders/Schoch, RS, §§ 9–11. 559 Zu den Einwirkungen des Unionsrechts vgl Ehlers, DVBl 2004, 1441 ff; Dörr/Lenz Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2. Aufl 2019, S 273 ff.
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das sich maßgeblich nach der Rechtsnatur der streitentscheidenden Norm, im Übrigen aber auch nach dem dem Verwaltungshandeln zugrundeliegenden Recht bestimmt.560 Maßgeblich für die Zuordnung eines Rechtsverhältnisses zum öffentlichen oder privaten Recht im Bereich der Grundfreiheiten ist damit die Rechtsform des Handelns. Dieses bestimmt sich bei staatlichem Handeln nach Maßgabe der nationalrechtlichen Normen, auf deren Grundlage der Staat im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten handelt. Die Grundfreiheiten selbst erscheinen demgegenüber iSd Kriterien der modifizierten Subjektstheorie561 nicht als ausschließlich öffentlichrechtliche Normen, da sie zwar primär die Mitgliedstaaten und sekundär die Union (Rn 52 ff), aber im Rahmen der unmittelbaren Drittwirkung auch Private verpflichten (Rn 78). Wird ein Träger von Staatsgewalt auf der Basis öffentlich-rechtlicher Normen tätig, sind (vorbehaltlich aufdrängender oder abdrängender Sonderzuweisungen) gem § 40 I 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zuständig. Im Falle eines privatrechtlichen Handelns des Staates sind diesbezügliche Streitigkeiten auch dann dem bürgerlichen Recht zuzuordnen, wenn das Privatrecht durch die Bindungen an die Grundfreiheiten ergänzt, modifiziert und überlagert wird.562 Ebenso entscheiden die ordentlichen Gerichte (Zivilgerichte), wenn eine Verletzung der Grundfreiheiten durch der Bundesrepublik Deutschland zurechenbare Private in Rede steht oder Schadensersatz563 von einem Träger deutscher Staatsgewalt wegen Verletzung der Grundfreiheiten verlangt wird. Dem Privatrecht und damit dem Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten sind Streitigkeiten zuzuordnen, wenn ein Privater verpflichtet wird. Ist die Auslegung der Grundfreiheiten nicht zweifelsfrei, können sich die natio- 175 nalen Gerichte im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens gem Art 267 AEUV an den EuGH wenden. Letztinstanzliche Gerichte (Art 267 III AEUV) und Gerichte, die einen Verstoß von Sekundärrecht gegen die Grundfreiheiten annehmen wollen,564 sind zur Vorlage verpflichtet. Die Verletzung einer Grundfreiheit durch die deutsche Staatsgewalt kann auch 176 zu einer Verletzung deutscher Grundrechte führen. Auf die Grundrechte des Grundgesetzes können sich auch EU-Ausländer und juristische Personen aus den
560 ZB GmS-OGB BGHZ 97, 912; 102, 280; 108, 284; BVerwGE 129, 9; Ehlers in: ders/Schoch, RS, § 25 Rn 91 ff mwN; Stelkens Verwaltungprivatrecht 2005, 1029 ff. 561 Ehlers in: ders/Schoch, RS, § 25 Rn 109 ff. 562 Näher zur Regimewahlfreiheit der Mitgliedstaaten beim Vollzug des Unionsrechts Ehlers/Pünder in: dies, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl 2022, § 3 Rn 45. 563 Grdl zur Haftung der Mitgliedstaaten wegen der Verletzung der Grundfreiheiten EuGH, verb Rs C-46/93 u C-48/93, Slg 1996, I-1029 – Brasserie du pêcheur; dazu Streinz, EuZW 1996, 201 ff; Ehlers, JZ 1996, 776 ff; ferner BGHZ 134, 30. 564 EuGH, Rs 314/85, Slg 1987, 4199, Rn 15 ff – Foto-Frost.
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EU-Mitgliedstaaten berufen. Der Deutschenvorbehalt des Art 12 I 1 GG und der Inländervorbehalt des Art 19 III GG sind mit dem Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV nicht vereinbar. Sie dürfen daher nicht angewendet werden.565 Ist der Schutzbereich der Grundrechte eröffnet und liegt ein Grundrechtseingriff vor, führt die Verletzung einer Grundfreiheit durch die nationale Schrankenregelung wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (Rn 15) dazu, dass die Schrankennorm verdrängt wird und sich der Grundrechtseingriff nicht rechtfertigen lässt. Demgemäß können Verletzungen der Grundfreiheiten auch mittels Erhebung einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, wenn und soweit zugleich eine Beeinträchtigung nationaler Grundrechte vorliegt. Liegt zugleich ein Verstoß gegen die Unionsgrundrechte vor, soll neuerdings nach der Rspr des BVerfG auch dieser mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden können.566 177 Wendet sich der Einzelne gegen das Verhalten fremder Mitgliedstaaten, können grds nur deren Gerichte Rechtsschutz gewähren. Anders ist die Rechtslage, wenn die fremden Mitgliedstaaten im Inland tätig werden und nicht hoheitlich in Erscheinung treten.567 So haben die deutschen Gerichte gem Art 5 Nr 5 VO Nr 44/ 2001 über Klagen gegen öffentliche Unternehmen aus dem europäischen Ausland zu entscheiden, wenn diese von einer Niederlassung in der Bundesrepublik aus tätig werden.568 Kontrollmaßstab können auch die Grundfreiheiten sein. 178 Rügt der Einzelne eine Verletzung der Grundfreiheiten durch die EU, kommt die Nichtigkeitsklage gem Art 263 IV AEUV in Betracht, die gem Art 256 AEUV vor dem EuG zu erheben wäre. Voraussetzung ist, dass eine an den Betroffenen adressierte Entscheidung oder eine Entscheidung vorliegt, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen ist, den Einzelnen unmittelbar und individuell betrifft. Ferner können Rechtsakte mit Verordnungscharakter569 angegriffen werden, die den Kläger unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen. Ferner ist im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267 AEUV eine Gültigkeitsvorlage möglich,
565 So im Hinblick auf Art 19 III GG BVerfGE 129, 78, Rn 75 ff = JK 2012, GG Art 19 III/10. Richtigerweise wird dabei aber das Kriterium der Anwendbarkeit dem Wesen nach nicht modifiziert, so dass dieses auch bei juristischen Personen aus anderen Mitgliedstaaten gegeben sein muss. 566 S die „Recht auf Vergessen II“-Entscheidung BVerfGE 152, 216 (Rn 68 ff). 567 Bei hoheitlichem Auftreten genießen die fremden Staaten Immunität. Vgl BVerfGE 16, 27 (61 f); näher zum Ganzen Ehlers Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999, S 7 ff. 568 Da nach heutiger Auffassung der völkerrechtliche Immunitätsschutz nur für hoheitliches (acta iure imperii) und nicht für privatrechtliches Handeln (acta iure gestionis) gilt, vgl BVerfGE 16, 27 (61). 569 Vgl dazu EuGH, Urt v 3.10.2013, Rs C-583/11 P, EuZW 2014, 22, Rn 22 ff – Inuit Tapiriit Kanatami ua; dazu Streinz, EuZW 2014, 17 ff; Gundel, EWS 2012, 65 ff.
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die indes nicht durch Versäumung der Frist einer an sich für den Kläger des Ausgangsverfahren möglichen Nichtigkeitsklage gesperrt sein darf.570
2. Durchsetzung der Grundfreiheiten durch die EU-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten Neben den individuell Beeinträchtigten kann auch die EU-Kommission im Wege 179 eines Vertragsverletzungsverfahrens gem Art 258 AEUV die Beachtung der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten durchsetzen. Dieselbe Möglichkeit steht den Mitgliedstaaten nach Art 259 AEUV zu, wenn sie der Auffassung sind, dass andere Mitgliedstaaten gegen eine Grundfreiheit verstoßen haben.571 Schließlich können auch die Mitgliedstaaten und EU-Organe nach Maßgabe des Art 263 II und III AEUV Nichtigkeitsklage gegen unionsrechtliche Bestimmungen erheben. Lösung Fall 18: In Betracht kommen der Verwaltungsrechtsweg gem § 40 I 1 VwGO oder der Weg zu den ordentlichen Gerichten nach § 13 GVG. Die Verwaltungsgerichte sind danach zuständig für öffentlichrechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art. Die ordentlichen Gerichte entscheiden über bürgerliche Rechtsstreitigkeiten. Eine Streitigkeit ist nach hM öffentlich-rechtlich, wenn das Rechtsverhältnis aus dem der Anspruch hergeleitet wird, dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist (Rn 174). Dies wird gemeinhin dann angenommen, wenn die streitentscheidenden Normen solche des öffentlichen Rechts sind. Nach der modifizierten Subjektstheorie ist das der Fall, wenn sie einen Hoheitsträger einseitig berechtigen oder verpflichten. Streitentscheidend können hier die Grundfreiheiten der Warenverkehrsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit Art 34 oder 56 AEUV sein, je nach dem, um welches Angebot es sich handelt. Bei K liegt die Warenverkehrsfreiheit näher. Allerdings sind die Grundfreiheiten keine Normen, die eindeutig nur Hoheitsträger verpflichten, da sie zum einen auch Drittwirkung gegenüber Privaten entfalten können (Rn 78) und zum anderen den Staat bei jeder seiner Handlungsformen binden, gleichgültig, ob er hoheitlich (öffentlich-rechtlich) oder fiskalisch (privatrechtlich) handelt. Die Qualifizierung der streitentscheidenden Normen hilft hier also nicht weiter, so dass die Natur des Rechtsverhältnisses im Übrigen betrachtet werden muss. K begehrt von G, ihm durch Einwirkung auf die Betreibergesellschaft Zugang zu dem Regionalmarkt zu verschaffen. Die den Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung einer Gemeinde betreffenden Rechtsbeziehungen zwischen der Gemeinde und einem Privaten werden dabei gemeinhin als öffentlich-rechtlich angesehen, weil das Rechtsverhältnis durch Art 3 I GG iVm der öffentlich-rechtlichen Widmung, den kom-
570 Vgl dazu EuGH, Rs C-188/92, Slg 1994, I-833 – TWD Textilwerke Deggendorf = EuZW 1994, 250 m Anm Pache S 615 ff; Rs C-269/90, Slg 1991, I-5469 – TU München. 571 Prominent in jüngerer Zeit EuGH, Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17 – Österreich/Deutschland (PkwMaut) = EuZW 2019, 688 m Anm Barbist/Kröll = DÖV 2019, 1004 m Bespr Heffinger S 981 ff = NJW 2019, 2369 m Bespr Kahle/Hafner S 2353 ff = NVwZ 2019, 1023 m Anm Zabel u Bespr Hofmann, NVwZ 2019, 1257 ff = JZ 2020, 250 m Anm Terhechte; s auch Chapuis-Doppler/Delhomme, MJ 26 (2019), 849 ff; Kainer/Fischinger-Corbo, EuZW 2019, 894 ff; Rigaux, Europe 8/2019, 20 ff.
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munalrechtlichen Benutzungsanspruch und ggf § 70 GewO geprägt wird.572 Hieraus leitet sich die sog Zwei-Stufen-Theorie ab, deren erste Stufe (das „Ob“ des Zugangs) öffentlich-rechtlich ist und deren zweite Stufe (das „Wie“ der Ausgestaltung des Zugangs) ggf auch privatrechtlich organisiert werden kann.573 Nach dieser Lösung wäre hier das Rechtsverhältnis auf der ersten, öffentlich-rechtlichen Stufe angesiedelt und daher die Streitigkeit öffentlich-rechtlich, mit der Folge der Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges. Stellt man hingegen bei der Qualifikation des Rechtsverhältnisses allein auf die streitentscheidenden Normen der Grundfreiheiten ab, die beiden Rechtskreisen zuzuordnen sein können, könnte uU sowohl ein öffentlich-rechtlicher als auch ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch und zugleich sowohl ein öffentlich-rechtliches als auch ein privatrechtliches Rechtsverhältnis angenommen werden. K hätte dann ein Wahlrecht. Er könnte sowohl Klage vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Zivilgericht erheben. Das angerufene Gericht hätte gem § 17 II 1 GVG (zur Vermeidung einer Rechtswegspaltung) auch über die rechtswegfremden Ansprüche mit zu entscheiden. Gegen diese Lösung spricht aber der Umstand, dass die Grundfreiheiten in Bezug auf die mitgliedstaatliche Dogmatik der Angrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht vollständig neutral sind und sie nicht als hinreichender Grund für eine prozessuale Lösung herangezogen werden können, die von der dogmatischen Einordnung vergleichbarer Anspruchsgrundlagen des nationalen Rechts abweicht. Entscheidend ist für grundfreiheitlich begründete Ansprüche lediglich, dass sie gleich wie nationalrechtlich begründete behandelt werden müssen (Äquivalenzprinzip) und ihre Durchsetzung durch das nationale (Prozess-)Recht nicht unmöglich gemacht oder unverhältnismäßig erschwert werden darf (Art 4 III EUV).574 Beides ist bei der Ablehnung eines Wahlrechts und der Annahme der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nicht der Fall.
572 Vgl zB BVerwG, NJW 1990, 134 f; zu § 70 GewO vgl Ehlers in: ders/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 1, 4. Aufl 2019, § 18 Rn 87; dens, JURA 2012, 849 (850, 855 f). 573 Dazu statt vieler Siegel Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl 2022, Rn 879 ff. 574 S nur EuGH, verb Rs C-392/04 u C-422/04, Slg 2006, I-8559 – i-21 Germany und Arcor = JZ 2006, 404 m Anm Ruffert; dazu Ludwigs, NVwZ 2007, 549; Gärditz, NWVBl 2006, 441; Rs C-234/04, Slg 2006, I2585, Rn 19 ff – Kapferer = JZ 2006, 904 m Anm Ruffert.
Dirk Ehlers/Claas Friedrich Germelmann
§ 13 Freiheit des Warenverkehrs Leitentscheidungen: EuGH, Rs 8/74, Slg 1974, 837 ff – Dassonville; Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon; verb Rs C-267/91 u C-268/91, Slg 1993, I-6097 ff – Keck; Rs C-470/93, Slg 1995, I-1923 ff – Mars; verb Rs C-34-36/95, Slg 1997, I-3843 ff – de Agostini; Rs C-405/98, Slg 2001, I-1795 ff – Gourmet International; Rs C-112/00, Slg 22003, I-5659 – Schmidberger; Rs C-322/01, Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4; Rs C-20/03, Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjer = JK 2006, EGV Art 28/6; Rs C-141/07, Slg 2008, I-6935 ff – Kommission/Deutschland = JK 2009, EGV Art 28/11; Rs C-142/05, Slg 2009, I-4273 ff – Mickelsson u Roos; Urt v 26.4.2012, Rs C-456/10 – ANETT; Urt v 23.12.2015, Rs C-333/14 – Scotch Whisky Association; Urt v 19.10.2016, Rs C-148/15 – Deutsche Parkinson Vereinigung; Urt v 18.6.2019, Rs C-591/ 17 – Österreich/Deutschland.
Schrifttum: Brigola Erfolgsgeschichte in sieben Jahrzehnten – Das dogmatische Gebäude des freien Warenverkehrs auf dem Fundament seiner Leading Cases, FS Manfred A. Dauses, 2014, 17 ff; Büchele Diskriminierung, Beschränkung und Keck-Mithouard – die Warenverkehrsfreiheit in: Roth/Hilpold (Hrsg) Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, 335 ff; Classen, Vorfahrt für den Marktzugang?, EuR 2009, 555 ff; Dawes, A freedom reborn? The new yet unclear scope of Article 29 EC, ELR 2009, 639 ff; Defossez, L’article 29 TCE Histoire d’une divergence et d’une possible réconciliation, CDE 2009, 409 ff; Dietz/Streinz, T. Das Marktzugangskriterium in der Dogmatik der Grundfreiheiten, EuR 2015, 50 ff; Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, 2000; Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages als Gemeinschaftsgrundrechte, 2004; Gormley EU Law of Free Movement of Goods and Customs Union, 2009; Hoffmann Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000; Holst, Die verschiedenen Ansätze des EuGH zur Begrenzung des Anwendungsbereichs der Warenverkehrsfreiheit – eine Bewertung, ZEuS 2017, 333 ff; Holst, Keine einheitliche Dogmatik des EuGH für die sachgerechte Begrenzung des Anwendungsbereichs der Warenverkehrsfreihit – ein Erklärungsversuch, EuR 2018, 87 ff; Horsley Unearthing Buried Treasure: Article 34 TFUE and the Exclusionary Rules, ELR 2012, 734 ff; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Laboux La jurisprudence Keck et Mithouard revisitée en doctrine, Mélanges Jean-Paul Jacqué, 2010, 397 ff; Mayer, Die Warenverkehrsfreiheit im Europarecht – eine Rekonstruktion, EuR 2003, 793 ff; Millarg Die Schranken des freien Warenverkehrs in der EG, 2001; Oliver (Hrsg) Free Movement of Goods in the European Community, 5. Aufl, London 2010; Oliver/Enchelmaier, Free movement of goods: Recent developments in the case law, CMLRev 2007, 649 ff; Rauber, Quo vadis „Keck“? – zum Problem von Verwendungsbeschränkungen im freien Warenverkehr –, ZEuS 2010, 15 ff; Reyes y Rafales, 6 Jahre « Anhänger-Rechtsprechung » zu Art 34 Alt 2 AEUV (insbesondere Lahousse, Ker Optika, Guarnieri, Alands, Essent II, ANETT, Pelckmans), DVBl 2015, 268 ff; Reyes y Rafales Die Warenausfuhrfreiheit: ein Beschränkungsverbot, 2017; de Sadeleer, Restrictions of the Sale of Pharmaceuticals and Medical Devices such as Contact Lenses over the Internet and the Free Movement of Goods, European Journal of Health Law 2012, 3 ff; Schorkopf, Beweislast im Recht des freien Warenverkehrs. Die erneuerte Cassis-Formel als Schnittmenge von Binnenmarktrecht und GATT, EuR 2009, 645 ff; Schütze, Of Types and Tests: Towards a Unitary Doctrinal Framework for Article 34 TFEU?, ELR 2017, 826 ff; Wenneras/Moen, Selling Arrangements, Keeping Keck, ELR 2010, 387 ff; Woods Free Movement of Goods and Services within the European Community, 2004.
Astrid Epiney https://doi.org/10.1515/9783110716740-035
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1 Die Freiheit des Warenverkehrs wird nach der Konzeption des AEU-Vertrages
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durch drei „Kategorien“ von Bestimmungen bzw Vorgaben gewährleistet: die Verwirklichung der Zollunion, das Verbot mengenmäßiger Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie das Gebot der Umformung staatlicher Handelsmonopole. Art 30 ff AEUV enthalten die für die Zollunion maßgeblichen Vorschriften. Im Einzelnen sind hier einerseits der Abbau von Ein- und Ausfuhrzöllen sowie von Abgaben gleicher Wirkung (Art 30 AEUV), andererseits die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber Drittstaaten (Art 31 AEUV) vorgesehen. Während Art 30 AEUV unmittelbar wirksam ist, Einzelnen entspr Rechte verleiht und insofern dieselben Charakteristika wie die Grundfreiheiten aufweist,1 wird der Gemeinsame Zolltarif (notwendigerweise) durch EU-Sekundärrecht eingeführt.2 Das Verbot der mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und der Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 34–36 AEUV) ergänzt das in Art 25, 30 AEUV ausgesprochene Verbot der tarifären durch ein solches der nichttarifären Handelshemmnisse, womit ein wesentlicher Beitrag zur Öffnung der Märkte in Bezug auf die grenzüberschreitende Warenzirkulation geleistet wird. Art 37 AEUV schließlich sieht die Umformung staatlicher Handelsmonopole vor. Diese die Verbote der tarifären und nicht tarifären Handelshemmnisse ergänzende Bestimmung soll verhindern, dass das Verhalten staatlicher Handelsmonopole die Wirksamkeit der Regeln über den freien Warenverkehr einschränkt.3 Die folgenden Ausführungen beschränken sich – iSd Anlage dieses Bandes – auf den an zweiter Stelle genannten Aspekt, dem im Übrigen auch in der (gerichtlichen) Praxis die weitaus größte Bedeutung zukommt. In Bezug auf die inhaltliche Tragweite der Art 34, 35 AEUV kann – entspr den ausgeführten allgem Lehren (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 88 ff) – zwischen Schutzbereich (I.), Beeinträchtigung (II.) und Rechtfertigung (III.) unterschieden werden. Dabei werden die bereits allgem ausgeführten Probleme nur am Rande angesprochen, so dass der Akzent auf den für den Bereich des Warenverkehrs spezifischen oder besonders relevanten Fragestellungen liegt.
1 Während der Begriff der Zölle relativ klar ist, wirft derjenige der Abgaben gleicher Wirkung einige Fragen auf. Hierzu mwN aus der Rspr Epiney in: Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, EU, § 11 Rn 15 ff. 2 Vgl hierzu im Einzelnen die einschlägige Kommentarliteratur zu Art 28, 31 AEUV. 3 Allerdings werden staatliche Handelsmonopole nicht verboten, sondern (auch) den Regeln des freien Warenverkehrs unterstellt. Vgl im Einzelnen zu der Bestimmung und ihrer Auslegung durch den EuGH die einschlägige Kommentarliteratur zu Art 37 AEUV.
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I. Schutzbereich 1. Räumlicher Schutzbereich Der räumliche Anwendungsbereich der Art 34, 35 AEUV ergibt sich aus Art 52 6 EUV, Art 355 AEUV und entspricht damit dem Geltungsbereich der Verträge (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 86).
2. Sachlicher Schutzbereich a) Aus den Mitgliedstaaten stammende oder sich im freien Verkehr befindende Waren Nach Art 28 II AEUV findet das Kap über den freien Warenverkehr auf Waren An- 7 wendung, die aus den Mitgliedstaaten stammen oder sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Der Begriff der Ware wird im Vertrag nicht definiert; allerdings ist er durch die 8 Rspr des EuGH4 einer gewissen Klärung zugeführt worden. Danach sind unter Waren bewegliche körperliche Sachen zu verstehen, denen grds ein Geldwert zukommt, so dass sie Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Der EuGH legt hier teilweise aber auch eine pragmatische Sicht zugrunde, so wenn er die Warenqualität von Abfall wegen ansonsten auftretender Abgrenzungsschwierigkeiten – Abfall kommt manchmal, aber nicht immer ein Geldwert zu, und diese Beurteilung kann sich auch recht schnell ändern – bejaht.5 Elektrischer Strom und Gas sind ebenfalls als Ware anzusehen,6 wofür insb ihre Handelsfähigkeit und ihre praktische Handhabung als geldwertes Gut sprechen. Die Wareneigenschaft ist ebenfalls zu bejahen, wenn ein Produkt als „Speicherungsbehälter“ dient, wie etwa bei Schallplatten, während Erfindungen oder Computerprogrammen als solche mangels „Körperlichkeit“ keine Warenqualität zukommt.7 Auch wenn es um bewegliche Sachen geht, kann die Wareneigenschaft und da- 9 mit die Einschlägigkeit von Art 34, 35 AEUV dann zu verneinen sein, wenn der beweglichen Sache als solcher gar keine Bedeutung und kein bzw ein vergleichsweise
4 Vgl etwa EuGH, Rs C-97/98, Slg 1999, I-7319, Rn 30 ff – Jägerskiöld. 5 EuGH, Rs C-2/90, Slg 1992, I-4431, Rn 22 ff – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3. 6 EuGH, Rs C-393/92, Slg 1994, I-1477, Rn 28 – Almelo; Rs C-379/98, Slg 2001, I-2099, Rn 68 ff – Preussen Elektra; Urt v 6.12.2018, Rs C-305/17– Fens; EuGH (GK), Urt v 1.7.2014, Rs C-573/12 – Ålands Vindkraft; EuGH, Urt v 17.9.2020, Rs C-648/18 – ANRE. 7 Herrmann in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 28 AEUV Rn 40; ausführlich auch Frenz GF, Rn 803 ff.
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zu vernachlässigender Wert zukommt, insb weil der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit auf einem anderen Gebiet zu suchen ist. So ist etwa die Beschlagnahme von Lotterielosen und des diesbezüglichen Werbematerials im Gefolge der Anwendung eines allgem Verbots von Lotterieveranstaltungen nicht unter dem Gesichtspunkt der Warenverkehrs-, sondern demjenigen der Dienstleistungsfreiheit zu prüfen, steht doch die Versendung der Materialien in untrennbarem Zusammenhang mit der Durchführung von Lotterieveranstaltungen.8 Ebenso steht nach Ansicht des EuGH bei der Lieferung eines Laserspiels die Dienstleistungsfreiheit dann im Vordergrund, wenn die Einfuhr von Waren nur hinsichtlich der speziell für die untersagte Laserspielvariante entwickelte Ausrüstung beschränkt und dies eine zwangsläufige Folge der Beschränkung der erbrachten Dienstleistung ist.9 Hingegen berühre ein nationales Verbot des „ambulanten“ Verkaufs von Zeitschriftenabonnementen ohne Genehmigung schwerpunktmäßig Art 34 AEUV, während die Dienstleistungsfreiheit nach Art 56 AEUV zurücktrete.10 Ebenso sei eine nationale Regelung, wonach Apotheken der ärztlichen Verschreibungspflicht unterstehende Medikamente nicht aufgrund eines «Bestellscheins» (der den Namen des Patienten nicht aufführt, so dass die Arzneimittel im Rahmen der Gesundheitsdienstleistungen zB in einer Praxis oder im Krankenhaus verwendet werden sollen) abgeben dürfen, wenn dieser von einer im Ausland praktizierenden Person ausgestellt wurde, während die Abgabe gestattet ist, wenn der betreffende Bestellschein von einer im Inland praktizierenden Person ausgestellt wurde (und beide Kategorien von Personen zur Verschreibung von Arzneimitteln befugt sind), am Maßstab des freien Warenverkehrs, und nicht der Dienstleistungsfreiheit zu prüfen.11 10 Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass diesen Abgrenzungsfragen insofern keine große praktische Relevanz zukommen dürfte, als im Falle der Verneinung der Einschlägigkeit des Art 34, 35 AEUV die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) zum Zuge käme. 11 Art 34 ff AEUV finden sodann – wie erwähnt – nur auf solche Waren Anwendung, die entweder aus den Mitgliedstaaten stammen oder aber – im Fall von aus Drittstaaten stammenden Waren – sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Der Nachweis des „Unionscharakters“ der Waren ist im Einzelnen im Zollkodex geregelt.12 12 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang weiter auf Sonderregelungen für spezifische Waren und Bereichsausnahmen: Erstere bestehen hinsichtlich der
8 EuGH, Rs C-275/92, Slg 1994, I-1039, Rn 22 f – Schindler. 9 EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 26 f – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13. 10 EuGH, Rs C-20/03, Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjer = JK 2006, EGV Art 28/6. 11 EuGH, Urt v 18.9.2019, Rs C-222/18 – VIPA. 12 VO 952/2013.
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dem EAG-Vertrag unterfallenden Waren, wobei aber dieser Vertrag ebenfalls den Abbau der Binnenschranken vorsieht. In Erwägung ziehen könnte man, die Vorschriften des AEU-Vertrages jedenfalls subsidiär anzuwenden,13 was dann in Betracht kommt, wenn die konkreten Garantien des AEU-Vertrages weiter gehen.14 Auf die landwirtschaftlichen Erzeugnisse finden ua die Vorschriften über den freien Warenverkehr soweit Anwendung, als Art 39–44 AEUV nichts Abweichendes bestimmen (Art 38 II AEUV). Weiter ist von Bedeutung, dass der Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial gemäß Art 346 I lit b AEUV eingeschränkt werden kann. Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob die Wareneigenschaft (und ggf 13 die Einschlägigkeit auch anderer Grundfreiheiten) aus ethischen Gründen ausgeschlossen ist bzw sein kann.15 Diese Problematik wird etwa bei Leichen, Embryonen oder Stammzellen relevant und kann sich entspr auch im Rahmen anderer Grundfreiheiten stellen. Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe gegen eine grds Einschränkung des Warenbegriffs aus ethischer Sicht: Zunächst ist die Frage der möglichen Reichweite einer solchen Einschränkung kaum wirklich allgemein-abstrakt und damit vorhersehbar zu beantworten, differieren doch die Ansichten darüber, was „ethisch“ ist und was nicht, erheblich, wie die Diskussion über die Stammzellen exemplarisch aufzuzeigen vermag. Weiter und insb geht die Systematik der Art 34 ff AEUV davon aus, dass solche Probleme im Rahmen der Rechtfertigung zu lösen sind, nimmt doch Art 34 AEUV grds gerade keine Rücksicht auf die rechtliche Einordnung eines bestimmten Produkts in einem Mitgliedstaat. Diesem Aspekt wird vielmehr auf der Rechtfertigungsebene (Art 36 AEUV und zwingende Erfordernisse, insb öffentliche Ordnung) Rechnung getragen. Daher erscheint es sinnvoller, die möglicherweise bestehende ethische Fragwürdigkeit des Handels mit bestimmten Produkten auf dieser Ebene zu lösen; auf diese Weise kann dann auch der unterschiedlichen Beantwortung solcher Fragen durch die Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden. Auch die Rspr des EuGH geht im Zusammenhang mit den Personenverkehrsfreiheiten in diese Richtung, so wenn der Gerichtshof die Einschlägigkeit des Art 56 AEUV für Abtreibungen16 oder diejenige der Art 45, 49 AEUV für die Tätigkeit als Prostituierte17 bejaht, wobei er die Erwägung, dass diese Tätigkeiten unethisch sein könnten bzw nach dem Recht der jeweiligen Mitgliedstaaten verboten
13 So wohl Herrmann in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 28 AEUV Rn 42; s auch EuGH, Rs C239/06, Slg 2009, I-11913 – Kommission/Italien. 14 So enthält der EAG-Vertrag etwa nur ein Verbot mengenmäßiger Beschränkungen, nicht aber von Maßnahmen gleicher Wirkung. 15 Zu diesem Problem Frenz GF, Rn 870 ff. 16 EuGH, Rs C-159/90, Slg 1991, I-46 – Grogan. 17 EuGH, Rs C-268/99, Slg 2001, I-8015 – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
sind, offenbar nicht für ausschlaggebend ansieht. Im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit bejahte der EuGH unproblematisch die Wareneigenschaft von Plasma, obwohl es aus menschlichem Blut gewonnen wird.18 14 Allerdings ist die Eröffnung des Schutzbereichs des freien Warenverkehrs dann zu verneinen, wenn es um Produkte geht, mit denen der Handel grundsätzlich aufgrund völker- und unionsrechtlicher Vorgaben verboten ist. So hielt der Gerichtshof in Bezug auf Betäubungsmittel fest, diese fielen (abgesehen von engen Ausnahmen) „ihrem Wesen nach“ unter ein Einfuhr- und Verkehrsverbot, so dass eine Berufung auf die Grundfreiheiten (oder auch das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit) nicht möglich sei. Hieran ändere auch der Umstand nichts, dass die Niederlande (es ging um eine Regelung der Stadt Maastricht, wonach nicht in den Niederlanden ansässigen Personen der Zutritt zu sog Coffeeshops, in denen nur oder ua Cannabis verkauft wird, zu verweigern ist) eine „Politik der Toleranz“ gegenüber dem Verkauf von Cannabis verfolgen, denn der Handel mit Betäubungsmitteln sei gleichwohl verboten, und es handle sich hier letztlich um eine Prioritätensetzung der Behörden bei der Bekämpfung des Drogenhandels.19 Entscheidend war für den Gerichtshof hier offenbar, dass der Handel mit Betäubungsmitteln aufgrund von Völker- und Unionsrecht zu verbieten ist, so dass aus dem Urteil nicht der Schluss gezogen werden kann, die Grundfreiheiten fänden in Bezug auf bestimmte (national) verbotene Verhaltensweisen keine Anwendung. Im Umkehrschluss bedeutet dies dann auch, dass zB auch Suchtstoffe in den Schutzbereich des freien Warenverkehrs fallen, soweit sie im Einklang mit den einschlägigen unions- und völkerrechtlichen Vorgaben gehandelt und vermarktet werden.20
b) Zum Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs 15 Auch die Anwendbarkeit der Art 34 ff AEUV setzt nach der Rspr des EuGH einen
grenzüberschreitenden Sachverhalt voraus (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 2, 25, 31).21 Sog „umgekehrte Diskriminierungen“ – dh solche Fälle, in denen inländische Erzeugnisse im Gefolge der Anwendung des Unionsrechts (zB des Art 34 AEUV) schlechter gestellt sind als aus dem EU-Ausland eingeführte Waren – sind danach aus unionsrechtlicher Sicht zulässig. In Anbetracht der Entwicklung des Unionsrechts – insb der Einf des Ziels der Errichtung eines „grenzenlosen“ Binnenmarktes – dürfte jedoch das ausschließliche Abstellen auf eine Grenzüberschreitung als 18 EuGH, Urt v 19.7.2016, Rs C-296/15 – Medisanus. 19 EuGH, Rs C-137/09, Slg 2010, I-13019 ff – Josemans = JK 2011, AEUV Art 56/1. 20 EuGH, Rs C-324/93, Slg 1995, I-563 ff – Evans; Urt v 19.11.2020, Rs C-663/18 – BS u CA. 21 Vgl aus der Rspr speziell zu Art 34 AEUV EuGH, Rs 98/86, Slg 1987, 809, Rn 12 – Mathot; Rs 168/86, Slg 1987, 995, Rn 7 – Rousseau.
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Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Unionsrechts seinem Stand nicht mehr Rechnung tragen. Angemessener wäre hier eine differenzierendere Betrachtungsweise, so dass das Fehlen eines grenzüberschreitenden Elements zwar bei der Art und Weise der Prüfung des Art 34 AEUV auf der Rechtfertigungsebene von Bedeutung sein könnte (insb in Bezug auf den den Mitgliedstaaten einzuräumenden Gestaltungsspielraum), nicht jedoch schon von vornherein die Anwendung dieser Bestimmung ausschlösse.22 Letztlich dürfte auch die Rspr des EuGH die Fragwürdigkeit des Abstellens auf die „Grenzüberschreitung“ als Voraussetzung für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten illustrieren: Denn dieser23 fasst das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements immer weiter, so dass es letztlich ausreicht, dass irgendein Element des Ausgangssachverhalts einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist, ohne dass etwa die grenzüberschreitende Wahrnehmung der Freiheit selbst notwendig wäre.24 Zudem reicht offenbar bereits die Möglichkeit der Inanspruchnahme zumindest gewisser Grundfreiheiten für das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs aus;25 eine Möglichkeit der Wahrnehmung bestimmter Rechte besteht aber fast immer. Auf der Grundlage dieser Rspr ist nicht erkennbar, durch welche voraussehbaren Kriterien das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs festgestellt werden kann und unter welchen Voraussetzungen ein – in den Worten des Gerichtshofs – „relevantes Element“, das über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausreicht, vorliegen soll; vielmehr legt die Rspr die Annahme nahe, dass nicht ein „relevantes Element“ grenzüberschreitend sein muss, sondern dass „irgendein“, wenn auch sehr schwach ausgeprägter, Bezug zum EU-Ausland ausreicht. Bei einer derart weiten Auslegung des Erfordernisses des grenzüberschreitenden Bezugs erscheint jedoch eine Differenzierung
22 Ausf zu diesem Ansatz Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, insb 200 ff; zum Problemkreis auch Hammerl Inländerdiskriminierung, 1997; Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008; Iglesias Sanchez, ECLR 2018, 7 ff; Croon-Gestefeld, EuR 2016, 56 ff; Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 18 AEUV Rn 27 ff. 23 Vgl insb EuGH, Rs C-60/00, Slg 2002, I-6279, Rn 28 ff – Carpenter = JK 2002, EGV Art 49/6; Rs C-148/ 02, Slg 2003, I-11613 ff – Garcia Avello; Rs C-208/05, Slg 2007, I-181 ff – ITC = JK 2007, EGV Art 39/6; Rs C-403/03, Slg 2005, I-6421 ff – Schempp; Urt v 6.10.2015, Rs C-298/14 – Brouillard; Urt v 10.4.2018 – Pisciotti. Allerdings kommt es durchaus vor, dass der Gerichtshof das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs verneint, vgl aus der jüngeren Rspr EuGH, Urt v 8.5.2019, Rs C-53/18 – Mastromartino; Urt v 4.6.2019, Rs C-665/18 – Polus Vegas; Urt v 15.5.2019, Rs C-789/18 – Segretariato Generale. Zur Frage der Voraussetzungen für das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs Lippert, ZEuS 2014, 273 ff; Lippert Der grenzüberschreitende Sachverhalt im Unionsrecht, 2013, insbes S 25 ff. 24 Insb zum zuletzt genannten Aspekt Hofstötter, ELJ 2005, 548 (551 ff); Tryfonidou, EPL 2005, 527 (536 ff). 25 Hierauf ausdrücklich hinweisend v Bogdandy/Bitter FS Manfred Zuleeg, 2005, S 309 (319 f).
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zwischen „grenzüberschreitenden“ und „internen“ Sachverhalten kaum mehr sachdienlich.26
3. Persönlicher Schutzbereich a) Berechtigte 16 Der Schutzbereich der Art 34 ff AEUV knüpft entscheidend an den Warenbegriff an
und ist insofern ausschließlich als Produktverkehrsfreiheit ausgestaltet; im Gegensatz zu den Personenverkehrsfreiheiten fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass sich nur Unionsbürger sowie juristische Personen, die gewissen Anforderungen genügen, auf diese Bestimmungen berufen könnten. Diese Sachbezogenheit der Warenverkehrsfreiheit und ihr Sinn und Zweck, im Hinblick auf die Verwirklichung des Binnenmarktes den freien Verkehr von Waren im Binnenmarkt zu gewährleisten (eine Zielsetzung, die in Bezug auf die vom Schutzbereich erfassten Waren, unabhängig von deren Eigentümer, zum Zuge kommen muss), legen es nahe, dass sich auch Drittstaatsangehörige auf die Gewährleistung des freien Warenverkehrs berufen können.27
b) Verpflichtete Fall 1: (EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3) Auf der Brenner-Autobahn, eine zentrale Nord-Süd-Transitachse, kam es 1998 zu einer Demonstration von Umweltschützern, die sich gegen den (wachsenden) Transitverkehr wandten. Die Demonstration wurde von den zuständigen österreichischen Behörden (nach Einreichung eines entspr Antrags) genehmigt und führte zu einer 30-stündigen Blockade der Autobahn. Die österreichischen Behörden informierten einige Zeit vor der Demonstration umfassend über diese und schlugen verschiedene Ausweichstrecken vor. Eugen Schmidberger, ein Spediteur, klagte vor dem OLG Innsbruck gegen die
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26 Vgl schon Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, insb S 200 ff; ähnlich zB Iglesias Sanchez, ECLR 2018, 7 ff; Tryfonidou Reverse Discrimination, 2009 passim; spezifisch mit Bezug zur Unionsbürgerschaft Bode Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studierender und ihre Auswirkungen in den Mitgliedstaaten. Zur Reichweite des Diskriminierungsverbots im Hochschulbereich unter besonderer Berücksichtigung der Unionsbürgerschaft, 2005, S 237; Shuibhne, CMLRev 2002, 731 ff; Spaventa, CMLRev 2008, 13 ff; Toner, MJ 2000, 158 ff; Kämmerer, EuR 2008, 45 (49) jew mwN; s auch die überzeugende Untersuchung von Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, insb S 245 ff. AA aber die hM, s zB Riese/Noll, NVwZ 2007, 516 ff; Hanf, MJ 2011, 29 ff; CroonGestefeld, EuR 2016, 56 ff; Dautricourt/Thomas, ELR 2009, 433 ff. 27 Ebenso etwa Frenz GF, Rn 230 f, 296; aA etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 32 f.
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Republik Österreich und beantragte Schadensersatz dafür, dass seine LKWs während dieser Zeit nicht genutzt werden konnten und er dadurch einen genauer bezifferten Verdienstausfall erlitten habe. Das OLG Innsbruck stellt sich im Rahmen dieses Verfahrens die Frage, ob die Republik Österreich gegen ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat, da sie die Demonstration nicht untersagt hat.
