Europas Außengrenzen: Interrelationen von Raum, Geschlecht und »Rasse« 9783839447215

Europas Außengrenzen sind tödlich. Ausgehend von dieser Gegenwartsdiagnose untersuchen die Beiträger_innen des Bandes Zu

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German Pages 248 Year 2021

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Europas Außengrenzen
Eurozentrismus in der visuellen Repräsentation der Kontinente in der Frühen Neuzeit
Zentralisierung Europas
Film Europa
Homosexualität als Grenzkriterium der radikalen Rechten in Serbien
Über die Grenzen hinaus: Arbeit am EU-Gedächtnis
Das biopolitische Schisma
Dank
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Europas Außengrenzen: Interrelationen von Raum, Geschlecht und »Rasse«
 9783839447215

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Irina Gradinari, Yumin Li, Myriam Naumann (Hg.) Europas Außengrenzen

GenderCodes Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht  | Band 19

Editorial Wissenschaftliches Wissen gilt als rein, objektiv und geschlechtslos. Geschlecht hingegen wird – als Inbegriff von Subjektivität und Irrationalität – oft mit Weiblichkeit gleichgesetzt. Zugleich ist Geschlecht ein Code für jene sinnliche »Wirklichkeit«, die die Wissenschaften abzubilden versuchen. Die Transkriptionen zwischen diesen beiden Polen sind das Thema der Reihe. Warum wird der Körper des idealen Wissenschaftlers als geschlechtslos (und dennoch männlich) imaginiert? Warum werden den Wissensordnungen immer wieder Geschlechtercodes eingeschrieben – von der »Alma Mater« über das »Seminar« bis zum »penetrierenden Blick« des mikroskopischen Auges? In der Geschichte des abendländischen Wissens fand und findet ein beständiger Reinigungsprozess statt, der Geschlecht zu einer Ausschlusskategorie macht – nicht nur auf der Ebene der Wissensproduktion, sondern auch der Wissenschaftsorganisation. Zugleich verweisen die Wissenschaften auf die Sexualität zurück, indem sie etwa Anspruch auf »Potenz« und »Fruchtbarkeit« erheben. Geschlecht ist Teil der Epistemologie des Wissens, es geht in seine Produktionen und Praktiken ein, wird aber als treibende Kraft negiert. Thema der Reihe ist das Unbewusste der Wissensordnungen – die »rätselhaften« und unbenannten Dimensionen wissenschaftlicher Enthüllungen und Erkenntnisse. Dabei wird deutlich, dass die westlichen Wissenschaften des »Verschleierten« und des Rätsels bedürfen, um den eigenen Fortschritt zu sichern – ohne Geheimnis keine »Ent-Deckung«. Ob weiblich oder männlich codiert: Sexualität und Geschlecht sind die Garanten dafür, dass den Wissensordnungen ihre »dunklen Kontinente« erhalten bleiben. In der Reihe GenderCodes werden historische und gegenwärtige Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht untersucht. Die Zusammenhänge zwischen Wissen, Geschlechtercodes und Wissenschaften sollen an einzelnen Beispielen und konkreten Wissensfeldern erkundet werden. Dabei richtet sich der Blick auch auf die jeweiligen medialen Kanäle und deren materiale Widerständigkeit. Im Mittelpunkt stehen sowohl die materiellen als auch ideellen Instrumente dieser Transkriptionen sowie die epistemischen Objekte, an denen die Disziplinen ihre Wissensordnungen erproben. GenderCodes ist ein Forum für wissenschaftliche Arbeiten, die Verbindungen herstellen zwischen der Geschlechterforschung, der Geschichte des Wissens und der Wissenschaftsgeschichte. Die Reihe richtet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Disziplinen, welche die Frage nach Geschlecht und die Frage nach dem Wissen inter- oder transdisziplinär untersuchen. Publiziert werden Monographien, Anthologien und wissenschaftliche Qualifikationsschriften. Die Reihe ist international ausgerichtet, es werden deutsch- und englischsprachige Texte veröffentlicht. GenderCodes dient der Herstellung von Öffentlichkeit und wendet sich an ein Publikum, das an Geschlechterforschung und Wissenschaftsgeschichte interessiert ist.

Irina Gradinari (Jun.-Prof. Dr.) lehrt Gender Studies am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft der FernUniversität in Hagen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Geschlechterforschung, der Wechselbezug von Genre und Gender, Genre Studies, Erinnerungstheorien und -kulturen, feministische Filmtheorien, Komparatistik, Ästhetik und Politik sowie Kriegsfilme. Yumin Li ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin (HU) und Mitglied am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (HU). Grundlage ihrer aktuellen Forschung ist die Inszenierung und Wahrnehmung der amerikanisch-chinesischen Schauspielerin Anna May Wong in Europa, den USA und China. Myriam Naumann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Die Kulturwissenschaftlerin promovierte an der HU mit einer Arbeit zur Figuration von Subjekten in Stasi-Akten nach 1989.

Irina Gradinari, Yumin Li, Myriam Naumann (Hg.)

Europas Außengrenzen Interrelationen von Raum, Geschlecht und »Rasse«

Die Reihe wird herausgegeben von Christina von Braun, Claudia Bruns, Volker Hess und Inge Stephan.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Susanne Drechsel, Verena Katz Korrektorat: Silvana Dorothea Schmidt Übersetzung aus dem Englischen: Nicolas Schneider Innenlayout & Satz: Sebastian Weiß Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4721-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4721-5 https://doi.org/10.14361/9783839447215 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Europas Außengrenzen Eine Einleitung Claudia Bruns, Irina Gradinari, Yumin Li und Myriam Naumann | 7

Eurozentrismus in der visuellen Repräsentation der Kontinente in der Frühen Neuzeit Die Funktion von Gender und Konzepte von „Rasse“ Michael Wintle | 31

Zentralisierung Europas Geschlecht und Grenzwahrnehmung Muriel González Athenas | 79

Film Europa Anna May Wong als Chiffre des Fremden Yumin Li | 113

Homosexualität als Grenzkriterium der radikalen Rechten in Serbien Björn Goldstein   | 141 Über die Grenzen hinaus: Arbeit am EU-Gedächtnis „Atemschaukel“ (2009) von Her ta Müller und „Der neunte Tag“ (2004) von Volker Schlöndor ff Irina Gradinari | 183

Das biopolitische Schisma Materielle und symbolische Abgrenzungen entlang der EU-Grenzen Estela Schindel | 209

Dank | 245

Europas Außengrenzen Eine Einleitung Claudia Bruns, Irina Gradinari, Yumin Li und Myriam Naumann Die Grenzen Europas sind ebenso Produkt historisch-juridischer Prozesse wie symbolischer Differenz- und Repräsentationspraktiken. Inzwischen ist die Forschung weitgehend einig darüber, dass Grenzen weniger als fixe Größen oder rein materielle Gegebenheiten zu verstehen sind, denn als historisch wandelbare Entitäten. Sie bilden sich erst in enger Verbindung mit ihren Sinnbildern heraus, ohne die Grenzen nicht intelligibel sein können. 1 Grenzen sind auf Plausibilisierungskonzepte wie Karten, Bilder, Narrative usw. angewiesen, um als legitim zu gelten. Das gilt auch für Europas innere wie äußere Grenzen. Gegenwärtig sind vor allem die EU-Außengrenzen ein politischer Brennpunkt, der EuropaDiskurse der Vergangenheit wiederbelebt und die Außengrenzen neu justiert: Sie werden vehement befragt und dauerhaft problematisiert. Das wird beispielsweise an den Debatten rund um den Brexit oder der Durchsetzung des europäischen Grenzregimes deutlich. Das Ergebnis des Referendum on the UK’s membership of the European Union vom 23. Juni 2016 stellte die Zugehörigkeit des Vereinigten Königreichs zu Europa in Frage. Rund 51,9 % der Bürger*innen stimmten für den Brexit,2 mit dem erstmals in der Geschichte Europas ein Land offiziell aus der EU austreten möchte. Die Abstimmung forcierte vor 1 | Vgl. Henrice Altink, Chris Weedon, „Introduction“, in: Jane Aaron, Henrice Altink, Chris Weedon (Hg.), Gendering Border Studies, Cardiff 2010, S. 1–15, hier S. 13. 2 | EU referendum results, https://www.electoralcommission.org.uk/find-information-by-subject/elections-and-referendums/past-elections-and-referendums/eu-referendum/electorate-and-count-information (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019).

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allem auch eine gesellschaftliche Debatte um Migration und Staatsbürgerschaft, Race und Class.3 Mit einer Abstimmungsfrage zu Europa, die sich hier ins Nationale wendet, werden symbolische Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und Anderen markiert. Zugleich eröffnen die BrexitVerhandlungen auch topographische Fragen zur Außengrenze Europas. Diese wird je nach Verhandlungsausgang entlang der Halbinsel Gibraltar oder innerhalb von Irland neu gezogen. 4 Auch die einstige Formel von der ‚Festung Europa‘ greift angesichts der Komplexität des EU-Grenzregimes inzwischen zu kurz: Die Außengrenzen der Europäischen Union verlaufen 7400 km über Land und 57800 km über das Meer. Längst sind es nicht mehr ausschließlich Mauern und Zäune, die den illegalisierten Übertritt dieser Grenze verhindern, sondern digitale Überwachungssysteme und künstliche Intelligenz, welche die Grenze in andere Räume verlagern. Das Überwachungssystem EUROSUR vernetzt seit seiner Einführung 2013 die Zentrale von Frontex in Warschau mit den Grenzbehörden der 28 Mitgliedsstaaten. Ziel ist es dabei nicht nur, Aktivitäten des Grenzübertritts zu verhindern, sondern auch Migrationsströme prognostisch vorauszusagen. Die europäischen 3 | Gurminder K. Bhambra, „Locating Brexit in the pragmatics of race, citizenship and empire”, in: William Outhwaite (Hg.), Brexit. Sociological Responses, London/New York 2017, S. 91–99. Vgl. dazu auch die bereits 2015 in der BBC aus der Zuhörer*innenschaft geäußerte Forderung „I want my country back“ und die von der UCIP im Wahlkampf für den Brexit verwendete Parole „We want our country back“. Russell Foster, „‚I want my country back‘: Emotion and Englishness at the Brexit ballotbox“, https://www.referendumanalysis.eu/eureferendum-analysis-2016/section-8-voters/i-want-my-country-back-emotionand-englishness-at-the-brexit-ballotbox/ (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019); „UKIP leader Nigel Farage: ‚We want our country back’“, 25.09.2015, https:// www.bbc.com/news/av/uk-politics-34356165/ukip-leader-nigel-farage-wewant-our-country-back (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 4 | Für die seit 1713 zum Vereinigten Königreich gehörende Halbinsel Gibraltar werden Besitzansprüche der spanischen und britischen Regierung geltend gemacht. Bleibt Gibraltar nach dem Brexit britisches Territorium, wird die 1,2 Kilometer lange Grenze zwischen Gibraltar und Spanien zur neuen Außengrenze Europas. Darüber hinaus könnte mit dem Verbleib der Republik Irland in der EU und dem Austritt Nordirlands aus der EU die 500 Kilometer lange innerirische Grenze zur neuen Außengrenze Europas werden.

Einleitung

Geheimdienste sammeln digitale Informationen zu Möglichkeiten irregulärer Migration. Die Grenzen verlaufen somit nicht nur im geographischen Raum, sondern auch im virtuellen.5 Zugleich wird die Außengrenze in Regionen außerhalb der EU vorverlagert. Die Mitgliedsstaaten kooperieren innerhalb des EUROSUR-Programms mit Drittstaaten, um die Außengrenzen zu überwachen. EUROSUR tauscht beispielsweise Daten mit Staaten im Osten (Russland, Ukraine, Georgien und Türkei), Staaten des westlichen Balkans, Nordafrika und westafrikanischen Staaten aus. Frontex beobachtet einen sogenannten „Grenzvorbereich“, der sich auf über 500 Quadrat­kilometer ausdehnt.6 Seit 2015 kontrollieren zudem mehrere Mitgliedsstaaten (Deutschland, Österreich, Frankreich, Dänemark und Schweden) wieder ihre Binnengrenzen.7 Die eine Grenze Europas im Sinne eines eng umrissenen, physischen Grenzstreifens ist daher eine Illusion. Eine feststehende Grenze existiert nicht, sie wird in die Infrastrukturen integriert und an verschiedenen Punkten mehr oder weniger verdichtet, wie z. B. an Flughäfen. Obgleich Europas Außengrenze vor allem für Nicht5 | Satelliten und Langstreckendrohnen sollen über irreguläre Migration aufklären. Vgl. https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/borders-andvisas/border-crossing/eurosur_en (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 6 | Beispielsweise werden Daten von Migrant*innen, wie etwa Fingerabdrücke, gesammelt und unter den Sicherheitsbehörden ausgetauscht. Sogenannte „Unregelmäßigkeiten im Schiffsverhalten“, wie verlangsamte Geschwindigkeit oder ungewöhnliche Routen, werden aufgezeichnet und gemeldet. Matthias Monroy, „Der europäische Grenzgeheimdienst“, in: netzpolitik.org, 23.09.2018, https:// netzpolitik.org/2018/der-europaeische-grenzgeheimdienst/ (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). Für eine weitergehende Beschäftigung mit dem Verhältnis von Data Mining und Grenzgeheimdienst empfehlen wir die Veröffentlichungen des Aktivisten Matthias Monroy, der sich selbst als Wissensarbeiter bezeichnet, https://digit.so36.net (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 7 | Die Evaluation des EUROSUR Programms vom September 2018 informiert ausführlich über dessen Ziele und Umsetzung. European Commission, „Commission Staff Working Document. Evaluation of the Regulation (EU) No 1052/2013 of the European Parliament and of the Council of 22 October 2013 establishing the European Border Surveillance System (Eurosur)”, http://statewatch. org/news/2018/sep/eu-com-eurosur-evaluation-swd.pdf (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019).

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Europäer*innen tödliche Konsequenzen haben kann, ist weder ihr Verlauf noch ihre Wirkung einfach auszumachen. Ausgehend von dieser Gegenwartsdiagnose fragt der vorliegende Band nach der Geschichte europäischer Grenzziehungsprozesse mit ­besonderem Fokus auf deren Relationen zu R ­ ace- und Gender-Konstruktio­ nen. Die Buchbeiträge erfassen Grenzen vorrangig als Formen d ­ iskursiver Praxis und Bedeutungsproduktion, etwa in Artefakten wie Karten, Bildern, Skulpturen, Filmen oder Romanen. Entlang von Grenz­­ziehung­­ en verbreiten sich Vorstellungen von Europa, sie bestimmen aber auch ­Erfahrungen der jeweiligen Zeit und generieren Wissen. Anhand folgender kurzer Anmerkungen zur Forschungslage werden wir sehen, dass gerade die Untersuchung des Zusammenspiels territorialer Grenzen und ihrer symbolischen Bedeutungen bisher überwiegend ein Forschungsdesiderat geblieben ist.

E uropas A ussengrenzen , A nmerkungen zur F orschungsl age Grenzziehungsprozesse sind seit langem Thema der Forschung. Bereits im 19. Jahrhundert rückte die Frage nach der Herausbildung territorialer Grenzen in den Geschichts- und Politikwissenschaften, ­ aber auch in der politischen Geographie in den Fokus. Dabei konstatierten Historiker*innen im Anschluss an Lucien Febvre eine Entwicklung vom mittelalterlichen „Grenzsaum“ hin zur scharfen, Nationen trennenden „Grenzlinie“ um 1800. 8 Eine solch stringente Entwicklung zur linearen Grenzziehung wurde von späterer Forschung relativiert.9 Auch 8 | Vgl. Matthias Schmidt-Sembdner, „Grenzkontrollen als ›dauerhaftes Provisorium‹? Renationalisierungsprozesse im Schengenraum am Beispiel der Brennerroute“, in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 4.2 (2018), http://movements-journal.org/issues/07.open-call/04.schmidtsembdner--grenzkontrollen-als-dauerhaftes-provisorium.html (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 9 | Lucien Febvre, „Frontière – Wort und Bedeutung“, in: Ders.: Das Gewissen des Historikers, übers. v. Ulrich Raulff, Berlin 1988 (1928), S. 27–37. Bereits vor Febvre hatte Hans F. Helmolt von einem mittelalterlichen „Grenzsaum“ gesprochen. Hans F. Helmolt, „Die Entwickelung der Grenzlinie aus dem Grenzsaume im

Einleitung

gegenwärtige Entwicklungen eines komplexen, über Europas Außengrenzen weit hinaus reichenden „Grenzregimes“ fügen sich kaum mehr in das Konzept der „Grenzlinie“. 10 Inzwischen hat sich die Forschung zu Grenzen erheblich erweitert und differenziert. Seit den 1970er Jahren hat sich mit den anglo-amerikanischen Border Studies ein eigenes, ebenso transdisziplinäres wie transnationales Forschungsfeld institutionalisiert.

B order S tudies In den 1980er-Jahren ist im englischsprachigen Raum eine Wende zur menschliche Humangeographie 11 zu beobachten, die den Raum als ­ alten Deutschland“, in: Historisches Jahrbuch 17, München 1896, S. 235–264. Einflussreich war auch lange Zeit der Beitrag von Hans-Jürgen Karp mit ähnlicher Ausrichtung. Hans-Jürgen Karp, Grenzen in Ostmitteleuropa während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Grenzlinie aus dem Grenzsaum (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, 9), Köln u.a. 1972. 10 | Vgl. u.a. Nikolas Jaspert, „Grenzen und Grenzräume im Mittelalter: Forschungen, Konzepte und Begriffe“, in: Klaus Herbers, Nikolas Jaspert (Hg.), Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa, Berlin 2007, S. 43–70; David Griffiths, Andrew Reynolds, Sarah Semple (Hg.): Boundaries in Early Medieval Britain, Oxford 2003. 11 | Johannes Krause, Die Grenzen Europas. Von der Geburt des Territorialstaats zum europäischen Grenzregime, Frankfurt am Main 2009; TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, 2., unveränd. Aufl. Bielefeld 2007. Für aktuelle Forschungen zu Grenzregimen siehe Željka Lekic-Subašic, „The Balkans route: Media and refugee crisis in Europe“, in: Migrants, Refugees, and the Media, Routledge, 2018, S. 81–120; Peter Seeberg, „New perspectives in EU’s migration and border management: the case of Libya”, in: Videncenter Om Det Moderne Mellemøsten, 2018; Cécile Dubernet, „Who is vulnerable? A critical analysis of the public narrative of the European agency Frontex”, in: Revue européenne des migrations internationales 34.2 (2018), S. 205–227; Nina Perkowski, „Frontex and the convergence of humanitarianism, human rights and security”,

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Tätigkeit definierte. Ende der 1980er-Jahre riefen die Kultur- und ­Sozialwissenschaften den spatial turn aus, 12 der die Raumforschung auch in Deutschland in verschiedenen Disziplinen wieder rehabilitierte, nachdem diese lange unter dem Verdikt gestanden hatte, nationalsozialistischem Expansionsstreben mithilfe geopolitischer Paradigmen ­legitimierend zugearbeitet zu haben. 13 Politik- und geschichtswissenschaftliche Studien wiesen auf die Materialität des Raums hin, 14 Literaturwissenschaftler*innen auf das ­ in: Security Dialogue 49.6 (2018), S. 457–475; Paul C. Adams, „Migration maps and the performance of Europeanness”, in: Migrants, Refugees, and the Media, Routledge, 2018, S. 13–41; Michal Vít, Judit Tóth, „The Changing Dynamics of the Effective Protection of EU External Borders or/and Forced Migrants”, in: Intersections. East European Journal of Society and Politics, 4.4 (2019), S. 1. 12 | Siehe Julia Lossau, „Spatial turn, cultural turn und Kulturgeographie“, in: Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem ‚Spatial Turn‘, Bielefeld 2009, S. 29–44. 13 | Siehe Edward Soja, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London/New York 1989; Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. 14 | Das theoretische Konzept der deutschen Geopolitik wurde in der Weimarer Republik vom Geographen Karl Haushofer geprägt. Er stellte sich den Raum belebt und dynamisch vor – Annahmen, die auf das Konzept des „Lebensraumes“ des Begründers der Politischen Geographie, Friedrich Ratzel, zurückgehen: „Ganz in der Tradition Ratzels waren die Grenzen für Haushofer ausnahmslos relativ, dynamisch, räumlich und biologisch-evolutionär; sie stellten keine Linien, sondern Räume permanenter Bewegungen dar [...]. Auch für ihn war die Grenze das ‚peripherische Organ‘ des in vitalem Zustand natürlich wachsenden Staatsorganismus. Anders als Ratzel stellte Haushofer sie jedoch nicht nur als einen zweidimensionalen ‚Grenzsaum‘ vor, sondern verlieh ihr eine dritte Dimension. Nicht nur Staat beziehungsweise Volk, sondern die Grenze selbst wurde damit zu einem dreidimensionalen Körper, der die Tiefe des Bodens und die Höhe des Luftraumes einbezog.“ Thomas Müller, „Im ‚Kampfraum des Volkskörpers’. Raum und ‚Rasse’ am Beispiel des Grenzkonzepts Karl Haushofers in der Weimarer Republik“, in: Claudia Bruns (Hg.), ‚Rasse’ und Raum. Topologien zwischen Kolonial-, Geo- und Biopolitik: Geschichte, Kunst, Erinnerung, Wiesbaden 2017, S. 251–262, hier S. 253f.

Einleitung

Spannungsverhältnis von physisch-materiellen und imaginären Räumen. 15 Sigrid Weigel etwa problematisierte mit dem topographical turn Repräsentationsformen des Raums, die diesen über kulturgeschichtliche, soziale oder technische Praktiken konstituierten. 16 Letztlich vollzog die Raumforschung eine Wende zur Topologie – zu einer antisubstantiellen Analyse der Struktur eines Raums gegenüber seiner materiellen Dimension. 17 Von den deskriptiven und lokalen Analysen einzelner Staatsgrenzen wurden die Border Studies zunehmend zu einer interdisziplinären und internationalen Forschungsrichtung, die dynamische Prozesse der Grenzziehung in Zusammenhang mit der durch sie konstituierten Gesellschaft betrachtete. Die Border Studies im Sinne eines institutionalisierten Forschungsbereichs (mit eigenen Zentren und Zeitschriften) entstanden in den 1970er-Jahren in den USA. Im Jahr 1976 wurde die Association for Borderland Studies gegründet, 18 um den US-amerikanisch-mexikani­ schen Grenzraum zu analysieren. Diese Fokussierung weitete sich in den letzten Jahrzehnten weiter aus, was sich sehr gut an den Beiträgen seines ­Publikationsorgans, dem Journal of Borderland Studies, ablesen lässt. Mit der Entstehung der International Boundaries Research Unit im Jahr 1989 wurde eine der führenden Forschungseinrichtungen im Bereich der Border Studies in Europa institutionalisiert. 19 In den letzten 20 Jahren wurden weitere Forschungszentren gegründet, wie beispielsweise das Nijmegen Centre for Border Research,20 das Centre for International 15 | Siehe Rudolf Maresch, Niels Werber (Hg.), Raum – Wissen – Macht, Frankfurt am Main 2002. 16 | Siehe Horst Wenzel, „Einleitung“, in: Böhme, Hartmut (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext [DFG-Symposium 2004], Stuttgart 2005, S. 215–223. 17 | Siehe Sigrid Weigel, „Zum ‚topographical turn‘ – Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“, in: Kulturpoetik 2/2 (2002), S. 151–165. 18 |  Siehe Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007. 19 | Association for Borderlands Studies, https://absborderlands.org (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 20 | Vgl. IBRU: Centre for Borders Research, https://www.dur.ac.uk/ibru/ (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019).

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Border Research21 an der Queen’s University Belfast oder auch das A ­ frican Borderlands Research Network (ABORNE).22 Diese Entwicklung unterstreicht die globale Aktualität und die wissenschaftliche Relevanz des Themas. Deutsche Forschungseinrichtungen wurden erst nach dem Ende des Kalten Krieges institutionalisiert. Das Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION der Europa-Universität Frankfurt (Oder) untersucht in interdisziplinären Forschungsprojekten, wie sich soziale, ökonomische und kulturelle Ordnungen zu Grenzziehungspraktiken verhalten.23 Das interdisziplinäre Zentrum Border Crossings – Crossing Borders. Berliner Zentrum für transnationale Grenzforschung24 an der Humboldt-Universität zu Berlin stellt seit 2016 eine Plattform zur Entwicklung und Vernetzung aktueller Forschungsprojekte zum Thema Grenze dar. Auch wenn die Border Studies somit (temporäre) Orte der Institutionalisierung gefunden haben, verbindet sich mit ihnen kein festes Set an theoretischen Zugängen und Methoden, sondern eine interdisziplinäre ­Vielfalt, die den Gegenstand „Grenze“ befragt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Projekt TRANSIT MIGRATION, in dem von 2002 bis 2006 Forscher*innen, Filmemacher*innen, Aktivist*innen und Künstler*innen zur Darstellbarkeit des Europäischen Grenzregimes und den Bewegungen transnationaler Migration über die Grenzen der EU gearbeitet haben.25 Das Netzwerk für kritische Migrations- und Grenz­ regimeforschung und die Zeitschrift Movements verstehen sich als machtkritische Interventionen in das „Wissensfeld der Migration“ und 21 | Nijmegen Centre for Border Research, https://www.ru.nl/nsm/imr/our-research/research-centres/nijmegen-centre-border-research/ (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 22 | Centre for International Borders Research, http://www.qub.ac.uk/research-centres/CentreforInternationalBordersResearch/ (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 23 | ABORNE – The African Borderlands Research Network, https://www.aborne.net/ (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 24 | Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION, https://www.borders-in-motion.de/ profil (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 25 | Border Crossings – Crossing Borders. Berliner Zentrum für transnationale Grenzforschung, https://crossingborders.hu-berlin.de/de (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019).

Einleitung

möchten eine „fundierte Kritik an den gegenwärtigen Formen der Regierung der Migration artikulieren“.26 Darüber hinaus eröffnen einem breiteren Publikum eine Reihe von P ­ ublikationen in journalistischer und essayistischer Form die Beschäftigung mit Migration und Grenze.27 Statt nach territorialen und institutionellen Grenzen zwischen Staaten zu fragen, verstehen Border Studies Grenzen als diskursive Konstruktionen mit gleichermaßen symbolischen wie materiellen Effekten.28 Nach der Definition der englischen Historikerin Henrice Altink und der Kulturwissenschaftlerin Chris Weedon stellen Grenzen keine fixen, sondern vielmehr historisch variable Konstruktionen dar, die permanenten Veränderungsprozessen, Verhandlungen und Reinterpretationen unterliegen und daher immer neuer Legitimierungssstrategien bedürfen.29 Zugleich tragen symbolische Grenzen maßgeblich zur „Härte“ von i­nstitutionalisierten Grenzen bei.30 Insbesondere geschlechtliche 26 | Vgl. Transit Migration, http://www.transitmigration.org/homekonzept.html (zuletzt aufgerufen am 04.11.2019). Siehe auch Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007. 27 | https://movements-journal.org/redaktion/ueber-uns.html (zuletzt aufgerufen am 03.12.2019). 28 | Ein Beispiel ist Wolfgang Bauer, Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa, Berlin 2014. 29 | Für den Zusammenhang zwischen Gender und Grenzkonstruktionen im amerikanischen Raum, überwiegend mit Bezug auf die US-amerikanisch-mexikanische Grenze vgl. Seyla Benhabib, Judith Resnik (Hg.), Migrations and mobilities. Citizenship, borders, and gender, New York 2009; Nira Yuval-Davis, Marcel Stoetzler, „Imagined Boundaries and Borders: A Gendered Gaze“, in: European Journal of Women’s Studies 9/3 (2002), S. 329–344; Antonia Castañeda (Hg.), Gender on the borderlands. The Frontiers Reader, Lincoln 2007; Sonia Saldívar-Hull (Hg.), Feminism on the Border. Chicana Gender Politics and Literature, Berkeley u.a. 2000; Floya Anthias, Nira Yuval-Davis (Hg.), Racialized boundaries. Race, Nation, Gender, Colour and Class in the Anti-Racist Struggle, London 1993. 30 | Henrice Altink, Chris Weedon, „Introduction“, in: Jane Aaron, Henrice Altink, Chris Weedon (Hg.), Gendering Border Studies, Cardiff 2010, S. 1–15, hier S. 13; vgl. die Rezension des Bandes durch Amanda Conroy, „Gendering Border Studies“, in: European Journal of Women’s Studies 19, 2012, S. 399–402.

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und rassistische Codierungen spielen für die Konstruktion sozialer, politischer, aber auch räumlicher Differenz eine bedeutende Rolle.31 Und obwohl Gender- und Race-Kategorien an der Schnittstelle zwischen physisch-territorialen und symbolischen Grenzziehungsprozessen operieren, wurde dieser Zusammenhang eher selten auf die Formierung von Europas Außengrenzen bezogen. Die Analogie zwischen Landes- und Geschlechterkörper,32 rassisiertem Individual- und Kollektivkörper ist aber nicht nur grundlegend für politische Prozesse, sondern auch für die Gestaltung einer räumlichen Ordnung, welche zugleich politische Inund Exklusionen organisiert. Aufgrund dieses Befundes beschäftigt sich der vorliegende Band vor allem mit den Effekten von Race- und Gender-Diskursen für die Herausbildung, Formierung und Legitimierung von Europas Außengrenzen. Zeitlich schlagen die Beiträge des Bandes einen Bogen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Sie schließen zum einen an die internationale Forschung der Border Studies an, um Formierung und Aushandlung der Außengrenzen Europas zu erfassen. Zum anderen wird diese Perspektive in Bezug auf Grenzziehungsprozesse – auf Legitimierungen, Vermessungen, Öffnungen, Schließungen, Umkonzeptualisierungen und Veränderungen von Grenzen – erweitert. Die zentrale Annahme dieses Bandes ist, dass Grenzen aus Interrelationen zwischen territorialen und symbolischen Grenzziehungs- und Identitätsprozessen hervorgehen. Vor allem sind es Gender- und RaceKategorien, die erst physisch-territoriale Abgrenzungen legitimieren, wie sie auch andersherum aus physischen Grenzziehungsprozessen hervor31 | Klaus Eder, „Europe’s borders. The narrative construction of the boundaries of Europe“, in: European Journal of Social Theory 9/2, 2006, S. 255–271, hier S. 255f. 32 | Rassistische ‚Wissensproduktion’, so Claudia Bruns, habe den räumlichen Effekt, dass sie Grenzen zwischen Individuen wie zwischen Kollektiven ziehe: „Rassistische Diskurse haben insofern einen Differenzeffekt als sie soziale Grenzen hervorbringen, welche sich als Teil einer räumlich-topologischen Ordnung lesen lassen, die sich zu materiellen Grenzarchitekturen verdichten kann (Ghetto, Lager, Gefängnis, Grenzzäune, usw.).“ Claudia Bruns, „‚Rasse’ und Raum. Überlegungen zu einer komplexen Relation“, in: Dies. (Hg.), ‚Rasse’ und Raum. Topologien zwischen Kolonial-, Geo- und Biopolitik: Geschichte, Kunst, Erinnerung, Wiesbaden 2017, S. 1–44, hier S. 2.

Einleitung

gehen können. So greifen aktuelle Identitäts- und Subjektivierungsprozesse auf ein komplexes Grenzdispositiv zurück, um bestehen zu können; und umgekehrt sind es aktuelle Grenzen, die (trans-)nationale Selbstbilder Europas einfordern oder bestehenden einen bestimmten Ausdruck verleihen. Die Beiträge versuchen dabei nicht nur neue Perspektiven auf Grenzen zu schaffen, die in enger Wechselbeziehung zu symbolischen Grenzziehungen und Differenzierungen gedacht werden, sondern auch die Forschungsansätze der Gender und der Postcolonial Studies aufzunehmen sowie intersektionale Analysen von Grenzziehungsprozessen durchzuführen.

S ymbolische G renz ziehungsprozesse Die englischsprachige Literatur unterscheidet zwischen den Begriffen „borders“ und „boundaries“. „Borders“ meint die territoriale Grenze, die politische Entitäten voneinander trennt, wohingegen „boundaries“ als soziale Konstruktionen verstanden werden, die symbolische ­Grenzziehungen etablieren und nationale, ethnische oder kulturelle Identitäten produzieren.33 Die Verschränkung von räumlichen Grenzen und symbolischen Grenzziehungen, im Besonderen die Analyse der Produktion von Differenzen in Grenzziehungsprozessen, ist Gegenstand dieser Publikation. Die Analyse symbolischer Grenzziehungsprozesse richtet ihren ­Fokus auf „diskursive Praktiken der Bedeutungsproduktionen, die Erfahrungen generieren und formieren“.34 Grenzen werden dabei in einem Zusammenspiel von materieller und symbolischer Ordnung hervorge33 | Die Beiträge des Bandes „Geschlecht gestalten: Der Körper des Kollektivs“ befassen sich damit, wie Geschlecht in der visuellen Inszenierung des Herrschaftskörpers in der Frühen Neuzeit verhandelt wurde. Siehe Claudia Bruns, Sophia Kunze, Bettina Uppenkamp, „Geschlecht gestalten: Der Körper des Kollektivs. Figurationen des Politischen“, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 21, Heft 1/2, 2017. 34 | Vgl. Didier Fassin, „Policing Borders, Producing Boundaries. The Governmentality of Immigration in Dark Times”, in: Annual Review of Anthropology, 40 (2011), S. 213–226. Siehe auch Maribel Casas-Cortes et al., „New Keywords: Migration and Borders”, in: Cultural Studies, 29:1 (2014), S. 55–87.

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bracht. Diese sind historisch formiert und damit keineswegs starr und unveränderbar. Grenzen, so zeigt es auch die jüngste Gegenwart, unterliegen Veränderungen – räumlich, materiell und symbolisch. Symbolische Grenzziehungen werden seit der Frühen Neuzeit maßgeblich durch die Differenzkategorien Race und Gender mitgestaltet, wodurch kollektive Identität(en) entstehen und sich verfestigen. Und umgekehrt führen bestimmte Identitäten zu symbolischen Repräsentationen von Grenzen, etwa in Form von eingezeichneten durchgängigen Linien auf Karten, welche in Europa erst mit der Frühen Neuzeit auf kommen. Analyseansätze zum Wechselverhältnis von symbolischen und materiellen Grenzen wurden bereits von den Gender und Postcolonial Studies entwickelt: So setzten sich die Gender Studies mit geschlechtsspezifischen Grenzziehungsprozessen sowie der kulturellen Formierung von Identitäten auseinander, die seit der einf lussreichen Studie von Judith Butler als Effekt performativer Praktiken verstanden werden.35 Dieser theoretische Ansatz versteht (vergeschlechtlichte) Subjekte als Produkte diskursiver Aushandlungen und als Ergebnis machtpolitischer Effekte. Zugleich setzen sich die Gender Studies mit vergeschlechtlichenden sozialpolitischen Praktiken auseinander. Diesen liegen sinnstiftende kulturelle Prozesse zugrunde (von der Sprache bis hin zu Artefakten) und sie regeln den Zugang zu Macht und Ressourcen einer Gesellschaft,36 die geschlechtsspezifisch asymmetrisch organisiert ist. Da bisher nur wenige Studien existieren, welche die Relation zwischen Grenzziehungsprozessen und Geschlechtskonstruktionen explizit in den Fokus rücken,37 ist es ein besonderes Anliegen dieses Bandes zu zeigen, dass Prozesse der Differenzbildung für die Herausbildung territorialer Grenzordnungen von erheblicher Relevanz sind. Die Postcolonial Studies widmen sich bis heute nachwirkenden kolonialen Macht- und Gewaltverhältnissen und den damit verbundenen

35 | Vgl. Claudia Bruns, Europas Grenzen: Karten, Körper, Kollektive seit der Antike, Köln, MS S. 18 (im Erscheinen). 36 | Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991. 37 | Vgl. z.B. Raewyn Connell, Der gemachte Mann: Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 4. durchgesehene und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2015 [1999].

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rassisierten Kollektiv-/Subjekteffekten.38 Edward Saids ebenso berühmte wie umstrittene Studien erweiterten die Postcolonial Studies durch ihre systematische Einbeziehung der räumlich-geographischen Analyseperspektive.39 Der Gegensatz zwischen „Orient“ und „Okzident“ avancierte zum zentralen Gegenstand der Analyse wie der epistemologischen Kritik. „Orientalismus“ war für Said dabei weniger eine geographische Zone als ein Imaginationsraum des „Westens“ zur Selbststilisierung als überlegen, rational und emanzipiert. 40 Homi K. Bhabha kritisierte an Saids Studie das relativ starr angelegte, binär organisierte Täter- und Opferverhältnis zwischen Europa und dem „Orient“. 41 Besonders die literatur- und kultur38 | Die Beiträge des Sammelbandes Gendering Border Studies nehmen diese Fragestellung in den Blick, ohne allerdings einen dezidiert europäischen Kontext zu fokussieren, siehe Jane Aaron, Henrice Altink, Chris Weedon: Gendering Border Studies, Cardiff 2010. Die Zeitschrift Eurasia Border Review veröffentlichte zwei Ausgaben mit Sektionen zu „Border and Gender Studies“. Auch diese Sektionen befassen sich nicht mit der europäischen Außengrenze, siehe Eurasia Border Review Vol. 7.1 (2016) und Eurasia Border Review Vol. 8.1 (2017). Die 42. Ausgabe der Zeitschrift Women’s Studies in Communication widmete sich dem Thema „Conversation and Commentary: Feminist Border Theories – Expanding Our Perspectives“. Nur der Beitrag von Julia Khrebtan-Hörhager berührt Italiens gegenwärtige Grenzpolitik in Bezug auf Sexismus und Rassismus, siehe Julia Khrebtan-Hörhager, Intersectional Othering and New Border Cultures: Lessons From Italy, in: Women‘s Studies in Communication, 42:2 (2019), S. 125–129. 39 | Wobei geschlechtsspezifische Codierungen kolonialer Subjekte erst durch Gayatri Chakravorty Spivak problematisiert wurden, vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulationen, Wien/Berlin 2008. 40 | Vgl. Leela Gandhi, Postcolonial Theory. A critical Introduction, Edinburgh 1998, S. 73. 41 | Vgl. Edward Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 2009. Saids 1978 erschienene Studie hat erbittert geführte Debatten in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen angestoßen. So wurden methodische und theoretische Widersprüche, etwa durch James Clifford, bereits früh aufgezeigt, siehe James Clifford, Rezension von Edward W. Saids „Orientalism“, in: History and Theory, Vol. 19.2. (1980), S. 204–223. Für eine Übersicht zur Orientalismus-Debatte und den Kritikpunkten siehe Jürgen Osterhammel, „Edward W. Said und die „Orientalismus“Debatte. Ein Überblick“, in: asien afrika lateinamerika 25 (1997), S. 597–607.

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wissenschaftlich inspirierten Border Studies profitierten von den hier nur grob skizzierten Debatten der Postcolonial Studies – nicht zuletzt, weil sie maßgeblich dazu anregten, Prozesse der symbolischen Differenz- und räumlichen Grenzziehung stärker aufeinander zu beziehen wie auch zu dekonstruieren. Dieser dekonstruktivistischen Kolonialkritik ging eine feministische Studie von Gloria E. Anzaldúa, Vertreterin der Chicana Studies, voraus. Sie hatte bereits 1987 am Beispiel der borderlands zwischen den USA und Mexiko Grenzzonen als „Zwischenräume“ gelesen und versuchte mit Hilfe der Figur der mestizischen Frau, Rassismus und Ethnozentrismus als gemeinsame Analysekategorie für Grenzanalysen produktiv zu machen. 42 Eine – auch angesichts der jüngsten Grenzbauvorhaben des US-Präsidenten Donald Trump – hochaktuelle Studie. Grenzen haben für Anzaldúa die Funktion, „to define the places that are safe and unsafe, to distinguish us from them“. 43 Anzaldúa erkannte dabei als eine der Ersten den elementaren Zusammenhang zwischen Differenzkonstruktionen und Grenzziehungsprozessen. Die Grenze im Sinne einer vagen, aber emotional hoch aufgeladenen borderland-Zone zwischen Eigen- und Fremdgruppe verlief ihr zufolge entlang der Kategorien Race, Class und Gender. 44 All diese Studien fassen Identitäten als Knotenpunkte widersprüchlicher Diskurse und Differenzkonstruktionen, was auch unter dem Begriff der „Intersektionalität“45 diskutiert wird. Die theoretischen Ansätze zu Grenzziehungsprozessen berücksichtigen topografische und

Für weiterführende Studien, die sich mit dem deutschen Kontext beschäftigen siehe Achim Rohde, „Der innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. Und 20. Jahrhunderts“, in: Die Welt des Islams. Band 45, S. 370–411; Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2005. 42 | Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von ­E lisabeth Bronfen, Tübingen 2000. 43 | Vgl. Gloria Anzaldúa, Borderlands, La Frontera. The new mestiza, 4. Aufl., San Francisco 2012 [1987]. 44 | Ebd., S. 25. 45 | Grenzen definierte Anzaldúa als „dividing line, a narrow strip along a steep edge“ und ein „borderland“ als „a vague and undetermined place created by the emotional residue of an unnatural boundary“, ebd.

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topologische46 Lokalisierungen. Sie denken das Subjekt immer schon an einen ‚Ort‘, der ihm durch diskursive Prozesse in einer Gesellschaft zugewiesen wird. Symbolische Grenzziehungsprozesse werden überdies als movens sozialer Beziehungen verstanden. Michèle Lamont und Virág Molnár haben symbolische Grenzen im Jahr 2002 als „conceptual distinctions made by social actors, to categorize objects, people, practices, and even space and time”47 charakterisiert. Symbolische Grenzen definieren Wirklichkeit(en) von Individuen und Gruppen; und nur wenn diese umfangreich anerkannt sind, können sie soziale Beziehungen strukturieren. 48

D ie G renzen E uropas ,

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B eitr äge

Die besondere Leistung des Bandes ist die Einbeziehung von Gender- und Race-Kategorien in die Betrachtung von europäischen Grenzziehungsprozessen. Die Beiträge erfassen die konstitutive Wechselbeziehung zwischen bzw. die Interrelation von topografischen sowie vergeschlechtli46 | Siehe u. a. Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt, Kerstin Palm, Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 2007; Gabriele Winker, Nina Degele, Intersektionalität. Zur Analyse gesellschaftlicher Ungleichheiten, Bielefeld 2009; Cornelia Klinger, „Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht“, in: Gudrun A. Knapp, Angelika Wetterer (Hg.), Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik 2, Münster 2003, S. 14–48; Helma Lutz, Norbert Wenning, „Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten“, in: Dies. (Hg.), Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001, S. 11–24. 47 | Die Topografie untersucht „konkrete“ geographische Räume. Der Romanist Jörg Dünne verweist allerdings darauf, dass auch der topographische Raum in gewisser Weise „produziert“ ist. Topologien hingegen gehen nicht notwendigerweise von physischen Räumen aus. Raum wird als Feld zwischen Körpern und somit als „abstrakte“ Raumrelation verstanden. Vgl. Jörg Dünne, „Topologie oder Topographie – Wohin geht die Wende zum Raum?“, in: Albrecht Buschmann, ­G esine Müller (Hg.), Dynamisierte Räume. Zur Theorie der Bewegung in den Romanischen Kulturen, Potsdam 2009, S. 5–26, hier S. 6. 48 | Vgl. ebd., S. 168.