Normadressaten der Art 34 ff AEUV sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, von 18 denen auch in der Praxis der weitaus größte Teil der Beschränkungen dieser Grundfreiheiten ausgeht. IVm Art 4 III EUV ergibt sich im Übrigen auch eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen gegen Handelshindernisse einzuschreiten, die von Privaten ausgehen (→ ausf Ehlers/Germelmann § 12 Rn 75 ff).28 Unklar ist hier auf der Grundlage der Formulierungen in der Rspr29, ob es für die tatbestandliche Einschlägigkeit der Art 34 AEUV iVm Art 4 III EUV ausreicht, dass das Verhalten Privater zu irgendeiner, wenn auch nur minimalen Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs führt oder ob eine bestimmte Beeinträchtigungsschwelle notwendig ist. Angesichts des Umstandes, dass letztlich auch verschiedene grds legale Geschäftspraktiken (zB das Anpreisen lokaler Produkte in der Werbung) regelmäßig „irgendwelche“ Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Warenverkehr entfalten können, sprechen die besseren Gründe für das Erfordernis zumindest einer gewissen „Beeinträchtigungswahrscheinlichkeit und -schwelle“, wobei letztlich an das sich auch in der Rspr findende Kriterium, dass jedenfalls rein hypothetische Ereignisse nicht zu berücksichtigen sind,30 angeknüpft werden kann, so dass die Beeinträchtigung bzw ihre Kausalität jedenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und damit wohl auch einer gewissen Intensität zu erwarten sein muss. Dieses Erfordernis lässt sich im Übrigen auch aus den tatbestandlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der hier relevanten staatlichen Schutzpflicht bzw den Anforderungen an die zu treffenden Schutzmaßnahmen ableiten: Letztlich geht es hier lediglich um die Pflicht zur Ergreifung der nach den Umständen erforderlichen Maßnahmen; liegt nur eine sehr geringfügige Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs vor, dürften aber bereits keine Umstände gegeben sein, die staatliche Schutzmaßnahmen erforderlich machten. Jedenfalls ist im Rahmen der Rechtfertigung anderen Interessen, so insb grundrechtlichen Gewährleistungen, Rechnung zu tragen. Weiter geht der EuGH auf der Rechtfertigungsebene in Bezug auf die Frage, ob die Staaten die notwendigen Schutzmaßnahmen ergriffen haben, regelmäßig von einem (auch im Vergleich zu den abwehr
28 EuGH, Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2. 29 EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. 30 EuGH, Rs C-190/98, Slg 2000, I-493 ff – Graf.
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rechtlichen Konstellationen) recht weiten Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten aus. Dies überzeugt insofern, als es regelmäßig mehrere Möglichkeiten gibt, dem Schutzauftrag nachzukommen. 19 Eine staatliche Maßnahme liegt auch dann vor, wenn Private ihre gewerblichen Schutzrechte geltend machen: Zwar muss der Rechtsinhaber seinen Anspruch geltend machen; die dann einfuhrbeschränkende Maßnahme – Beschlagnahme, Vermarktungsverbot unter bestimmten Voraussetzungen oä – geht aber von staatlichen Organen (Behörden oder Gerichten) aus.31 Unerheblich ist es im Übrigen, ob die staatliche Maßnahme zwingenden Charakters ist oder nicht; entscheidend ist allein die diskriminierende oder beschränkende Wirkung. So sah der EuGH etwa eine Werbekampagne der irischen Behörden, vermehrt einheimische Produkte zu kaufen, als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung an.32 20 Aber auch die Unionsorgane selbst müssen sich an die Vorgaben der Art 34 ff AEUV halten,33 was sich schon aus der Normenhierarchie (Primärrecht geht Sekundärrecht vor) ergibt. 21 Ob und inwieweit Privatpersonen durch Art 34 ff AEUV verpflichtet werden, ist – ebenso wie im Rahmen der übrigen Grundfreiheiten (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 75 ff) – (noch) nicht abschließend geklärt. Die Rspr hierzu dürfte mittlerweile davon ausgehen, dass Art 34 ff AEUV keine umfassende Drittwirkung zukommt.34 Allerdings betont die jüngere Rspr auch, dass formal private Gesellschaften, die im Zuge gesetzlicher Vorgaben errichtet worden sind, auf Grund gesetzlicher Zuweisungen bestimmte Zielsetzungen zu verfolgen haben, bestimmte öffentlich-recht
31 Vgl aus der Rspr zB EuGH, Rs C-9/93, Slg 1994, I-2789, Rn 33 f – Ideal Standard; Rs C-10/89, Slg 1990, I-3711, Rn 8 f – Haag II; aus der Lit nur Frenz GF, Rn 718 f. 32 EuGH, Rs 113/80, Slg 1981, 1625, Rn 12 – Kommission/Irland. 33 EuGH, Rs C-51/93, Slg 1994, I-3879, Rn 11 – Meyhui; Rs C-446/08, Slg 2010, I-3973 ff – Solgar Vitamin’s France. 34 EuGH, Rs 249/81, Slg 1982, 4005, Rn 6 ff – Kommission/Irland; Rs 85/86, Slg 1988, 5249, Rn 11 – Bayer; die entgegengesetzte Aussage in Rs 58/80, Slg 1981, 181, Rn 17 f – Dansk Supermarked, hat der Gerichtshof später nicht mehr aufgegriffen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der EuGH nunmehr einer Drittwirkung abl gegenübersteht; auch Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2, dürfte in diese Richtung gehen, denn der Umstand, dass der EuGH mit keinem Wort auf die Frage der möglichen Verantwortlichkeit der Privaten einging, deutet wohl darauf hin, dass er eine Drittwirkung ablehnt. Allerdings erwähnte der EuGH in Rs C438/05, Slg 2007, I-10779 ff – International Transport Workers Federation = JK 2008, EGV Art 43/9, im Zusammenhang mit der Bejahung der Drittwirkung des Art 49 AEUV, dass das Urt Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2, darauf hindeute, dass Beschränkungen auch nicht staatlichen Ursprungs sein könnten. Die Bedeutung dieses Hinw bleibt aber unklar, da zwar die Beschränkungen in Rs C-265/95, Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich = JK 99, EGV Art 30/2, nicht staatlichen Ursprungs waren, es hingegen aber um die Pflichtverletzung staatlicher Organe im Zusammenhang mit dem entspr privaten Verhalten ging.
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liche Vorgaben bei der Tätigkeit zu beachten haben und durch Pflichtbeiträge bestimmter Personen finanziert sind, die Vorgaben des Art 34 AEUV beachten müssen, wenn sie eine allen Betrieben der betr Wirtschaftszweige zugängliche Regelung einführen, die sich wie eine staatliche Regelung auf den Handel innerhalb der EU auswirken kann.35 Bei Vorliegen einer solchen Konstellation geht der EuGH offenbar von einer Zurechnung des Verhaltens der privaten Gesellschaft zum Staat aus.36 Weiter bejahte der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Art 34 AEUV auf Handlungen der Deutschen Zertifizierungsstelle des Gas- und Wasserfachs (DVGW), eine private Einrichtung ohne Gewinnzweck, auf deren Tätigkeit der Staat keinen maßgebenden Einfluss hat, im Zusammenhang mit dem Entzug des Konformitätszertifikats für bestimmte Produkte. Denn der Gesetzgeber habe eine Vermutung aufgestellt, dass die von der DVGW zertifizierten Produkte den Anforderungen des nationalen Rechts entsprechen und die DVGW sei die einzige Einrichtung, die solche Konformitätszertifikate ausstelle. Das Fehlen einer Zertifizierung erschwere daher den Vertrieb der entsprechenden Produkte erheblich, woran auch der Umstand nichts ändere, dass es ein anderes Verfahren gebe, im Rahmen desselben die Konformität des betreffenden Produkts mit den gesetzlichen Vorgaben festgestellt werden könne, denn dieses sei erheblich aufwändiger.37 Man wird damit insgesamt schließen können, dass der Gerichtshof Art 34 AEUV keine grundsätzliche Drittwirkung zuerkennen möchte, sondern davon ausgeht, dass diese Vorschrift Privaten nur dann entgegengehalten werden kann, wenn sie mit besonderen Befugnissen ausgestattet sind oder ihre Tätigkeit eine besondere, gesetzlich vorgesehene Wirkung entfaltet, so dass sich der einzelne Wirtschaftsteilnehmer solchen Privaten letztlich nicht oder nur unter Inkaufnahme erheblicher Nachteile entziehen kann. Eine Verneinung einer umfassenden Drittwirkung liegt denn auch jedenfalls im 22 Rahmen der Art 34 ff AEUV vor dem Hintergrund der Funktion und Zielsetzungen dieser Bestimmungen im Gesamtsystem des Vertrages nahe: Denn zunächst sollen Art 34 ff AEUV im Wesentlichen das Verbot von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung durch die Unterbindung nichttarifärer Handelshemmnisse ergänzen. Auch ist es für die effektive Verwirklichung des freien Warenverkehrs nicht unbedingt notwendig, private Verhaltensweisen zu erfassen, sind diese doch Gegenstand anderer Bestimmungen des Vertrages, nämlich der Wettbewerbsregeln (Art 101 f AEUV). Im Übrigen erscheint eine nunmehr auch offenbar vom EuGH im Rahmen des Art 45 AEUV zugrunde gelegte umfassende Drittwirkung (→ Becker § 14 Rn 48)38 grds pro
35 EuGH, Rs C-325/00, Slg 2002, I-9977 ff – Kommission/Deutschland (CMA-Gütezeichen) = JK 2003, EGV Art 28/2. 36 Vgl aber zu den durch dieses Urt aufgeworfenen offenen Fragen Epiney, NVwZ 2004, 555 (561). 37 EuGH, Urt v 12.7.2012, Rs C-171/11 – Fra.bo = JK 2013, AEUV Art 34/2. 38 EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139, Rn 34 ff – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1.
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blematisch: Denn sie dürfte der ebenfalls zu beachtenden Privatautonomie und Vertragsfreiheit kaum Rechnung tragen und insofern auch über die Funktion der Grundfreiheiten hinausgehen, ganz abgesehen von den damit einhergehenden Auslegungs- und Anwendungsproblemen, etwa auf der Rechtfertigungsebene. Der bislang in der Rspr vorherrschende Ansatz der Beschränkung der Drittwirkung auf Regelungswerke, die eine ähnliche rechtliche oder faktische Bindungswirkung entfalten wie staatliche Normen,39 erscheint daher überzeugender: Er erlaubt die effektive Durchsetzung der Grundfreiheiten in den problematischen Bereichen und ist schon deshalb ausreichend, weil ansonsten die staatliche Schutzpflicht greift. Insofern vermag die erwähnte jüngere Rspr im Grundsatz zu überzeugen,40 verneint sie doch offenbar eine allgem Drittwirkung des Art 34 AEUV und bejaht vielmehr eine Zurechnung des Verhaltens Privater zum Staat und damit eine Bindung an Art 34 AEUV zunächst unter der Voraussetzung, dass der Staat mit privatrechtlichen Mitteln eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt, in verschiedener Hinsicht die Gesellschaft kontrolliert und die Regelung der Gesellschaft sich wie eine staatliche Regelung auf den Warenverkehr innerhalb der EU auswirkt. Hinzu kommt die Konstellation, dass bestimmte (handelsbeschränkende) Maßnahmen Privater kraft Gesetzes besondere Wirkungen entfalten, wobei auch hier die gesetzliche Verankerung entscheidend sein dürfte.
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Lösung Fall 1: Das Verhalten Österreichs (kein Verbot der Demonstration auf der Brenner-Autobahn bzw Genehmigung der Kundgebung) könnte gegen Art 34 AEUV iVm Art 4 III EUV verstoßen. Diese Bestimmungen verpflichten die Mitgliedstaaten dazu, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Möglichkeit der tatsächlichen Wahrnehmung der Warenverkehrsfreiheit nicht durch das Verhalten (anderer) Privater beeinträchtigt wird. Im vorliegenden Fall liegt eine solche Beeinträchtigung vor, da es die Blockade der Autobahn dem Spediteur verunmöglicht, die Waren in einer wirtschaftlich vertretbaren Zeit zu transportieren; auch die Behinderung oder Verunmöglichung der Durchfuhr von Waren stellt nämlich eine Beeinträchtigung des Art 34 AEUV dar. Daher stellt die Genehmigung der besagten Demonstration eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung dar. Allerdings kann diese Einschränkung des freien Warenverkehrs durch den Schutz der Grundrechte, namentlich der auch in Art 10, 11 EMRK garantierten Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit, gerechtfertigt werden. Diese Grundsätze stellen nämlich berechtigte Interessen dar, die grds geeignet sind, eine Beschränkung des freien Warenverkehrs zu rechtfertigen. Damit stehen sich zwei Interessen – die Verwirklichung der Freiheit des Warenverkehrs auf der einen und der genannten Grundrechte auf der anderen Seite – gegenüber, die anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls abzuwägen sind. Im vorliegenden Fall ist dabei insb darauf hinzuweisen, dass es sich um eine geneh-
39 Vgl schon EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405 ff – Walrave; s sodann Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. 40 Zur Problematik Schmahl/Jung, NVwZ 2013, 607 ff; Kloepfer/Greve, DVBl 2013, 1148 ff; Oliver, CDE 2014, 77 ff.
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migte Demonstration handelte, dass die Autobahn (nur) ein einziges Mal für 30 Stunden blockiert war, dass die Blockade geografisch begrenzt war, dass die Demonstration sich nicht gegen den Handel mit Waren einer bestimmten Art oder Herkunft richtete, dass die Behörden verschiedene Rahmen- und Begleitmaßnahmen getroffen hatten, um die Störungen des Straßenverkehrs möglichst gering zu halten und dass ein schlichtes Verbot der Versammlung einen nicht hinnehmbaren Eingriff in die Versammlungsfreiheit bedeutet hätte und strengere Auflagen der Demonstration einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung hätten nehmen können. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände war die durch die österreichischen Behörden im vorliegenden Fall vorgenommene Abwägung nicht unvertretbar, so dass sie das ihnen zustehende weite Ermessen nicht überschritten haben. Eine Verletzung des Art 34 AEUV iVm Art 4 III EUV ist somit zu verneinen.
II. Beeinträchtigung Art 34, 35 AEUV verbieten mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie 24 Maßnahmen gleicher Wirkung, wobei beide Bestimmungen auf Grund ihrer unterschiedlichen inhaltlichen Tragweite41 getrennt erörtert werden sollen (1., 2.).
1. Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 34 AEUV) a) Mengenmäßige Beschränkungen Art 34 AEUV verbietet zunächst Einfuhrbeschränkungen. Hierunter sind Maßnah- 25 men zu verstehen, die die Wareneinfuhr der Menge oder dem Wert nach begrenzen.42 Konkret nehmen Einfuhrbeschränkungen idR die Form von Kontingenten an; erfasst sind aber auch – als stärkste Form der Beschränkung – Ein- oder Durchfuhrverbote. Im Gegensatz zu Maßnahmen gleicher Wirkung geht es hier um Maßnahmen, die die Einfuhr ganz oder teilweise verbieten, verunmöglichen oder beschränken, so dass sonstige, nicht unmittelbar die Einfuhr selbst beschränkende Maßnahmen – also insb solche, die bestimmte Anforderungen an die Beschaffenheit von Produkten stellen – als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen sind bzw sein können.43 Einfuhrbeschränkungen sind per definitionem (offen) diskriminierend; nicht 26 diskriminierende Maßnahmen sind daher unter dem Gesichtspunkt der Maßnahmen gleicher Wirkung zu prüfen. Insbesondere stellen Absatzverbote grundsätzlich
41 Zumindest auf der Grundlage der Rspr und der hier vertretenen Ans. 42 EuGH, Rs 2/73, Slg 1973, 865, Rn 7 – Geddo. 43 Vgl aus der Rspr etwa EuGH, Rs 124/81, Slg 1983, 203, Rn 21 f – Kommission/Vereinigtes Königreich; Rs 274/89, Slg 1989, 229, Rn 4 f – Kommission/Deutschland. Astrid Epiney
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Maßnahmen gleicher Wirkung dar, da sie nicht die Einfuhr als solche verbieten, sondern in der Sache Anforderungen an die entsprechenden Produkte stellen. 27 Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen kommen allerdings derzeit allenfalls ausnahmsweise (zB bei umweltpolitisch motivierten Maßnahmen etwa zum Artenschutz) vor,44 so dass ihre praktische Bedeutung vernachlässigt werden kann.
b) Maßnahmen gleicher Wirkung Fall 2: (EuGH, Rs C-405/98, Slg 2001, I-1795 ff – Gourmet International) In Schweden besteht ein Werbeverbot für alkoholische Getränke in Zeitungen und Zeitschriften sowie Rundfunk und Fernsehen. Gestützt auf dieses Verbot beantragte der Konsumentombudsman (Verbraucherbeauftragte) beim zuständigen Gericht, Gourmet International Products AB (GIP) zu verbieten, Werbeanzeigen für alkoholische Getränke in Zeitungen, Zeitschriften sowie Rundfunk und Fernsehen veröffentlichen zu lassen. Das Gericht möchte der Klage stattgeben, hegt aber Zweifel an der Vereinbarkeit eines solchen Verbots mit Art 34 AEUV.
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Fall 3: (EuGH, Rs C-110/05, Slg 2009, I-519 ff – Kommission/Italien = JK 2010, EGV Art 28/12) Italien kennt ein gesetzliches Verbot für bestimmte Kleinkraftfahrzeuge, Anhänger zu ziehen. Betroffen sind einerseits Anhänger, die speziell für die betroffenen Kraftfahrzeuge hergestellt werden, andererseits solche, die auch durch andere Fahrzeuge gezogen werden können. Stellt diese Regelung eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung iSd Art 34 AEUV dar?
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30 Zentral für die Tragweite und Bedeutung des Art 34 AEUV ist das Verbot von Maß-
nahmen gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen. Seine Einbeziehung in den Tatbestand des Art 34 AEUV ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der freie Warenverkehr häufig durch nicht quantifizierbare Maßnahmen ebenso „wirksam“, aber weniger „sichtbar“ wie durch Einfuhrbeschränkungen behindert wird bzw werden kann. 31 Für die Bestimmung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung ist vor diesem Hintergrund in erster Linie die Wirkung einer Maßnahme entscheidend: Entfaltet diese gleiche oder vergleichbare Folgen für die Einfuhr von Waren aus anderen Mitgliedstaaten wie Einfuhrbeschränkungen, wird sie vom Tatbestand des Art 34 AEUV erfasst. Im Einzelnen können damit in Abhängigkeit von dem „Ob“ und
44 Vgl zB EuGH, Rs C-67/97, Slg 1998, I-8033 ff – Bluhme, wo es um ein Einfuhrverbot bestimmter Bienensorten in einen Teil des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats ging.
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„Wie“ einer Diskriminierung verschiedene Arten von Maßnahmen gleicher Wirkung unterschieden werden.
aa) Offene Diskriminierungen Zunächst fallen all diejenigen Maßnahmen, die ausdrücklich nach der Warenher- 32 kunft (Inland einerseits, EU-Ausland andererseits) differenzieren, unter den Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung. Beispiele aus der Praxis in diesem Zusammenhang sind etwa obligatorische gesundheitspolizeiliche Untersuchungen für eingeführte Waren45 oder Kennzeichnungspflichten nur für eingeführte Waren.46
bb) Versteckte Diskriminierungen Verboten sind aber auch versteckte Diskriminierungen, also solche Maßnahmen, 33 die zwar an ein „neutrales“ Kriterium anknüpfen, jedoch in der Sache typischerweise eingeführte Produkte betreffen bzw benachteiligen (→ allgem hierzu Ehlers/Germelmann § 12 Rn 22). Die Abgrenzung versteckter Diskriminierungen von den sogleich zu behandelnden Beschränkungen kann im Einzelnen problematisch sein. Dieser Unterscheidung kommt jedoch jedenfalls im Rahmen des Art 34 AEUV keine praktische Bedeutung zu, da diese Bestimmung auch Beschränkungen verbietet und sich die Rechtfertigungsgründe für versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen decken (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 139 ff). Die in der Lit47 teilweise vertretene Ansicht, im „Kernbereich“ – also zB dem 34 Zugang selbst zu einer Beschäftigung im Rahmen des Art 45 AEUV – der Grundfreiheiten gelte ein allgem Beschränkungsverbot, während in den „Randbereichen“ – zB der Regelung der Ausübung einer Beschäftigung im Anwendungsbereich des Art 45 AEUV – nur ein (weit verstandenes) Diskriminierungsverbot gelte, kommt jedenfalls im Zusammenhang mit Art 34 AEUV auf der Grundlage der Rspr (der in der Lit weitgehend gefolgt wird) keine Bedeutung zu: Denn Art 34 AEUV ist allgem als Beschränkungsverbot auszulegen, und Einschränkungen des Tatbestandes ergeben sich nach der Rechtsprechung aus der sog Keck-Formel und den diesbezüglichen Weiterentwicklungen (insbesondere das Abstellen auf den Marktzugang), so dass für eine Differenzierung nach „Kern- und Randbereichen“ kein Raum mehr bleibt und auch kein Bedürfnis besteht. Im Übrigen ist diese Differenzierung schon vom Ansatz her problematisch: Zunächst impliziert sie, dass im Falle des Kernbereichs
45 Vgl den Sachverhalt in EuGH, Rs 186/88, Slg 1989, 3997 ff – Kommission/Deutschland. 46 Vgl den Sachverhalt in EuGH, Rs 113/80, Slg 1981, 1625 ff – Kommission/Irland. 47 In diese Richtung wohl Jarass, EuR 2000, 705 (711). S ansonsten die Nachw zur Diskussion in der Lit bei Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 Rn 56 ff.
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allgem ein schwererer Eingriff in die Rechte der Betroffenen vorliege, was aber jedenfalls nicht zwingend ist, können doch zB bestimmte Beschäftigungsmodalitäten möglicherweise zumindest faktisch zu Zugangsbeschränkungen führen. Damit in engem Zusammenhang steht die Überlegung, dass sich Kern- und Randbereich häufig wohl nur schwer voneinander trennen lassen. 35 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf eine Abgrenzung zwischen versteckten Diskriminierungen und Beschränkungen verzichtet, und die Problembereiche werden im Folgenden im Zusammenhang mit der Erörterung der Beschränkungen behandelt. Dabei geht es im Wesentlichen um die Präzisierung der genauen Tragweite der Keck-Rspr und ihre Weiterentwicklung.
cc) Beschränkungen 36 Auch nicht diskriminierende, sondern „nur“ den Warenverkehr beschränkende
Maßnahmen fallen grds unter den Tatbestand des Art 34 AEUV, was schon insofern nahe liegt, als auch diese im Ergebnis ähnliche Wirkungen wie Einfuhrbeschränkungen entfalten können. Als Beispiele sind etwa Regelungen der Produktbeschaffenheit oder die Werbung betr Vorschriften zu nennen, die die Konsequenz nach sich ziehen, dass in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellte und vertriebene Produkte nicht vermarktet oder nicht bzw weniger effektiv beworben werden können, so dass ihr Absatz sinkt bzw gewisse Produkte gar nicht vermarktet werden dürfen. Für die Definition des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung muss somit die beschränkende Wirkung ausschlaggebend sein, mit der Folge, dass Art 34 AEUV (auch) ein Beschränkungsverbot darstellt. 37 Allerdings bedarf das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen eine solche Beschränkung vorliegt, der Präzisierung, denn ansonsten könnten alle Maßnahmen, die einen irgendwie gearteten Bezug zum freien Warenverkehr aufweisen bzw eine Rückwirkung auf den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten entfalten, von Art 34 AEUV erfasst werden. Ausgangspunkt hierfür ist nach wie vor die sog Dassonville-Formel: Danach ist unter einer Maßnahme gleicher Wirkung jede staatliche Regelung, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“, zu verstehen.48 Damit ist also die beschränkende Wirkung der Maßnahmen entscheidend, so dass die Eignung einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkungen zu entfalten, maßgeblich ist. Unerheblich ist dabei, ob diese tatsächlich eingetreten sind oder nicht.49
48 EuGH, Rs 8/74, Slg 1974, 837, Rn 5 – Dassonville. 49 Ausdrücklich EuGH, Rs 16/83, Slg 1984, 1299, Rn 20 – Prantl. Astrid Epiney
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Diese weite Fassung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung hat zur 38 Folge, dass Waren, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt worden sind, grds in die anderen Mitgliedstaaten eingeführt und dort vermarktet werden können, auch wenn sie nicht den nationalen Anforderungen (insb Produkt- oder Zulassungserfordernissen) entsprechen. Aber auch sonstige, die Produktmobilität beeinträchtigende Maßnahmen, wie zB ein Fahrverbot für Lastwagen mit bestimmten Gütern auf der Inntalautobahn (Brennerstrecke) bzw auf Teilen derselben50 oder eine Pkw-Maut (welche Auswirkungen auf die Transportkosten entfalte),51 stellen grundsätzlich Maßnahmen gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen dar. Vorbehalten bleibt aber natürlich das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen. Darüber hinaus können auch (sonstige) nicht produktbezogene Regelungen, wie etwa Produktions- und Vermarktungsvorschriften, unter die Dassonville-Formel fallen. Denn auch sie können (negative) Auswirkungen auf das Volumen (bestimmter) eingeführter Produkte entfalten. Deutlich wird damit auch, dass das konsequente und ausschließliche Abstellen auf die Dassonville-Formel für die Feststellung der tatbestandlichen Einschlägigkeit des Art 34 AEUV zur Folge hat bzw hätte, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmung sehr weit ausgedehnt wird bzw würde und kaum eine staatliche Maßnahme nicht erfasst werden kann bzw könnte, entfalten doch zahlreiche Regelungen zumindest mittelbar und potenziell Rückwirkungen auf die Einfuhr von Produkten. Damit könnte eine kaum eingrenzbare Zahl nationaler Vorschriften an den Vorgaben des Unionsrechts, konkret an Art 34 AEUV, gemessen werden. Vor diesem Hintergrund hat die Rspr im Laufe der Zeit verschiedene Ansätze 39 entwickelt, die die tatbestandliche Reichweite des Art 34 AEUV im Vergleich zur Dassonville-Formel eingrenzen. Zu nennen sind zunächst verschiedene Urt des Gerichtshofs, in denen dieser ei- 40 nen hinreichend engen Bezug zum freien Warenverkehr verneinte. So lehnte der EuGH das Vorliegen einer Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung in seiner Entscheidung zum deutschen Nachtbackverbot (Verbot der Auslieferung von Brötchen vor 6 Uhr morgens) mit der Begr ab, hier gehe es um eine nationale Verkaufsregelung, die keinen grenzüberschreitenden Bezug aufweise und deshalb den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen könne.52 Ebenso wenig erachtete der Gerichtshof Art 34 AEUV in Bezug auf das belgische Verbot des Ausschanks von Alkoholika zu Nachtzeiten für einschlägig: Denn die Maßnahme stehe in keinem Zusammenhang mit der Einfuhr von Waren, so dass sie schon nicht geeignet 50 EuGH, Rs C-320/03, Slg 2005, I-9871 ff – Kommission/Österreich = JK 2006, EGV Art 28/7; Rs 28/09, Slg 2011, I-13525 ff – Kommission/Österreich. 51 EuGH, Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17 – Österreich/Deutschland. 52 EuGH, Rs 155/80, Slg 1981, 1993, Rn 10 – Oebel.
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sei, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.53 Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof es mit ähnlicher Begr ablehnte, Sonntagsverkaufsverbote am Maßstab des Art 34 AEUV zu messen.54 Interessant sind diese Urt insb deshalb, weil bei allen fraglichen Maßnahmen letztlich eine mittelbare und potenzielle Beeinträchtigung des Einfuhrvolumens von Produkten kaum zu verneinen war, so dass allein auf der Grundlage der Dassonville-Formel der Tatbestand des Art 34 AEUV hätte bejaht werden müssen. Besonders auffallend ist dies beim belgischen Nachtausschankverbot für Alkoholika: Denn dessen Sinn und Zweck besteht ja gerade darin, nachfrage- und damit auch einfuhrhemmend zu wirken. Ableiten kann man aus dieser „frühen“ – weil vor der Keck-Rspr (Rn 41) angesiedelten – Rspr55 nur, dass gerade bei nicht (offen oder versteckt) diskriminierenden Maßnahmen potenzielle Markteinbußen und damit Auswirkungen auf das Volumen eingeführter Produkte nicht in jedem Fall ausreichen, damit der Tatbestand des Art 34 AEUV eröffnet ist. Allerdings wurde nicht klar, nach welchen Kriterien genau die Tragweite der Dassonville-Formel eingeschränkt werden sollte. 41 Insofern leitete dann das Keck-Urteil aus dem Jahr 199356 eine gewisse auch dogmatische Klarstellung ein. Gegenstand des Urt war das französische Verbot des Verkaufs bestimmter Waren zum Verlustpreis, das nicht am Maßstab des Art 34 AEUV gemessen werden könne. Zur Begr stellte der EuGH darauf ab, dass „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ nicht in den Anwendungsbereich des Art 34 AEUV fielen, sofern sie zwei Voraussetzungen erfüllten: Erstens müssten sie für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und zweitens müsse der Absatz inländischer und eingeführter Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich gleich berührt sein.57 Die Keck-Rspr schränkt damit schon den Tatbestand des Art 34 AEUV ein, dies im Gegensatz zu der zeitlich vor ihr entwickelten sog Cassis-de-Dijon-Rspr, die aus dogmatischer Sicht auf der Rechtfertigungsebene anzusiedeln ist (s u Rn 65 ff, 89 ff). Jedenfalls dürfte die Keck-Rspr weniger eine „Kehrtwende“ der Rspr, denn eine teleologisch begründete Einschränkung des weiten Tatbestandes des Art 34 AEUV darstellen, so dass die Auslegung dieser Bestimmung als Beschränkungsverbot nicht grds in Frage gestellt, sondern dessen Tragweite lediglich eingeschränkt wird.
53 EuGH, Rs 75/81, Slg 1982, 1211, Rn 9 – Blesgen. 54 EuGH, Rs 145/88, Slg 1989, 3851, Rn 14 – Torfaen Borough. 55 Vgl neben den angeführten Fällen zu dieser früheren Rspr noch die weiteren Nachw bei Middeke Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, 1994, S 132 f, unter Berücksichtigung der verschiedenen Ansätze zu ihrer dogmatischen Einordnung; ausf zu der einschlägigen früheren Rspr auch Hammer Handbuch zum freien Warenverkehr, 1998, S 35 ff. 56 EuGH, verb Rs C-267/81 u C-268/91, Slg 1993, I-6097 ff – Keck. 57 EuGH, verb Rs C-267/81 u C-268/91, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck.
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In einem späteren Urt58 – in dem es um ein mitgliedstaatliches Verbot des „am- 42 bulanten“ Verkaufs von Zeitschriftenabonnementen ohne Genehmigung ging – zog der EuGH (letztlich in recht getreuer Anwendung der ursprünglichen Keck-Formel) folgendes „Prüfungsschema“ zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen der Keck-Rspr heran (wobei er deren Einschlägigkeit im Ergebnis bejahte): Erstens sei die Vertriebsbezogenheit der Maßnahme zu prüfen. Zweitens müsse die betr Maßnahme ohne Unterscheidung nach der Herkunft der fraglichen Waren auf alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, anwendbar sein. Drittens schließlich dürfe die betr nationale Regelung den Absatz von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten nicht stärker beeinträchtigen als den von Erzeugnissen aus dem Inland. Eine zu unbedeutende und zufällige Wirkung sei dabei außer Betracht zu lassen, könne dadurch der Handel zwischen den Mitgliedstaaten doch nicht behindert oder gestört werden. Trotz der mit der Keck-Rspr einhergehenden dogmatischen Klarstellung der Ein- 43 schränkung der Dassonville-Formel und damit der tatbestandlichen Reichweite des Art 34 AEUV erlaubt die Keck-Formel allein jedoch keine (eindeutige) Antwort auf die Frage nach der tatbestandlichen Einschlägigkeit des Art 34 AEUV in Bezug auf eine Reihe von Maßnahmen. So fragt es sich etwa, wie genau produkt- und vertriebsbezogene Maßnahmen voneinander abzugrenzen sind (etwa bei Verwendungsbeschränkungen oder bei die Verpackung betr Bestimmungen) und unter welchen Voraussetzungen genau eine (potenzielle) diskriminierende Wirkung in Bezug auf eingeführte Produkte anzunehmen ist. Gewisse Anhaltspunkte lassen sich aber – ausgehend von der Keck-Formel – der Folgerechtsprechung entnehmen. So stellen Maßnahmen, die sich in irgendeiner Form auf die Beschaffenheit 44 von Produkten (unter Einschluss ihrer Verpackungen, jedenfalls sofern diese untrennbar mit dem Produkt verbunden sind) selbst beziehen, keine Verkaufsmodalitäten dar, da sie nicht vertriebsbezogen sind. Daher ist das Verbot, die Verpackung eines Schokoladenriegels unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Zusatz „+10 %“ zu kennzeichnen, als Maßnahme gleicher Wirkung anzusehen und am Maßstab des Art 34 AEUV zu prüfen.59 Ebensowenig ist das Verbot, bestimmte Erzeugnisse unter einer gewissen Bezeichnung zu vermarkten, als bestimmte Verkaufsmodalität iSd Keck-Formel anzusehen, so etwa das Verbot, ein kosmetisches Mittel unter dem Namen „Clinique“ zu vermarkten.60 Aufgrund der engen Verbundenheit mit dem zu verkaufenden Produkt ist auch das Verbot, in Zeitschriften oder
58 EuGH, Rs C-20/03, Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjer = JK 2006, EGV Art 28/6. 59 EuGH, Rs C-470/93, Slg 1995, I-1923, Rn 12 f – Mars. 60 EuGH, Rs C-315/92, Slg 1994, I-317 ff – Clinique; s a Rs C-313/94, Slg 1996, I-6039 ff – Graffione.
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sonstigen Drucksachen Gewinnspiele anzubieten, als Maßnahme gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen anzusehen.61 45 Maßnahmen, die die Art und Weise der Vermarktung eines Produkts bestimmen, ohne jedoch mit diesem „verbunden“ zu sein, sind grds vertriebsbezogen.62 So ist das Gebot, Säuglingsnahrung nur in Apotheken zu verkaufen, als Verkaufsmodalität einzustufen.63 Ähnliches gilt für eine nationale Regelung, wonach der Vertrieb von Tabakwaren zugelassenen Einzelhändlern vorbehalten ist.64 Aber auch die Regelung der Öffnungszeiten von Tankstellen wird vom EuGH als Verkaufsmodalität angesehen.65 Etwas anderes gilt nach der Rechtsprechung jedoch für eine Regelung, wonach bestimmte Produkte (zB Videokassetten) nur dann im Versandhandel oder an Kiosken angeboten werden dürfen, wenn die Inhalte von der zuständigen Stelle genehmigt und für die entsprechende Altersstufe freigegeben und das Produkt dementsprechend gekennzeichnet ist. Denn hier gehe es nicht um das Verbot des Vertriebs im Versandhandel, sondern um die Pflicht, bestimmte Produkte einem Prüf- und Einstufungsverfahren zu unterziehen.66 46 Bei den Grenzfällen kommt es nach der Rspr des EuGH iE darauf an, ob eine bestimmte Maßnahme bereits den Marktzugang eines Produkts verhindert oder einschränkt, also maW zur Folge hat, dass das jeweilige Produkt erst gar nicht auf den Markt des betroffenen Mitgliedstaates gelangen kann oder dies behindert wird und daher eine diesbezügliche Ungleichbehandlung einheimischer und eingeführter Produkte zu bejahen ist.67 Bei vertriebsbezogener Werbung etwa geht es nicht um den Zugang zum Markt, wird dieser doch „schrankenlos“ gewährleistet, sondern um die Art und Weise des Vermarktens des Produkts. So ist denn auch nach der Rspr des EuGH das Verbot der Fernsehwerbung für bestimmte Erzeugnisse grds
61 EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 12 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. 62 Keine Verkaufsmodalitäten können jedoch von vornherein vorliegen, wenn es nicht um die Vermarktung eines Produkts, sondern um die Beförderung geht, vgl EuGH, Urt v 28.6.2019, Rs C-591/17 – Österreich/Deutschland. 63 EuGH, Rs C-391/92, Slg 1995, I-1621, Rn 15 – Kommission/Griechenland. 64 EuGH, Rs C-387/93, Slg 1995, I-4663, Rn 35 f – Banchero. 65 EuGH, verb Rs C-401 u 402/92, Slg 1994, I-2199, Rn 13 ff – t’Heukske. S a Rs C-69/93, Slg 1994, I2355 ff – Punto casa; verb Rs C-418/93 ua, Slg 1996, I-2975 ff – Smeraro Casa Uno. 66 EuGH, Rs C-244/06, Slg 2008, I-505 ff – Dynamics Medien = JK 2008, EGV Art 28/10. 67 In diese Richtung etwa EuGH, Rs C-391/92, Slg 1995, I-1621, Rn 11 f – Kommission/Griechenland; Rs C-384/93, Slg 1995, I-1141, Rn 37 – Alpine Investments; ausdrücklich Rs C-405/98, Slg 2001, I-1795, Rn 18 – Gourmet International: Nach den Ausführungen im Urt Keck „fallen nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, nur dann nicht in den Anwendungsbereich des Art 28 EGV, wenn diese nicht geeignet sind, den Marktzugang für Erzeugnisse aus einem anderen Mitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tun“.
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als Verkaufsmodalität einzuordnen, es sei denn, ein solches Verbot entfaltet stärkere Auswirkungen auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten.68 Allerdings könne ein vollständiges Verbot der Absatzförderung dann in den Anwendungsbereich des Art 34 AEUV fallen, wenn es den Marktteilnehmern die einzig wirksame Form der Absatzförderung nehme, welche den Zugang zum nationalen Markt ermöglicht.69 Weiter gehe es bei einem Erfordernis der vorherigen Einfuhrerlaubnis in Bezug auf bestimmte Produkte jedenfalls um eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung, da dieses den Handel innerhalb der EU behindern und den Marktzugang von Waren erschweren könne.70 Jedenfalls ist der Tatbestand des Art 34 AEUV immer dann eröffnet (auch bei 47 vertriebsbezogenen Regelungen), wenn eine Maßnahme unterschiedliche Wirkungen für einheimische und eingeführte Produkte entfaltet, letztere also offen oder versteckt diskriminiert. Dies sei etwa bei einer Regelung der österreichischen Gewerbeordnung der Fall, wonach nur derjenige Lebensmittel „herumziehend“ feilbieten darf, der in dem betr oder einem angrenzenden Gewerbebezirk eine ortsfeste Niederlassung unterhält, führe diese Regelung doch dazu, dass Anbietern aus dem Ausland damit der Zugang zu diesem Spektrum des österreichischen Marktes verwehrt wäre.71 Ähnlich argumentierte der EuGH in Bezug auf das sehr umfassende schwedische Verbot der Werbung mit Alkohol: Eine solche Regelung führe dazu, dass der Marktzugang für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten stärker behindert werde als für die ohnehin schon besser bekannten einheimischen Produkte.72 Auch das deutsche Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln stellt nach Ansicht des EuGH keine Verkaufsmodalität dar, da es die ausländischen Apotheken (und damit die eingeführten Produkte), die als solche auf dem deutschen Markt nicht tätig sind, stärker betreffe als die inländischen; für erstere sei das Internet als Zugang zum deutschen Markt von ungleich größerer Bedeutung als für letztere.73 Ebenso
68 EuGH, Rs C-412/93, Slg 1995, I-179, Rn 20 ff – Leclerc; verb Rs C-34–36/95, Slg 1997, I-3843, Rn 39 f – de Agostini. 69 EuGH, verb Rs C-34–36/95, Slg 1997, I-3843 ff – de Agostini; Rs C-71/92, Slg 2004, I-3025 ff – Karner. 70 EuGH, Rs C-434/04, Slg 2006, I-9171 ff – Ahokainen u Leppik. 71 EuGH, Rs C-254/98, Slg 2000, I-151, Rn 9 – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1. Sehr krit zu diesem Urt vor dem Hintergrund der seiner Ans nach zu weiten Auslegung des Begriffs der versteckten Diskriminierung Gundel, EuZW 2000, 311 f. 72 EuGH, Rs C-405/98, Slg 2001, I-1795, Rn 20 f – Gourmet International; s a noch sogleich die Lösung zu Fall 2. 73 EuGH, Rs C-322/01, Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris = JK 2004, EGV Art 28/4. S a Rs 141/07, Slg 2008, I6935 ff – Kommission/Deutschland betreffend eine Regelung zur Übertragung der Medikamentenversorgung von Krankenhäusern an eine (externe) Apotheke: Diese musste sich verpflichten, sämtliche Aufgaben der Arzneimittelversorgung zu erfüllen. Nach Ansicht des EuGH bezieht sich diese Regelung nicht auf „Merkmale der Arzneimittel“, sondern betreffe lediglich die „Modalitäten für de
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sei eine Preisbindung für Arzneimittel im Versandhandel diskriminierend, da eine solche Maßnahme stärkere Auswirkungen für in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Apotheken und damit für eingeführte Produkte als für einheimische Produkte entfalte.74 Insg besteht damit eine Tendenz in der Rspr, all solche Vermarktungs- und Werberegelungen mit spürbaren Auswirkungen auf den Umsatz der betr Produkte, die unmittelbar oder mittelbar den Bekanntheitsgrad von Produkten beeinflussen, nicht als Verkaufsmodalitäten anzusehen, da sie aufgrund der prinzipiell besseren Markteinführung nationaler Produkte die eingeführten Produkte stärker „belasten“. 48 Alle Abgrenzungsprobleme sind auch mit diesen Anhaltspunkten nicht gelöst, wie etwa das Bsp eines generellen Werbeverbots für ein bestimmtes Produkt (zB Alkohol oder Tabak) zeigt: Die einschlägigen Urt des EuGH betonen, wie erwähnt, einerseits, es gehe etwa bei Fernsehwerbung um eine Verkaufsmodalität,75 weil offenbar der Zugang zum Markt selbst ja nicht eingeschränkt werde und die Möglichkeit des Verkaufs des entspr Produkts unbeschränkt möglich bleibe; im Übrigen wird eine materielle Diskriminierung zwischen eingeführten und einheimischen Produkten offenbar abgelehnt. Andererseits aber weist der EuGH darauf hin, eine Maßnahme gleicher Wirkung liege immer dann vor, wenn das (vollständige) Verbot
ren Verkauf“. Die Keck-Rechtsprechung sei aber schon deshalb nicht einschlägig, weil die erwähnten Regelungen eine gewisse räumliche Nähe der Apotheke zu dem Krankenhaus erforderten, womit die Versorgung von Krankenhäusern für im Ausland niedergelassene Apotheken grundsätzlich schwieriger und kostspieliger sei als für im Inland niedergelassene Apotheken. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass auch im Inland gelegene, aber von dem jeweiligen Krankenhaus weit entfernte Apotheken benachteiligt sind. S sodann EuGH, Rs C-108/09, Slg 2010, I-12213 ff, – Ker-Optika in Bezug auf eine Regelung, wonach Kontaktlinsen nur in Fachgeschäften vertrieben werden dürfen. 74 EuGH, Urt v 19.10.2016, Rs C-148/15 – Deutsche Parkinson Vereinigung. Vgl aber auch EuGH, Urt v 15.7.2021, Rs C-190/20 – DocMorris: Eine nationale Regelung, welche die (grenzüberschreitende) Werbung für eine Versandapotheke (wobei das Verbot aber auch für inländische Apotheken gilt) insofern beschränkt, als nicht mit einem „Großen Gewinnspiel“ geworben werden darf, an welchem allerdings nur teilnehmen kann, wer ein Rezept für ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel einreicht, stelle eine bestimmte Verkaufsmodalität iSd Keck-Rechtsprechung dar. Eine solche „Werberegelung“ betreffe den Absatz inländischer und eingeführter Erzeugnisse rechtlich und tatsächlich in gleicher Weise. Denn das Verbot beziehe sich nicht auf die Werbung für ein bestimmtes Erzeugnis, sondern auf jedes beliebige Arzneimittel im Versandhandel, unabhängig davon, ob es aus Deutschland oder aus anderen Mitgliedstaaten stamme. Im Vergleich zur Konstellation in der Rs C148/15 entfalte das Verbot von Gewinnspielen zur Förderung des Verkaufs von Arzneimitteln für Versandapotheken wesentlich geringere Auswirkungen als das dort zur Debatte stehende absolute Verbot eines Preiswettbewerbs. Auch seien die „herkömmlichen“ Apotheken ebenfalls von diesem Werbeverbot betroffen. 75 EuGH, Rs C-412/93, Slg 1995, I-179, Rn 20 ff – Leclerc; s a Rs C-292/92, Slg 1993, I-6787, Rn 19 ff – Hünermund.
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einer Form der Absatzförderung eines Erzeugnisses in einem Mitgliedstaat nachteilige Auswirkungen auf Erzeugnisse anderer Mitgliedstaaten entfalte.76 Dies erscheint auch insofern einsichtig, als jedenfalls ein quasi generelles Werbeverbot dazu führen dürfte, dass insb neu eingeführte Produkte fast nicht lanciert werden können. Allerdings fragt es sich, ob die gewählten Vergleichsgruppen zutr gewählt wurden: Denn ein Werbeverbot wirkt sich an sich nicht für einheimische und eingeführte Produkte, sondern für schon etablierte und (noch) nicht etablierte Produkte unterschiedlich aus. Dann aber stellt sich die Frage, ob für die Feststellung einer diskriminierenden Wirkung nicht (auch) danach gefragt werden sollte, ob die Maßnahme die Neueinführung einheimischer Produkte weniger stark betrifft. Jedenfalls nähert sich ein vollständiges Werbeverbot in Bezug auf seine Wirkungen einer Marktzugangsbeschränkung an, da auch neue inländische Produkte wohl nur sehr schwer in den Markt eingeführt werden können. Wo nun genau die Grenze zwischen beiden Fallgestaltungen – reine Verkaufsmodalität ohne diskriminierende Wirkung einerseits und (materiell diskriminierendes) vollständiges Verbot der Absatzförderung eines Produkts andererseits – zu ziehen ist, bleibt nach wie vor offen. Insofern hätten die Urt des EuGH in Bezug auf die nicht produktbezogene Werbung durchaus auch anders ausfallen können. Weiter fragt es sich, wie andere nicht unmittelbar mit der Verpackung verbundene Werbemaßnahmen (wie zB die vergleichende Preiswerbung77 oder das sog „Euromarketing“) zu beurteilen sind. Weiter und an diese Erwägungen anschließend erscheint die Rspr manchmal 49 auch nicht in sich schlüssig zu sein: So bejahte der EuGH in Bezug auf die griechische Regelung, die Zulässigkeit von Verkaufsstellen für „Bake-off“-Erzeugnisse78 von denselben Voraussetzungen abhängig zu machen, wie sie für Verkaufsstellen herkömmlicher Backwaren gelten79 (was zur Stilllegung der Verkaufsstellen dieser Erzeugnisse in Supermärkten führte), die tatbestandliche Einschlägigkeit des Art 34 AEUV: Die Voraussetzungen der Dassonville-Formel seien erfüllt, und eine Anwendung der Keck-Rechtsprechung komme schon deshalb nicht in Betracht, weil die
76 EuGH, verb Rs C-34–36/95, Slg 1997, I-3843, Rn 40 – de Agostini; ebenso Rs C-405/98, Slg 2001, I1795, Rn 20 f – Gourmet International. 77 Die Rspr bejahte hier vor der Keck-Rspr die tatbestandliche Einschlägigkeit des Art 34 AEUV, vgl EuGH, Rs C-362/88, Slg 1990, I-667 ff – GB-INNO; Rs C-126/91, Slg 1993, I-2361 ff – Yves Rocher = JK 94, EWGV Art 30/4. 78 Dies sind Backwaren, die vollständig oder teilweise vorgebacken, anschließend tiefgefroren und nach schnellem Auftauen oder Aufwärmen konsumiert werden. 79 Dabei ging es insb um das Genehmigungserfordernis für den Betrieb von Bäckereien sowie die erforderlichen städtebaulichen und baurechtlichen Anforderungen für die Erteilung der Genehmigung, etwa in Bezug auf Mindestgröße, Belüftungs- und Beleuchtungsbedingungen sowie die vorgeschriebenen Geräte.
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fraglichen nationalen Bestimmungen die Herstellungsbedingungen für Backwaren regelten, die Einfuhrhindernisse implizierten, gehe es doch um zusätzliche, das Inverkehrbringen der Backwaren erschwerende Erfordernisse. Eine Rechtfertigung aus Gründen des Verbraucher- und/oder Gesundheitsschutzes scheide mangels Erforderlichkeit der Maßnahme aus.80 Es fällt schwer, hier den Unterschied zu dem griechischen Gebot, Säuglingsmilch ausschließlich in Apotheken zu verkaufen (Rn 45) zu sehen, dürfte doch auch die Beschränkung der Verkaufsstellen für Babynahrung zu einer Erschwerung des Marktzugangs führen. Denn eine Beschränkung von Verkaufsstellen für bestimmte Produkte zieht regelmäßig (auch) Einfuhrhindernisse nach sich. Weiter zeigt ein Vergleich dieser beiden Urt bzw beider Ausgangsfallgestaltungen, dass die Abgrenzung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen ggf recht schwierig sein kann: Denn der EuGH geht offenbar in Bezug auf die Zulässigkeit von Verkaufsstellen für „Bake-off“-Erzeugnisse von produktbezogenen Maßnahmen aus, obwohl an sich keine Anforderungen an die Produkte, sondern an die Verkaufsstellen definiert werden, so dass gute Gründe hier – wie bei sonstigen Einschränkungen für Verkaufsstellen bestimmter Produkte – dafür sprechen, von der Vertriebsbezogenheit der Maßnahme auszugehen. 50 Hinzu kommt, dass der Gerichtshof auch bei nicht produktbezogenen Maßnahmen mitunter auf eine eigentliche Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen der Keck-Rspr verzichtet, sondern die Prüfung der Dassonville-Fomel neben die Verpflichtung stellt, die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der gegenseitigen Anerkennung von in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellten und in den Verkehr gebrachten Erzeugnissen zu beachten sowie den Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten den freien Marktzugang zu gewährleisten.81 Nicht ganz klar wird aus diesen Formulierungen, in welchem Verhältnis die Dassonville-Formel bzw deren Prüfung zu dieser dreigliedrigen Prüfungsreihenfolge steht. Vieles dürfte hier dafür sprechen, dass es sich nicht nur um eine Präzisierung, sondern um eine Weiterentwicklung der Voraussetzungen für die tatbestandliche Einschlägigkeit des Art 34 AEUV handelt, soll doch offenbar die Keck-Rspr grundsätzlich bei Maßnahmen, die den Marktzugang (oder eine der beiden anderen Konstellationen) betreffen, nicht zum Zuge kommen können, ohne dass die Keck-Rspr jedoch als solche re-
80 EuGH, verb Rs C-158/04 u 159/04, Slg 2006, I-8135 ff – Alfa Vita Vassilopoulos. 81 Vgl zB EuGH, Urt v 18.12.2012, Rs C-385/10 – Elenca (in Bezug auf ein Verbot der Vermarktung von aus einem anderen Mitgliedstaat stammenden Bauprodukten, die nicht mit dem CE-Zeichen versehen sind) = JK 2013, AEUV Art 34/4; Urt v 26.4.2012, Rs C-456/10 – ANETT (in Bezug auf die Pflicht, Tabakerzeugnisse durch Tabakeinzelhändler nur über gewisse zugelassene Großhändler zu beziehen, so dass die direkte Einfuhr aus anderen Mitgliedstaaten verboten war) = JK 2013, AEUV Art 34/3; zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auch EuGH, Urt v 16.1.2014, Rs C-481/12 – Juvelta.
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lativiert oder gar aufgegeben würde.82 Daraus wird man folgern können, dass in all denjenigen Fällen, in denen bereits der Marktzugang als solcher beschränkt wird, Art 34 AEUV jedenfalls einschlägig ist und sich letztlich ein Prüfung der Keck-Kriterien erübrigt. In Bezug auf Verwendungsbeschränkungen hielt der Gerichtshof denn auch fest, nationale Maßnahmen, die den Zugang eines Produkts zum Markt eines Mitgliedstaats behindern, seien unabhängig von der Frage, ob und inwieweit die Voraussetzungen der Keck-Rspr zu bejahen sind, als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen. Er unterschied sodann zwischen solchen Verwendungsbeschränkungen, die keine wirkliche Behinderung des Marktzugangs implizieren, da sie die Verwendung des betreffenden Produkts in dem jeweiligen Mitgliedstaat nur teilweise oder gar marginal beschränken, und denjenigen, die dazu führen, dass die tatsächlichen Möglichkeiten, das betreffende Produkt zu verwenden, unbedeutend sind. Im zuletzt genannten Fall könnten nämlich die Verwendungsbeschränkungen einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten der Verbraucher entfalten, das sich wiederum auf den Zugang des Erzeugnisses zum Markt des Mitgliedstaats auswirken könne.83 Die Formulierungen des Gerichtshofs lassen damit erkennen, dass Art 34 AEUV bei Verwendungsbeschränkungen offenbar nur in denjenigen Fallgestaltungen einschlägig sein soll, bei denen die Verwendung des betreffenden Produkts verhindert oder stark behindert wird. Auch die Heranziehung des Kriteriums des Marktzugangs bleibt aber beachtlichen Unsicherheiten unterworfen: So ist in Bezug auf die Rechtsprechung zu den Verwendungsbeschränkungen unklar, ab wann nun die Verwendung wirklich stark behindert ist. Zudem erachtet der Gerichtshof in anderen Konstellationen – so wenn er annimmt, eine nationale Regelung, wonach Tabakerzeugnisse durch Tabakeinzelhändler nur über gewisse zugelassene Großhändler bezogen und somit nicht direkt aus anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden dürfen, stelle eine Marktzugangsbeschränkung dar84 – eine (offenbar „normale“) Behinderung des Marktzugangs für ausreichend, ein Ansatz, der auch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem Urteil steht, in dem der Gerichtshof das Gebot, Säuglingsnahrung nur in Apotheken zu verkaufen, als Ver-
82 Wie auch die nachfolgende Rechtsprechung bestätigt, in der der EuGH in Bezug auf eine Regelung, wonach der Verkauf bestimmter alkoholischer Getränke nur einem Verkäufer mit Einzelhandelserlaubnis gestattet ist, ausdrücklich die Einschlägigkeit der Keck-Rechtsprechung prüfte (und verneinte, da das Erfordernis nicht für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelte und nur in Finnland ansässige Einzelhändler die Erlaubnis erhalten könnten), vgl EuGH, Urt v 12.11.2015, Rs C198/14 – Visnapuu; auf die Keck-Rspr ebenfalls zurückgreifend Urt v 21.9.2016, Rs C-221/15 – Etablissement Fr. Colruyt; Urt v 18.6.2019, Rs C-591/17 – Österreich/Deutschland. 83 Vgl EuGH, Rs C-142/05, Slg 2008, I-4273 ff – Mickelsson u Roos; Rs C-110/05, Slg 2009, I-519 ff – Kommission/Italien = JK 2010, EGV Art 28/12; Rs C-433/05, Slg 2010, I-2885 ff – Sandström. 84 EuGH, Urt v 26.4.2012, Rs C-456/10 – ANETT = JK 2013, AEUV Art 34/3.
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kaufsmodalität iSd Keck-Rspr ansieht (Rn 45), dies obwohl hierdurch auch der Marktzugang behindert sein dürfte. 51 Vor diesem Hintergrund könnte der Ansatz des EuGH (teilweise) hinterfragt werden: Geht man nämlich davon aus, dass der Sinn und Zweck des Art 34 AEUV in erster Linie darin zu sehen ist, dass die in den verschiedenen Mitgliedstaaten produzierten Waren unabhängig von ihrer Herkunft bzw ihrem Ursprung im Unionsgebiet frei zirkulieren können, liegt es nahe, darauf abzustellen, ob ganz allgem die Rahmenbedingungen für die Vermarktung oder den Vertrieb von Produkten geregelt werden oder ob es darum geht, bestimmte Produkte in irgendeiner Weise einer besonderen Regelung zu unterwerfen. Letzteres ist aber immer dann der Fall, wenn eine nationale Vorschrift nicht alle Produkte, sondern eine eingrenzbare Produktgruppe – wie zB Säuglingsnahrung, Tabak, Alkoholika usw – betrifft. Denn jede bestimmte Produkte betr Maßnahme führt idR zumindest potentiell zu Behinderungen des Marktzugangs, den Art 34 AEUV gerade garantieren will. Dieser Ansatz drängt sich auch vor dem Hintergrund auf, dass – wie das Beispiel der Beschränkung des Verkaufs bestimmter Produkte auf bestimmte spezialisierte Stellen zeigt – zahlreiche an sich den Marktzugang nicht berührende und auch nicht diskriminierende Regelungen für die Wirtschaftsteilnehmer ggf recht weitgehende Markteinbußen zur Folge haben können und insofern in ihren Auswirkungen mit unmittelbar produktbezogenen Regelungen durchaus vergleichbar sind. Im Übrigen ließen sich mit dem hier vertretenen Ansatz auch problemlos die Grenzfälle lösen: So geht es bei dem erwähnten generellen Werbeverbot eben um die Reglementierung eines bestimmten abgrenzbaren Produkts oder einer Produktgruppe, so dass eine Maßnahme gleicher Wirkung zu bejahen ist. Geht es hingegen um Maßnahmen, die sich auf nicht eingrenzbare Produkte beziehen (wie zB eine Reihe allgem Regulierungen der Werbung, etwa das Verbot vergleichender Werbung), ist die Einschlägigkeit des Tatbestandes des Art 34 AEUV zu verneinen, es sei denn, die Maßnahme wirke diskriminierend. MaW geht der hier vertretene Vorschlag dahin, das vom EuGH verwandte Kriterium der Produkt- oder Vertriebsbezogenheit durch die Frage nach dem Bezug der Regelung auf eine abgrenzbare Produktgruppe zu ersetzen. Damit würde auch die Notwendigkeit entfallen, auf die Behinderung des Marktzugangs abzustellen, da im Falle der Regelung einer abgrenzbaren Produktgruppe grundsätzlich von einer Marktzugangsbeschränkung auszugehen ist. 52 Jedenfalls kommt es nach der hier vertretenen Ansicht85 (darüber hinaus) nicht auf eine irgendwie geartete „Spürbarkeit“ der Maßnahme oder eine „Nähebezie85 Wie hier etwa Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, 2000, S 111 ff; s unter Bezugnahme auf die Rspr auch schon Epiney, NVwZ 1999, 1076 (1077); ausf zum Problemkreis auch Kessler Das System der Warenverkehrsfreiheit im Gemeinschaftsrecht, 1997, S 21 ff.
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hung“ zwischen der Maßnahme und der beeinträchtigenden Wirkung an: Denn letztlich geht es hier um eine Art Abschwächung des Kriteriums der Geeignetheit einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkungen entfalten zu können, deren Konturen aber denkbar unklar und kaum einer voraussehbaren Konkretisierung zugänglich sind. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die „geringe Intensität“ einer Maßnahme jedenfalls auf der Rechtfertigungsebene im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Auch der EuGH dürfte von diesem Ansatz ausgehen, wenn auch manche (in erster Linie ältere) Urteile hier teilweise missverständlich formulieren.86 So stellt der Gerichtshof bei der Frage nach dem Vorliegen einer beschränkenden Wirkung einer Regelung – so sie zweifelhaft ist – regelmäßig ausschließlich auf ihren rechtlichen Gehalt, ohne auf das Erfordernis einer irgendwie gearteten Spürbarkeit Bezug zu nehmen; vielmehr seien auch unbedeutende Beschränkungen einer der Grundfreiheiten vom Vertrag grundsätzlich verboten.87 Hiervon zu unterscheiden ist jedoch das auch in der Rspr88 zugrunde gelegte 53 Erfordernis, dass die Geeignetheit einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkung zu entfalten, hinreichend dargelegt werden muss, so dass rein hypothetische Kausalverläufe, bei denen eine solche Beeinträchtigung des Handels zu ungewiss und zu indirekt ist, nicht von Art 34 AEUV erfasst werden,89 wobei hier letztlich
86 Vgl etwa EuGH, verb Rs C-418/93 ua, Slg 1996, I-2975, Rn 32 f – Semeraro; Rs C-93/92, Slg 1993, I5009, Rn 8 ff – CMC Motorradcenter; Rs C-379/92, Slg 1994, I-3453, Rn 24 – Peralta; Rs C-44/98, Slg 1999, I-6269, Rn 16 – BASF. 87 EuGH, Rs C-254/98, Slg 2000, I-151, Rn 25 ff – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1; Rs C-166/03, Slg 2004, I-6535 – Kommission/Frankreich; Urt v 21.6.2016, Rs C-15/15 – Valnar; Urt v 29.9.2016, Rs C-492/14 – Essent Belgium; gegen einen „Spürbarkeitstest“ wohl auch Rs 16/ 83, Slg 1984, 1299, Rn 20 – Prantl; Slg 1993, I-2361, Rn 17 ff – Yves Rocher = JK 94, EWGV Art 30/4; Rs C-67/ 97, Slg 1998, I-8033, Rn 22 – Bluhme; Rs C-412/97, Slg 1999, I-3845 ff – EDSrl; das Spürbarkeitserfordernis ablehnend (sei doch allein die Eignung der Auswirkungen der streitigen Maßnahme auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten entscheidend) auch Rs C-141/07, Slg 2008, I-6935 ff – Kommission/ Deutschland = JK 2009, EGV Art 28/11. S im Zusammenhang mit den Personenfreizügigkeitsrechten auch Rs C-212/06, Slg 2008, I-1683 ff – Gouvernement de la Communauté française, wo der Gerichtshof betont, der Umstand, dass die zur Debatte stehende Regelung nur marginale Auswirkungen auf die Freizügigkeit entfalten könne, sei irrelevant, da die Grundfreiheiten grundlegende Bestimmungen für die Union darstellten und jede Beeinträchtigung dieser Freiheiten, sei sie noch so unbedeutend, verboten sei. 88 S etwa EuGH, Rs C-266/96, Slg 1998, I-3949 ff – Corsica Ferries France; Rs C-44/98, Slg 1999, I6269 ff – BASF; in Bezug auf Art 45 AEUV Rs C-190/98, Slg 2000, I-493 ff – Graf. 89 Die Maßnahme darf also – wie der EuGH formuliert – im Hinblick auf ihre Eignung, den Handel innerhalb der Union zu behindern, nicht zu „ungewiss“ und „mittelbar“ sein, vgl EuGH, Rs C-291/09, Slg 2011, I-2685 ff – Guarnieri, in Bezug auf eine Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit.
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schon die Einschlägigkeit der Dassonville-Formel zu verneinen ist, da die potenziellen und indirekten Auswirkungen auf das Handelsvolumen nicht hinreichend dargelegt sind. MaW geht es hier um die Anforderungen an den Nachweis des Vorliegens einer handelsbeschränkenden Wirkung, die aber ihrerseits keine besondere Intensität oder eben „Spürbarkeit“ aufweisen muss.
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Lösung Fall 2: Ein Werbeverbot wie das zur Debatte stehende betrifft allgem Alkohol, also auch eingeführten Alkohol, so dass insofern der Anwendungsbereich der Art 34 ff AEUV eröffnet ist (vgl auch Art 28 II AEUV). Das ins Auge gefasste Gerichtsurt stellt eine staatliche Maßnahme dar. Weiterhin handelt es sich um eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne der Dassonville-Formel, da ein Werbeverbot dazu führen kann und sogar soll, dass der Absatz (auch) eingeführter Alkoholika zurückgeht, so dass der Handel innerhalb der Union behindert wird. Fraglich könnte aber sein, ob eine Verkaufsmodalität im Sinne der Keck-Formel vorliegt. Grds geht es bei dem zur Debatte stehenden Verbot nicht um eine produktbezogene, sondern um eine verkaufsbezogene Maßnahme, da die Art und Weise der Vermarktung geregelt wird und die Werbung auch nicht untrennbar mit dem Produkt verbunden wird. Zudem wird der Marktzugang von Alkoholika als solcher nicht berührt; die Vermarktung bleibt nach wie vor ohne Weiteres möglich. Insofern könnte die Annahme naheliegen, es handele sich um eine Verkaufsmodalität. In Anbetracht des Umstandes aber, dass das schwedische Verbot nicht nur eine Form der Förderung des Absatzes eines Erzeugnisses untersagt, sondern die Hersteller und Importeure an nahezu jeder Verbreitung von an die Verbraucher gerichteter Werbung hindert und dass gerade bei Genussmitteln wie dem Alkohol herkömmlichen gesellschaftlichen Gebräuchen bei der Auswahl der Getränke eine wichtige Rolle zukommt, entfaltet das in Frage stehende umfassende Werbeverbot stärkere Auswirkungen auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten als auf einheimische Erzeugnisse, so dass ein Hemmnis für den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten vorliegt und der Anwendungsbereich des Art 34 AEUV eröffnet ist. Das Verbot könnte jedoch aus Gründen des Gesundheitsschutzes (Art 36 AEUV) gerechtfertigt sein, da es zum Kampf gegen den Alkoholismus beitragen soll. Aus dem Sachverhalt sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass das Verbot nicht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen würde; hierfür bedarf es im Übrigen der Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände, die das vorlegende Gericht durchzuführen hat.
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Lösung Fall 3: Das italienische Verbot betrifft Waren iSd Art 28 II AEUV, können die Anhänger doch Gegenstand von Handelsgeschäften sein. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt vor, und es geht auch um eine staatliche Maßnahme (ein Gesetz). Weiter handelt es sich um eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne der Dassonville-Formel, da das in Frage stehende Verbot dazu führen kann, dass sich ihr Absatz verringert, so dass der Handel innerhalb der EU behindert ist. Fraglich könnte aber sein, ob eine Verkaufsmodalität im Sinne der Keck-Formel vorliegt. Grds geht es bei dem zur Debatte stehenden Verbot nicht um Anforderungen an das Produkt selbst, sondern um eine Beschränkung seiner Verwendung. Solche Verwendungsbeschränkungen stellen aber dann eine Maßnahme gleicher Wirkung dar, wenn sie den Marktzugang der betroffenen Produkte behindern. Soweit es um Anhänger geht, die nicht eigens zum Anhängen an die betroffenen Fahrzeuge konzipiert waren, ist eine solche Behinderung schon des Marktzugangs selbst nicht zu erkennen, so dass Art 34 AEUV nicht greift. Hingegen Astrid Epiney
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ist die Einschlägigkeit des Art 34 AEUV in Bezug auf solche Anhänger zu bejahen, die speziell für die betroffenen Kleinkrafträder produziert wurden und letztlich nur von ihnen gezogen werden können. Denn ein solches Verbot entfaltet erheblichen Einfluss auf das Verhalten der Verbraucher, das sich wiederum auf den Zugang des Erzeugnisses zum Markt auswirkt; die Verbraucher haben nämlich kein Interesse daran, einen solchen Anhänger zu kaufen, könnten sie ihn doch keinesfalls (da er nur für die erwähnten Fahrzeuge konzipiert ist) nutzen. Allerdings kann die Maßnahme durch Erwägungen der Sicherheit des Straßenverkehrs gerechtfertigt werden.
2. Mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung Gemäß Art 35 AEUV sind mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnah- 56 men gleicher Wirkung verboten. Der Verbotszweck des Art 35 AEUV stimmt insofern mit demjenigen des Art 34 AEUV überein, als verhindert werden soll, dass der freie Warenverkehr dadurch behindert wird, dass die Mitgliedstaaten über eine Beschränkung der Ausfuhr die Nachfrage auf dem innerstaatlichen Markt sättigen.90 Insofern kann bei der Auslegung des Art 35 AEUV durchaus an die im Rahmen des Art 35 AEUV entwickelten Grundsätze angeknüpft werden.91 Allerdings ist die Dassonville-Formel vor dem Hintergrund über die im Rah- 57 men des Art 34 AEUV entwickelten Ansätze einzuschränken, als ihre „vollumfängliche“ Heranziehung letztlich dazu führte, dass nahezu jede Produktions- oder Vertriebsregelung gegen Art 35 AEUV verstieße, wird doch hierdurch der Handel innerhalb der EU regelmäßig zumindest mittelbar und potenziell betroffen, da derartige Regelungen die Herstellungskosten negativ beeinflussen. So geht denn auch der EuGH davon aus, dass Art 35 AEUV nur auf solche Maßnahmen Anwendung finden könne, die „spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaates und seinen Außenhandel schaffen, so dass die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betroffenen Staates zum Nachteil der Produktion oder des Handels anderer Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt“92. In der Folgerspr wurde dieser Ansatz bestätigt, wobei allerdings nicht mehr verlangt
90 Vgl zum Normzweck des Art 35 AEUV Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/ GRCh, Art 35 AEUV Rn 1. 91 Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 35 AEUV Rn 1 ff, 7 ff; ähnlich auch Leible/T. Streinz in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 35 AEUV Rn 1 ff. 92 EuGH, Rs 15/79, Slg 1979, 3409, Rn 7 – Groenveld; aus der Rspr Rs C-412/97, Slg 1999, I-3845, Rn 10 – EDSrl; Rs C-388/95, Slg 2000, I-3123, Rn 36 ff – Belgien/Spanien in Bezug auf das Erfordernis, in einer Region hergestellten Wein auch dort abzufüllen, wenn die entspr Ursprungsbezeichnung verwendet werden soll.
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wurde, dass der Vorteil für den Absatz auf dem Binnenmarkt des jeweiligen Staates mit einem Nachteil der ausländischen Produktion einhergeht.93 58 Zu überzeugen vermag dieser Ansatz schon deshalb, weil nur im Falle besonderer Vorschriften für den Export bzw – in der Sprache des EuGH – bei „spezifischen Beschränkungen der Ausfuhrströme“ der Absatz auf dem Binnenmarkt bevorzugt wird und damit nur unter dieser Voraussetzung der Handel zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich in Mitleidenschaft gezogen wird.94 59 Letztlich führt diese einschränkende Auslegung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung im Rahmen des Art 35 AEUV damit dazu, dass dieser Bestimmung lediglich ein Verbot solcher Maßnahmen zu entnehmen ist, die zwischen den für den inländischen Markt bestimmten Produkten und denjenigen Waren, die ausgeführt werden sollen, unterscheiden. Von vornherein ausgeschlossen vom Anwendungsbereich des Art 35 AEUV sind damit allgem, auf alle Produkte anwendbare Maßnahmen. In diesem Sinn werden also nur diskriminierende Maßnahmen erfasst, wobei die Differenzierung allerdings an die Bestimmung der Waren anknüpfen muss.
III. Rechtfertigung 60 Ist das Vorliegen einer mengenmäßigen Ein- oder Ausfuhrbeschränkung oder einer
Maßnahme gleicher Wirkung zu bejahen und damit der Tatbestand des Art 34 der des Art 35 AEUV eröffnet, ist die entspr Maßnahme grds verboten. Allerdings sieht das Unionsrecht Rechtfertigungsmöglichkeiten vor, wobei zwischen ausdrücklich im Vertrag geregelten Rechtfertigungsgründen (2.) und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen (sog „zwingenden Erfordernissen“) (3.) unterschieden werden kann. Gemeinsam ist beiden Kategorien, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (4.). Im Übrigen stellen sich bei allen Rechtfertigungsgründen eine Reihe gemeinsamer Fragen, die daher bereichsübergreifend erörtert werden sollen (1.). 61 Der Sinn und Zweck dieser Möglichkeit des Abweichens vom grds Verbot der Art 34, 35 AEUV ist darin zu sehen, dass gewährleistet werden soll, dass die Anwendung dieser Bestimmungen nicht dazu führen soll, dass bestimmten Schutzanliegen nicht mehr Rechnung getragen werden kann. Insofern geht es also nicht um eine
93 ZB EuGH, Rs C-205/07, Slg 2008, I-9947 ff – Gysbrechts; Rs C-161/09, Slg 2011, I-915 ff – KakavetsosFragkopoulos; Rs C-15/15, ECLI:EU:C:2016:704 – Valnar; Urt v 18.9.2019, Rs C-222/18 – VIPA; Urt v 17.9.2020, Rs C-648/18 – ANRE. 94 Ausf Epiney in: Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, EU, § 11 Rn 67 ff; aA etwa Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, 2000, S 244 ff. Zur Problematik instruktiv auch Brigola EuZW 2017, 5 ff.
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allgemeine Schutzklausel (zugunsten der Mitgliedstaaten) oder um ein „Herausschälen“ bestimmter gegenständlich definierter Bereiche aus dem Anwendungsbereich der Regelungen über den freien Warenverkehr, sondern ermöglicht wird nur die Verfolgung bestimmter Schutzziele und damit der Schutz bestimmter Rechtsgüter95 unter Beachtung der unionsrechtlich determinierten Anforderungen. Aus diesen Grundsätzen folgt dann auch, dass die Schutzgüter – seien sie nun ausdrücklich im Vertrag geregelt oder aber ungeschriebener Natur – als unionsrechtliche Begriffe nach unionsrechtlichen Grundsätzen auszulegen sind. Allerdings verweisen die verwandten Begriffe teilweise wiederum auf mitgliedstaatliche Konzepte, so insb die Konzepte der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sittlichkeit. Aber auch hier setzt das Unionsrecht insofern Grenzen, als sich die Ausfüllung des Bedeutungsgehalts dieser Begriffe durch die Mitgliedstaaten in einer gewissen Bandbreite bewegen muss.96
1. Bereichsübergreifende Aspekte a) Keine sekundärrechtlichen Regelungen Eine Rechtfertigung kommt von vornherein nur unter der Voraussetzung in Be- 62 tracht, dass der entspr Bereich nicht durch das Sekundärrecht geregelt ist (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 93 f).97 Diese nur für mitgliedstaatliche Regelungen einschlägige Einschränkung ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der den Mitgliedstaaten eröffneten Möglichkeit des Rückgriffs auf die Rechtfertigungsgründe des Art 36 AEUV sowie die zwingenden Erfordernisse: Denn wenn das entspr Rechtsgut (schon) durch EU-Regelungen geschützt wird, fehlt das Bedürfnis nach einem autonomen mitgliedstaatlichen Schutz, würde doch ansonsten die bestehende Harmonisierung auf EU-Ebene bzw deren Zielsetzung unterlaufen werden. Das Unionsrecht geht also in diesen Fällen maW davon aus, dass dem Schutz des betr Rechtsguts durch die sekundärrechtliche Regelung Rechnung getragen werden soll. Bestätigt wird diese Sicht durch die Regelungen der Art 114 IV ff AEUV, die eben gerade (ausnahmsweise) auch im Rahmen des Anwendungsbereichs von EU-Sekundärrecht
95 Ausdrücklich etwa EuGH, Rs 153/78, Slg 1979, 2555, Rn 5 – Kommission/Deutschland. 96 Immerhin impliziert dieses „Bandbreitenkonzept“, dass die Inhalte etwa der öffentlichen Ordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten variieren (können), wie das Bsp der Lotterien zeigt, die in einigen Mitgliedstaaten (teilweise) verboten sind, in anderen aber nicht; vgl den Sachverhalt in EuGH, Rs C-275/92, Slg 1994, I-1039 ff – Schindler; Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. 97 EuGH, Rs C-5/94, Slg 1996, I-253, Rn 18 – Hedley Lomas; Rs C-120/95, Slg 1995, I-1831, Rn 42 f – Decker; Rs C-470/03, Slg 2007, I-2749 COS.MET; Rs C-322/01, Slg 2003, I-14887 – Doc Morris.
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den Mitgliedstaaten unter bestimmten (engen) Voraussetzungen das Anlegen eines höheren Schutzstandards erlauben. 63 Allerdings greift diese Einschränkung der Möglichkeit der Berufung auf Art 36 AEUV sowie die zwingenden Erfordernisse (selbstverständlich) nur insoweit, als tatsächlich eine abschließende Harmonisierung vorliegt,98 wobei der abschließende Charakter99 einer EU-Regelung immer dann zu verneinen ist, wenn der Schutz des entspr Rechtsguts nicht umfassend geregelt ist.100 64 Nach der Rspr des EuGH101 ist das Verbot der Heranziehung der allgem primärrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Falle einer abschließenden sekundärrechtlichen Regelung insofern „absolut“ zu verstehen, als es auch dann eingreift, wenn die Erreichung des sekundärrechtlich angestrebten Schutzniveaus deshalb nicht möglich ist, weil andere Mitgliedstaaten die unionsrechtlichen Anforderungen nicht einhalten, und dies auch in den Fällen, in denen der einschlägige EU-Rechtsakt kein Kontroll- oder Sanktionsverfahren vorsieht.102 Dieser Ansatz entspricht dem auch sonst vom EuGH angewandten Grundsatz, dass die Nichtbeachtung des Unionsrechts durch einen anderen Mitgliedstaat nichts an der eigenen Pflicht zur Beachtung des Unionsrechts ändert. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Heranziehung dieser grds überzeugenden Sicht auch bei der hier diskutierten Konstellation zwingend und sachgerecht ist: Sinn und Zweck der Rechtfertigungsmöglichkeiten nach Art 36 AEUV und durch die zwingenden Erfordernisse ist ja darin zu sehen, dass die entspr Rechtsgüter geschützt werden. Dieses Anliegen kann zwar dann nicht mehr greifen, wenn der Unionsgesetzgeber selbst das Schutzniveau festlegt; allerdings lebt es doch immer dann wieder auf, wenn das darin zugrunde gelegte Schutzniveau nicht erreicht wird bzw werden kann. Insofern geht es dann nicht mehr um die „typische“ Konstellation, dass ein Mitgliedstaat seine Konzeption oder sein Schutzniveau an die Stelle der EU-Regelungen stellen möchte oder dass ein Mitgliedstaat unter Berufung auf die Nichteinhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch einen anderen Mitgliedstaat seinen unionsrechtlichen Pflichten ebenfalls nicht nachkommen möchte, so dass man jedenfalls bei gravierenden und eindeuti-
98 Vgl EuGH, Rs C-102/96, Slg 1998, I-6871, Rn 26 ff – Kommission/Deutschland; Rs C-320/93, Slg 1994, I-5243, Rn 14 – Ortscheit. 99 Die Frage des abschließenden Charakters einer Regelung kann allerdings ggf schwierig zu beantworten sein; vgl hierzu mwN, Epiney Umweltrecht der EU, 4. Aufl, 2019, 5. Kap, Rn 65 ff. 100 Vgl die Beispiele aus der Rspr in EuGH, Rs C-39/90, Slg 1991, I-3069, Rn 16 ff – Denkavit; Rs C-1/96, Slg 1998, I-1251, Rn 26 ff – Compassion in World Farming; Rs C-320/93, Slg 1994, I-5243, Rn 13 ff – Ortscheit. 101 EuGH, Rs C-5/94, Slg 1996, I-2553, Rn 19 – Hedley Lomas. 102 Diese Problematik stellt sich im Wesentlichen bei der zugegebenermaßen begrenzten Situation der Ausfuhrbeschränkungen.