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chenden und rassifizierenden Differenzierungen historisch zu erfassen, ohne Gegenwartsanalysen auszuschließen: Die Formierung Europas und seiner Außengrenzen nimmt mit der Frühen Neuzeit entscheidende Konturen an, nicht zuletzt dadurch, dass Europäer*innen Konkurrenzen und Hierarchien der einzelnen Kontinente etablieren und den europäischen Kontinent als überlegen begreifen. Der Beitrag von Michael Wintle untersucht die Bedeutung des Aufkommens eurozentrischer Grenzen, die während der Frühen Neuzeit in Europa virulent wurden. Im Zentrum des Beitrages steht die Funktion der Differenzkategorien Geschlecht und Race bei der Etablierung eurozentrischer Hierarchien zwischen den Kontinenten. Der Historiker legt ein besonderes Augenmerk auf die Personifizierung von Kontinenten auf Weltkarten und durch andere visuelle Medien wie Gemälde, Skulpturen oder Vasen. Vorstellungen von Race und Geschlecht wurden durch diese Personifizierungen vermittelt, um die Distanz zwischen Europa und den anderen Kontinenten zu vergrößern und Europas Überlegenheit hervorzuheben. Muriel González Athenas zeigt in ihrem Artikel den Wandel auf, der sich mit dem Ende der Frühen Neuzeit von vagen Europaimaginationen hin zu einer Vereinheitlichung, Zentralisierung und Hierarchisierung Europas vollzog. Europa wurde zum Vorzeigekontinent. Strategien des Othering, die symbolische und topographische ­Grenzziehungsprozesse, Naturalisierungen und Kulturalisierungen einschlossen, etablierten und verfestigten die Dominanz Europas gegenüber anderen Erdteilen. ­Dienlich waren dafür vor allem Länderbeschreibungen, die sich aus geographisch-thematischen Karten und Reiseberichten speisten und EuropaVorstellungen in der Bevölkerung popularisierten. Beispielhaft widmet sich die Historikerin der bislang unerforschten Rengerischen Reihe (1704–1718) aus dem Verlag Renger (Halle a. S.). Nicht nur in der Frühen Neuzeit, sondern auch in der Moderne zeigt sich, wie Europa sich allmählich zu einer Kollektividentität verfestigte. Für das 20. und beginnende 21. Jahrhundert vollzog sich dies in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen gleichzeitig – in den Künsten, der Politik oder der Wirtschaft. Der Band greift aus diesem Spektrum vier Themenfelder auf und beschäftigt sich vor allem mit dem (Kollektiv-) Körper als Schnittstelle zwischen symbolischen und materiellen Grenzen Europas.

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Der Beitrag der Kulturwissenschaftlerin Yumin Li fragt nach den räumlichen und symbolischen Inszenierungen Europas in der paneuropäischen Filmindustrie der 1920er Jahre. Der Aufsatz zeigt anhand der narrativen und visuellen Othering-Strategien des „Film Europa“Projekts, dass das Verhältnis von Race und Gender für die Etablierung einer paneuropäischen Identität zentral war. Am Beispiel des Films Großstadtschmetterling (1929) wird analysiert, weshalb sich gerade eine amerikanisch-­chinesische Schauspielerin für die filmische Herstellung paneuropäischer Identität anbot. Der Politikwissenschaftler Björn Goldstein analysiert in seinem ­A rtikel zur Homosexualität als Grenzkriterium die paradoxe und spannungsreiche politische Situation Serbiens, topographisch Teil von Europa, politisch jedoch nicht Teil der EU zu sein. Homosexualität als eine Form der symbolischen Differenz wird im Dienste der nationalistischen Grenzziehung mobilisiert, um zum einen die Nichtzugehörigkeit zur EU zu ­legitimieren; und zum anderen die serbische Identität über die Heterosexualität als eine europäische Norm gegenüber dem ‚perversen‘ Anderen der EU zu etablieren. Bemerkenswert ist dabei, dass die Homosexualität in Serbien gesetzlich längst entkriminalisiert ist und 2017 mit Ana Brnabic eine Politikerin Premierministerin wurde, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt. In Irina Gradinaris Beitrag zu Erinnerungsgrenzen und EU-Identität stehen die Fragen nach gemeinsamen europäischen Erinnerungsräumen im Zentrum, die aufgrund sprachlicher, politischer und historischer Differenzen bisher allein eine europaweit identitätsstiftende Qualität haben. Die Erinnerungen an Nationalsozialismus und Stalinismus sollen, so die Literatur- und Medienwissenschaftlerin, die Spaltung zwischen der europäischen Topographie und nationalspezifischen Topologien mit Hilfe hybrider und queerer Identitäten überwinden und die Außengrenzen Europas öffnen, was am Beispiel des Romans Atemschaukel (2009) von Herta Müller und des Films Der neunte Tag (D/LUX/CZE, R. Volker Schlöndorff) diskutiert wird. Die Soziologin Estela Schindel diskutiert in ihrem Beitrag zum biopolitischen Schisma kritisch, wie aktuelle Europa-Grenzen mit digitalen Überwachungstechnologien produziert und stabilisiert werden. Ihre theoretischen Überlegungen gehen von Bruno Latours Kritik der modernen Trennung zwischen Natur, Gesellschaft und Diskurs wie auch von ­Michel Foucaults und Giorgio Agambens Überlegungen zur Biopolitik aus. Die

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Außengrenzen Europas bringen Staatsrassismen zum Vorschein und konstruieren Differenzen entlang der Kultur-Natur-Achse, welche die Ausgrenzung der ‚Anderen‘ legitimierten und naturalisierten.

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Eurozentrismus in der visuellen Repräsentation der Kontinente in der Frühen Neuzeit Die Funktion von Gender und Konzepte von „Rasse“1 Michael Wintle 2 Die Grenzen zwischen Kontinenten oder Erdteilen sind in der modernen Welt wichtige Abgrenzungen. Es gibt eine Afrikanische Union, einen Verband Südostasiatischer Nationen, ein Nordamerikanisches Freihandelsabkommen (NAFTA) und einen Europarat. Die Außengrenzen der Europäischen Union mögen durchlässig und problematisch sein, sie sind jedenfalls von immenser politischer und ideologischer Bedeutung. Diese interkontinentalen Grenzen wurden ursprünglich von Europäern gezogen und sind über viele Jahrhunderte hinweg verwendet worden, um den Unterschied zwischen Europäern und Anderen – bzw. zwischen Europäern und ihren „Anderen“ – zur Geltung zu bringen.3 Diese Verwendung von 1 | Dieser Aufsatz beruht in wesentlichen Teilen auf Kapitel 5 und insbesondere Kapitel 6.2 meines Buches „The Image of Europe: Visualizing Europe in Cartography and Iconography throughout the Ages“, Cambridge 2009. Mein Vortrag auf der Konferenz „Bodies and Maps: Personifications of the Continents“, gehalten am UCLA Centre for Medieval and Renaissance Studies, Los Angeles, 12.-13. Jan. 2018, verwendete ähnliches Material. Eine überarbeitete Version des Aufsatzes wird auf Englisch erscheinen (Titel: „Gender and Race in the Personification of the Continents in the Early Modern Period: building Eurocentrism“, in Louise Arizzoli, Maryanne Horowitz (Hg.), Bodies and Maps: Early Modern Personifications of the Continents, Leiden/Brill, im Erscheinen). 2 | Dieser Aufsatz wurde aus dem Englischen übersetzt von Nicolas Schneider. 3 | Zum Eurozentrismus kontinentaler Abgrenzungen vgl. M. W. Lewis, K. E. Wigen, The Myth of Continents: A Critique of Metageography, Berkeley 1997.

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Grenzen zwischen Kontinenten war und ist Teil des „Eurozentrismus“, welcher behauptet, alles irgendwie Wertvolle stamme ausschließlich aus Europa (bzw. seit dem zwanzigsten Jahrhundert aus dem Westen). Dieser allgegenwärtigen Ideologie zufolge ist Europa der beste Kontinent, seine Eigenschaften und Werte denen anderer Weltgegenden überlegen – und dementsprechend gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem Westen und dem Rest. 4 Doch diese Verwendung der Begrenzungen als Abgrenzungen zwischen den Kontinenten nahm erst in der Renaissance Gestalt an; davor existierten zwar die geographischen Grenzen zwischen den Erdteilen – und diese wurden von europäischen Wissenschaftlern und Kartographen als solche anerkannt – jedoch wurden sie nicht systematisch zur Unterscheidung zwischen Menschen und Zivilisationen verwendet. Das Beharren auf einem qualitativen Unterschied zwischen Europa und dem Rest bildet den Kern des Eurozentrismus. Es nahm seinen Anfang in der Zeit der Renaissance und ist nicht zuletzt auf Begegnungen im Zusammenhang mit der beginnenden Kolonialisierung zurückzuführen.5 Dieses Essay untersucht die Bedeutung des Auf kommens solcher eurozentrischen Grenzen während der Frühen Neuzeit in Europa. Da Eurozentrismus wörtlich so viel heißt wie „Europa in den Mittelpunkt stellen“, bietet die Kartographie einen vortreff lichen Ansatzpunkt für die Suche nach Ausprägungen dieser Entwicklung; so stellt die „MercatorProjektion“, die erstmals im Jahr 1569 auf eine Weltkarte angewendet wurde, einen zentralen und einf lussreichen Schritt in der Ausformung eurozentrischer Sichtweisen dar.6 Dieser Artikel widmet sich bestimmten Karten und legt hierbei besonderes Augenmerk auf die Personifizierung von Kontinenten, wie sie in der Ausgestaltung solcher Karten und anderer visueller Medien vom Mittelalter bis zur Auf klärung zu sehen ist. 4 | Vgl. einige klassische Definitionen des Eurozentrismus, z. B. Samir Amin, Eurocentrism, New York 1989 [zuerst veröffentlicht als L’Eurocentrisme, Paris, 1988]; J. M. Blaut, Eight Eurocentric Historians, New York 2000; vgl. auch einen neueren Band: Marta Araújo, Silvia R. Maeso (Hg.), Eurocentrism, Race and Knowledge: debates on history and power in Europe and the Americas, Basingstoke 2015. 5 | Araújo, Maeso (Hg.), Eurocentrism, Race and Knowledge, S. 110. 6 | Vgl. den Beitrag von Michael Wintle, „Renaissance Maps and the Construction of the Idea of Europe“, in: The Journal of Historical Geography 25/2 (1999), S. 137-165.

Eurozentrismus in der visuellen Repräsentation der Kontinente

Zuerst wird das Konzept der interkontinentalen Grenzen in der gebotenen Kürze behandelt, um dann den Nutzen visueller Bilder für die Kartierung und Erklärung der Entwicklung dieser besonderen Art eurozentrischer Grenzkonstruktion zu evaluieren. Anschließend wird die Entwicklung von „Rassenkonzepten“ in der Frühen Neuzeit nachgezeichnet und deren Verhältnis zu interkontinentalen Grenzen bestimmt. Dann wird der Schwerpunkt auf die Frage nach der Funktion von Gender in der Ausprägung dieses Eurozentrismus sowie in der Verstärkung der qualitativen Trennung zwischen den Ebenen in der entstehenden Hierarchie der Kontinente gelegt. Zu diesem Zweck werden verschiedene Darstellungen untersucht, in denen die Kontinente fast ausschließlich durch Frauengestalten repräsentiert waren. Beachtet wird dabei auch die Bedeutung der geringen Anzahl der personifizierten Darstellungen von Erdteilen, die männliche Gestalten verwendeten oder auch männliche und weibliche kombinierten. Abschließend kehrt die Analyse zum Problem des Eurozentrismus in diesen Bildwelten der Kontinente zurück und fasst die verschiedenen Arten der Personifizierung zusammen, mit denen Vorstellungen von „Rasse“ und Gender vermittelt wurden, um den Einf luss und die Wirkmächtigkeit der zwischen Europa und dem Rest der Welt konstruierten Grenzen zu vergrößern.

D ie K ontinente Recht eindeutige Vorstellungen davon, wo die Grenzen zwischen den Erdteilen im geographischen Sinne verliefen, lassen sich in Europa bis in früheste schriftliche Quellen zurückverfolgen. Die frühen griechischen Geographen und Historiker, darunter Hekataios und Herodot, hatten eine klare Auffassung der drei Kontinente Europa, Asien und Afrika/Libyen, in welche sich die Landmasse der bekannten Welt unterteilen ließ. Sie wurden durch bedeutende Wasserwege wie Mittelmeer, Rotes Meer oder Nil voneinander abgegrenzt. So verlief die Verbindung zwischen Europa und Asien von der Ägäis über den Hellespont ins Marmarameer, durch den Bosporus hindurch ins Schwarze Meer, entlang der Krim durch die Straße von Kertsch ins Asowsche Meer und schließlich in nördlicher Richtung und stromaufwärts auf dem Don, soweit sich die griechischen Kolonien erstreckten. Jedoch wurde diesen Erdteilen wenig oder kein kultureller Inhalt zugeschrieben; ihre Namen scheinen lediglich

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zweckmäßige Bezeichnungen für die verschiedenen Gebiete der bewohnten Welt, der oecumene, gewesen zu sein. In manchen Texten verschiedener Autoren (bspw. Hippokrates, Aristoteles und Strabon) finden sich indirekte Verweise auf die vermeintlichen Eigenschaften der „Asiaten“ im Gegensatz zu denen der „Europäer“, doch diese sind nicht besonders konkret und alles andere als kohärent. Nicht einmal das Christentum wurde in der späteren Antike als ein Charakteristikum für Europa beansprucht: Christus war kein Europäer und er ist nie in Europa gewesen.7 Das Mittelalter übernahm dieses physikalisch-geographische Verständnis der Grenzen Europas. Darüber hinaus wurde die lateinische christliche Kirche (im Gegensatz zur östlichen Orthodoxie) nach und nach zentral für alle möglichen auf „Europa“ anwendbaren Zuschreibungen – im Gegensatz zu Islam, Byzanz und den „Heiden“ im Norden und Osten. Unmittelbare Hinweise darauf, was es bedeutete, „europäisch“ zu sein, sind indes sogar im späteren Mittelalter schwer zu finden und was es an Anhaltspunkten gibt, ist widersprüchlich und nicht schlüssig.8 All das änderte sich in der Renaissance. Es entstand ein zunehmendes Bewusstsein einer europäischen Zivilisation im direkten Gegensatz zu anderen Gegenden der Welt. Dieses Bewusstsein wurde zum weithin anerkannten Bestandteil der Bezugsrahmen von Wissenschaftlern und Intellektuellen auf dem ganzen Kontinent. Die Gründe für diesen Wandel lagen unter anderem in der Erkundung weitläufiger, wenig bekannter Gebiete der Welt (hauptsächlich des amerikanischen Kontinents), welche einen starken Kontrast zu Europa bildeten; in der Einführung des Buchdrucks, der es ermöglichte, Texte und Karten zu verbreiten und Wissen zu standardisieren; in neuen Navigations- und Kartographie-Techniken, aber auch in sich verändernden Vorstellungen vom Platz der Menschheit im göttlichen Universum.9 Die sich rasant entwickelnden Vorstellun7 | Vgl. M. Wintle, The Image of Europe, Kapitel 3, zu den antiken Ideen von Europa und insbesondere zu denen Herodots, ebd., S. 85-86. 8 | Vgl. z. B. Caroline D. Eckhardt, „One Third of the Earth? Europe Seen and Unseen in the Middle English Chronicles of the Fourteenth Century“, in: Comparative Literature 58/4 (2006), S. 313-338, hier S. 326f. 9 | Vgl. Denys Hay, Europe: The Emergence of an Idea, Edinburgh 1968; John Hale, „The Renaissance Idea of Europe“, in: Soledad García (Hg.), European Identity and the Search for Legitimacy, London 1993, S. 46-63; M. Wintle, „Renaissance Maps“.

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gen davon, was die europäische Zivilisation ausmache, wurden geprägt durch solche Werte und Eigenschaften, die die Europäer vom Rest der Welt unterschieden und sie „unvermeidlich“ als überlegen darstellten – folglich fanden sich darunter auch „Rasse“- und Genderkonzepte. Dem ist nicht einfach reduktionistisch zu begegnen: Die Konzepte von „Rasse“ waren dem, was wir als biologischen Rassismus aus dem 19. Jahrhundert kennen, ziemlich fremd und der Gebrauch von Gender als Technik des ­Othering war häufig komplex und verworren. Nichtsdestotrotz lassen sich einige eindeutige, wiederkehrende Muster aus dem verfügbaren Material ableiten, die im vorliegenden Aufsatz untersucht werden.

V isuelle Q uellen Die Quellen, die hauptsächlich zum Einsatz kommen werden, sind ­v isuelle: Die Fülle von Gemälden, Statuen, Zeichnungen und gedruckten Gravuren aus der Frühen Neuzeit veranschaulicht eindrücklich, was ­diejenigen Zeitgenossen, die Zugang zu solchen Erzeugnissen hatten, über den AsiatInnen, AmerikanerInnen, AfrikanerInnen und insbesondere EuropäerInnen zugeschriebenen Eigenschaften dachten. Diese imaginierten Eigenschaften der Kontinente und ihrer Bewohner trugen – sowohl in kultureller als auch in politischer Hinsicht – wesentlich zur Schaffung der europäischen Grenzen bei und ergänzten die altehrwürdigen, rein geographischen Bezeichnungen. Unter all den visuellen Quellen zur Definition Europas im Sinne einer kulturellen Einheit waren vermutlich die Personifizierungen der Kontinente, fast immer in Gestalt junger Frauen, die wirkmächtigsten. Jede dieser Personifizierungen wurde mit spezifischen Attributen ausgestattet: definierende Tiere (z. B. einem Alligator oder einem Kamel), für die Region typische Produkte (z. B. Elfenbein oder Tabak) oder Symbole, die ihre Macht oder Natur darstellten (z. B. Waffen, Kronen oder Musikinstrumente). Zwei dieser Zuschreibungen, Hautfarbe und Geschlecht, fanden sich unter den Indikatoren für die Art und Weise, die Vorstellungen von „Rasse“ und Gender zur Demarkation der europäischen Grenzen in den Denkweisen der Europäer nutzten. Dementsprechend machen sie den Kern dieser Untersuchung aus. Dieses visuelle Quellenmaterial ergänzt das geschriebene und gedruckte Material, das für gewöhnlich von Ideenhistoriker*innen genutzt wird; die hier verwendete Kategorie von ­Untersuchungsmaterial

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lässt sich als „geographische Symbolik“ bezeichnen. 10 Mit den ­ diese Quellen betreffenden methodologischen Problemen befassen sich Bildwissenschaftler*innen. Sie decken eine immense Breite behandelter Gegenstände und Methoden ab, von der Ikonographie und der Semiotik bis zur Ref lexivität und Diskursanalyse. Dabei ist die kulturelle Konditionierung des Sehens ein immer wiederkehrender, entscheidender Aspekt. Theoretiker*innen der Bildwissenschaft würden darauf bestehen, dass alle für die visuelle Konsumption produzierten Bilder – egal ob Kunst oder Werbeanzeige, ob Tapete oder gebaute Umgebung – einen kulturellen Inhalt aufweisen, ungeachtet dessen, ob es offenkundig intendiert ist (wie in Werbeanzeigen) oder nicht (wie in der ornamentalen Kunst). Dieser konzeptuelle Rahmen beruht auf Konzepten wie Diskurs und Hegemonie. 11 Die Einsichten, die sich aus dem Studium der Bildwissenschaft gewinnen lassen, sind auch auf Bilder der Kontinente anwendbar. Sie beinhalten Verweise oder Zeichen, die einem Wissenssystem oder Diskurs entsprechen, welcher die Weise, über die Welt und die Menschen zu denken, bestimmt. In nahezu allen der hunderten, wenn nicht gar tausenden Personifizierungen der Erdteile, die während der Renaissance und später weite Verbreitung fanden, gab es eine klare Hierarchie der Kontinente. Europa steht an der Spitze dieser Kontinentalhierarchie. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Abraham Ortelius’ Theatrum Orbis Terrarum, das erstmals 1570 veröffentlicht wurde (Abbildung 1). Mit eben dieser Titelseite erschien es in vielen Auf lagen und Sprachen. Das Werk, der erste Atlas überhaupt, war außerordentlich weitverbreitet und 10 | Die Kategorie der geographischen Symbolik umfasst Kartographie, insbesondere Weltkarten, und Personifizierungen in einer großen Bandbreite visueller Genres wie Gemälden, Fresken, Zeichnungen, Radierungen, Bildhauerkunst, Keramiken, Kacheln, Exlibris, Titelseiten, Bildteppichen, verschiedenartigen Textilien, Karten, Tapeten, Leinwänden, Stickereien, Zierschnitzereien, Formen, Kaminen und öffentlichen Denkmälern. Symbolik wird natürlich auch in anderen Medien genutzt, z. B. in der Rhetorik und der Literatur, aber ich begrenze diese Kategorie hier auf die visuelle, graphische Symbolik der Kontinente. 11 | Vgl. M. Wintle, The Image of Europe, Kapitel 1. Die Vielzahl von Handbüchern zur Bildwissenschaft und -analyse verdeutlicht den erstaunlichen Reichtum und die Vielfalt dieser Konzepte, z. B. Theo van Leeuwen, Carey Jewitt (Hg.), Handbook of Visual Analysis, London 2001; und Nicholas Mirzoeff (Hg.), The Visual Culture Reader, London 1998.

Eurozentrismus in der visuellen Repräsentation der Kontinente

sehr einf lussreich. Es finden sich darin fünf personifizierte Kontinente. Europa sitzt zuoberst, sie trägt die Kaiserkrone und hält ein Zepter in der rechten Hand. Die linke ruht auf einem im Globus befestigten Kreuz, das aus der Polarachse ragt und als Ruder genutzt wird, mit dem sie die Erde festigt: Europa ist die Steuerfrau der Welt. Hinter ihr steht ein von Weinreben umrankter Gartenpavillon, das Symbol europäischer Landwirtschafts- und Ernährungskunst. Im darunterliegenden Rang steht Asien (links), reich und exotisch mit Juwelen ausgestattet, und hält ein Weihrauchgefäß. Afrika, ihr gegenüber, ist nahezu nackt und in Reproduktionen häufig per Hand in Braun- oder Schwarztönen nachkoloriert; sie hält einen Balsamzweig in einer Hand. Die vielleicht interessanteste Darstellung ist Amerika, die am unteren Rand auf dem Boden liegt, eine Keule und einen abgetrennten Kopf in den Händen haltend, neben ihr Bogen und Pfeil; sie ist nackt, aber juwelengeschmückt. Wahrscheinlich sind die Hauptquellen dieser Vorstellung von Amerika Reiseberichte von Erforschern Südamerikas. Die zeremonielle Kriegskeule wurde für die rituelle Tötung von Gefangenen verwendet; der abgetrennte Kopf verweist auf verbreitete Kannibalismus-Gerüchte. Neben Amerika befindet sich der „Halbkontinent“: eine in Flammen stehende weibliche Büste, welche Magallanica (benannt nach dem Seefahrer Ferdinand Magellan) bzw. die noch zu entdeckenden Kontinente repräsentiert. Im originalen Begleittext dieser Abbildung wird Magallanica als jungfräulich und als das Objekt der Leidenschaft und des Begehrens Magellans dargestellt. 12 Es findet sich hier also eine kontinentale Hierarchie, deren Symbolik deutlich durch den Einsatz von Gender geprägt ist. Ein noch eindeutigeres, da didaktisch-unterweisendes Beispiel ist die Arbeit Cesare Ripas und anderer aus dem späten sechzehnten Jahrhundert: Sie stellten Musterbücher für bildende KünstlerInnen und HandwerkerInnen her, die ihre Werke mithilfe verschiedener Formen ornamentaler Kunst verzieren wollten. Ripas Iconologia wurde zuerst 1593 und 1603 in illustrierter Auflage veröffentlicht. 13 Die Bildtafeln der vier Kontinente sind weithin bekannt; ihre Ikonographie lieferte die Grundlage für die 12 | Werner Waterschoot, „The Title-Page of Ortelius’s Theatrum Orbis Terrarum: A Comment“, in: Quaerando 9 (1979), S. 43-68. Zum begehrten sexuellen „Besitz“ fremder Länder vgl. weiter unten im 5. Abschnitt, Fußnote 55. 13 | Cesare Ripa, Iconologia overo descrittione di diverse imagini cavate dall’antichità, & di propria inventione, trovate, & dichiarate, Rom 1603; sowie

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Abbildung 1: Titelseite von Abraham Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum, Antwerpen, 1570.

Bijzondere Collecties, Universitätsbibliothek, Universiteit van Amsterdam, OTM: HB-KZL 1802 A 14. Mit freundlicher Genehmigung.

Eurozentrismus in der visuellen Repräsentation der Kontinente

in den Darstellungen der Kontinente im Europa der Frühen Neuzeit verwendete Symbolik. 14 Dem Beispiel folgend wussten die KünstlerInnen genau, wie die Merkmale Afrikas oder Europas darzustellen waren, nämlich indem sie deren Personifizierungen mit Signifikanten ihrer jeweiligen Zivilisation umgaben, wie z. B. wilden Tieren und exotischen Pf lanzen oder aber Kronen, Büchern und einer christlichen Kirche. Durch den gezielten Gebrauch der visuellen Repräsentationen Europas lässt sich der im Laufe der Zeit vollzogene Wandel der Werte und Tugenden beobachten, die mit Europa verbunden und für es beansprucht wurden und mit denen kontrastierten, die anderen Erdteilen zugeschrieben wurden. Diese visuelle Symbolik spiegelt nicht nur den Stand der Dinge in der „wirklichen Welt“ der Politik wider – die sie visualisierenden Bilder sind imstande, Politik zu beeinf lussen und Meinungen und Geschichte wesentlich zu gestalten. Die Bilder selbst besitzen eine eigene, aktive Wirkung.

eine gut illustrierte niederländische Übersetzung von 1644, Iconologia, of uytbeeldingen des verstands, Amsterdam 1644. 14 | Vgl. Michael Wintle, „Visual Representations of Europe in the Nineteenth Century: The Age of Nationalism and Imperialism”, in: Stefan Berger (Hg.), A Companion to Nineteenth-Century Europe, Oxford 2006, S. 11-28; Pim den Boer et al., The History of the Idea of Europe, London 1995, S. 53, 55; J. Hale, „The Renaissance Idea of Europe“, hier S. 49; Clare Le Corbeiller, „Miss America and her Sisters: Personification of the Four Parts of the World“, in: Metropolitan Museum Bulletin 19 (1961), 209-223, hier S. 216-219.

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K onzep te

von

„R asse “

Die Funktion, die „Rasse“ in der Konstruktion und Anwendung interkontinentaler Grenzen übernimmt, ist wirkmächtig, aber schwer fassbar. „Rasse“ ist ein umstrittenes Thema: Viele Sozialwissenschaftler*innen würden behaupten, dass sie nicht existiert. Wissenschaftliche Autoritäten und insbesondere die UNESCO haben seit dem Zweiten Weltkrieg wiederholt verkündet, dass es keinerlei biologische Anhaltspunkte für die Verwendung von „Rasse“ als Kategorie zur Unterscheidung verschiedener Menschentypen gibt, was selbstverständlich die Menschen – unter ihnen auch Politiker*innen – nicht davon abgehalten hat, genau das zu tun. 15 Ebenso wie andere neuere Studien nutzt Francisco Bethencourt den Plural Rassismen im Titel seines Buches, 16 was den für die vorliegende Untersuchung wichtigen Aspekt betont, dass „Rasse“ und Rassismus sich sowohl im Laufe der Zeit als auch im Raum wandeln. Bethencourt argumentiert, Rassismus werde durch politische Zielsetzungen motiviert, die sich über die Jahre verändern – und mit ihnen ihr Rassismus. Seine Definition erscheint nützlich, wenn sie auch eher vorsichtig ist: Rassismus meint „Vorurteile über ethnische Abstammung in Verbindung mit diskriminierendem Handeln“. 17 Diese „Rationalisierung von Vorurteilen“ wurzelt in Europa und dem Westen; einige moderne Rassismen (z. B. 15 | Vgl. z. B. UNESCO, „World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance: Declaration“, Durban, 31. August bis 8. September 2001, http://www.un.org/WCAR/durban.pdf, S. 4 (zuletzt aufgerufen am 21.04.2016); ein Kommentar dazu findet sich in Miriam Eliav-Feldon, Benjamin Isaac, Joseph Ziegler (Hg.), The Origins of Racism in the West, Cambridge 2009, S. 3-4. 16 | Francisco Bethencourt, Racisms: From the Crusades to the Twentieth Century, Princeton 2013, S. 1, 7. Zur sich verändernden Beschaffenheit von Rassenkonzepten und Rassismus vgl. auch Roxann Wheeler, The Complexion of Race: Categories of Difference in Eighteenth-Century British Culture, Philadelphia 2000, in dem die Autorin radikal sich verändernde Auffassungen von „Rasse“ im England der Aufklärung analysiert. 17 | F. Bethencourt, Racisms, S. 1. Aus der umfangreichen Literatur vgl. ebenfalls Nell Irvin Painter, The History of White People, New York 2010, worin Rassismus als relational, wandelbar und primär sozio-kulturell (und nicht biologisch) bedingt betrachtet wird.

Eurozentrismus in der visuellen Repräsentation der Kontinente

­ egenüber Afro-Amerikaner*innen in den USA) beruhen hauptsächlich g auf der Identifizierung von Gruppen anhand physischer Merkmale, während in Europa die physischen Eigenschaften mitunter von scheinbar geringerer Bedeutung sind (z. B. im Falle von Juden und Roma). 18 Diese physischen Merkmale, die auch als Ausprägungen von „Rasse“ betrachtet werden können, wurden von bildenden KünstlerInnen im Europa der Frühen Neuzeit genutzt, um die Unterschiede und Abgrenzungen zwischen den Kontinenten hervorzuheben. Neben den g ­ enannten charakteristischen Ausstattungsgegenständen sind sie sowohl in Ortelius‘ Darstellung aus den 1570er Jahren in Abbildung 1 als auch in den Musterbüchern Ripas und seiner Kolleg*innen zu finden. Die Unterschiede werden schnell hierarchisiert. Afrika wurde fast immer als schwarz ­gezeigt, Amerika häufig als dunkelhäutig, und zusammen mit Asien wurden sie so gut wie immer als in ihrer physischen Erscheinung von Europa unterschieden dargestellt.

18 | M. Eliav-Feldon et al., The Origins of Racism in the West, S. 2, 10. R. Wheeler, The Complexion of Race, S. 289, unterscheidet ebenfalls zwischen diesen beiden und verortet einen „Übergang von einem kulturellen zu einem körperlichen Schwerpunkt“ im achtzehnten Jahrhundert (Originalzitat auf Englisch in R. Wheeler, The Complexion of Race, S. 289).

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Abbildung 2: William Blake, “Europe Supported by Africa and America”

Abbildung 80, in: John Gabriel Stedman, „Narrative of a Five Years Expedition against the Revolted Negroes of Surinam“, gegenüberliegend der Seite 316 (London, J. Johnson and J. Edwards: 1796).

Eurozentrismus in der visuellen Repräsentation der Kontinente

Abbildung 2 zeigt ein viel späteres Beispiel vom Ende der Frühen Neuzeit. Es handelt sich um eine Gravur dreier personifizierter Kontinente aus William Blakes Illustrationen (1796) für J. G. Stedmans Narrative of a Five Years Expedition against the Revolted Negroes of Surinam. Die Bildtafel stellt einen übertrieben gegenderten Entwurf der Kontinente dar, aber dazu weiter unten mehr. Sie gibt jedoch auch Aufschluss über die Funktion von Hautfarbe und, im Zusammenhang mit dem Sklavenhandel, Konzepte von „Rasse“ in der Unterscheidung zwischen den Kontinenten. Dargestellt sind Amerika, Europa und Afrika. Asien fehlt, da, so Stedman, es in „keiner Verbindung zur vorliegenden Erzählung“19 steht. Das spielt darauf an, dass Asien am atlantischen Dreieckshandel, bestehend aus europäischem Finanzkapital und Transportwesen, westafrikanischer (Zwangs-)Arbeit sowie deren Ausbeutung auf amerikanischen Plantagen, nicht beteiligt war. Jeder der drei hier Dargestellten werden unverkennbar besondere physische Eigenschaften zugeschrieben, die sich in Hautfarbe, Haartextur und Gesichtsmerkmalen ausdrücken. Die physischen/rassischen Merkmale werden genutzt, um die geographischen Grenzen zwischen den Kontinenten hervorzuheben; darüber hinaus werden sie durch ihre jeweiligen wirtschaftlichen Funktionen (Arbeit, Kapital und Boden) in den Sklavenökonomien der Karibik und den angrenzenden amerikanischen Gebieten voneinander getrennt. In einem modernen Zusammenhang würde dies bedeuten, „Rasse“ als eine Unterscheidungskategorie zu benutzen, in diesem Falle angewendet auf Kontinente. Gab es solche Vorstellungen von „Rasse“ und/oder Rassismus in der Frühen Neuzeit? Wann entstanden moderne Rassenkonzepte? Im Großen und Ganzen scheint „Rasse“ in der antiken Welt wenig Bedeutung beigemessen worden zu sein, obwohl dies natürlich Gegenstand akademischer Debatten ist. Zumeist wurde angenommen, dass sowohl kulturelle Unterschiede als auch die Hautfarbe in der Antike keinen Anlass für grundsätzliche Vorurteile gaben: Die RömerInnen hatten eher positive Auffassungen von schwarzen Menschen. Bethencourt weist darauf hin, dass, selbst wenn ein Rassenkonzept existiert haben sollte, wenig oder keine Diskriminierung damit einherging (welche für seine 19 | Vgl. John Gabriel Stedman, Stedman’s Surinam: Life in an Eighteenth-century Slave Society. An Abridged, Modernized Edition of Narrative of a Five Years Expedition against the Revolted Negroes of Surinam [1796], Baltimore, 1992, S. 316-317, und M. Wintle, The Image of Europe, S. 312-313.

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Definition von Rassismus axiomatisch ist).20 Andererseits enthielten einige antike und frühchristliche Texte – so zum Beispiel eine Schrift Origenes‘ (185-254 n. Chr.) – Gedanken, die zur Bildung rassistischer Vorstellungen von schwarzen AfrikanerInnen beitrugen.21 Dasselbe gilt für das Mittelalter: Während sich ein in unserem heutigen Verständnis entsprechender Rassismus in dieser Zeit nicht findet, entwickelte sich, unter dem Eindruck der antiken Vorstellungen sowie der Begegnungen verschiedener ethnischer Gruppen, um das Jahr 1100 ein diskursives Feld, ­welches als „Protorassismus“ bezeichnet wird.22 Die verbreitete mittelalterliche Weltanschauung war die der Monogenese, der zufolge alle Menschen auf Gottes Erde denselben biologischen Ursprung haben. Die Entwicklung entfaltete sich, dieser Vorstellung entsprechend, durch den Weltenlauf entscheidend verändernde Ereignisse (z. B. die Schöpfung oder die Sintf lut), die dafür sorgten, dass es nur eine einzige Familie auf dem ganzen Planeten gab, aus deren Ahnenreihe alle Völker hervorgingen. Diese Ansicht bestand in Europa bis ins sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert. Schwarze AfrikanerInnen wurden als der menschlichen „Rasse“ (und nicht etwa als einer anderen) zugehörig betrachtet und ihr Hautpigment wurde dem Einf luss der Sonnenstrahlen zugeschrieben. Den aufschlussreichen Worten Oliver Goldsmiths (1795) zufolge waren „all jene Veränderungen, denen die AfrikanerInnen, die AsiatInnen oder die AmerikanerInnen unterliegen, nichts als zufällige Deformationen, welche ein milderes Klima, bessere Ernährung und zivilisiertere Verhaltensweisen im Verlauf einiger Jahrhunderte sehr wahrscheinlich beseitigen würden.“23 „Rasse“ bezog sich zu dieser Zeit eher nicht, wie 20 | F. Bethencourt, Racisms, S. 3, 13-15; Jan Nederveen Pieterse, White on Black: Images of Africa and Blacks in Western Popular Culture, New Haven 1992, S. 24. 21 | David Goldenburg, „Racism, Color Symbolism, and Color Prejudice“, in: Miriam Eliav-Feldon, Benjamin Isaac, Joseph Ziegler (Hg.), The Origins of Racism in the West, S. 88-108. 22 | Vgl. Charles de Miramon, „Noble Dogs, Noble Blood: The Invention of the Concept of Race in the Late Middle Ages“, in: Miriam Eliav-Feldon, Benjamin Isaac, Joseph Ziegler (Hg.), The Origins of Racism in the West, S. 200-216. 23 | Oliver Goldsmith, An History of the Earth, and Animated Nature, 4 Bde., Philadelphia 1795 [zuerst veröffentlicht 1774], Bd. II, S. 380; zitiert in R. Wheeler, The Complexion of Race, S. 289.

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es in späteren Jahrhunderten der Fall sein würde, auf Verschiedenheiten zwischen ­Menschengruppen.24 Neuere Studien konnten Elemente von Rassenzuschreibungen und Rassismus in der Frühen Neuzeit identifizieren, die sich jedoch nicht zu einem kohärenten System zusammenfügten und stark durch andere Ideologien – wie z. B. der des christlichen Universalismus – eingeschränkt wurden. Dennoch: Ein von antiken und mittelalterlichen Behauptungen („Sedimentierung“) geprägter „Protorassismus“ scheint existiert zu haben. All dies begünstigte und verstärkte die Entwicklung, die schließlich im wissenschaftlichen Rassismus des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts mündete.25 Diese verallgemeinerten Annahmen wurden aber zunehmend durch praktische Überlegungen beeinf lusst, die sich zumindest teilweise auf Unterscheidungen zwischen den Kontinenten bezogen. Zu den frühesten systematischen Begegnungen von EuropäerInnen mit Menschen offensichtlich anderer Lebensgewohnheiten und Hautfarbe gehören diejenigen an der Afrikanischen Westküste seit dem fünfzehnten Jahrhundert. Diese Begegnungen sind von einer Reihe von Autor*innen untersucht worden; so konstatierte eine von Katherine George bereits in den 1950er Jahren durchgeführte frühe Studie eine lineare Entwicklung in den von Reisenden nach Hause gebrachten Geschichten.26 Die halb-fiktiven klassischen Darstellungen aus der antiken Welt bemerkten einen Mangel an Sitten und Moral unter subsaharischen AfrikanerInnen und beschrieben deren Gesellschaft, so wie sie war, als anarchisch, promiskuitiv, grausam und bestialisch. Im fünfzehnten Jahrhundert erlangten die Seefahrer neues Wissen aus eigener Erfahrung; die wenigen schriftlichen Berichte ihrer Beobachtungen zeugen von einem vorurteilsbelasteten Ethnozentrismus und vom bereitwilligen Wiedererkennen derjenigen Eigenschaften, von denen sie bereits zuhause gehört hatten. Ebenso wird ihr mangelndes Interesse an Beziehungen mit AfrikanerInnen oder an nicht-europäischen Gebräuchen (mit Ausnahme der verbreiteten Gerüchte über K ­ annibalismus und Sodomie) erkennbar. Die physische 24 | Vgl. R. Wheeler, The Complexion of Race, S. 31; F. Bethencourt, Racisms, S. 271ff. 25 | Vgl. R. Wheeler, The Complexion of Race, S. 9; vgl. auch M. Eliav-Feldon et al., The Origins of Racism in the West, S. 24, 31. 26 | Vgl. Katherine George, „The Civilized West Looks at Primitive Africa: 14001800. A Study in Ethnocentrism“, in: Isis 49(1958), S. 62-72.

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Erscheinung der AfrikanerInnen wurde als hässlich empfunden und einer verbreiteten Ansicht nach hatte das Klima ihre Haut verdunkelt.27 Auch aus dem sechzehnten Jahrhundert gibt es nur wenige erhaltene Berichte (auf Portugiesisch, Italienisch und Englisch); wenig hatte sich darin geändert, nach wie vor erwähnten sie den Kannibalismus. Im siebzehnten und insbesondere im achtzehnten Jahrhundert nahm die Anzahl von Berichten exponentiell zu: Die Kapkolonie wurde seit 1652 dauerhaft besetzt, der Sklavenhandel an der Goldküste wuchs rasant. Im Zusammenhang mit diesem Sklavenhandel gab es weitaus mehr Kontakt. Dem Wesen dieses Kontaktes entsprechend führte das zu einer Verstärkung der negativen Vorurteile gegenüber der lokalen Bevölkerung. Es handelte sich hier effektiv um eine Art ethnozentrischen Rassismus; anders als der sich ab dem neunzehnten Jahrhundert verbreitende biologische Rassismus, aber dennoch stark ausgeprägt. Als der vom europäischen Handelsgewerbe betriebene atlantische Sklavenhandel im achtzehnten Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte, wurde „Rasse“ eine weitaus bedeutendere Funktion als im lediglich monogenetischen Bezugsrahmen zuteil. Ebenfalls entstand ein Interesse an der Idee der Polygenese. Die tiefsitzenden und strikt voneinander trennenden Statusunterschiede zwischen den verschiedenen AkteurInnen im Sklavenhandel förderten die Empfänglichkeit für solche Ideologien, die diese Unterschiede erklären und rechtfertigen halfen: Gewissermaßen handelte es sich um eine „ad hoc geschaffene theoretische Rechtfertigung einer ökonomischen Ordnung.“28 Zwar gab es im Allgemeinen zu der Zeit keine Deutungen, wonach es sich um Begegnungen mit Menschen einer anderen „Rasse“ handelte – in dem Sinne, dass sie nicht von denselben Urahnen im Garten Eden abstammten. Jedoch begann sich in den Interpretationen der Reisedarstellungen durch europäische Intellektuelle allmählich eine Hierarchie der Völker festzusetzen.29 In Reiseberichten, Naturphilosophie und anderen 27 | K. George, „The Civilized West Looks at Primitive Africa“, S. 67. 28 | Vgl. z. B. Justin E. H. Smith, Nature, Human Nature, & Human Difference: Race in Early Modern Philosophy, Princeton 2015, S. 4-7, 53; Zitat von S. 5. Vgl. auch R. Wheeler, The Complexion of Race, S. 37, 302. 29 | M. Wintle, The Image of Europe, S. 184-15; und R. Parker Brienen, Visions of Paradise: Albert Eckhout, Court Painter in Colonial Dutch Brazil, Amsterdam 2006, S. 78-88.

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Schriften wurden nun Abstufungen innerhalb der Menschheit b ­ eobachtet und festgehalten, und zwar auf Grundlage eines direkten ­Vergleichs von EuropäerInnen und Anderen. Obwohl nicht unmittelbar gleichbedeutend mit Rassismus, sind diese frühen Formen des Eurozentrismus ein wesentlicher Bestandteil dessen, was schließlich als Rassismus bekannt werden sollte und die Monogenese wurde zunehmend infrage ­gestellt. Hegel etablierte eine globale Hierarchie der Völker, in der Deutsche und EuropäerInnen an der Spitze standen, AsiatInnen sich in der Mitte, AfrikanerInnen, AmerikanerInnen und PolynesierInnen sich am unteren Ende wiederfanden.30 Während also Begriffe wie „Rassismus“ erst zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf kamen, markierte der allmähliche Wandel seit dem Mittelalter den Weg hin zu der modernen Ausprägung. „Rasse“ war auf mittelalterliche Pf lanzen und Tierarten angewendet worden, und sogar auf die Aristokratie, im achtzehnten Jahrhundert konnte sie auf das weibliche Geschlecht bezogen werden, im neunzehnten Jahrhundert wurde sie wissenschaftlich und genetisch und im zwanzigsten Jahrhundert wurde auch die Nation mit einbezogen.31 Bezeichnend dafür ist die auf kommende Vorstellung, AfrikanerInnen stammten von Ham, dem Sohn Noahs, ab: Sie waren schwarz und verf lucht. In dieser schleichenden, jedoch unauf haltsamen Entwicklung hin zu eurozentrischen Formen von Rassismus, die versucht, die Sklaverei zu rechtfertigen, spielten zwei biblische Geschichten eine wichtige Rolle, die einen besonderen Einf luss auf die kulturellen A ­ bgrenzungen zwischen den Kontinenten ausübten. Innerhalb der christlichen Theologie und der Exegese wurden seit Augustinus Verbindungen zwischen bestimmten biblischen Figuren und den Erdteilen gesponnen. Die erste dieser Geschichten ist die von Noah und seinen Söhnen. Nach der Sintf lut wurde die Welt unter Noahs drei Söhnen aufgeteilt: Japheth erhielt Europa, Sem Asien; Ham indes, der von Noah verf lucht worden war, da er die Aufmerksamkeit auf dessen betrunkene Nacktheit gelenkt hatte, bekam Afrika. 30 | Vgl. Teshale Tibebu, Hegel and the Third World: The Making of Eurocentrism in World History, Syracuse NY 2010. 31 | F. Bethencourt, Racisms, S. 6. Obwohl das Mittelalter und die Frühe Neuzeit ihren Beitrag leisteten, entstanden vollständige Rassentheorien im Allgemeinen erst in der Zeit des Kolonialismus; dieser Schluss wird nahegelegt von Les Back und John Solomos (Hg.), Theories of Race and Racism: A Reader, London 2009, Introduction, S. 13-24.