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gen Verletzungen der sekundärrechtlichen Normen durch andere Mitgliedstaaten das Recht auf einen Rückgriff auf Art 36 AEUV oder die zwingenden Erfordernisse hätte zulassen können.103
b) Verhältnis des Art 36 AEUV zu den „zwingenden Erfordernissen“, Anwendungsbereich der Rechtfertigungsgründe und dogmatische Einordnung Wie bereits eingangs erwähnt, sind dem Unionsrecht sowohl ausdrückliche, im Vertrag geregelte Rechtfertigungsgründe, die in Art 36 AEUV enthalten sind, als auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe zu entnehmen. Letztere wurden durch den EuGH in seiner Cassis de Dijon-Rspr104 begründet und in der Folgerspr weiterentwickelt. Damit wird die Frage nach dem Verhältnis der beiden Kategorien von Rechtfertigungsgründen, ihrem jeweiligen Anwendungsbereich sowie der dogmatischen Einordnung der zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe oder Rechtfertigungsgründe aufgeworfen. Die Rspr des EuGH zu diesen Fragen lässt sich durch folgende Punkte zusammenfassen: Art 36 AEUV sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen, und der Aufzählung der dort genannten Rechtfertigungsgründe komme ein abschließender Charakter zu.105 Dieser Ansatz schließt es (auf den ersten Blick) aus, sozusagen analog zu Art 36 AEUV, weitere Rechtfertigungsgründe zu entwickeln. Gleichwohl wurde relativ bald deutlich, dass die in Art 36 AEUV aufgeführten Rechtfertigungsgründe nicht ausreichend sind, um dem Anliegen eines effektiven Schutzes wichtiger Rechtsgüter Rechnung zu tragen, stammt die in Art 36 AEUV enthaltene Liste doch aus dem Jahr 1957, und im Laufe der Zeit zeigte sich die Notwendigkeit, auch andere Schutzziele zu verfolgen, wie etwa solche des Verbraucheroder Umweltschutzes. Vor diesem Hintergrund betonte der EuGH in dem diesbezüglich grundlegenden Cassis de Dijon-Urteil106, dass auf innerstaatlichen Rechtsvorschriften beruhende Handelshemmnisse immer dann hinzunehmen seien, wenn sie „notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insb den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen
103 AA Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 36 AEUV Rn 14, 32. 104 EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon. 105 EuGH, Rs C-205/89, Slg 1991, I-1361, Rn 9 – Kommission/Griechenland; Rs C-203/96, Slg 1998, I4075 – Dusseldorp. 106 In dieser Rs ging es um eine deutsche Vorschrift, wonach Fruchtsaftliköre nur dann als solche vermarktet werden dürfen und damit verkehrsfähig sind, wenn sie einen Mindestalkoholgehalt von 25 % aufweisen, was bei dem französischen Likör „Cassis de Dijon“ gerade nicht der Fall war.
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Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes“, mit denen ein „im allgem Interesse liegendes Ziel, das den Erfordernissen des freien Warenverkehrs, der eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt“, gerecht wird, verfolgt wird.107 Während es zunächst noch fraglich war, in welchem Verhältnis die zwingenden Erfordernisse zu den Rechtfertigungsgründen des Art 36 AEUV stehen,108 hat der EuGH später klargestellt, dass nur solche Interessen als zwingende Erfordernisse in Betracht kommen, die nicht schon durch Art 36 AEUV erfasst werden.109 69 Nicht ganz klar ist die Rspr in Bezug auf die Frage, ob die zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe oder aber als Rechtfertigungstatbestände anzusehen sind. Die vom Gerichtshof verwandten Formulierungen deuteten zunächst darauf hin, dass dieser von ersterem Ansatz ausgeht;110 hingegen finden sich insbesondere in der neueren Rspr auch Passagen, die im Zusammenhang mit den zwingenden Erfordernissen von „Rechtfertigungsgründen“ sprechen.111 Funktional geht es jedoch jedenfalls um Aspekte der Rechtfertigung. 70 Jedenfalls macht der EuGH aber offenbar einen konzeptionellen Unterschied zwischen beiden Kategorien von Rechtfertigungsgründen, dies in Bezug auf ihre Anwendungsbereiche: So sollen die Rechtfertigungsgründe des Art 36 AEUV offenbar immer eingreifen können, also auch bei offenen Diskriminierungen nach der Warenherkunft, während ein Rückgriff auf die zwingenden Erfordernisse bei offenen Diskriminierungen ausgeschlossen sei;112 allerdings ist darauf hinzuweisen,
107 EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649, Rn 8, 14 – Cassis de Dijon. 108 Wurde doch der Gesundheitsschutz, der schon in Art 36 AEUV enthalten ist, auch als Bsp für ein zwingendes Erfordernis aufgeführt. 109 EuGH, Rs C-176/90, Slg 1991, I-4151, Rn 13 – Aragonesa. 110 Vgl etwa EuGH, Rs C-176/90, Slg 1991, I-4151, Rn 13 – Aragonesa; Rs 274/89, Slg 1989, 229, Rn 16 – Kommission/Deutschland. 111 Vgl zB EuGH, Urt v 1.3.2012, Rs C-484/10 – Ascafor, wo der EuGH die in Art 36 AEUV aufgeführten Gründe und die zwingenden Erfordernisse in einem Atemzug als Rechtfertigungsgründe bezeichnet; s a schon EuGH, Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 18 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1, wo der EuGH von Rechtfertigung spricht. 112 Vgl etwa EuGH, Rs 113/80, Slg 1981, 1625, Rn 11 – Kommission/Irland; Rs C-2/90, Slg 1992, I-4431, Rn 33 ff – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3; verb Rs C-158/04 u 159/04, Slg 2006, I-8135 ff – Alfa Vita Vassilopoulos; Urt v 8.6.2017, Rs C-296/15 – Medisanus; Urt v 25.1.2017, Rs C-375/15 – Laezza; Urt v 22.12.2014, Rs C-344/13 – Blanco und Fabretti; bei versteckten Diskriminierungen (und sowieso bei Beschränkungen) hingegen können darüber hinaus auch die zwingenden Erfordernisse greifen, vgl Rs C-254/98, Slg 2000, I-151, Rn 25 ff – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1, wo es um eine versteckte Diskriminierung ging, der EuGH aber grds den Rückgriff auf das zwingende Erfordernis der Sicherstellung der Nahversorgung zugunsten ortsansässiger Unternehmen nicht ausschloss; ähnlich verb Rs C-34–36/95, Slg 1997, I-3843, Rn 44 f – de Agostini; s in diese Richtung auch bereits Rs 113/80, Slg 1981, 1625, Rn 11 – Kommission/Irland; die Rspr ist hier allerdings
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dass gerade im Bereich des Umweltschutzes verschiedentlich auch unmittelbar diskriminierende Regelungen grds einer Rechtfertigung zugänglich erachtet wurden,113 so dass die Rspr insoweit nicht ganz konsistent erscheint. Diese Rspr führt jedoch zu einigen Unstimmigkeiten – ganz abgesehen davon, 71 dass der EuGH teilweise einen recht großen Argumentationsaufwand betreiben musste, um an sich offen diskriminierende Maßnahmen dann doch als nicht offen diskriminierend einzustufen, so dass die Rechtfertigungsmöglichkeit aus Gründen des Umweltschutzes eröffnet werden konnte:114 Denn funktional gesehen stellen die zwingenden Erfordernisse, ebenso wie die in Art 36 AEUV genannten Gründe, Rechtfertigungsgründe dar; so werden sie auch nach den gleichen Grundsätzen geprüft. Ferner bleibt auch im Falle des Vorliegens zwingender Erfordernisse die einfuhrbeschränkende Wirkung aufrechterhalten, so dass der Tatbestand der Art 34, 35 AEUV an sich erfüllt ist. Insofern sind (auch) die zwingenden Erfordernisse dogmatisch als Rechtfertigungsgründe zu qualifizieren. Auch der EuGH dürfte dies – wie erwähnt (Rn 69) – in seiner jüngeren Rechtsprechung anerkennen, wenn er die zwingenden Erfordernisse als Rechtfertigungsgründe bezeichnet. Wenn aber die in Art 36 AEUV genannten Gründe einerseits und die zwingenden Erfordernisse andererseits beide dogmatisch als Rechtfertigungsgründe anzusehen sind, erscheint es wenig sinnvoll, in Bezug auf ihren Anwendungsbereich zu differenzieren, und hierfür sind vor diesem Hintergrund auch keine Gründe ersichtlich. Damit in engem Zusammenhang steht die Überlegung, dass der Ausschluss einer Rechtfertigungsmöglichkeit offener Diskriminierungen durch zwingende Erfordernisse nicht sachgerecht erscheint: Dadurch wird nämlich in gewissen Fällen ein ausreichender Schutz der betroffenen Rechtsgüter verhindert, ist es doch gerade nicht von Vornherein ausgeschlossen, dass etwa Erwägungen des Umweltschutzes auch offen diskriminierende Maßnahmen zu rechtfertigen vermögen. Etwaigen „Missbräuchen“ kann auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit begegnet werden.115 Diese Sicht trüge auch den doch parallel gelagerten Funktionen der durch Art 36 AEUV und die zwin-
nicht immer ganz klar, vgl etwa Rs 231/83, Slg 1985, 305, Rn 27 ff – Cullet; Rs C-224/97, Slg 1999, I-2517, Rn 14 – Ciola. 113 EuGH, Rs C-209/98, Slg 2000, I-3743, Rn 48 – Sydhavnens; iE auch schon Rs C-2/90, Slg 1992, I-4431, Rn 34 f – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3; s a Rs C-379/98, Slg 2001, I-2099 ff – Preussen Elektra, wo es um eine Differenzierung nach dem Sitz des Stromerzeugers ging, wenn auch der EuGH die Frage des Vorliegens einer offenen Diskriminierung nicht ausdrücklich ansprach; ähnlich auch EuGH (GK), Urt v 1.7.2014, Rs C-573/12 – Ålands Vindkraft. 114 So im Falle des wallonischen Einfuhrverbots für Abfälle, vgl EuGH, Rs C-2/90, Slg 1992, I-4431, Rn 33 ff – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3; s a Rs C-379/98, Slg 2001, I-2099 ff – Preussen Elektra; EuGH (GK), Urt v 1.7.2014, Rs C-573/12 – Ålands Vindkraft. 115 S in diesem Zusammenhang auch Heselhaus, EuZW 2001, 645 (648 f), der bei offenen Diskriminierungen für eine besonders strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung plädiert.
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genden Erfordernisse eröffneten Rechtfertigungsmöglichkeiten sowie ihrer letztlich parallelen Anwendung und Prüfung Rechnung.116 Wenn man diesem Ansatz folgt, entbehrt die Betonung des abschließenden Charakters des Art 36 AEUV jeden Sinns, werden die dort aufgeführten Rechtfertigungsgründe doch in jedem Fall zumindest funktional durch die zwingenden Erfordernisse ergänzt. Insg dürfte also eine einheitliche Rechtfertigungsdogmatik letztlich am sinnvollsten sein: In einem ersten Schritt wird geprüft, ob der Tatbestand des Art 34 oder des Art 35 AEUV erfüllt ist (was von der Bejahung des Schutzbereichs und dem Vorliegen eines Eingriffs abhängt), in einem zweiten die Einschlägigkeit eines „öffentlichen Interesses“ (entweder ein in Art 36 AEUV aufgeführter Grund oder ein „zwingendes Erfordernis“) geprüft, und in einem dritten Schritt ist nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu fragen. IE führt die hier vertretene Sicht aber nur bei der Frage der Anwendbarkeit der zwingenden Erfordernisse auf offene Diskriminierungen zu anderen Resultaten als die Rspr des EuGH, und auch dies nicht immer, so wenn der EuGH (wenn auch mit nicht ganz überzeugender Begründung) in Bezug auf an sich offene Diskriminierungen eine Rechtfertigung aus Gründen des Umweltschutzes gleichwohl zulässt.
c) Nicht wirtschaftlicher Charakter Fall 4: (EuGH, Rs C-324/93, Slg 1995, I-563 ff – Evans Medical) Diacetylmorphin ist ein Opiumderivat. Die Herstellung und Verarbeitung dieses Stoffes in Großbritannien war bislang einzig zwei in Großbritannien ansässigen Pharmaunternehmen gestattet; Dritten war die Einfuhr des Stoffes untersagt. Diese Regelung sollte sicherstellen, dass eine zuverlässige Versorgung mit dem als Schmerzmittel verwendeten Diacetylmorphin gewährleistet und der illegale Handel unterbunden wurde. Teilweise wurde aber auch vermutet, dass die Existenzfähigkeit des einzigen zugelassenen Herstellers durch diese Regelung gesichert werden sollte. Der britische Innenminister änderte diese Praxis nun unter Berufung ua auf ihren Verstoß gegen Art 34 AEUV, wogegen die betroffenen Pharmaunternehmen klagen. Das zuständige Gericht legt dem EuGH ua die Frage vor, ob es tatsächlich stimme, dass die Regelung nicht mit Art 34 AEUV in Einklang steht.
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116 Wie hier etwa Weiss, EuZW 1999, 493 (497); Hakenberg ER, Rn 269 ff geht sogar soweit, dass sie die Rspr dahingehend auslegt, dass der EuGH (inzwischen) von einem einheitlichen Begriff der Beschränkung ausgehe (es also maW nicht mehr auf das Vorliegen einer offenen oder versteckten Diskriminierung ankomme), dann nach dem Vorliegen einer (tatbestandsausschließenden) Verkaufsmodalität frage und schließlich eine einheitliche Rechtfertigungsprüfung durchführe. AA aber Leible/T. Streinz in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 34 AEUV Rn 103 ff, wobei die dort vertretene Stellungnahme jedoch auch als Auslegung der Rspr begriffen werden kann.
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Eine Rechtfertigung der Beschränkung des freien Warenverkehrs kommt nur unter 73 der Voraussetzung in Betracht, dass die geltend gemachten Rechtfertigungsgründe einen nicht wirtschaftlichen Charakter aufweisen.117 Dies bedeutet letztlich eine Einschränkung derjenigen Gründe des öffentlichen Interesses, die im Rahmen des Art 36 AEUV oder der zwingenden Erfordernisse geltend gemacht werden können: Sobald den verfolgten Zielsetzungen ein wirtschaftlicher Charakter zukommt, kommt eine Heranziehung der zwingenden Erfordernisse oder des Art 36 AEUV – in deren Rahmen etwa die öffentliche Ordnung einschlägig sein könnte – nicht in Frage. Ein wirtschaftlicher Charakter ist im Ergebnis dann anzunehmen, wenn es bei den ergriffenen Maßnahmen letztlich um Wirtschaftslenkung, die Erreichung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen oder ganz allgem die Abwendung wirtschaftlicher Nachteile geht. Auch das Ziel, einen übermäßigen Wettbewerbsvorteil für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer zu vermeiden, stellt nach der Rechtsprechung einen wirtschaftlichen Grund dar.118 Wirtschaftliche Gründe liegen aber auch dann vor, wenn es (lediglich) um Erwägungen der verwaltungsmäßigen Vereinfachung, etwa im Hinblick auf die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen, geht.119 Ebenso ist das Anliegen der Kostendeckung öffentlicher Einrichtungen allein als wirtschaftlicher Grund anzusehen, so dass etwa – bezogen auf Art 18 bzw Art 56 AEUV – Vorzugspreise für den Zutritt zu kommunalen Museen für Ortsansässige nicht damit gerechtfertigt werden können, dass diese (grundsätzlich) über ihre Steuergelder diese Einrichtungen mitfinanzieren.120 Weiter ist das Anliegen der Sicherstellung einer Stromversorgung zum günstigsten Preis als wirtschaftlicher Grund anzusehen.121 Hingegen stellen Erwägungen der Kohärenz des Steuersystems122, des finanziellen Gleichgewichts der Systeme sozialer Sicherheit123 oder der Sicherstellung der Nahversorgungsbedingungen in abgelegenen Gebieten124 zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar, die Eingriffe in die Grundfreiheiten rechtfertigen können. Der Ausschluss solcher Gründe aus dem Anwendungsbereich des Art 36 AEUV 74 sowie der zwingenden Erfordernisse ergibt sich aus Sinn und Zweck der Art 34 ff AEUV: Die „Grundphilosophie“ dieser Bestimmungen – wie auch der anderen
117 StRspr, s etwa EuGH, Rs C-324/93, Slg 1995, I-563, Rn 36 – Evans; Rs 72/83, Slg 1984, 2727, Rn 35 f – Campus Oil; Rs 231/83, Slg 1985, 305, Rn 30 ff – Cullet; Rs C- 398/98, Slg 2001, I-7915, Rn 21 – Kommission/Griechenland; Urt v 17.9.2020, Rs C-648/18 – ANRE. 118 EuGH, Urt v 26.4.2012, Rs C-456/10 – ANETT= JK 2013, AEUV Art 34/3. 119 EuGH, Rs C-18//95, Slg 1999, I-345, Rn 45 – Terhoeve. 120 EuGH, Rs C-388/01, Slg 2003, I-721 ff – Kommission/Italien. 121 EuGH, Urt v 17.9.2020, Rs C-648/18 – ANRE. 122 EuGH, Rs C-336/96, Slg 1998, I-2793 ff – Gilly. 123 EuGH, Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931 ff – Kohll. 124 EuGH, Rs C-254/98, Slg 2000, I-151 ff – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1.
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Grundfreiheiten – geht doch gerade dahin, dass Beschränkungen des freien Verkehrs der Produktionsfaktoren zu beseitigen sind, dies in der Annahme, dass sie wirtschaftlicher Effizienz entgegenstehen. Wenn dies aber so ist, können ja nicht Maßnahmen, die gerade über handelsbeschränkende Mittel wirtschaftliche Zielsetzungen verfolgen, von Art 36 AEUV oder den zwingenden Erfordernissen gedeckt werden. Ansonsten könnten die durch Art 36 AEUV und die zwingenden Erfordernisse eröffneten Rechtfertigungsmöglichkeiten dazu „missbraucht“ werden, den durch die Anwendung der Art 34 f AEUV möglicherweise (momentan) entstehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu begegnen. 75 Das Verbot der Geltendmachung wirtschaftlicher Gründe schließt aber nicht aus, dass das primäre Schutzziel einer bestimmten Regelung über wirtschaftspolitische Maßnahmen verfolgt wird. Es wird also nur die eigenständige Verfolgung wirtschaftlicher Zielsetzungen um derer selbst willen ausgeschlossen; wenn aber wirtschaftspolitische Maßnahmen nur „Mittel zum Zweck“ sind und letztlich anderen Zielsetzungen dienen, können sie grds von Art 36 AEUV und den zwingenden Erfordernissen erfasst werden. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn es um die Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen Medikamenten aus Gründen des Gesundheitsschutzes geht.125 Allerdings können solche Maßnahmen an der Verhältnismäßigkeit (Rn 92 ff) scheitern. 76 Ausgeschlossen ist eine Berufung auf Art 36 AEUV oder die zwingenden Erfordernisse aber jeweils dann, wenn es um Störungen der öffentlichen Ordnung im Gefolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten geht, wie dies etwa im Falle von Boykottmaßnahmen bei Einfuhren aus anderen Mitgliedstaaten der Fall sein kann. Denn es widerspricht der vertraglichen Systematik, das Funktionieren der Grundfreiheiten als Störung der öffentlichen Ordnung zu qualifizieren und somit im Ergebnis unter eine Art Vorbehalt der polizeilichen Generalklausel zu stellen.
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Lösung Fall 4: Die Vorlagefrage ist zulässig, obwohl die in Frage stehende Praxis bereits geändert worden ist: Denn die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen soll es dem nationalen Gericht ermöglichen, sich zu vergewissern, dass die Änderung der nationalen Praxis tatsächlich geboten war, um den Vorgaben des Unionsrechts Rechnung zu tragen. Diacetylmorphin ist eine Ware im Sinne des Art 28 II AEUV, da es Gegenstand von Handelsgeschäften sein kann und im Hinblick auf diese grenzüberschreitend verbracht wird. Das Verbot der Einfuhr von Diacetylmorphin stellt eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art 34 AEUV dar, wird doch die Einfuhr einer Ware dem Wert oder der Menge nach begrenzt bzw in diesem Fall gar verboten. Eine Rechtfertigung kommt nur für Maßnahmen nicht wirtschaftlicher Art in Be-
125 EuGH, Rs C-324/93, Slg 1995, I-563, Rn 36 f – Evans; s a Rs 72/83, Slg 1984, 2727, Rn 34 ff – Campus Oil; Rs C-120/95, Slg 1998, I-1831, Rn 39 ff – Decker.
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tracht, dh für solche, die nicht der Wirtschaftslenkung oder der Erreichung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen dienen. Gerade solche stehen aber bei der Sicherung des Überlebens eines Unternehmens zur Debatte, so dass diese Erwägung nicht zur Rechtfertigung der Einfuhrbeschränkung herangezogen werden kann. Hingegen dient die regelmäßige Versorgung des Landes mit einem für wichtige medizinische Zwecke gebrauchten Stoff dem Gesundheitsschutz (Art 36 AEUV) und vermag damit grds eine Behinderung des Handels innerhalb der EU zu rechtfertigen. Die Maßnahme muss aber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Der Sachverhalt erlaubt hier keine abschließende Feststellung (die im Übrigen dem nationalen Gericht obliegt), ob hier eine mildere Maßnahme denkbar gewesen wäre.
d) Zur Frage der Notwendigkeit eines territorialen Bezugs In erster Linie sollen Art 36 AEUV und die Anerkennung der zwingenden Erforder- 78 nisse natürlich sicherstellen, dass die verfolgten Schutzziele auf dem Gebiet des jeweiligen Mitgliedstaates126 verfolgt und verwirklicht werden können. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ein Mitgliedstaat über nationale Maßnahmen auch Zielsetzungen verfolgt, die letztlich auf dem Gebiet eines anderen Staates „angesiedelt“ sind. So kann etwa ein Einfuhrverbot für gefährdete Tierarten (nur) den Schutz der Tiere in einem anderen Staat zum Ziel haben. Fraglich ist nun, ob die Mitgliedstaaten über die Berufung auf Art 36 AEUV oder die zwingenden Erfordernisse auch solche „extraterritorialen Zielsetzungen“ verfolgen dürfen oder ob dies von vornherein ausgeschlossen ist. In Anknüpfung an Sinn und Zweck der Rechtfertigungsmöglichkeiten durch die 79 in Art 36 AEUV genannten und von den zwingenden Erfordernissen erfassten Rechtsgüter erscheint jedenfalls ein allgem Ausschluss einer solchen Verfolgung „extraterritorialer Schutzinteressen“ nicht sachgerecht: Denn diese Bestimmung soll es den Mitgliedstaaten doch gerade ermöglichen, die betr Rechtsgüter zu schützen, wobei die Intensität dieses Schutzes grds in ihrem Beurteilungsspielraum steht (Rn 96 ff). Dann aber ist kein Grund ersichtlich, warum nationale Maßnahmen nicht auch grds den Schutz von Rechtsgütern, die sich außerhalb ihres Territoriums befinden, zum Gegenstand haben können. Allerdings muss diese Möglichkeit immer dort eine Grenze finden, wo der Kompetenzbereich anderer (Mitglied-)Staaten beginnt; es wäre also nicht mit der Konzeption der Rechtfertigungsmöglichkeiten durch Art 36 AEUV und der zwingenden Erfordernisse vereinbar, wenn ein Staat seine Vorstellungen in einem bestimmten Bereich anderen Staaten „aufdrängte“.
126 Oder auch der Union. Diese Konstellation soll aber im Folgenden außer Betracht gelassen werden. Sie wirft im Wesentlichen die Frage der Konformität entspr einseitiger Maßnahmen mit dem GATT/WTO-Recht auf. Vgl hierzu mwN Epiney, DVBl 2000, 77 ff.
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MaW kommt es auf die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Regelung der entspr Belange an. Daher müssen die Mitgliedstaaten auch tatsächlich ein „eigenes“ Schutzinteresse darlegen, dessen Vorliegen aber gerade nicht in Anknüpfung an das Territorium zu bestimmen ist. Vielmehr kommt es auf eine (auch) rechtlich begründbare eigene Verantwortung für das Schutzgut an, die sich auch auf Grund internationaler Verflechtungen bzw Interdependenzen ergeben kann.127
e) Zur Bedeutung der (unionsrechtlichen oder nationalen) Grundrechte 80 Mitgliedstaatliche oder EU-Maßnahmen zum Schutz der in Art 36 AEUV genannten
oder durch die zwingenden Erfordernisse erfassten Rechtsgüter können auch grundrechtlich geschützte Positionen berühren, so etwa, wenn die Meinungsäußerungsfreiheit durch Maßnahmen, die die Pressevielfalt erhalten sollen, eingeschränkt wird, aber auch schon immer dann, wenn die Wirtschaftsfreiheit berührt wird. 81 Die EU-Grundrechte binden selbstverständlich die Union und ihre Organe selbst. Sie entfalten aber auch insoweit Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten, als diese Unionsrecht anwenden oder durchführen.128 Dann aber sind die EU-Grundrechte auch in den Fällen, in denen es um mitgliedstaatliche Regelungen geht, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und sich im Hinblick auf ihre Zulässigkeit auf unionsrechtliche Begriffe – wie die in Art 36 AEUV genannten oder im Rahmen der zwingenden Erfordernisse relevanten Schutzgüter – berufen, zu beachten. Vor diesem Hintergrund ist wohl die Rspr des EuGH zu sehen, die betont, dass die im Unionsrecht vorgesehene Rechtfertigung für die Grundfreiheiten beschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten „im Lichte der Grundrechte“ auszulegen sei.129 127 Der EuGH hat diese Frage noch nicht ausdrücklich entscheiden. Jedoch gehen seine Ausführungen in EuGH, Rs C-219/07, Slg 2008, I-4475 ff – Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers, in die hier vertretene Richtung, bejaht der Gerichtshof doch die grds Möglichkeit der Rechtfertigung einer einfuhrbeschränkenden Maßnahme zum Schutz von außerhalb des betr Territoriums lebenden Tierarten. In der Lit gehen die Ansichten von einer grds Unzulässigkeit der Verfolgung „extraterritorialer Rechtsgüter“ (Gornig/Silagi, EuZW 1992, 753 (756); wohl auch Everling, NVwZ 1993, 209 (211)) über eine ausnahmsweise Zulässigkeit im Falle der Existenz einer „globalen Gesamtverantwortung“ der Staaten für bestimmte Interessen (Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/ AEUV/GRCh, Art 36 AEUV Rn 37 ff; ähnlich Weiher Nationaler Umweltschutz und internationaler Warenverkehr, 1997, S 99 ff) bis hin zu einer Anknüpfung an „internationale Schutzinteressen“, bei deren Einschlägigkeit eine Rechtfertigungsmöglichkeit eröffnet sei (so Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht 1993, S 192 f; Middeke Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, 1994, S 167 f). 128 Vgl zu der Frage der Bindungswirkung der EU-Grundrechte die jeweiligen Kommentierungen zu Art 51 GRCh. 129 EuGH, Rs C-62/90, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland; Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1. In der Lit wird diesem Ansatz des EuGH überwiegend gefolgt. Vgl etwa Holznagel Rundfunkrecht in Europa, 1996, 156; Frenz GF, Rn 603; sehr krit aber Kin
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Diese grds Anwendbarkeit der EU-Grundrechte entfaltet im Wesentlichen auf 82 zwei Ebenen Rückwirkungen: Zum einen muss das im Rahmen der Heranziehung des Art 36 AEUV oder der zwingenden Erfordernisse geltend gemachte Rechtsgut auch Einschränkungen des berührten Grundrechts rechtfertigen können, was in aller Regel der Fall sein wird. Zum anderen und vor allem ist auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit der Betroffenheit eines Grundrechts Rechnung zu tragen: Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit ieS müssen auch im Hinblick auf die Grundrechtsbeeinträchtigung geprüft werden. In aller Regel jedoch werden diese Aspekte der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit der „normalen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung zusammenfallen, stellt doch gerade die handelsbeschränkende Maßnahme einen Eingriff in das jeweilige Grundrecht dar (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 170 f). Der Schutz von Grundrechten kann aber auch sozusagen „auf der anderen Sei- 83 te“ im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit der Warenverkehrsfreiheit (oder auch anderen Grundfreiheiten) relevant werden, nämlich in all denjenigen Fällen, in denen die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit mit dem Schutz bestimmter Grundrechte bzw ihrer Verwirklichung oder Beachtung gerechtfertigt wird oder werden kann. In dieser Konstellation stellen die Grundrechte – zB die Versammlungsfreiheit130 oder der Schutz der Menschenwürde131 – also letztlich zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls dar, die Eingriffe in die Grundfreiheiten rechtfertigen können. Fraglich könnte hier sein, ob es sich dabei um unionsrechtliche oder nationale Grundrechte handelt. Angesichts des Umstandes, dass es den Mitgliedstaaten obliegt, Existenz und Reichweite der zwingenden Erfordernisse zu bestimmen, sprechen die besseren Gründe dafür, dass es hier um mitgliedstaatliche Grundrechte geht, die jedoch zwingende Erfordernisse im Sinne des Unionsrechts darstellen müssen.
2. Geschriebene Rechtfertigungsgründe Art 36 AEUV erlaubt die Anwendung von gegen Art 34, 35 AEUV verstoßenden Maß- 84 nahmen aus einer Reihe im Einzelnen aufgezählter Gründe. Wie erwähnt (Rn 67) geht der EuGH auf der Grundlage einer engen Auslegung der einzelnen Rechtfer-
green Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S 164; ähnlich Störmer, AöR 123 (1998), 541 (567). Ausf zur Problematik Schaller Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2003, S 79 ff; Wallrab Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S 43 ff; Kokott/Sobotta, EuGRZ 2010, 268 ff. 130 Vgl EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3. 131 Vgl EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 2005, EGV Art 49/13.
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tigungsgründe davon aus, dass die in Art 36 AEUV enthaltene Liste abschließend ist. Im Einzelnen können vier Gruppen von Ausnahmetatbeständen unterschieden werden, wobei im Folgenden – auf der Grundlage der einschlägigen Rspr – allerdings nur ein kurzer Überbl über den Aussagegehalt der einzelnen Tatbestände erfolgt.132 Die Schutzgüter öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit nehmen Bezug auf verschiedene Aspekte des ordre public: Hier geht es letztlich um die Beachtung der wesentlichen Grundregeln eines Gemeinwesens133, wobei die öffentliche Ordnung eine Art Oberbegriff darstellt und die öffentliche Sicherheit134 und Sittlichkeit135 spezifische Aspekte herausgreifen.136 Der Schutz der Gesundheit des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen – dem in der Rspr des EuGH eine sehr große Bedeutung zukommt – erfasst nur solche Maßnahmen, die den Schutz von Menschen, Pflanzen oder Tieren als solchen zum Gegenstand haben; notwendig ist also – immer nach der Rspr des EuGH – ein unmittelbarer Bezug zu den genannten Schutzgütern, während im Hinblick auf die genannten Rechtsgüter nur mittelbar wirkende Maßnahmen bzw Anliegen (zB solche, die in erster Linie dem Verbraucher- oder Umweltschutz dienen) von den „zwingenden Erfordernissen“ erfasst werden.137 Das Schutzgut des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert nimmt Bezug auf das Interesse der Mitgliedstaaten, dem Land bestimmte künstlerische Werke oder sonstige für die nationale Identität bedeutende Gegenstände zu erhalten. In der Rspr spielte dieses Schutzinteresse bislang keine Rolle.138 Der Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums nimmt auf solche rechtlichen Instrumente Bezug, die gewerbliche oder kommerzielle Rechtsposi-
132 Für weiterführende Hinw insb auf die einschlägige Rspr sei auf die Kommentarlit verwiesen. Aus der Monographielit Millarg Die Schranken des freien Warenverkehrs in der EG. Systematik und Zusammenwirken von Cassis-Rspr und Art 30 EG-Vertrag, 2001, S 139 ff. 133 ZB die Verhinderung von Betrug im Zusammenhang mit der Gewährung von Ausfuhrbeihilfen EuGH, Rs C-426/92, Slg 1994, I-2757, Rn 44 – Deutsche Milchkontor. 134 Die öffentliche Sicherheit betrifft in der Sache das Schutzsystem des Staates zur Erhaltung seines Gewaltmonopols, aber auch den Schutz der Existenz des Staates sowie seiner zentralen Einrichtungen; vgl etwa EuGH, Rs C-367/89, Slg 1991, I-4621, Rn 22 ff – Richardt. 135 Die öffentliche Sittlichkeit nimmt Bezug auf Moralvorstellungen, nach denen sich das Zusammenleben der Menschen richten soll; vgl EuGH, Rs 121/85, Slg 1986, 1007, Rn 14 – Conegate; Rs 34/79, Slg 1979, 3795 ff – Henn und Darby. 136 Vgl Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV/GRCh, Art 36 AEUV Rn 49. In diese Richtung wohl auch EuGH, Rs 72/83, Slg 1984, 2727, Rn 33 – Campus Oil. 137 Vgl aus der Rspr zB EuGH, Rs C-67/97, Slg 1998, I-8033 ff – Bluhme; Rs C-400/96, Slg 1998, I-5121 ff – van Harpegnies; Rs 178/84, Slg 1987, 1227 ff – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier). 138 Vgl zu den sich stellenden Auslegungsfragen mwN Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 36 AEUV Rn 20 ff.
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tionen schützen sollen. Hierunter fallen nach der Rspr des EuGH in erster Linie das Patentrecht139, das Warenzeichen-140 und Urheberrecht141, aber auch Ursprungsbezeichnungen und geographische Herkunftsangaben142. Im Einzelnen wirft die Auslegung dieser Rechtsgüter allerdings einige Fragen auf, denen hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann.143
3. Ungeschriebene Schranken Wie bereits erwähnt (Rn 65 ff), entwickelte der EuGH in seinem Urt Cassis de Dijon144 89 den Grundsatz, dass Handelsbeschränkungen auch durch sog zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden können, wobei der EuGH davon ausgeht, dass diese nur auf versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen, nicht hingegen auf offene Diskriminierungen Anwendung finden können (Rn 70). Der EuGH hat die ursprüngliche Cassis-Formel in zahlreichen Urt angewandt 90 und teilweise auch weiterentwickelt145, insb durch die ausdrückliche Anerkennung weiterer zwingender Erfordernisse, wie etwa des Umweltschutzes146, der Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts von sozialen Sicherungssystemen147, kultureller Zwecke148 oder auch der Sicherung der Nahversorgungsbedingungen in relativ abgelegenen Gebieten149.
139 EuGH, Rs 35/87, Slg 1988, 3585, Rn 14 f – Thetford. 140 EuGH, Rs 102/77, Slg 1978, 1139, Rn 7 f – Hoffmann-La-Roche. 141 EuGH, Rs 402/85, Slg 1987, 1747, Rn 11 ff – Basset. 142 EuGH, Rs C-47/90, Slg 1992, I-3669, Rn 10 – Delhaize; Rs C-388/95, Slg 2000, I-3123, Rn 50 – Belgien/ Spanien; Rs C-3/91, Slg 1992, I-5529, Rn 25 – Exportur. 143 Vgl im Einzelnen mit zahlreichen Nachw aus der Rspr Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 207 ff. 144 EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon. 145 Vgl die Zusammenstellung der Rspr bei Ahlfeld Zwingende Erfordernisse im Sinne der CassisRspr des Europäischen Gerichtshofs zu Art 30 EGV, 1997, S 85 ff; Millarg Die Schranken des freien Warenverkehrs in der EG. Systematik und Zusammenwirken von Cassis-Rspr und Art 30 EG-Vertrag, 2001, S 163 ff sowie die einschlägige Kommentarlit. 146 EuGH, Rs 302/86, Slg 1988, 4607, Rn 8 f – Kommission/Dänemark (Pfandflaschen); Rs C-2/90, Slg 1992, I-4431 ff – Kommission/Belgien = JK 93, EWGV Art 30/3. 147 EuGH, Rs C-120/95, Slg 1998, I-1831, Rn 39 – Decker. 148 EuGH, verb Rs 60, 61/84, Slg 1985, 2605, Rn 21 ff – Cinéthèque; Rs C-353/89, Slg 1991, I-4069, Rn 29 f – Kommission/Niederlande (Mediawet); Rs C-148/91, Slg 1993, I-487, Rn 9 f – Veronica Omröp Organisatie; allerdings ist die Rspr hier auch teilweise recht zurückhaltend, vgl etwa Rs C-412/93, Slg 1985, 1, Rn 28 ff – Leclerc, in Bezug auf Art 56 AEUV. 149 EuGH, Rs C-254/98, Slg 2000, I-151, Rn 34 – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 2000, EGV Art 28/1.
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Jedenfalls sind die zwingenden Erfordernisse nicht abschließend formuliert („insbesondere“), so dass a priori alle öffentlichen Interessen hierunter subsumiert werden können, immer unter der Voraussetzung, dass sie aus unionsrechtlicher Sicht als solche anerkannt werden können, so dass sie insb keinen wirtschaftlichen Charakter aufweisen dürfen (Rn 72 ff).
4. Verhältnismäßigkeit Fall 5: (EuGH, Rs C-388/95, Slg 2000, I-3123 ff – Belgien/Spanien) Nach den einschlägigen gesetzlichen Vorgaben in Spanien ist die Zulässigkeit des Führens der Ursprungsbezeichnung „Rioja“ für den aus der gleichnamigen Region stammenden Wein ua davon abhängig, dass der Wein in der Anbauregion abgefüllt wird. Belgien hat Spanien wegen dieses Aspekts der Ursprungsregelung vor dem EuGH verklagt. Spanien hält das Erfordernis der Abfüllung in der Region selbst für notwendig, da nur auf diese Weise die Qualität des Weins gewährleistet werden könne, während Belgien hier eine unzulässige Beschränkung des freien Warenverkehrs geltend macht.
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93 Liegt ein Rechtfertigungsgrund (entweder einer der in Art 36 AEUV genannten oder
aber ein zwingendes Erfordernis) vor, muss die jeweilige (nationale oder unionsrechtliche) Maßnahme noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, dh die betr Maßnahme muss zur Verfolgung des angestrebten Ziels geeignet sein, das mildeste Mittel darstellen – maW dem Grundsatz der Erforderlichkeit entsprechen – sowie angemessen (verhältnismäßig ieS) sein.150 Dieser in stRspr anerkannte Grundsatz beruht letztlich auf der Heranziehung allgem Rechtsgrundsätze und ist auch vor dem Hintergrund des Sinns und Zwecks der Art 34, 35 AEUV sowie der anerkannten Rechtfertigungsmöglichkeiten zwingend, soll doch die Beschränkung des freien Warenverkehrs auf das notwendige Maß eingeschränkt werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutzziel stehen. 94 Aus Art 36 S 2 AEUV, wonach die unter Berufung auf Art 36 AEUV ergriffenen Maßnahmen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels darstellen dürfen, können keine weitergehen-
150 Wobei der EuGH eine Maßnahme allerdings nur in Ausnahmefällen an der Angemessenheit scheitern lässt. Vgl (allerdings in Bezug auf Art 18 AEUV) EuGH, Rs C-29/95, Slg 1997, I-1, Rn 19 ff – Pastoors. Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Art 34 AEUV etwa Rs C-120/95, Slg 1998, I1831, Rn 39 ff – Decker; Rs C-368/95, Slg 1997, I-3689, Rn 19 ff – Familiapress = JK 98, EGV Art 30/1; Rs C67/97, Slg 1998, I-8033 ff – Bluhme; Rs 302/86, Slg 1988, 4607, Rn 11 ff – Kommission/Dänemark (Pfandflaschen).