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Im frühen Mittelalter wurde weder Japheth noch Sem besondere Ehre zuteil; auch gab es im mittelalterlichen Zusammenhang keine Versuche, die Kontinente etwaigen Verdiensten entsprechend in eine Rangordnung zu bringen. Nichtsdestotrotz schaffte die Tatsache, dass Ham verf lucht worden war und Afrika geerbt hatte, die Grundlage für spätere eurozentrische und rassistische Interpretationen dieser Geschichte. Das Mittelalter war in erster Linie auf die Universalität der Kirche bedacht und unterstellte die Monogenese der Menschheit. Wie gezeigt wurde, schlich sich erst später eine Hierarchie in diese Anschauung ein. Indes gibt es wenig Anlass für Zweifel daran, dass die mittelalterliche Periode entscheidend war in der Bereitstellung und Entwicklung scheinbar harmloser Materialien, welche später, im Anschluss an die Renaissance, zur Geltendmachung eurozentrischer und rassistisch fundierter Ziele eingesetzt wurde. Erst am Ausgang des Mittelalters verbreiteten sich Traditionen, in denen der verf luchte Sohn Noahs, Ham von Afrika, mit schwarzer Haut dargestellt wurde.32 Ausgehend von einem eher ungefährlichen frühmittelalterlichen Dünkel, der die Einheit der göttlichen Schöpfung hervorhebt und besonderes Vergnügen an der Symmetrie der drei Kontinente und der drei Söhne Noahs findet, formierte sich, vermittelt durch die Erfindung einer menschlichen und kontinentalen Hierarchie, die Rechtfertigung der Sklaverei seit der Auf klärung.33 Die andere an der Entwicklung der Bausteine von Rassenideen und Rassismus beteiligte biblische Geschichte ist die Darstellung der Weisen aus dem Morgenland im Matthäusevangelium. Von weit her kommend, um der Geburt des Christus beizuwohnen, entstammt jeder der drei Weisen einem anderen Erdteil: Asien, Europa und Afrika. Seit dem frühen fünfzehnten Jahrhundert wurde der jüngste und exotischste der drei Weisen als dunkelhäutig dargestellt und eindeutig mit Afrika assoziiert, mit der Folge, dass die beiden anderen Europa und Asien repräsentierten. 32 | Den Nachweis des „Nicht-Rassismus“ der mittelalterlichen Originalkommentare hat sich Benjamin Braude zur Aufgabe gemacht: „The Sons of Noah and the Construction of Ethnic and Geographical Identities in the Medieval and Modern Periods“, in: William and Mary Quarterly 54/1 (1997), S. 103-142; insbesondere geht es ihm um die Weise, auf die die Kommentare nach dem fünfzehnten Jahrhundert auf zunehmend rassistische Art verdreht und falsch dargestellt wurden. 33 | M. Wintle, The Image of Europe, S. 185-189.

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Letzterer war alt und ehrwürdig, während Europa in den besten Jahren und im Mittelpunkt der Handlung stand. Seit dem Jahr 1500 war diese neue Gewohnheit in der bildenden Kunst praktisch allgemeingültig und wurde genutzt, um die Identität des Anderen in Gestalt des exotischen Afrika zu erforschen – und um diejenige Europas als kraftvolle, lebhafte und dominierende Präsenz auf der Weltbühne zu beanspruchen.34 Diese Verschiedenheiten in Alter und physischen Merkmalen zwischen den drei (männlichen) Weisen wurde ihrer geographischen Verbindung mit den Kontinenten hinzugefügt. Wie im Falle der Söhne Noahs verstärkte dies den kulturellen Unterschied zwischen ihnen – und Afrika fand sich am unteren Ende der Hierarchie wieder.

G ender : W eibliche K ontinente Sowohl die Weisen als auch die Söhne Noahs waren männlich, während die Mehrheit der Beispiele für die Personifizierungen der Kontinente weibliche Gestalten verwendeten (für gewöhnlich jung und attraktiv, vgl. Abbildungen 1 und 2), um die Erdteile zu repräsentieren. Was war der Grund für diese sehr alte und beständige Verwendung, und welche nachhaltigen Auswirkungen hatte diese mit Blick auf die Kontinente? Einleitend muss auf einige Punkte hingewiesen werden. Erstens ­sprachen die weiblichen Bilder die Beschützerinstinkte der vorwiegend männlichen Betrachter an: Gefühle des Paternalismus und der Loyalität (bspw. Patriotismus) ließen sich durch die Darstellung der geographischen Einheit als junge, schöne, unschuldige, zärtliche und doch edle Frau wecken. Solche Stereotypen funktionierten zuverlässig in allen m ­ öglichen Arten der Personifizierung, die Kontinente bilden hier keine Ausnahme. Eine weibliche Gestalt ist oft als integrative und organische Kraft natürlicher Fruchtbarkeit und Fertilität aufgefasst worden. Während sie sich insbesondere von nationalistischen Bewegungen und deren visueller Symbolik angeeignet wurde, ist sie in der Kunst bereits seit antiken Zeiten weit verbreitet.35 Ein dritter Aspekt ist das Moment sexuellen Voyeurismus in der Zurschaustellung heiratsfähiger junger Frauen. ­Viertens, 34 | M. Wintle, The Image of Europe, Kapitel 4.4. 35  |  Vgl. z. B. Patricia R. Stokes, „Conference Report: “Gendered Nations”, Berlin, March 25-28 1998“, https://networks.h-net.org/node/24029/pages/31335/­

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die ­Sprache: Nahezu alle lateinischen Ortsnamen von Städten und Ländern sind ­weiblich, das Gleiche gilt für die meisten indoeuropäischen Sprachen: abstrakte Nomen und Ortsnamen sind weiblich. Athene, Nike und weibliche Personifizierungen sind den Triumphbögen europäischer Hauptstädte gut vertraut. Ebenso erstreckt sich die Personifizierung auf Länder und Kontinente. Und obwohl dies einige der Mechanismen der weiblichen Personifizierung von Kontinenten erklärt, liefert es uns nicht den darunterliegenden Grund: Wenn die linguistische Konvention sagt, dass Kontinente weiblich sind, wodurch wird dann diese Tatsache erklärt? Warum genau beziehen europäische Sprachen Länder und Kontinente ausnahmslos auf das weibliche grammatikalische Geschlecht? Tatsächlich lässt sich, wie Marina Warner in ihrer höchst scharfsichtigen Studie In weiblicher Gestalt: Die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen dargelegt hat, nur äußerst schwer feststellen, welche Wirkung das grammatikalische Geschlecht auf unsere Denkweise ausgeübt hat. Gleichwohl übernahm die Ikonographie die Konvention, gestärkt durch klassische Mythen und die Bedeutung des Weiblichen in der Repräsentation abstrakter Werte, insbesondere im Falle der Göttin Pallas Athene. Allegorische Frauengestalten tragen häufig einen Harnisch, sind aber auch regelmäßig teilweise nackt. Seltsamerweise sind beides Zeichen von Stärke und Unbesiegbarkeit: die unbedeckte weibliche Brust – oder „der herabgeglittene Chiton“ – kann, als furchtlose Entblößung des empfindlichsten und verwundbarsten Körperteils, ein Hinweis auf Stärke sein. Die weibliche Personifizierung deutet auch Anderssein oder gewisse Außenseiter-Eigenschaften in einem männlich kontrollierten Bildschöpfungsprozess an: Gerade die nackte, weibliche Form ist charakteristisch für das „niemals fassbare Andere“.36 Maurice Agulhon, der sich dem Problem bereits im neunzehnten Jahrhundert widmete, fragte in seinen S ­ tudien zur Personifizierung der französischen Nation in der Figur der Marianne wiederholt, warum ausgerechnet eine Frau zur Personifizierung der höchsten Werte der westlichen Kultur ausgewählt worden sei. Männlich dominierte Kulturen schreiben Frauen die Rolle von Objekten zu, doch gendered-nations-conference-summary-march-25-28-1998 (zuletzt aufgerufen am 02.11.2018). 36 | Marina Warner, In weiblicher Gestalt: die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 15f., 103-107, 128-131, 375-381, 437.

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mitunter mehr: Freiheit, zum Beispiel, ist nahezu niemals männlich. Sie ist nicht gekrönt und kein männlicher Monarch, ganz im Gegenteil: Sie ist eine Frau mit phrygischer Mütze als Symbol der Emanzipation der Sklaven. Eine solche Personifizierung kann sowohl aufwendig bekleidet und herrschaftlich als auch wild und teilweise entblößt sein: Nationalgefühl wird häufig in letzterer Form erfasst (man denke hier an Eugène Delacroixs La Liberté guidant le peuple, 1830), während erstere häufiger Europa charakterisierte. In der Darstellung der Marianne, andererseits, verraten ihre niedere Herkunft und ihre teilweise Nacktheit eine Verbindung zwischen Republik und der missbilligten Seite der Weiblichkeit: der Hurerei.37 Darüber hinaus ist argumentiert worden, die nahezu exklusive Rolle der Frau in der Personifizierung der modernen National­identität funktioniere auf „Weisen, die Frauen auf symbolische statt auf aktive Rollen im Gemeinwesen verweist.“38 Eine der direktesten Arten, auf die in der Frühen Neuzeit SchöpferInnen geographischer Bilder auf gegenderte Weise zum Konzept von Europa beitrugen, war es, Europakarten in den Umrissen einer Frauengestalt zu zeichnen. Das Bild der Königin Europa entwuchs der mittelalterlichen Mariensymbolik, ebenso wie dem Mythos um die Königstochter Europa, die von dem als Stier verwandelten Göttervaters Zeus entführt wurde; Eva war mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls unter den Prototypen. So gibt es zum Beispiel eine Reihe handgezeichneter Landkarten aus den 1330er Jahren, geschaffen von Opicinus de Canistris, einem Priester aus Pavia. Seine unorthodoxe Haltung grenzte an Häresie, für seine Ansichten saß er einige Zeit in Avignon im Gefängnis. Für Karten des Mittelmeerraums, die sein geistliches Tagebuch illustrierten, in dem auch die starken Zweifel in seinem eigenen Glauben dokumentiert waren, nutzte er die neuesten nautischen Daten.

37 | Maurice Agulhon, Marianne into Battle: Republican Imagery and Symbolism in France, 1789-1880, Cambridge 1981, S. 1, 15-16, 94, 185. 38 | Tricia Cusack, Síghle Bhreathnach-Lynch (Hg.), Art, Nation and Gender: Ethnic Landscapes, Myths and Mother-Figures, Aldershot 2003, S. 2; Anne McClintock, Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, London 1995, S. 354-356.

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Abbildung 3: Opicinus Canistris, Karte Europas und Afrikas, ca. 1330.

Vatikanische Apostolische Bibliothek, Rom. Vat. lat. 6435; https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Opicinus_de_Canistris_world_ map,_1296_%E2%80%93_1300.png, Gemeingut (zuletzt aufgerufen am 24.09.2018).

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Opicinus zeichnete das Mittelmeer so, dass der Westen am oberen Ende lag, und passte die gegenüberliegenden Seiten des Binnenmeeres in Nonnen- und Mönchskörper ein, die sich in einer Art sexuellen Interaktion miteinander befanden. Mitunter wurde die afrikanische Küste zu einer Frau oder Nonne und Europa zum Mann geformt. Die hier in Abbildung 3 gezeigte Variante stellt Europa als Frau dar und Nordafrika als Mönch; leicht pornographische Details sind eingezeichnet und eine Teufelsgestalt mit anzüglich schweifenden Händen agiert auf Höhe des Schritts im Mittelmeer zwischen der männlichen und der weiblichen Gestalt. Etwas ganz ähnliches passiert auch im auf dem Kopf stehenden Schwarzen Meer zwischen den Gesichtern eines Mannes und einer Frau. Dies sind vermutlich die frühesten Landkarten, die menschliche Körper in die Umrisse der europäischen Kontinente (und die italienische Halbinsel in einen Stiefel) übertragen. Die beiden sich über das Mittelmeer hinweg zugewandten Gestalten repräsentieren möglicherweise Adam und Eva, während die Karte den Augenblick ihres Sündenfalls aufzeichnet.39 Das weibliche Haupt und sein üppiges Haar füllen die Iberische Halbinsel, der Rumpf ist Frankreich, ihre Beine Italien und die Balkanhalbinsel. Auf ihren Kopf ist eine Mitra gezeichnet und sie ist eindeutig mit der Kirche verknüpft, vielleicht angesichts der „Bedrohung“ durch das islamische Afrika und Asien. 40 Opicinus entwirft, indem er es personifiziert und ihm religiöse und moralische Eigenschaften verleiht, ein dem Rest visà-vis entgegengesetztes Europa. Zwar handelt es sich hier um eine eher individuelle und esoterische Reihe von Beispielen von wahrscheinlich begrenzter Reichweite. Dennoch erlauben sie, innerhalb des dominanten theologischen Rahmens, einen gewissen Grad der Identifikation von Europas Anderem über interkontinentale Grenzen hinweg – insbesondere zur Zeit der Kreuzzüge. Zwei Jahrhunderte später, im Jahre 1537, schuf der Tiroler Johannes Putsch (auch Bucius von Innsbruck, 1516-1542) eine Europakarte, in der Europa als Königin in offiziellem Gewand und mit Insignien ausgestattet dargestellt wird und das zuerst von Christian Wechel in Paris veröffentlicht wurde. Die Karte war offensichtlich ein Tribut an die Habsburgische Macht in Europa und seinem Arbeitgeber Ferdinand gewidmet, Herrscher über die Habsburgischen Besitztümer in Deutschland und zukünftiger 39 | Michel Mollat du Jourdin, Europa und das Meer. München 1993, S. 14. 40 | M. Wintle, „Renaissance Maps“, S. 151; M. Wintle, The Image of Europe, S. 175-177, 247-250.

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Kaiser in der Erbfolge seines Bruders Karl V. 41 Das gekrönte Haupt der Königin bildete Spanien (Sitz der Monarchie), ihr Rumpf erstreckte sich über West- und Zentraleuropa, Italien stellte ihren rechten Arm dar und Sizilien ihren Reichsapfel, während ihre Röcke sich über Osteuropa von Litauen im Norden bis Bulgarien und Griechenland im Süden ausbreiteten. Der türkische Herrschaftsbereich wurde unter ihren Füßen zertreten. Dies stellte sich als ein genialer Einfall heraus: Das Bild wurde im Verlaufe des Jahrhunderts vielfach nachgeahmt; die vermutlich bekannteste Kopie ist die Sebastian Münsters in seiner Cosmographia, die zuerst 1544 in Basel gedruckt wurde. 42 Ihre Berühmtheit lässt sich möglicherweise teilweise darauf zurückführen, dass es ihr gelang, die ungleichen Ländereien der Habsburger zu einem einzigen, erkennbaren, vereinigten Territorium zusammenzufügen, dessen Einheit wiederum durch einen königlichen, weiblichen Menschenkörper personifiziert wurde. Das Bild scheint in den Händen Bucius‘, Münsters und anderer eine derart starke Überzeugungskraft entwickelt zu haben, dass die Hegemonie anerkannt und als eine legitime, wenn nicht sogar buchstäbliche Interpretation der politischen Lage akzeptiert wurde. 43

41 | Bucius’ Landkarte, von der nur eine Kopie bekannt ist, findet sich in H.A.M. van der Heijden, De oudste gedrukte kaarten van Europa, Alphen aan den Rijn 1992, S. 121, das übrigens auch eine maßgebliche Liste von Europa-/Jungfrauen-Landkarten beinhaltet (S. 118-135). 42 | Dargestellt z. B. in D. Hay, Europe: The Emergence of an Idea, Titelseite. Vgl. auch Van der Heijden, De oudste gedrukte kaarten, S. 128f. Die Darstellung erschien zuerst in der Cosmographei des Sebastian Münster (Auflage von 1556). 43 | Vgl. John Pickles, „Texts, Hermeneutics and Propaganda Maps“, in: Trevor J. Barnes, James S. Duncan (Hg.), Writing Worlds: Discourse, Text and Metaphor in the Representation of Landscape, London 1992, S. 193-230, hier S. 200-203.

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Abbildung 4: „Europa prima pars terrae in forma virginis“

H. Bunting, Itinerarium sacrae scripturae, Prag, 1592, S. 18-19.

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Abbildung 4 zeigt eine als „Europa in Gestalt einer Jungfrau“ betitelte Darstellung und stammt aus einer tschechischen Ausgabe von Heinrich Buntings Itinerarium sacrae scripturae von 1592 (das Werk wurde erstmals 1581 publiziert). Das Herz Europas ist als das habsburgische B ­ öhmen dargestellt, das selbst wiederum in Form einer Goldmünze, die an einer aus dem Rheinland herabhängenden Kette befestigt ist, gezeigt wird. Hierbei handelt es sich um die Landkarte als Propagandamittel: Die ganze Aufmerksamkeit wird auf die Ansprüche Habsburgs gelenkt, während andere, rivalisierende Akteure – Bourbonen, Osmanen, Barbaresken-Korsaren – unerwähnt bleiben. 44 Die Aufnahme des Wortes „Jungfrau“ in den Titel verweist auf die Verbindungen mit der Mariensymbolik, ­welche die Reinheit, Vornehmheit und Güte sowohl des Bildes als auch der habsburgischen Macht in Europa betonen. Wenn Europa also weiblich war und als der Sitz der wahren Religion angesehen wurde, dann liegt es nahe, dass die Personifizierung Europas als Maria, wenn auch nur in assoziativer Weise, Bestandteil der Symbolik ist. Die Vielzahl ­späterer Gemälde, welche die unbef leckte Empfängnis thematisieren – insbesondere der spanischen Maler wie Velázquez und Zurbarán – und die Jungfrau im blauen Gewand mit einem aus goldenen Sternen gebildeten Heiligenschein über dem Haupt zeigen, lieferten eine direkte, christlich-demokratische Inspirationsquelle für die Flagge der Europäischen Union und anderer ­ähnlicher Symboliken im zwanzigsten Jahrhundert. 45 Auch das Othering Europas war wichtiger Bestandteil dieser ­weiblichen Ikonographie: Der Gebrauch der weiblichen Gestalt war polyvalent. Zum einen half die Darstellung Europas, ein europäisches ­Wesen zu definieren, indem bestimmte „weibliche“ Tugenden wie Reinheit, Fruchtbarkeit und Güte der Königin Europa zugeschrieben wurden; gleichzeitig bewirkten andere, ebenfalls weibliche Eigenschaften der Personifizierungen nicht-europäischer Kontinente die Hervorhebung ­ angeblicher Unterschiede zwischen Europa und anderen Weltgegenden: Offenheit, Jugend, Verlockung, Sexualität, Exotismus und Anderssein 44 | Vgl. Katarzyna Murawska-Muthesius, „Mapping the New Europe: Cartography, Cartoons and Regimes of Representation“, in: Centropa 4/1 (2004), S. 4-19, hier S. 7-9; Van der Heijden, De oudste gedrukte kaarten, S. 123f. 45 | Marina Warner, Maria, München 1982, S. 290ff.; sowie die eingehende Diskussion in Jan Willem Sap, De Maria code: Het Symbool op de Europavlag, Amsterdam 2013.

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wurden genutzt, um solche Eigenschaften, die für weniger typisch europäisch gehalten wurden, zu identifizieren. So betätigten sich viele KünstlerInnen zumindest zeitweise im Geschäft mit aufreizenden Bildern. Einige der Darstellungen anderer Kontinente waren (wie bereits angedeutet) eindeutig nicht zuletzt zur sexuellen Befriedigung der männlichen, europäischen Zielgruppe erdacht. Wie der Kartographiehistoriker Brian Harley ausführte, wurde die weibliche ­Sexualität Afrikas und Amerikas „häufig zugunsten der männlich dominierten europäischen Gesellschaften geltend gemacht.“46 In der Frühen Neuzeit spielte Giambattista Tiepolo zweifellos eben dieses Spiel in seinen Fresken der vier Kontinente, die er in den 1750er Jahren über der großen Treppe in der Residenz des Würzburger Fürstbischofs schuf. Viele andere taten das ebenfalls – einschließlich William Blake, wie in Abbildung 2 oben gesehen, mit seiner Gravur der drei nackten Kontinente von 1796. 47 Aus Stedmans Text geht eindeutig hervor, dass das Bild ebenso wie sein Titel dazu gedacht waren, gegenseitige, schwesterliche Unterstützung zwischen den Kontinenten – verbunden durch den atlantischen Dreieckshandel – zu signalisieren. Der Gravur lassen sich jedoch auch noch andere Interpretationen beilegen. So ist angedeutet worden, dass die Unterstützung, die Europa von ihren dunkelhäutigen Schwestern ­erhält, sinnbildlich für ihr ökonomisches Verhältnis sei und dass, während Europa sich mit Perlen schmückt, die beiden anderen SklavenArmreife tragen. 48 Doch der viel offensichtlichere Aspekt dieser von Stedman entworfenen und von Blake fachmännisch gravierten Darstellung ist, dass es drei vollständig nackte, heiratsfähige junge Frauen in Frontalansicht zeigt. Es ist eines dieser halb-pornographischen Bilder, das sich 46 | John Brian Harley, „Maps, Knowledge, and Power”, in: Denis Cosgrove, Stephen Daniels (Hg.), The Iconography of Landscape: Essays on the Symbolic Representation, Design and the Use of Past Environments, Cambridge, 1985, S. 277-312, hier S. 299. 47 | Vgl. J. Stedman, Stedman’s Surinam, S. 316-317, und M. Wintle, The Image of Europe, S. 312-313. 48 | J. Stedman, Stedman’s Surinam, S. xxxvii f. und 316. Richard und Sally Price, die Herausgeber*innen der Ausgabe von 1992, spielen diese Andeutung herunter und weisen darauf hin, dass die Armreife in einigen kolorierten Darstellungen golden sind, während Europa lediglich mit blauen Glasperlen ausgestattet ist.

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gewissermaßen als Kunst ausgibt. Tatsächlich erscheint die Nacktheit ziemlich unnötig. Die Darstellung ist auch deshalb sehr ungewöhnlich, weil sie Europa selbst als nackt und daher als sexuell verfügbar zeigt. Abbildung 5: Johan Göz, Tafelaufsatz aus Porzellan, die vier Kontinente darstellend, 1760-1765, Ludwigsburger Porzellanfabrik.

Cooper Hewitt Smithsonian Design Museum, New York, Schenkung aus dem Nachlass von James Hazen Hyde (Zugangsnummer 1960-1-50, Objekt ID 18429597); https://collection.cooperhewitt.org/objects/18429597/withimage-48018/ (zuletzt aufgerufen am 24.09.2018).

Viel typischer war es, das weibliche Europa voll und reich gekleidet – und somit, zumindest theoretisch, als weitaus weniger sexuell verfügbar – zu

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porträtieren. Es existieren jedoch weitere Exemplare, die Europa nackt ­zeigen: Ein gutes Beispiel dafür ist ein die Kontinente darstellender Tafelaufsatz, der wahrscheinlich Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland von Johan Göz (1732-1762) geschaffen wurde (Abbildung 5). 49 Alle vier Damen sind bis auf ihre Kopf bedeckungen nackt (Europa trägt einen klassischen Helm, Amerika eine Federhaube, Asien und Afrika Turbane aus Tuch) und die mehrfarbige und vergoldete Dekorierung macht sie alle – das nackte und erotische Europa eingeschlossen – gleichermaßen verführerisch.50 Diese MalerInnen und ModelliererInnen haben die Nacktheit Europas möglicherweise als ein besonderes Zeichen von Stärke und Unbesiegbarkeit genutzt (wie Marina Warner aufgezeigt hat)51 und sie mit dem allgemeinen sexuellen Othering, das sich in der Darstellung der Kontinente als nackte, junge Frauen ausdrückt, verknüpft – während, als wäre es selbstverständlich, die Kommunikation dieser Ideen von Männern kontrolliert wurde. Es bestand eine lange Tradition darin, den weiblichen Körper als Metapher für ein Territorium zu verwenden – gerade im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert und gerade für ein zu eroberndes Territorium.52 Schon lange gab es in der Kartographie und der Geographie Konventionen, denen entsprechend die Erforschung neuer Länder in manchen Quellen als „erotics of ravishment“53 behandelt wurde. So existierte eine Konvention, die Sexualität der indigenen Bevölkerung auf erstaunlich übertriebene Weise zu schildern und immer wieder die angeblich unersättliche Begierde indigener Frauen überall in der Welt, insbesondere

49 | Illustriert und beschrieben in H. Backlin, The Four Continents, from the Collection of James Hazen Hyde [Ausstellungskatalog des Cooper Union Museum], New York 1961, S. 12, item no. 25. 50 | Weitere Beispiele werden in M. Wintle, The Image of Europe, S. 314-315 diskutiert. 51 | M. Warner, In weiblicher Gestalt, S. 375f. 52 | Matthew H. Edney, „Mapping Empires, Mapping Bodies: Reflections on the Use and Abuse of Cartography“, in: Treballs de la Societat Catalana de Geografia 63 (2007), S. 83-104, hier S. 86 und passim; sowie Darby Lewes, Nudes from Nowhere: Utopian Sexual Landscapes, Lanham 2000, S. 128-164. 53 | A. McClintock, Imperial Leather, S. 22. Auf Deutsch am ehesten zu übersetzen mit „Eroberungs- und Vergewaltigungserotik“.

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in Amerika, zu betonen.54 Empfänglichkeit und Passivität waren vorgeblich weibliche Eigenschaften, welche sich gut für die Länder eigneten, die alsbald von europäischen Männern erobert werden sollten, und genau deshalb war weibliche Symbolik auf Landkarten weit entfernter Orte – wiederum ­insbesondere auf solchen der Amerikas – so beliebt.55 In seiner neunzehnten Elegie, Auf das Zubettgehen seiner Dame (um 1595), verwendete der englische Dichter John Donne, in der etwas pornographischen Bitte, sie möge sich entkleiden und sich seinen „schweifenden Händen“ hingeben, die Metapher von der Erforschung der Neuen Welt zur Beschreibung des Körpers seiner Geliebten: „Oh, mein Amerika, mein neues Land, ... Dich zu entdecken, nenn ich glücklich sein“.56 Der (männliche) Liebhaber e­ rforscht, entdeckt und besitzt; die (weibliche) Geliebte (so wie Amerika) wird erforscht, passiv, schüchtern und verfügbar. Frauen können dazu verwendet werden, die Grenzen des Reiches und des Unbekannten ­abzustecken und damit den Mythos der leeren oder „jungfräulichen“ Länder zu stärken.57 Anne McClintock liefert uns ein Musterbeispiel: Den b ­ ritischen Autor H. Rider Haggard, berühmt für seine imperialen Abenteuergeschichten, und sein Werk König Salomons Schatzkammer (englische Ausgabe von 1885 King Solomon’s Mines) von 1888. Die (im Buch abgedruckte) Landkarte, die seine unerschrockenen Protagonisten benutzen, um die märchenhaft reichen Minen im dunkelsten Afrika ausfindig zu machen, hat buchstäblich die Form eines nackten Frauenkörpers, einschließlich zweier Berge mit dem Namen „Sabas 54 |  Martin Daunton, Rick Halpern (Hg.), Empire and Others: British Encounters with Indigenous Peoples, 1600-1850, London 1999, S. 91-93; mit Blick auf afrikanische Menschen fand sich immer wieder eine übertriebene Hervorhebung schwarzer weiblicher Sexualität (L. Back, J. Solomos (Hg.), Theories of Race and Racism, S. 19, 33). 55 | Vgl. Darby Lewes, „The Female Landscape“, in: Mercator‘s World 4/1 (1999), S. 34-41; dies., „The Site/Sight of Europa: Representations of Women in European Cartography“, in: Luisa Passerini (Hg.), Figures d’Europe: Images and Myths of Europe, Brüssel 2003, S. 107-123, das einige solcher Beispiele behandelt. 56 | „19. Elegie: Auf das Zubettgehen seiner Dame“, in: Maik Hamburger (Hg.), Zwar ist auch Dichtung Sünde, Leipzig 1985, S. 103, 105, hier S. 105. 57 | Ein gutes Beispiel ist die visualisierte Begegnung zwischen Vespucci und dem nackten Amerika, vgl. Abbildung 8 weiter unten.

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Brüste“ und einer passend platzierten „Öffnung der Schatzkammer“.58 Dieser gegenderte Eroberungstraum verleiht der weiblichen Personifizierung eindeutig eine wichtige Funktion – aber wie lässt sich die Tatsache verstehen, dass auch Europa eine Frau ist, ebenso wie die zu besitzenden, jungfräulichen Territorien Afrika, Amerika und sogar Asien?

G ender -M ischung Um das Ganze noch weiter zu verkomplizieren: Europa wurde nicht ausnahmslos als Frau dargestellt. Es gibt eine sehr geringe Anzahl von Fällen, in denen die Kontinentalpersonifizierungen männlich sind; im achtzehnten Jahrhundert gab es eine zwar eher unbedeutende, aber doch beständige Tradition, die Kontinente als männliches Quartett darzustellen. Die meisten dieser Ausnahmen sind eher sonderbar. In seltenen Fällen wird Europa zu einer militärischen Gestalt59 oder sogar zu einem wenig heroischen, alten Mann.60

58 | A. McClintock, Imperial Leather, S. 24-25, S. 30ff. Vgl. auch M. Edney, „Mapping Empires“, S. 95-96. 59 | Z. B. zeigt ein Satz zinnbeschichteter Steingutkontinente Europa als eher kraftlosen jungen Mann von vage militärischer Erscheinung, mit langem Haar, Reiterausrüstung und einem schönen, weißen Schlachtross (französisch, wahrscheinlich Niderviller, 18. Jahrhundert, Metropolitan Museum of Art New York, ESDA Collection, Schenkung aus dem Nachlass von James Hazen Hyde, 1959 [59.208.22]). 60 | Z. B. eine mehrfarbige Porzellanfigur aus den späten 1750er Jahren, die von Domenicus Auliczek in der Werkstatt Nymphenburg in München hergestellt wurde. Metropolitan Museum of Art New York, ESDA Collection, Schenkung aus dem Nachlass von James Hazen Hyde, 1959 (59.208.18. Bezüglich der letzten beiden Ziffern: 15 ist auf das Stück aufgemalt, aber 18 ist richtig).

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Abbildung 6: Die vier Kontinente, Hans Weigel und Jost Amman, Habitus praecipuorum populorum tam virorum quam feminarum singulari arte depicti, Nürnberg, 1577

Titelseite. Biblioteca Nacional de España, Madrid; https://www.flickr.com/ photos/bibliotecabne/15969771273, Gemeingut (zuletzt aufgerufen am 24.09.2018).

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Eine rätselhafte männliche Darstellung der Kontinente findet sich auf der Titelseite eines Trachtenbuches von Hans Weigel, das 1577 in Nürnberg veröffentlicht wurde (Abbildung 6). Auf der unteren Hälfte der Seite befinden sich die Kontinente, personifiziert als Männer: Amerika ist ein Tupinambá aus Brasilien, bekleidet lediglich mit Federn und ausgestattet mit Bogen und Pfeil. Asien und Afrika sind anderer Art: Sie sind als Soldaten gekleidet, beide im osmanischen Stil; Asien tritt als Türke auf, möglicherweise ein Janitschar, mit großem Turban und Speer, während Afrika ein Mameluck-Soldat sein könnte, ebenfalls osmanisch, mit auf den Islam hindeutenden Halbmond-Symbolen auf seinem Schild. Europa unterdessen erscheint als Schneider, splitternackt, Stoff ballen sowie Schere tragend, bereit, jeden Moment den Markt zu betreten und die Kleider anzubieten, die Amerika braucht; die beiden vornehm gekleideten Osmanen werfen indes neugierige Blicke auf das halbnackte Amerika. So jedenfalls lautete die Notiz, die der Gravur anlässlich der Ausstellung A New World: England’s first view of America im British Museum im Jahr 2007 beigelegt war.61 Eine alternative Interpretation könnte lauten, dass die drei nicht-europäischen Kontinente kriegerisch sind – dargestellt als Kämpfer, deren traditionelle Kostüme (es ist schließlich ein Kostümbuch) bezeichnend für überkommene Werte sind. Europa dagegen, befreit von den alten Gewändern, ist bereit und begierig, neue, modische Kleidung zu liefern. Darin könnte ein Verweis auf eine für die Renaissance (und die Antike) typische Vorsicht im Umgang mit Innovation sowie eine entsprechende Präferenz für Stabilität liegen.62 Wie dem auch sei, wir haben es hier mit einer sehr ungewöhnlichen Verkehrung der allgemeinen Gebräuche in der Kontinentalpersonifizierung zu tun, wo das weibliche Europa für Kultiviertheit, Überlegenheit und Stabilität in jeder Hinsicht steht. Diese männlichen Versionen scheinen eine Art Abweichung zu sein. Gelegentlich findet sich eine Abbildung personifizierter Kontinente, die die Gender mischt: einige männlich, einige weiblich. In einer f lämischen Kanzel aus geschnitztem Holz aus dem siebzehnten Jahrhundert, die sich in Sankt Peter und Paul in Mechelen im heutigen Belgien b ­ efindet, 61 | British Museum, März bis Juni 2007. PandD 1850, 0511283-502. 62 | F. Bethencourt, Racisms, S. 70-71. Vgl. auch Charlotte Colding Smith, „‚Depicted with Extraordinary Skill‘: Ottoman Dress in Sixteenth-Century German Printed Costume Books“, in: Textile History 44/1 (2013), S. 25–50, hier S. 26-28.

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schuf der Bildhauer Hendrik Frans Verbruggen lebensgroße Statuen der vier Kontinente. Europa tritt als reich gekleidete junge Frau mit Buch auf, während links und rechts von ihr Afrika und Amerika männlich dargestellt sind. Amerika trägt einen großen, buschigen Schnurrbart und eine bemerkenswert gebogene Nase. Das männliche Afrika ist nackt, stereotyp negroid und trägt einen Elefantenkopfschmuck.63 In einer Reihe von Zeichnungen (ca. 1700) von Godfried Maes ist lediglich Amerika männlich. Europa zeigt sich in kriegerischer Pose, samt Helm und der übrigen definierenden Ausrüstung (Schlachtross, Waffen, Papstkrone, Reichsapfel, Schwert und verschiedene andere Utensilien), Afrika und Asien sind weiße Frauen mit ihren jeweils eigenen ikonographischen Ausrüstungen, während Amerika männlich, muskulös und nahezu nackt ist: Hier wird exotische Maskulinität ausgestellt.64 Die Vorstellung von Amerika als Verkörperung exotischer, primitiver Männlichkeit war nicht einmalig, wenn auch ungewöhnlich; so besitzt zum Beispiel ein Museum in Wales eine männliche Porzellanfigur Amerikas – hergestellt in Berlin im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts – vollständig ausgerüstet mit Keule, Federrock, Kopfschmuck und Perlen.65 Die Rollen konnten aber auch vertauscht sein. Mitunter findet man die Personifizierungen der vier Kontinente im achtzehnten Jahrhundert mit Asien und Europa als Männern, Afrika und Amerika als knapp bekleideten primitiven Frauen. Eindeutig sind die jüngeren Kontinente unterwürfig und von niedrigerem Status; Gender wird gezielt verwendet, um diesen Unterschied und dieses Anderssein zu verstärken.66 ­Umgekehrt

63 | John Baptist Knipping, Iconography of the Counter Reformation in the Netherlands: Heaven on Earth, 2 Bde., Leiden 1974, Bd. ii, S. 361–367. 64 | Metropolitan Museum of Art, New York, Drawings Collection, Schenkung aus dem Nachlass von James Hazen Hyde (1974.201-4). 65 | Mittlerweile in der Glynn Vivian Art Gallery, Swansea, GV 1387. Für weitere Verweise bezüglich dieses und anderer vergleichbarer Stücke, vgl. M. Wintle, The Image of Europe, Kapitel 5. 66 | Z. B. die in eine Schranktür eingelassenen Kontinente von André-Charles Boulle, Antwerpen, c. 1694-1716. Ungarisches Nationalmuseum, Budapest, inv. 1948.10.

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werden gelegentlich Europa und Amerika als Frauen, Asien und Afrika als Männer gezeigt.67 Wie lassen sich diese ungewöhnlichen, aber faszinierenden Mischungen der Gender in der Darstellung der Kontinente verstehen? Lassen sich aus der Weise, auf die die EuropäerInnen Gender und Sexualität insbesondere im achtzehnten Jahrhundert zur Visualisierung der Kontinente nutzen, Schlüsse über ihre Sicht der Welt und ihre Stellung darin ziehen? Die erste Antwort auf diese Fragen muss sein, dass sowohl Gender-Mischung als auch die Darstellung von Erdteilen durch Männer, ob gemischt oder nicht, sehr ungewöhnlich war. Unter all den tausenden Bildern der Kontinente, die in der Frühen Neuzeit produziert wurden, weichen weniger als zwanzig von dem überwältigenden Konsens ab, demzufolge Kontinente Frauen sein sollten. Männliche und gemischte Darstellungen waren in der Tat sehr selten; die große Mehrheit war weiblich. Die zweite Antwort muss sich mit dem Eurozentrismus auseinandersetzen.

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Unter den weiblichen Personifizierungen existieren viele Beispiele, in denen die Kontinente Afrika und Amerika (und gelegentlich auch Asien) sexuell verführerisch sind, was für gewöhnlich durch Jugend und unbekleidete Darstellung gekennzeichnet ist. In diesen Fällen sind regelmäßig Vorstellungen von Besitz und Erforschung präsent, wenn auch häufig als Teil einer komplexeren Konfiguration von Gefühlen zur Beziehung ­zwischen Europa und dem Rest der Welt. Im Gegensatz zu solcher Nacktheit war Europa, ungeachtet William Blakes Darstellung (vgl. Abbildung 2 oben), beinahe ausnahmslos vollständig eingekleidet; in den seltenen Fällen, in denen sie entblößt ist, war dies als Zeichen der Unbesiegbarkeit intendiert. Europa war oft nicht so jung wie die anderen und zeigte mitunter beinahe hausmütterliche Eigenschaften – die Botschaft war, dass der alte Kontinent nicht so einfach auszubeuten war wie Afrika und Amerika, während Asien sich irgendwo dazwischen befand.

67 | Z. B. ein paar silberner Dubliner Kerzenhalter aus den 1740er Jahren, Metropolitan Museum of Art New York, ESDA Collection, Schenkung aus dem Nachlass von James Hazen Hyde, 1959 (59.208.73 and 74).

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Abbildung 7: Gottfried Bernhard Goetz, Königin Europa zu Pferde, aus einer Reihe von Kontinenten, frühes achtzehntes Jahrhundert, Kreide, Deutsch.

Metropolitan Museum of Art, New York, Schenkung aus dem Nachlass von James Hazen Hyde, 1959 (59.208.101); https://www.metmuseum.org/art/ collection/search/334877, Gemeingut (zuletzt aufgerufen am 12.11.2018).

Ein Beispiel soll hier genügen. Abbildung 7 zeigt eine Zeichnung von Gottfried Goetz (1708-1774) aus dem zweiten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts: Königin Europa zu Pferde, gemeinsam mit den anderen Kontinenten, deren Gestalten – insbesondere die Afrikas – verlockenden Exotismus ausstrahlen. Europa, wie es hier gezeigt wird, ist jedoch Inbegriff gelassener Majestät, jugendlich und dennoch gereift, außerdem gebieterisch, hoch auf einem Schlachtross sitzend, in königlichen Gewändern, mit Krone, Reichsapfel und Zepter und in Begleitung von Bediensteten und Gefolgsleuten. Es ist ein Bild der Macht, nicht der Verwundbarkeit. Die meisten unter den weiblichen Bildern der Kontinente verstärken diese Emotionen: Respekt gegenüber der Macht Europas und die Einladung, die Anderen zu erforschen und zu

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besitzen.68 Ähnlich wie der von MalerInnen und AutorInnen geführte orientalistische Diskurs, dessen einschlägige Analyse von Edward Said geliefert wurde69 , war auch die frühneuzeitliche Sicht der Welt und die relative Lage der Kontinente, in ihrer Verschränkung mit diesen gegenderten Bildern, eine weitgehend männlich dominierte Diskussion. Es mag zwar gelegentlich eine ‚visuelle Kultur der Frauen‘ und die dazugehörige Auffassung der Kolonien und anderer Teile der außereuropäischen Welt70 für einen Augenblick zum Vorschein gekommen sein. Im Hinblick auf die Visualisierung der Kontinente wurde die Diskussion jedoch entscheidend durch einen männlichen Ansatz dominiert. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um eine Frage der Alterität oder des Andersseins, in deren Zusammenhang die Symbolik den Effekt hat, hierarchische Strukturen und Borniertheiten des heimischen Umfelds zu verstärken, in dem sie auf jenseits des Meeres gelegene Gebiete projiziert werden. Jan Nederveen Pieterse hat es in folgenden, wohlgewählten Worten ausgedrückt: „Indem er seine eigenen Schatten projiziert, schafft der Eurozentrismus überseeische ‚Andere‘, deren Konstruktion wiederum auf die Reproduktion und Rekonstruktion von Hierarchien innerhalb Europas und der westlichen Welt einwirkt. Während ‚Andere‘ Europas Selbst der abgespaltenen Schatten spiegeln, treten mit den nach dem Bild der überseeischen Schatten rekonstruierten ‚Anderen‘ im Inneren europäische Hierarchien wieder hervor.“71

Demnach wird die Formung von Bildern durch Vorurteile und Stereotype in der heimischen, europäischen Gesellschaft getrieben. Dieser Prozess der Formung von Bildern des Anderen zeigt uns also viel mehr über die „Dynamiken des eigenen Kreises“ als von Imagologen lange angenommen. In seiner schlimmsten Form kann das ungeheuerliche Folgen ha68 | Peter Hulme hat dies als den „maskulinen europäischen Ethos des Kolonialismus“ bezeichnet: Colonial Encounters: Europe and the Native Caribbean 1492-1797, London 1992, S. 211. 69 | Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 2017; und ders., Kultur und Imperialismus, Frankfurt am Main 1994. 70 | Reina Lewis, Gendering Orientalism: Race, Femininity and Representation, London 1996, S. 236. Vgl. auch Rana Kabbani, Mythos Morgenland, München 1993. 71 | J. Nederveen Pieterse, White on Black, S. 212.

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ben, da weißes, bürgerliches, westliches, männliches Stereotypisieren zu „einem Programm der Angst in der restlichen Weltbevölkerung“ führt: „Stereotypisieren ist tendenziell nicht lediglich eine Frage von Herrschaft, sondern vor allem eine der Demütigung. Andere und untergeordnete Gruppen werden nicht lediglich beschrieben, sie werden entwürdigt, erniedrigt.“72 All dies gilt für gegenderte Bilder Europas in der Welt und insbesondere für seine kolonialen Aspekte. Abbildung 8: Jan van der Straet (Stradanus), America, 1589.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stradanus_America.jpg, Gemeingut (zuletzt aufgerufen am 19.06.2018).

Eines der bekanntesten Bilder der Begegnung Europas mit der Neuen Welt zeigt Amerigo Vespucci bei der Begrüßung eines nackten, weib72 | J. Nederveen Pieterse, White on Black, S. 29, 223. Zu der imagologischen Position, der zufolge alle „Typen“ Stereotypen sind, die mehr aussagen über die oder den Betrachtenden als über die oder den Betrachteten, vgl. z. B. Joep T. Leerssen, „The Rhetoric of National Character: A Programmatic Survey“, in: Poetics Today 21/2 (2000), S. 267-292.

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lichen Amerika, das sich in einer Hängematte ausruht. Es wurde 1589 von Jan van der Straet (Stradanus, 1523-1605) gezeichnet (Abbildung 8).73 Im Hintergrund sind amerikanische Indigene beim Braten von Fleisch auf einem Boucan oder einer ähnlichen Vorrichtung zu sehen, bei dem Fleisch handelt es sich offensichtlich um das eines Menschen. Dies drückt eindeutig ein Bedürfnis aus, entsprechend der Identifikation des Gegenteils oder Anderen der europäischen Zivilisation mit außereuropäischer Barbarei und Primitivismus, die entsetzlichen und bösen Seiten des Lebens in den fernen „Entdeckungen“ oder Kolonien zu betonen. Das Bild Amerigo Vespuccis, der das nackte Amerika entdeckt, konstruiert eine gegenderte, interkontinentale Beziehung, die von einer grundlegenden Übereinstimmung zwischen den Achsen männlich-weiblich, aktivpassiv, Technologie-Natur, kultiviert-barbarisch und zivilisiert-exotisch durchzogen wird. Zumeist bleibt der Mann dem Blick verborgen und das Weiblich-Exotisch-Passive wird im Bild erfasst. Dies ist versinnbildlicht in den Geschichten der Pocahontas und in den Erzählungen von indigenen Geliebten berühmter Eroberer – wie Cortes‘ Liebhaberin La Malinche: „der Blick schafft und reproduziert die Identität des Blickenden“.74 Die „hervorstechendste Verwendung des Bildes [vom weiblichen Amerika] […] lag darin, die Kultur der Kolonialisierten als fremd und minderwertig darzustellen […] die Vorstellungen, die Kolonien seien fremdartig und unkultiviert, waren von zentraler Bedeutung.“75 Ein junges, sexuell verfügbares Amerika (oder Afrika oder Asien) bedeutete Unterlegenheit gegenüber einer patriarchalischen europäischen Gesellschaft ebenso wie Naivität und Schwäche, und das Bild „evozierte eine komplexe Ansammlung von Gedanken über das rassische und sexuelle Andere, dem Fremden, dessen

73 | Es finden sich Kopien der Radierung von Jan van der Straet im British Museum in London sowie im Metropolitan Museum of Art in New York; für Anmerkungen dazu vgl. Peter Hulme, „Polytropic Man: Tropes of Sexuality and Mobility in Early Colonial Discourse“, in: Francis Barker et al. (Hg.), Europe and its Others, 2 Bde., Colchester, 1985, Bd. II, S. 17-32, hier S. 17-19; und A. Pagden (Hg.), The Idea of Europe from Antiquity to the European Union, Cambridge, 2002, S. 50. 74 | Vgl. N. Mirzoeff, Introduction to Part Five, in: Ders. (Hg.), The Visual Culture Reader, S. 391. 75 | Lester C. Olson, Emblems of American Community in the Revolutionary Era: A Study in Rhetorical Iconology, Washington 1991, S. 15.