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den Anforderungen abgeleitet werden. Vielmehr decken sich diese Erfordernisse iE mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.151 Es ist denn auch kaum vorstellbar, dass „willkürliche Diskriminierungen“ oder „verschleierte Beschränkungen“ des Handels geeignet und erforderlich sein können. Eine Rechtfertigung nach Art 36 AEUV oder auf der Grundlage der Heranzie- 95 hung zwingender Erfordernisse kommt allerdings von vornherein nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass eine Gefahr für die Schutzgüter besteht. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine solche mit einer (soweit dies überhaupt möglich ist) hundertprozentigen Sicherheit nachgewiesen werden muss. Ein gewisser Unsicherheitsfaktor kann also durchaus bestehen; notwendig ist aber eine substantiierte und nachvollziehbare Darstellung des Bestehens einer Gefährdungslage. So deuten zB Kolibakterien auf pathogene Mikroorganismen hin, die eine wirkliche Gefahr für die Gesundheit darstellen.152 Hingegen konnte nicht substantiiert glaubhaft gemacht werden, dass die in bestimmten Bieren vorhandenen Zusatzstoffe angesichts der Ernährungsgewohnheiten153 der deutschen Bevölkerung eine Gesundheitsgefahr mit sich bringen.154 Ebenso wenig vermag der geringe Nährwert eines Nahrungsmittels eine Gefährdung der Gesundheit zu begründen.155 Auch konnten die Gesundheitsgefahren eines Knoblauchpräparats nicht nachgewiesen werden.156 Weiter hielt der EuGH in einem Urt zur Vereinbarkeit des dänischen Verbots, mit bestimmten Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte Lebensmittel in den Verkehr zu bringen, fest, dass es bei wissenschaftlichen Unsicherheiten in Bezug auf die mögliche schädliche Wirkung von Zusatzstoffen in Lebensmitteln den Mitgliedstaaten obliege zu entscheiden, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen. Allerdings müsse die Existenz einer Gesundheitsgefahr durch eine eingehende Prüfung des entspr Risikos gestützt werden können; ein Vermarktungsverbot könne nur erlassen werden, wenn die geltend gemachte Gefahr für die öffentliche Gesundheit auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Informationen als hinreichend nachgewiesen anzusehen ist,
151 In diese Richtung dürfte auch die Rspr des EuGH gehen, der diesem Erfordernis keine eigenständige Bedeutung beimessen dürfte, es aber gelegentlich als normative Grundlage für die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erwähnt, vgl etwa EuGH, verb Rs C-13/91, 113/91, Slg 1992, I-3617 ff – Debus. Zum Problemkreis mwN aus Lit und Rspr Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art 34–36 AEUV Rn 101 ff. 152 EuGH, Rs 97/83, Slg 1984, 2367, Rn 17 – Melkunie. 153 Die durchaus grds berücksichtigt werden können. Vgl EuGH, Rs 94/83, Slg 1984, 3263, Rn 16 – Heijn; Rs 304/84, Slg 1986, 1511, Rn 20 – Muller. 154 EuGH, Rs 178/84, Slg 1987, 1227, Rn 49 – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier). 155 EuGH, Rs 274/89, Slg 1989, 229, Rn 10 – Kommission/Deutschland. 156 EuGH, Rs C-319/05, Slg 2007, I-9811 ff – Kommission/Deutschland.
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wobei die Beurteilung des Wahrscheinlichkeitsgrades der schädlichen Auswirkungen sowie die potenzielle Schwere zu berücksichtigen seien.157
a) Zum Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten 96 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit158 regelt eine Mittel-Zweck-Relation; die
Frage geht maW dahin, ob eine bestimmte Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist. Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit beantwortet also nicht die Frage nach dem anzulegenden Schutzniveau bzw dem verfolgten Ziel, sondern setzt dessen Festlegung voraus. In Anbetracht des Umstandes, dass Art 36 AEUV sowie die zwingenden Erfordernisse grds nur in denjenigen Fällen zur Anwendung kommen können, in denen gerade keine Festlegung des Schutzniveaus auf EU-Ebene besteht, obliegt es den Mitgliedstaaten zu bestimmen, welches Schutzniveau sie zugrunde legen wollen; sie können also maW entscheiden, wie weit zB der Schutz der Gesundheit oder der Verbraucherschutz reichen soll.159 Diese Kompetenz der Mitgliedstaaten bezieht sich auch auf tatbestandliche Unsicherheiten, zB über die Gefährlichkeit bestimmter Stoffe.160 Allerdings müssen die Mitgliedstaaten im Rahmen der Wahrnehmung dieses Gestaltungsspielraums im Vorfeld
157 EuGH, Rs C-192/01, Slg 2003, I-9693 ff – Kommission/Dänemark; s a Rs C-434/97, Slg 2000, I-1129 ff – Kommission/Frankreich, wo der EuGH betont, dass die Mitgliedstaaten das anzulegende Schutzniveau im Bereich des Gesundheitsschutzes bestimmen können. S sodann Rs C-446/08, Slg 2010, I3973 ff – Solgar Vitamin’s France (Zulässigkeit der Beschränkung bestimmter Nahrungsmittelzusätze nach dem einschlägigen Sekundärrecht und Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Risikoanalyse mit entsprechendem Ergebnis im Falle eines Verbots, so dass eine vorbeugende Maßnahme nicht mit einer rein hypothetischen Betrachtung eines Risikos begründet werden könne); Rs 333/08, Slg 2010, I-757 ff – Kommission/Frankreich (Unvereinbarkeit eines Zulassungssystems für Verarbeitungshilfsstoffe und für Lebensmittel, bei deren Herstellung Verarbeitungshilfsstoffe aus anderen Mitgliedstaaten verwendet werden, mit Art 34 AEUV). 158 Vgl umfassend zu diesem Grundsatz im Unionsrecht, wenn auch in Bezug auf die Rechtsetzung, Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EGRechtsetzung, 2000; s a Jarass, EuR 2000, 705 (721 ff). 159 So iE auch die Rspr Vgl zB EuGH, Rs 178/84, Slg 1987, 1227, Rn 41 – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier); Slg 2000, I-1149 ff – Kommission/Frankreich; Rs C-293/94, Slg 1996, I-3159 – Brandsma; Rs C-67/97, Slg 1998, I-8033 – Bluhme; Rs C-443/02, Slg 2004, I-7275 – Schreiber; Rs C-434/04, Slg 2006, I-9171 – Ahokainen und Leppik; Rs C-333/08, Slg 2010, I-757 – Kommission/Frankreich; Urt v 18.9.2019, Rs C-222/18 – VIPA; Urt v 19.11.2020, Rs C-663/18 – BS. CA. Aus der Lit Ahlfeld Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rspr des Europäischen Gerichtshofs zu Art 30 EGV, 1997, S 62 ff; s a schon ausf zum Problemkreis Epiney/Möllers Freier Warenverkehr und nationaler Umweltschutz, 1992, S 70 ff. 160 Vgl EuGH, Rs 174/82, Slg 1983, 2445, Rn 19 – Sandoz; Rs 227/82, Slg 1983, 3883, LS 6 – van Bennekom; Rs 304/84, Slg 1986, 1511, Rn 20 – Muller; Urt v 18.9.2019 Rs C-222/18 – VIPA.
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eine umfassende Gefahren- und Risikoanalyse auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse vorgenommen haben, so dass die behauptete Gefährdungslage und die mögliche Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen nachvollziehbar dargelegt sind.161 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit sind dann die Gefährdungen der betroffenen Rechtsgüter (sowohl was die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Gefahr als auch die Bedeutung der geschützten Rechtsgüter betrifft) auf der einen und die mit den ergriffenen Maßnahmen einhergehenden Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs gegeneinander abzuwägen. Fraglich ist aber, ob sich die Befugnis der Mitgliedstaaten162 auch darauf be- 97 zieht, die jeweiligen Konzeptionen der verfolgten Schutzpolitiken festzulegen, also etwa zu bestimmen, auf der Basis welcher Grundsätze der Verbraucherschutz zu konzipieren ist. Diese Fragestellung kann durchaus – zumindest bei gewissen Politiken, wie gerade dem Verbraucherschutz – von entscheidender Bedeutung für die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung und ihr Ergebnis sein: So ist zB die Erforderlichkeit einer Maßnahme unterschiedlich zu beurteilen, je nachdem, ob das Bild des „verständigen Verbrauchers“ oder dasjenige des „flüchtigen“ oder „zerstreuten“ Verbrauchers zugrunde gelegt wird. Der EuGH legt hier wenigstens in Teilbereichen das Prinzip zugrunde, dass die 98 Konzeption der jeweiligen Politik und damit die Grundlagen für die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach unionsrechtlichen Maßstäben bestimmt werden müssen. So wird insb im Bereich des Verbraucherschutzes (in Verbindung mit dem Gesundheitsschutz) auf ein unionsrechtliches Konzept des „mündigen“ Verbrauchers zurückgegriffen, das dann auf der Ebene der Erforderlichkeitsprüfung dazu führt, dass grds zwingende Regelungen der Produktbeschaffenheit und ein daraus folgendes Vertriebsverbot nicht zulässig sind, da Kennzeichnungspflichten die mildere Regelung darstellen.163 Zu überzeugen vermag dieser Ansatz jedoch nicht: In den Fällen, in denen eine 99 unionsrechtliche Regelung fehlt (und um diese geht es hier), kommt den Mitgliedstaaten grds die Kompetenz zu, die jeweiligen Politiken zu bestimmen und die entspr Maßnahmen zu ergreifen. Diese Kompetenz bezieht sich nicht nur auf das „Ob“ der Verfolgung der entspr Zielsetzungen, sondern auch auf das „Wie“, das ne-
161 Im Einzelnen EuGH, Rs C-192/02, Slg 2003, I-9693 – Kommission/Dänemark; Rs C-42/02, Slg 2003, I13519 – Lindman; Urt v 19.10.2016, Rs C-148/15 – Doc Morris; Urt v 23.12.2015, Rs C-333/14, – Scotch Whisky Association. 162 Für EU-Regelungen stellt sich das Problem in dieser Form nicht. 163 StRspr vgl nur EuGH, Rs 178/84, Slg 1987, 1227, Rn 35 ff – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier); Rs 120/78, Slg 1979, 649, Rn 13 – Cassis de Dijon; Rs C-17/93, Slg 1994, I-3537, Rn 19 – van der Veldt; Rs C-12/00, Slg 2003, I-459 ff – Kommission/Spanien; Rs C-14/00, Slg 2003, I-513 ff – Kommission/Italien; Urt v 16.1.2014, Rs C-481/12 – Juvelta.
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ben der Festlegung des Schutzniveaus eben auch die Definition der der jeweiligen Politik zugrunde liegenden Konzeptionen erfasst. Es ist nicht ersichtlich, warum die Union (bzw der Gerichtshof) ihre Konzeption an die Stelle derjenigen der Mitgliedstaaten setzen können soll, geht es hier doch nicht um die Definition unionsrechtlicher Begriffe, sondern um die Festlegung politischer Akzente. Insofern erscheint die Rspr des EuGH nicht ganz unbedenklich. Immerhin konzentriert sich die einschlägige Rspr bislang auf den Bereich des Verbraucherschutzes, während in anderen Politikbereichen offenbar großzügiger verfahren wird.164 Im Übrigen nimmt der EuGH teilweise die Kontrolldichte zurück, so wenn er in Bezug auf das Verbot, eine Creme unter der Bezeichnung „Lifting“ zu verkaufen, festhält, dass eine solche Regelung dann gegen den Vertrag verstoße, wenn ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer Durchschnittsverbraucher erwarte, dass die Creme eine dem operativen Lifting vergleichbare Wirkung zeigt.165 Die Feststellung, ob dies der Fall ist oder nicht, wird dann dem nationalen Gericht überantwortet, ohne dass der Gerichtshof darauf hinweist, dass die gestellte Frage wohl grundsätzlich zu verneinen ist.166
b) Die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen 100 Wie erwähnt (Rn 93), umfasst das Prinzip der Verhältnismäßigkeit die Anforderun101
gen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Geeignet ist eine Maßnahme immer dann, wenn sie das verfolgte Ziel grds zu erreichen vermag. Ob diese Voraussetzung (wahrscheinlich167) erfüllt ist, muss ggf mittels entspr wissenschaftlicher Untersuchungen festgestellt werden. Die Geeignetheit einer Maßnahme ist zB auch dann nicht gegeben, wenn ein Mitgliedstaat eingeführte Waren einer bestimmten Qualität als Gefahr ansieht und vor dieser schützen möchte, gegenüber vergleichbaren einheimischen Waren aber keine Maßnahmen ergreift.168 Eine Maßnahme ist auch dann geeignet, wenn sie das angestrebte Ziel nicht vollständig zu erreichen vermag, hierfür jedoch einen – wenn auch nur kleinen –
164 So insb im Gesundheitsschutz, vgl die Nachw in Fn 156. 165 Was wohl nicht der Fall ist. 166 Vgl EuGH, Rs C-220/98, Slg 2000, I-117 ff – Lauder. 167 Auch hier ist den Mitgliedstaaten bei tatbestandlichen Unsicherheiten ein gewisser Gestaltungsspielraum einzuräumen. Vgl ausf schon Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, S 303 ff. 168 EuGH, Rs 121/85, Slg 1985, 1007, Rn 15 – Conegate; s a Rs C-67/88, Slg 1990, I-4285, Rn 6 f – Kommission/Italien: s auch EuGH, Urt v 20.3.2014, Rs C-61/12 – Kommission/Litauen, wo der EuGH die Verhältnismäßigkeit des Verbots der Zulassung eines Kraftfahrzeugs, in dem sich das Lenkrad «auf der falschen Seite» befindet, feststellte, da trotz dieser Regelung solche Fahrzeuge ansonsten am Verkehr teilnehmen dürften.
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Beitrag zu leisten vermag, wie dies zB bei Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes häufig der Fall ist. So wurde zB ein Fahrverbot auf einer Teilstrecke der Brenner-Autobahn für LkW, die bestimmte Güter befördern, als geeignet zur Verfolgung von gesundheits- und umweltpolitischen Zielen angesehen: Es sei nachvollziehbar und damit nicht inkohärent (das Erfordernis der Kohärenz einer Maßnahme wird vom EuGH regelmäßig im Zusammenhang mit ihrer Geeignetheit geprüft),169 dass der Transport der in der Verordnung näher bezeichneten Güter verboten werde, da sich diese Güter durch eine gewisse „Bahnaffinität“ auszeichneten, sich maW für eine Verlagerung des Transports auf die Bahn eigneten. Ebenso wenig führe der Ausschluss des lokalen und regionalen Verkehrs von dem Verbot zu einer Inkohärenz der Maßnahme, da die angestrebte Verlagerung des Transports auf die Schiene nur bei längeren Transporten Sinn mache; auch liege die fragliche Zone teilweise außerhalb des österreichischen Hoheitsgebiets.170 Insg wird vor diesem Hintergrund die Geeignetheit der Maßnahme vom EuGH recht selten verneint.171 Die Erforderlichkeit einer Maßnahme ist immer dann gegeben, wenn das an- 102 gestrebte Schutzziel durch (den Warenverkehr) weniger einschränkende Maßnahmen nicht erreicht werden kann. Auszugehen ist bei der Prüfung der Erforderlichkeit aber immer von dem definierten Schutzziel. Die Erforderlichkeit ist etwa bei sog „Doppelkontrollen“ – so zB das Erfordernis technischer Analysen für eingeführte Produkte, die schon im Herkunftsstaat durchgeführt worden sind und deren Ergebnisse zugänglich sind – regelmäßig zu verneinen.172 Auch die mit Einfuhrkon-
169 S zB EuGH, Rs C-161/09, Slg I-2011, I-915 – Kakavetsos-Fragkopoulos; Urt v 13.7.2016, Rs C-187/15 – Pöpper; Urt v 17.9.2020, Rs C-648/18 – ANRE. 170 EuGH, Rs 28/09, Slg 2011, I-13525 ff – Kommission/Österreich. Zu diesem Urteil im Zusammenhang mit der Erforderlichkeit noch Rn 102. S in diesem Zusammenhang auch Rs C-219/07, Slg 2008, I-4475 ff – Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers, wo der Gerichtshof betont, eine Liste von Arten, deren Einfuhr aus Gründen des Artenschutzes verboten ist, müsse aufgrund objektiver und nicht diskriminierender Kriterien aufgestellt werden. 171 Vgl aber auch EuGH, Rs 274/89, Slg 1989, 229, Rn 10 – Kommission/Deutschland; Rs 120/78, Slg 1979, 649, Rn 11 – Cassis de Dijon; Rs C-421/09, Slg 2010, I-12869 ff – Humanplasma; Urt v 8.6.2017, Rs C-296/15 – Medisanus; Rs C-195/90, Slg 1992, I-3141, Rn 31 – Kommission/Deutschland, wo der EuGH die Geeignetheit der bundesdeutschen Schwerverkehrsabgabe zur Verfolgung des umweltpolitischen Ziels vor dem Hintergrund verneinte, dass die inländischen Unternehmen durch die Steuersenkung begünstigt wurden, so dass nicht von einer Verlagerung des Straßenverkehrs auf die Schiene ausgegangen werden könne; die Geeignetheit wurde etwa in folgenden Fällen bejaht: EuGH, Rs C39/90, Slg 1991, I-3069, Rn 23 – Denkavit; Rs C-176/90, Slg 1991, I-4151, Rn 15 – Aragonesa. 172 EuGH, Rs C-400/96, Slg 1998, I-5121 ff – Harpegnies; Rs C-184/96, Slg 1998, I-6197, Rn 22 ff – Kommission/Frankreich; EuGH, Urt v 16.1.2014, Rs C-481/12 – Juvelta; s im Übrigen die Präzisierungen in Bezug auf ein System vorheriger Genehmigungen in Rs C-390/99, Slg 2002, I-607 ff – Canal Satélite. In Bezug auf die Unverhältnismäßigkeit einer nationalen Produktzulassungsregelung Rs C-254/05, Slg 2007, I-4269 ff – Kommission/Belgien.
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trollen verbundenen Zielsetzungen können häufig auf andere Weise, etwa durch Vermarktungsregelungen oder sonstige Kontrollen, erreicht werden.173 Ein Werbeverbot für in einem Mitgliedstaat nicht zugelassene Arzneimittel, die dennoch über Einzelbestellung der Apotheker vertrieben werden dürfen, kann nach der Rspr zwar grds aus Gründen des Schutzes von Leben und Gesundheit von Menschen gerechtfertigt werden, da auf diese Weise der Ausnahmecharakter der vorgesehenen Genehmigung gestärkt werde; allerdings sei eine Erstreckung des Verbots auf die Übermittlung von Listen, aus denen sich keine Informationen über die therapeutische Wirkung von Medikamenten ergeben, nicht erforderlich, da damit nicht geworben werden könne und eine Steigerung der Einfuhren daher unwahrscheinlich sei.174 Mindestpreise für bestimmte, als gesundheitsschädlich angesehene Produkte (wie Alkohol oder Tabak) sind grundsätzlich nicht zur Verfolgung der angestrebten gesundheitspolitischen Zielsetzungen erforderlich, da eine Erhöhung der Besteuerung weniger einschränkend ist als ein Mindestpreis, wird damit doch den Wirtschaftsteilnehmern die Freiheit belassen, den Preis der Produkte selbst festzulegen.175 Damit die Erforderlichkeit bejaht werden kann, muss in vertretbarer Weise dargelegt werden, dass das ebenfalls in Betracht kommende mildere Mittel nicht ebenso wirksam gewesen wäre, so dass grundsätzlich Alternativen zur getroffenen Maßnahme in Erwägung zu ziehen und zu prüfen sind;176 andernfalls wird die Erforderlichkeit verneint. Insofern beinhaltet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch eine gewisse verfahrensrechtliche Komponente. Allerdings wird den Mitgliedstaaten auch hier bei tatbestandlichen Unsicherheiten durch die Rechtsprechung (teilweise) ein gewisser Gestaltungsspielraum eingeräumt. So weist der EuGH darauf hin, dass bei Schwierigkeiten in Bezug auf die Frage der Wirksamkeit der Maß173 Vgl zB EuGH, Rs C-131/93, Slg 1994, I-3303, Rn 25 – Kommission/Deutschland; Rs 261/85, Slg 1988, 547, Rn 15 ff – Kommission/Vereinigtes Königreich. 174 EuGH, Rs C-143/06, Slg 2007, I-9623 ff – Ludwigs-Apotheke München. S a Urt v 26.4.2012, Rs C-456/ 10 – ANETT = JK 2013, AEUV Art 34/3, wo der Gerichtshof die Pflicht für Tabakeinzelhändler, Tabakerzeugnisse nur über gewisse zugelassene Großhändler zu beziehen, für im Hinblick auf den Verbraucherschutz nicht erforderlich erachtete, da das Anliegen, ein einheitliches Erzeugnissortiment zu gewährleisten, durch weniger einschränkende Maßnahmen (zB die Auferlegung einer Pflicht für die Tabakeinzelhändler, ein im Vorfeld festgelegtes Mindesterzeugnissortiment vorrätig zu haben) verfolgt werden könne. 175 EuGH, Urt v 23.12.2015, Rs C-333/14 – Scotch Whisky Association. S auch – in Bezug auf eine Preisbindung für Humanarzneimittel im Versandhandel – die Verneinung der Verhältnismäßigkeit in Urt v 19.10.2016, Rs C-148/15 – Deutsche Parkinson Vereinigung. 176 EuGH, Rs C-320/03, Slg 2005, I-9871, Rn 86 ff. – Kommission/Österreich, in Bezug auf ein Fahrverbot auf einer wichtigen Verkehrsverbindung im Hinblick auf die Reduktion von Schadstoffemissionen; s auch Urt v 21.6.2016, Rs C-15/15 – Valnar, in Bezug auf die Vorgabe, Rechnungen in nur einer bestimmten Sprache zu schreiben (eine Vorgabe, die ein zulässiges Ziel, nämlich die Förderung des Gebrauchs einer Amtssprache verfolge).
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nahmen schon dann von der Erforderlichkeit der Maßnahme ausgegangen werden könne, wenn keine Anhaltspunkte ersichtlich seien, dass die nationale Maßnahme über das hinausgehe, was zur Erreichung des Zwecks erforderlich sei.177 In anderen Urteilen hingegen prüft der Gerichtshof die Erforderlichkeit relativ engmaschig, so zB in dem bereits erwähnten Urteil zum sektoralen Fahrverbot auf Teilen der Brenner-Autobahn, in dem der Gerichtshof festhielt, Österreich habe nicht hinreichend dargetan, warum andere, den Warenverkehr weniger beschränkende Maßnahmen – wie insbesondere die Generalisierung einer Geschwindigkeitsbeschränkung und ein Fahrverbot für LKWs, die bestimmte Emissionswerte überschreiten – das angestrebte Ziel nicht ebenso hätten erreichen können, so dass die Maßnahme nicht erforderlich sei.178 Aber auch in Bezug auf eine Regelung, wonach Kontaktlinsen nur in Fachgeschäften vertrieben werden dürfen, verneinte der Gerichtshof die Erforderlichkeit im Hinblick auf den Gesundheitsschutz: Zwar könne das Tragen von Kontaktlinsen zu gesundheitlichen Problemen führen, so dass ein Mitgliedstaat die Aushändigung solcher Linsen durch Fachpersonal verlangen dürfe. Allerdings sei dies nur bei der ersten Lieferung notwendig; bei den Folgelieferungen genüge es, auf den bereits benutzten Kontaktlinsentyp hinzuweisen, und zusätzliche Informationen könnten den Kunden auch durch interaktive Elemente über das Internet zur Verfügung gestellt werden, ganz abgesehen davon, dass es möglich sei, die Wirtschaftsteilnehmer dazu zu verpflichten, einen sachkundigen Optiker als Auskunftsperson zur Verfügung stellen.179 Soweit es um die Förderung erneuerbarer Energien geht, räumt der Gerichtshof den Mitgliedstaaten hingegen einen denkbar weiten Gestaltungsspielraum ein.180 Bei der Angemessenheit einer Maßnahme geht es um die Abwägung zwischen 103 der Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs und ggf der Einschränkung von Grundrechten einerseits und dem verfolgten Schutzinteresse andererseits. Wie bereits erwähnt (Rn 101), scheitert eine Maßnahme allenfalls in Ausnahmefällen an
177 EuGH, Rs C-473/98, Slg 2000, I-5681, Rn 40 ff – Kemikalieinspektionen; Rs C-394/97, Slg 1999, I3599, Rn 36 ff – Heinonen; s a Rs C-388/95, Slg 2000, I-3123 ff – Kommission/Belgien; Rs C-400/96, Slg 2003, I-5121 ff – Consorzio del Prosciutto di Parma; Rs C-244/06, Slg 2003, I-5053 ff – Ravil. 178 EuGH, Rs C-28/09, Slg 2011, I-13525 ff – Kommission/Österreich. 179 EuGH, Rs C-108/09, Slg 2010, I-12213 ff – Ker-Optika. 180 EuGH, Urt v 1.7.2014, Rs C-573/12 – Ålands Vindkraft, in Bezug auf eine schwedische Regelung, wonach sog Stromzertifikate lediglich an Betreiber von im Inland gelegenen Erzeugungsanlagen erneuerbarer Energien verteilt werden dürfen, somit es Stromversorgern und bestimmten Letztverbrauchern ermöglicht wird, die Erfüllung ihrer Verpflichtung, einen bestimmte Ökostromquote zu erfüllen, nachzuweisen. Es stehe den Mitgliedstaaten frei, mangels einer unionsweiten Harmonisierung, nur den in ihrem Hoheitsgebiet erzeugten grünen Strom zu fördern, da sich die Situation beim Strom durch diverse Besonderheiten auszeichne, wie der EuGH im Einzelnen ausführt.
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der Angemessenheit.181 Dem Erfordernis der Angemessenheit dürfte aber in all denjenigen Fällen, in denen eine Grundfreiheit mit einem Grundrecht kollidiert, eine gewisse Bedeutung zukommen; so stellt der EuGH hier etwa auf die Frage der Angemessenheit oder auf das Vorhandensein von Übergangsregelungen ab.182 104 Auffallend in der Rechtsprechung des EuGH ist allerdings, dass dieser manchmal auf eine eigentliche Verhältnismäßigkeitsprüfung verzichtet, ohne dass hierfür einsichtige Gründe vorlägen.183 Auch fällt der den Mitgliedstaaten gerade bei der Prüfung der Erforderlichkeit eingeräumte Beurteilungsspielraum sehr unterschiedlich184 und mitunter sehr eng aus, während in anderen Fallgestaltungen ein eher weiter Spielraum eingeräumt wird. Wirkliche Gründe für diese Unterschiede sind nicht erkennbar.185 Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass die konkrete Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Anschluss an Urteile des EuGH, die im Vorabentscheidungsverfahren ergehen, vom nationalen Gericht vorzunehmen ist, wobei den Urteilen des Gerichtshofs aber (mehr oder weniger klare) Anhaltspunkte und Elemente entnommen werden können.186
181 S aber auch EuGH, Rs C-390/99, Slg 2002, I-607 ff – Canal Satélite, wo der EuGH im Zusammenhang mit einem System vorheriger Genehmigungen für die Inbetriebnahme bestimmter Geräte für die digitale Übermittlung oder den digitalen Empfang von Fernsehsignalen über Satellit auch auf der Angemessenheit zuzuordnende Erwägungen zurückgreift, so wenn er betont, dass selbst ein den Anforderungen der Geeignetheit und Erforderlichkeit entspr Genehmigungsverfahren dann nicht mit Art 34 AEUV vereinbar sein soll, wenn es die Marktteilnehmer an der Ausübung ihrer Freiheiten hindert. 182 Vgl EuGH, Rs C-112/00, Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 2003, EGV Art 28/3; Rs C-309/02, Slg 2004, I-11763 ff – Radlberger. 183 Besonders auffallend war dies in dem Urteil betreffend das deutsche Stromeinspeisungsgesetz, vgl EuGH, Rs C-379/98, Slg 2001, I-2099 ff – Preussen Elektra, wobei gerade hier die Verhältnismäßigkeitsprüfung aufgrund des diskriminierenden Charakters der Regelung besonders interessant gewesen wäre. 184 Hierzu mwN Epiney in: Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, EU, § 11, Rn 63 ff. 185 Vgl die Beispiele im Text (Rn 102) sowie die Lösung im Fall 5. 186 S zB EuGH, Urt v 12.11.2015, Rs C-198/14 – Visnapuu: Der EuGH erachtete hier eine Regelung, wonach der Verkauf bestimmter alkoholischer Getränke nur einem Verkäufer mit Einzelhandelserlaubnis gestattet ist, für grundsätzlich mit Art 34, 36 AEUV in Einklang stehend. Der Gerichtshof räumt hier den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit dem Ziel des Gesundheitsschutzes einen weiten Gestaltungsspielraum ein und weist auch auf die Relevanz der Umstände in dem betreffenden Mitgliedstaat (Finnland) hin. Gleichzeitig betont er aber auch die Notwendigkeit der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, wobei seine Formulierungen darauf hindeuten, dass er diesbezüglich gewisse Zweifel hegt, dies insbesondere weil dem staatlichen Monopolisten auch der Versandhandel mit Alkoholika erlaubt ist (was die Kohärenz der Maßnahme und damit die Geeignetheit in Frage stellen könnte) und weil es Herstellern alkoholischer Getränke in Finnland offen stehe, bestimmte eigene Erzeugnisse am Ort der Herstellung zu verkaufen, was eine Diskriminierung eingeführter Produkte implizieren könnte. S auch EuGH, Urt v 18.9.2019, Rs C-222/18 – VIPA, wo der EuGH zu er
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Lösung Fall 5: Die Vertragsverletzungsklage Belgiens ist zulässig, sofern das Vorverfahren korrekt durchgeführt wurde (Art 259 AEUV). Die fragliche Maßnahme stellt eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Ausfuhrbeschränkung (Art 35 AEUV) dar: Denn zwar ist nach wie vor die Ausfuhr von nicht abgefülltem Wein unbeschränkt möglich; dieser darf aber nicht die Ursprungsbezeichnung Rioja tragen. Letzteres beeinträchtigt aber seine Absatzmöglichkeiten, spielen Ursprungsbezeichnungen doch eine wichtige Rolle bei der Vermarktung von Produkten, insb von Wein. Die Voraussetzungen der Dassonville-Formel sind also gegeben. Da sich die Maßnahme nur auf ausgeführte Produkte (nicht abgefüllter Wein, der so aus der Region ausgeführt wird) bezieht, liegt auch eine spezifische Beschränkung der Ausfuhrströme vor. Wein, der nämlich nur innerhalb der Region befördert und in zugelassenen Kellereien abgefüllt wird, kann nach wie vor die Ursprungsbezeichnung tragen. Ursprungsbezeichnungen gehören zu den gewerblichen Schutzrechten. Sie sollen den Inhaber davor schützen, dass die Bezeichnungen durch Dritte missbräuchlich benutzt werden und diese dadurch einen Vorteil erlangen. Im Übrigen sollen sie gewährleisten, dass das mit ihnen versehene Erzeugnis aus einem bestimmten geographischen Bereich stammt und bestimmte besondere Eigenschaften aufweist. Damit ist eine Rechtfertigung nach Art 36 AEUV grds möglich. Fraglich ist jedoch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, insb die Erforderlichkeit: Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umstand, dass der Abfüllvorgang schwierig ist und nur von Personen bzw Unternehmen mit großer Sachkenntnis durchgeführt werden sollte, will man vermeiden, dass der Wein an Qualität einbüßt und damit seine Eigenarten verliert. Gleiches gilt für die Beförderung in nicht abgefülltem Zustand. Vor diesem Hintergrund bejaht der EuGH die Erforderlichkeit: Die erwähnte Sachkenntnis sei am ehesten bei den Unternehmen der betroffenen Region vorzufinden, die eben eine größere Erfahrung im Umgang mit gerade diesem Qualitätswein hätten, so dass eine größere Wahrscheinlichkeit gegeben sei, dass die genannten Vorgänge fachgerecht durchgeführt würden. Auch seien die Kontrollen in anderen Mitgliedstaaten teilweise weniger streng als in Spanien. Schließlich reiche auch eine alleinige Kennzeichnungspflicht nicht aus, da im Falle von Qualitätseinbußen das Ansehen aller unter der Ursprungsbezeichnung „Rioja“ vermarkteten Weine geschädigt würde. Zu überzeugen vermag der grds Ansatz des EuGH allerdings nicht: So ist nicht ersichtlich, warum die Abfüllung und Beförderung von Rioja schwieriger sein soll als diejenige sonstiger Qualitätsweine, so dass man ja auch auf das Kriterium „Unternehmen aus Regionen mit Qualitätsweinen“ hätte abstel-
kennen gibt, dass er von der Verhältnismäßigkeit der in Frage stehenden Maßnahme (Verbot der Abgabe von verschreibungspflichtigen Medikamenten aufgrund eines «Bestellscheins» an im Ausland praktizierende Personen) zur Verfolgung des angestrebten Ziels (Gesundheitsschutz bzw Versorgung mit Arzneimitteln) ausgeht: Es sei zu beachten, dass die Festlegung des Schutzniveaus in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liege und dass auch im Falle von Unsicherheiten Maßnahmen ergriffen werden könnten. Hinzu komme der besondere Charakter insbesondere verschreibungspflichtiger Medikamente. Die streitige Regelung sei jedenfalls zur Verfolgung des angestrebten Ziels geeignet, da sie dazu beitrage, eine regelmäßige, sichere und qualitativ hochwertige Versorgung der Bevölkerung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sicherzustellen, da auf diese Weise verhindert werden könne, dass große Mengen verschreibungspflichtiger Arzneimittel exportiert werden und es dadurch zu einem Versorgungsengpass in dem betreffenden Mitgliedstaat kommen könne. Auch sei keine mildere Maßnahme ersichtlich, die eine gleich sichere und qualitativ hochwertige Versorgung der Bevölkerung sicherstellen könne. Astrid Epiney
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len können. Vor allem aber bestehen wohl andere Methoden zur Feststellung der Qualifikation der Unternehmen, die den freien Warenverkehr weniger stark beschränken würden, wie etwa ein Zulassungsverfahren, eine Prüfung des erforderlichen Sachwissens oder regelmäßige Kontrollen.
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§ 14 Arbeitnehmerfreizügigkeit Leitentscheidungen: EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405 ff – Walrave; Rs 53/81, Slg 1982, 1935 ff – Levin; Rs 66/85, Slg 1986, 2121 ff – Lawrie-Blum; Rs C-279/93, Slg 1995, I-225 – Schumacker; Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Rs C-281/98, Slg 2000, I-4139 ff – Angonese; Urt v 9.7.2015, Rs C-229/14 – Balkaya; Urt v 17.11.2016, Rs C-216/15 – Ruhrlandklinik; Urt v 6.10.2020, Rs C-181/19 – Jobcenter Krefeld; Urt v 11.2.2021, Rs C-407/19 – Katoen Natie Bulk Terminals und General Services Antwerp; Urt v 23.4.2020, Rs C-710/18 – Land Niedersachsen.
Schrifttum: Becker The Challenge of Migration to the Welfare State, in Benvenisti/Nolte (Hrsg), The Welfare State, Globalization, and International Law, 2003, 1 ff; Eichenhofer Sozialrecht der Europäischen Union, 8. Aufl, Berlin 2022; Fuchs Die Bereichsausnahmen in Art 45 Abs 4 AEUV und Art 51 Abs 1 AEUV, 2012; Hantel Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl, Berlin 2019; Kocher Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl, Baden-Baden 2020; Preis/Sagan Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl, Köln 2019; Thüsing Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl, München 2017; Riesenhuber Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl Heidelberg 2021; Schiek Europäisches Arbeitsrecht, 3. Aufl, Baden-Baden 2007; SchlachterVoll/Heinig Enzyklopädie Europarecht Band 7: Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, 2. Aufl, Baden-Baden 2021; Schnitzer Assoziationsbürger, Tübingen 2016.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist traditionell gesehen der tragende Pfeiler der Per- 1 sonenfreizügigkeit in der EU; sie ist die wichtigste Norm, die es Unionsbürgern (Rn 28) ermöglicht, sich in andere Mitgliedstaaten zu begeben und dort zu leben.1 Ihre Rechtsgrundlage ist Art 45 AEUV. Die Vorschrift ist ebenso wie die anderen Grundfreiheiten unmittelbar anwendbar.2 Sie gewährt das Recht auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat und in diesem Zusammenhang zugleich ein Einreise- und Aufenthaltsrecht (Rn 4 ff). Allerdings folgen Freizügigkeitsrechte auch aus anderen Grundfreiheiten: Aus der Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) für Personen, die auf Dauer in einem anderen Mitgliedstaat einer selbständigen Tätigkeit nachgehen wollen, und aus der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV), weil die aktive Dienstleistungsfreiheit einen vorübergehenden Aufenthalt des Leistungserbringers und die passive Dienstleistungsfreiheit einen vorübergehenden Aufenthalt des Leistungsempfängers in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsstaat voraussetzen3 (zur Abgrenzung, vgl Rn 35).
1 Auch der Schutzbereich der Freizügigkeitsgarantie des Art 11 GG erfasst das Recht, Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, vgl BVerfGE 2 (266, 273 ff); daneben nach überwiegender Meinung das Recht zur Einreise in das, aber nicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet, vgl BVerfGE 6, 32 (34 ff); näher dazu Gusy in: v Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg) GG Bd 1, Art 11 Rn 36 ff; zu Art 11 GG und dessen historischem Hintergrund ausf Ziekow Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997. 2 Vgl nur EuGH, Rs 41/74, Slg 1974, 1337, Rn 5 ff – Van Duyn; → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 7. 3 Grundlegend zur passiven Dienstleistungsfreiheit EuGH, verb Rs 286/82 u 26/83, Slg 1984, 377, Rn 16 f – Luisi u Carbone.
Ulrich Becker https://doi.org/10.1515/9783110716740-036
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
Freizügigkeit steht nach allen genannten Normen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Betätigung und erschien deshalb lange Zeit als ein Begleitrecht der Marktfreiheiten. Das hat sich geändert mit dem Mitte der achtziger Jahre verstärkt einsetzenden Bemühen um Herstellung eines Binnenmarktes und vor allem mit der Schaffung der Europäischen Union.4 Denn im Binnenmarkt sollen sich Personen frei bewegen können, ohne dass es auf den Zweck der Bewegung ankommt. Deshalb wurden durch Sekundärrecht neue Freizügigkeitsrechte geschaffen, und zwar zunächst für Rentner und Studenten, dann auch für alle übrigen Personen.5 Mit dem Maastrichter Vertrag wurde ein neuer Teil über die Unionsbürgerschaft in den EGV eingefügt (Art 17 ff EGV bzw 20 ff AEUV). Damit erhielt das allgemeine Freizügigkeitsrecht eine (unions-)verfassungsrechtliche Grundlage (jetzt Art 21 AEUV).6 Dieses Recht ist unmittelbar anwendbar,7 auch wenn es einer gewissen sekundärrechtlichen Ausgestaltung unterliegt.8 Es bleibt aber gegenüber den speziellen wirtschaftsbezogenen Freizügigkeitsrechten und damit auch gegenüber Art 45 AEUV subsidiär.9 Gerade die jüngere Entwicklung zeigt zudem, dass jedenfalls für
4 Vgl zur Entwicklung Becker, EuR 1999, 522 ff. 5 Genauer: Für die aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätigen, RL 90/365, ABl 1990 Nr L 180/28; für Studenten RL 93/96, ABl 1993, Nr L 317/59 (als Neuerlass der RL 90/366, ABl 1990 Nr L 180/30); für alle übrigen Personen RL 90/364, ABl 1990 Nr L 180/26. Diese Einzelrichtlinien wurden mit Wirkung vom 30.4.2006 aufgehoben und inhaltlich zusammengefasst durch die RL 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten ABl 2004 Nr L 158/77. 6 Vgl auch Art 45 GRCh, der allerdings im Zusammenhang mit Art 52 II GRCh gelesen werden muss. Aus der frühen Literatur zur Unionsbürgerfreizügigkeit ua Scheuing, EuR, 2003, 744 ff; Schönberger Unionsbürger, 2005, S 318 ff; Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S 126 ff, und die Beiträge in Beiheft 1/2007 zu EuR. 7 Den Charakter des Art 18 EGV bzw jetzt 21 AEUV als Grundfreiheit betonend etwa EuGH, Rs C-357/ 98, Slg 2000, I-9265, Rn 23 f – Yiadom. Zugleich verleiht auch die Unionsbürgerschaft Rechte im Aufenthalt, vgl dazu grundl. EuGH, Rs C-85/96, Slg 1998, I-2691 ff – Martínez Sala; Slg 2001, I-6193 ff – Grzelczyk = JK 2002, EGV Art 12/1; Slg 2004, I-7573 ff – Trojani; vgl Becker in: Schwarze (Hrsg), Brennpunkte der jüngeren Rechtsentwicklung der EU, 2013, S 47 ff. Mit restriktiverem Ansatz EuGH, Urt v 20.5.2014, Rs C-333/13 – Dano; Urt v 15.9.2015, Rs C-67/14 – Alimanovic, dazu Becker, SRa 2015, 1 ff; Thym, CMLRev 2015, 17 ff; Wallrabenstein, JZ 2016, 109 ff; und die Beiträge in SDSRV, Migration und Sozialrecht, 68 (2018). Nun wieder etwas differenzierter EuGH, Urt v 6.10.2020, Rs C-181/19 – Jobcenter Krefeld; vgl dazu Janda, ZESAR 2021, 3 ff. 8 Vgl die Bezugnahme auf Durchführungsvorschriften in Art 21 AEUV; EuGH, Rs C-359/98, Slg 2000, I-2623, Rn 30 ff – Kaba; Slg 2008, I-5959 ff – Förster. Dazu auch Becker, EuR 1999, 522 (528) und die vorstehend (Fn 7) erwähnte Rechtsentwicklung. 9 Vgl EuGH, Rs C-348/96, Slg 1999, I-11 ff – Calfa; EuGH, Rs C-271/00, Slg 2002, I-10 981(10981) Rn 26 – Olazabal.
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die Rechte im Aufenthalt die Erwerbstätigkeit nach wie vor eine wichtige Rolle spielt.10
I. Schutzbereich 1. Vorbemerkung Die Arbeitnehmerfreizügigkeit besitzt ihre unionsverfassungsrechtliche Grundlage 3 in Art 45 AEUV und in Art 15 II GRCh, der sie in einen Zusammenhang mit der Berufsfreiheit stellt. Sie wird durch das sekundäre Unionsrecht ergänzt und auch praktisch entfaltet. Schon vor Ablauf der im EWGV vorgesehenen Übergangszeit wurden die Gemeinschafts- bzw Unionsrechtsakte erlassen, die wegen der verschiedenen ausländerrechtlichen Bestimmungen in den Mitgliedstaaten erforderlich erschienen, um die grenzüberschreitende Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte zu ermöglichen.11 Bis heute von Bedeutung ist neben der bereits genannten Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38)12 die Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (VO 492/2011)13.14 Diese Bestimmungen konkretisieren zum Teil den Schutzbereich und die Schranken des Art 45 AEUV, zum Teil gehen sie über die Vertragsbestimmung inhaltlich hinaus. Sie sind ihrerseits im Lichte der Grundfreiheit auszulegen,15 und ihr enger Zusammenhang zur Arbeitnehmerfreizügigkeit legt es nahe, sie im Folgenden bei der Beschreibung von Schutzbereich und Schranken mit zu berücksichtigen.16 Dazu kommt eine weitgehende Europäisierung des individuellen Arbeitsrechts, während für die sonstigen Bereiche des Arbeitsrechts und das So-
10 Zu den allgemeinen Hintergründen Becker The Challenge of Migration to the Welfare State in: Benvenisti/Nolte (Hrsg), The Welfare State, Globalization, and International Law, 2003, S 1 ff; vgl im Hinblick auf das Recht auf Aufenthalt EuGH, Urt v 22.1.2020, Rs C-32/19 – Pensionsversicherungsanstalt, Rn 26 ff. 11 Vgl zur Entwicklung nur Kreuschitz in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV, Art 46 AEUV Rn 5 ff; Wienbracke, EuR 2012, 483 ff. 12 Vgl Fn 5. 13 VO 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl 2011 Nr L 141/1 (ersetzt VO 1612/68, ABl 1968 Nr L 257/2). 14 VO 1251/70 der Kommission über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben, ABl 1970, Nr L 142/24, wurde nach Schaffung der RL 2004/38 durch VO 635/2006, ABl 2006 Nr L 112/9, aufgehoben. 15 Vgl bereits EuGH, Rs 48/75, Slg 1976, 497, Rn 24 ff – Royer. 16 Ohne dass das Sekundärrecht den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten beschränken könnte, vgl dazu EuGH, Rs C-238/98, Slg 2000, I-6623, Rn 29 f – Hocsman. Zur konkretisierenden Wirkung auch Forsthoff/Eisendle in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 351 ff.
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zialrecht vor allem das Diskriminierungsverbot zur Erstreckung von Rechten im Aufenthalt führt (näher Rn 19 ff). Zu beachten ist bei alledem, dass der Anwendungsbereich des Sekundärrechts von jenem des Art 45 AEUV abweichen kann;17 das Unionsrecht enthält insofern unterschiedliche Arbeitnehmerbegriffe, wenn auch ein gemeinsamer Begriffskern existiert (Rn 5 ff).18
2. Sachlicher Schutzbereich a) Arbeitnehmereigenschaft
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Fall 1: (EuGH, Rs 344/87, Slg 1989, 1621 – Bettray) Der deutsche Staatsangehörige B, der bereits 1980 in die Niederlande eingereist war, wurde 1983 wegen seiner Drogenabhängigkeit nach dem Gesetz über die soziale Arbeitsbeschaffung für einen unbefristeten Zeitraum in einer gemeindlichen Arbeitsorganisation gegen Entgelt zur Verrichtung bestimmter Dienste eingestellt. Die Tätigkeit diente der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und sollte B die Gelegenheit geben unter Bedingungen zu arbeiten, die soweit wie möglich auf das abgestimmt sind, was für die Ausübung entgeltlicher Arbeit unter normalen Bedingungen üblich ist. Als B eine Aufenthaltserlaubnis beantragte, wurde dieser Antrag von den niederländischen Behörden abgelehnt. B sei nicht als Arbeitnehmer anzusehen und könne deshalb aus Art 45 AEUV kein Aufenthaltsrecht ableiten. Bei seiner Tätigkeit handele es sich um eine Beschäftigung eigenen Typs mit sozialem Charakter, die Produktivität von B sei gering und die Entlohnung, die B erhalte, müsse dementsprechend zum großen Teil aus öffentlichen Mitteln gezahlt werden.
5 Für die Bestimmung des sachlichen (und nicht nur des persönlichen) Schutz-
bereichs von Art 45 AEUV besitzt der Begriff des Arbeitnehmers bzw der Arbeitnehmerin zentrale Bedeutung.19 Nach stRspr des EuGH handelt es sich um einen
17 Wobei jeweils zu prüfen ist, inwiefern auf nationale Begriffe Bezug genommen wird; vgl Wank, EuZW 2018, 21; zu den vom Primärrecht etwas abweichenden Auslegungsgrundsätzen Sagan, ZESAR 2020, 3, 5 ff; aus teleologischen Gründen die nationalen Eigenheiten relativierend EuGH, Urt v 13.6.2019, Rs C-317/18 – Correia Moreira. 18 So liegt zB der Sozialrechtskoordinierung durch VO 883/2004, ABl 2004 Nr L 166/1, ein eigener, auf die nationalen Sozialleistungssysteme Bezug nehmender Arbeitnehmerbegriff zugrunde, der zum Teil weiter, zum Teil enger als Art 45 AEUV ist. Vgl aber auch zur parallelen Auslegung, soweit keine ausdrücklichen Abweichungen bestehen, EuGH, Rs C-444/93, Slg 1995, I-4741, Rn 18 ff – Mengner. Auch müssen stets einige Mindestanforderungen erfüllt sein (Rn 5 ff), so dass von einem eigenen und nicht nach Gegenstand differenzierenden Kernbegriff des Arbeitnehmers gesprochen werden kann, näher Becker, ZÖR 2018, 554 mwN und EuGH, Urt v 10.9.2015, Rs C-266/14, Rn 41 – Spies von Büllesheim. 19 Vgl dazu auch Colneric FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 385 ff; Ziegler Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht, 2011, 124 ff; mit einem eigenen Auslegungsvorschlag Hohe Arbeitnehmer
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unionsrechtlichen Begriff, der aus sich heraus auszulegen ist. Im Grunde genommen ist das selbstverständlich, wenn man der Grundannahme folgt, dass das Unionsrecht eine autonome Rechtsordnung darstellt. Weil aber in den nationalen Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten ebenfalls der Arbeitnehmerbegriff bekannt und die Versuchung deshalb groß ist, nationale Interpretationsansätze zu übernehmen, sah sich der EuGH immer wieder zu der Feststellung veranlasst, die nationalen Behörden und Gerichte dürften bei der Anwendung des Art 45 AEUV keine eigenen, zusätzlichen Voraussetzungen verlangen.20 Ein zweiter, nicht nur für den Arbeitnehmerbegriff wichtiger Auslegungsgrundsatz besagt, dass Art 45 AEUV nicht einschränkend, sondern im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung der Grundfreiheit und die Vertragsziele weit auszulegen ist:21 Nach Ansicht des EuGH kommt es darauf an, den Freizügigkeitsbestimmungen zu voller Wirksamkeit zu verhelfen22 (effet-utile-Grundsatz). Arbeitnehmer zeichnen sich dadurch aus, dass sie (1) eine wirtschaftliche Leis- 6 tung erbringen, (2) unselbständig tätig werden und (3) für ihre Tätigkeit eine Vergütung als Gegenleistung erhalten, ohne dass (4) eine Qualifizierung ihrer Tätigkeit als sittenwidrig den Schutzbereich verschließt. In dem Erfordernis der wirtschaftlichen Leistung kommt der allgemeine Be- 7 zug aller Grundfreiheiten zu wirtschaftlichen Tätigkeiten zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu stehen rein soziale23, eventuell auch kulturelle und sportliche Tätigkeiten. Allerdings darf diese Begrenzung nicht so verstanden werden, dass bestimmte Sektoren als Ganze von der Anwendung der Grundfreiheiten ausgeschlossen wären. Ausnahmen bestehen vielmehr nur dann, wenn die konkrete Tätigkeit nicht in einem wirtschaftlichen Austauschverhältnis erfolgt.24 So ist etwa die Beschäftigung
begriffe in der Europäischen Union, 2022. Vgl ferner Wank, EuZW 2018, 21 ff und Sagan, ZESAR 2020, 3 ff; zu praktischen Konsequenzen Wank, EuZA 2018, 327 ff und zur jüngeren Entwicklung ders, EuZA 2023, 22 (32 ff). 20 Vgl nur EuGH, Rs 53/81, Slg 1982, 1035, Rn 11 ff – Levin; Rs 197/86, Slg 1988, 3205, Rn 22 ff – Brown. Dieser Grundsatz gilt naturgemäß erst recht für die Auslegung des arbeitsrechtlichen Sekundärrechts, dessen Anwendungsbereich allerdings jeweils gesondert zu bestimmen ist, vgl etwa EuGH, Urt v 9.7.2015, Rs C‑229/14, Rn 33 – Balkaya (zu Art 1 I lit a RL 98/59); zur Offenheit gegenüber mitgliedstaatlichen Ergänzungen EuGH, Urt v 17.11.2016, Rs C-216/15, Rn 30 ff – Ruhrlandklinik (zu Leiharbeitnehmern). 21 Vgl EuGH, Rs 139/85, Slg 1986, 1741, Rn 13 ff – Kempf; Rs 66/85, Slg 1986, 2121, Rn 16 ff – LawrieBlum; Rs C-413/01, Slg 2003, I-13187, Rn 23 ff – Ninni-Orasche; siehe zuletzt etwa EuGH, Urt v 10.9.2014, Rs C-270/13, Rn 26 – Haralambidis/Casilli. 22 EuGH, Rs 53/81, Slg 1982, 1035, Rn 15 ff – Levin: „volle Wirkungskraft“. 23 Zur Sicherungsfunktion von Sozialleistungsträgern nur EuGH, Rs C-218/00, Slg 2002, I-691 ff – INAIL = JK 2002, EGV Art 81/2. 24 Der Schutz ganzer Einrichtungen, wie etwa der bestehenden Sozialversicherungssysteme, kann nur über eine Eingrenzung der Beschränkungsverbote oder großzügigere Rechtfertigungsanfor
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bei einem Sozialversicherungsträger natürlich eine Arbeitnehmertätigkeit. Der Umstand, dass in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen wie dem Sport und der Kultur Besonderheiten bestehen oder dass bestimmte Berufe wegen ihres Gemeinwohlbezugs besonderen Regulierungen unterliegen, grenzt zudem den Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht ein, sondern kann höchstens im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen eine Rolle spielen. Dementsprechend können Profisportler25 und für religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften Tätige26 ebenso Arbeitnehmer sein wie Rechtsanwälte27 und Ärzte.28 Anderes dürfte für ehrenamtliche Tätigkeiten gelten, selbst wenn eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird. Noch offen ist die Abgrenzung bei Amateursportlern.29 8 Der Status, den ein Erwerbstätiger besitzt (Arbeiter oder Angestellter, Tätigkeit in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst, vgl auch Rn 27) oder der Umfang der Tätigkeit und deren Produktivität (vgl auch Rn 10) spielen keine Rolle. Der EuGH verlangt nur, dass es sich um eine „tatsächliche und wirtschaftliche Tätigkeit“ handeln muss, die sich nicht als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ darstellt.30 Dafür genügt unproblematisch eine Teilzeittätigkeit und jede andere fremdnützige Betätigung; Abgrenzungsprobleme hängen in erster Linie mit den weiteren Voraussetzungen der Weisungsgebundenheit und der Entgeltlichkeit zusammen. 9 Die Tätigkeit muss unselbständig ausgeübt werden, was im Sinne einer Weisungsgebundenheit zu verstehen ist. Dieses Merkmal dient zugleich der Abgrenzung zur Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, die jeweils eine selbständige
derungen erfolgen und selbst die nur auf einzelne Rechtsverhältnisse bezogene Herausnahme sozialer Tätigkeiten aus dem Anwendungsbereich ist nicht unumstritten. 25 Vgl EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405 ff – Walrave; Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Rs C-176/ 96, Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen; Rs C-325/08, Slg 2010, I-2177 – Olympique Lyonnais = JK 2010, AEUV Art 45/3; dazu Eichel, EuR 2010, 685 ff; Persch, NZA 2010, 986 ff. Bei der Frage, ob eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gerechtfertigt ist, bleiben in Anknüpfung an Art 165 I UAbs 2 AEUV die „besonderen Merkmale des Sports“ zu berücksichtigen, vgl EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921 ff, Rn 105 ff – Bosman sowie unten Rn 51 und Fall 4. 26 Vgl EuGH, Rs 196/87, Slg 1988, 6159, Rn 11 ff – Steymann. 27 EuGH, Urt v 17.12.2020, Rs C-218/19 – Onofrei. 28 Vgl vormals die sektorale Anerkennungsrichtlinie für Ärzte RL 93/16, ABl 1993 Nr L 165/1, jetzt gilt auch insofern die Berufsqualifikations-RL 2005/36/EG, ABl 2005 Nr L 255/22. 29 Vgl bezogen auf die Dienstleistungsfreiheit EuGH, verb Rs C-51/96 u C-191/97, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège. Dazu, dass Amateurspieler das allg Freizügigkeitsrecht wahrnehmen können, EuGH, Urt v 13.6.2019, Rs C-22/18 – Biffi (Nichtzulassung von Amateursportlern zu nationalen Seniorenmeisterschaften). 30 EuGH, Rs 53/81, Slg 1982, 1035, Rn 17 ff – Levin.
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Erwerbstätigkeit voraussetzen (vgl auch Rn 35).31 Der EuGH hat dazu allgemein ausgeführt, die Beurteilung hänge „von der Gesamtheit der jeweiligen Faktoren und Umstände ab, die die Beziehungen zwischen den Parteien charakterisieren, wie etwa die Beteiligung an den geschäftlichen Risiken des Unternehmens, die freie Gestaltung der Arbeitszeit und der freie Einsatz eigener Hilfskräfte“32. Das bezieht sich auf die Unterscheidung von unternehmerischem Handeln, das seinerseits insbesondere durch die Übernahme des Unternehmensrisikos geprägt ist. Nach der Rechtsprechung schließt zB eine Entlohnung im Wege einer Ertragsbeteiligung die Arbeitnehmereigenschaft nicht aus,33 während es an der notwendigen „Unterordnung“ fehlt, wenn ein Geschäftsführer zugleich alleiniger Gesellschafter ist.34 Auch in anderen Konstellationen bereitet eine gelockerte Weisungsgebundenheit Schwierigkeiten. Vollkommen zu Recht hat der EuGH etwa darauf hingewiesen, bei Familienarbeitsverhältnissen komme es auf die tatsächliche Ausführung an.35 Auf die Klarstellung der entscheidenden Indizien hat er aber verzichtet, wie überhaupt seine Judikatur insgesamt gesehen hinsichtlich der Abgrenzung zwischen unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit – verglichen mit der arbeits- und sozialrechtlichen Rechtsprechung in Deutschland – immer noch etwas spärlich, wenn auch in den letzten Jahren etwas umfangreicher geworden ist. Der EuGH tendiert dabei insgesamt einmal mehr zu einer weiten Auslegung und lässt insbesondere eine faktische Unterordnung genügen.36 Was die Entlohnung angeht, so wird nicht vorausgesetzt, dass die Gegenleis- 10 tung der unselbständigen Tätigkeit zur alleinigen Deckung des Lebensunterhalts genügt. Auch muss sie weder den tariflichen Bestimmungen entsprechen, noch die Höhe eines vorgesehenen Mindestlohns erreichen; in welcher Form sie gewährt wird, ist unerheblich. Im Zusammenhang mit den großzügig gehandhabten anderen Kriterien kann das aber zu Ergebnissen führen, deren Vereinbarkeit mit der wirtschaftlichen Ausrichtung der Grundfreiheiten auf den ersten Blick zweifelhaft erscheint. Denn für den Arbeitnehmerstatus genügt schon eine geringfügige Tätig-
31 Im nationalen Recht existiert eine entsprechende Notwendigkeit der Abgrenzung, und zwar im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht, vgl etwa Preis in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl 2023, 230 BGB § 611a BGB Rn 8 ff; Tipke/Lang Steuerrecht, 24. Aufl 2021, § 8 Rn 472. 32 EuGH, Rs 3/87, Slg 1989, 4459, Rn 36 ff – Agegate. 33 EuGH, Rs 3/87, Slg 1989, 4459, Rn 36 ff – Agegate. 34 EuGH, Rs C-107/94, Slg 1996, I-3089, Rn 26 ff – Asscher. Die Stellung als Geschäftsführer schließt hingegen die Arbeitnehmereigenschaft nicht per se aus, vgl EuGH, Rs C-232/09, Slg 2010, I-11405, Rn 47 – Danosa; EuGH Urt v 9.7.2015, Rs C‑229/14 – Balkaya, Rn 37 ff. 35 EuGH, Rs C-337/97, Slg 1999, I-3289, Rn 15 ff – Meeusen. 36 Dazu insg Preis in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Aufl 2023, 230 BGB § 611a Rn 19 f; Kocher in: Frankfurter Komm, Art 45 AEUV, Rn 25, 43 ff.
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keit von 12 Stunden wöchentlich oder weniger.37 Eine lediglich ganz kurze Beschäftigung gibt jedoch Anlass zu Zweifeln, ob überhaupt eine wirtschaftliche Leistung erbracht wird.38 Die Inanspruchnahme des Art 45 AEUV scheitert allerdings nicht daran, dass öffentliche Mittel zur Existenzsicherung zusätzlich in Anspruch genommen werden müssen;39 bereits untergeordnete Tätigkeiten vermitteln ein Aufenthaltsrecht und einen Anspruch auf Sozialleistungen. Denn Art 45 AEUV enthält keinerlei Einschränkungen; sein Anwendungsbereich würde verkürzt, wenn der Erwerb eines ohnehin schwer bestimmbaren Existenzminimums gefordert würde. Diese Forderung entspräche auch nicht der Entwicklung hin zu einem allgemeinen Freizügigkeitsrecht (vgl Rn 1 ff), obwohl in der Folge die Verbindung mit Rechten im Aufenthalt (vgl Rn 19 ff) Fragen aufwerfen kann. 11 Die Beschäftigung zur Berufsausbildung ist eine Arbeitnehmertätigkeit, ein Studium hingegen nicht.40 Fraglich ist die Situation bei Praktikanten. Sie sind Arbeitnehmer, wenn das Praktikum „unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis durchgeführt wird“; bei der Beurteilung kommt es darauf an, ob die aufgewendete Zeit genügt, um berufliche Fähigkeiten zu entwickeln.41 12 Grundsätzlich wird die Arbeitnehmereigenschaft nicht durch den Umstand ausgeschlossen, dass eine Tätigkeit als Verstoß gegen die guten Sitten angesehen wird, zumindest dann, wenn mit dieser Charakterisierung nicht ein vollständiger Ausschluss vom Arbeitsmarkt einhergeht. Daran bestanden im Falle der erwerbsmäßigen Prostitution Zweifel.42 Nachdem der EuGH zunächst lediglich implizit von einem Schutz durch die Grundfreiheiten ausgegangen war,43 hat er später festgestellt, dass es sich bei der Prostitution um eine Erwerbstätigkeit handele, die in den Mitgliedstaaten zwar reglementiert, aber nicht grundsätzlich verboten ist.44 Einschränkungen bedürfen deshalb der Rechtfertigung (Rn 47).
37 Vgl EuGH, Rs 139/85, Slg 1986, 1741, Rn 12 ff – Kempf; Rs 171/88, Slg 1989, 2743, Rn 13 ff – RinnerKühn; Rs C-444/93, Slg 1995, I-4741, Rn 18 ff – Mengner. 38 Zur beschränkten Dauer von Gelegenheitsarbeiten EuGH, Rs C-357/89, Slg 1992, I-1027, Rn 14 ff – Raulin. 39 EuGH, Rs 139/85, Slg 1986, 1741, Rn 14 ff – Kempf. 40 Anders bei Stipendienvertrag mit weisungsabhängiger Tätigkeit, vgl EuGH, Rs C-94/07, Slg 2008, I-5939, Rn 32 ff – Raccanelli m Anm Repasi, EuZW 2008, 529. 41 EuGH, Rs C-3/90, Slg 1992, I-1071, Rn 15 ff – Bernini; ebenso im Ergebnis EuGH, Urt v 9.7.2015, Rs C229/14 – Balkaya, wenngleich zum Begriff des Arbeitnehmers iSd Art 1 III lit a RL 98/59/EG, ABl 1998 Nr L 225/16. 42 Vgl BVerwGE 60, 284 (289 ff). 43 EuGH, verb Rs 115/81, Slg 1982, 1665, Rn 5 ff – Adoui. 44 EuGH, Rs C-268/99, Slg 2001, I-8615 – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2.
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Lösung Fall 1: Arbeitnehmer sind in einem Arbeitsverhältnis stehende Personen. Nach stRspr des EuGH besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Im vorliegenden Fall hat B Leistungen erbracht und dafür eine Gegenleistung bekommen, weshalb die Annahme einer Bereichsausnahme ausscheidet. Dass es sich um eine bestimmte, gesetzlich ausgeformte Beschäftigung handelte, ist unerheblich. Allerdings verlangt der EuGH, dass auch die konkret ausgeübte Tätigkeit als „tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit“ anzusehen ist. Dagegen sprechen der Zweck der Beschäftigung und deren Durchführung. Denn dieser dient der Wiedereingliederung des B, soll B also in die Lage versetzen, später eine reguläre Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Die im Rahmen des Gesetzes über die soziale Arbeitsbeschaffung eingesetzten Personen werden nicht nach ihren Fähigkeiten ausgesucht, sondern die von ihnen auszuführenden Verrichtungen vielmehr den vorhandenen Fähigkeiten angepasst. Schließlich wurde die gesamte gemeindliche Arbeitsorganisation nur zu dem Zweck geschaffen, die Arbeitsfähigkeit der beschäftigten Personen wiederherzustellen. B ist deshalb kein Arbeitnehmer iSv Art 45 AEUV.45
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b) Zeitliche Erstreckung Arbeitnehmer ist, wer in einem Arbeitsverhältnis steht. Damit erstreckt sich der 14 durch Art 45 AEUV gewährte Schutz auf die Dauer der unselbständigen Erwerbstätigkeit. Was aber gilt, wenn ein Arbeitsverhältnis erst begründet werden soll (1), oder umgekehrt, wenn das Arbeitsverhältnis beendet worden ist (2)? Art 45 III lit a AEUV gewährt den Arbeitnehmern ausdrücklich das Recht, sich 15 um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben. Ganz offensichtlich muss also ein Arbeitsverhältnis noch nicht bestehen, sondern dessen Abschluss nur beabsichtigt sein. Garantiert wird damit der freie Zugang zu einer Beschäftigung. Das umfasst ein Einreise- und Aufenthaltsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung bei der Stellenbewerbung46 (Rn 19 ff), ohne dass die Einreise im Hinblick auf bestimmte, bereits ausgeschriebene Stellenangebote erfolgen müsste. Dass für die Dauer von jedenfalls
45 Nicht gegen eine Arbeitnehmereigenschaft spricht der Umstand, dass das Entgelt aus öffentlichen Mitteln gezahlt wird, vgl zu Beschäftigungsverhältnissen im Rahmen von damals noch § 19 BSHG [§ 16 II SGB II] (im konkreten Fall mit einer vollen wöchentlichen Arbeitszeit und einem Nettoeinkommen, das einer vergleichbaren Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt entsprach) EuGH, Rs C-1/97, Slg 1998, I-7747, Rn 25 ff – Birden. 46 Vieles spricht dann auch für einen Anspruch auf steuerliche und soziale Gleichbehandlung (dazu nachfolgend Rn 19 ff). Zur Stellensuche auch Art 5 VO 492/2011 (Fn 13), zuletzt geändert durch VO(EU) 2019/1149, ABl 2019 Nr L 186/21. Das bedeutet aber nicht, dass nach erfolgloser Arbeitssuche bedürftigkeitsabhängige Sozialleistungen nicht an ein Wohnsitzerfordernis (als zur Rechtfertigung dienendes Allgemeininteresse) geknüpft werden dürften, sofern dieses die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt betrifft; damit wird ein Sozialtourismus unter dem Vorwand der Arbeitssuche ausgeschlossen; vgl EuGH, Rs C-138/02, Slg 2004, I-2703, Rn 51 ff – Collins m Anm Becker, ZESAR 2004, 496.
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drei Monaten in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit gesucht werden darf, ergibt sich aus der RL 2004/38.47 Auf einen kürzeren Zeitraum müssen sich Stellensuchende nicht verweisen lassen,48 eine längere Frist ist jedoch möglich.49 Der EuGH hat die Annahme eines Mitgliedstaates, dass eine Arbeitsaufnahme nach einer vergeblichen Stellensuche über sechs Monate hin scheitert, akzeptiert.50 Entscheidend bleibt aber immer, ob im Einzelfall noch mit einem Erfolg bei der Stellensuche gerechnet werden kann.51 16 Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses haben Arbeitnehmer ein Verbleiberecht gemäß Art 45 III lit d AEUV, das durch Art 17 RL 2004/38 näher ausgestaltet wird (vgl Rn 3). Der grundlegende Gedanke ist der, dass Beschäftigte auch nach Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in ihrem gewohnten Lebensumfeld bleiben können sollen. Dementsprechend knüpft das Verbleiberecht an eine Aufgabe der Beschäftigung wegen Erreichens des Rentenalters oder Eintritts einer Erwerbsunfähigkeit an und setzt eine vorangegangene Beschäftigung von einer bestimmten Dauer voraus.52 Wird ein Wanderarbeitnehmer arbeitslos, so darf er im Hinblick auf seine berufliche Wiedereingliederung nicht anders behandelt werden als inländische Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage.53 Seine Einstufung als Arbeitnehmer und insbesondere die Dauer seines weiteren Aufenthaltsrechts hängen von den Umständen ab und sind auch sekundärrechtlich nicht eindeutig geregelt.54
47 Nach Art 6 I der RL steht jedem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht für die Dauer von höchstens drei Monaten zu bzw nach Art 7 I lit b der RL bei Vorliegen ausreichender Existenzmittel und umfassendem Krankenversicherungsschutz auch darüber hinaus. Vgl für die Arbeitssuche ferner Art 14 IV lit b RL 2004/38. 48 Auch nach Ablauf eines 3-Monats-Zeitraums darf nicht automatisch eine Aufenthaltsbeendigung erfolgen, EuGH, Rs C-344/95, Slg 1997, I-1035, Rn 18 ff – Kommission/Belgien. 49 Vgl auch Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 53 ff. 50 EuGH, Rs C-92/89, Slg 1991, I-745, Rn 21 ff – Antonissen; bestätigt durch Urt v 17.12.2020, Rs C-710/ 19 – G.M. A., Rn 42. 51 Wobei es während der 6-Monats-Frist als Nachweis durch Stellensucher genügt, die Suche selbst zu belegen; erst dann dürfen Mitgliedstaaten den Nachweis verlangen, dass eine begründete Aussicht besteht, eingestellt zu werden, EuGH, Urt v 17.12.2020, Rs C-710/19 – G.M. A., Rn 44. 52 Vgl näher Art 17 RL 2004/38 (Fn 5), der ein Verbleiberecht auch unter bestimmten Voraussetzungen für den Fall der Verlagerung der unselbständigen Erwerbstätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat vorsieht. 53 Art 7 I VO 492/2011 (Fn 13). 54 Einzelheiten sind umstr, insb auch, ob zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu differenzieren ist; vgl Weerth in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, 6. Aufl 2012, Art 45 AEUV Rn 63; näher Forsthoff/Eisendle in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 97 ff. Vgl zur aufenthaltsrechtlichen Stellung bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit Art 7 III RL 2004/38 (Fn 5): hier sind die Übergänge zur Freizügigkeit nach Art 21 AEUV fließend, vgl EuGH, Urt v 11.4.2019, Rs C483/17 – Tarola.
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Wenn eine Beschäftigung aus anderen als den vorgenannten Gründen aufgege- 17 ben wird, entfällt der Arbeitnehmerstatus und die mit ihm verbundenen Rechte gehen verloren. Von diesem Grundsatz bestehen aber Ausnahmen.55 Aus dem Umstand, dass ausländische Arbeitnehmer ein Recht auf Zugang zu Berufsschulen und Umschulungseinrichtungen besitzen,56 hat der EuGH geschlossen, auch Studenten könnten ausnahmsweise die Vergünstigungen für Arbeitnehmer in Anspruch nehmen, wenn zwischen dem Studium und einer zuvor ausgeübten Berufstätigkeit ein Zusammenhang besteht.57 Das sichert, grundsätzlich unabhängig von der Dauer der Beschäftigung,58 ein Aufenthaltsrecht und ein Recht auf Förderung der Hochschulausbildung. Fall 2: (EuGH, Rs C-337/97, Slg 1999, I-3289 – Meeusen) Die belgische Staatsangehörige M lebt in Belgien, übt aber in den Niederlanden eine Erwerbstätigkeit aus, und zwar für eine dort ansässige Gesellschaft, deren Geschäftsführer und einziger Gesellschafter ihr Ehemann ist. Ihre Tochter T, die 18 Jahre alt ist und der M Unterhalt gewährt, lebt ebenfalls in Belgien und beginnt dort ein Studium. Sie beantragt bei den zuständigen Behörden eine Förderung durch eine niederländische Studienbeihilfe, die den Grundbedarf von Studierenden abdeckt. Die Förderung wird verweigert mit dem Hinweis darauf, ihre Voraussetzung sei entweder die niederländische Staatsangehörigkeit oder ein Wohnort in den Niederlanden.
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c) Geschützte Betätigungen und Rechte im Aufenthalt Ganz grundsätzlich erfordert der Schutz des Art 45 AEUV – zumindest im Grund- 19 satz wie die Inanspruchnahme aller anderen Grundfreiheiten auch59 – ein grenzüberschreitendes Element. Auf rein innerstaatliche Sachverhalte ist die Norm nicht anwendbar.60 Daraus folgt zugleich, dass sie Inländerdiskriminierungen nicht er-
55 Insb für die Aufrechterhaltung der aus dem Arbeitsverhältnis erworbenen Rechte, vgl EuGH, Rs C-57/96, Slg 1997, I-6689, Rn 40 ff – Meints; Rs C-122/96, Slg 1998, I-5325, Rn 41 ff – Kommission/Frankreich; Urt v 19.6.2014, Rs C-507/12, Rn 40 ff – Saint Prix. 56 Art 7 III VO 492/2011 (Fn 13). 57 EuGH, Rs 39/86, Slg 1988, 3161, Rn 35 ff – Lair; vgl zur Abgrenzung auch Rs C-357/89, Slg 1992, I1027 ff – Raulin. 58 Allerdings unter dem Vorbehalt, dass Missbrauch ausgeschlossen ist, EuGH, Rs 39/86, Slg 1988, 3161, Rn 43 ff – Lair; vgl auch Rs 197/86, Slg 1988, 3205 Rn 22 ff – Brown. 59 Zu vier weiteren Konstellationen, in denen Vorabentscheidungsersuchen zulässig sein können, EuGH, Urt v 16.11.2016, Rs C‑268/15 – Ullens de Schooten, Rn 50 ff. 60 Vgl nur EuGH, Rs C-332/90, Slg 1992, I-341 ff – Steen I; Slg 1998, I-4239 ff – Kapasakalis. Allerdings richtet sich die Beurteilung des grenzüberschreitenden Elements grds nach der Auffassung des vorlegenden Gerichts; dazu und zu Fällen, in denen es um die Gültigkeit nationaler Vorschriften geht,
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fasst.61 Im Rahmen des Art 45 AEUV liegt die Grenzüberschreitung darin, dass sich eine Person in einen anderen Mitgliedstaat begibt (bzw begeben will), um dort zu arbeiten. Ob dies auf Dauer geschieht, der Beschäftigte also im Beschäftigungsstaat seinen Wohnsitz nimmt, oder ob er in seinem Heimatstaat wohnen bleibt und in den Beschäftigungsstaat pendelt, dh als Grenzarbeitnehmer tätig wird,62 ist unerheblich. Zudem muss es sich nicht unbedingt um die Beschäftigung bei einem ausländischen Unternehmen handeln; insbesondere genügt auch die Aufnahme einer Tätigkeit bei einer internationalen Organisation.63 Besonderheiten bestehen allerdings für die Fälle der Entsendung, dh wenn die Anbindung an die Beschäftigung im Heimatstaat bestehen bleibt und nur vorübergehend eine Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat aufgenommen wird. In diesen Fällen, die primärrechtlich im Zusammenhang mit der Dienstleistungsfreiheit der Arbeitgeber stehen, in denen aber auch der Schutz der Arbeitnehmer sichergestellt werden muss (vgl auch Art 9 AEUV), führt das Arbeitsrecht zur grundsätzlichen Geltung der Beschäftigungsbestimmungen des Aufnahmestaats (vgl Rn 37), während das Sozialrecht die Fortführung des bisherigen Sozialrechtsstatuts vorsieht.64 20 Art 45 AEUV schützt sowohl vor Maßnahmen eines fremden Mitgliedstaates als auch des eigenen Heimatstaates, der seinerseits die grenzüberschreitende Beschäftigung grundsätzlich nicht behindern darf (vgl Rn 41 ff).65 Auf den ersten Blick scheint die Vorschrift differenzierte Regelungen zu enthalten, die aber zusammenspielen. Ausgehend von der allgemeinen und umfassenden Verbürgung in Abs 1 enthalten ihre Abs 2 und 3 als Konkretisierungen verschiedene Rechte: das Diskriminierungsverbot in Bezug auf die Beschäftigungsbedingungen (1), das durch einen Anspruch auf steuerliche und soziale Gleichbehandlung ergänzt wird (2), und die begleitenden Rechte auf Einreise und Aufenthalt (3). Vor dem wanderungsbedingten Verlust von Rechten der sozialen Sicherheit soll die auf der Grundlage des Art 48 AEUV geschaffene Koordinierung der nationalen Sozialleistungssysteme schützen (4). 21 Bezogen auf die Beschäftigung, Entlohnung und die sonstigen Arbeitsbedingungen müssen die auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlungen abgeschafft werden (Art 45 II AEUV; vgl auch Art 15 III GRCh). Dieses Dis
die auf ausländische Unionsbürger Anwendung finden, Urt v 11.2.2021, Rs C-407/19 – Katoen Natie Bulk Terminals und General Services Antwerp, Rn 51 ff. 61 Das ist keineswegs unstr, muss hier aber nicht vertieft werden; einschränkend Epiney in: Bieber/ Epiney/Haag/Kotzur, EU, § 10 Rn 11; näher dazu → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 37. 62 Zum Begriff Art 1 lit f VO 883/2004 (Fn 17). 63 Vgl EuGH, Rs C-411/98, Slg 2000, I-8081 ff – Ferlini; Urt v 6.10.2016, Rs C-466/15 – Adrien. 64 Vgl Rn 25; grds dazu Becker, ZESAR 2021, 467 ff. 65 Vgl nur EuGH, Rs C-323/93, Slg 1994, I-50, Rn 9 ff – Scholz.
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kriminierungsverbot, das sich auch auf Tarif- und Einzelverträge bezieht,66 umfasst jeden Aspekt der Berufstätigkeit. Verboten sind etwa eine Arbeitserlaubnispflicht für Wanderarbeitnehmer67 und der Vorrang der Arbeitsvermittlung eigener Staatsangehöriger,68 die Schlechterstellung bei Kündigung und Wiedereingliederung,69 die Vorenthaltung von Nebenleistungen,70 die Benachteiligung bei Aufstiegsmöglichkeiten,71 die Nichtberücksichtigung ausländischer Beschäftigungszeiten bei Zusatzrenten72 oder durch Befristung von Arbeitsverhältnissen73. Bei reglementierten Berufen müssen die im Ausland erworbenen Qualifikationen berücksichtigt werden.74 Das Erfordernis der Gleichbehandlung bezieht sich auch auf die Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und die Ausübung gewerkschaftlicher Rechte.75 Dieses spezielle Diskriminierungsverbot wird ergänzt durch das aus Art 45 I AEUV folgende Beschränkungsverbot, wenn eine Ungleichbehandlung nicht – auch nicht nur mittelbar – auf der Staatsangehörigkeit beruht, aber auf einer fehlenden Berücksichtigung von im Ausland stattgefundenen Tatsachen76 (vgl näher Rn 41 f, 45).
66 Zur Nichtigkeit entgegenstehender Absprachen Art 7 IV VO 492/2011 (Fn 13); zur unmittelbaren Anwendbarkeit der günstigeren Bestimmungen EuGH, Rs C-15/96, Slg 1998, I-47 ff – Schöning. 67 Vgl § 284 I SGB III: „(1) Soweit nach Maßgabe des Beitrittsvertrages eines Mitgliedstaates zur Europäischen Union abweichende Regelungen als Übergangsregelungen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit anzuwenden sind, dürfen Staatsangehörige dieses Mitgliedstaates und ihre freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen eine Beschäftigung nur mit Genehmigung der Bundesagentur ausüben sowie von Arbeitgebern nur beschäftigt werden, wenn sie eine solche Genehmigung besitzen.“ 68 Vgl zum Zugang zu Stellen näher Art 1–6 VO 492/2011 (Fn 13). 69 Vgl Art 7 I VO 492/2011 (Fn 13). 70 Ohne Unterscheidung von vorgeschriebenen und freiwilligen Leistungen, vgl EuGH, Slg 1974, 153 ff – Sotgiu. 71 EuGH, Rs C-187/96, Slg 1998, I-1095 ff – Kommission/Griechenland; Rs C-15/96, Slg 1998, I-47 ff – Schöning. 72 EuGH, Rs C-325/08, Slg 2011, I-1379 – Casteels. 73 EuGH, verb Rs C-259/91 ua, Slg 1993, I-4309 ff – Allué II; Rs C-272/92, Slg 1993, I-5185 ff – Spotti. 74 Daraufhin, ob sie den im Inland verlangten Qualifikationen entsprechen; EuGH, Rs C-340/89, Slg 1991, I-2357 – Vlassopoulou; Rs C-313/01, Slg 2003, I-13467 – Morgenbesser; zur Zulassung zum juristischen Vorbereitungsdienst Rs C-345/08, Slg 2009, I-11677 – Peśla = JK 2010, AEUV Art 45/2; zur teilweisen Anerkennung EuGH, Urt v 8.7.2021, Rs C-166/20 – Lietuvos Respublikos sveikatos apsaugos ministerija; zur Bindungswirkung ausländischer Diplome EuGH, Urt v 16.6.2022, Rs C-577/20 – Sosiaali- ja terveysalan lupa- ja valvontavirasto. 75 Art 8 VO 492/2011 (Fn 13); dazu etwa EuGH, Rs C-118/92, Slg 1994, I-1891 ff – Kommission/Luxemburg. Zu Fragen der Unternehmensmitbestimmung durch die Wahl von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat EuGH, Urt v 18.7.2017, Rs C-566/15 – Erzberger; dazu Heuschmid/Videbaek Munkholm, EuZW 2017, 419 ff. 76 EuGH, Urt v 23.4.2020, Rs C-710/18 – Land Niedersachsen, Rn 19 ff; Urt v 10.10.2019, Rs C-703/17 – Krah.