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minderwertiger Status eine Frage habitualisierter Überzeugungen war.“76 Demnach ging das Gendern der Bilder der Kontinente hauptsächlich auf den männlichen Blick zurück, welcher die relative Würde Europas hervorhob, die weitere Welt jedoch unter dem Gesichtspunkt der Gelegenheit zur Ausbeutung und Beherrschung betrachtete, auf die sich in Begriffen der Alterität bezogen wurde. Dies ist die unübersehbare Interpretation von Darstellungen wie denen William Blakes in Abbildung 2. Im Lichte dessen ist die kleine Anzahl von Abweichungen vom allgemeinen Muster nicht schwer zu erklären. In den Varianten, in denen alle vier Kontinente Männer sind, werden die gleichen eurozentrischen Unterscheidungsmerkmale aufrechterhalten wie in denen mit den vier Frauen, und zwar mithilfe von Requisiten und Ausstattungen. In den sehr seltenen gemischten Varianten gelingt es den Künstlern, europäische Überlegenheit in jeder Hinsicht, einschließlich Sexualität und gegenderter Alterität, zu demonstrieren, und zwar lautstark. Die Dame Europa wird nicht als verwundbar oder verfügbar gezeigt (anders als Afrika und Amerika). Um es noch einmal zu betonen: Das ganze Genre wird im achtzehnten Jahrhundert (und tatsächlich auch in den vorhergehenden und nachfolgenden Jahrhunderten) dominiert und geprägt vom männlichen, europäischen Blick. Wie in der westlichen Kunst so häufig der Fall, steht die weibliche Form (ebenso wie ihre Umkehrungen) für die verschiedenen von Männern gehegten Idealisierungen der Frauen, welche sich von der verfügbaren Hure und der sexuellen Anderen über die Mutter, die Heilige, die Göttin und die Königin bis hin zur leibhaftigen Tugend erstrecken. Durch all diese Vertauschungen hindurch ist womöglich die einzige Konstante, dass diese gegenderte und oft rassistisch fundierte Symbolik immer und konsequent die europäische Überlegenheit verstärkte. Dieses Essay hat sich damit auseinandergesetzt, wie während der Renaissancezeit begonnen wurde, den Kontinentgrenzen – die seit der Antike existierten, jedoch nur als geographische Marken – der Status von Grenzen zwischen kulturellen Einheiten zuzuschreiben: Die Kontinente wurden zunehmend als Mittel kultureller Unterscheidung verwendet und nicht mehr lediglich zu Zwecken geographischer Ortsbestimmung. In visuellen Repräsentationen wurden die Unterschiede zwischen den Kon76 | Ebd.

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tinenten in der Form von Werten oder Eigenschaften artikuliert, welche den Personifizierungen der Kontinente beigestellt waren, zum Beispiel in der Form der wahren Kirche, von feinen Gewändern, Kronen, Waffen, musikalischen und technischen Instrumenten, oder aber des Mangels an diesen Dingen sowie der Anwesenheit sonderbarer Tiere und exotischer Ausrüstungsgegenstände. Auf zwei solcher Zuschreibungen lag das besondere Augenmerk dieses Essays: einerseits die physische Erscheinung der Personifizierungen in Form von Hautfarbe und anderen körperlichen Merkmalen und andererseits Gender. Obwohl sich für die Frühe Neuzeit kein dem Modernen vergleichbarer Begriff von „biologischer Rasse“ oder ein korrespondierender Rassismus feststellen ließ, bildete die Verbindung verschiedener Stränge nach und nach eine Art protorassistischen Diskurs in dieser Zeit, der ergänzend zu den entlang der Kontinentalgrenzen gezogenen, qualitativen Unterschieden Anwendung fand. Gender wurde ebenfalls sowohl auf offensichtliche als auch auf subtile Weise zur Unterscheidung zwischen Kontinenten genutzt, nicht lediglich in unumwundenen männlich-weiblich Unterscheidungen, sondern auch häufig in Gestalt unterschiedlicher Zuschreibungen und Darstellungen der weiblichen Form (und gelegentlich auch der männlichen Form). All das stand in Diensten einer strikten Hierarchie der Kontinente, zu deren Konstruktion und Verstärkung es beitrug und in der Europa ausnahmslos an der Spitze stand, Asien sich darunter befand und Afrika und Amerika die unterste Stufe besetzten. Der männliche, weiße Blick übernahm eine wichtige Funktion im Bau der Grenzen zwischen den Kontinenten, aber Eurozentrismus war allgegenwärtig und allmächtig. Der Schwerpunkt der vorliegenden Diskussion lag auf den visuellen Repräsentationen in diesem Diskurs in der Frühen Neuzeit (neben schriftlichen Quellen). Dieses Bildmaterial – und hierbei insbesondere in Personifizierungen (aber auch in anderen künstlerischen Formen, einschließlich der Kartographie), war besonders dazu geeignet, die kulturellen Charakteristika der Kontinente seit der Renaissance darzustellen und sie einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, als es durch das gedruckte Wort möglich gewesen wäre. Anders als in der Antike und im Mittelalter erlangten diese kulturellen Charakteristika der Kontinente und der Grenzen zwischen ihnen von der Renaissance an zunehmende Bedeutung. Der Beitrag des Visuellen hatte erheblichen Anteil an der Konstruktion, Definition und Verstärkung dieser interkontinentalen Grenzen in der Frühen Neuzeit.

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Titelseite von Abraham Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum, Antwerpen, 1570. Bijzondere Collecties, Universitätsbibliothek, Universiteit van Amsterdam, OTM: HB-KZL 1802 A 14. Abbildung 2: William Blake, „Europe Supported by Africa and America“, finis Seite (Abbildung 80) in: John Gabriel Stedman, Narrative of a Five Years Expedition against the Revolted Negroes of Surinam (London, J. Johnson and J. Edwards: 1796). Abbildung 3: Opicinus Canistris, Karte Europas und Afrikas, ca. 1330. Vatikanische Apostolische Bibliothek, Rom. Quelle: Rom. Vat. lat. 6435. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Opicinus_de_Canistris_world_map,_1296_%E2%80%93_1300.png, Gemeingut (zuletzt aufgerufen am 24.09.2018). Abbildung 4: „Europa prima pars terrae in forma virginis“, in: H. Bunting, Itinerarium sacrae scripturae, Prag, 1592, S. 18-19. Abbildung 5: Johan Göz, Tafelaufsatz aus Porzellan, die vier Kontinente darstellend, 1760-1765, Ludwigsburger Porzellanfabrik. Cooper Hewitt Smithsonian Design Museum, New York, Schenkung aus dem Nachlass von James Hazen Hyde (Zugangsnummer 1960-1-50, Objekt ID 18429597). https://collection.cooperhewitt.org/objects/18429597/ with-image-48018/, (zuletzt aufgerufen am 24.09.2018). Abbildung 6: Die vier Kontinente, Hans Weigel und Jost Amman, Habitus praecipuorum populorum tam virorum quam feminarum singulari arte depicti, Nürnberg, 1577, Titelseite. Biblioteca Nacional de España, Madrid, https://www.f lickr.com/photos/bibliotecabne/15969771273, Gemeingut (zuletzt aufgerufen am 24.09.2018). Abbildung 7: Gottfried Bernhard Goetz, Königin Europa zu Pferde, aus einer Reihe von Kontinenten, frühes achtzehntes Jahrhundert. Quelle: Image © Metropolitan Museum of Art, New York, Schenkung aus dem Nachlass von James Hazen Hyde, 1959 (59.208.101). https://www. metmuseum.org/art/collection/search/334877, Gemeingut (zuletzt aufgerufen am 12.11.2018). Abbildung 8: Jan van der Straet (Stradanus), Amerigo Vespucci meeting America, 1589. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/

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File:Stradanus_America.jpg, Gemeingut (zuletzt aufgerufen am 19. 06.2018).

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Zentralisierung Europas Geschlecht und Grenzwahrnehmung Muriel González Athenas

E inleitung „Europa“ erfährt am Ende der Frühen Neuzeit eine Zentralisierung und wird von europäischen Gelehrten in Abgrenzung zu den anderen Kontinenten zum Vorbildkontinent erhoben. Populäre Länderbeschreibungen, die sich aus geographisch-thematischen Karten und Reiseberichten ­speisen, verbreiten diese Vorstellung in der Bevölkerung. Die Rengerische Reihe (1704-1718), erschienen im Verlag Renger (Halle a. d. S.), ist dafür ein prominentes Beispiel. Anhand dieser bislang unerforschten Edition macht die Untersuchung deutlich, wie die Kategorien „Geographie“ und „Geschlecht“ dazu dienen, die Zentralisierung Europas vorzubereiten und zu popularisieren. In diesem Aufsatz soll die Perspektive westlicher Repräsentationen von „Andersheit“ in Beziehung zu den impliziten Konstruktionen des europäischen „Selbst“ gesetzt werden, durch welche dieses konstruiert und verfestigt wird. Die Betrachtung des „Orientalischen“ wird genutzt, um auf das „Okzidentalische“ zu blicken und einen Konstruktionsprozess besprechbar zu machen. 1 1 | Vgl. Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Regina Römhild (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2013; Christine Roll, „Die kartographische Aneignung der septentrionalischen Länder und die ,Erfindung Osteuropas‘“, in: Tanja Michalsky, Felicitas Schmieder, Gisela Engel (Hg.), Aufsicht-Ansicht-Einsicht. Neue Perspektiven auf die Kartographie an der Schwelle zur Frühen Neuzeit (= Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge, Bd. 3), Berlin 2009, S. 161-178;

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Diese Betrachtungsweisen, bei denen es sich m.E. um die Anfänge des Othering handelt, lassen Schlüsse in Bezug auf die Grundlagen der Repräsentation des „Europäischen“ zu. Am Beispiel der Rengerischen Reihe von Länderbeschreibungen wird untersucht, wie mittels Diskursstrategien bestimmte Raum(-Bilder) gesetzt wurden. Dabei wird nicht unbedingt eine Intentionalität vorausgesetzt, die sogenannte nichtwestliche oder nichteuropäische Welt in einer bestimmten Form darzustellen, um das Eigene hervorzuheben. Vorausgesetzt wird, dass die Identifikation, die Hervorhebung und letztendlich die Zentrierung des Eigenen diskursive Praktiken sind, die zum Ziel ­haben, ein geschlossenes und mächtiges Europabild zu schaffen. Dies hilft ­dabei, die Genese Europas in einem weiten Kontext zu verorten und ihre historischen Verbindungen sichtbar zu machen. In diesem Rahmen sollen die europäischen, durchaus vielfältigen Repräsentationen hinsichtlich der durch sie hergestellten machtasymmetrischen Darstellungen der unterschiedlichen Kulturen untersucht werden. Dabei schließe ich mich der These an, dass der Okzidentalismus nicht die Kehrseite des Orientalismus darstellt, sondern die Bedingung seiner Möglichkeit ist.2 Die hier dargelegte Perspektive hat das Mittel der Vereindeutigung in den Beschreibungen des Anderen und des Eigenen, die Differenzierung oder Verortung des „Kulturellen“, ihre Hierarchisierung und deren Naturalisierung und damit den Beginn und die Vervielfältigung epistemischer Machtbeziehungen im Fokus. Bei den Betrachtungen wird dabei von der Annahme ausgegangen, dass diese Diskurse bestimmte Raumdarstellungen, sei es in Form von Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 2009; Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998; Michał Buchowski, Bożena Chołuj (Hg.), Die Konstruktion des Anderen in Mitteleuropa. Diskurse, politische Strategien und soziale Praxis, Frankfurt an der Oder 2002; Ute Dietrich, Martina Winkler (Hg.), Okzidentbilder – Konstruktionen und Wahrnehmungen, Leipzig 2000; Dorothea Müller (Hg.), Ambivalenzen der Okzidentalisierung. Zugänge und Zugriffe, Leipzig 1998. 2 | Vgl. Fernando Coronil, „Jenseits des Okzidentalismus. Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien“, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Regina Römhild (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2013, S. 466-506.

Zentralisierung Europas

Karten oder Texten, hervorbringen.3 Diese Art der Verdichtung von Raumvorstellungen in Karten oder Texten wirkt jedoch wiederum auf gesellschaftliche Diskurse ein und popularisiert diese. 4 Als Quellengrundlage dient hier die Rengerische Reihe der Länderbeschreibungen mit dem Band über Europa (1708)5 und dem über das Königreich Fez und Marocco in Africa (1711)6. Bereits 1707 brachte das Verlagshaus 59 verschiedene Artikel heraus. Die Reihe wiederum gehörte zu den prominenten und viel rezipierten Publikationen des Verlags. In den Jahren 1704 bis 1718 erschienen im Verlag Renger mehrere Buchreihen, die in ihren Einzelbänden stets ein Land oder Herrschaftsgebiet im Hinblick auf dessen politische Strukturen, Ressourcen und Geschichte behandeln. Grundlage der Länderbeschreibungen waren Reiseberichte und aus anderen Sprachen übersetzte länderkundliche Literatur. Die eingeflochtenen oder wörtlich zitierten Reiseberichte stammen aus den unterschiedlichsten Bereichen. Es handelt sich beispielweise um Berichte von Gelehrtenreisen, sowie um Kolonialberichte, Handelsreiseberichte und seltene Expeditionsberichte. Zum zweiten Bereich, aus dem die zitierten Länderbeschreibungen stammen, zählen insbesondere mythologische und religiöse Texte. 3 | Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 1992, S. 689. 4 | Der genutzte Popularisierungsbegriff nimmt wechselseitige Transferprozesse und Einflussnahmen zwischen unterschiedlichen Kulturen ernst. Er geht also nicht von einer hierarchischen Wissensvermittlung von oben nach unten oder von Wissenschaft zu Populus aus. Vgl. Smilla Ebeling, Sigrid Schmitz (Hg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel, Wiesbaden 2006; Carsten Kretschmann (Hg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin 2003; Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit. 1848-1914, München 2002. 5 | Ich danke der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und besonders Dr. Volker Bauer für die Bereitstellung und Unterstützung bei der Bearbeitung dieses Quellenbestandes: Heinrich Ludwig Gude, Einleitung zu den Europäischen Staaten Und Derselben Beschluß, Leipzig 1708 (HAB Wolfenbüttel, M: Gb 298 [1]). 6 | Caspar Gottschling, Staat von dem Königreiche Fez und Marocco in Africa, Halle ca. 1711 (HAB Wolfenbüttel, M: Gb 298:15 [1]).

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Oftmals beinhalten die Publikationen kleine geographische Faltkarten, die entweder vor dem Inhaltsverzeichnis oder vor den jeweiligen Erdteilbeschreibungen zu finden sind. Die Bände sind zusätzlich mit unterschiedlich aufwendigem Frontspitz versehen.

D er Z usammenhang z wischen G eogr aphie und L änderbeschreibungen In der europäischen Vorstellung der Gelehrten, Reisenden, Adligen, Kauf leute sowie auch zunehmend in breiten Teilen der gebildeten Schichten war seit dem 18. Jahrhundert die Einteilung der Welt in „Westen“ und ­„Osten“ oder „Orient“ und „Okzident“ geläufig, die relativ ungenau Gebiete identifizierte und klassifizierte.7 Ungenau waren die Einteilungen deshalb, weil nicht immer klar definiert wurde, worauf sich diese bezogen. Dennoch vermittelte der Umgang mit diesen Kategorisierungen, dass sie auf klar verortbare Realitäten zurückführbar seien. Durch eben diese Idee eines fest einzugrenzenden „Europas“ entstand jene epistemische Einteilung von „Westen“ und „Osten“. Über den Zeitpunkt der Geburt der Idee „Europa“ ist sich die Forschung nicht einig. 8 Als sicher gilt jedoch, dass sich ein Europadiskurs als Vorstellung eines abgegrenzten und einheitlichen Kontinents im 18. Jahrhundert verdichtete und popularisierte.9 7 | Vgl. E. Said, Orientalismus; J. Osterhammel, Die Entzauberung Asiens; F. Coronil, „Jenseits des Okzidentalismus“. 8 | Umfassende Diskussion in Olaf Asbach (Hg.), Europa und die Moderne im langen 18. Jahrhundert (= Europa und Moderne, Bd. 2), Hannover 2014. 9 | Vgl. Wolfgang Schmale, Das 18. Jahrhundert, Wien 2012, S. 241-353; Michael Wintle, The Image of Europe. Visualizing Europe in Cartography and Iconography throughout the Ages (= Cambridge Studies in Historical Geography, Bd. 44), Cambridge 2009; Jörg Dünne, Die Kartographische Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit, Paderborn 2011; Sebastian Lentz, Ferjan Ormeling (Hg.), Die Verräumlichung des Welt-Bildes. Petermanns Geographische Mitteilungen zwischen „explorativer Geographie“ und der „Vermessenheit“ europäischer Raumphantasien, Stuttgart 2008; Herfried Münkler, „Europa als politische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle Bedeutung“, in: Leviathan 19 (1991), S. 521-541; Frithjof Benjamin Schenk, „Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Eu-

Zentralisierung Europas

Das große Interesse an dem neuen Wissen über die „ganze Welt“ führte mitunter dazu, dass im westlichen Europa die Geographie zum Bildungsgut wurde. Ein besonderes Augenmerk galt den fern von Europa gelegenen Gegenden wie Asien oder der sogenannten Neuen Welt Amerikas. Die vorher oft als verwirrend, bedrohlich oder wundersam wahrgenommene Ferne wurde nun in eine anschauliche graphische räumliche Ordnung gegossen, die ihre Verbreitung über die zeitgenössischen Medien fand. 10 So verräumlichten sich Weltbilder wie niemals zuvor und gingen einher mit Begehrlichkeiten und Beherrschbarkeiten. 11 Grundsätzlich gilt dabei, dass Karten weniger Abbildungen geographischer Einheiten sind, als vielmehr die Produktion von Repräsentationen symbolischer Räume. Vorstellungen von politischen Ordnungen und Hierarchisierungen können durch Karten abgebildet werden und beispielsweise europäische Zivilisationsdiskurse durch Benennungspraktiken, Projektionen, Ikonographien, Titel usw. auf Karten dargestellt werden. 12 Zu dem Vereinheitlichungsprozess gehörte zunehmend auch die Darstellung von Grenzen. In der Kartographie orientierte man sich noch streng an politischen Grenzen, bei denen es sich jedoch auf Europa bezogen um eine ständig sich verschiebende Komponente handelte (Französische Revolution, Napoleonische Kriege usw.). So wurde sich mit der Idee der „natürlichen Länder“ beholfen, die aus Kontinenten, Ländern und Landschaften bestanden und sukzessive mit deren „natürlichen Grenzen“, wie Flüsse, Wälder, Meere etc. 13 Im Vergleich zur politischen Ordnung hatte die sogenannte natürliche Grenzziehung einen „ewigen“ Beropa seit der Aufklärung“, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 493514; Hans-Dietrich Schultz, „Europa: (k)ein Kontinent? Das Europa deutscher Geographen“, in: Iris Schröder, Sabine Höhler (Hg.), Welt-Räume. Geschichte, Geografie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 204-235. 10 | Vgl. Michael Wintle, „Renaissance maps and the construction of the idea of Europe“, in: Journal of Historical Geography 25, H. 2 (1999), S. 137-278. 11 | Vgl. Christoph Conrad, „Vorbemerkung“, in: Geschichte und Gesellschaft, 28. Jahrgang, H. 3, S. 339-342; Christof Dipper, Ute Schneider (Hg.), Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt 2006. 12 | Vgl. S. Lentz, F. Ormeling (Hg.), Die Verräumlichung des Welt-Bildes, S. 7-15. 13 | Vgl. ebd.

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stand. Eng mit dieser Vorstellung verbunden war die Idee des E ­ inf lusses von Klima und Bodenbeschaffenheit auf den Charakter und das Wesen eines „Volkes“. Obwohl auch diese ersten Europa-Geographien sehr variierten, wird gerade dadurch deutlich, dass Europa zur Leitfigur der Weltkarten, zum Kontinent par excellence wurde. Kartographische Grenzen haben im doppelten Sinne ihre Funktion: Sie schließen Territorien ein und weisen auf Herrschaft über sie und ihre Bewohner*innen hin. Karten sind ein Medium, das Grenzen Gültigkeit verschaffen kann. Karten konstituieren visuell Grenzen und können diese somit als politisch gesetzt suggerieren. So sind Karten in ihrer Medialität selbstreferenziell; sie verschaffen Grenzen daher ihre Gültigkeit. Doch wie kam es zu der starken Gewichtung von Grenzen? Im Laufe der Frühen Neuzeit gewannen die territorialen Grenzziehungen an Bedeutung. Seit dem ausgehenden Mittelalter wurde eine Scheidelinie zwischen Territorien zur Bildung von Territorialstaaten mit Staatsbildungsprozessen in Zusammenhang gebracht. Seit 1648 erfolgten die Grenzziehungen jedoch nicht wie im Mittelalter zum Schutz gegenüber beispielsweise den „Barbaren“, sondern als Abgrenzung gegenüber den gleichwertigen Nachbarreichen. Wie alle Wissenschaften im 18. Jahrhundert ordnete sich auch die Geographie neu. 14 Die Wissenschaft und damit auch die sich etablierende Geographie sollte nur noch das abbilden, was vermessen und beobachtet wurde; somit sollte es keinen Platz mehr für Mythen und Legenden innerhalb von Karten geben. Im 18. Jahrhundert erhöhten technische Verbesserungen im Vermessungswesen die Anforderungen an die Kartograph*innen, genauere Grenzziehungen der beherrschten oder beanspruchten Territorien zu markieren. Unbekannte Gebiete wurden weiß und unbenannt gelassen, bis diese mit der fortschreitenden Expansion Europas „gefüllt“ wurden und somit die gesamte Welt(karte) eine Abbildung der Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation wurde. Schließlich etablierte sich zum Ende des 18. Jahrhunderts ein geographisch-anthropologisch begründeter „Mitteleuropa“-Diskurs, der sich in

14 | Vgl. Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790-1870, Paderborn 2011.

Zentralisierung Europas

der Kartenproduktion widerspiegelte. 15 Dieser zerlegte Europa in Teilräume, in denen die Staaten zu festen Gruppen zusammengefasst wurden. In dieser Forschung interessiert mich besonders, auf welche Art und Weise mittels der Denkfigur und Visualisierung von Grenzen, die auch über breit rezipierte Geschlechtergrenzen des 18. Jahrhunderts vermittelt werden, Europa zentriert wird. Grundlegend veränderten sich diese k ­ artographischen Grenzziehungen mit der Entstehung der Idee von Nationalstaaten in der Folge der Französischen Revolution. Sie erhielten eine innenpolitische Relevanz, denn eine Grenze bestimmte, wer italienisch, französisch, deutsch, und damit einer einheitlichen staatenweiten ­Gesetzgebung unterworfen war. Damit grenzten sich Nationalstaaten kulturell, ethnisch, religiös und wirtschaftlich voneinander ab und definierten die „eigene Bevölkerung“, über die geherrscht wurde. 16 Der Ausbau des Kommunikations- und Transportsystems seit dem 16. Jahrhundert verstärkte gleichzeitig das Bedürfnis nach Zentralisierung und Kontrolle des Informationsf lusses. Territorialstaaten konkurrierten daher in der Sammlung und Produktion von Wissensbeständen, durch welche sie sich Vorteile gegenüber anderen Staaten und Herrschaftsgebieten versprachen. Durch Geheimhaltung, Zensur und Erteilung von Privilegien versuchten die einzelnen Staaten und versuchte auch die Kirche ihre Macht zu erhalten oder zu erweitern, was besonders im 17. Jahrhundert sehr ­erfolgreich praktiziert wurde. 17 Viel über ein Standardwissen hinausgehendes Wissen wurde daher geheim gehalten; zumindest solange es aktuell war. Dies änderte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert grundlegend. Jegliche Informationen über Europa, an denen Gelehrte, Kauf leute, Reisende oder Herrschaftsträger*innen interessiert waren, lagen entweder 15 | Vgl. Larry Wolf, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of Enlightenment, Stanford 1994, S. 4-6. 16 | Vgl. Etienne François, Jörg Seifarth, Bernhard Struck (Hg.), Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2007; Michiel Baud, Willem van Schendel, „Toward a Comparative History of Borderlands“, in: Journal of World History, 8/1997, Nr. 2, S. 211-243; Christine Roll, Frank Pohle, Matthias Myrczek (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2010. 17 | Vgl. W. Schmale, Das 18. Jahrhundert, S. 131-205.

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in gedruckter oder gestochener Form vor. Jeder Bericht und jede Karte konnte durch einen anderen Bericht oder eine andere Karte überprüft werden. Sollten Karten jedoch langfristig einem marktförmigen Fluss zugeführt werden, mussten sie sich möglichst mit wenig Kritik auf dem Markt halten. So wuchs der Anspruch auf „wahrheitsgetreue Abbildungen“. Dieses Anliegen wurde, wie bereits oben erwähnt, durch den Rückgriff auf die sogenannten natürlichen Grenzen vorangetrieben. Eine weitere Denkfigur, die der Zentrierung ihren Vorschub leistete, ist die diskursive Vereinheitlichung „Europas“, welche Länder auch immer damit gemeint waren. Es wird in der Forschungsliteratur immer wieder betont, wie sich v.a. die unterschiedlichen Rechtssysteme in vielen europäischen Staaten vereinheitlichten. 18 Auch wenn Europa als Einheit ein idealistisches Konstrukt blieb und immer noch ist, vollzogen sich Akkulturationsprozesse, die als Europäisierungsprozesse beschrieben werden können. Akkulturationen können dabei bewusste und gelenkte politische Inszenierungen sowie Transfer- und Austauschprozesse sein. Dabei wurde durch die Zirkulation von Ideen und Praktiken auch die frühneuzeitliche Medienrevolution begünstigt und umgekehrt. Wolfgang Schmale beispielsweise macht grundsätzlich das 18. Jahrhundert als die Zeit der sich herausbildenden europäischen Kultur im Singular aus. Er spricht von einer „standardisierten Visualität“. 19 Diese habe es zwar auch schon zu anderen Zeiten gegeben, im 18. Jahrhundert sei jedoch die große Masse an Visualisierungen Europas besonders auffallend gewesen. Dies sei insbesondere von den treibenden Akteur*innen eines staatlichen Organisationsmodells ausgegangen. Ein Modell sollte nicht nur Politik, Staat, Verfassung und Recht ordnen, sondern auch dazu dienen, jeglichen gesellschaftlichen Bereich des alltäglichen Lebens zu organisieren. In diesem Jahrhundert entfalteten und erneuerten die europäischen Gesellschaften Kategorien, wie beispielsweise Geschlecht, die bis heute wirkmächtig sind.20 Schmale erinnert dabei an die Habsburger Dynastie, 18 | Vgl. Karin Friedrich (Hg.), Die Erschließung des Raumes. Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter, Wiesbaden 2014. 19 | Vgl. W. Schmale, Das 18. Jahrhundert, S. 291f. 20 | Vgl. Claudia Opitz, Aufklärung der Geschlechter, Revolution der Geschlechterordnung. Studien zur Politik- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Münster 2002.

Zentralisierung Europas

die mithilfe eines europäischen Heeres in der Lage war, das osmanische Reich, welches nicht minder „europäisch“ zusammengestellt war, zu besiegen. Die Habsburger Monarchie hat nie eine Einheit wie Frankreich, Spanien oder Italien dargestellt. Die politische Kultur und das gesellschaftliche Leben waren im Alten Reich pluralistisch. Das zeigt beispielsweise auch der Siebenjährige Krieg mit seiner überseeischen Ausprägung, an dem viele Staaten beteiligt waren.

R aum

und I dentität

Die Analyse der beiden Kategorien „Raum“ und „Identität“ ermöglicht es, zu verstehen, mittels welcher Diskursstrategien „Europa“ zentriert und wie Geschlechterordnung dazu in Beziehung gesetzt wurde. Der Forschungsstand zu den wahrnehmungsgeschichtlichen Kategorien ­ „Identität“ und „Raum“ dient hier als analytische Grundlage.

Identitäts- und Raumkonstruktionen Ausgehend von der Erkenntnis, dass sich nationale Identitäten erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausbildeten und in Verbindung mit ­Disziplinartechniken und biopolitischen Machtpraxen Nationen konstruierten, geht man im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert noch von Identitäten mikrourbaner oder subnationaler Größe aus.21 Die Verschiebung von konfessionsgebundenen Identitäten hin zu politischen Territorialitäten, die im 17. Jahrhundert noch von größerer Bedeutung als Stand und Geschlecht waren,22 vollzog sich allmählich und konkurrierte auch in gewisser Weise mit der Idee „Europa“. Waren die vermeintlich nationalen Vorzüge noch zu popularisieren, wurden die Abgrenzungen zu ­außereuropäischen Regionen teils mit Vereinheitlichungen in der Bin-

21 | Vgl. Axel Gotthard, „Gibt es eine typisch frühneuzeitliche Raumwahrnehmung?“, in: Historische Zeitschrift. Beiheft 49 (2009), S. 307-323. 22 | Vgl. Muriel González Athenas, Kölner Zunfthandwerkerinnen 1650-1750. Arbeit und Geschlecht, Kassel 2014; Axel Gotthard, In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raums in der Vormoderne, Frankfurt am Main 2007.

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nenstruktur forciert.23 Auch die Wahrnehmung des „Fremden“ in Bezug auf Raum war immer noch sehr lokal und ­konfessionsgebunden.24 Wer als Fremder wahrgenommen wurde, wurde bestimmt durch die eigene Zugehörigkeit zu einem Rechtskreise (beispielsweise freie Reichstadt) oder durch die Religionszugehörigkeit. Raum wird in dieser Arbeit als historisch gewordene, veränderbare Kategorie verstanden. Raum ist nicht eine objektive, ahistorische, materielle Tatsache, sondern eine durch die Syntheseleistung und den sozialen Wandel konstruierte Wahrnehmungs- und Handlungspraxis. Räume sind bedingt und durchquert von unterschiedlichen Machtachsen. Raumwahrnehmung und Raumrepräsentationen konstituieren also den Raum. In Karten oder auch Länderbeschreibungen werden unterschiedliche Raumwahrnehmungen in textlichen oder graphischen Raumrepräsentationen angeboten, die wiederum bei den Rezipient*innen Imaginationen auslösen, die sich in neuen Raumvorstellungen manifestieren. Diese doppelte Raumkonstitution ist die entscheidende Perspektive, mit der es raumbezogene Diskurse hinsichtlich ihrer Wirkmächtigkeit zu untersuchen gilt.25

I dentität

und

R aumwahrnehmung

Zur Vorgeschichte der Raumwahrnehmung in Länderbeschreibungen des 18. Jahrhunderts ist festzustellen, dass Staatsgebilde oder später Nationen keine beobachtbare Kategorie des 16. oder 17. Jahrhunderts sind.26 Grenzen spielten weniger eine Rolle als die besuchten und durchreisten Territorien, die politisch detailliert eingeordnet wurden. Axel Gotthard ist der Meinung:

23 | Vgl. Hartmut Kaelble, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. Und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001. 24 | Vgl. A. Gotthard, In der Ferne, S. 82-86; Ders., „Gibt es eine typisch frühneuzeitliche Raumwahrnehmung?“, S. 311. 25 | Vgl. A. Gotthard, „Gibt es eine typisch frühneuzeitliche Raumwahrnehmung?“, S. 312; J. Dünne, Die kartographische Imagination. 26 | Vgl. A. Gotthard, „Gibt es eine typisch frühneuzeitliche Raumwahrnehmung?“, S. 317.

Zentralisierung Europas

Das könnte ein alltagsgeschichtliches Indiz dafür sein, dass der long-duréeTrend [sic!] der Territorialisierung politischer Herrschaft seinen entscheidenden Schub bereits an der Schwelle zur Neuzeit erfahren hat. 27

Territorien wurden also als politische Räume (Grafschaft, Reichsstadt, Herzogtümer etc.), jedoch ohne identitätsstiftende Tiefendimension, d.h. als lokale oder nationale Folien der Identifikation, wahrgenommen. Die Entwicklung dieser lokal-politischen Raumwahrnehmung hin zur Wahrnehmung des globalen politischen Raums als „Nation“ begann jedoch im 18. Jahrhundert und differenzierte sich im 19. Jahrhundert weiter aus.28 Dem aktuellen Stand der Europaforschung zufolge vollzog sich zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht nur eine Verschiebung der Wahrnehmung des Raumes, sondern der Raum gewann gegenüber der Zeit auch deutlich an Bedeutung. Damit ist die Veränderung der vorgegebenen heilsgeschichtlich-zyklischen Zeitstruktur zu einer kausal-teleologischen gemeint, die sich stärker linear und visuell orientierte und mit einer neuen Raumkonstitution einherging.29 Eine Verschiebung, die auch die Ausrichtung weg vom religiös-mythisch aufgeladenen Osten hin zum Westen auslöste.30 Zunächst spiegelte sich diese Idee in einer Produktionsfülle von Europakarten wider. Diese Karten wurden von einem wachsenden 27 | Ebd. 28 | Vgl. Claudia Kraft, Alf Lüdtke, Jürgen Martschukat (Hg.), Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt am Main 2010; für das 19. bis 20. Jh. vgl. beispielsweise Sylvia Schraut, Kartierte Nationalgeschichte. Geschichtsatlanten im internationalen Vergleich 1860-1960, Frankfurt am Main/New York 2011; C. Dipper, U. Schneider (Hg.), Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit; David Gugerli, Daniel Speich, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002. 29 | Vgl. Elke Anna Werner, „Triumphierende Europa – Klagende Europa. Zur visuellen Konstruktion europäischer Selbstbilder in der Frühen Neuzeit“, in: Almuth-Barbara Renger, Roland Alexander Ißler (Hg.), Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund, Göttingen 2009, S. 241-260, hier S. 242; M. Wintle, „Renaissance maps and the construction of the idea of Europe“; A. Gotthard, In der Ferne. 30  |  Vgl. I Deug-Su, „Europa-Vorstellungen im Mittelalter“, in: Pegasus (1/2003), S. 31-43, hier S. 38.

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Publikum rezipiert und konsumiert und führten wiederum dazu, dass diese Verschiebung eine Wende in der Wahrnehmung der Kontinente einleitete. In diesen Karten wurde Europa zunehmend als Ganzes, als geschlossener Kontinent dargestellt. Schon der Bildtypus Europa in Form einer Frauengestalt mit kaiserlichen Attributen hatte im 16. Jahrhundert nicht nur die habsburgische Machtordnung Europas zum Ausdruck gebracht und propagiert, sondern Europa überhaupt als natürliches Ganzes und geschlossene Einheit präsentiert.31 Die Binnengrenzen wurden zum Teil nur angedeutet oder blieben gänzlich uneindeutig, wobei die eigentliche visuelle Grenzsetzung stets weiter zunahm. Die Außengrenzen Europas wurden immer deutlicher dargestellt, auch wenn diese sich aufgrund der politischen Veränderungen immer wieder verschoben haben, oder es in der neuen Geographie keine Einigkeit darüber gab.32 Diese kartographische Geschlossenheit nach Innen suggerierte Homogenität.33 Die langen, in der Forschung vorausgesetzten Vorstellungen der Einheit und Geschlossenheit Europas wurden durch Studien zu der sogenannten außereuropäischen Geschichte und Regionalwissenschaft problematisiert.34 Die suggerierte innere Homogenität brauchte jedoch mehr als Kartenproduktionen und -rezeptionen. Das Zusammenspiel von Gelehrtendiskursen, Medienrevolution und technischen Verfeinerun31 | Zum Thema Frauengestalt und Karten siehe Claudia Bruns, „Anthropomorphe Europakarten im Übergang zur Frühen Neuzeit“, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit Bd. 21, Heft 1/2: Der Körper des Kollektivs, 2017, S. 9-43; Claudia Bruns, „‚Rasse‘ und Raum. Überlegungen zu einer komplexen Relation“, in: Dies. (Hg.), ‚Rasse‘ und Raum. Topologien zwischen Kolonial-, Geo- und Biopolitik: Geschichte, Kunst, Erinnerung, Wiesbaden 2017, S.1-45. 32 | Vgl. Hans-Dietrich Schultz, Europa als geographisches Konstrukt, Jena 1999; I. Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. 33 | Zur Visualität von Europakarten vgl. H.-D. Schultz, Europa als geographisches Konstrukt; zum Zusammenwirken verschiedener Diskurse für die Homogenität vgl. Sebastian Conrad, Andreas Eckert, „Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt“, in: Dies., Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main/New York 2007, S. 7-53. 34 | Vgl. S. Conrad, A. Eckert, „Globalgeschichte“; Jürgen Osterhammel, „,Weltgeschichte‘. Ein Propädeutikum“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9 (2005), S. 452-479.

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gen in Geographie und Kartographie, die Popularisierung von Wissen um „Nicht-Europa“ und die sich ausdifferenzierenden Nationallogiken des 18. und 19. Jahrhunderts ließen die Europakarten in einem neuen Licht erscheinen, das heißt sie gaben ihnen eine neue Bedeutung.35 Dabei spielten geographische Gesellschaften und Universitäten, die eng mit Verlagen der Länderkunde und Kartographie zusammenarbeiteten, eine entscheidende Rolle.36 „Europa“ diente den Gelehrten dabei als Projektionsf läche für zahlreiche politische Ordnungsentwürfe. Erstaunlicherweise werden in dem Band Einleitung zu den Europäischen Staaten Und Derselben Beschluß geographische Karten, die den Raum Europa darstellen, nicht verwendet. In dem Einleitungstext wird an figürliche Europakarten erinnert. Die Vorstellungen davon, wie Wissen vermittelt und angeeignet wird, sind einer auf klärerischen textlichen Vorstellung vom Lernen gewichen. Obwohl die anthropomorphen Europa-Karten einen sehr geringen Teil der thematischen Karten aus dem 16. Jahrhundert ausmachen, haben sie dennoch einen breiten Wirkungsgrad erreicht und sich großer Beliebtheit erfreut. Im Zeitraum von 1537 bis 1585 sind ein halbes Dutzend Varianten von ihnen produziert worden. Sie fanden ihre Rezeption jedoch lediglich innerhalb des Umfeldes des Habsburger Hofes. Dennoch dürften sie allen an Länder- und Reiseliteratur ­Interessierten zumindest bildlich oder in ihrer textlichen Schilderung, wie es in der Rengerischen Reihe praktiziert wurde, begegnet sein. Sie können ohne Zweifel als propagandistisches und politisches Instrument der habsburgischen Macht- und Territorialansprüche gewertet werden. Die Darstellung Europas in Form einer Frauengestalt galt noch im 16. Jahrhundert als ein adäquates Mittel, den Konsument*innen mehr oder weniger abstrakte Inhalte besser vermitteln zu können. Dem lag sowohl eine figural, als auch eine topographisch strukturierte Wahrnehmungsform zugrunde. Das Bild sollte sowohl die Aufnahme des abstrakten Wissens als auch die Erinnerung daran erleichtern. Die Nutzung der 35 | Vgl. Daniel Power, „Frontiers: Terms, Concepts, and the Historians of Medieval and Early Modern Europe”, in: Ders., Naomi Standen (Hg.), Frontiers in Question: Eurasian Borderlands, 700–1700, London 1999, S. 1-31. 36 | Vgl. I. Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt; Sebastian Lentz (Hg.), Die Verräumlichung des Welt-Bildes; Andreas Christoph, Geographica und Cartographica aus dem Hause Bertuch. Zur Ökonomisierung des Naturwissens um 1800, Paderborn 2012.

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weiblichen Form als geographische Karte verweist jedoch auf weitere bedeutungsstiftende Ebenen. Ebenen, die im Zuge der Verwissenschaftlichung eine epistemologische Qualität gewinnen: Die Karte war Ausdruck der e­ mpirisch-wissenschaftlichen Erforschung der Welt und entwickelte damit auch ein wissenschaftlich geprägtes Verhältnis zu dieser. Dabei stießen die überwiegend männlichen weißen Auf klärer, Entdecker und Wissenschaftler auf inner- und außereuropäisches ‚Fremdes‘, das erklärungsbedürftig erschien. „Die Form aber, mit der Fremdes und Fremdsein ausgedrückt wurde, war die Form des Weiblichen.“37 Diese hier verkörperte Metapher für die Fremdheitserfahrung und -konstruktion verbindet sich mit einer Begehrensordnung, die die fremde Welt mit der „Frau“ identifiziert und beide zum Lustobjekt werden lässt. Diese Metapher der angeblichen Wildheit trifft für die Zeitgenoss*innen nicht auf Europa zu, aber sie evoziert einen Erkundungswillen. In der Gegenüberstellung mit anderen Kontinenten wird dieses Bild der „Frau“ als Charakteristikum auf bestimmte Kulturen übertragen und dient so als Verstärkung von Fremdheitsbeschreibungen. Die kulturelle und territoriale Beglaubigung einer Ordnungskonzeption Europas wird auch bei der textlichen Beschreibung deutlich und evozierte in den Leser*innen des 18. Jahrhundert sicherlich, wenn nicht eine räumliche, so doch eine machtpolitische Ordnungsvorstellung Europas. Auch wenn der Aspekt der Habsburgischen Hegemonie zu Beginn des 18. Jahrhunderts etwas zurückgetreten sein mag, die kulturelle Ordnung der Staaten bezweckt dies allemal.

L änderbeschreibungen

und

G eschlecht

Der Umgang mit Reiseberichten und Länderbeschreibungen muss ein genauso kritischer sein wie jener mit Geschlechteraussagen in Texten, die eine Norm setzen, da sie genauso Ausdruck von Stereotypen und Idealvorstellungen sind. So werden die Aussagen der Rengerischen Länderbeschreibungen nicht als Bericht eigener Beobachtungen interpretiert, sondern als Bestandteil der typisch frühneuzeitlichen Sichtweise und

37 | Wolfgang Schmale, „Europa – die weibliche Form“, in: L’Homme, Z.F.G. 11,2 (2000), S. 211-233, hier 227.

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Kanonisierung von sowohl völkerrechtlichen als auch politischen Systemtraktaten. Gottschling, Caspar: Staat von dem Königreiche Fez und Marocco in Africa, Halle ca. 1711

HAB Wolfenbüttel, M: Gb 298:15 (1).

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Gude, Heinrich Ludwig: Einleitung zu den Europäischen Staaten Und Derselben Beschluß, Leipzig 1708

HAB Wolfenbüttel, M: Gb 298 (1).

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Zur Eröffnung sehen wir als erstes Europa in weiblicher Gestalt auf einem Thron sitzend. Zwei weitere Frauenfiguren, die ebenfalls Kontinente symbolisieren, unterwerfen sich ihr. Der Untertitel lautet: „Europa komt nichts gleich wie Ihre Staate zeigen. Es muss die ganze Welt vor Ihrer Macht sich neigen“ (Abb.1).38 Die Reihenfolge der Länder und Stadtstaaten wie auch die ikonographische Darstellung zu Beginn bereiten die Leser*innenschaft auf eine hierarchisch übergeordnete Stellung Europas zu den anderen Kontinenten vor. Die Intermedialität, also das Zusammenspiel zwischen Bild, Text und Abfolge der Texte, spielt für die Wahrnehmung und Rezeption eine entscheidende Rolle. Die Reihenfolge der behandelten 40 Länder und Stadtstaaten erfolgt in einer klassischchristlichen Tradition. Nach der Einleitung und der Vorstellung der sogenannten deutschen Staaten wird als erstes Frankreich genannt, dem Spanien, Portugal, England, Dänemark, Schweden, Moskau, Polen, Ungarn, Siebenbürgen, die Walachei und Moldau, die Italienischen Staaten, freie Republiken und viele andere Staaten folgen. Insgesamt werden 40 Staaten beschrieben. Neben den neuen herrschaftlichen und politischen Ordnungen gehörten in den meisten europäischen Staaten seit der Revolutionsepoche „Grenzen“ zum neuen Ordnungsprinzip. Zuvor waren linear ­gezogene Außengrenzen für kaum einen frühneuzeitlichen Staat oder eine Monarchie ein Begriff. Zunehmend verstand man jedoch eine politische Grenze, kartographisch linear gedacht, als Abgrenzung zwischen historisch-kulturellen Gedächtnissen von Nationen.39 Die Geographie und Kartographie formten die Visualität dieser neuen Grenzwahrnehmung und -bestimmung aus. In der Rengerischen Reihe gibt es solche Teilräume noch nicht, die Länder wurden scheinbar nacheinander abgearbeitet, wobei die Reihenfolge freilich auch Hierarchisierungen vornahm. 40 Von dieser neuen Systematisierung versprach man sich einen größeren Erkenntnisgewinn und eine effektivere Lerngrundlage für breitere Bevölkerungsschichten, die nicht geographiekundig waren. Die 38 | HAB M: Gb 298: 1, S. 1. Eine etwas spätere Version gibt es unter http://bit. ly/2mp9HMp (zuletzt aufgerufen am 18.09.2018). 39 | Vgl. W. Schmale, Das 18. Jahrhundert, S. 310-313. 40 | Vgl. Hans-Dietrich Schultz, „Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit. Ein Überblick“, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 28 (3) 2002, S. 343-377, hier S. 355-361.

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Reihenfolgen wichen jedoch stark voneinander ab und die Ländergruppierungen waren so divers, dass man zunächst von einer reinen Systematisierung sprechen kann, die allerdings schon früh im Rahmen einer naturalisierenden Argumentation gerechtfertigt wurde. 41 Wichtig für die hier vorgelegte Perspektive ist, dass die Einteilung der Welt in Kontinente, in Staaten, in West- und Osteuropa wie in Mitteleuropa (die Gebiete zum Zentrum und zur Peripherie erklären) die Grundlage für spätere Hierarchisierungen und Politisierungen der Erdgeographie bildet. Zunächst war die Geographie des 18. Jahrhunderts eine gebrauchsorientierte Staatenkunde, die über Land und Leute berichtete und dafür die Kartographie einspannte. 42 Im Vorwort des Bandes zu „Europa“ wird zudem auf die griechische Mythologie der Jungfrau Europa, Tochter des Königs Agenoris, verwiesen. Der über Jahrhunderte überlieferte Europamythos wurde auch in der Frühen Neuzeit vielfach rezipiert. 43 Der Entstehungsmythos entwickelt sich im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einem Superioritätsanspruch gegenüber den anderen Kontinenten und findet sich sodann in vielen Selbstbildern – sei es in Form von Reisebeschreibungen, Länderbeschreibungen, Europakarten oder Atlanten – wieder. 44 Auf diesen Verweis folgt die politische Positionierung Europas als mächtigster und edelster Kontinent, der so41 | Vgl. H.-D. Schultz, „Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit. Ein Überblick“, ­­S. 355-361; Ders., „Vom harmlosen Gliederungskonzept zum imperialen Programm. Der Mitteleuropabegriff in der deutschsprachigen Geographie des 18./19. Jahrhunderts“, in: Rainer Graafen, Wolf Tietze (Hg.), Raumwirksame Staatstätigkeit, Bonn 1997, S.201-216, hier S. 201-204. 42 | Vgl. H.-D. Schultz, „Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit. Ein Überblick“, S. 343-346. 43 | Vgl. Marie-Louise von Plessen (Hg.), Idee Europa. Entwürfe zum „Ewigen Frieden“. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union. Eine Ausstellung als historische Topographie. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin, zur Neueröffnung der Ausstellungshalle von I. M. Pei, 25. Mai bis 25. August 2003, Berlin 2003; Wolfgang Schmale et al. (Hg.), Studien zur Europäischen Identität im 17. Jahrhundert, Bochum 2004; Ders., Das 18. Jahrhundert. 44 | Vgl. W. Schmale, Europa, S. 219.

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wohl das Kamel (figuriert Asien) als auch die Herzen (figuriert Afrika) beherrscht – so der Bezug auf die antike Vorstellung. Europa selbst wird darüber erläutert, ohne dass es abgebildet wird. Die eigentliche Absichtserklärung folgt in der Einleitung. Die Beschreibung der Länder solle v.a. den Herrschern von Staaten und ihren Helfern (Beamten) ihre eigenen und die benachbarten Territorien erklären. 45 Im Folgenden wird die erzieherische Funktion des Bandes erläutert, der die Bewohner*innen eines jeden Staates ansprechen soll. In einer wohleingerichteten „Republicque“ solle jedes Mitglied über seinen Staat wissen, wie er entstanden und wie er „beschaffen“ sei. 46 Aber auch diejenigen, die weniger gebildet oder „Frauenzimmer“ seien, sollten sich mit bestimmten Wissenschaften auskennen. Es werden die Geographie, die alte und neue Geschichtsschreibung, Genealogie und Politik mit der Begründung erwähnt, dass all diese Disziplinen bei der Abbildung eines Staates von Bedeutung seien. Die „natürliche“ Wissensbedürftigkeit bezieht sich auch auf Staaten, daher wolle man wissen, wo deren Ursprünge seien. Zur Erläuterung des Aufbaus und Sinnes eines Staates wird die Familienallegorie angeführt. Am Anfang eines jeden Staates regiere der Hausvater als das Haupt seiner Familie autark über sein „Weib“, die Kinder und das Gesinde. Dieser Status familiarum segrerum wird aus dem Alten Testament bzw. der Geschichte Kains hergeleitet, der aus Neid seinen Bruder erschlug und aus Angst (und schlechtem Gewissen), ihm würde das gleiche passieren, eine Stadt baute. Da sahen alle Familien ein, dass sie sich gegenseitig beschützen und helfen können, wenn sie sich „zusammenrotten“. So entstand der Status familiarum confaederatarum, der Staat der vereinigten Familien. Anschließend wird auf das Erste Buch Moses verwiesen, als die Familien auszogen, um neue Städte zu gründen und dafür einen Anführer wählten. Die prudentia rectoria verhalf den Klügsten und Ansehnlichsten unter ihnen zu einer „Autoritaet“. Dies war eine demokratische Regierung, deren vornehmster Bürger den königlichen Titel erhielt, welcher allerdings eher repräsentativer Natur und weniger mit Macht verknüpft war. Um jedoch alle in Ruhe und Sicherheit leben zu lassen und keine Angst vor dem anderen zu haben, hätten die Familien einigen Personen die Gewalt und „Direction“ über sich und ihr Vermögen übertragen, – dies sei das Wesen

45 | Vgl. HAB M: Gb 298 (1), S. 1. 46 | Vgl. ebd., S. 2.

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eines Staates. 47 Ein durch nur eine regierende Person geführter Staat sei eine Monarchie, wohingegen ein durch gewisse F ­ amilien gelenkter Staat als Aristokratie zu bezeichnen sei. Wenn jedoch jedes Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft an der Organisation eines Staates teilhabe, handele es sich dabei um eine Demokratie. Die politische Abgrenzung gegenüber den asiatischen Staaten wird über einen Vergleich der Regierungsformen hergestellt. Diese seien von jeher in despotischen Monarchien organisiert. Das liege an der unverhohlenen Wollust, die man gerne (aus-)lebe, so sei eine despotische Monarchie nötig. Und das sei auch so geblieben, sodass die Bevölkerung europäische Statthalter wie Könige anerkennen würde. Der positivistische Bezug folgt sofort, denn, so wird weiter argumentiert, im alten Europa seien solche Monarchien eher selten. Auf diese Weise habe sich über Reisen oder die eigene Erfahrung bei der Verwaltung von Staaten die Kunde von den Republiken verbreitet. Es seien demnach also die Reisenden, die den Weg zu dieser Wissenschaft von den Staaten und Republiken für andere Kontinente eröffnet hätten. Bis hierhin wird also vor allem das Eigene überhöht und als das einzig Richtige präsentiert. Hartmut Kaelble spricht in anderen Zusammenhängen von einer Überlegenheitsidentität, einem Selbstverständnis verbunden mit einer Art Mission oder einer Pf licht, die europäischen Werte auch in anderen Kulturen zu vermitteln. 48 Andere Autor*innen sprechen im Zusammenhang mit der europäischen Kolonialgeschichte von imperialistischen Politiken, die durch auf klärerische Ideen und die sogenannte Zivilisierung anderer Kulturen gerechtfertigt werden. 49 Die geographische Privilegierung Europas, obwohl es der kleinste Kontinent sei, ergibt sich laut Rengerische Reihe durch die topographischen Begebenheiten. Dafür werden drei Gründe genannt: Der Erdteil sei bequem, da er vom Meer umgeben sei. Des Weiteren sei er praktisch gelegen, da er für die Schifffahrt an vielen Orten von Flüssen durchzogen sei und daher seien die Europäer zu Beherrschern der Seen und „Überwindern“ der übrigen Teile der Welt geworden. Die Grenzen nach Asien seien 47 | Vgl. ebd., S. 6. 48 | Vgl. H. Kaelble, Europäer über Europa, S. 27-31. 49 | Vgl. Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Regina Römhild (Hg.), Jenseits; Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 2010.

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nicht allzu genau determiniert, so der Autor. Lediglich der Fluss „Obium“ (Ob) trenne im Norden Europa von Asien. Europa sei so situiert, dass gegen Morgen Asien, gegen Mittag Afrika, gegen Abend Amerika und zum Schluss gegen Mitternacht die unter dem „Polo Artico“ liegenden Länder anzutreffen seien. Nun geht der Autor über die vermeintlichen physischen Begebenheiten hinaus und behauptet, die Europäer verfügten über die besten Wissenschaften und Künste. Obwohl die „Sineser“ (Chinesen) auch klug seien, hätten sie doch in den Bereichen der Geometrie und Astronomie in der Vergangenheit viel von den Europäern gelernt. Auch hinsichtlich der Erfindung der Druckerei bzw. des Buchdrucks seien diese ihnen voraus. Die Chinesen hätten keine Buchstaben in Blei gegossen, um sie zu drucken. Auch die Waffenerfindung seitens des chinesischen Reiches wird in Frage gestellt, da ihre historischen Chronologien das Reich weit älter machen würden, als es tatsächlich sei. Und überhaupt sei ihre Zeitrechnung nicht mit der europäischen vergleichbar. Außerdem hätten die Europäer so kluge Menschen wie Kolumbus hervorgebracht, der die neuen Länder entdeckt habe. Zudem werden die Kriegs- und Friedenkünste und der Kompass lobend erwähnt. Politisch seien die besten Regierungsarten in Europa zu finden und die Kolonien zu ihrem Zwecke botmäßig gemacht. Europa sei klein, jedoch trotzdem der mächtigste und bevölkerungsreichste Erdteil. In Europa gebe es nur Demokratien und Aristokratien und die wenigen Monarchien seien nicht absolutistisch geprägt, wie etwa bei den Chinesen. Sie würden die europäischen Regierungsformen noch nicht einmal verstehen.50 Die Abgrenzung erfolgt hier nicht gegenüber den Nachbarstaaten oder Kontinenten, sondern einer Kultur gegenüber, die als gebildet gilt. Weitere Abgrenzungen werden gegenüber der islamischen Religion formuliert. Dies leitet thematisch den eigentlichen selbstherrlichen und auf Europa zentrierten Teil ein. Europa habe die beste Regierungsform, wodurch sich eine Rechtfertigung der imperialen Begehrlichkeiten Europas ergibt. So ist im Anschluss die Rede von den Bemühungen, die ganze Welt zu beherrschen. Karl V. und Philipp II. hätten es versucht, ebenso wie Alexander der Große.51 Zu diesem Zeitpunkt sei man, so der Autor, noch gespannt, wie die Herrscher Europas diese aufteilen und regieren 50 | Vgl. HAB M: Gb 298 (1), S. 53. 51 | Vgl. ebd., S. 55.

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wollen. Denn die bis dahin bereits vorgenommene Aufteilung habe Europa zersplittert. Die Rede ist von dem Konzil von Heinrich IV. (1050-1106), dort sei die Idee von einem gemeinsam irgendwie besonderen Europa bereits diskutiert worden. Auch hier ist bemerkenswert wie sich die Hie­ rarchisierung durch die eigene „Andersartigkeit“ vollzieht. An oberster Stelle stehe das Römische Kaisertum Deutscher Nationen, weil der Kaiser von allen Potentaten gewählt worden sei. In der Folge werden weitere europäische Staaten beschrieben: Unter diese erzehlte Staaten kann man nun alles das Feste Land und die Insuln von Europa bringen / ausgenommen die einige Stücke / welche der Türkische Kayser und sein Vasal der Tartern Cham in der Europäischen Tartaren besitzet. Weil aber beyde aus Asien in Europa eingedrungen / und ihre Sitten und die Einrichtung ihres Staates mit denen andern Europäischen Staaten gar nicht überein kommen / sollen sie billig aus der Christenheit und Europa wieder nach Asien verwiesen werden / woselbsthin auch ihre Beschreibung verphahret wird. 52

In dieser politischen Einleitung zum ersten Band wird bereits der Okzidentalisierungscharakter deutlich, der erst das Eigene gegen das Fremde klar abgrenzt und vereinheitlicht, um dann eine klare Hierarchisierung vorzunehmen. Die europäischen Staaten seien demnach auf Konsens und Erfahrung aufgebaut worden und ihre Organisation erscheint als das vermeintlich Beste für die Bevölkerung. Ebenso ist die Orientalisierung des Anderen bzw. Asiens deutlich gesetzt. Der Topos der wilden und sich der Wollust hingebenden Bevölkerung wird hier herauf beschworen, indem die Regierungsformen anderer nichteuropäischer Gesellschaften als der reinen „Wollust“ entsprungen und der Islam als despotisch dargestellt werden. Das vierte Kapitel widmet sich schließlich der eigentlichen Beschreibung der Staatenkunde und setzt die positivistische Beschreibung des „Eigenen“ fort. Obwohl sich die Publikation an alle Bürger*innen richten soll, die von ihrem „Staate“ etwas erfahren wollen, wird durch die Nennung antiker Autoren, Staatstheoretiker und Herrscher die Erinnerung an Europakarten anderer Jahrhunderte oder Geschichten über verschiedene Kulturen herauf beschworen, sodass die Publikation sich dezidiert an eine gebildete Leserschaft richtet. 52 | HAB M: Gb 298 (1), S. 58.

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Fremdheit und Geschlechterordnung Im Band über das Königreich Fez und Marocco in Africa werden die oben genannten Sichtweisen noch einmal explizit. Marokko wird als Kaisertum und Königreich bezeichnet, das in der „Barbarey“ in Afrika liege. Vor der Einleitung, die an die Leser*innen gerichtet ist, werden die Quellen der Ausführungen genannt: Pierre Daniel 1649 Paris, l´Histoire de Barbarie & de ses Corsaires; außerdem wird de la Croix Geographie Universelle und hier besonders die Beschreibung Afrikas als Quelle genannt. In Kapitel I werden, wie es in den anderen Bänden auch üblich ist, die verwaltungstechnische Struktur, die Geographie und die einzelnen Königreiche beschrieben. Es wird auch auf die Bevölkerung und ihre Sprachen eingegangen. Besonders Häfen, die einen Bezug zu Europa aufweisen, werden hervorgehoben.53 Die weibliche Bevölkerung wird als „weiß und schön“ und dem Europäer zugeneigt beschrieben.54 Die Fremdheit des Anderen wird immer wieder und ausschließlich in Bezug auf die politische Organisationsform betont, auch wenn es teilweise das Feld des Handels betrifft, wie in der Aussage über „Gezule“ deutlich wird. Dieses sei eine wichtige und fruchtbare Landschaft, aber es gäbe keine einzige Stadt, nur viele Dörfer. Dann heißt es weiter: „Die Einwohner wollen von keinem Könige wissen / sondern ihre eigne Herren seyn: dannenhero halten sie den Kayser nur vor ihren Bundsgenossen.“55 Es wird ein leichtes Unverständnis vom Autor formuliert; es gehe schließlich nicht ohne „Unterthänigkeit“. Dies nimmt Rekurs auf die lange Erläuterung am Anfang über die Einigung der Stämme, einen König zu wählen, und sich ihm, auch zum Schutze, unterzuordnen. Die Ehekultur wird in Kapitel VI beschrieben und ist in die Beschreibungen der unterschiedlichen Gebräuche, Handel und Münzen im Königreich eingebettet:

53 | Vgl. HAB M: Gb 298:15 (1), S.17. 54 | Vgl. ebd., S. 18. 55 | Ebd., S. 19.

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Wenn sie heyrathen wollen: so fordern sie einen Cadis und einen Notarium vor sich, Und weil die Väter ihre Töchtern nichts mitgeben: so muß der Notarius die Morgen-Gabe aufzeichnen / welcher der Mann seiner Frau zu kommen lassen will. Verstöst nun nach diesem der Mann sein Weib: so muß er ihr das Versprochenen Heyraths-Gut ungehindert zuertheilen und darf sich erst in vier Monathen darnach wiederum verheyrathen. 56

Die zukünftige Ehefrau erhält also keine Ausstattung von den Eltern mit in die Ehe, sondern vom zukünftigen Ehemann (Morgengabe). Weiter heißt es, dass, wenn sich die Frau trenne, sie keinen Anspruch mehr auf die „Morgengabe“ habe. Weiter werden ihre vermeintlichen körperlichen Merkmale hervorgehoben. Bei den „beleibtesten“ Frauen handele es sich um die Begehrtesten. Sie würden sich bunt schminken und ihre Hand- und Fußflächen gelb färben. Ohne weitere Abgrenzung setzt sich das Kapitel mit der Beschreibung des Handels, samt Produktbeschreibungen, mit Frankreich, Holland, England, Italien, Spanien und der Levante fort. Die Beschreibungen der Geschlechterordnung finden sich also in Form von Aussagen über die Familienorganisation und die Genese der Staaten und über die Kleidung und körperlichen Praktiken der Frauen sowie die Ehekulturen. Konkret beschreibt der Länderbericht die Kleidung und die Haartracht der Frauen. Doch anders als in vielen Reiseberichten des 16. und 17. Jahrhunderts (auch wenn sie detaillierter ausfallen) werden hier über die pauschalisierende Beurteilung von Schönheit oder Hässlichkeit hinausgehend auch Gewohnheiten in Bezug auf das Verhältnis zu Männern der eigenen und der besuchenden Kultur, Ehekulturen und das innergeschlechtliche Verhältnis thematisiert. Dabei stehen diese Beschreibungen jedoch nicht wie üblich in einem Kapitel über Sitten und Gebräuche eines Landes, sondern befinden sich in handelstechnischen Kapiteln. Dass dieser Abschnitt mit der Erläuterung der Ehe-Vertragskulturen und der Beschreibung der Frauen in den ökonomischen Ausführungen gesetzt wird, verwundert insofern nicht, als dass im Alten Reich Eheverträge meist ökonomische und politische Übereinkünfte zwischen Familien waren. Sei es im Adel, Bürgertum oder Handwerk – die Eheverträge waren für Handelsstrategien

56 | HAB M: Gb 298:15 (1), S. 60.

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von entscheidender Bedeutung.57 Über die exotisierende Beschreibung der Frauen verliert das vermeintlich Fremde hier seine Distanz.58 Der so wichtige Mittelmeerhandel für Europa steht im Mittelpunkt und wird über „Vertrautes“ und „Weibliches“ bzw. „Begehrliches“ transportiert. So bewegen sich diese Beschreibungen noch zwischen einer kulturalistischen Fremdheit, die aber nicht abschreckend wirken soll, und einer Suprematie europäischer Kulturen. Die Beschreibung des Äußeren und des Verhaltens der Frauen diente oft als Metapher für Fremdheit oder Andersartigkeit von Kulturen. Gleichzeitig werden Vereinheitlichungen von ganzen Bevölkerungsgruppen vorgenommen.59 Mit der einsetzenden Enzyklopädierung der Reiseberichte Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts erhielten die Beschreibungen von Geschlechterverhältnissen jedoch mehr und mehr die Bedeutung einer gesellschaftlichen Ordnung bzw. politischen Ordnung eines Landes oder eines Territoriums. Von da an war es kein weiter Schritt von der Entwicklung der Geschlechterordnung zum sogenannten Nationalcharakter.60 Die als fremd beschriebene Geschlechterordnung korrelierte meist mit der Vorstellung der Fremdheit der Gesellschaftsstruktur eines Landes insgesamt. Doch hier wird im Handelskapitel eine „Nähe“ hergestellt, die diese Fremdheit abschwächt. Die unterschiedlichen europäischen Geschlechterordnungen wurden in den Reiseberichten teilweise als nicht signifikant unterschiedlich oder fremd 57 | Vgl. Margareth Lanzinger et al. (Hg.), Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln 2010. 58 | Vgl. Joachim Eibach, „Annäherung – Abgrenzung – Exotisierung. Typen der Wahrnehmung ,des Anderen‘ in Europa am Beispiel der Türken, Chinas und der Schweiz (16. bis frühes 19. Jahrhundert)“, in: Ders., Horst Carl (Hg.), Europäische Wahrnehmungen 1650-1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse, Hannover 2008, S. 13-73. 59 | Vgl. Sigrid Weigel, „Die nahe Fremde – das Territorium des ,Weiblichen‘. Zum Verhältnis von ,Wilden‘ und ,Frauen‘ im Diskurs der Aufklärung“, in: Thomas Koebner, Gerhart Pickerodt (Hg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt am Main 1987, S. 171-199. 60 | Vgl. Annegret Pelz, „,Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?‘. Das ,reisende Frauenzimmer‘ als eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts“, in: Wolfgang Griep (Hg.), Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert (= Eutiner Forschungen, Bd. 1), Heide 1991, S. 125-135.

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wahrgenommen.61 Die räumliche Trennung der Geschlechter, wie es beispielsweise von Reisenden aus dem deutschsprachigen Raum in Spanien und Italien wahrgenommen wurde, wurde als bedeutendes Merkmal der Fremdheit gesehen.62 Einen ähnlichen Aspekt stellte die wahrgenommene Freiheit oder Unfreiheit der Frauen dar.63 Dabei schwanken beide Topoi zwischen einer der Sklaverei ähnelnden Form der totalen Unfreiheit und einer absoluten „Zügellosigkeit“. In Reiseberichten aus dem amerikanischen Kontinent betrifft die sogenannte Zügellosigkeit die „Wildheit“ der Frauen. Beide Topoi zielen in ihrer Absolutheit auf die Konstruktion von Fremdheit ab und distanzieren die Lesenden von den beschriebenen Kulturen. Der positive Bezug auf das Eigene (dazu diente das rhetorische Instrument des Vergleiches) stellt eine Parallele zu den geographiekundigen Expertisen in Bezug auf die Darstellung Europas dar. Das ausgewogenste Klima aller Kontinente habe demnach Europa. Und dieses wird auf die Geschlechterordnung übertragen.64 Auch das Geschlechterverhältnis sei in Europa am ausgewogensten, auch wenn, wie oben beschrieben, in Reiseberichten europäische Geschlechterordnungen sehr wohl als befremdlich wahrgenommen wurden. Schon die ikonographische Präsentation der Kontinente zu Beginn knüpft visuell an diese Tradition an.

61 | Vgl. Dorothea Nolde, „Aufbruch und Festschreibung. Zum Verhältnis von Geschlechtergrenzen und kulturellen Grenzen auf europäischen Auslandsreisen der Frühen Neuzeit“, in: Christine Roll, Frank Pohle, Matthias Myrczek (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2010, S. 547-557, hier S. 551. 62 | Vgl. ebd., S. 552. 63 | Vgl. Gesa Stedman, Margarete Zimmermann (Hg.), Höfe – Salons – Akademien. Kulturtransfer und Gender im Europa der Frühen Neuzeit, Hildesheim 2007. 64 | Vgl. D. Nolde, „Aufbruch und Festschreibung“.

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F a zit : G eschlechterordnung und G leichheit

z wischen

F remdheit

Der Paradigmenwechsel von einer relativen Offenheit des Verhältnisses zwischen dem „eigenen“ und dem „anderen“ Kontinent, beispielsweise zwischen „Okzident“ und „Orient“, und deren in allen Wissensbereichen postulierten „Unvereinbarkeit“ miteinander, vollzog sich nach aktuellem Wissensstand im späten 18. Jahrhundert. Doch bestimmte Werke, wie sie beispielweise in der vorliegenden Untersuchung vorgestellt wurden, bereiteten diese bildliche und mentale Vorstellung der Einheit und Vorherrschaft Europas in ihrer abstrakten Form vor. Auch die neuartigen graphischen Erzeugnisse wie die vielfältigen Europakarten griffen wiederum wirkmächtig in die Rezeption einheitlich-eurozentrischer Raumrepräsentationen ein bzw. brachten diese überhaupt erst hervor. Die Uneindeutigkeit früherer Europavorstellungen wich keinem klar abgegrenzten Europabild – wie in der Kartographie nachvollziehbar – es kam so aber zur Setzung von Grenzen. Grenzen, Abgrenzungen, Vereinheitlichungen und dadurch auch hervorgebrachte neue gesellschaftliche Ordnungen wurden im 18. Jahrhundert zunehmend entscheidend für die Betrachtung und Bewertung des Anderen; aber vor allem für die Selbstkonstitution. Dieser allmähliche epistemische Diskurswechsel betrifft insbesondere die nationalen und supranationalen Identitätskonstruktionen ebenso wie die Geschlechterordnung. In den untersuchten Länderbeschreibungen suggerieren die textlichen Visualisierungen Europas eine geschlossene und einheitliche Formation. Diese Ontologisierung dient dem Vergleich, um im gleichen Atemzug die Vorherrschaft Europas in allen gesellschaftlichen Bereichen zu rechtfertigen. Obwohl an einigen Stellen die Erwähnung von Frauen fast neugierig anmutet, bleiben sie dennoch im Duktus der Fremdheitserfahrung und verstärken somit den Abgrenzungscharakter. Diskursstrategien, welche die europäischen Kulturen zum Vorbild machen, eine lange Traditionslinie schaffen und selbst die physische Beschaffenheit Europas zum Vorteil erklären, machen Fremdwahrnehmung erst möglich oder verstärken diese. Die dargestellte Geschlechterordnung ist nicht per se fremd oder nicht fremder, als man dies schon von deutschen Reisebeschreibungen europäischer Länder wie beispielsweise Spanien kennt. In dem Kapitel über Handel und Handelspraktiken diente die Beschreibung von Frauen nicht ­ eiteren „­Eroberung“ der Grenzziehung, sondern der Einladung zur w

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des somit „exotisierten“ Marktes. Denn auf der anderen Sei­te seien die Frauen den Europäern zugeneigt und es liegt eine voyeuristische Faszination in der Beschreibung der Kleidungskultur und des körperlichen Ausdrucks von Frauen. Doch in dieser Faszination bleibt das Fremde erhalten und wird markiert. Die Textstellen, in welchen die afrikanischen Frauen als dem weißen Manne zugeneigt beschrieben werden, stehen eher im Kontext der Bedingung der Möglichkeiten oder des affektiven Bezugsrahmens für den Handel mit diesen Regionen, der bereits bestand und weiter ausgebaut werden sollte. Dabei wurden nicht „Geschlecht“ oder „Geschlechterverhältnisse“ ausgehandelt, sondern die geschlechterspezifische Rahmung diente hier als epistemologische Grundlage der Fremdenkonstruktion. Diese Vorstellungen waren sicherlich auch Ausgangspunkt für die weiteren Festschreibungen der Kategorie Geschlecht und vermittelten im Verlauf des 18. Jahrhunderts rassistisch-europäische Stereotype. Geschlechtergrenzen wurden schließlich in kulturelle und nationale Grenzen überführt.

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Q uellen

und

L iter atur

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Film Europa Anna May Wong als Chiffre des Fremden Yumin Li Europäer! Europäerinnen! Europas Schicksalsstunde schlägt! In europäischen Fabriken werden täglich Waffen geschmiedet, um europäische Männer zu zerreißen – in europäischen Laboratorien werden täglich Gifte gebraut, um europäische Frauen und Kinder zu vertilgen. Indessen spielt Europa mit unbegreiflichem Leichtsinn mit seinem Schicksal; in unbegreiflicher Blindheit sieht es nicht, was ihm bevorsteht; in unbegreiflicher Untätigkeit lässt es sich willenlos der furchtbarsten Katastrophe entgegentreiben, die je einen Erdteil traf. Europas Politik steuert einem neuen Krieg zu. […] Dieser drohende Krieg bedeutet den gründlichen Untergang Europas, seiner Kultur und Wirtschaft. Andere Erdteile werden an dessen Stelle treten.1

So beginnt das paneuropäische Manifest von Richard Coudenhove-Ka­ lergi aus dem Jahr 1923. Der japanisch-österreichische Schriftsteller und Philosoph war der Gründer der Paneuropa-Union, einer Organisation, die den Europagedanken nach dem Ersten Weltkrieg wieder ­popularisierte und für die Bildung eines europäischen Staatenbundes eintrat. D ­ ieser Bund sollte mit den anderen Weltmächten konkurrieren, bestehend aus einem Staatenbund aus den USA und den Staaten Lateinamerikas, einer Russischen Föderation, einem Britischen Staatenbund und einem aus Japan und China gebildeten Ostasien. Die Idee entstand aus dem Eindruck der verheerenden Folgen des Ersten Weltkriegs und aus der Angst vor 1 | Richard Coudenhove-Kalergi, „Das paneuropäische Manifest“, in: Rolf Hellmut Foerster (Hg.), Die Idee Europa 1300-1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung, München 1962, S. 226-236, hier S. 226. Zitiert nach: Richard Coudenhove-Kalergi, Kampf um Paneuropa. Aus dem 1. Jahrgang von Paneuropa. Bd. 1, Wien und Leipzig 1925.

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einem neuen Vernichtungskrieg. Coudenhove-Kalergi identifiziert zwei Bedrohungen Europas: einerseits eine politische durch Russland, andererseits eine wirtschaftliche durch die USA. Um diesen Gefahren entgegenzutreten, vertrat Coudenhouve-Kalergi das paneuropäische Projekt, das viele Anhänger unter Politikern und Intellektuellen fand. So sprachen sich z. B. der französische Außenminister Aristide Briand und der deutsche Außenminister Gustav Stresemann für das Vorhaben aus. Zeitgleich gab es auch andere Organisationen, die eine Einigung Europas mit unterschiedlichen Schwerpunkten anstrebten. Die Association pour l’union Economique Européenne unter dem Vorsitz des Nationalökonomen Charles Gide verfolgte das Ziel einer wirtschaftlichen Vereinigung.2 Eine ganz anders gelagerte Gruppierung war die „Abendland“-Bewegung der Weimarer Republik, die im Geist des katholischen Christentums das „abendländische[n] Einheitsgefühl“ sah.3 Andere bedeutende Organisationen waren die Komitees für europäische Verständigung, der Verband Europäische Zollunion, die Mitteleuropäische Wirtschaftstagung sowie das Deutsch-Französische Studienkomitee. Die europäische Integration ist zwar erst 1957 mit der Unterzeichnung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch die Staats- und Regierungschefs der Länder Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande und Luxemburg politische Realität geworden. Über ein „Modell Europa“ als einen verdichteten Raum- und Staatenbund, „dessen Mitglieder ein hohes Maß an gesellschaftlicher Homogenität und Solidarität aufweisen und den Krieg gegeneinander als Konf liktlösungsmöglichkeit ausgeschlossen haben“4 , wurde indes seit Jahrhunderten nachgedacht. Der Historiker Heinz Duchhardt sieht den Beginn des engeren Europa-Diskurses Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzen, das in Verbindung mit dem Vorrücken der Osmanen auf das europäische Festland in Verbindung stand. Seit dem 19. Jahrhundert

2 | Achille Albonetti, Vorgeschichte der Vereinigten Staaten von Europa, BadenBaden u. a. 1961, S. 28. 3 | Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005, S. 20 und S. 34. 4 | Heinz Duchhardt, „Modell Europa“, in: Institut für Europäische Geschichte (Hg.), Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2010-12-03.

Film Europa. Anna May Wong als Chiffre des Fremden

wurde das „Modell Europa“ einem „Modell Amerika“ gegenübergestellt.5 Der Historiker Matthias Schulz stellt fest, dass in der Zwischenkriegszeit eine „regelrechte Europabewegung“ entstand, „die aus einer Vielzahl ­unterschiedlicher Netzwerke, Komitees und Publikationen bestand, die sich der Förderung des europäischen Gedankens in Politik, Wirtschaft und Kultur verschrieben hatten.“6 Europa war, so der Historiker Oliver Burgard, nicht mehr nur politische Utopie, sondern erstmals auch ein außenpolitisches Programm.7 In der Zwischenkriegszeit entwickelten sich verschiedene EuropaBewegungen, die sich nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs erstmals in politischen Verbänden organisierten. Sie beriefen sich auf eine Vielzahl an Europa-Konzepten, die ihre Ordnungssysteme entlang religiöser, imperialer oder ständisch-elitärer Vorstellungen ausrichteten. Der Europa-Diskurs war sehr facettenreich und widersprüchlich, oftmals waren sogar die Grenzen zwischen den Netzwerken fließend. 8 Die EuropaVerbände wurden von einem überschaubaren Personenkreis organisiert und die Akteure9 waren zumeist durch ihren sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund privilegiert. Die Beschränkung auf gesellschaftliche 5 | Zur Integration in Europa im 19. Jahrhundert siehe auch Peter Krüger, Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart 2006. 6 | Matthias Schulz, „Europa-Netzwerke und Europagedanke in der Zwischenkriegszeit“, Institut für Europäische Geschichte (Hg.), Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2010-12-03. 7 | Vgl. Oliver Burgard, Das gemeinsame Europa – von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm. Meinungsaustausch und Zusammenarbeit proeuropäischer Verbände in Deutschland und Frankreich 1924-1933, Frankfurt am Main 2000, S. 248. 8 | Vgl. M. Schulz, „Europa-Netzwerke und Europagedanke in der Zwischenkriegszeit“. Zu den Kooperationen, Wechselwirkungen und Zerwürfnissen zwischen den Europaverbänden siehe Karl Holl, „Europapolitik im Vorfeld der deutschen Regierungspolitik: Zur Tätigkeit proeuropäischer Organisationen in der Weimarer Republik“, in: Historische Zeitschrift 219(1) (1974), S. 33-94. 9 | Bis auf Ida Roland, die Ehefrau Richard Coudenhove-Kalergis, waren die Akteure dem bisherigen Forschungsstand nach Männer. Siehe O. Burgard, Das gemeinsame Europa; H. Duchhardt, „Modell Europa“; M. Schulz, „Europa-Netzwerke und Europagedanke in der Zwischenkriegszeit“.

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Eliten sollte überwunden werden durch zahlreiche öffentlichkeitswirk­ same Projekte in Zeitschriften, Rundfunk und Film. Richard Coudenhove-Kalergi wusste die Symbole wirkungsvoll einzusetzen und entwickelte eine Formensprache für die Paneuropa-Bewegung, weshalb Paneuropa zur Formel für die Idee europäischer Integration wurde. Und das, obwohl sich die zeitgleich existierenden Einheitskonzepte auf politischer und wirtschaftlicher Ebene sowie hinsichtlich geographischer Bezüge und der angestrebten Integration deutlich vom paneuropäischen Programm unterschieden. 10 Im Folgenden möchte ich daher etwas näher auf das Programm der Paneuropa-Bewegung und deren symbolischen Gehalt eingehen. Im Anschluss werde ich ein europäisches Integrationsprojekt der Filmbranche untersuchen, das Film Europa-Projekt. Ich werde insbesondere der Frage nachgehen, weshalb ausgerechnet die chinesisch-amerikanische Schauspielerin Anna May Wong ausgewählt wurde, um in mehreren Produktionen dieses Verbundprojekts die Hauptrolle zu spielen.

D ie S ymbole

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Paneuropa -B ewegung

1958 schreibt Richard Coudenhove-Kalergi über die Wahl der PaneuropaSymbolik in seinen Memoiren: Zum Symbol der Paneuropa-Union hatte ich das Sonnenkreuz gewählt: ein rotes Kreuz auf goldener Sonne. Das rote Kreuz der mittelalterlichen Kreuzzüge ist das älteste Symbol übernationaler europäischer Gemeinschaft. Heute ist es zum Sinnbild internationaler Humanität geworden. Die Sonne sollte den europäischen Geist darstellen, der die Welt erleuchtet hat. Griechentum und Christentum – das Kreuz Christi auf der Sonne Apollos – sind die dauernden Grundlagen europäischer Kultur.11

Interessant ist vor allem die positive Deutung von Kriegen, hier im Mittelalter, gegen das (religiöse) „Andere“. Dieses Kreuz stünde heute, mit Verweis auf die Internationale Rotkreuzbewegung, für die internationale Humanität. Die Gründung der Organisation „Osmanische Hilfs10 | Vgl. O. Burgard, Das gemeinsame Europa, S. 239. 11 | Richard Coudenhove-Kalergi, Eine Idee erobert Europa. Meine Lebenserinnerungen, Wien u. a. 1958, S. 117.

Film Europa. Anna May Wong als Chiffre des Fremden

organisation für verwundete und kranke Soldaten“ im Jahre 1878 im Osmanischen Reich, die sich das Zeichen des Roten Halbmondes gab, unterschlägt Coudenhove-Kalergi entschieden. Stattdessen betont er die integrierende Wirkung der Kreuzzüge für Europa. Durch die Verbindung von „europäischem Geist“ und einer emphatischen Licht- und Sonnensymbolik bindet er europäische Auf klärung an vermeintliche hellenische Ursprünge. „Griechentum und Christentum“ seien daher als Grundlagen europäischer Kultur dauerhaft gegeben. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie Coudenhove-Kalergi Paneuropa geopolitisch versteht. Seine Gedankengänge zum Raumverbund schildert er in seinen Memoiren folgendermaßen: Gegen Ende 1919 drehe ich, wie so oft, wieder einmal an meinem Globus. […] Plötzlich fiel mir die gerade Linie auf, die damals das demokratische Europa von der Sowjetunion trennt und die jenseits des Mittelmeers ihre Fortsetzung fand in der Grenzlinie zwischen Britisch-Afrika und den Kolonien der europäischen Kontinentalstaaten. Östlich dieser afrikanischen Grenzlinie dehnte sich das Britische Weltreich in einem riesigen Bogen um den Indischen Ozean aus, von Kapstadt bis Sydney. Dies gab mir den Schlüssel zur regionalen Gliederung der Welt in fünf Großräume […] Nur der fünfte dieser Großräume, nämlich Paneuropa, war noch völlig desorganisiert. Und doch bildete er, zwischen der Linie Petsamo-Katanga und dem Atlantik, eine klare geographische Einheit, gestützt auf eine gemeinsame Kultur, Geschichte und Tradition.12

Coudenhove-Kalergi, der Nachkomme europäischen Uradels, teilt die Welt am Globus mittels Linien auf. Er sieht klare Linien, welche die Welt in Räume gliedern. Der paneuropäische Raum bildet für ihn nicht nur eine räumliche, sondern auch eine kulturelle und historische Einheit. Diese Linie zeigt sich auch auf der „Paneuropa-Weltkarte“, die auf der letzten Seite des Buchs „Paneuropa“ aus dem Jahr 1926 abgebildet war. 13 12 | R. Coudenhove-Kalergi, Eine Idee erobert Europa, S. 105f. 13 | Eine Abbildung der „Paneuropa Weltkarte“ ist zu finden in Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien u. a. 2004, S. 515.

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Coudenhove-Kalergi zog die Linie allerdings nicht nur durch den eura­ sischen Kontinent, sondern auch durch den afrikanischen. Paneuropa solle nicht nur auf dem europäischen Kontinent bestehen, sondern auch die Kolonien europäischer Staaten umfassen. Im paneuropäischen Manifest heißt es dazu: Paneuropa umfaßt die Halbinsel zwischen Rußland, dem Atlantischen und dem Mittelländischen Meer; dazu Island und die Kolonien der europäischen Staaten. Die große europäische Kolonie, die zwischen Tripolis und Kongo, Marokko und Angola halb Afrika umfaßt, könnte bei rationeller Bewirtschaftung Europa mit Rohstoffen versorgen.14

Das Verhältnis zwischen den afrikanischen Kolonien und Europa ist klar benannt. Der Gründer der Paneuropa-Bewegung beteuert im Manifest, nicht feindlich gegenüber den anderen Großmächten eingestellt zu sein.15 Doch die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents und afrikanischer Menschen für den europäischen Kontinent sieht der Autor ausdrücklich vor: Afrika soll Europa versorgen. Afrika gehört zwar Europa, doch Coudenhove-Kalergi macht deutlich: „Europa den Europäern!“16 Europa müsse sich zusammenschließen, da es seine Weltherrschaft verloren hätte und sich daher den „Luxus innerer Kriege“17 nicht mehr gönnen könne, lamentiert der Autor. Dass die Paneuropa-Idee sich nicht gegen den Nationalismus wendet, wird auch in den letzten Zeilen des Manifests deutlich: Wer seine Nation liebt, muß Paneuropa wollen! Wer seine Familie liebt, muß Paneuropa wollen! Wer sich selbst liebt, muß Paneuropa wollen! Denn nur ein europäischer Dauerfrieden sichert die Zukunft der europäischen Nationen, Familien und Menschen.

14 | R. Coudenhove-Kalergi, „Das paneuropäische Manifest“, S. 228f. 15 | Vgl. ebd., S. 229. 16 | Ebd., S. 230. 17 | „Das alte Europa hatte die Weltherrschaft. Nach außen sicher, konnte es sich ohne Lebensgefahr den Luxus innerer Kriege gestatten. Im zwanzigsten Jahrhundert brach jene europäische Weltherrschaft zusammen.“ (Ebd., S. 231.)

Film Europa. Anna May Wong als Chiffre des Fremden

Schließt euch also, Europäer, in Massen der paneuropäischen Bewegung an und rettet Europa und eure Kinder!18

Nation, Genealogie und Europa fallen ineinander und konstruieren ein essenzialistisches Gebilde. 19 Letztlich scheiterten die Europaverbände an einer Vielzahl von Faktoren. Besonders heikel war die Einbindung Großbritanniens, das sich als europäische wie außereuropäische Macht verstand. Das Fehlen supranationaler Strukturen war ein weiteres zentrales Problem. Die Fülle der unterschiedlichen Pläne und Konzepte für europäische Zusammenarbeit und Integration zeigt die vorherrschenden, widersprüchlichen Interessen und Meinungen, die Coudenhove-Kalergis klare Grundsätze für ein einiges Europa widerlegen. Einig war man sich lediglich, dass eine wirtschaftliche Zusammenarbeit notwendig sei. Den Wirtschaftsvertretern diente das Netzwerk der pro-europäischen Verbände als Forum, um neue Expansionsmärkte zu erschließen. Die Europa-Verbände leisteten somit einen Beitrag zur Popularisierung und Politisierung der Europa-Idee und sie lieferten den Rahmen, der die Entwicklung wirtschaftlicher und politischer Integrationskonzepte generierte.

F ilm E uropa Eines dieser Integrationskonzepte entwickelte die Filmindustrie. Film galt als universale Sprache und eignete sich daher besonders als Vermittler zwischen Nationen.20 Der Film, so war es die Überzeugung seiner Produzenten wie Erich Pommer, spiele in der Menschheit eine beträchtliche 18 | Ebd., S. 236. 19 | Ausführlich zu Richard Coudenhove-Kalergi und Paneuropa siehe A. Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas. 20 | Vgl. Andrew Higson, „For love or money: transnational developments in European cinema in the 1920s“, in: Luisa Passerini, Jo Labanyi, Karen Diehl (Hg.):,Europe and Love in Cinema, Bristol 2012, 45-57, hier S. 46; Richard Maltby, Ruth Vasey, „‚Temporary American Citizens’: Cultural Anxieties and Industrial Strategies in the Americanisation of European Cinema“, in: Andrew Higson, Richard Maltby (Hg.), „Film Europe“ and „Film America“. Cinema, Commerce and Cultural Exchange, 1920–1939, Exeter 1999, S. 32-55, hier S. 39.