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Art 7 II VO 492/2011 verbürgt Arbeitnehmern, die Unionsbürger sind, ein grundlegendes soziales Recht, nämlich den Anspruch auf „die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer“.77 Zu den steuerlichen Vergünstigungen78 zählen etwa die Abzugsfähigkeit von Ausgaben,79 die Steuerrückerstattung80 oder das Ehegattensplitting,81 wobei es eine wichtige Rolle spielt, in welchem Staat die Einkünfte besteuert werden. Keineswegs ist jede Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Arbeitnehmern bei der Erhebung direkter Steuern ausgeschlossen; insb können als Folge der beschränkten Steuerpflicht auch die Möglichkeiten zur Berücksichtigung steuermindernder Tatbestände begrenzt werden.82 23 Die Rechtsprechung des EuGH zu den sozialen Vergünstigungen ist kaum mehr überschaubar.83 Deren Begriff wird vom Gerichtshof weit ausgelegt und erfasst „alle Vergünstigungen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnortes im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern.“84 Einbezogen sind damit ua Ausbildungsbeihilfen,85 Pfle-
77 Ob der Anspruch auch für Arbeitslose und Arbeitsuchende gilt, ist nicht unumstritten, vgl Forsthoff/Eisendle in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 291; soweit der Arbeitnehmerstatus auf diese Personen erstreckt wird, ist die Geltung aber schon zwingende Konsequenz und für eine Differenzierung kein Platz. Im Übrigen verliert die Diskussion durch das allgemeine Freizügigkeitsrecht (vgl Rn 2 ff) an Bedeutung. Zur Berechtigung der Familienangehörigen unten Rn 28 ff; vgl ferner Cordewener Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002. 78 Vgl EuGH, Urt v 24.2.2015, Rs C-512/13 – Sopora; Urt v 2.3.2017, Rs C-496/14 – Eschenbrenner; Urt v 22.6.2017, Rs C-20/16 – Bechtel; Urt v 14.3.2019, Rs C-174/18 – Jacob, Lennertz. 79 Vgl EuGH, Rs C-204/90, Slg 1992, I-249 ff – Bachmann. 80 Vgl EuGH, Rs 175/88, Slg 1990, I-1779 ff – Biehl; Rs C-279/93, Slg 1995, I-225 ff – Schumacker. 81 Vgl EuGH, Rs C-87/99, Slg 2000, I-3337 ff – Zurstrassen. 82 Dazu und zu den Grenzen dieses Grundsatzes bei fehlenden nennenswerten Einkünften im Wohnsitzstaat EuGH, Rs C-279/93, Slg 1995, I-225 ff – Schumacker; Rs C-385/00, Slg 2002, I-11819 ff – de Groot. 83 Ausf Überbl bei Kreuschitz in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 954 ff. 84 Vgl nur EuGH, Rs C-85/95, Slg 1998, I-2691, Rn 25 ff – Martínez Sala; gegenüber der VO 883/2004 (Fn 17) (vgl nachfolgend im Text) ist keine Abgrenzung mehr erforderlich; vgl aber auch Steinmeyer in: Fuchs/Janda (Hrsg) Europäisches Sozialrecht, 8. Aufl 2021, Art 7 VO 492/2011 Rn 3 ff. 85 Vgl EuGH, Rs 235/87, Slg 1988, 5589 ff – Matteucci; vgl zu Überbrückungsbeihilfen Rs C-363/99, Slg 2004, I-08471 – Merida; zu Fahrpreisvergünstigungen für Studierende Urt v 2.6.2016, Rs C-233/14 – Kommission/Niederlande; zu Aufenthaltsanforderungen an Eltern von nicht ansässigen Bewerbern für Studienbeihilfen EuGH, Urt v 14.12.2016, Rs C-238/15 – Braganca Linares Verruga.
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gegeld,86 die Förderung einer ergänzenden Altersvorsorge,87 Hilfen zum Lebensunterhalt wie die Sozialhilfe88 oder ein Mindesteinkommen,89 die Schülerbeförderung90, Kindergeld91 und Familienbeihilfen einschließlich etwa Fahrpreisermäßigungen92 etc. Die Vergünstigungen müssen keineswegs in einer Geld- oder Sachleistung, sondern können auch in der Einräumung sonstiger Positionen bestehen; so zählen zu ihnen das Recht zur Nutzung der eigenen Sprache vor Gericht93 und das Aufenthaltsrecht für nichteheliche Partner94. Ausgenommen bleiben aber staatsbürgerliche und an eine besondere Vorgeschichte im Heimatstaat anknüpfende Rechte.95 Gesondert geregelt ist die Teilhabe am Wohnungsmarkt.96 Gemäß Art 45 III lit b und c AEUV haben Arbeitnehmer das Recht, sich zur Stel- 24 lensuche frei in den Mitgliedstaaten zu bewegen und sich dort zur Ausübung der Beschäftigung aufzuhalten. Die Garantie des Zugangs zur Beschäftigung schließt die Ausreise aus dem Heimatstaat und den Zugang zum Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten notwendig mit ein. Näher ausgestaltet werden die Einreise- und Aufenthaltsrechte durch RL 2004/38 (vgl Rn 3); der Durchführung in Deutschland dient das Freizügigkeitsgesetz/EU.97 Danach darf die Vorlage eines Ausweises oder Passes,
86 Vgl EuGH, Rs C-286/03, Slg 2006, I-1771, Rn 20 ff – Hosse. Zu Leistungen bei Invalidität Urt v 14.3.2019, Rs C-134/18 – Vester. 87 EuGH, Rs C-269/07, Slg 2009, I-7811 – Kommission/Deutschland = JK 2010, AEUV Art 45/1; dazu Krebber, EuR 2010, 822 ff. 88 Vgl dazu auch Art 24 II RL 2004/38; zu den Leistungen nach dem SGB II EuGH, verb Rs 22/08 u 23/ 08, Slg 2009, I-4585 – Vatsouras u Koupatantze; EuGH, Urt v 25.2.2016, Rs C-299/14 – Garcia Nieto; EuGH, Urt v 6.10.2020, Rs C-181/19 – Jobcenter Krefeld; ferner Nachw in Fn 7. 89 Vgl EuGH, Rs 316/85, Slg 1987, 2811 ff – Lebon. 90 EuGH, Urt v 2.4.2020, Rs C-830/18 – Landkreis Südliche Weinstraße. 91 EuGH, Urt v 2.4.2020, Rs C-802/18 – Caisse pour l’avenir des enfants. 92 EuGH, Rs 147/78, Slg 1975, 1085 ff – Cristini. 93 EuGH, Rs 137/84, Slg 1985, 2681 ff – Mutsch. 94 EuGH, Rs 59/85, Slg 1986, 1283 ff – Reed. Das muss Aufenthaltsrechte für ausländische homosexuelle Lebenspartner ohne weiteres mit einschließen, sofern diese Inländern gewährt werden. Die Mitgliedstaaten bleiben aber berechtigt, bei den Voraussetzungen für einen (auch abgeleiteten) Daueraufenthalt nach Staatsangehörigkeit bzw Aufenthaltsstatus zu differenzieren, vgl EuGH, Rs C-356/98, Slg 2000, I-2623, Rn 30 ff – Kaba. 95 Wie das Wahlrecht und die Kriegsopferfürsorge, vgl Steinmeyer in: Fuchs/Janda (Hrsg) Europäisches Sozialrecht, 8. Aufl 2021, Art 7 VO 493/2011 Rn 11 ff. Als soziale Vergünstigung eingestuft hat der EuGH aber eine Zusatzrente für verdiente Sportler, weil diese „zur Integration in den Aufnahmemitgliedstaat und damit zur Erreichung des Ziels der Freizügigkeit der Arbeitnehmer beitragen“ soll, Urt v 18.12.2019, Rs C-447/18 – Generálny riaditeľ Sociálnej poisťovne Bratislava, Rn 45 ff. 96 Art 9 VO 492/2011 (Fn 13). 97 BGBl I 2004, 1950. Von einer Umsetzung zu sprechen, wäre insofern zu kurz gegriffen, als das Gesetz auch die unmittelbar aus Art 45 AEUV fließenden Rechte betrifft.
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nicht aber ein Visum oder eine gleichartige Formalität verlangt werden.98 Zur Bestätigung des Aufenthaltsrechts wird eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt, die nur deklaratorischen Charakter hat.99 Welche Nachweise für ihre Ausstellung verlangt werden dürfen, ist sekundärrechtlich geregelt.100 Wird die Einreise oder die Erteilung bzw Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verweigert, sind besondere verfahrensrechtliche Garantien vorgesehen.101 25 Soziale Sicherungssysteme weisen einen engen Bezug zum staatlichen Hoheitsgebiet auf: Die Einbeziehung in die Systeme richtet sich nach einer territorialen Anknüpfung, entweder bezogen auf die Beschäftigung oder den Wohnsitz;102 Leistungsvoraussetzungen beziehen sich in der Regel auf Vorgänge im Hoheitsgebiet, und der Leistungsexport ist vielfach eingeschränkt, wobei allerdings die jeweiligen Bezüge von der Struktur der Systeme abhängig sind.103 Für Wanderarbeitnehmer können sich dadurch Gefährdungen ihrer sozialen Sicherheit ergeben: Möglicherweise erwerben sie in verschiedenen Beschäftigungsstaaten nur kurze Anwartschaften für die Alterssicherung, die als solche nicht für eine Leistungsberechtigung genügen; oder es werden etwa die Familienverhältnisse im Heimatstaat nicht berücksichtigt, obwohl diese im Beschäftigungsstaat Einfluss auf die Leistungsgewährung haben etc. Um solche freizügigkeitsbedingten Nachteile zu vermeiden, sieht Art 48 AEUV eine Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme vor. Die Zuständigkeit für die soziale Sicherung bleibt bei den Mitgliedstaaten, eine Harmonisierung im Sinne einer Schaffung einheitlicher Voraussetzungen oder Leistungen wird nicht be-
98 Art 5 I RL 2004/38 (Fn 5); sichtvermerkspflichtig können aber Angehörige aus Drittstaaten sein. Die Zulässigkeit von Grenzkontrollen wird nicht durch die Freizügigkeitsbestimmungen an sich in Frage gestellt, sondern erst durch deren Ersetzung durch Außenkontrollen, vgl EuGH, Rs C-378/97, Slg 1999, I-6207, Rn 39 ff – Wijsenbeek; vgl Art 67–71, 77 AEUV und die gestufte Einbeziehung des Schengener Abkommens in das Unionsrecht, dazu Epiney in: Hummer (Hrsg) Die EU nach dem Vertrag von Amsterdam, 1998, 103 ff. Das FreizügigkeitsG/EU enthält in § 5 eine Meldepflicht und in § 8 eine allgemeine Verpflichtung zum Identitätsnachweis für Einreise und Aufenthalt. 99 Vgl bereits EuGH, Rs 48/75, Slg 1976, 497, Rn 30 ff – Royer. Nicht erlaubnispflichtig ist ein nur dreimonatiger Aufenthalt und der Aufenthalt der Grenzgänger und Saisonarbeitnehmer, Art 6 I RL 2004/38 (Fn 5). 100 Art 8 III RL 2004/38 (Fn 5). 101 Art 15 RL 2004/38 (Fn 5); vgl dazu und zur Verneinung der Frage, ob die Beendigung eines nicht erlaubten, mehrmonatigen Aufenthalts als Einreiseverweigerung anzusehen ist, EuGH, Rs C-357/98, Slg 2000, I-9265, Rn 27 ff – Yiadom. 102 Wichtigste Ausnahme ist die Ausstrahlung bei vorübergehender Auslandstätigkeit, § 4 SGB IV; allerdings sieht Art 12 I VO 883/2004 (Fn 17) eine zeitliche Grenze für diese Fälle der sog Entsendung vor. Dazu auch Art 14 VO 987/2009/EG, ABl 2009 Nr L 284/1. 103 Dort, wo Eigentumsrechte erworben werden, gehen diese durch einen Gebietswechsel nicht verloren, vgl zu Art 14 GG BVerfGE 51, 1 ff; Schutz vermittelt insofern auch die EMRK, vgl EGMR, JZ 1997, 405 ff – Gaygusuz; dazu Davy, ZIAS 2001, 221 ff.
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zweckt, weshalb ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit nicht unionsweit gefordert ist und Schutzlücken in den zuständigen Staaten nicht gefüllt werden können.104 Jedoch sollen die Systeme aufeinander abgestimmt und damit der Verlust von Rechten vermieden werden. Ihrer Bedeutung entsprechend wurden die ersten Koordinierungsvorschriften 26 schon sehr früh nach völkerrechtlichem Muster geschaffen.105 Heute ist Rechtsgrundlage der Koordinierung die VO 883/2004/EG, ergänzt durch die VO 987/2009/ EG,106 die auch Selbständige107 und Beamte108 erfasst, also im Anwendungsbereich über Art 45 AEUV hinausgeht. Sachlich gesehen bezieht sie sich auf die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft,109 Invalidität, Alter und Tod, Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Arbeitslosigkeit, auf das Sterbegeld sowie die Familienleistungen und -beihilfen.110 Ohne auf Einzelheiten einzugehen111 bestimmt sie das anwend-
104 Insb auch nicht durch eine grundfreiheitskonforme Auslegung, vgl EuGH, Urt v 19.9.2019, verb Rs C-95/18 u C-96/18 – van den Berg, Giesen, Franzen, und dazu Becker, ZESAR 2020, 176. 105 VO Nr 3 und Durchführungs-VO Nr 4 aus dem Jahre 1958, nach dem Vorbild der damaligen Sozialversicherungsabkommen und des Abkommens Nr 102 der IAO über die Mindestnormen der sozialen Sicherung, BGBl II 1957, 1322. 106 Vgl Fn 18 und ABl 2009 Nr L 284/1. 107 Einbezogen auf der Rechtsgrundlage des ex-Art 235 EWGV (Art 352 und 353 AEUV) durch VO 1390/81, ABl 1981 Nr L 143 / 1. 108 VO 1606/98, ABl 1998 Nr L 209/1. Zu dem Erfordernis der Einbeziehung EuGH, Rs C-443/93, Slg 1995, I-4033 ff – Vougioukas. 109 Einschließlich der Pflegeversicherung; zur Qualifizierung der Leistungen EuGH, Rs C-160/96, Slg 1998, I-843 ff – Molenaar = JK 98, EGV Art 48 II/1. 110 Ohne dass es darauf ankäme, wie die nationalen Systeme ausgestaltet sind; vgl zur funktionellen Äquivalenz auch EuGH, Rs C-45/90, Slg 1992, I-3423, Rn 16 ff – Paletta I. Für den Anwendungsbereich haben die Mitgliedstaaten Erklärungen abgegeben (Art 9 VO 883/2004 (Fn 17)), die allerdings nur hinsichtlich der positiven Einbeziehung, nicht aber insoweit verbindlich sind, als sie Systeme unerwähnt lassen. Leistungen der sozialen Sicherheit sind solche, die den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt werden, ohne dass im Einzelfall eine in das Ermessen gestellte Prüfung ihres persönlichen Bedarfs erfolgt und die sich auf die in Art 3 VO 883/2004 genannten Risiken beziehen; vgl zur Einbeziehung des deutschen Erziehungsgeldes EuGH, verb Rs C-245 u C-312/94, Slg 1996, I-4895, Rn 20 f – Hoever u Zachow. 111 Vgl für einen Überbl Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 48 AEUV Rn 12 ff; näher Fuchs/Janda (Fn 83); Hervey European Social Law and Policy, 1998; Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999; Eichenhofer Sozialrecht der Europäischen Union, 8. Aufl 2022. Sehr vielfältig ist mittlerweile die Rspr des EuGH zu den Koordinierungsvorschriften, was durch eine sachgebietsbezogene Suche unter dem Stichwort „Freizügigkeit“ in CELEX oder der Rechtsprechungsdatenbank des EuGH leicht überprüft werden kann. Dazu die Beiträge in: Schulte/Barwig (Hrsg) Freizügigkeit und Soziale Sicherheit, 1999; zu Familienleistungen EuGH (GK), Urt v 12.6.2012, Rs C-611/10, DÖV 2012, 688 – Hudzinski u Wawrzyniak, sowie Vießmann/Merkel, NZS 2012, 572.
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bare Recht112 und sieht grob gesagt die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, die weitgehende Gleichstellung von Auslandssachverhalten113 und den Leistungsexport114 vor. Die VO 883/2004 knüpft nicht mehr an die Arbeitnehmereigenschaft, sondern an die Beschäftigung an, wofür sie auf das nationale Sozialrecht verweist (Art 1 lit a). Sie bezieht auch selbständig Erwerbstätige ein. Ausschlaggebend ist, ob Unionsbürger, Staatenlose und Flüchtlinge sowie Hinterbliebene dem Sozialrecht eines Mitgliedstaats unterfallen (Art 2). Für die Gewährung von Familienleistungen ist darauf abzustellen, ob eine hinreichend enge Bindung an den betreffenden Mitgliedstaat besteht. Bei fehlendem Wohnsitz (Rn 39) stellt auch ein maßgeblicher Beitrag zum Arbeitsmarkt ein ausreichendes Kriterium für die Integration in die Gesellschaft dar.115
d) Bereichsausnahmen 27 Art 45 IV AEUV enthält – insofern ist der Wortlaut eindeutig – eine Bereichsausnahme: Für die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ gilt die Freizügigkeitsgarantie nicht (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 108 ff). Bedenkt man, wer in Deutschland, unabhängig von einem bestimmten Status, im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, so scheint in weiten Teilen der Arbeitswelt Art 45 AEUV keine Anwendung zu finden. In diesem Sinne darf die Bereichsausnahme aber nicht verstanden werden. Der EuGH hat schon früh klargestellt, sie sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Von ihr seien nur die Stellen erfasst, „die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des
112 Für Arbeitnehmer grundsätzlich das Recht des Beschäftigungsstaates, Art 11 III VO 883/2004 (Fn 17); nach Aufgabe des Arbeitnehmerstatus’ wird an den Wohnsitz angeknüpft, vgl dazu EuGH, Rs C-275/96, Slg 1998, I-3419, Rn 40 ff – Kuusijaervi. Zum Verhältnis zum zwischenstaatlichen Sozialrecht Art 8 VO 883/2004; zur Anwendbarkeit von Sozialversicherungsabkommen EuGH, Rs C-227/89, Slg 1991, I-323 ff – Rönfeldt; Rs C-341/4, Slg 1995, I-3813 ff – Thévenon; Slg 2002, I-1261 – Kaske. 113 In speziellen Vorschriften und grds vermittelt durch das Diskriminierungsverbot, vgl dazu Becker, VSSR 2000, 221 ff; zur „Entterritorialisierung“ schon Willms Soziale Sicherung durch Europäische Integration, 1990, S 49 ff. 114 Vgl Art 7 VO 883/2004 (Fn 17); der Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit ist auf drei Monate beschränkt, Art 64 VO 883/2004. Sachleistungen werden nicht exportiert; im Falle der Krankheit gibt es aber eine Sachaushilfe, dh die Leistungen werden auf Rechnung des Beschäftigungsstaats in anderen Mitgliedstaaten nach der Maßgabe der dort geltenden Bestimmungen erbracht, Art 17 ff VO 883/2004. Zur Erstattung auf Grundlage von Pauschalbeträgen siehe Art 63 II VO 987/2009/EG. Dieser Export ist nicht zu verwechseln mit der Einwirkung der Grundfreiheiten auf das sozialrechtliche Territorialitätsprinzip. 115 EuGH, Rs C-213/05, Slg 2007, I-6347, Rn 19 ff – Geven; Rs C-212/05, Slg 2007, I-6303, Rn 21 ff – Hartmann m Anm Devetzi, ZESAR 2008, 99.
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Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind.“116 Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob ein Mitgliedstaat auf bestimmten Stellen nach nationalem Recht Beamte einsetzt117 oder der Arbeitgeber eine öffentlich-rechtliche Einrichtung ist118. Dementsprechend gilt die Freizügigkeit etwa im Schul- und Hochschuldienst.119 Anders ist die Situation bei Polizisten, Soldaten und Richtern. Immer muss darauf abgestellt werden, ob mit der konkreten Beschäftigung die Ausübung von Hoheitsrechten zugunsten der Wahrung allgemeiner Belange verbunden ist. So ist etwa nicht allgemein das Gesundheitswesen von der Anwendung des Art 45 AEUV ausgenommen,120 jedoch möglicherweise die Tätigkeit in der Leistungsverwaltung.121 Auch können bestimmte Leitungsfunktionen in der Verwaltung wegen ihrer Bedeutung einen besonderen Schutz erfordern.122 Allein die Zuweisung hoheitlicher Befugnisse an eine Stelle nach nationalem Recht genügt jedoch nicht, vielmehr dürfen die ihr übertragenen Befugnisse nicht nur eine untergeordnete Rolle spielen und müssen auch tatsächlich regelmäßig ausgeübt werden.123
3. Persönlicher Schutzbereich a) Unionsbürger und ihre Familienangehörigen Auch wenn Art 45 AEUV keine entsprechende Festlegung enthält, fallen unter den 28 persönlichen Schutzbereich der Norm, der allgemeinen Konzeption des AEUV entsprechend, zunächst nur die Unionsbürger (Art 20 AEUV), also die Staatsangehöri-
116 EuGH, Rs C-149/79, Slg 1980, 3881, Rn 10 ff – Kommission/Belgien; zuletzt wiederholt und bestätigt in EuGH, Urt v 10.9.2014, Rs C-270/13, Rn 43 f – Haralambidis/Casilli. Beide Voraussetzungen gelten kumulativ, was allerdings str ist, vgl näher nur Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 136; zur Kritik an der Rspr Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 45 AEUV Rn 116. 117 Vgl § 7 I BeamtStG, wonach heute auch ausländische Unionsbürger grundsätzlich in ein Beamtenverhältnis berufen werden können. Vgl Strauß Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum, 2000, 189 ff. 118 Vgl EuGH, Rs C-47/02, Slg 2003, I-10447, Rn 62 f – Anker. 119 EuGH, Rs 66/85, Slg 1986, 2121 ff – Lawrie-Blum (Studienreferendare); Rs C-4/91, Slg 1991, I5627 ff – Bleis (höheres Lehramt); Rs C-473/93, Slg 1996, I-3207 ff – Kommission/Luxemburg (Grundschulen). 120 Vgl zum Krankenpflegepersonal EuGH, Rs 307/84, Slg 1986, 1725 ff – Kommission/Frankreich. 121 Vgl Kreuschitz in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 160. Allerdings ist diese Ausnahme sehr weit und müsste auch die Sozialversicherungsträger umfassen, obwohl vergleichbare Tätigkeiten auch von privaten Versicherungsunternehmen ausgeübt werden. 122 Vgl EuGH, Rs 255/85, Slg 1987, 2625 ff – Kommission/Italien. Vgl zum Ganzen jetzt auch Jakobs in: Nomos und Ethos, 2002, S 507 ff. 123 EuGH, Urt v 10.9.2014, Rs C-270/13, Rn 58 – Haralambidis/Casilli.
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gen der EU-Mitgliedstaaten.124 Zu beachten ist, dass sich neben den Arbeitnehmern auch Arbeitgeber gegen Eingriffe in die Arbeitnehmerfreizügigkeit wehren können.125 29 Ebenfalls weitgehend in den Schutz der Arbeitnehmerfreizügigkeit einbezogen sind die Familienangehörigen126 von Arbeitnehmern. Grundlage dafür ist auch im Unionsrecht der Schutz von Ehe und Familie,127 zumindest die nähere Ausgestaltung ist aber dem Sekundärrecht überlassen. Gegenwärtig (vgl auch Rn 1 ff) führt das zu Differenzierungen. So wird zwar nicht hinsichtlich der allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen und der Rechte auf und im Aufenthalt, aber hinsichtlich der Sichtvermerkspflicht danach unterschieden, ob die Angehörigen Unionsbürger sind oder nicht.128 Bezogen auf die den Arbeitnehmern zustehenden Rechte im Aufenthalt ist immer zu klären, ob sie nur für die unmittelbar Freizügigkeitsberechtigten oder auch die Angehörigen gelten;129 das hat nicht zuletzt dann Bedeutung, wenn
124 Und zwar unabhängig von einer eventuellen Doppelstaatsangehörigkeit; allgM, vgl nur Bleckmann ER Rn 1561 ff; Oppermann/Classen/Nettesheim ER, § 27 Rn 13; Streinz ER, Rn 827. Flüchtlinge und Staatenlose sind in den Schutz immerhin durch einige Sekundärvorschriften einbezogen; vgl zur VO 883/2004 (Fn 17) und der Voraussetzung eines grenzüberschreitenden Elements EuGH, verb Rs 225/95 ua, Slg 2001, I-7413 ff – Khalil. Zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit EuGH, Rs C-192/99, Slg 2001, I-1237, Rn 19 ff – Kaur. 125 EuGH, Rs C-350/96, Slg 1998, I-2521, Rn 19 ff – Clean Car, mit dem Hinweis zum einen auf die Wirksamkeit des Art 39 EGV, zum anderen auf den Umstand, dass sich auch Arbeitgeber auf Rechtfertigungsgründe stützen können. Zur Bezeichnung als „Korrelarberechtigte“ Forsthoff/Eisendle in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 45 ff. 126 Zum Begriff vgl Art 2 Nr 2 RL 2004/38 (Fn 5). Dazu EuGH, Urt v 5.6.2018, Rs C-673/16 – Coman (zu gleichgeschlechtlichen Ehepartnern). Bei der für bestimmte Familienangehörige geforderten Unterhaltsgewährung kommt es auf die tatsächliche Gewährung an (vgl zu Art 1 RL 73/148 EuGH, verb Rs C-463/04 u C-464/04, Slg 2007, I-1 ff – Jia). 127 Ob aber die Freizügigkeit der Angehörigen damit auch unmittelbar aus Art 45 AEUV ableitbar ist, erscheint fraglich; richtigerweise müsste für die Begründung eigener Rechte zumindest zusätzlich auf den Schutz durch ein Grundrecht rekurriert werden, vgl aber Kreuschitz in: vd Groeben/ Schwarze/Hatje, EUV/AEUV, vor Art 45–48 AEUV Rn 45 ff. Nach EuGH, Urt v 14.12.2014, Rs C-457/12– S. und G., Rn 43 f, ist Drittstaatsangehörigen dann ein Aufenthaltsrecht einzuräumen, wenn sonst die Arbeitnehmerfreizügigkeit eines mit ihnen verheirateten Unionsbürgers beeinträchtigt würde (sofern dessen Verweigerung eine abschreckende Wirkung hätte). 128 Art 5 II RL 2004/38 (Fn 5). Zur Ehegatteneigenschaft trotz Getrenntleben EuGH, Rs 267/83, Slg 1985, 567 ff – Diatta; zur (zulässigen) Schlechterstellung von Familienangehörigen aus Drittstaaten bei der Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis EuGH, Slg 2000, I-2623 ff – Kaba, sowie Rs C-292/91, Slg 2003, I-2219 ff – Kaba II. Nicht erforderlich ist, dass sich der Drittstaatsangehörige vor der Einreise rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, EuGH, Rs C-127/08, Slg 2008, I-6241, Rn 58 – Metock. 129 So gibt etwa Art 23 RL 2004/38 (Fn 5) kein originäres Freizügigkeitsrecht des Drittstaatsangehörigen (zu Art 11 VO 492/2011 EuGH, Slg 2006, I-3145, C-10/05, Rn 15 ff – Mattern u Cikotic); er ist an den
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die Verbindung zu dem Angehörigen wegfällt.130 In einem zentralen Punkt, dem Anspruch auf steuerliche und soziale Vergünstigungen (Art 7 II VO 492/2011, Rn 22 ff), hat der EuGH die Familienangehörigen als selbst berechtigt angesehen.131 Dies gilt nicht nur für Kinder, die mit dem Erwerbstätigen in einem Abstammungsverhältnis stehen, sondern auch für die des Ehegatten oder Lebenspartners, sofern der Erwerbstätige zum Unterhalt des Kindes beiträgt.132 Kindern von Arbeitnehmern ist auch ein Recht auf gleiche Teilnahme am allgemeinen Unterricht und an der Berufsausbildung eingeräumt.133 Damit sind etwa Zulassungsquoten für ein Studium134 oder der Ausschluss von Stipendien135 nicht vereinbar. Für die Leistung einer Ausbildungsförderung durch den Aufnahmestaat kommt es nicht darauf an, in welchem Mitgliedstaat die Ausbildung stattfindet.136 Hervorhebung verdient, dass Art 45 AEUV nach der Rechtsprechung des EuGH 30 nicht nur Arbeitnehmern, sondern auch Arbeitgebern Rechte vermittelt. Dahinter steht die Annahme, das Recht von Arbeitnehmern, bei Einstellung und Beschäftigung nicht diskriminiert zu werden, könne nur dann „seine volle Wirkung entfal
Mitgliedsstaat des Unionsbürgers gebunden, in dem dieser eine Tätigkeit ausübt. Bei Rückkehr des Arbeitnehmers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ohne dort einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen, kommt ein Anspruch des Drittstaatsangehörigen aus einer analogen Anwendung des Art 7 RL 2004/38 in Betracht (EuGH, Rs C-291/05, Slg 2007, I-10719, Rn 27 ff – Eind zu Art 10 VO 492/2011). Art 20 AEUV und Art 7 GRC können allerdings Drittstaatsangehörigen Rechte vermitteln, wenn sie sich als Eltern um Kinder sorgen, die ihrerseits ein Aufenthaltsrecht besitzen, vgl EuGH, Urt v 10.5.2017, Rs C-133/15 – Chavez-Vilchez. 130 Vgl zur Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern nach Scheidung bzw Trennung Art 13 RL 2004/38. Möglich bleibt daneben die Existenz eines eigenen Aufenthaltsrechts über Art 21 AEUV, vgl EuGH, Urt v 13.8.2016, Rs C-165/14 – Rendón Marín; Urt v 30.6.2016, Rs C-115/15 – NA. 131 Vgl nur EuGH, Slg 1985, 1873, Rn 22 ff – Deak; Slg 1992, I-1071, Rn 28 ff – Bernini. Allerdings ist weiterhin erforderlich, dass die Vergünstigung vergleichbaren Angehörigen von einheimischen Arbeitnehmern zusteht, vgl EuGH, Rs C-154/06, Slg 1992, I-4401, Rn 11 ff – Taghavi. 132 EuGH, Urt v 15.12.2016, verb Rs C-401/15-403/15 – Depesme und Kerrou; dazu Jacqueson, CMLRev 2018, 901 ff. 133 Vgl Art 10 VO 492/2011 (Fn 13); die Vorschrift verzichtet auf die Festlegung eines Nachzugsalters und begründet ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, vgl Schulz Freizügigkeit für Unionsbürger, 1997, S 210 ff; vgl auch EuGH, Rs 413/99, Slg 2002, I-7091 ff – Baumbast; Rs C-480/08, Slg 2010, I-1065 – Ibrahim (auch zum Verhältnis zur RL 2004/38); aus der neueren Rspr und dem Zusammenhang zu selbst nicht mehr erwerbstätigen, das Aufenthaltsrecht zuvor vermittelnden Angehörigen EuGH, Urt v 6.10.2020, Rs C-181/19 – Jobcenter Krefeld. 134 Vgl EuGH, Rs 302/86, Slg 1988, 5445 ff – Kommission/Belgien. 135 Vgl EuGH, Rs 9/74, Slg 1974, 773 ff – Casagrande. 136 Unabhängig von dem Wohnorterfordernis in Art 12 VO 492/2011 (Fn 13), vgl EuGH, Rs C-434/03, Slg 1990, I-4185, Rn 16 ff – Di Leo.
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ten, wenn die Arbeitgeber ein entsprechendes Recht darauf haben, Arbeitnehmer nach Maßgabe der Bestimmungen über die Freizügigkeit einzustellen“.137
b) Drittstaatsangehörige 31 Abgesehen von den vorstehend genannten abgeleiteten Rechten für Angehörige ge-
nießen Drittstaatsangehörige grundsätzlich kein Recht auf Freizügigkeit.138 Durch das EWR-Abkommen werden aber die Angehörigen der EWR-Mitgliedstaaten den Unionsbürgern gleichgestellt, so dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit im gesamten EWR gilt. So ist es auch im Verhältnis zur Schweiz. Das Freizügigkeitsabkommen mit ihr ist am 1. Juni 2002 in Kraft getreten.139 32 Anderen Drittstaatsangehörigen können Rechte durch völkerrechtliche Abkommen eingeräumt werden. Dazu gehören insbesondere Assoziierungsabkommen.140 In diesem Zusammenhang soll nur auf die Abkommen mit der Türkei (1) und mit den westlichen Balkanländern (2) hingewiesen werden.141 umgekehrt entspricht es bis jetzt gängiger Praxis, bei der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten
137 EuGH, Urt v 16.4.2013, Rs C‑202/11 – Las, Rn 18; Urt v 11.2.2021, Rs C-407/19 – Katoen Natie Bulk Terminals und General Services Antwerp, Rn 82; in der Sache schon (und mit Paralle zur Dienstleistungsfreiheit) Urt v 4.9.2014, Rs C-474/12 – Schiebel Aircraft GmbH, Rn 25 ff, und Slg 1998 I, 2521 – Clean Car Autoservice, C‑350/96, Rn 21. 138 Vgl aber auch RL 2011/98 über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, ABl 2011 Nr L 343/1; dazu Tewocht, ZAR 2012, 217 ff. und EuGH, Urt v 25.11.2020, Rs C-302/19 – Istituto Nazionale della Previdenza Sociale. Ferner RL 2009/50 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, ABl 2009 Nr L 155/17, dazu Kuczynski/Solka, ZAR 2009, 219 ff. Vgl insgesamt auch Thym, EuR 2011, 487 ff. Zu den Sanktionen für eine Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen ohne rechtmäßigen Aufenthalt RL 2009/52, ABl 2009 Nr L 168/24; dazu Berchtold, NZS 2012, 481 ff und Huber, NZA 2012, 477 ff. 139 Zur konsolidierten Fassung nach Änderungen 2017: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ TXT/?uri=CELEX%3A02002A0430 %2801 %29-20170101; zu rechtlichen Fragen Schnell Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Schweiz, 2010; ferner Breitenmoser/Weyeneth, EuZW 2012, 854 ff; Beiser, IStR 2012, 303 ff. 140 Dazu auch EuGH, Rs-106/89, Slg 2003, I-4135 ff – Kolpak; näher Weiß Die Personenverkehrsfreiheiten von Staatsangehörigen assoziierter Staaten in der EU, 1998; Lindig/Podlesak, JOR 2003, 73 ff; Husmann, ZAR 2009, 305 ff; Schnitzer Assoziationsbürger, 2016, S. 88 ff. Aus der neueren Rspr EuGH, Urt v 21.10.2020, Rs C-720/19 – GR/Stadt Duisburg. 141 Vgl auch Hailbronner, ZAR 2002, 7, 10 ff; Fehrenbacher, ZAR 2004, 22 ff. einen aktuellen Überblick bietet Priebe, EuZW 2020, 549 ff.
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Übergangsvorschriften für die schrittweise Realisierung der Freizügigkeit vorzusehen.142 Für die in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen ist von großer 33 praktischer Bedeutung, dass der EuGH die auf der Grundlage des Assoziierungsabkommens mit der Türkei ergangenen Beschlüsse des Assoziationsrats (ARB) für Bestandteile des Unionsrechts erklärt hat, die unmittelbar anwendbar sind, sofern die allgemeinen Voraussetzungen der hinreichenden Bestimmtheit und Unbedingtheit erfüllt sind.143 Auf diese Weise wird zwar kein erstmaliger Zugang für Arbeitnehmer gewährt, über Art 6 ARB 1/80 nach ordnungsgemäßer Beschäftigung aber ein Aufenthaltsrecht.144 Art 6 ARB 3/80 führt zum Export von Sozialleistungen.145 Ebenfalls unmittelbar anwendbar ist das in Art 3 ARB 3/80 niedergelegte Verbot der Diskriminierung im Bereich der sozialen Sicherheit.146
142 So war in dem Vertrag über den Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Staaten vom 16.4.2003 geregelt, dass für Malta und Zypern die Regelungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort anzuwenden sind, für die acht anderen Beitrittsländer galt ab dem 1.5.2004 eine Übergangszeit von maximal 7 Jahren; für Rumänien und Bulgarien galt nach dem Beitrittsvertrag vom 25.5.2005 eine Übergangsfrist bis zum 31.12.2013; vgl dazu Becker/v Maydell/Szurgacz (Hrsg) Die Realisierung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen aus arbeits- und sozialrechtlicher Sicht, 2012, und Kocher/Nowak (Hrsg) Freie Fahrt für Arbeitnehmer/innen zwischen Ost und West, 2012. Zu den sozialen Rechten polnischer Staatsangehöriger in der Übergangszeit EuGH, Urt v 13.9.2018, Rs C-618/16 – Prefeta. Insgesamt zur bisherigen Praxis und den primärrechtlichen Grenzen für Übergangsvorschriften Becker EU-Erweiterung und differenzierte Integration, 1999. 143 Grundlegend EuGH, Rs C-192/89, Slg 1990, I-3461 ff – Sevince = JK 91, EWGV Art 177/1. Zu den ARB Hailbronner Ausländerrecht, Loseblatt, Abschn D 5. 144 Vgl EuGH, Rs C-147/91, Slg 1992, I-6781 ff – Kus; Rs C-434/93, Slg 1995, I-1475 ff – Bozkurt; Rs C-340/ 97, Slg 2000, I-957 ff – Nazli; Rs C-188/00, Slg 2002, I-10691 ff – Kurz; Rs C-275/02, Slg 2004, I-8765 ff – Ayaz; Rs C-294/06, Slg 2008, I-203 ff – Payir ua; Rs -14/09, Slg 2010, I-931 – Genc (zu einer geringfügigen Beschäftigung); Urt v 14.1.2014, Rs 171/13 – Demirci; Urt v 21.12.2016, Rs 508/15 – Ucar; Urt v 12.4.2016, Rs 561/14 – Caner Genc; Urt v 29.3.2017, Rs C-652/15 – Tekdemir, und Urt v 3.10.2019, Rs C-70/18 – A. ua (jeweils zur Rechtfertigung neuer Beschränkungen). Vgl zur Familienzusammenführung Art 7 ARB 1/80; dazu EuGH, Rs 35/98, Slg 2000, I-487 ff – Ergat; Rs C-65/98, Slg 2000, I-4747 ff – Eyüp. Näher dazu Weerth in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV/GRCh, 6. Aufl 2012, Art 45 AEUV Rn 19 ff; Akyürek Das Assoziationsabkommen EWG-Türkei, 2005, S 47 ff; Can Das Assoziationsverhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei, 2002, S 146 ff; Breidenbach Die Auswirkungen des Assoziationsrechts EG/Türkei auf das deutsche Arbeitsgenehmigungsrecht, 2001, 151 ff; Kurzidem, ZAR 2010, 121 ff; Hailbronner, ZAR 2011, 322 ff; zur Berechnung der Beschäftigungszeit Welte, ZAR 2010, 53 ff. Art 10 IARB 1/80 beinhaltet ein Diskriminierungsverbot für Arbeitsbedingungen, EuGH, Rs C-171/01, Slg 2003, I-4301 ff – Wählergruppe. 145 Zuletzt EuGH, Urt v 15.5.2019, Rs C-677/17 – Çoban. 146 EuGH, Rs C-408/98, Slg 1999, I-2685, Rn 48 ff – Sürül; Rs C-373/02, Slg 2004, I-3605, Rn 37 ff – Öztürk; Hailbronner (Fn 126) Abschn D 5.3.