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Rolle. Sie soll daher den höchsten Interessen der Zivilisation dienstbar gemacht werden. In der Lichtbild-Bühne, einer der wichtigsten Filmzeitschriften dieser Zeit, heißt es 1926: Eine Sache ist gegenwärtig schon sicher: die Film-Industrie spielt in der Menschheit eine sehr beträchtliche Rolle. Sie ist in der Lage, viel zu wichtige Dienste zu leisten, als daß nicht in allen Ländern etwas getan werden müßte, und zwar in kürzester Zeit, um den Film den höchsten Interessen der Zivilisation dienstbar zu machen. 21

Und was sind die höchsten Interessen der Zivilisation? Die Antwort auf diese Frage war eindeutig und speiste sich aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges. In den Notizen zum Internationalen Filmkongress 1926, der in Paris stattfand, heißt es: Der Gedanke des „struggle for life“, des „Kampfes aller gegen alle“, hat abgewirtschaftet. Heut spricht man mehr von „gegenseitiger Hilfe“. Dabei ist nicht an eine Art Unterstützung der Armen durch die weniger Armen gedacht, als vielmehr die Erkenntnis sich durchgesetzt hat, daß die Parole der heutigen Krisenzeit Verständigung heißt. Genau das ist die Marschroute des europäischen Films. Man muß sich im Geistigen verständigen, man muß wirtschaftlich einen Ausgleich suchen. […] Europa muß ein einheitliches Filmwirtschaftsgebiet werden – ohne Spitze gegen die andern Erdteile. 22

Wirtschaftliche Unterstützung, Ausgleich und Zusammenarbeit innerhalb Europas wurden angestrebt, um zukünftige innereuropäische 21 | [Anonym], „Der Pariser Kongress an die deutsche Filmindustrie! Offener Brief des Generalsekretärs des Comité National Français de Coopération Intellektuelle (sic!)!“, in: Lichtbild-Bühne. Die Wochenzeitung der Film-Industrie 223, 17. September 1926, S. 10. 22 | [Anonym], „Notizen zum Pariser Kongreß“, in: Lichtbild-Bühne. Die Wochenzeitung der Film-Industrie 193, 14. August 1926, S. 12 [Herv. i. O.]. Ähnlich auch 1928 im Reichsfilmblatt: „Diese kulturelle Gemeinsamkeit braucht die Welt, brauchen vor allem die Völker Europas, damit kriegerischer „Geist“ und das Prinzip der Vergeltung und ähnliche Dinge langsam ihr Terrain verlieren.“ (Felix Henseleit, „Die Woche der grossen Tage. Filmeuropa ist organisiert!“, in: Reichsfilmblatt 34, 25. August 1928, S. 5 [Herv. i.O.])

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Aggressionen und Wettbewerb zu vermeiden. Der vor allem vom deutschen Filmhandel der 1920er Jahre genutzte Begriff Film Europa sollte das Ideal einer lebendigen europäischen Kinoindustrie vermitteln. Es gelang der Filmindustrie jedoch nicht, institutionell ein zentrales Organ zu etablieren. Stattdessen trafen sich die Industriellen auf Kongressen und schlossen Kooperationsabkommen ab. Beim Auf bau einer „kinoeuropäischen Organisation“23 wurde die Rhetorik vertreten, dass sie eine Filmindustrie mit internationalem Charakter entwickeln möchte, bei der „alle Nationen auf gleichem Fuß miteinander stehen.“24 Das Ziel war zwar die Vereinheitlichung der Filmindustrie innerhalb Europas, trotzdem war die Perspektive global ausgerichtet:

F ilmeuropa In diesem einen Wort ist die wirkliche Zukunft der stummen Kunst in Europa ausgedrückt, ja, vielleicht sogar die der ganzen Welt. 25

Global gesehen war das Verhältnis zu den USA besonders kompliziert. Die US-amerikanische Filmindustrie ging erstarkt aus dem Ersten Weltkrieg hervor und dominierte den Weltmarkt. Diese Dominanz wurde in den zeitgenössischen Debatten als höchst bedrohlich empfunden und mit militärischem Vokabular umschrieben. Die Zeitungen sprachen von Invasion, Expansion und Herrschaft des amerikanischen Films in Europa. Produzenten aus Großbritannien, Frankreich, Italien und der Weimarer Republik begannen 1924 Verträge abzuschließen, die eine wechselsei­ tige Distribution ihrer Filme zusicherten. In erster Linie wollten sie damit den Einf luss des „Film Amerika“ – eine Bezeichnung für das, was wir heutzutage unter „Hollywood“ verstehen – in Europa schmälern. Die ­europäischen Eliten befanden den kulturellen Einf luss des amerikanischen Kinos als zu stark und beabsichtigten, mit der Etablierung eines dezidiert europäischen Films der empfundenen Amerikanisierung entgegenzusteuern.26 Der Präsident des Verbandes der französischen Kino23 | F. Henseleit: „Die Woche der grossen Tage“, S. 5. 24 | [Anonym], „Der Pariser Kongress an die deutsche Filmindustrie!“, S. 9f. 25 | R. Pinès, „Filmeuropa!“, in: Reichsfilmblatt 33, 18. August 1928, S. 22. 26 | R. Maltby, R. Vasey, „‚Temporary American Citizens’“, S. 34.

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besitzer Léon Brezillon soll auf dem Europäischen Filmkongress 1929 gesagt haben, dass man sich davor schützen müsse, das gemeinsame intellektuelle Erbe, welches während zweitausend Jahren der Zivilisation erreicht wurde, an andere weiterzugeben, nur um es von Autoren anderer Kulturen wieder zurückgeliehen zu bekommen.27 Die schnellen Bilder aus der neuen Welt erschienen als Gefahr für das kulturelle Erbe des alten Europas. Das Unternehmen, von einigen Stimmen als europäisches Äquivalent zu den USA „United States of Europe“28 betitelt, sollte internationale Koproduktionen entwickeln, die mit den amerikanischen Produktionen um die Kontrolle des Marktes konkurrieren könnten. Die Umsetzung des Vorhabens war allerdings nicht zentral koordiniert, sondern schlug sich in einzelnen Distributionsverträgen von Produktionsstudios und Handelsbeschränkungen gegenüber amerikanischen Filmen nieder. Die beschworene Einheit Europas sollte gegenüber den USA abgrenzen, aber wie das Verhältnis zueinander sein sollte, blieb diffus. Mal sollte Europa den USA wie ein „gleichberechtigter Kontrahent“29 entgegentreten, mal überwog die Betonung der gegenseitigen Geschäfte.30 Der Kritiker Felix Henseleit sah in Film Europa auch das Potenzial, die „geistigen Interessen“ dessen zu bündeln, „was zusammengehört und ohne große Mühe auf einen Generalnenner zu bringen ist“.31 Die Völker Europas, so Henseleit, halte trotz ihrer Verschiedenheit eine alte Kultur und Tradition zusammen. Ein gemeinsames Kunstideal einige sie: Nennen wir die drei Namen Goethe, Shakespeare, Voltaire – so bindet alle Europäer in diesen Namen etwas Gemeinsames, so ist von Volk zu Volk eine Brücke geschlagen, so tut sich ein wesentlicher Inhalt der europäischen Welt auf – eine 27 | Vgl. Andrew Higson, Richard Maltby, „‚Film Europe’ and ‚Film America’: An Introduction”, in: Dies. (Hg.), „Film Europe“ and „Film America“. Cinema, Commerce and Cultural Exchange, 1920–1939, Exeter 1999, S. 1-31, hier S. 17. 28 | A. Higson, R. Maltby, „‚Film Europe’‚ and ‚Film America’”, S. 2. 29 | [Anonym], „Europa – Amerika“, in: Lichtbild-Bühne. Die Wochenzeitung der Film-Industrie 71, 21. Juni 1924, S.5. 30 | Vgl. [Anonym], „Notizen zum Pariser Kongreß“, S. 12: „Und Europa m u ß mit Amerika Geschäfte auf Gegenseitigkeit machen.“ [Herv. i. O.] 31 | Felix Henseleit, „Film-Europa“, in: Reichsfilmblatt 30, 24. Juli 1926, S. 7475, hier S. 75.

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Welt, die beispielsweise dem Amerikaner wenn auch nicht geistesfremd, so doch wesensfremd ist und sein muß, weil er außerhalb des europäischen Erlebnisses steht. 32

Henseleit spricht Europa ein gemeinsames Wesen zu. Ein deutscher Dichter, ein englischer Dramatiker und ein französischer Schriftsteller können Europäerinnen33 miteinander verbinden. Damit sind auch die zentralen Nationen Film Europas bestimmt. Bemerkenswert ist insbesondere, dass er, indem er drei Vertreter der Hochkultur anführt, den Film aus der Sphäre der Unterhaltungsindustrie und des Publikums, das sich zum großen Teil aus Angestellten zusammensetzte, herausträgt. Die Nationalkultur könne demnach Klassengrenzen überschreiten. Die Grenzüberschreitung weitet sich auf das Europäische aus: „So wurzellos, so heimatfremd sind wir alle nicht, daß wir deutschen Zug und deutsches Wesen (im guten, unverdächtigen Sinne!) verleugnen könnten. – Der gute deutsche Film, der gute europäische Film, wird weit stärker Herz und Gemüt beschäftigen, als es der durchschnittliche Amerikaner je wird tun können“34 . Der US-amerikanische Film könne oberf lächliches Interesse in Europa erzeugen, doch könne er nicht das Wesen der Europäerinnen ansprechen. Die Umsetzung des europäischen Gedankens mündete in der Entwicklung von Filmproduktionen, die aus international besetzten Teams bestanden und deren Schauplätze, Themen und Narrative nicht nur auf eine Region ausgerichtet waren. Die Entwicklung einer europäischen Ikonographie stand für das Unternehmen im Vordergrund. Während die Filmforschung bisher stark auf die wirtschaftlichen Aspekte des Film 32 |Ebd., S. 75. 33 | Dieser Aufsatz benutzt quellennahe geschlechtergerechte Sprache. Die Autorin verwendet das generische Femininum, wenn das weibliche und das männliche Geschlecht berücksichtigt werden soll. Der Autorin ist bewusst, dass andere Differenzierungen damit nicht berücksichtigt werden. Weitere geschlechtliche Identitäten wurden in den Quellen nicht adressiert, eine revisionistische Angleichung an eine diskriminierungsfreie Sprache wäre verfälschend. In einigen Kontexten wurde nur ein Geschlecht adressiert oder waren nur Menschen eines Geschlechts aktiv. In diesen Fällen wurde die jeweilige Form, meistens die männliche, verwendet. 34 | Felix Henseleit, „Film-Europa“, S. 75.

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Europa-Projekts einging, bleiben die symbolischen Ausformungen ein Desiderat.35 Bereits 1924 appellierten die Filmzeitschriften an die Produzenten, die Filme nicht nur an das Publikum einer Nation zu adressieren: Die europäische Filmproduktion muß sich in dem Augenblick, in dem sie als Ersatz für die amerikanischen Filme einspringen will, auf den Standpunkt der Internationalität stellen und die Filme erzeugen, die nicht nur den Beifall der eigenen Nation finden. Darunter soll unter keinen Umständen gesagt werden, daß die Engländer deutsche Filme, oder die Deutschen amerikanische Filme nachahmen sollen. Es muß nur bei der Produktion davon Abstand genommen werden, Filme zu erzeugen, die auf das Bedürfnis eines einzelnen Landes eingestellt sind, wie z. B. bei den deutschen Problemfilmen. 36

Obgleich Film Europa in erster Linie aus Produktionsabkommen bestand, ist das Kooperationsprojekt gerade auf symbolischer Ebene interessant: Die Filme mussten kulturell europäisch bis international ausgelegt sein, um das Publikum sowohl in Europa als auch in den USA ansprechen zu können. Viele der internationalen Produktionen des Filmprojekts Film Europa wählten Spielorte, die mit dem Reisen assoziiert sind, wie Bahnhöfe, Häfen oder Nachtklubs.37 Die Entscheidung, Orte zu wählen, die an geopolitischen Rändern und Transitzonen liegen, muss einerseits als Effekt der Ausrichtung auf ein interkontinentales Publikum gelesen werden, andererseits spiegelt sie die Lebenswege der migrierenden Film35 | Vgl. A. Higson, R. Maltby, „‚Film Europe’ and ‚Film America’: An Introduction“, S. 1: „As a cultural practice, Film Europe deserves closer examination, touching as it does on issues of local and national identities, internationalism and the idea of a shared European culture and a distinctive European cinema.” 36 | [Anonym], „Europa – Amerika“, S. 6. 37 | Vgl. Tim Bergfelder, „Negotiating exoticism. Hollywood, film europe and the cultural reception of Anna May Wong”, in: Andrew Higson, Richard Maltby (Hg.), „Film Europe“ and „Film America“. Cinema, Commerce and Cultural Exchange, 1920–1939, Exeter 1999, S. 302–324, hier S. 303: „Instead of circumscribing geo-political entities and centred national identities, these narratives frequently focus on the margins, boundaries and junction points of Europe. […] These places are more or less self-contained, and clearly separated from a homeland or national community that might be implied but which is always absent.”

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schaffenden wider. Die kosmopolitischen Filmfiguren referieren auf die Filmschaffenden und die Produktionsbedingungen der Filme, bei denen auch Künstlerinnen aus verschiedenen Ländern an einem Ort zusammenkommen. Regisseure, Schauspielerinnen und andere Filmschaffende arbeiteten je nach ökonomischer oder politischer Lage in den USA, Großbritannien oder Kontinentaleuropa. Gerade die innereuropäische wie auch transatlantische Mobilität der im Film Europa involvierten Akteurinnen ist ein Indikator für die spannungsreiche Beziehung zwischen der amerikanischen und der europäischen Filmindustrie. Großbritannien, Deutschland und Frankreich sollten die Film ­Europa-Bewegung anführen und prägten somit auch die Ikonographien der Filme. Was machte also die Medialität des Europäischen in der Film ­Europa-Bewegung aus? Wie bestimmte sich das Europäische auf der symbolischen Ebene? Der Regisseur Richard Eichberg engagierte sich mit großem Einsatz für Film Europa. Mit finanzieller Unterstützung von Südfilm drehte Eichberg in den Jahren 1928-1930 drei Koproduktionen mit British International Pictures. In diesen Filmen sollte eine Schauspielerin die Hauptrolle spielen und damit zu dem Gesicht der europäischen Koproduktionen werden: Anna May Wong. Zwischen 1928-1930, in der Hochzeit des Film Europas, wirkte sie in vier britisch-deutschen Produktionen mit; drei Filme unter der Regie von Richard Eichberg (Song 1928, Großstadtschmetterling 1929, Hai-Tang 1930) und Piccadilly (1929) mit Ewald Arnold Dupont als Regisseur. Warum sollte ausgerechnet eine amerikanisch-chinesische Schauspielerin zum Star eines europäischen Filmprojekts gemacht werden? Diesen Fragen werde ich am Beispiel des Films Großstadtschmetterling nachgehen. Die Entscheidung mag zunächst widersinnig erscheinen – doch Anna May Wong war die ideale Besetzung für Film Europa.

A nna M ay W ong Richard Eichberg hatte, nachdem Wongs schauspielerische Leistungen in The Thief of Bagdad (1924) ihn begeistert hatten, Interesse gezeigt, sie bei seiner eigenen Produktionsfirma Eichberg-Film unter Vertrag zu nehmen. Der transatlantische Austausch von Künstlerinnen in der Filmbranche verlief zu dieser Zeit in beide Richtungen: europäische, insbesondere

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deutsche Schauspielerinnen wie Conrad Veidt und Elisabeth Bergner versuchten in Hollywood ihr Glück; wohingegen nicht-weiße Künstlerinnen aus den USA wiederum die Möglichkeit reizte, in Europa die Anerkennung zu erhalten, die ihnen in den USA verwehrt blieb.38 Die Sozialwissenschaftlerin Karen Leong beschreibt in ihrem Artikel Anna May Wong and the British Film Industry, dass Wongs Entscheidung, nach Europa zu gehen, durchaus einem Karrieremuster nicht-weißer Performerinnen entsprach: Wong joined an outmigration of performers of color when she traveled to Europe. From the 1920s, American culture […] expanded its horizons artistically as well as geographically. The resulting outflow of talent consisted primarily of African Americans, most notably performers like Josephine Baker or actors like Paul Robeson. They similarly performed throughout Europe in attempts to broaden their opportunities. 39

Wong galt als die ideale Besetzung für das Film Europa-Projekt: Als amerikanisch-chinesische Schauspielerin konnte sie nicht von einer Nation wie Deutschland oder Großbritannien als einheimischer Star angeeignet werden. Gleichzeitig brachte sie den Glamour aus Hollywood mit, war ­bereits in den USA bekannt und konnte daher auch dort vermarktet werden. Dazu kam die ihr zugeschriebene Exotik, die vom Publikum in Großbritannien, Deutschland und Frankreich verstanden wurde. Gerade die kulturelle Mehrdeutigkeit ihrer Starpersönlichkeit bot Anknüpfungspunkte, wie Filmwissenschaftler Tim Bergfelder zusammenfasst: As exotic other and an American, Wong provided a solution to the problem of finding a star image which would be acceptable to a wide range of different national markets. […] The fact that her image was bound up in contradictions and conflicting cultural perceptions was not an obstacle, however, but part of the success of the image. In other words, Wong’s public persona (blending her on- and off-screen image) functioned to some extent as a free signifier which could be imbued with various meanings. The casting of Wong was thus one of the

38 | T. Bergfelder, „Negotiating exoticism”, S. 304. 39 | Karen J. Leong, „Anna May Wong and the British Film Industry”, in: Quarterly Review of Film and Video 23(1) (2006), S. 13–22, hier S. 15.

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strategies which enabled her films to be relatively successful in different European markets, which was one of the central aims of the Film Europe initiative. 40

Alle drei unter Eichberg gedrehten Filme haben als Schauplätze Orte der Mobilität, des Reisens oder des Kosmopolitismus gewählt: Song (1928) spielt in einer Hafenstadt, Hai-Tang – Der Weg zur Schande (1930) in einer russischen Festung, in der chinesische und westeuropäische Künstlerinnen auf russische Soldaten treffen, in Großstadtschmetterling begegnen sich französischer Adel, russische Maler, amerikanische Millionäre und chinesische Artistinnen in verschiedenen kosmopolitischen Kontaktzonen. Gemein haben die Filme außerdem, dass Wong jeweils eine Tänzerin spielt, die als exotische Attraktion vor weißem Publikum auftritt. 41 In einer Welt der Mobilität, in der territoriale wie soziale Grenzen porös geworden zu sein scheinen, wird die Grenze zum Anderen in der Form der nicht-weißen Frau gezogen. Die räumlichen und symbolischen ­Inszenierungen der Filme lassen sich, so möchte ich argumentieren, nur unter Einbeziehung des Verhältnisses von Europa, „Rasse“ und Geschlecht verstehen. Dabei verfolge ich die These, dass gerade die Anna May Wong zugeschriebene Ambiguität hinsichtlich „Rasse“ und Geschlecht ausschlaggebend für das Film Europa-Projekt war. 42 40 | T. Bergfelder, „Negotiating exoticism”, S. 320f. 41 | Auch in „Piccadilly“ finden wir diese Merkmale wieder. Dieser Film vereint das kosmopolitische Flair des Londoner Nachtklubs mit dem anrüchigen Charme des Hafenviertels Limehouse, in dem ebenfalls das frühere Chinatown angesiedelt war. Der exotische Tanz spielt in „Piccadilly“ eine noch wichtigere Rolle als in den Filmen von Richard Eichberg. Siehe dazu Yumin Li, „Shape Shifters: Racialized and Gendered Crossings in Piccadilly (1929) and Shanghai Express (1932)”, in: Sexualities 23(1-2) (2020), S. 170-200. 42 | Forschungsliteratur zu Anna May Wongs Schaffen in Europa: Pablo Dominguez Andersen, „‚So Tired of the Parts I Had to Play’. Anna May Wong and German Orientalism in the Weimar Republic”, in: Brian D. Behnken, Simon Wendt (Hg.), Crossing Boundaries. Ethnicity, Race, and National Belonging in a Transnational World, Lanham u.a. 2013, S. 261–283; Cynthia Walk, “Anna May Wong and Weimar Cinema. Orientalism in Postcolonial Germany”, in: Qinna Shen, Martin Rosenstock (Hg.), Beyond Alterity. German Encounters with Modern East Asia, New York/Oxford 2014, S. 137–167; Laura Mulvey, „Love in two British films of the late silent period: Hindle Wakes (Maurice Elvey, 1927) and Piccadilly (E.A.

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G rossstadtschme t terling (1929) 43 Der Film beginnt in Paris. Anna May Wong spielt Mah, eine Artistin, die in einer „Jahrmarktspezialistenbude“44 auftritt. Ihr Kollege Coco, der als Clown arbeitet, bedrängt Mah sexuell und wird von Wu, einem anderen Kollegen, gestoppt. Mah muss aus der Jahrmarktbude f liehen, nachdem Wu tödlich verunglückt ist und Mah von Coco die Schuld an seinem Tod gegeben wird. Sie kommt zufällig in das Atelier des Malers Fedja Kusmin, der sie aufnimmt. Kusmin und sein Malerfreund Paul Bonnet sind erfolglose Künstler, die ihre Bilder auf der Straße zu verkaufen suchen. Mah tanzt auf der Straße und lockt dadurch kaufwilliges Publikum an, unter anderem den Baron de Neuve und Ellis Working, die Tochter eines amerikanischen Kunsthändlers. Es entwickelt sich ein Eifersuchtsdrama, im Laufe dessen Kusmin mit Ellis zusammenkommt und Mah fälschlicherweise beschuldigt wird, Kusmins Einnahmen gestohlen zu haben. Mah findet nach dieser Bezichtigung Zuf lucht bei dem Baron. Der Baron versucht, die Situation aufzuklären, indem er Mah an die Französische Riviera bringt, wo sich mittlerweile auch Ellis und Kusmin auf halten. Nach einigen Missverständnissen kann sich Mah erklären. Kusmin entschuldigt sich und möchte, dass Mah bei Ellis und ihm bleibt. Mah allerdings lehnt ab und verschwindet in der Dunkelheit der Nacht.

Dupont, 1929)”, in: Luisa Passerini, Jo Labanyi, Karen Diehl: Europe and Love in Cinema, Bristol 2012, S. 87-100; Shirley Jennifer Lim: „‚Speaking German Like Nobody’s Business’: Anna May Wong, Walter Benjamin, and the Possibilities of Asian American Cosmopolitanism”, in: Journal of Transnational American Studies 4(1) (2012), S. 1-17. 43 | Der Aufsatz der Autorin„Anna May Wong als Grenzgängerin des Weimarer Kinos“, in: IMIS-Beiträge, Heft 46/2015, Themenheft: Film und Migration, Osnabrück 2015, S. 96-121, beschäftigt sich u. a. auch mit diesem Material. 44 | Drehbuch Großstadtschmetterling, Bild 2, Deutsche Kinemathek Berlin.

Film Europa. Anna May Wong als Chiffre des Fremden

Großstadtschmetterling – Deutschland 1929

Quelle: Deutsche Kinematek

Die Abbildung zeigt Coco und Mah im Wanderzirkus. Joie de vivre, Zirkusromantik und Mah als „Schmetterling“ verschmelzen zu heterogenen Fantasien. Von Mah wird behauptet, dass sie unter dem Namen Prinzessin Butterf ly der Star der New Yorker Oper sei. 45 Dadurch wird Herkunft in diesem Film zur Fiktion und Mah als Reisende und Migrantin vorgestellt. Coco und Mah als umherziehende Zirkusartistinnen sind der Inbegriff von Mobilität und grenzüberschreitendem Lebenswandel bei gleichzeitiger Marginalisierung. 46 Die Welt des Zirkus ist ein Imaginationskosmos, der sich territorialer Zuordnung entzieht. Mah befindet sich mit dem Zirkus in stetigem Transit und findet an jedem Ort ihr Publikum. Großstadtschmetterling spielt in einem kosmopolitischen Frankreich. 45 | Vgl. Zulassungskarte Großstadtschmetterling, Prüf.-Nr.: 22046, Bundesarchiv Berlin. 46 | Zum Zirkus als exotischer Gegenwelt siehe Mathias Christen, Der Zirkusfilm. Exotismus – Konformität – Transgression, Marburg 2011.

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Zugleich war Frankreich für das Film Europa-Projekt eines der wichtigsten Partner und Paris galt für die Zielgruppe des Film Europa als ein Sehnsuchtsort, der sich aus „Nostalgie, Aristokratie und romantischer Fantasie“47 speiste. Der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser führt in seinem Aufsatz zur Geschichte der deutschen Filmemigration die Anziehungskraft zwischen Paris und Hollywood auf den Zusammenhang beider Orte als „Städte des schönen Scheins und der Inszenierung“48 zurück. Das Hotel an der Riviera ist ein weiterer Knotenpunkt für Menschen mit verschiedenen Routen. Es ist ein Ort, der sich dem Begriff von verwurzelter Heimat entzieht. Darüber hinaus können die Handlungsorte Paris, Riviera und Jahrmarkt sowohl in den USA als auch in Westeuropa rezipiert werden. Grenzen und Grenzüberschreitung sind in den Filmen mehrfach codiert und das Überschreiten der Grenze, die Abwendung von verwurzelter Heimatzugehörigkeit, verlegt die Charaktere auch an die soziale ­Peripherie: „The spaces are inhabited by outsiders, people of ­indeterminate national identities, who have either just arrived at these extra-territorial locations or are about to depart from them.“49 In Großstadtschmetterling treffen sich Personen mit englischen (Ellis Working), französischen (de Neuve), russischen (Fedja Kusmin) und chinesischen (Mah) Namen. Diese Namen lassen auf vielseitige Migrationsgeschichten schließen. Die amerikanische Kunsthändlerfamilie mit dem sprechenden Namen Working repräsentiert die moderne, global agierende Oberschicht, während der Baron de Neuve für das traditionelle und ererbte Vermögen steht. Diese Mischung aus verwurzelten und entwurzelten Identitäten konnten verschiedenen nationalen Publika als Identifikationsfiguren angeboten werden. Ohne die Darstellung eines Zentrums erscheinen alle Charaktere als peripher; als „Fremdes“ und „Eigenes“ zugleich. Diese mobilen Figuren finden in Frankreich einen temporären Wohnort. Anna May Wongs Rolle Mah in Großstadtschmetterling ist sehr widersprüchlich: Das Drehbuch verlangt von ihr in einer Szene, „wie ein seliges 47 | Thomas Elsaesser, „Heavy Traffic. Perspektive Hollywood: Emigranten oder Vagabunden?“, in: Hans-Michael Bock, Wolfgang Jacobsen, Jörg Schöning (Hg.), London Calling. Deutsche im britischen Film der dreißiger Jahre, München 1993, S. 21–41, hier S. 33. 48 | Ebd. 49 | T. Bergfelder, „Negotiating exoticism”, S. 303.

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Kind“50 zu lachen, und reproduziert somit die virulente Praktik das (geschlechtlich, rassisch) „Andere“ zu infantilisieren und ihm eine mündige Subjektposition zu verweigern. Der Titel des Films verweist auf ähnliche Narrative, wie Madama Butterfly in der gleichnamigen Oper von Giacomo Puccini, welche die exotische Frau als das unterwürfige „Andere“ entwerfen.51 Die infantilisierende Darstellung wird in anderen Szenen jedoch gebrochen. Mah verhält sich in weiten Teilen des Films äußerst selbstbewusst und autonom: Sie f lirtet offensiv mit Kusmin, f lieht aus dem Zirkus und am Ende fasst sie den Entschluss zu gehen. Kusmin bittet Mah nach der Aufklärung des Diebstahls, bei Ellis und ihm zu bleiben. Im Drehbuch ist vorgesehen, dass Mah antwortet: „Ich gehöre nicht zu euch. Ich will zurück in meine Heimat.“52 Im Film wurde ihre Antwort jedoch so geändert, dass sie ausschließlich erwidert: „Ich gehöre nicht zu euch.“53 Durch diese Auslassung wird die Bestimmung von Heimat und Zugehörigkeit verwischt. In der nicht umgesetzten Drehbuchvariante scheint Mah das Bleiben abzulehnen, da sie sich als dem Land oder der Kultur nicht zugehörig fühlt. Der Film dagegen legt die Interpretation nahe, dass Mah Kusmins Abweisung nicht verwinden kann. Er lässt daher offen, welcher Kultur Mah sich zugehörig fühlt, oder ob diese Frage für sie überhaupt relevant ist. Mah passt nicht in die Dichotomie asiatisch/ europäisch und lässt sich nicht auf den Faktor der Fremdheit verkürzen. Sie macht keine „Fremdheitserfahrungen“, es gibt weder Sprach- noch Identitätsprobleme. Ihr Handeln ist weitgehend selbstbestimmt und sie kann bezüglich ihres Lebensweges Entscheidungen eigenständig treffen. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich nicht von der weißen Frauenfigur Ellis. Mahs Persönlichkeit lässt sich nicht in einen Typus einordnen, in ihr wohnt eine Uneinigkeit des Charakters, in der Widersprüche bestehen bleiben und nicht ineinander aufgehen. Anna May Wongs Darstellungen unterlaufen stetig Persönlichkeitstypen und Differenzsysteme: sie ist weder Kindchen noch „Femme Fatale“, weder „Edle Wilde“ noch Diva.

50 | Drehbuch Großstadtschmetterling, Bild 42, Kinemathek Berlin. 51 | Die Tieranalogie findet sich auch in dem Vogel, den sich Mah im Käfig hält. 52 | Drehbuch Großstadtschmetterling, Bild 170, Kinemathek Berlin. 53 | Zulassungskarte Großstadtschmetterling, Prüf.-Nr.: 22046, Bundesarchiv Berlin.

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Umso überraschender ist die Szene, in der Mah zum ersten Mal eine eindeutige Nationalität zugeordnet wird. Als Kusmin bei der Bank anruft, um nachzuforschen, von wem sein Scheck eingelöst wurde, antwortet der Bankangestellte nur: „Von einer Chinesin.“54 Vor und nach dieser Szene scheint ihre Nationalität keine Rolle zu spielen. Es werden keine Informationen zu Mahs familiärem Hintergrund offenbart. Sie spricht weder die chinesische Sprache, noch zeigt sie durch Praktiken, dass sie sich einer spezifischen „Kultur“ zugehörig fühlt. Die Zuschreibung des Bankangestellten macht deutlich, dass ihre Nationalität oder „Rasse“ den Filmproduzenten und dem Publikum derart evident erschienen, dass sie nicht hergestellt werden musste. Die visuelle Inszenierung des „Asiatischen“ erfolgt hauptsächlich auf der Bühne, wenn Mah die „Exotin“ spielt. Dabei zieht sie vom Spektakel faszinierte Zuschauerinnen an, schaut diese direkt an, verbeugt sich und stellt ihre performative Arbeit in den Vordergrund. Ihre Funktion als Attraktion für das Publikum und dessen Schaulust werden dadurch pointiert. Mah trägt ein „asiatisch“ anmutendes Gewand auf der Jahrmarktbühne. Im Laufe des Films erweitert sich Mahs Garderobe: Wir sehen sie etwa im langen Mantel und im Abendkleid. Indem wir Mah im Alltag in westlicher Kleidung sehen, wird das chinesisch anmutende Gewand zum Kostüm. Wir sehen, dass es sich hier nicht um ihre „natürliche“ Kleidung handelt, die zu ihrem Wesen gehört. Stattdessen wird deutlich, dass Kleidung an- und ablegbar ist, eine bestimmte Funktion erfüllt und zur Inszenierung gehört: Das Kostüm als Ver-Kleidung ist eine gesteigerte Form dieses Inszenierungsbewusstseins. Mah ist nicht per se eine Exotin, sondern sie benötigt hierfür die entsprechende Kostümierung.

54 | Zulassungskarte Großstadtschmetterling, Prüf.-Nr.: 22046, Bundesarchiv Berlin.

Film Europa. Anna May Wong als Chiffre des Fremden

Großstadtschmetterling – Deutschland 1929

Quelle: Deutsche Kinematek

Alterität ist in Großstadtschmetterling sehr ambivalent hergestellt. Einerseits setzt der Film auf die scheinbar offenkundige Fremdheit Wongs. Andererseits verschwimmt in diesem Film, mit seinen selbstreferenziellen Bezügen zur Jahrmarktbühne und seinem „doppelten Spiel“, die Grenze zwischen Fremdem und Eigenem. Mah wird einerseits als das „rassisch Fremde“ konstruiert, das nicht in die Konstruktion des Europäischen integrierbar ist. Die Amerikanerin Working und die russischen Maler fügen sich hingegen problemlos ein. Andererseits wird ihr Anders-Sein nicht performativ inszeniert. Das „Europäische“ definiert sich nicht über spezifische Werte oder Symbole, die zu dieser Zeit im Europa-Diskurs zirkulierten. Es wird nicht an einen vermeintlich hellenischen Ursprung rückgebunden, an den christlichen Glauben gekoppelt oder mithilfe des Europa-Mythos erzählt – alles Narrative und Motive, die in der Weimarer Republik durchaus virulent waren. Europa-Konzepte, die in dieser Zeit von Verbänden wie der PaneuropaUnion verbreitet wurden, finden in den Film Europa-Produktionen kein

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Abbild. Stattdessen ist Europa eine unbestimmte Leerstelle, die sich ex negativo über das Andere des Fremden definiert: Europa ist, was das Fremde nicht ist. Die Handlung wird nicht in einen realen historischen Kontext eingebettet. Stattdessen taucht Frankreich als Projektionsf läche auf und wird gleichsam exotisiert. Analog zur Traumfabrik Hollywood, die das ­US-amerikanische „Streben nach Glück“ global vermittelt, präsentiert uns Großstadtschmetterling eine europäische Variante des Glamours. Dem Versprechen der „Glitzerstadt“ setzt Film Europa den Kosmopolitismus der Alten Welt entgegen. Frankreich, eine zentrale Nation für Film Europa, wird in Großstadtschmetterling als exotisches Land, ähnlich wie Anna May Wong als exotische Tänzerin, objektiviert und voyeuristisch konsumiert, eine Darstellungsweise, die Andrew Higson zufolge kennzeichnend für Film Europa-Produktionen war.55 55 | Vgl. A. Higson, „For love or money“, S. 57. Die Selbst-Exotisierung Europas findet sich, wie Claudia Bruns verdeutlicht, nicht zufällig bereits in den Europakarten der Frühen Neuzeit, auf denen Europa als Königin dargestellt wird: „Der Kontakt mit den kolonialen Anderen durch Seefahrer, Reisende und Handelsleute veränderte seit dem 13. Jahrhundert den Blick auf das Eigene und führte zu einer Repräsentation von Europa als einer stärker fixierten Einheit mit klareren Konturen. Europa nahm auf kartographischen Darstellungen der Frühen Neuzeit erstmals die Kontur einer Person an. Nicht zufällig tauchte diese Form der Darstellung in dem Moment auf, als sich das Projekt der Neuvermessung des Menschen durch die Humanisten durchzusetzen begann. Johannes Putschs Zeichnung von 1537 wie auch Matthias Quads Kölner Kupferstich von Europa aus dem Jahr 1587 (abgebildet in Sebastian Münsters Kosmographie von 1588) zeigen Europa nun als eine Frauengestalt mit kaiserlichen Attributen.“ (Claudia Bruns, „Europas Grenzdiskurse seit der Antike – Interrelationen zwischen kartographischem Raum, mythologischer Figur und europäischer ‚Identität’“, in: Michael Gehler, Andreas Pudlat (Hg.), Grenzen in Europa, Hildesheim 2009, S. 17-45, hier S. 36). Die Darstellung Europas in Form einer Königin ist, so Bruns, auf mehreren Ebenen bedeutungsvoll. Einerseits unterstreicht die Darstellung den eurozentrischen Herrschaftsanspruch Europas als den „ersten Erdteil“ über die anderen Erdteile. Die kartographische Formation Europas als Königin weckt zudem Paradies-, Marien- und Fruchtbarkeitsassoziationen. Andererseits kann die weibliche Figur im Kontext von Erschließung, Eroberung und Landnahme auch als Metapher des Fremden im Eigenen verstanden werden. Europa selbst soll in

Film Europa. Anna May Wong als Chiffre des Fremden

S chluss Kehren wir zurück zu den eingangs gestellten Fragen. Zunächst: Wie ­bestimmte sich das Europäische auf der symbolischen Ebene? Dann kommen wir zu der Frage, wieso ausgerechnet eine amerikanisch-chinesische Schauspielerin zum Star des Film Europa gemacht wurde. Das Konstrukt Europa drückt sich in Großstadtschmetterling über Mobilität und Kosmopolitismus aus, im Überschreiten vormals starrer territorialer und sozialer Grenzen. Richard Eichberg wählt dafür ein Spektrum an internationalen Protagonistinnen: Im Film begegnen sich französischer Adel, russische Maler, amerikanische Millionäre und chinesische Artistinnen. Auch die anderen Filme mit Anna May Wong setzen auf Orte des Transits: Song (1928) spielt in einer Hafenstadt, Hai-Tang – Der Weg zur Schande (1930) in einer russischen Festung, in der chinesische und westeuropäische Künstlerinnen auf russische Soldaten treffen. Großstadtschmetterling entwickelt nicht nur auf der Ebene des Filmraums eine europäische Ikonographie. Der Film setzt verstärkt auf Künste, die nicht mit Sprache arbeiten und daher in verschiedenen Ländern funktionieren. Die Charaktere Bonnet und Kusmin sind Maler und Anna May Wong spielt eine Tänzerin. Diese sinnlichen, nicht-sprachlichen Künste unterstützen den Anspruch des Films, universal verständlich zu sein. Diese Grenzenlosigkeit auf der einen Seite kann aber nur bestehen durch eine Grenzsetzung zu einem kulturell, „rassisch“ und geschlechtlich Anderen. In diesem Fall zur von Anna May Wong dargestellten Filmfigur Mah, die zwar zeitweilig Zugang zum kosmopolitischen Europa erhält, jedoch als a priori fremd verstanden wird und letztlich kein glückliches Ende findet. Tim Bergfelders Befund, dass Film Europa das Schauspielen als universale Kunst betrachtet hat und somit kulturelle U­nterschiede verleugnete,56 ist somit nur teilweise zuzustimmen. Anna May Wongs Filmfigur Mah tritt als exotische Attraktion vor weißem Publikum auf. In einer Welt der Mobilität, in der territoriale wie soziale Grenzen porös geworden zu sein scheinen, wird die Grenze zum Anderen in der Form dem Sinne wissenschaftlich erforscht, vermessen und beherrscht werden, vgl. Claudia Bruns, „Europas Grenzdiskurse seit der Antike“, S. 40. 56 | Vgl. T. Bergfelder, „Negotiating exoticism“, S. 317: „The emphasis on a seemingly universal ‚art’ of acting can be seen as a critical strategy for disavowing cultural differences.” [Herv. i. O.]

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der nicht-weißen Frau gezogen. Mah ist somit qua äußere Erscheinung die andere Frau, die von weißen Männern ob ihrer Andersartigkeit angegafft wird. Die angestrebte Auf hebung innereuropäischer territorialer Grenzen geht daher mit einer Grenzziehung zum vermeintlich nicht-europäischen – dem nicht-weißen und dem amerikanischen – einher. Wong galt als die ideale Besetzung für das Film Europa-Projekt: Als amerikanisch-chinesische Schauspielerin konnte sie nicht von einer Nation wie Deutschland oder Großbritannien als einheimischer Star angeeignet werden. Zudem funktionierte ihr Appeal auch in den USA.57 Dazu kam die ihr zugeschriebene Exotik, die vom Publikum in Großbritannien, Deutschland und Frankreich verstanden wurde. Anna May Wong verband für das europäische Publikum diese Eigenschaften: sie war nicht-europäisch, insofern sie amerikanisch und chinesisch war. Durch diese doppelte Zugehörigkeit konnte sie das Publikum nicht eindeutig einer Kultur zuordnen. Dadurch konnte sie auch nicht von einer europäischen Nation für sich in Anspruch genommen werden. Gleichzeitig profitierte Wong sowohl von ihrer amerikanischen als auch ihrer chinesischen Herkunft. Obwohl sie in den USA zuvor nur in Nebenrollen oder unbedeutenden Produktionen mitgespielt hatte, wurde sie in Europa als Hollywood-Star zelebriert. Als Chinesin übte sie den Reiz des Exotischen auf das Publikum aus. Zahlreiche Zeitungsartikel zeugen von dieser Faszination. Wong äußerte sich zudem kritisch über den Rassismus in den USA und bewertete insbesondere Deutschland und England in der Hinsicht viel positiver. Dies erlaubte den Ländern, sich politisch und kulturell als Nationen von den USA abzugrenzen und sich vom tatsächlich existierenden Rassismus abzuwenden.58 Wong war Kosmopolitin, arbeitete und lebte transnational, tourte durch die USA, Europa, später auch Asien und Australien. Sie vereinte in sich die Ambivalenz und die Widersprüchlichkeit zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung, welche der Kern des Film EuropaProjekts war. Europa zeigt sich eher als Imagination denn als kulturelle Verortung.

57 | Vgl. ebd., S. 62: „The appeal of Wong‘s star image within the context of Film Europe was that it had the potential to combine the attractions of pure exoticism with American modernity.“ 58 | Vgl. K. Leong, „Anna May Wong and the British Film Industry”, S. 21.

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Filmverzeichnis Ewald André Dupont, Piccadilly, GB (1929) Richard Eichberg, Song, D (1928) Richard Eichberg, Großstadtschmetterling, D (1929) Richard Eichberg, Hai-Tang. Der Weg zur Schande, D (1930)

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Homosexualität als Grenzkriterium der radikalen Rechten in Serbien Björn Goldstein

S chwule EU? „Mein einer Papa mag EU und NATO und mein anderer ist auch schwul“1 („Moj prvi tata voli EU i NATO a drugi je isto peder“). Dieser über soziale Medien verbreitete „Gag“ drückt eine Stimmung aus, die in Teilen der serbischen Bevölkerung verbreitet ist. Ein pejorativer Gebrauch des Wortes „schwul“ ist international unter homophoben Menschen verbreitet, also nichts Ungewöhnliches. Dass aber – scheinbar korrelativem Denken verwandt – männliche Homosexualität und „EU und NATO“ ­synonym gesetzt werden, wenn auch getarnt als Witz, der vermutlich eine angenommene Wahrheit aussprechen soll, ist eine nähere Betrachtung wert. Was hat es damit auf sich, wenn die EU und die NATO als Institutionen mit besonderer Affinität zum Schwulsein vorgestellt werden? Drastischer ausgedrückt und mit der Gewichtung auf ein allgemeineres historisches Phänomen, fand ich diesen Zusammenhang in Form eines Graffitos im Zentrum Belgrads: „Wir lassen uns von eurem Kapitalismus und euren Schwuchteln nicht ficken“ („Neć e nas vaš kapitalisam i vaši pederi jebati“). EU, NATO und Kapitalismus gehören für manche offensichtlich in dieselbe Kategorie wie Homosexuelle. Unklar ist zunächst, ob Schwule beleidigt werden sollen, da sie als mit EU, NATO und Kapitalismus verbunden dargestellt werden. Oder, ob umgekehrt drei typische Vertreter des politischen „Westens“ verunglimpft werden sollen, da „pe1 | Das serbische/bosnische/kroatische Wort „peder“ bedeutet „schwul“, hat aber, anders als im Deutschen, wo es auch als positive Selbstbezeichnung männlicher Homosexueller benutzt wird, eine unzweifelhaft abwertende Bedeutung.

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der“ (schwul) bereits bei vielen ein Aversionen auslösender Begriff ist. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass beides der Fall ist und der Logik der serbischen radikalen Rechten folgt. Darüber hinaus lässt sich hieran exemplarisch zeigen, dass die symbolischen Grenzen Europas nur sehr unscharf gezogen werden können, selbst wenn ein starker Wunsch besteht, eine „kulturelle“ Grenze aus politischen Gründen eindeutig festzulegen. Die Klassifizierung von Territorien und politischen Entitäten als homosexuell oder heterosexuell ist ein Versuch zur Befriedigung dieses Distinktionsbedürfnisses; ideal geradezu, da (nationale) Identifizierung hier direkt an ein vorpolitisches Amalgam aus empfundener sexueller Identität und (nationaler) religiöser Tradition anknüpfen kann. Die Sehnsucht nach Abgrenzungskriterien der serbischen Rechten zur EU kommt in einer Region zum Tragen, die seit langem als „Problemfall“ europäischer Identität gilt. In der jüngeren Geschichte, den ­Jugoslawienkriegen der 1990er-Jahre, wurde dieser Umstand auf tragische Weise sichtbar. Die europäische Geschichte des Balkans widersprach der Tendenz großer Teile EU-Europas, die Ereignisse nach dem Zerfall Jugoslawiens als einen Rückfall in voreuropäische Zeiten oder eine Entfernung hin zu außereuropäischen Räumen zu interpretieren. Étienne Balibar sagte 1999, daß es in Jugoslawien und allgemein auf dem Balkan […] um die europäische Identität geht. Entweder Europa erkennt, daß die Situation auf dem Balkan keine aufgepfropfte Abnormität ist, kein pathologisches ‚Relikt‘ der Unterentwicklung oder des Kommunismus, sondern ein Abbild und eine Auswirkung seiner eigenen Geschichte, und es setzt sich mit dieser Situation auseinander, um sie zu lösen […] 2

oder, so warnte er, „Westeuropa“ könne den Ländern des Balkans ­dauerhaft den Status von Fremden („Metöken“) zuweisen, die zwar in Europa lägen, aber nicht vollwertiges und vollberechtigtes Mitglied sein könnten.3 Während die gewählten serbischen Regierungen seit 2000 alles versuchen, diesen Metökenstatus loszuwerden, und es ihnen gelungen ist, EU-Beitrittskandidat zu werden, versteht die serbische radikale Rechte 2 | Étienne Balibar, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg 2003, S.24 [Herv. i. O.]. 3 | Ebd.

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hingegen ihr eigenes Anderssein im Vergleich zur EU selbst als „wahrhaft“ europäisch. Daran zeigt sich, dass der jeweils „Fremde“ in Europa durch ein spezifisches Europaverständnis bestimmt wird.

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und wer gehört zu und wer definiert es ?

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EU-Reife besteht bei Einhaltung der Regelungen in dem mehr als 100.000 Seiten umfassenden Gemeinschaftlichen Besitzstand. Soweit wäre die EU eine vertraglich verfasste Organisation, welche klar geregelt – „ohne Ansehen der Person“ – über Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft entscheidet. Die Erfüllung dieser Kriterien reicht jedoch nicht aus. In einem weiteren formalen Akt müssen alle Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament dem Beitritt des Bewerbers zustimmen. Die Möglichkeit des Vetos von Mitgliedsländern oder des Europäischen Parlaments gegen einen neuen Kandidaten verweist auf die Bedeutung von Faktoren der EU-Reife jenseits des formal-juristischen, auf EU-Grenzen im Bereich von vorgestellten Werten und Normen. Dabei ist das, was von europäischen Politiker_innen 4 und innerhalb europäischer und nationaler Diskurse innerhalb der EU für „europäisch“ gehalten wird, nicht unerheblich. Marokko, Australien und Israel können zwar beim Eurovision Song Contest antreten, eine EU-Mitgliedschaft ist aber an die Bedingung geknüpft, europäisch zu sein. Ob es sich hierbei um ein geographisches oder kulturelles Verständnis handelt, ist zunächst offen.5 Dass es Gegenstand von Verhandlungen ist, und dass Geographie nur eine im Bedarfsfall herangezogene Variable ist, zeigten beispielsweise das jetzige Mitglied Malta, welches geographisch zu Asien gezählt wird, die Ablehnung von Marokkos Beitrittsbestrebungen in der Vergangenheit mit der Begründung, dass es auf dem afrikanischen Kontinent liege, oder immer wieder auf kommende Diskussionen um mögliche EU-Beitrittsperspektiven von Israel, Kanada oder Kap Verde. Bestimmte dominante 4 | Dieser Aufsatz gendert dichotom, da die Akteur_innen sich als männlich und weiblich definieren und nicht geschlechtlich divers. 5 | Vgl. European Commission, Conditions for membership, https://ec.europa. eu/neighbourhood-enlargement/policy/conditions-membership_en (zultzt aufgerufen am 31.01.2019).

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Vorstellungen davon, welcher „kulturelle“ Hintergrund als ausreichend „europäisch“ gelten kann, spielen hier genauso eine Rolle wie geographische Vorbehalte, wie im Falle Australiens. Dass manche Politiker_innen in der EU glauben, die EU repräsentiere das, was Europa kulturell und historisch sei – in der Annahme, es gebe etwas essentiell Europäisches –, ist ein Aspekt dessen, dass Westeuropa seit dem Tod Karls des Großen den Begriff „Europa“ für sich usurpiert hat, und seitdem tendenziell der östliche Teil des christlichen Europas (Byzanz) ignoriert wird.6 Um etwa die Grenzen zukünftiger EU-Erweiterungen zu ziehen, wird in der Debatte regelmäßig auf ein „europäisches Erbe“ rekurriert. Dies geschieht sowohl innerhalb der EU, als auch außerhalb dieser, etwa in Russland. Die Grenzen Europas auf gemeinsame Werte und Normen zurückzuführen, ist ein problematisches Unterfangen und gelingt nicht ohne Auslassungen und eine eigenwillige Exegese der historischen Quellen. Noch schwieriger wird es, wenn der angenommene gemeinsame europäische Wertekosmos auch noch territorial festgemacht werden soll. Besonders bei den Ländern, die nach der EU-Osterweiterung noch an die EU angrenzen, wird oft auch eine Abwesenheit oder zumindest ein Nachlassen oder Ausfransen von europäischen Werten vermutet. Lapidar könnte man sagen, in der EU ist die Frage, ob die Länder des Westbalkans zu Europa gehören oder nicht, bestenfalls Geschmackssache, aber die Entscheidung darüber ist auch bestimmt durch die Frage, ob es der EU nützt oder nicht. Ökonomische und sicherheitspolitische Überlegungen spielen hier eine große Rolle. Dennoch wird der Diskurs innerhalb der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) etwa über die Einschätzung der Nachbarn der EU inzwischen durch einen Zivilisationsdiskurs dominiert, welcher geopolitische Aspekte überlagert.7 Wenn auch Zweifel an inkludierenden und exkludierenden Aussagen über europäische Werte angebracht sind, so lässt sich dennoch nicht die Existenz dieser Vorstellungen als wirkmächtige Ideen leugnen. Sie sind Teil von kollektiven Vorstellungswelten innerhalb und außerhalb der EU und Europas und prägen die Politikgestaltung in Nationalstaaten, der EU 6 | Ana Foteva, Do the Balkans begin in Vienna? The Geopolitical and Imaginary Borders between the Balkans and Europe, New York 2014, S. 2–3. 7 | Christoffer Kølvraa, Jan Ifversen, „The European Neighborhood Policy: Geopolitics or Value Export?“, in: Federiga Bindi, Irina Angelescu (Hg.), The Frontiers of Europe: A Transatlantic Problem?, Washington D.C. 2011, S. 45–66.

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und international. Die ideellen und symbolischen Grenzen der EU haben mindestens eine ebenso große Bedeutung wie die Geographie. Die identitäre Selbstverortung wird durch ein Bewusstsein gemeinsamer geteilter Werte und Prinzipien gewährleistet und ist der eigentliche Marker für „das Europäische“. Die Geographie hingegen ist die materielle Grundlage für Ressourcen und Geo-Strategien, die grundsätzlich auch der Kontrolle „nicht-europäischer“ Herrscher_innen unterliegen könnte. Das Besondere an der geographischen Lage des europäischen (Sub-)Kontinents ist, dass er nach Osten hin f ließend in den asiatischen übergeht. Mit dem Ural verfügt er nicht einmal über eine derart markante topographische Trennlinie, wie sie etwa der Himalaya für den indischen Subkontinent darstellt, dem zwar meist ohne Umschweife das Präfix „Sub-“ zugestanden wird, der aber nicht als eigener Kontinent gilt. Der Umstand, dass Europa geographisch durchaus nur als westlicher Ausläufer Asiens verstanden werden könnte, erfordert eine starke ideelle – also vorgestellte kulturelle – Abgrenzung, besonders von diversen asiatischen Nachbarländern, um als eigener Kontinent gelten zu können. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass angesichts der Geschwindigkeit moderner Kommunikationsmittel Distanz und Nähe keine so bedeutende Rolle in der internationalen Politik mehr spielen, führt gerade die räumliche Nähe von p ­ olitischen Antagonisten dazu, dass materielle und ideologische ­Barrieren zwischen ihnen errichtet werden. 8 Die aktuelle kulturell-geographische Selbstverortung Russlands als eurasischer Macht ist w ­ iederum Ausdruck der russischen Regierung und seiner philosophischen Stichwortgeber, sich gleichzeitig symbolisch und mental von EU-Europa abzugrenzen, eine eigenständige autochthone Kulturnation repräsentieren zu wollen und gleichzeitig für das alte, angeblich „wahre“ Europa zu stehen. An der gegenwärtigen russischen Gegenüberstellung eines „wahren“ Europas, welches die Werte des alten okzidentalen Kontinents vertrete, mit einer „künstlichen“ EU, welche mutmaßlich zentrale europäische Werte und Traditionen aufgegeben und durch die Kälte eines degenerierten „westlichen“ liberalen Kapitalismus ersetzt habe, wird bereits das für diesen Band zentrale Problem angesprochen. Die ideellen und symbolischen Grenzen Europas sind nicht nur soziale Konstrukte sowie Folge von sozialpsychologischen Ingrouping- und Outgroupingprozessen, sondern 8 | Katalin Miklóssy, Pekka Korhonen, „Introduction“, in: Dies. (Hg.), The East and the Idea of Europe, Newcastle upon Tyne 2010, S. ix–xvi, hier S. xii.

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variieren auch je nach politischer Interessenlage. Das Herausstellen bestimmter Aspekte dessen, was als vornehmlich „europäisch“ verstanden und propagiert wird, hängt ab von konkreten Abgrenzungserfordernissen gegenüber dem politischen Gegner und dem Bedürfnis nach identitärer Selbstverortung. Neben dem psychologischen Erfordernis9 dient letzteres wiederum auch dazu, potentiellen Verbündeten Koalitionsbereitschaft zu signalisieren. Dies geschieht zum Teil bewusst und rational, wenn diejenigen Werte und Normen verteidigt werden, die jeweils zum Vorteil ­gereichen, aber auch unbewusst durch emotionale Bindungen beziehungsweise Aversionen.

I nkompatible europäische N ormenordnungen in V ielfalt geeint ?10 Das Repertoire an positiven und negativen Zuschreibungen an Europa als auch für den „Westen“ ist groß. Klassisch sind all jene positiv ­besetzten ­Eigenschaften, die im Laufe der europäischen Ideengeschichte ­vorgebracht wurden, um Europa zu glorifizieren und vom angeblich „nicht-europäischen“ Anderen abzugrenzen, welches das jeweilige Gegenteil repräsentiere: Zivilisation, Freiheit, Demokratie, Moderne, Dynamik, Flexibilität, Schuldkultur, Individualismus Männlichkeit, ­ und Rationalität. Die Erzählung vom binären Gegensatz europäischer und ­nicht-­europäischer Ideen und vermeintlicher kultureller Eigenarten enthält auf der anderen Seite die Negativerzählung, nach der Europa für Folgendes stehe: Materialismus, Künstlichkeit, Entfremdung, Konf likthaftigkeit, Egoismus, Kälte, Dekadenz, Ambiguitätsintoleranz und Barbarei. 11 Diese negativen Zuschreibungen gehören weltweit zum 9 | Henri Tajfel, John C. Turner, „The social identity theory of intergroup behavior“, in: William G. Austin, Stephen Worchel (Hg.), Psychology of Intergroup Relations, Chicago, 1986, S. 7–24. 10 | Vgl. „In Vielfalt geeint“ ist das offizielle Motto der Europäischen Union, vgl. https://europa.eu/european-union/about-eu/symbols/motto_de (zuletzt aufgerufen am 31.03.2020). 11 | Björn Goldstein, „Weil nicht sein kann was nicht sein darf. Über den seltsamen Mangel an Mengzi, Aurobindo Ghose und Erode Venkata Ramasami in der politischen Theorie des ‚Westens‘“, in: Walter Reese-Schäfer, Samuel Salz-

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gängigen Schmähwortkatalog von Gegner_innen und „Kritiker_innen“ des „Westens“. Während sich die meisten der positiv konnotierten Eigenschaften Europäer_innen aller Couleur auf die Fahne schreiben können, egal, ob sie sich dabei auf ein klassisch-hellenisches, christliches, jüdischchristliches, auf klärerisches oder auf ein rassistisches Erbe berufen, sind die negativen Attribute jene, die auch von europäischen Gegner_innen und „Kritiker_innen“ des „Westen“ als Indikatoren eines behaupteten Niedergangs des alten „wahren“ Europas angeführt werden. Schematisch lässt sich also die Existenz einer Spaltung derjenigen, die sich als Europäer_innen verstehen, in zwei Gruppen behaupten: jene, die sich dem ­„Westen“ zugehörig fühlen, und jene, die dies nicht tun. 12 Die Bezugnahme auf europäische Traditionen, ideengeschichtliche Tendenzen oder Wertefragmente erfolgt immer selektiv, da das Gesamtbild europäischer Ideen und Werte kaum zu einer kohärenten Identität taugt. Indem jemand für die Freiheit des Individuums und die auf klärerische Kultur der Traditionskritik eintritt, kann er oder sie sich als Verteidiger_in europäischer Werte verstehen. Ebenso ist es aber möglich, sich beispielsweise auf „europäische Traditionen“ zu beziehen, um die Legitimität der Ermordung von „Ungläubigen“ (etwa von Häretikern, „Hexen“ oder Juden) oder eine Überlegenheit der „weißen Rasse“ (wie in der Kolonialideologie) zu behaupten. Auf klärerische Traditionskritik ist ebenso europäisches Erbe, wie es die Traditionen selbst und die Gegenauf klärung sind. 13 In den letzten Jahren ist ein Aspekt, über den dieser Kampf um ein vermeintlich „wahres“ europäische Erbe ausgetragen wird, immer wichtiger born (Hg.), „Die Stimme des Intellekts ist leise“. Klassiker/innen des politischen Denkens abseits des Mainstreams, Baden-Baden 2015, S. 135–166, hier S. 136–144. 12 | In der Realität tauchen diese Idealtypen zwar auf. Dennoch sollte die Existenz einer „westlich“ orientierten EU-Identität nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass anti-westliche Ressentiments oft im Gebrauch bleiben, wenn die EU von den USA abgegrenzt werden soll. 13 | Hinzu kommt, dass die meisten der momentan EU-konsensual als ethisch richtig eingestuften Traditionen Europas nicht exklusiv europäisch sind, sondern auch auf anderen Kontinenten unabhängig formuliert worden sind. Vgl. B. Goldstein, „Weil nicht sein kann was nicht sein darf“; Henner Laass, Herbert Prokarsky, Jörn Rüsen, Angelika Wulff, Lesebuch interkultureller Humanismus. Texte aus drei Jahrtausenden, Schwalbach/Ts. 2013.

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geworden: die zunehmende rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Entskandalisierung von Homosexualität in der EU. Hier zeigt sich offen der alte europäische Konf likt zwischen der Tradition und dem Geist der Auf klärung: Auf der einen Seite wird ein homophobes ­abendländisches Erbe auf christliche Familienwerte zurückgeführt, auf der anderen Seite wird der europäische „kritische“ Geist in Stellung gebracht, der in seinen Schlussfolgerungen über die Rechte des Individuums konsequent sein müsse. Ein Blick auf die Europa-Interpretationen der radikalen Rechten in Europa ist aufschlussreich, um die existenten Vorstellungsfragmente innerhalb dieses Grenzgefechts zu verstehen. Der Bezug zu Europa kann dabei sehr unterschiedlich ausfallen. Weitgehend geteilt wird aber die Einschätzung, dass es sich bei der EU um das falsche Europa handele, und ebenso, dass es sich bei der Legalisierung der Homosexualität um einen Ausdruck dieses „verkommenen Europas“ handele. Gegen das stets starke „westlich“ ausgerichtete normative Lager in der serbischen Bevölkerung gerichtet, wurde seit der Nationalstaatsbildung Serbiens im frühen 19. Jahrhundert die Existenz eines „europäischeren“ byzantinisch geprägten Europas14 behauptet, in dessen Tradition sich die klerikale radikale Rechte Serbiens bis heute sieht.

Die r adik ale Rechte in Serbien: Strömungen und Position in der Gesamtge sellscha f t Die serbische radikale Rechte ist ein Resultat der nach-jugoslawischen Bürgerkriege in den 1990er-Jahren. Bei allen Kriegsparteien rekurrierte die nationalistische Propaganda auf Distinktionsmerkmale zu den ehemaligen sozialistischen Brüdern, welche religiös-traditioneller Natur waren. Da Slobodan Milošević sich gleichzeitig als letzter Hüter des jugoslawischen Sozialismus in Szene setzen wollte, war im Falle Serbiens die offene Bezugnahme auf die Religion zunächst vergleichsweise milde und drehte sich dann insbesondere um das Kosovo als dem historischen Kernland Serbiens und um den Schutz serbischer Minderheiten in Kroatien und Bosnien. Die resolute Zurückweisung der Religion, 14 | Mladen Lazić, „Serbia: A part of both the East and the West“, in: Sociologija XLV (2003), S. 293- 216, hier S. 195.

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die im sozialistischen Jugoslawien in der Teilrepublik Serbien stets die stärkste ­Unterstützung erfahren hatte15 , wich dennoch allmählich einer vorjugoslawischen Rückbesinnung auf die orthodox-christliche Identität, welche über die ­Jahrhunderte stets in Abgrenzung zu muslimischen und katholischen Invasoren gepf legt worden war. So gewann die SerbischOrthodoxe Kirche als wiederentdeckter Identifikationsort vieler Serben in den 1990er-Jahren enorm an Einf luss. Das Bekenntnis zum serbisch-­ orthodoxen Glauben ist ein wichtiger ideologischer Bestandteil des Neonationalismus in Serbien, da es jener Faktor der serbischen Identität ist, der sich am deutlichsten von der kroatischen und bosnischen Identität a­ bhebt. Neben der nationalistischen Propaganda wirkte sich außerdem besonders die intensive UN-Sanktionspolitik stark auf die Meinungen und Gefühle der Menschen in Serbien und der bosnischen und kroatischen Serben gegenüber dem „Westen“ aus. Die Wahrnehmung als eine von allen Seiten befeindete Nation konnte an alte Nationalmythen Serbiens anknüpfen, denen zufolge es sich bei Serbien um ein stets von großem Leid geplagtes Land handele, das sich immer nur für das Gemeinwohl auch anderer Nationalitäten aufgeopfert habe, ohne dass es ihm gedankt worden wäre. Zudem wurde der „Westen“ von vielen Menschen in Serbien als Kriegs­ nterstützt treiber aufgefasst, der den Nationalismus angestachelt habe. U wurde dies durch die Erinnerung an die deutsch-kroatische Allianz im Zweiten Weltkrieg. Während laut Umfragen im sozialistischen Jugoslawien xenophobe Ansichten in Serbien von nie mehr als 15 % der Befragten geäußert wurden, lag die Zahl 1993 plötzlich bei 76 %. 16 In der Zeit kurz nach dem Sturz der Milošević -Clique 2000 gab es in Serbien, trotz des unmittelbar zuvor erlebten NATO-Bombardements, ein starkes Pro-EU-Lager. Schnell zeigte sich jedoch, dass ein EU-Beitritt in weiter Ferne lag. Zudem ließen die Privatisierungsmaßnahmen die Arbeitslosigkeit stark ansteigen und Enttäuschung und Politikverdrossenheit waren wegen der unentwirrbaren Verf lechtung von Politik, Wirtschaft und organisierter Kriminalität ein Massenphänomen. Besonders die Generation, deren politisches Bewusstsein während der Kriegsjahre herangereift war, und die in dieser desolaten wirtschaftlichen

15 | Ebd., S. 203. 16 | Jovo Bakić, „Right-Wing Extremism in Serbia“, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, International Policy Analysis (Februar 2013), S. 1.

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und politischen Situation erwachsen wurde, war anfällig für rechtsextreme ­Propaganda. In Serbien können grob zwei Fraktionen der radikalen Rechten unterschieden werden: Die „autochthone“ radikale klerikale Rechte auf der einen Seite und eine kleine Minderheit von grundsätzlich transnationalen Neonazi-Organisationen auf der anderen Seite. 17 Alle Organisationen der radikalen Rechten rekrutieren einen großen Teil ihrer Anhänger aus dem Milieu rechtsextremer Fußballfans, rechte Ultras. Die NeonaziOrganisationen sind weitaus kleiner als die klerikal-faschistischen und können dem internationalen White-Supremacy-Spektrum zugerechnet werden. Sie verzichten weitgehend auf Religion als Identitäts-und Abgrenzungsmarker – mit Ausnahme einiger heidnischer Referenzen – und propagieren „klassische“ rassistische und sozialdarwinistische Ideen. Ihr ­Bezug zu Europa ist durchweg positiv, in dem Sinne, dass sie das serbische Volk als kämpferisches Volk nicht-muslimischer Angehöriger der europäischen weißen „Rasse“ verehren. 18 Neben unabhängigen ser17 | Ich folge der in der Literatur zur extremen Rechten in Serbien häufig gemachten Unterscheidung zwischen klerikal-faschistisch und neonazistisch. Dennoch sind die Begriffe problematisch. Der Begriff „klerikal-faschistisch“ wird außerhalb des serbischen Kontextes für so unterschiedliche Dinge wie die autoritäre Regierung von Salazar in Portugal ebenso angewendet wie für die Islamische Republik Iran oder für das katholisch-nazistische Ustaša-Regime in Kroatien. Das weite Spektrum wird zusammengehalten durch die Gemeinsamkeit eines religiösen Traditionalismus als Bestandteil einer autoritären Ideologie. Die verschiedenen Klerikal-Faschismen unterscheiden sich aber stark in ihrer Radikalität und der Bereitschaft, die gewähnte Tradition durch die Anwendung „moderner“ Methoden zum Mord an Feinden zu ergänzen. Die Anwendung des Begriffs „Neonazismus“ wiederum ist außerhalb Deutschlands immer problematisch. Grundsätzlich ist es ein Zugeständnis an das Selbstverständnis jener internationalen White-Power-Gruppierungen, die sich positiv auf Ideen der deutschen Nationalsozialisten beziehen. „Nationalsozialistisch“ ist wiederum kein Begriff, der immer ausschließlich mit Hitlers Ideologie in Zusammenhang steht. Verschiedene bewaffnete christlich-maoistische Gruppierungen in Nagaland (Indien) bezeichnen sich beispielsweise auch als nationalsozialistisch. 18 | Beispielsweise Srpski Front, „Rasni Nacionalizam“, in: http://www.srpskifront.com/index.php?option=com_content&view=article&id=104:rasni-naciona lizam&catid=80&Itemid=483 (zuletzt aufgerufen am 23.09.2015).

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bischen ­Organisationen ist seit den frühen 1990er-Jahren auch das internationale Neonazi-Netzwerk Blood & Honour in Serbien mit einer Division vertreten. Alle wichtigen serbischen Fußballclubs haben einen Ultras-Flügel militanter Neonazis. 19 Für den Gegenstand dieses Artikels aufschlussreicher ist es aber, sich den klerikal-faschistischen Organisationen zuzuwenden. Bis 2012 diente die Serbische Radikale Partei SRS (Srpska Radikalna Stranka) als Sammelbecken für diese Organisationen, dann kam es zur Abspaltung eines Pro-EU-Flügels der Partei. Die aus diesem Flügel h ­ ervorgegangene Serbische Fortschrittspartei SNP (Srpska Napredna Stranka) ist weitaus moderater. Sie ist eine konservative Mitte-rechts-Partei und hält seit März 2014 die absolute Mehrheit in der ­serbischen Nationalversammlung. Die SRS – bis dahin drittstärkste Partei im serbischen Parlament – scheiterte hingegen 2012 an der 5 %-Hürde, zog aber 2016 mit 8,1 % Stimmenanteil wieder als drittstärkste Kraft ins Parlament ein. Auf Seiten der klerikal-faschistischen Organisationen sind neben der SRS besonders die ursprünglich aus dem studentischen Umfeld ­stammende Obraz sowie Naši (nach dem Vorbild der russischen regierungsnahen Naši) zu nennen, und 1389 (benannt nach dem Jahr der Amselfeldschlacht, als die christlichen Truppen unter Führung des serbischen Fürsten Lazar Hrebeljanović dem osmanischen Heer unterlagen).20 Diese Organisationen eint ihre Ablehnung von Jugoslawien und Kommunismus und ihre gleichzeitige Gegnerschaft zu den Institutionen des „Westens“: USA, NATO, EU, und IWF. Weitere gemeinsame Feinde sind Rom_nja, Kroat_innen, Albaner_innen, Menschen muslimischen oder jüdischen Glaubens, Homosexuelle, Drogensüchtige, Kriminelle, Sektenangehörige – gemeint sind hauptsächlich Protestanten – und die ­katholische Kirche. Man ist sich einig, dass alle von Serben und Serbinnen bewohnten Gebiete in einem serbischen Staat vereinigt und ausländische Einmischungen in die Wirtschaft verhindert und bestraft werden sollen.

19 | Ðorđe Tomić, „On the ‚right‘ side? The Radical Right in the Post-Yugoslav Area and the Serbian Case“, in: Fascism 2 (2013), S. 94–144, hier S. 106–107. 20 | Es gibt zwei rechte Organisationen mit dem Namen „1389“. Hier ist die Rede von der Srpski narodni pokret 1389 (Serbische Nationalbewegung 1389). Naši und 1389 hatten sich 2010 zusammengeschlossen, dann aber wieder getrennt. Naši hält an gewaltsamen Aktionen fest, während 1389 versucht, sich als legale Partei zu etablieren.

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Besonders die Rückholung des Kosovo wird hierbei betont, nicht zuletzt, weil hinsichtlich dieser Forderung mit einem b ­ reiteren gesellschaftlichen Zuspruch gerechnet werden kann. Man gibt sich g ­ lobalisierungskritisch und propagiert eine organische Vorstellung von der Nation, die „ethnisch rein“, serbisch-orthodox und heterosexuell ist. Gesellschaftliche Macht solle auf die drei Institutionen Gott, König und Pater familias verteilt sein. Der typische Nationalmythos Serbiens, ­­­Opfer- und Heldennation zugleich zu sein, wird hochgehalten; dazu passt die gemeinsame Verehrung der noch lebenden bosnisch-serbischen „Helden“ Vojislav Šešelj, Radovan Karadžić und Ratko Mladić , die alle als Hauptverantwortliche von durch Serben im Bosnienkrieg begangene Kriegsverbrechen gelten. Hinzu kommt die Leugnung aller Gemeinsamkeiten mit den ehemaligen jugoslawischen Nachbarn. Da diese aber schwer zu leugnen sind, etwa was die Sprache und die Küche betrifft, wird darauf bestanden, dass die serbische die ursprüngliche Bevölkerung sei, von der die anderen abstammten. Das nationale Narrativ ist stark religiös gefärbt, und der Anspruch, die Verteidiger der Werte der Serbisch-Orthodoxen Kirche zu sein, wird erhoben. Nach ihrem Verständnis gehört dazu die Ablehnung von Aufklärung, Säkularismus, Demokratie und freier Marktwirtschaft sowie einer als „sündhaft“ und „widernatürlich“ verstandenen Homosexualität.21 Bei Obraz heißt es, dass LGBTIQ 22– genannt „Perverse“ – „schwer bestraft und ausgelöscht werden.“23 Antikapitalismus und Antiliberalismus gehen einher mit Antisemitismus. Dieser ist ebenso meistens religiös gefärbt; in den Publikationen der radikalen Rechten dominieren allerdings die Codes des internationalen Antisemitismus, wie etwa das Wort „Zionisten“ als Bezeichnung für alle Juden oder das Akronym ZOG („Zionist Occupied Government“).24 Die Mischung aus Rassenideologie, Antisemi21 | Ð. Tomić, „On the ‚right‘ side?“, S. 101–102. 22 | In Publikationen schwul-lesbischer Aktivist_innen in Serbien findet sich meistens LGBTIQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual, Queer) als Gruppenbezeichnung für Menschen, die nicht traditionell-heterosexuellen Rollen entsprechen (Stand 2014). Daher wird im Folgenden LGBTIQ als Gruppenbegriff verwendet. 23 | J. Bakić, „Right-Wing Extremism in Serbia“, S. 4. 24 | Vgl. Jovan Byford, Michael Billig, „The Emergence of Antisemitic Conspiracy Theories in Yugoslavia During The War With NATO“, in: Sociologija XLVII/4 (2005), S. 307- 322. Jovan Byford und Michael Billig weisen darauf hin, dass das Auftau-

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tismus, Slavenkult und orthodoxer Identität kommt etwa bei Obraz deutlich zum Vorschein. Obraz, die sich auch positiv auf die Tradition der mit den Nationalsozialisten kollaborierenden ZBOR (1930-1940) beziehen, verstehen sich als Organisation im Geiste des für seinen ­fanatischen Antisemitismus berühmten Bischof Nikolaj Velimirović (1880-1956). Von diesem stammt etwa der pädagogische Rat, dass serbische Kinder fühlen und verstehen sollen, dass sie „dem Blut nach arisch, Slaven durch die Nachnamen, Serben durch die Namen und Christen durch Herz und Geist sind.“25 Obraz ist als „klerikal-faschistische Organisation“ in Serbien 2012 offiziell verboten worden. Naši unterscheidet sich von den anderen Organisationen durch ihre Betonung der Gemeinsamkeiten mit Russland. In diesem Sinne strebt man eine euro-asiatische Integration an, bei der Belgrad, St. Petersburg, Kiew und Almaty die zukünftigen Hauptstädte sein sollen. Eine weitere Organisation, die dem klerikal-faschistischem Spektrum zugeordnet werden kann, ist die neue Partei Dveri, welche es 2016 mit einem verhältnismäßig gemäßigten, aber dennoch streng-konservativen Programm knapp über die 5 %-Hürde ins Parlament schaffte. Dveri tritt als eine „lebensschützende“ Partei auf, die die Bewahrung des serbisch-orthodoxen Glaubens und der serbischen Familien in den Vordergrund stellt. Dabei wird vor einem Aussterben der Serben durch abnehmende Geburtenzahlen gewarnt – besonders im Vergleich zu religiösen und ethnischen Minderheiten – was durch eine Legalisierung der Homosexualität beschleunigt werde. Es wird daher etwa, dem russischen Beispiel folgend, ein Verbot der Pride Parade für die nächsten 100 Jahre gefordert.26 chen antisemitischer Verschwörungstheorien in Serbien mit dem NATO Bombardement 1999 zusammenfällt. Sie schreiben unter Bezugnahme auf eine Studie von 1997, dass in Serbien antisemitische Einstellungen ein marginales Problem gewesen seien. Einer Erhebung der Anti-Defamation League von 2014 zu Folge antworteten in Serbien im Durschnitt 42 % der Befragten mit „wahrscheinlich wahr“ auf antisemitische Stereotype. Damit liegt Serbien für Europa im unteren Mittelfeld. Zum Vergleich: Tschechien 13 %, Deutschland 27 %, Russland 30 %, Frankreich 37 %, Bulgarien 44 %, Polen 45 %, Griechenland 69 %. Siehe: AntiDefamation League, „Global 100“, http://global100.adl.org/ (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019). 25 | Zitiert nach J. Bakić, „Right-Wing Extremism in Serbia”, S. 4. 26 | Ebd., S.3.

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Die Ablehnung von – beziehungsweise der offene Hass gegen – LGBTIQ ist ein gemeinsamer Standpunkt aller Organisationen und Strömungen der radikalen Rechten. 2010 fand seit 2001 die erste Pride Parade (Povorka Ponosa) für die Rechte von LGBTIQ in Serbien statt. Sie wurde sowohl von Seiten der Veranstalter_innen und EU-Beobachter_innen wie auch von Gegner_innen der Demonstration als Test dafür verstanden, inwieweit die serbische Regierung gewillt und in der Lage war, die im Rahmen der EU-Annäherung notwendige Verbesserung der Menschenrechtssituation umzusetzen. Ein breites Bündnis rechtsextremer und konservativer Organisationen und Einzelpersonen stellte sich der Parade teilweise militant entgegen. Die serbische Polizei notierte am Tag der Demonstration 78 verletzte Polizist_innen und 17 verletzte Zivilist_innen sowie zahlreiche beschädigte Gebäude in Belgrad als Folge der Gewalt durch Rechtsradikale. Mit der Begründung, die Sicherheit der Teilnehmer_innen nicht garantieren zu können, wurde darauf hin die Pride Parade drei Jahre in Folge abgesagt. Wie schwierig es ist zu entscheiden, ob der Verweis auf zu erwartende gewaltsame Ausschreitungen als bloßer Vorwand diente oder ernst gemeint war, zeigte beispielsweise die Aussage des damaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ivica Dač ić 2012: „Lasst mich doch in Ruhe mit diesen Menschenrechten, hier geht es um die Sicherheit der Menschen. Scheiß auf die EU, wenn die Gay-Pride die Eintrittskarte ist.“27 Nachdem Äußerungen wie diese viel Protest auch seitens der EU-Beauftragten nach sich zogen, fand die Demonstration 2014 wieder statt, diesmal mit Beteiligung einiger Minister und des Bürgermeisters von Belgrad. 5.000 Polizeibeamt_innen waren bereitgestellt worden, um etwa 1.000 Demonstrierende zu beschützen. Am Tag der Parade 2015 wurde die Belgrader Innenstadt schließlich von der Polizei komplett abgeriegelt, sodass die Demonstration mit Beteiligung der Ministerin für Europäische Integration, des Kulturministers, des Bürgermeisters von Belgrad, des US-Botschafters in Belgrad und des Leiters der EU-Delegation in ­Serbien friedlich verlief; es bestand sogar die Möglichkeit für die Demonstrationsteilnehmer_innen, nach der Veranstaltung von der Polizei nach Hause gebracht zu werden, um Übergriffe zu vermeiden. Es gab nur kleinere 27 | Dačić in Krsto Lazarević, „Belgrad ohne Stolz“, in: Jungle World 42 (18.10.2012), http://jungle-world.com/artikel/2012/42/46418.html (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019).

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Gegenkundgebungen, aber der Umstand, dass ein derart massiver Schutz für die Pride Parade seitens der Behörden als nötig betrachtet wurde, zeigte nicht nur, dass es den Verantwortlichen ernst mit dem Schutz der Menschen war, sondern auch, dass das Thema nach wie vor enorme Brisanz hat, und mit militanten Übergriffen gerechnet wurde. Trotzdem herrschte allgemeine Erleichterung darüber, dass in Serbien große Fortschritte gemacht worden seien, und dass die radikale Rechte erheblich an Einf luss verloren habe.28 Mit dem jahrelangen, öffentlichkeitswirksam ausgetragenen Kampf der radikalen Rechten gegen LGBTIQ-Angehörige wurde stellvertretend und symbolisch auch der „Westen“ und dessen „moralische Verkommenheit“ angegriffen, da dessen Institutionen aufgrund der eigenen Bedeutungslosigkeit und Schwäche nicht direkt angegriffen werden konnten. Gleichzeitig verbündeten sich hier nicht nur die Organisationen der ­radikalen Rechten miteinander, sondern konnten auch an ein massenhaft vorhandenes gesellschaftliches Ressentiment gegen Schwule und Lesben anknüpfen und sich dabei als Sprecher des Volkes darstellen, das „serbische Werte“ nicht an „dekadente EU-Bürokraten“ verkauft habe. Einer vielzitierten Umfrage des Zentrums für freie Wahlen und Demokratie (CeSID) von 2008 zufolge hielten 67 % der serbischen Bevölkerung Homosexualität für eine Krankheit, 56 % sahen in ihr eine Gefahr für die Gesellschaft, 53 % meinten, der Staat solle sie aktiv bekämpfen, 36 % hielten sie für ein Produkt des „Westens“, welches darauf abziele, die Familien und die Gesellschaft zu zerstören, und 20 % befürworteten Gewaltanwendungen gegen Homosexuelle.29 Die Regierung setzte sich hingegen weiterhin für die Umsetzung von Menschenrechten für LGBTIQ ein. Offiziell wurden dabei auch „europäische Werte“ bemüht. Kritiker_innen sehen im Verhalten der Regierung jedoch nur ein pragmatisches 28 | Vgl. Saša Dragojlo, Igor Jovanović, „ Belgrade Stages Gay Pride Amid Heavy Security“, in: BalkanInsight vom 20.9.2015, http://www.balkaninsight.com/en/ article/belgrade-locked-down-for-gay-pride-parade-09-20-2015 (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019). 29 | GSA/CeSiD, „Prejudice exposed – Homophobia in Serbia. Public opinion research report on LGBT population“, in: http://en.gsa.org.rs/wp-content/uploads/2012/07/Research-Prejudices-Exposed-2008-GSA.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019). „Homosexuelle“ und „homosexuell“ beziehungsweise „gay“ sind die Begriffe, die durchgehend in der Studie gebraucht wurden.

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Zugeständnis an die EU-Partner_innen, ohne dass sich der „provinzielle Geist“ der serbischen Regierung geändert habe.30 Konkret ging es um die Verabschiedung des Antidiskriminierungsgesetzes, ­welches seitens der EU Vorbedingung für die Gewährung des visumsfreien Reisens für serbische Staatsangehörige in die EU war. Das Antidiskriminierungsgesetz, welches neben dem Schutz von LGBTIQ auch das Recht beinhaltet, den Glauben zu wechseln, wurde gegen den Widerstand der SerbischOrthodoxen Kirche, der Katholischen Kirche, der Evangelischen Kirchen und der Islamischen Gemeinden durchgesetzt.31 Zwei Jahre nachdem 2009 das Gesetz verabschiedet worden war, waren zwar 3 % weniger der Meinung, dass Homosexualität eine Krankheit sei, aber in vielen anderen Punkten fiel die Ablehnung von queeren Individuen noch drastischer aus als zuvor. Auch neue Themen, die zuvor nicht abgefragt wurden, brachten eine weitverbreitete Homophobie zum Ausdruck, etwa dass 49 % nie akzeptieren würden, dass eine ihnen nahestehende Person homosexuell sei.32 Auf der anderen Seite waren jetzt 52 % der Befragten der Meinung, dass Homosexuelle „Menschen wie du und ich“ seien, während dem 2008 nur 38 % zugestimmt hatten, und nur noch 28 % waren der Meinung, Homosexuelle seien keine Menschen, im Gegensatz zu 42 % im Jahr 2008. 59 % waren nun der Meinung, dass Gewalt gegen Homosexuelle genauso geahndet werden solle wie andere tätliche Übergriffe.33 Die Gej Strejt Alijansa (GSA), welche die obigen Studien in Auftrag gegeben hatte, attestiert zudem 2014 den Pro-EU-Parteien, also den fünf 30 | Jelisaveta Blagojević, „Between Walls: Provincialism, Human Rights, Sexualities and Serbian Public Discourses on EU Integration“, in: Robert Kulpa, Joanna Mizielińska (Hg.), De-Centering Western Sexualities. Central and Eastern European Perspectives, Farnham 2011, S. 27–41, hier S. 33–34. 31 | Ebd., S. 34. 32 | GSA/CeSiD, „Prejudice exposed – Homophobia in Serbia 2010“, S. 8. Besonders stach bei der Befragung 2010 das Ergebnis hervor, dass nun weitaus mehr der Befragten der Meinung waren, dass Homosexualität ein Problem sei, das durch NGOs aufgezwungen werde, um damit Geld zu machen (2008: 28 %; 2014: 47 %). Den Menschenrechts-NGOs wird von rechtsradikaler Seite vorgeworfen, dass sie vom „Westen“ finanzierte Agenturen seien. Tatsächlich wurde auch die GSA-Studie von der niederländischen und der deutschen Regierung unterstützt. 33 | Ebd., S. 9, 16.

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Koalitionen – mit Ausnahme einiger kleiner Koalitionspartner – eine durchweg positive Haltung gegenüber der LGBTIQ-Community, was als großer Fortschritt gewertet wurde.34 Hervorzuheben ist jedoch, dass die Einstellung zur Homosexualität nicht mit der Rechtslage korrespondiert. 1994 wurde Homosexualität in Serbien für Menschen ab 18 Jahren legalisiert. Bemerkenswert daran ist nicht nur, dass dies zeitgleich mit der Legalisierung von Homosexualität in der Bundesrepublik Deutschland stattfand, sondern auch, dass es während des Bürgerkrieges und ohne externen politischen Druck geschah. Seit 2006 ist allen Gendern Sex ab einem Alter von 14 Jahren e­ rlaubt. Auf das Antidiskriminierungsgesetz von 2009 folgte 2010 noch die Zulassung von Homosexuellen beim serbischen Militär.35 Die International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) bescheinigt in ihrem Report von 2015, dass sich Serbien, die rechtliche Gleichstellung von LGBTIQ betreffend, zusammen mit Frankreich, der Schweiz, Bulgarien, Albanien und Rumänien, im europäischen Mittelfeld bewege. Schlechter ist die Situation beispielsweise in den EU-Ländern I­ talien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Malta, Monaco, Polen, Rumänien, San Marino und Zypern.36 Eine Abgrenzung zwischen homosexuellen EUEuropäern und heterosexuellen „echten“ europäischen Ländern, wie sie die radikale Rechte in Serbien suggeriert, ist demnach auch auf der Grundlage der Rechtslage schwer zu behaupten. Nach dem Verständnis der Rechtsradikalen drückt dieser Umstand aber nur aus, wie weit sich die serbischen Regierungen vom „wahren“ Volk entfernt und zu Erfüllungsgehilfen des „Westens“ geworden seien.

34 | Vgl. GSA, „National Elections 2014 and the LGBT Issue”, http://en.gsa.org. rs/2014/03/national-elections-2014-and-the-lgbt-issue/ (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019). 35 | Johanna Moser, Ðorđe Tomić, Roland Zschächner, „,Veräter_innen der Nationen‘. Queers im postjugoslawischen Raum“, in: Ðorđe Tomić, Roland Zschächner, Mara Puškarević, Allegra Schneider (Hg.), Mythos Partizan. (Dis-)Kontinuitäten der jugoslawischen Linken: Geschichte, Erinnerung und Perspektiven, Münster 2013, 370–401, hier S. 372–373. 36 | Vgl. ILGA Europe, „Rainbow Europe 2015“, http://www.ilga-europe.org/resources/rainbow-europe/2015 (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019).