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Die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den westlichen Balkanländern147 enthalten kein Freizügigkeitsrecht für unselbständig Tätige. Unmittelbar anwendbar sind aber die in ihnen vorgesehenen Diskriminierungsverbote, die eine Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen vorsehen.148 35 Verloren gehen Freizügigkeitsrechte beim Austritt eines Mitgliedstaats aus der EU nach Art 50 EUV. Zu welchem Zeitpunkt das der Fall ist, richtet sich nach Art 50 III AEUV: Entscheidend ist entweder das Inkraftreten eines Austrittsabkommens oder der Ablauf von zwei Jahren nach der Austrittsmitteilung. Mit der Unanwendbarkeit der Verträge endet nicht nur die Bindung an das Primärrecht, sondern grundsätzlich auch die Wirkung des Sekundärrechts im Verhältnis zu dem austretenden Mitgliedstaat und dessen Staatsangehörigen. Im Fall des Brexit149 galten die vollen Rechte aller Betroffenen nach den Art 13 ff des Austrittsabkommens150 bis zum Ablauf des 31.12.2020 (Art 126 des Austrittsabkommens) fort. Praktisch in letzter Minute wurde durch das am 31.12.2020 geschlossene Handels- und Kooperationsabkommen151 verhindert, dass nach Ablauf der Übergangszeit ein vertragloser Zustand eintrat. Dieses Abkommen regelt nun die Rechte der britischen Staatsangehörigen in der EU und die der Unionsbürger im VK,152 ohne ein allgemeines Freizügigkeitsrecht für Arbeitnehmer vorzusehen. Im Rahmen der Bestimmungen zu „Einreise und vorübergehender Aufenthalt natürlicher Personen zu Geschäftszwecken“ (Teil 2, Teilbereich 1, Titel II, Kapitel 4 = Servin.4)153 sind mit Bezug auf eine unselbständige Erwerbstätigkeit nur Vorschriften über „unternehmensintern
147 Mazedonien ABl 2004 Nr L 084/13, Kroatien ABl 2005 Nr L 026/3, Albanien ABl 2009 Nr L 107/166, Montenegro 2010 ABl L 108/1, Serbien ABl 2013 Nr L 278 und Bosnien-Herzeogowina ABl 2015 Nr L 164. Vgl zum Ganzen https://trade.ec.europa.eu/access-to-markets/en/content/western-balkans; Priebe, EuZW 2020, 549 ff. 148 Vgl Art 44 I SAA mit Mazedonien, Art 46 I SAA mit Albanien und Art 49 I SAA mit Montenegro. Entsprechendes war auch in den Europaabkommen mit den mittel- und osteuropäischen Ländern geregelt mit der Folge (Rn 38 ff), dass die Befristung von Verträgen mit polnischen Fremdsprachenlektoren unzulässig war, vgl EuGH, Rs C-162/00, Slg 2002, I-1049 ff – Nordrhein-Westfalen. 149 Zu möglichen Auswirkungen des Brexit auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Stellung der Arbeitnehmer Davies E.L. Rev 41 (2016), 925 ff. 150 Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl 2019 Nr C 384 I/1. 151 Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits, ABl 2020 Nr L 444/14. 152 Zur Koordinierung der sozialen Sicherheit (für zunächst 15 Jahre) Teil 2, Teilbereich 4 des Abkommens mit eigenem Protokoll. 153 Zur Visumfreiheit für Kurzaufenthalte Art VSTV.1 (Teil 2, Teilbereich 4 des Abkommens); zu ausländerrechtlichen Verfahren Anhang Servin-5, zur Anerkennug von Berufsqualifikationen Anhang Servin-6.
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transferierte Personen“ vorgesehen, die entsandte und vorübergehend versetzte Arbeitnehmer betreffen.154 Lösung Fall 2: M ist Arbeitnehmerin. Dass sie mit dem Alleingesellschafter verheiratet ist, spielt keine Rolle, solange sie tatsächlich weisungsgebunden tätig wird (Rn 9). T ist zwar nicht Arbeitnehmerin, kann sich aber als Familienangehörige selbst auf Art 7 II VO 492/2011 berufen, obwohl dort die Angehörigen als Berechtigte nicht ausdrücklich genannt sind (Rn 29). Die Voraussetzungen der Angehörigeneigenschaft erfüllt sie problemlos. Ferner fällt die Studienbeihilfe unter den sehr weitgefassten Begriff der sozialen Vergünstigung (Rn 23 ff). Fraglich ist nur, ob die Leistungsgewährung deshalb ausgeschlossen ist, weil M Grenzarbeitnehmerin ist. Denn in der vorliegenden Konstellation, so wendeten die niederländischen Behörden ein, bestehe keinerlei Zusammenhang zum Zweck des Art 7 II VO 492/2011: Dieser sei es, die Mobilität der Arbeitnehmer und die Integration des Wanderarbeitnehmers und seiner Familie im Aufnahmeland zu erleichtern. Der EuGH ist dem nicht gefolgt: Art 7 II VO 492/2011 gelte ohne Einschränkung auch für Grenzarbeitnehmer. Sinn der Bestimmung sei es, vor Diskriminierungen zu schützen. Die Studienfinanzierung müsse deshalb den Kindern von Wanderarbeitnehmern unter denselben Voraussetzungen gewährt werden, die für Kinder inländischer Arbeitnehmer gelten. Ein zusätzliches Wohnorterfordernis verstößt deshalb gegen Unionsrecht.155
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4. Konkurrenzen Die Abgrenzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber der Niederlassungs- und 37 Dienstleistungsfreiheit (→ hierzu auch Tietje § 15 Rn 19 ff; Pache § 16 Rn 106 ff) erfolgt nach dem Kriterium der Selbständigkeit bzw Unselbständigkeit der Tätigkeit: Arbeitnehmer sind weisungsgebunden tätig (Rn 6 ff). In Einzelfällen kann die Unterscheidung schwierig sein;156 wegen der sich stark ähnelnden Gehalte der Grundfreiheiten legt der EuGH darauf nicht immer besonderes Gewicht.157 Eine Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die Dauer der Erwerbstätigkeit. Werden Arbeitnehmer vorübergehend für ihre Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat tätig, also
154 Vgl Art Servin.4.1. Nr 5 lit d, Art Servin.4.2 und Art 2 Anhang Servin-5; in der Sache gelten insoweit die unionsrechtlichen Regelungen für Drittstaatsangehörige. 155 Allerdings lässt der EuGH als Rechtfertigungsgrund die „Verbundenheit“ mit dem fördernden Mitgliedstaat zu, vgl dazu und zu einer Mindestbeschäftigungsdauer EuGH, Urt v 10.7.2019, Rs C410/18 – Aubriet, Rn 34 ff. 156 Zur Verwendung der für den AEUV geltenden Kriterien EuGH, Rs C-268/99, Slg 2001, I-8615 ff – Jany = JK 2002, EGV Art 43/2. 157 Vgl etwa EuGH, Urt v 19.9.2019, Rs C-544/18 – Dakneviciute, Rn 31; zur Unterscheidung im Bereich der VO 883/2004 (Fn 17) EuGH, Rs C-178/97, Slg 2000, I-2005 ff – Banks.
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entsandt (vgl Rn 19), so stellen etwaige Erschwernisse für deren Tätigkeit Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit des Unternehmers dar, die uU auch zum Schutz der Arbeitnehmer gerechtfertigt sein können.158 In diesen Fällen zieht der EuGH die Arbeitnehmerfreizügigkeit als (zusätzlichen) Prüfungsmaßstab nicht heran, obwohl, wie insbesondere der Fall der Grenzarbeitnehmer zeigt, Eingliederung in den Beschäftigungsstaat nicht Voraussetzung der Arbeitnehmereigenschaft ist.
II. Beeinträchtigung Fall 3: (EuGH, Rs C‑399/09, Slg 1999, I-345 ff – Terhoeve) Der niederländische Staatsangehörige T arbeitete in den ersten zehn Monaten des Jahres 1990 im Vereinigten Königreich, dann in den Niederlanden. Er war während der ganzen Zeit in der niederländischen Sozialversicherung pflichtversichert. Die dafür abzuführenden Beiträge wurden zusammen mit der Einkommenssteuer erhoben, und zwar maximal bis zu einer Höhe von 9300 Gulden. Da T in zwei Ländern gearbeitet hatte, musste er nach den geltenden Vorschriften für 1990 zweimal steuerlich veranlagt werden, wobei die sozialversicherungsrechtliche Bemessungsgrenze jeweils gesondert galt. Auf diese Weise sollte er für die Zeit seiner Berufstätigkeit im Ausland bereits 9300 Gulden, für die Zeit der Berufstätigkeit im Inland weitere 1400 Gulden an Sozialversicherungsbeiträgen zahlen. T fühlt sich durch die Erhebungsmodalitäten in seinem Recht auf Freizügigkeit verletzt. Die niederländischen Behörden entgegnen, T könne sich nicht auf das Unionsrecht berufen, da er in seinem Heimatstaat wohne, dort sozialversichert sei und dort besteuert werde. Zudem würden die Veranlagungsbestimmungen für alle in den Niederlanden Sozialversicherten gleichermaßen gelten. Im Übrigen falle das Recht der sozialen Sicherheit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Diese dürften deshalb auch das Verfahren der Beitragserhebung regeln.
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1. Diskriminierungen 39 a) Offene oder unmittelbare Diskriminierungen knüpfen an die Staatsangehörig-
keit an. Sie stellen die stärkste Form des Eingriffs dar und können deshalb nach der überw Meinung nur dann zulässig sein, wenn sie durch geschriebene Rechtfertigungsgründe gestattet werden (dazu Rn 47 ff und → Ehlers/Germelmann § 12 Rn 115). Ihr Verbot wird in Art 45 II AEUV ausdrücklich normiert und ergibt sich ansonsten
158 EuGH, C-113/89, Slg 1990, I-1417 ff – Rush Portuguesa; Rs C-43/93, Slg 1994, I-3803 ff – Vander Elst; verb Rs C-369/96 u 373/96, Slg 1999, I-8453 ff – Arblade; Rs C-49/89 ua, Slg 2001, I-7831 ff – Finalarte; Slg 2002, I-787 ff – Portugaia Construções = JK 2002, EGV Art 49 ff/5. Zum Ausgleich der Interessen wurde die EntsendeRL 96/71 v 16.12.1996, ABl 1997 L 18/1, erlassen, die nach langen Debatten durch RL 2018/ 957 v 28.6.2018, ABl L 173/16, reformiert worden ist. Der EuGH hat diese Reform abgesegnet, Urt v 8.12.2020, Rs C-620/18 – Ungarn/EP und Rat, sowie Rs C-626/18 – Polen/EP und Rat.
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aus Sekundärrecht. Sie kommen mittlerweile relativ selten vor, weil die Mitgliedstaaten staatsangehörigkeitsbezogene Ungleichbehandlungen in ihren Rechtsordnungen weitgehend beseitigt haben. Dass dies eine gewisse Zeit gedauert hat und einzelne formale Diskriminierungen bis heute fortbestehen, ist angesichts der Vielfalt der relevanten Vorschriften, etwa auch des Steuer- und Sozialrechts, sowie der langen Zeit gerade im Hinblick auf das Ausländerrecht betonten nationalen Souveränität einerseits verständlich, andererseits aber, angesichts des Standes der europäischen Integration und der Bemühungen um Schaffung eines Binnenmarktes auch für Personen, inakzeptabel. Dass sie überhaupt noch anzutreffen sind, beruht auf verschiedenen Gründen. Zum Teil war die Anwendbarkeit unionsrechtlicher Vorgaben für bestimmte Rechtspositionen nicht hinreichend geklärt159 oder es wurden bestimmte Tätigkeiten für besonders empfindlich gehalten.160 Zum Teil existieren nach wie vor einige erst auf den zweiten Blick erkennbare Diskriminierungen, die offensichtlich in Randbereichen dem Schutz der dort Tätigen dienen. So betrifft eine der letzten (in einem Vertragsverletzungsverfahren getroffenen) Entscheidungen des EuGH zu einer offenen Diskriminierung im Anwendungsbereich des Art 45 AEUV eine Vorschrift, nach der die Berufsausübung von Zahnärzten eine Eintragung bei der Zahnärztekammer und diese wiederum den Wohnsitz im Kammerbezirk vorsah.161 Bei Wohnsitzverlagerung in andere Mitgliedstaaten hatten jedoch nur die eigenen Staatsangehörigen einen Anspruch auf Beibehaltung der Kammerzugehörigkeit.162 Im Ergebnis half der Beklagten auch der Einwand wenig, die Rechtslage sei mittlerweile so unklar, dass die diskriminierenden Vorschriften in der Praxis gar keine Anwendung mehr fänden.163 b) Sehr viel häufiger als offene sind mittelbare Diskriminierungen in Vor- 40 schriften des Berufs-, Arbeits- oder Sozialrechts, weil diese herkömmlicherweise oft durch eine territoriale Ausrichtung geprägt sind. Dass eine Diskriminierung vor-
159 So etwa die Anwendbarkeit der Koordinierungsvorschriften auf das deutsche Erziehungsgeld, vgl dazu Eichenhofer SGb 1997, 449 ff; Becker SGb 1998, 553 ff; Trinkl Die gemeinschaftsrechtliche Koordinierung deutscher Familienleistungen, 2001. Die entsprechende Grundsatzentscheidung des EuGH (verb Rs C-245/94 u C-312/94, Slg 1996, I-4895, Rn 20 f – Hoever u Zachow) ist nur sehr zögerlich und erst spät in das geltende Recht eingearbeitet worden. Ähnlich die Versagung von Studienbeihilfen für das Auslandsstudium, EuGH, Rs C-434/03, Slg 1990, I-4185 ff – Di Leo. 160 Vgl etwa zur Tätigkeit bei privaten Sicherheitsdiensten EuGH, Slg 1998, I-6717 ff – Kommission/ Spanien; zu Arbeitsplätzen in der Schifffahrt EuGH, Rs C-205/03 P, Slg 1993, I-6295 ff – Kommission/ Belgien; zur Wählbarkeit in Berufskammern EuGH, Rs C-213/90, Slg 1991, I-3507 ff – ASTI. 161 Was bereits eine Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit darstellt, vgl nachfolgend. 162 EuGH, Rs C-117/01, Slg 2001, I-541 ff – Kommission/Italien; vgl auch Rs C-465/01, Slg 2004, I-8291 ff – Kommission/Österreich. 163 Weil die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung des Unionsrechts die Schaffung einer klaren Rechtslage fordert.
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liegt, wenn eine Bestimmung zwar nicht formal, aber faktisch „im wesentlichen“, „ganz überwiegend“ oder „ihrem Wesen nach eher“ fremde Staatsangehörige betrifft und damit eigene Staatsangehörige im Ergebnis begünstigt, hat der EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit bereits früh festgestellt,164 ohne in seiner Rechtsprechung den genauen Maßstab für das unterschiedliche Betroffensein zu präzisieren165 oder je nach erkennbarer Finalität zu unterscheiden.166 Mittelbare Diskriminierungen können, da sie nicht an der Staatsangehörigkeit ansetzen, sachliche Gründe haben und deshalb nicht nur durch die geschriebenen, sondern auch durch die ungeschriebenen Schranken gerechtfertigt werden167 (Rn 49 ff). In diesem Rahmen müssen sie sich insbesondere auch als verhältnismäßig erweisen (Rn 56 ff). 41 Im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit beruhen mittelbare Diskriminierungen zumeist auf Vorschriften, die den Nachweis bestimmter beruflicher Qualifikationen,168 den Nachweis von Sprachkenntnissen,169 einen Wohnsitz im Inland170 oder die Zurücklegung inländischer Zeiten171 erfordern. Solche Anforderungen sind nur mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn sie objektiv schützenswerten Rechtsgütern
164 EuGH, Rs 152/73, Slg 1974, 153, Rn 11 ff – Sotgiu; Rs 1/78, Slg 1978, 1489, Rn 16 ff – Kenny. 165 Vgl zu den oben wiedergegebenen Umschreibungen: EuGH, Rs 41/84, Slg 1986, 1, Rn 24 ff – Pinna; Rs C-279/89, Slg 1992, I-5785, Rn 42 ff – Kommission/Vereinigtes Königreich; Rs C-237/94, Slg 1996, I2617, Rn 20 ff – O’Flynn. In neuerer Zeit stellt der EuGH auf das „Wesen“ ab, also darauf, ob sich nationale Vorschriften „ihrem Wesen nach stärker auf Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, als auf inländische Arbeitnehmer auswirken“ können, EuGH, Urt v 8.12.2022, Rs C-731/21 – Caisse nationale d’assurance pension, Rn 32. 166 Insbesondere werden die Begriffe der mittelbaren, verdeckten oder verschleierten Diskriminierung nebeneinander und ohne erkennbares Konzept verwendet. Sinnvollerweise fungiert die mittelbare Diskriminierung als Oberbegriff, Verdecken oder Verschleiern setzt ein zusätzliches finales Element voraus. Ob diese Unterscheidung von Bedeutung für die Grundfreiheitsprüfung sein sollte, ist eine andere und eher zu verneinende Frage. 167 Das ergibt sich aus der Rspr mit ausreichender Eindeutigkeit, wenn auch nicht immer ganz klar ist, welche Ausführungen sich auf die Prüfung des Eingriffs und welche sich auf jene der Rechtfertigungsgründe beziehen; → vgl Ehlers/Germelmann § 12 Rn 127. 168 Vgl etwa EuGH, Rs C-234/97, Slg 1999, I-4773, Rn 28 ff – Fernández de Bobadilla; Rs C-108/96, Slg 2001, I-837, Rn 23 ff – Mac Quen. Zur Tätigkeit von Rechtsanwälten EuGH, Urt v 7.5.2019, Rs C-431/17 – Monachos Eirinaios (Ausschluss von Mönchen); Urt v 17.12.2020, Rs C-218/19 – Onofrei. Vgl auch die Berufsqualifikations-RL (Fn 28) und dazu EuGH, Urt v 6.12.2018, Rs C-675/17 – Preindl. 169 Vgl nur EuGH, Rs 379/87, Slg 1989, 3967, Rn 23 ff – Groener; Urt v 5.2.2015, Rs C-317/14 – Kommission/Belgien; Urt v 11.7.2019, Rs C-716/17 – A (Entschuldungsverfahren). 170 EuGH, Rs C-15/96, Slg 1998, I-47, Rn 21 ff – Schöning; Rs C-350/96, Slg 1998, I-2521, Rn 30 ff – Clean Car. 171 Vgl etwa zur Nichtanrechnung ausländischer Beschäftigungszeiten EuGH, Urt v 23.4.2020, Rs C710/18 – Land Niedersachsen, Rn 19 ff, allerdings mit der Prüfung einer Beschränkung; zur parallelen Prüfung von Beschränkung und mittelbarer Diskriminierung EuGH, Urt v. 28.4.2022, Rs C-86/21 – Gerencia Regional de Salud de Castilla y León, Rn 22 ff.
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dienen (Rn 51 ff) und verhältnismäßig sind (Rn 54 ff). Aber auch andere Ungleichbehandlungen können überwiegend ausländische Arbeitnehmer treffen. So sind Belastungen mit Abgaben verboten, die allgemein erhoben werden, aber (nur) für Wanderarbeitnehmer ohne Gegenleistung bleiben.172 Ein weiterer, bereits mehrfach entschiedener Beispielsfall ist die Befristung von Verträgen für Fremdsprachenlektoren, wenn Verträge für andere Universitätsbedienstete nicht ebenfalls regelmäßig nur auf Zeit abgeschlossen werden.173 Für entsprechende Sonderbehandlungen sind zumeist keinerlei Rechtfertigungsgründe ersichtlich. Der EuGH hält als Konsequenz auch ein auf soziale Vergünstigungen (Rn 23 ff) bezogenes Wohnsitzerfordernis für mittelbar diskriminierend;174 dieser Ansatz zwingt etwa zur Überprüfung von Beschränkungen, die auf eine vorhergehende Verbindung zum Aufenthaltsstaat abstellen,175 und in den Fällen, in denen sich aus der Funktion der Vergünstigung kein objektiver Grund für eine territoriale Begrenzung ergibt, zu einem Leistungsexport.176 Abgelehnt hat er eine diskriminierende Wirkung hingegen in einem Fall, in dem die Möglichkeiten zur Mitwirkung an der Arbeitnehmervertretung der inländischen Muttergesellschaft bei einem Wechsel von Arbeitnehmern in eine ausländische Tochtergesellschaft beschränkt worden waren,177 ferner etwa bei der nicht diskriminierenden Anrechnung von Beschäftigungszeiten auf Vergünstigungen oder Eingruppierungen.178 Gemäß der Rspr des EuGH führt ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot 42 dazu, dass zugunsten der benachteiligten Wanderarbeitnehmer die Regelungen gel
172 Vgl EuGH, verb Rs C-22/08 u C-23/08, Slg 2000, I-4585 ff – Sehrer; Rs C-162/00, Slg 2000, I-1049 ff – Kommission/Frankreich; der EuGH greift allerdings ohne nähere Prüfung auf das Beschränkungsverbot zurück; vgl in Bezug auf die steuerliche Behandlung auch Rs C-400/02, Slg 2004, I-8471, Rn 23 ff – Merida; Urt v 14.3.2019, Rs C-174/18 – Jacob u Lennertz. 173 EuGH, Rs 33/88, Slg 1989, 1591 ff – Allué I; verb Rs C-331/91 u C-332/91, Slg 1993, I-4309 ff – Allué II; mittelbar diskriminierend sind auch andere arbeitsrechtliche Schlechterstellungen der Lektoren, vgl EuGH, Rs C-212/99, Slg 2001, I-4923 ff – Kommission/Italien, siehe auch Rs 42/80, Slg 2008, I-3635, Rn 17 ff – Delay. 174 EuGH, Rs C-57/99, Slg 1997, I-6689, Rn 43 ff – Meints; vgl auch Rs C-160/96, Slg 2004, I-6483 ff – Barth. 175 Zuletzt EuGH, Urt v 10.7.2019, Rs C-410/18 – Aubriet. 176 Vgl in diesem Zusammenhang zum Bestattungsgeld EuGH, C-237/94, Slg 1996, I-2617 ff – O’Flynn. 177 EuGH, Urt v 18.7.2017, Rs C-566/15 – Erzberger. Dazu und dem Erfordernis eines grenzüberschreitenden Vorgangs Heuschmid/Ulber, NZG 2016, 102 ff. 178 Selbst wenn von den Vergünstigungen vor allem die eigenen Staatsangehörigen profitieren, weil dieser Umstand allein nicht für eine Ungleichbehandlung spricht, vgl dazu EuGH, Urt v 13.3.2019, Rs C-437/17 – Gemeinsamer Betriebsrat EurothermenResort Bad Schallerbach, Rn 16 ff; Urt v 10.10.2019, Rs C-703/17 – Krah, Rn 21 ff. Vgl aber zu diskriminierenden Nichtanrechnungen oben Fn 171.
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ten, die für die übrigen Betroffenen vorgesehen sind; anders als im deutschen Verfassungsrecht kann die Feststellung einer Ungleichbehandlung damit im Ergebnis unmittelbar zur Gewährung von Vergünstigungen führen.179
2. Beschränkungen 43 a) Ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit wie die Warenverkehrsfreiheit ebenfalls ein
Beschränkungsverbot enthält, dh alle Behinderungen unabhängig von dem Vorliegen einer Diskriminierung als Eingriffe anzusehen sind, war lange Zeit fraglich und ist auch heute nicht ganz unumstritten. Das beruht im Wesentlichen auf zwei Gründen: zunächst auf der allgemeinen Schwierigkeit, mittelbare Diskriminierungen und Beschränkungen voneinander abzugrenzen.180 Jedoch besteht zwischen beiden Eingriffsformen zumindest theoretisch ein wesentlicher Unterschied, der eine kategoriale Unterscheidung erlaubt: Für Beschränkungen kommt es auf einen Vergleich mit der Behandlung von anderen Personen gerade nicht an. Ein weiterer, spezifisch auf Art 45 AEUV bezogener Einwand ist der, dass die Vorschrift die geschützten Rechte im Einzelnen umschreibt, es eines allgemeinen Beschränkungsverbots also schon deshalb nicht bedürfe. Demgegenüber ist auf die Konkretisierungsfunktion der Abs 2 und 3 und die allgemeine, umfassend zu schützende Freizügigkeitsgarantie in Abs 1 hinzuweisen (Rn 19 ff). 44 Spätestens nach der berühmten Bosman-Entscheidung ist der Standpunkt des EuGH klar geworden, der Art 45 AEUV mit allgemeinen Erwägungen als Beschränkungsverbot auslegt. Das kommt in der Formel zum Ausdruck, „dass sämtliche Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung von beruflichen Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern sollen und solchen Maßnahmen entgegenstehen, die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen.“181 Anders formuliert, steht Art 45 AEUV auch den Maßnahmen entgegen, die „geeignet sind, die Ausübung der durch den
179 Vgl EuGH, Rs C-15/96, Slg 1998, I-47, Rn 33 ff – Schöning; Rs C-18/95, Slg 1999, I-345, Rn 57 ff – Terhoeve; → vgl auch Ehlers/Germelmann § 12 Rn 36. 180 Der EuGH selbst unterscheidet – seinem allgemeinen Begründungsstil entsprechend – nicht eindeutig, greift vielmehr auf seine eigenen Ansätze für die Entwicklung eines Beschränkungsverbots des Öfteren auch dann zurück, wenn es um eine mittelbare Diskriminierung geht, vgl nur EuGH, verb Rs C-22/08 u C-23/08, Slg 2000, I-4585, Rn 32, 34 – Sehrer, und für den umgekehrten Rückgriff auf eine mittelbare Diskriminierung Urt v 23.1.2019, Rs C-272/17 – Zyla. 181 EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 94 ff – Bosman; vgl zuvor bereits C-19/92, Slg 1993, I-1663, Rn 32 ff – Kraus = JK 94, EWGV Art 48/2; vgl a Rs C-285/01, Slg 2003, I-8219, Rn 95 ff – Burbaud.
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Vertrag garantierten Grundfreiheiten durch die Unionsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen“.182 b) Wie bei anderen Beschränkungsverboten bleibt das Problem, angesichts der 45 Vielfalt möglicher Eingriffe eine Eingrenzung noch oberhalb der Rechtfertigungsebene zu versuchen. Insbesondere wenn bedacht wird, dass auch mittelbar und potentiell wirkende Maßnahmen Eingriffscharakter aufweisen können, erscheint es fraglich, ob auch jede nur entfernt mittelbar wirkende Beeinträchtigung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auslösen soll.183 Einen möglichen Ansatz zur Differenzierung könnte zwar nicht die Forderung einer spürbaren Wirkung, aber eine Übertragung der sog Keck-Rechtsprechung184 auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit bieten. Dabei ist allerdings eine formale Unterscheidung zwischen Berufszulassungs- und Berufsausübungsregelungen wenig weiterführend.185 Denn es muss, dem Sinn der Keck-Entscheidung entsprechend,186 entscheidend sein, ob die Maßnahme einen Zusammenhang zur grenzüberschreitenden Aufnahme und Ausübung der unselbständigen Erwerbstätigkeit, also dem Zugang zur Beschäftigung, aufweist.187 Klar ist das bei Einreiseverboten.188 Im Übrigen kommt es darauf an, ob Maßnahmen in den Worten des EuGH geeignet sind, „einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran zu hindern oder davon abzuhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen“189. Erst dann besteht ein Rechtfertigungsbedarf. Umgekehrt fehlt nach Ansicht des EuGH – auch insoweit in
182 Zuletzt EuGH, Urt v 11.2.2021, Rs C-407/19 – Katoen Natie Bulk Terminals und General Services Antwerp, Rn 82. Relevant werden kann das nicht zuletzt im Hinblick auf die Ausreisefreiheit; vgl dazu EuGH, Urt v 13.7.2016, Rs C-187/15; BVerwG, Urt v 4.5.2022, 2 C 3.21; dazu Knorr, DÖV 2023, 284 ff. 183 Das Problem ist aus der Grundrechtsdogmatik wohl bekannt, vgl nur Kingreen/Poscher Grundrechte, 38. Aufl 2022, Rn 285 ff. 184 EuGH, Slg 1993, I-6097 ff – Keck. 185 Vgl aber auch Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, 90 ff. 186 Näher dazu Becker, EuR 1994, 162 ff. 187 Zur Bedeutung des Marktzugangskriteriums auch nach der neueren Rspr Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 AEUV Rn 47 ff; im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch Dietz/ Streinz, EuR 2015, 50 (54 f). 188 Die in Zeiten der Pandemie eine Rolle spielten und spielen; vgl dazu Empfehlung 2020/1475 v 13.10.2020, ABl L 337/3. Ebenfalls beschränkend wirken im Schengen-Raum Grenzkontrollen; diese sind nach dem Schengener Grenzkodex (VO 2016/399 v 9.3.2016, ABl Nr L 77/1) verboten (Art 22 VO 2016/399) und nur in Ausnahmefällen (Art 25 und 29 VO 2016/399) und unter Beachtung bestimmter Verfahrensvorschriften zulässig. 189 EuGH, Rs C-190/98, Slg 2000, I-493, Rn 23 ff – Graf; zu dem Zusammenhang (bezogen auf den Verlust von Vergünstigungen der sozialen Sicherheit) bereits Rs C-60/90, Slg 1991, I-1119, Rn 18 ff – Masgio.
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Parallele zur Warenverkehrsfreiheit190 – allen „ungewiss und indirekt“ wirkenden Beeinträchtigungen der Eingriffscharakter.191 Das gilt etwa für einen Abfertigungsanspruch (= Abfindungsanspruch) nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, der Arbeitnehmern dann nicht zustand, wenn sie selbst gekündigt hatten. Ähnlich liegen die Dinge bei einer Erhöhung des Urlaubsanspruchs nach langjähriger Tätigkeit,192 während die Nichtanrechnung von Beschäftigungszeiten für die Berechnung der Vergütung jedenfalls dann beschränkende Wirkung haben soll, wenn es um gleichgestellte Tätigkeiten geht.193 Nicht nur dem Ergebnis, sondern ebenso dem auf den Zugang abstellenden Begründungsansatz ist zuzustimmen, wenn es auch eines klareren Abgrenzungskriteriums bedürfte, um Rechtssicherheit zu gewährleisten.194
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Lösung Fall 3: Dass T Arbeitnehmer ist, unterliegt keinen Zweifeln. Fraglich ist die Anwendbarkeit des Art 45 AEUV nur unter dem Gesichtspunkt des grenzüberschreitenden Sachverhalts. Dafür genügt die Grenzüberschreitung durch T, nicht aber ist erforderlich, dass der Eingriff durch einen anderen Staat als den Heimatstaat erfolgt, und ebenso wenig spielt der aktuelle Wohnort des T eine Rolle. Art 45 AEUV soll nach der Rspr des EuGH „den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung jeder Art von Berufstätigkeit im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern“ und steht deshalb Maßnahmen entgegen, „die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen.“ Er umfasst auch das Recht, das Herkunftsland zu verlassen, um sich zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten. Der EuGH stellt fest: „Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden“. Dementsprechend kommt es nicht darauf an, ob die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge offen oder versteckt diskriminierend geschieht. Auch spielt es keine Rolle, dass die zugrundeliegenden Vorschriften einer Materie angehören, für deren Regelung die Mitgliedstaaten zuständig sind. Denn die Zuständigkeitsverteilung schränkt den Anwendungsbereich des Art 45 AEUV nicht ein. Da T nur wegen der Auslandsbeschäftigung mehr Sozialversicherungsbei-
190 Vgl nur Becker in: Schwarze, EU-Komm, Art 34 AEUV Rn 41; nicht zutreffend ist die Kritik insofern, als behauptet wird, der Ansatz stamme aus der Zeit „vor (…) Keck“, so aber Forsthoff/Eisendle in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 216. 191 EuGH, Rs C-190/98, Slg 2000, I-493, Rn 25 ff – Graf. 192 EuGH, Urt v 13.3.2019, Rs C-437/17 – Gemeinsamer Betriebsrat EurothermenResort Bad Schallerbach, Rn 40. 193 Im Unterschied zu nur „nützlichen“ Tätigkeiten, vgl EuGH, Urt v 10.10.2019, Rs C-703/17 – Krah, Rn 51; Urt v 23.4.2020, Rs C-710/18 – Land Niedersachsen, Rn 26 ff. 194 Im Schrifttum überwiegt eher die Kritik, die insofern berechtigt ist, als mit einfachen Formeln eine klare Abgrenzung nicht gelingen kann, vgl nur Forsthoff/Eisendle in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 216 ff.; Gundel, ZESAR 2023, 151 (157).
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§ 14 Arbeitnehmerfreizügigkeit
träge zahlen muss, als wenn er im ganzen Jahr im Inland geblieben wäre, dem höheren Beitrag also auch keine höheren Leistungen gegenüberstehen, liegt ein Eingriff in die Arbeitnehmerfreizügigkeit vor. Er lässt sich im Übrigen auch nicht durch den Hinweis auf die Praktikabilität der Verwaltung rechtfertigen. Anwendbar sind auch für T die für alle anderen, ganzjährig im Inland sozialversicherten Personen geltenden Vorschriften (insofern entspricht das Ergebnis dem eines Gleichheitsverstoßes, vgl Rn 40).
3. Adressaten Die Frage, wer Adressat der Grundfreiheiten ist, also durch diese gebunden wird, 47 gehört zur allgemeinen Grundfreiheitsdogmatik: Sie lässt sich sinnvollerweise nur für alle Grundfreiheiten einheitlich beantworten, weil das durch sie aufgeworfene Problem die Auslegung aller Freiheitsrechte berührt. Ihre Beantwortung hängt nämlich wesentlich von der Funktion dieser Rechte und deren Bedeutung für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten ab. Insofern kann auf die allgemeinen Ausführungen verwiesen werden (→ Ehlers/Germelmann § 12 Rn 73 ff). Weil aber wichtige Entscheidungen des EuGH zur Drittwirkung von Grundfrei- 48 heiten gerade zu Art 45 AEUV ergangen sind,195 soll daran an dieser Stelle zumindest kurz erinnert werden. Ausgehend von dem Urteil in der Rs Walrave hat der EuGH mehrfach betont, dass auch Eingriffe durch „kollektive Regelungen im Arbeits- und Dienstleistungsbereich“ durch Art 45 AEUV verboten sein können.196 Während diese Rechtsprechung wohl noch durch die Einräumung von Regelungsmacht gegenüber Verbänden und vergleichbaren Einrichtungen zur Regelung von Beschäftigungsbedingungen erklärt werden kann, ist der EuGH in der Rs Angonese über diesen Ansatz klar hinausgegangen: Ein italienischer Staatsangehöriger hatte, weil er sein Studium in Österreich abgeschlossen hatte, eine Bescheinigung über seine Zweisprachigkeit nicht beibringen können, die von einer privaten Bank gefordert worden war und nur in der Provinz Bozen ausgestellt wurde. Dazu hat der
195 Wobei die Relevanz des Art 45 AEUV nicht aus einem angeblich gegenüber der Warenverkehrsfreiheit erhöhten Freiheitsbezug folgt: Eine solche Differenzierung nach Freiheitsgehalten ist wenig sinnvoll. Wesentliche Bedeutung haben aber Besonderheiten der von der Norm erfassten Lebenssachverhalte: Arbeitsbedingungen werden wesentlich durch Tarifverträge festgelegt und Arbeitsverhältnisse spielen nicht zufällig in der Diskussion um die Drittwirkung von Grundrechten sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern (wie zB in Italien) eine besondere Rolle. Vgl auch Parpart Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003. 196 EuGH, Rs 36/74, Slg 1974, 1405, Rn 16 ff – Walrave; Rs C-415/93, Slg 1995, I-4921, Rn 84 ff – Bosman. Zu den Sportverbänden Becker FS Scholz, 2007, S 995, 1000 ff.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union
EuGH unter Bezugnahme auf die allgemeine Formulierung des Art 45 AEUV, die Bedeutung der Grundfreiheit und die möglichen Behinderungen durch Private ausgeführt, das in Art 45 AEUV ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gelte auch für Privatpersonen.197 Dahinter steht im Arbeitsverhältnis die Erkenntnis, dass Schutzrechte von Arbeitnehmern zwangsläufig Beachtung durch die Arbeitgeber verlangen.198 Umgekehrt können sich Private hinsichtlich vertraglich vorgesehener Eingriffe ebenfalls auf die anerkannten Rechtfertigungsgründe stützen.199
III. Rechtfertigung 1. Geschriebene Schranken 49 Die in Art 45 III AEUV genannten Rechte können aus „Gründen der öffentlichen
Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ beschränkt werden. Ihre Stellung scheint dafür zu sprechen, diese Rechtfertigungsgründe nicht auf das Diskriminierungsverbot in Art 45 II AEUV zu erstrecken,200 insbesondere wenn berücksichtigt wird, dass nach stRspr des EuGH Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind.201 Die besseren Argumente führen jedoch zu einem anderen Ergebnis.202 Die Freizügigkeit ist eine einheitliche Grundfreiheit (Rn 19 ff), womit unterschiedliche Rechtfertigungsmöglichkeiten je nach Ausprägung nicht vereinbar sind.203 Zudem sind die in Art 45 III AEUV ausdrücklich genannten Gründe auf alle Grundfreiheiten anwendbar,204 und
197 EuGH, Slg 2000, I-4139, Rn 30 f, 36 f – Angonese = JK 2001, EGV Art 39/1. Ob der EuGH die Drittwirkung auf das Diskriminierungsverbot beschränken wollte, bleibt fraglich. Dazu Schweitzer FS Musielak, 2004, S 523 ff. Zur horizontalen Drittwirkung der Grundfreiheiten insgesamt etwa MüllerGraf, EuR 2014, 3 ff. 198 Dazu und der unmittelbaren Bindungswirkung von sozialen Rechten Becker in FS Marhold, 2020, S 405 ff. 199 EuGH, Slg 1998, I-2521, Rn 24 ff – Clean Car. 200 So ua Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 45 AEUV Rn 99; Oppermann/Classen/Nettesheim ER § 27 Rn 45; Kreuschitz in: vd Groeben/Schwarze/Hatje, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 125. 201 Vgl nur EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 21 ff – Calfa. 202 So auch Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EU-Komm, Art 45 AEUV Rn 120 ff; Forsthoff/Eisendle in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art 45 AEUV Rn 324. 203 Als weiterer geschriebener Rechtfertigungsgrund kommt zudem Art 346 I lit b AEUV in Betracht, den man auch als besondere Ausprägung der öffentlichen Sicherheit einordnen könnte, vgl dazu zur auch dabei vorausgesetzten Verhätnismäßigkeit EuGH, Urt v 4.9.2014, Rs C-474/12 – Schiebel Aircraft GmbH, Rn 32 ff. 204 Vgl nur Streinz ER, Rn 865 ff.
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nach allgemeiner Grundfreiheitsdogmatik ist insofern nicht zwischen Beschränkungen und Diskriminierungen zu unterscheiden. Dementsprechend können Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit alle Formen von Eingriffen rechtfertigen.205 In der Praxis spielen sie aber vor allem eine Rolle, wenn es um die Beendigung des Aufenthalts, insbesondere die Ausweisung und Abschiebung von Arbeitnehmern und deren Angehörigen geht.206 Wie bereits erwähnt, sind die Rechtfertigungsgründe eng auszulegen. Es han- 50 delt sich um autonome Begriffe, für deren Ausfüllung den Mitgliedstaaten wegen des Bezugs auf nationale Interessen ein Einschätzungsspielraum zusteht. Für die öffentliche Ordnung wird „eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“, gefordert.207 Die Bezugnahme auf die äußere oder innere Sicherheit muss dem Schutz des Mitgliedstaates bzw der für erforderlich gehaltenen Einrichtungen und wichtiger öffentlicher Dienste dienen.208 Im Anwendungsbereich der Freizügigkeit ist vor allem wichtig, dass die RL 2004/38 (Fn 5) insofern