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eine homophobe

Die Abgrenzung dessen, was aus konservativer serbischer Perspektive als „serbisch“ gelten kann und was nicht, ist sehr eng an eine Identifikation mit der Serbisch-Orthodoxen Kirche (SOK) gebunden. Diese Identifikation bestimmt auch den nationalistischen Diskurs innerhalb der radikalen klerikalen Rechten in Serbien. Das Glaubenskriterium steht nicht zuletzt deshalb im Mittelpunkt der nationalen Identität, weil es das deutlichste Abgrenzungskriterium zu den unmittelbaren Nachbarn darstellt. Die erheblichen sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten mit Kroaten und bosnischen Muslimen lassen eine scharfe Unterscheidung ­anhand dieser Kriterien nicht zu. Diese symbolische Abgrenzung des Serbischen hat auch Auswirkungen auf das Verhältnis zum Europäischen und zur EU. Ob die Glaubensgrundsätze (der SOK), welche inkompatibel mit den formalen Werten der EU seien, tatsächlich ein überzeugendes Alleinstellungsmerkmal sind, wie die serbischen radikalen Rechten behaupten, ist allerdings fraglich. Am Beispiel der Haltung der Kirchen zur Homo­sexualität zeigt sich sehr deutlich, dass die symbolischen Grenzen ­Europas das Ergebnis von Aushandlungsprozessen sind, und dass solche Ergebnisse nur temporär von Bedeutung sind. Die Haltung der Serbisch-Orthodoxen Kirche zur Frage nicht heteronormativer Identitäten ist derzeit eindeutig. Wie alle christliche „Kritik“ an der Homosexualität bezieht sie sich auf die entsprechenden Stellen aus der Bibel, das 3. Buch Mose (Lev 18,22; 20,13) und einige Paulus­briefe ­(1 Kor 6,9; Röm 1,26f.; 1 Tim 1,10). Sie definiert homosexuelle Handlungen als sündhaft und daher verboten – genauso wie etwa auch die katholische Kirche und die meisten protestantischen Kirchen. Die Haltung und das Verhalten gegenüber queeren Individuen sind jedoch nicht einheitlich. Einige serbisch-orthodoxe Popen haben die homophoben Gegendemonstrant_innen der Belgrader Pride Parade 2010 gesegnet und durch schwulen- und lesbenfeindliche Aufrufe die Menge angeheizt sowie ihre Kirchenpforten als Zuf luchtsort bereitwillig geöffnet, als homophobe Gewalttäter vor der Polizei Schutz suchten. Gleichzeitig lässt man aber teilweise offiziell Männer zu Wort kommen, die den serbisch-orthodoxen Glauben angenommen haben, nicht zuletzt, weil dieser ihre Homosexualität als durch Gott gestellte Aufgabe hinnehme, aber nicht versuche, sie umzuerziehen oder zu „heilen“, wie es in anderen christlichen

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Konfessionen üblich sei.37 Offiziell dürfen Queer-Vertreter_innen keine Ämter in der Serbisch-Orthodoxen Kirche innehaben, die Mitgliedschaft von Schwulen oder Lesben in der Kirche ist aber erlaubt. Außerdem gibt es ein hartnäckiges Gerücht über die Homosexualität von sieben Bischöfen, welche selbst allerdings öffentlich eindeutig dem rechten ­traditionalistischen Lager in der Kirche zuzuordnen sind.38 Ebenso, wie diese Debatte auch in anderen christlichen Kirchen oder in den verschiedenen Richtungen des Judentums geführt wird, und potentiell auch in verschieden Islamschulen kontrovers geführt werden könnte39 , so lässt sich auch für die Serbisch-Orthodoxe Kirche sagen, dass die Ablehnung von LGBTIQ E ­ rgebnis eines innerkirchlichen Diskurses ist. Somit ist auch in diesem Fall eine religiös legitimierte Ablehnung nicht für alle Zeit festgelegt, sondern ­potenziell für eine Neubewertung in der Zukunft offen, genauso wie dies auch in manchen anderen christlichen Kirchen stattfindet. Die Serbisch-Orthodoxe Kirche ist, wie auch die Katholische Kirche, keine fundamentalistisch-homophobe Organisation per se. Aber selbstverständlich ist die fundamentalistische Exegese der textlichen Grundlage eine grundsätzlich nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit, wie die internationalen Erfolge der evangelikalen Kirchen zeigen. Ein religiös motivierter Hass auf LGBTIQ ist somit kein Relikt der Vergangenheit, von dem sich die dominanten christlichen Gemeinden in der EU notwendigerweise verabschieden, sondern eine Option der Bibelexegese. Auch wenn dies d ­ erzeit nicht der Fall ist, bleibt der Fundamentalismus als Möglichkeit eines „­ europäischen Christentums“ vorhanden. Festzustellen ist, dass auch im Falle christlicher Haltungen zur männlichen Homosexualität keine grundsätzliche Eindeutigkeit besteht und es somit bereits in diesem limitierten Bereich vermeintlich europäischer Werteordnungen möglich ist, diejenigen Bestandteile auszusieben, 37 | Vgl. Steve Robinson, „ Orthodoxy and Same Sex Attraction“, http://manastir-lepavina.org/vijest.php?id=3994 (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019). 38 | Vgl. Željka Jevtić, „Sedam gej vladika u Saboru Srpske pravoslavne crkve“, in: Blic vom 20.10.2013, http://www.blic.rs/Vesti/Tema-Dana/413862/ Sedam-gej-vladika-u-Saboru-Srpske-pravoslavne-crkve (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019). 39 | Zur Homosexualität im Islam siehe Georg Klauda, Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt, Hamburg 2008.

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welche ein bestimmtes identitäres Narrativ am besten stützen. Allerdings ist der Anspruch der russischen Regierung oder der serbischen radikalen Rechten, sich in diesem Punkt auf ein christliches Erbe oder eine christlich-abendländische Tradition berufen zu können, angesichts der langen Zeit, in der die Ablehnung männlicher Homosexualität als unzweifelhafter Bestandteil christlicher Gesinnung gelehrt und verstanden wurde, überzeugender als der des liberalen Gegenparts. Dennoch bleibt die Betonung, dass das europäische Erbe ein vornehmlich christliches sei – die andere dominante, wenn auch ungleich jüngere ideengeschichtliche Linie der Auf klärung unterschlagend – selektiver Wahrnehmung oder bewusster Geschichtsklitterung geschuldet. Unzweifelhaft ist weiterhin, dass das auf klärerische humanistische Erbe Europas kein exklusives ­ideengeschichtliches Verdienst Europas ist, wie auch das Christentum nicht als ausschließlich europäisch beansprucht werden kann. 40 Auf der anderen Seite der Konf liktlinie wird in EU-Europa zunehmend von einem „jüdisch-christlichen Erbe“ gesprochen, was aber in Bezug auf die Stellung zu queeren Individuen auch nicht weiterhilft, da liberale Auslegungen der homophoben Aussagen aus Thora, Mischna und Talmud ebenso modernen Ursprungs sind. 41 Allein die auf klärerische „Tradition“ der ­Traditionskritik unterstützt im Feld der Ideen den Kampf von LGBTIQ um rechtliche Gleichstellung und soziale Achtung. Traditionskritik ist aber ebenfalls keine exklusiv europäische Erfindung, sondern ein Phänomen, das sich weltweit und oft lokal und regional unabhängig entwickelt hat. Zusammengefasst werden kann somit, dass die symbolische Grenze, die zwischen einem LGBTIQ-freundlicheren EU-Europa und einem LGBTIQ-feindlicheren „wahren Europa“ gezogen wird, weder im geltenden Recht existiert noch in spezifischen regionalen Traditionen seine ­Ursache hat. Grundsätzlich könnten beide Orte eine durchschnittlich gleiche Haltung in dieser Frage haben oder die Rollen tauschen. Dass sich derzeit die Lage so darstellt, wie sie ist, muss dem Umstand geschuldet sein, dass der politische Kampf um die nicht nur rechtliche Gleichstellung 40 | Vgl. B. Goldstein, „Weil nicht sein kann was nicht sein darf“, H. Laass et al., Lesebuch interkultureller Humanismus. 41 | Einen guten Überblick zu jüdischen Positionen zur Homosexualität siehe Felice-Judith Ansohn: „Juden und Homosexualität“, http://www.hagalil.com/ deutschland/yachad/homosexual.htm (zuletzt aufgerufen am 24.09.2015).

Homosexualität als Grenzkriterium der radikalen Rechten in Serbien

von LGBTIQ einen höheren Stellenwert in Westeuropa hat als in ­Serbien. Da kulturelle Unterschiede hier keine entscheidende Rolle spielen, kann angenommen werden, dass das Bedürfnis nach Verschiedenheit als Folge einer gewöhnlichen Ingroup-Favorisierung und Fremdgruppenaversion, eine große Rolle spielen. Gerade die Abwesenheit entscheidender kultureller und rechtlicher Differenz erfordert die Abgrenzung zum Anderen in einem Bereich, welcher das Potenzial hat, leicht die Gemüter zu erhitzen. Angesichts des beschriebenen Erbes auf beiden Seiten der vorgestellten Grenze ist solch ein Bereich Nicht-Heteronormativität. Die ideologischen Motive der serbischen radikalen Rechten, die EU zu verachten, sind oben erläutert worden. Woher aber kommt die relativ starke serbische Ingroup-Kohäsion in Abgrenzung zur EU, an die sie potentiell anknüpfen kann?

EU-E uropa

und ihr archaischer

A nderer

Zum Verständnis der öffentlichen Meinung in Serbien, des Verhaltens der serbischen Regierungen seit 2000 und der Weltanschauung der radikalen Rechten ist es erforderlich, einen Blick auf die Stellung Serbiens im essentialisierenden „Ost“- versus „West“-Diskurs zu werfen. Der Region Balkan kommt seit langem eine identitätsstiftende Rolle als territoriale und kulturelle Grenze zwischen angenommenen kulturellen Identitäten zu. Das Wort Balkan selbst ist eine osmanische Fremdzuschreibung („bewaldete Hügelkette“) und reiht sich ein in andere Namen für die Region, wie Rumelia, europäische Türkei oder Südosteuropa. All diese Begriffe sind Zuschreibungen von außen, die zunächst zur Definition des eigenen „kulturellen“ und teilweise nationalen Selbst beisteuerten und dann die Region selbst in eine Kategorie einordnen sollten. Bei der Betrachtung und Darstellung des Balkans kann allerdings nicht von ­einer simplen Orientalisierung gesprochen werden, bei der der Balkan als direkte Kontrastfolie zum europäischen oder „westlichen“ Selbst dienen könnte. Das Besondere der Region liegt in der historischen und kulturellen Vielschichtigkeit, die sich in besonderem Maße einer dichotomen Zuordnung zu Europa oder zu Nicht-Europa entzieht. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Bewohner_innen des Balkans überlappen sich in vielfältiger Weise, jedoch regional sehr unterschiedlich. Religiöse, sprachliche, ethnische und nationale Identitäten koexistieren und unterschei-

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den sich ebenso, wie die imperialen Vergangenheiten des Osmanischen Reiches mit jener des Habsburger Reiches sich regional verschiedenartig überlagern, beeinf lussen und die heutigen nationalen Identitäten prägen. Hinzu kommen die regionalen und oft an Ethnizität gebundenen unterschiedlichen Erfahrungen mit der deutschen Okkupation im 2. Weltkrieg sowie mit den beiden Jugoslawiens. Ana Foteva verweist darauf, dass das zunächst vorherrschende Image des Balkans als des semieuropäischen kulturell Anderen, der Kontrastfolie zur S ­ elbstkonstruktion (nicht-osmanisch, nicht-römisch-katholisch, nicht-habsburgisch) und ­ exotistische Projektionsf läche zugleich ist, seit Anfang des 20. Jahrhunderts vom Bild des Balkans als Region ewiger kriegerischer Konf likte abgelöst worden ist. 42 In Deutschland hat eine verzerrende Darstellung des „balkanischen Anderen“ eine längere geistesgeschichtliche Tradition. In Hegels ­Geschichtsphilosophie sind Bulgaren, Serben und Albaner unwichtige „Mittelwesen zwischen europäischem und asiatischem Geist“43 , Friedrich Engels sprach von den Südslawen als „Völkerabfällen“44 , Friedrich List betrachtete die Region als natürlichen Expansions- und Siedlungsraum der Deutschen. 45 Die Nazis versuchten, dieses Programm mit Wehrmacht und KZs umzusetzen, und mobilisierten dazu auch, teilweise sehr ­erfolgreich, Kroat_innen, Kosovo-Albaner_innen und bosnische Muslime gegen den jüdischen und den slawischen „Rassenfeind“. 46 Positive Bezug42 | A. Foteva, Do the Balkans begin in Vienna? S. 8., S. 195. 43 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel zitiert nach Klaus Thörner, „Der ganze Südosten ist unser Hinterland“. Deutsche Südosteuropapläne von 1840 bis 1945, Freiburg 2008, S. 69. 44 | Ebd., S. 71. 45 | Ebd. 46 | Ebd. Die Existenz einer serbischen Marionettenregierung unter Milan Nedić zur Zeit der Besetzung Serbiens durch die Wehrmacht soll nicht verleugnet werden. In der rassistischen Logik der deutschen Regierung waren Serb_innen jedoch extrem benachteiligt. Der Aufstand der Bevölkerung, der auf die Besetzung Serbiens folgte, veranlasste Wehrmachtsgeneral Franz Böhme zu dem Befehl, für jeden getöteten Wehrmachtssoldaten 100 Serb_innen zu erschießen und für jeden verwundeten deutschen Soldaten 50 Serb_innen mit dem Tod zu bestrafen. Im Konzentrationslager Jasenovac, das in Kroatien von den Ustaša-Faschisten betrieben wurde, stellten Serb_innen die weitaus größte Opfergruppe dar, ge-

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nahmen auf den Balkan oder Serbien im Besonderen von Seite deutscher Intellektueller sind sehr selten; die wichtigsten Ausnahmen stellen wohl Johann Wolfgang von Goethe und Jakob Grimm dar. 47 Nachdem Jugoslawien im Kalten Krieg im „Westen“ als der „gute Osten“ gehandelt wurde, der sich ökonomisch dem „Westen“ zugewandt hatte, und wo man romantisch Urlaub machen konnte, entbrannte mit den Jugoslawienkriegen in den 1990er-Jahren auch wieder die herablassende und zynische Darstellung der Region. Der Balkan wird von außen und innen nicht selten als ein Ort der Ausgelassenheit und des anarchischen Lebensgefühls verehrt und gefürchtet; ein Ort, wo man ausschweifende Gelage feiere, wo häufig wechselnder Geschlechtsverkehr die Regel sei und wo Männer vor Freude über eine Hochzeit mit dem Jagdgewehr oder der Maschinenpistole in die Luft schießen. Oder er gilt als Ort, an dem die Menschen in karg besiedelten Gegenden einen bitter-fatalistischen Blick aufs Leben haben, in totaler sozialer und ökonomischer Unsicherheit l­ eben und ebenso herzlich gegenüber den Eigenen und Freunden sind wie kompromisslos gegenüber den Feinden. Wenn die Ehre auf dem Spiel stehe, so das gängige Klischee, dann komme es schnell zu grenzenloser Gewaltanwendung. Auch ­während der post-jugoslawischen Bürger­kriege wurde in vielen deutschen Medien an alte anti-serbische Stereotype ­angeknüpft und das Bild vom serbischen „Wilden“ reproduziert. 48 Robert Kaplan behauptete folgt von Roma/Romnija und Juden/Jüdinnen. Die Mobilisierung der Albaner_innen im Kosovo sollte aus Perspektive der Nazis als Bollwerk gegen das „Vorrücken der Slawen nach Süden“ dienen. Vgl. Slavenko Terzić, „Europe and the ‚order of peace‘ in the Balkans: the triumph of historical revanchism in Kosovo and Metohija“, in: Kosta Mihailović (Hg.), Kosovo and Metohija: past, present and future, Belgrade 2006. 47 | Goethe und Grimm waren Bewunderer des serbischen Dichters Vuk Stefanović Karadzić. Zur Zeit der letzten Jugoslawienkriege stellte sich im deutschsprachigen Raum der österreichische Schriftsteller Peter Handke auf die Seite Serbiens, was ihm vorübergehend beinahe einen Pariastatus unter den europäischen Intellektuellen einbrachte. 48 | Siehe zum Beispiel Tanja Zimmermann, Der Balkan zwischen Ost und West: Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen, Köln, Weimar, 2014; Wolfgang Hoepken, „Die schaurige Sage vom Amselfeld“, in: Die Zeit vom 12.03.1998, http//www.zeit.de/1998/12/Die_schaurige_Sage_vom_Amselfeld (zuletzt aufgerufen am 31.03.2020).

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in seinem vielzitierten Balkanbuch sogar, dass Hitler seine Ideen vom Balkan abgeschaut habe. 49 Ähnlich der österreichischen und deutschen Propaganda während beider Weltkriege wurde der Balkan oft als ein Ort des primordialen ­Hasses und der archaischen Blutrünstigkeit porträtiert, wo angebo­rene Feindschaften grundsätzlich unzivilisiert und grausam ausgetragen w ürden. Die wirtschaftliche Nähe der jugoslawischen Teilrepubliken ­ ­Slowenien und Kroatien zur Bundesrepublik Deutschland sowie die deutsche Unterstützung kosovo-albanischer Separatist_innen seit 199650 haben zudem das alte serbisch-deutsche Misstrauen beibehalten. In Serbien ist die deutsche Perspektive für die Wahrnehmung der EU nicht unerheblich, nicht nur, weil Deutschland der mächtigste Staat in der EU ist, sondern weil es auch ein historisch wiederkehrender militärischer Feind war. Deutschland war zugleich ein beliebtes Auswanderungsland, zunächst für Gastarbeiter_innen aus Jugoslawien und später für aus dem Krieg Gef lohene. Auch wenn es selbstverständlich nicht die gesamte EU repräsentiert, ist für viele Serb_innen Deutschland, als derzeit mächtigstes Land der EU, ein typischer Vertreter dieser. Daher wirkt sich das Verhalten Deutschlands gegenüber Serbien auch auf die EU-Serbien-Beziehungen aus. Als etwa im August 2011 Angela Merkel bei ihrem Besuch in Belgrad die Hoffnung der serbischen Regierung zerstörte, dass die verbesserte Kooperation Serbiens mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien dazu führen könne, dass von Seiten der EU Kompromissbereitschaft in Sachen Kosovo gezeigt werden würde, wurde dies als eine Enttäuschung durch die EU erlebt.51 Nationale Selbst- und Fremdwahrnehmungen sind konstruiert durch Mythen, Glaube, Geschichten, Lieder, Filme, Bildungsinhalte, Sprache, Politik und staatliche Institutionen. Sie wirken sich vehement politisch aus. Sie bestimmen Zugehörigkeiten und Loyalitäten und ziehen Grenzen zu anderen Gruppen. Was jemand über Menschen einer Nationalität denkt, die nicht zur Eigengruppe gehören, ist hauptsächlich hierdurch geprägt, 49 | Robert D. Kaplan, Balkan Ghosts. A Journey through history, New York 1993, S. lhi. 50 | Matthias Küntzel, Der Weg in den Krieg. Deutschland, die Nato und das Kosovo, Berlin 2000, S. 59–64. 51 | Hrach Gregorian, „Serbia Between East and West“, in: Canadian Defence & Foreign Affairs Institute April (2012), S. 1–15, hier S. 6.

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besonders je weniger eigene Erfahrungen mit herangezogen werden können. Aber selbst persönliche Erfahrungen sind bedingt durch den Umstand, dass vorrangig wahrgenommen wird, was bereits bekannt ist, also das, was vorab bereits an Vorstellungen über den Anderen gelernt worden ist. Neue, den alten Vorstellungen widersprechende Informationen haben es schwer, denselben Stellenwert bei der Wahrnehmung und Bewertung des Anderen zu bekommen wie alte. Folgt man dem Sozialpsychologen Henri Tajfel sind Identitäten unvermeidbar und ­begünstigen immer die Eigengruppe.52 Das Phänomen des Otherings, also der Konstruktion eines „Anderen“, der nicht zur Eigengruppe gehört und als Kontrast dient, anhand dessen die Eigengruppe seine Identität herstellt, ist hinlänglich bekannt. Sowohl in der Sozialphilosophie als auch in der Sozialpsychologie ist dieses Verhalten von Menschen in Gruppen gut beschrieben und teilweise auch erklärt worden. Dass dieser Prozess auch Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung des Anderen hat, ist ebenfalls gut erforscht, am prominentesten wohl am Beispiel des Rassismus durch Frantz Fanon bereits in den frühen 1950er-Jahren.53 Slavoj Žižek thematisierte dieses Phänomen im Zusammenhang mit seiner alten ­Heimat Jugoslawien und behauptete, dass die zeitgenössische Balkanidentität geprägt sei durch die Zuschreibungen durch das „zivilisierte (West-)Europa“. Das auferlegte Image wilder Unzivilisiertheit habe erheblich zu den Grausamkeiten der Jugoslawienkriege beigetragen.54 Die Identität des „Unzivilisierten“ bestimmt dessen Rolle, und durch das entsprechende Verhalten versucht dieser, seiner zugewiesenen Rolle zu entsprechen, womit sich der Andere wiederum bestätigt fühlt und seine Zuschreibung verschärft. Die Konstruktion des Anderen hat immer auch die Aufwertung des kollektiven Selbst zum Ziel, und wird meistens mit spezifischen moralischen Grundlagen der eigenen Kultur begründet, welche als überlegen aufgefasst werden. Die radikale Rechte in Serbien etwa sieht im notwendigen Schutz einer in ihren Augen moralisch r­ ichtigen Lebensweise, die sie aus den Glaubensinhalten der Serbisch-Orthodoxen 52 | Henri Tajfel, John C. Turner, „The social identity theory of intergroup behavior“, in: Stephen Worchel, William G. Austin (Hg.), Psychology of Intergroup Relations, Chicago 1986, S. 7–24. 53 | Vgl. Frantz Fanon, Black Skin, White Mask, New York 2008. 54 | Vgl. Slavoj Žižek, „Ethnic Dance Macabre“, in: The Guardian Manchester vom 28.8.1992.

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Kirche herausliest, die Begründung einer anti-westlichen ­Haltung. Der „Westen“, wird nicht nur synonym mit deutschen Truppen des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie der NATO gesetzt, sondern auch mit dessen vermeintlichen moralischen Schwäche, welche etwa in der Legalisierung von Homosexualität zum Ausdruck komme. Für die Abgrenzung zu EUEuropa ist die verbesserte rechtliche und gesellschaftliche Situation von Homosexuellen ein idealer Hebel für ihre Propaganda. Der zur Konstruktion einer mehrheitsfähigen, obskuren serbischen I­ dentität nötige Kontrast lag damit vor und diente gleichzeitig dazu, die „EU-hörigen“ Politiker_innen des serbischen Parlaments zu verunglimpfen. Nachdem mit der Regierung Ð inđ ić (2001-2003) die nationale Stimmung eine Pro-EUTendenz bekommen zu haben schien, war es ein willkommener ­A nlass für die serbische Rechte, als 2001 LGBTIQ-Aktivist_innen in Belgrad die Pride Parade als Demonstration für ihre Rechte durchführen wollten. Die radikal rechten Gruppierungen und rechtsextreme Vertreter_innen der Serbisch-Orthodoxen Kirche konnten sich nun in einem öffentlichen Spektakel von der EU abgrenzen und dabei auf einige Sympathien aus der Bevölkerung hoffen. Gleichzeitig konnten sie sich als Verteidiger_innen eines „sauberen“, moralisch unschuldigen, „wahren Serbiens“ öffentlich zur Schau stellen, indem sie Teilnehmer_innen der Demonstration gewaltsam zusammenschlugen. Wie sehr das Thema Homosexualität in einem anti-westlichen Diskurs öffentlich präsent war, und wie schwer es der serbischen Linken fiel, die Demütigungen durch NATO und EU für ihre Zwecke nutzbar zu machen, zeigte der Spielfilm Parada, der die Ereignisse um die Pride Parade in Belgrad aufgriff und 2011 ein Kassenschlager auf dem gesamten post-jugoslawischen Territorium war. Der Filmemacher und Politiker der Sozialistischen Partei Serbiens SPS (Socijalistič ka partija Srbije) Srđ an Dragojević behauptet mit seiner pädagogischen Komödie, dass das, was nach dem Zerfall Jugoslawiens und dem ethno-nationalistischen Gemetzel der Bürgerkriege in den 1990er-Jahren an Gemeinsamkeit der ehemaligen sozialistischen Brüder geblieben sei, nur noch die gemeinsame Ablehnung von Schwulen und Lesben sei. Nur noch in einer anti-humanistischen Gesinnung komme man zusammen, wobei es doch möglich sei, sich in einem universellen Humanismus wieder zusammenzufinden, der für die antifaschistischen Werte des untergegangenen Jugoslawiens stehe. Dabei grenzt er sich davon ab, den Schutz von sexuellen Minder-

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heiten als Übernahme von EU-Standards zu verstehen, und tritt für eine jugoslawische Formulierung einer pro-schwul-lesbischen Haltung ein. Er deutet die Regenbogenfahne der LGBTIQ-Bewegung in ein Symbol um, das auch für die Werte der „unity in diversity“55 des ­untergegangenen ­Jugoslawiens stehe. Der sozialistische Filmemacher deutet im Film an, dass er die populäre Aversion gegen die NATO teile, dass es aber wichtig sei, nicht gemeinsame Sache zu machen mit den prominentesten serbischen Vertreter_innen der Gegnerschaft des Militärbündnisses, der ­radikalen Rechten. Seitdem der ethnische Nationalismus durch den Bürgerkrieg geschürt worden war, waren mit dem militärisch erzwungenen Verlust des „serbischen Jerusalems“ Kosovo die Weichen gestellt, damit die radikale Rechte das Thema mit ihren Positionen besetzen konnte.

D ie S chwierigkeit der christlichen F eindesliebe im EU- serbischen K onte x t Die NATO ist als ein Militärbündnis teilweise historischer und mutmaßlicher aktueller Feinde Hauptzielscheibe und Hauptauslöser des zeitgenössischen anti-westlichen Ressentiments in Serbien. Die NATO ­bombardierte 1999 ohne UN-Mandat 78 Tage lang das Gebiet der heutigen Republik Serbien (damals Bundesrepublik Jugoslawien) und hat ­dabei nach offiziellen serbischen Angaben mehr als 2.000 Zivilist_innen 55 | Seit 2000 ist „united in diversity“ das offizielle Motto der EU. Das Motto ist keine Erfindung aus der EU, sondern war und ist weltweit verbreitet. Beispielsweise fand es in der Form „united in diversity“ zynische Anwendung in Südafrika zur Zeit der Apartheid, aber nach wie vor auch emphatisch positiv, etwa als Motto der indischen Streitkräfte. In Jugoslawien wurde durch Tito „Brüderlichkeit und Einheit“ („Bratstvo i jedinstvo“) als Motto formuliert, welches die Heterogenität der Bevölkerung zwar anspricht, aber deutlicher die Gemeinsamkeit betont. Dass Dragojević nun die „Vielfalt der Lebensweisen“, welche die Regenbogenfahne der schwul-lesbischen Bewegung symbolisiert, als neuen post-jugoslawischen Identitätsanker vorschlägt, kann als sein Zugeständnis gewertet werden, dass die Anerkennung von Verschiedenheit im ehemaligen Jugoslawien teilweise repressiven Charakter hatte. Gleichzeitig grenzt er sich von dem EU-Motto ab und stellt an dessen Stelle ein universalistisches, welches einem Humanismus verbunden ist, der auch formell keine territorialen Grenzen kennt.

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getötet und zur Flucht von 200.000 Serb_innen aus dem anschließend nicht mehr unter serbischer Kontrolle stehenden Kosovo geführt.56 Darüber hinaus wurden vor allem Ölraffinerien, Chemiewerke, Brücken und Straßen zerstört, was zu einem erheblichen Anstieg der bereits ­grassierenden Armut führte. Diese Tat wird in weiten Teilen der Bevölkerung als historisches Unrecht empfunden und oft in eine Kontinuität ­gebracht mit anti-serbischen Ideologien und Angriffen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Die NATO wurde dabei weitgehend als eine Art freiwillige ­Luftwaffe der kosovo-albanischen Ushtria Çlirimtare e Kosovës (UÇK, Befreiungsarmee des Kosovo) empfunden, die für ein ethnisch homogenes albanisches Kosovo kämpfte.57 Die Ablehnung der EU ist weitaus geringer und hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Einige Umstände aber haben bei der EU einen schweren Imageschaden hinterlassen; dazu ­gehört, dass der Großteil der EU-Mitglieder Kosovo als einen eigenständigen Staat anerkannt hat, und EU-Steuergelder für den Auf bau des nun albanisch ­dominierten Staates benutzt werden, dessen Regierung sich unter anderem aus ehemaligen UÇK-Angehörigen mit Verbindungen zur organisierten Kriminalität zusammensetzt, die in Verbrechen gegen die serbische Minderheit verstrickt sein sollen. Zu Aversionen gegen die EU führt auch die Parteinahme vieler EU-Regierungen in den Bürgerkriegen für kroatische, bosnisch-muslimische und albanische Nationalist_innen, ganz besonders aber die lange Zeit der Wirtschaftssanktionen und der internationalen Isolierung, aber auch das lange Beharren der EU auf die Auslieferung von teilweise – besonders unter den Flüchtlingen aus Bosnien – als Helden verehrten mutmaßlichen Kriegsverbrechern an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Aktuell kommt bei Teilen der Bevölkerung die fortgeschrittene Entfremdung der EU von Russland, dem historischen Verbündeten und slawischen und orthodoxen „Bruder“, hinzu. Gleichzeitig ist seit der serbischen Oktoberrevolution von 2000, als die alten Machthaber – die Clique um Slobodan Milošević – nach Mas56 | Diese Zahlen werden auch in Russland als offizielle Opferzahlen genannt. Zum Beispiel „15 years on: Looking back at NATO’s ‘humanitarian’ bombing of Yugoslavia“, in: RT vom 24.3.2014, https://www.rt.com/news/yugoslavia-kosovonato-bombing-705/ (zuletzt aufgerufen am 24.09.2015). 57 | Neben Serbinnen und Serben wurden vor allem Roma und Romnija vertrieben sowie der allergrößte Teil der jüdischen Gemeinde, die heute in Belgrad lebt.

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senprotesten abdanken musste, von allen serbischen Regierungen der Wunsch nach einer EU-Mitgliedschaft als vorrangiges außenpolitisches Ziel formuliert worden. Dabei wird die Zugehörigkeit zum europäischen Kulturraum ebenso betont wie die Hoffnung auf ökonomischen Wiederauf bau und nachhaltige Sicherheit in der Region. Als ebenso wichtiges Ziel wurde stets die Bewahrung des Kosovo als Bestandteil der Republik Serbien betont, welches nach wie vor von einer serbischen Minderheit bewohnt wird und besonders für die autokephale ­Serbisch-­Orthodoxe Kirche eine überaus wichtige historische und spirituelle Rolle hat. Aus Sicht der EU-Unterhändler widersprechen sich diese beiden Wünsche aber, sodass das erzwungene Lavieren der serbischen Regierungen von der serbischen radikalen Rechten ausgenutzt werden konnte. Sie setzten dem Dilemma und den schleppenden Verhandlungen von Beginn an eine klare Botschaft entgegen: Verzicht auf die EU und Zurückeroberung des altserbischen Kosovos. Angesichts einer politischen Kultur, die zu diesem Zeitpunkt durch Krieg, Gewalt und Diskriminierung bestimmt war58 , und einer desolaten wirtschaftlichen Lage mit einer Arbeitslosenquote von 25 % (Jugendarbeitslosigkeit 50 %), den absehbaren Folgen weiterer Entlassungen durch EU-initiierte Privatisierungen von Staatsbetrieben und den genannten schlechten Erfahrungen mit vielen EULändern seit den Bürgerkriegen, war dies ein Programm, das in Teilen der serbischen Gesellschaft Zuspruch fand. Hinzu kommt, dass besonders der klerikal-faschistische Teil der radikalen Rechten dabei an Werte anknüpfen konnte, die sich während der nationalistischen Propaganda der Bürgerkriegsjahre und der nachfolgenden Entjugoslawisierung der serbischen Geschichtsschreibung59 herausgebildet haben. Hierzu gehört 58 | J. Blagojević, „Between Walls“, S. 38. Jelisaveta Blagojević, von der die Einschätzung stammt, dass die serbische politische Kultur durch Krieg, Gewalt und Diskriminierung bestimmt sei, weist darauf hin, dass diese Art politischer Kultur nichts exklusiv Serbisches ist, sondern für alle Gesellschaften zutreffe, die von einem „provinziellen Geist“ (Radomir Konstantinović) geprägt seien, also für alle Gesellschaften, die in eine identitäre Logik eingebettet seien. 59 | Mara Puškarević, „Die Nationalisierung der Geschichte. Serbische Schulbücher als Medium des Geschichtsrevisionismus“, in: Ðorđe Tomić, Roland Zschächner, Mara Puškarević, Allegra Schneider (Hg.), Mythos Partizan. (Dis-) Kontinuitäten der jugoslawischen Linken: Geschichte, Erinnerung und Perspektiven, Münster 2013, S. 234–251.

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die Rückkehr zu einem vor-sozialistischen Identitätsprofil, bei dem Glaubensinhalte der orthodoxen Kirche zur ethischen Richtschnur für „echte“ Serb_innen gemacht werden. Von offizieller staatlicher Seite kommt man dieser Redefinition des Serbischen entgegen, indem der Sozialismus und Jugoslawismus als große Fehler eingeschätzt werden, die Rolle der Serbisch-Orthodoxen Kirche aufgewertet wird und es zur Rehabilitierung von historischen Persönlichkeiten der serbischen Geschichte kam, die zu Titos Zeiten als Verräter gebrandmarkt waren; allen voran den Führer der Č etniks Dragoljub „Draža“ Mihailović (1893-1946).60

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und der homose xuelle

A ndere

Für die klerikale Rechte sind die eindeutige Zuschreibung von Genderrollen und die Ablehnung von Homosexualität als sündhaftes Handeln wichtige Bestandteile eines angenommenen nationalen Wertekanons. Die nationalistische Bürgerkriegspropaganda und der Bedeutungszuwachs der Serbisch-Orthodoxen Kirche für die öffentliche Meinung können hier als Einf lüsse angenommen werden. Zunehmend war innerhalb des nationalistischen Diskurses die Idee verbreitet worden, dass das serbische Volk vom Untergang bedroht sei. Neben der Bedrohung durch militärische Feinde wurde auch die Rolle der Frau zu diesem Zweck umdefiniert: von der formal gleichberechtigten jugoslawischen Genossin zur Mutter der serbischen Nation. Die soziale Rolle serbischer Frauen wurde auf eine Reproduktionsfunktion reduziert, da sie vorrangig Nachkommen zum

60 | Die Četniks kämpften im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis und die Ustašas für eine serbisch-orthodoxe Monarchie. Auf dieses serbisch-nationalistische Anliegen beziehen sich heute die serbische radikale Rechte und serbische Konservative gerne, da diese Bewegung einen „rein serbischen“ Widerstand gegen die Invasoren leistete, während die jugoslawischen Partisanen alle Nationalitäten des späteren Jugoslawiens umfassten. Die gemeinsame antifaschistische Geschichte wird zurückgewiesen und ein exklusiver serbisch-nationaler „Antifaschismus“ als identitätsstiftende Erzählung verbreitet. Dass die Četniks bei Bedarf mit der Wehrmacht kollaborierten, um Kommunisten der Partisanen zu ermorden, wird dabei weitgehend verschwiegen.

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Erhalt des serbischen Volkes in die Welt setzen und aufziehen sollten.61 In dieser Weltsicht ist Homosexualität gleichbedeutend mit Landesverrat. Das Beispiel Dragan Marković Palmas, zum Zeitpunkt seiner Aussage Mitglied des serbischen Parlaments für die Partei der serbischen Einheit (Stranka srpskog jedinstva), steht für die Nachhaltigkeit dieser Propaganda. Gegen die Verabschiedung des Anti-Diskriminierungsgesetztes 2009 gerichtet warnte er davor, dass sich bei Verabschiedung des Gesetzes Homosexualität wie eine Infektionskrankheit unter serbischen Männern verbreiten werde. Dies wiederum würde den finanziellen Niedergang von 3.650.000 „schönen Frauen“ in Serbien nach sich ziehen, da diese nicht mehr von heterosexuellen Ehemännern ernährt werden würden. ­Abgesehen von den offensichtlichen Absurditäten dieser Logik war ihm bezeichnenderweise nicht die Idee gekommen, dass Frauen sich möglicherweise unabhängig von einem Ehemann ernähren könnten.62 Die religiös-nationalistische Rechtfertigung und Bekräftigung homophober Ideen in Kriegszeiten sind dabei kein rein serbisches Phänomen. Dem politischen Gegner oder dem ausländischen Feind eine sexuelle Abnormität zuzuschreiben, ist etwa in den USA auch aus der McCarthy-Ära ­bekannt oder aus der Darstellung französischer Mädchen als Prostituierter im Deutschland der 1930er-Jahre. Es gibt eine allgemeine Tendenz von nationalen Bewegungen den ausländischen und inländischen Feind der Nation als sexuell pervers zu porträtieren.63 Homosexualität ist in dieser Logik eine wiederkehrende Variante von „Perversion“. Neben Homosexualität nennt Kulpa Prostitution, Masturbation und vorehelichen Sex als typische „Perversionen“, die als Charakteristika des/der nationalen Anderen behauptet werden.64 Ein besonders anschauliches aktuelles Beispiel 61 | Biljana Bijelić, „Nationalism, Motherhood, and the Reordering of Women’s Power“, in: Sabrina P. Ramet, Vjeran Pavlaković (Hg.), Serbia since 1989. Politics and Society under Milošević and after, Seattle 2005, S. 286–305. 62 | J. Blagojević, „Between Walls“, S. 35 63 | Sam Pryke, „Nationalism and Sexuality, what are the Issues?“, in: Nations and Nationalism 4 (April 1998), S. 529-546. 64 | R. Kulpa, „Nations and Sexualities – ,West‘ and ,East‘“, S. 44. Beispiele für den propagandistischen Gebrauch des Gegensatzes zwischen heterosexuell und homosexuell führt Pryke auf, und zwar aus dem Spanischen Bürgerkrieg, aus Südafrika zur Zeit der Apartheid, aus Pinochets Regierungszeit in Chile, dem Nach-Sandinistischen Nicaragua und dem Iran nach der „islamischen Revolu-

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für die gesellschaftliche Aushandlung des Themas Homosexualität in einem nationalistischen Diskurs ist Russland. Riabov und Riabova zufolge fungieren im gegenwärtigen innerrussischen Diskurs Genderrollen als symbolische Wächter zwischen russisch und nicht-russisch. Russland gilt hierin als standhafte Bastion eines angenommenen „echten“ christlichen Europas. Hier kursiert der Begriff „Gayropa“ als Kontrastfolie für die eigene Identität, die sich durch klassische Genderkonstruktionen innerhalb der „gesunden“ russischen Familie auszeichne. An das seit Langem bestehende Konzept des „dekadenten und verweiblichten Westens“ anknüpfend wird ein angeblicher Niedergang der europäischen Zivilisation beschworen, den die EU durch die Legalisierung der Homo-Ehe, den Einf luss des Feminismus und die Zerstörung der patriarchalischen Familie vorantreibe. Die Entwicklungen in der EU werden regierungsoffiziell als eine „Pervertierung der Natur“ begriffen, die auf die Zerstörung der Grundlagen der menschlichen Zivilisation hinauslaufen. Die EUUnterstützung für LGBTIQ-Rechte in Russland ziele auf die Zerstörung ­Russlands von innen.65 Diese Interpretation einer europäisch-christlichen Tradition ist es auch, zu der sich die radikale klerikale Rechte Serbiens hingezogen fühlt. Der Unterschied ist allerdings, dass sie marginalisiert ist und nicht in Regierungsverantwortung wie in Russland.

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homophobe

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Auch seitens der EU wird eine symbolische Grenze errichtet, die das rechtliche und öffentliche Verhalten gegenüber LGBTIQ zum Unterscheidungskriterium macht. Was aus Perspektive der russischen Regierung und der serbischen Rechten ein Gegensatz zwischen einer „ewig gültigen“ christlich(-orthodoxen)-europäischen Tradition und einem ­unsteten und zerstörerischen „westlichen“ Liberalismus ist, ist aus Perspektive der tion“. Aber auch für die anti-kolonialen Bewegungen in Ägypten und in China beschreibt er, wie eine heterosexuelle Ehenorm als Teil des antiimperialistischen Kampfes verstanden wurde (S. Pryke, „Nationalism and Sexuality, what are the Issues?“, S. 540f.). 65 | Vgl. Oleg Riabov, Tatiana Riabova, „The decline of Gayropa? How Russia intends to save the world“, in: Eurozine vom 5.2.2014, http://www.eurozine.com/ articles/2014-02-05-riabova-en.html (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019).

Homosexualität als Grenzkriterium der radikalen Rechten in Serbien

EU und vieler Menschenrechts-NGOs ein Gegensatz zwischen einem Traditionalismus, der gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gutheißt und einem universellen, menschenrechtlich orientierten M ­ odell liberaler Demokratie. Beide Seiten beanspruchen für sich das ethisch ­R ichtige. Die Grenze zwischen „gut“ und „böse“ ist auf beiden Seiten aus ­jeweils nützlichen Fragmenten europäischer Ideengeschichte gebaut, die ­jeweils spezifische Interessen repräsentieren. Dabei spielen nicht nur die tatsächlichen Wünsche bestimmter Interessengruppen sowie deren tatsächliche Partizipationsmöglichkeiten eine Rolle, sondern auch Interessen ganzer Staaten und Staatengruppen. Jasbir Puar hat dafür 2007 den Begriff des „Homonationalismus“ geprägt.66 Sie versteht darunter einen diskursiven Rahmen innerhalb des „Westens“, der mit LGBTIQRechten (neo-imperialistische) militärische Interventionen legitimiere. Sie versteht diesen Diskurs als ein propagandistisches Instrument zur Rechtfertigung aggressiver Maßnahmen des „Westens“ einschließlich Israels.67 Demnach gehöre die rechtliche Gleichstellung von LGBTIQ in Staaten des „Westens“ inzwischen zum gängigen Kriterium dafür, als „westlich“ und „fortschrittlich“ gelten zu können. Sie sieht hierin einen klassischen Zivilisationsdiskurs, der darauf ziele, notfalls mit Gewalt, anderen „zu helfen“ auch am Segen der eigenen „zivilisatorischen Höhe“ teilhaben zu lassen. Auch Judith Butler sieht in der liberalen Haltung zur Homosexualität die Legitimation für imperialistische Politik und ergänzt, dass auch innerhalb der Länder des „Westens“ die Meinung vorherrsche, dass die „eigene“ radikale sexuelle Freiheit gegen die „Strenggläubigkeit“ einiger Einwanderergemeinden verteidigt werden müsse.68 Robert Kupla hat am Beispiel Polens festgestellt, dass die „westliche“ Unterstützung – einschließlich der EU-Gesetzgebung – für die LGBTIQ-Gemeinde in Polen auf eine paternalistische Art erfolgt: „Wir“-Vertreter_innen der fortgeschrittenen, säkularen, liberalen und wissenschaftlichen Moderne helfen „Euch“, die in der traditionellen, religiösen und illiberalen Vormo66 | Vgl. Jasbir Puar, Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times, Durham 2007. 67 | Jasbir Puar, „Rethinking Homonationalism“, in: International Journal of Middle East Studies 45 (2013), S. 336–339. Zu Puars strukturellem Antisemitismus siehe Fußnote 70. 68 | Judith Butler, Frames of War. When Is Life Grievable?, London, New York 2010, S. 102.

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derne leben. Er warnt vor einer Orientalisierung von Machtverhältnissen, bei der „westliche“ Überlegenheit neues Futter durch die Inklusion des homosexuellen Subjekts in den „westlichen“ Wertekanon bekomme.69 Durch diese Ausweitung der „westlichen“ normativen Ordnung, also des Handlungsrahmens, innerhalb dessen definiert ist, was im „Westen“ für ethisch richtig und was für ethisch falsch gelten soll, entstand eine neue symbolische Grenze zum „Nicht-Westen“ und somit auch zum aus herkömmlicher westeuropäischer Perspektive ambivalenten Balkan. Es besteht das Risiko, dass die Darstellung der Balkanstaaten als das der EU gegenüberstehende homophobe „Andere“ nach der Logik des Otherings die Homophobie in nicht EU-Staaten verstärkt. Ein Stolz darauf könnte genährt werden, dass es hier noch „richtige Männer und Frauen“ gebe, im Gegensatz zur EU-Outgroup, die als „schwach“, „weiblich“, „unmännlich“ und „schwul“ charakterisiert wird.

D ie

symbolischen G renzen kulturellen G renzen

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sind keine

Die Thematisierung einer angeblich kulturellen Verschiedenheit ­zwischen Serbien und der EU anhand der Einstellung zur Homosexualität beziehungsweise, wie viele serbische Rechte ergänzen würden, der Neigung, „kulturell“ homosexuell zu sein, ist wiederum nur möglich, wenn die europäische Geschichte selektiv bemüht wird. Die Frage, ob homo-, bi- und transsexuelle Menschen als vollwertige Bürger_innen betrachtet werden, mit der vollen Garantie an Grund- und Bürgerrechten oder nicht, reiht sich auch in „westlichen“ Ländern ein in die historischen und unabgeschlossenen Kämpfe von Arbeiter_innen, Frauen, Jüd_innen, People of Color, Menschen mit Behinderung und auch Kindern für diese Rechte. Nirgendwo in Europa ist die rechtliche Gleichstellung von LGBTIQ kulturell angelegt, sondern immer erst ­Resultat des Kampfes für ein konsequentes Ernstnehmen der unvollständig eingelösten Versprechen der Auf klärung. Gegenwärtig können international beide Tendenzen beobachtet werden: Auf der einen Seite Länder, die Schritte unternehmen, Nicht-Heterosexuelle rechtlich gleichzustellen (z.B. China), und auf der anderen Seite Länder, die die bereits schlechte Situation 69 | R. Kupla, „Nations and Sexualities – ‚West‘ and ‚East‘“, S. 48.

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für LGBTIQ drastisch verschärfen (z.B. Russland). Dass auch innerhalb West-Europas die Gleichstellung von LGBTIQ keine Selbstverständlichkeit ist, beobachten wir beispielsweise mit dem Erfolg des französischen Komikers Dieudonné M’bala M’bala. Seine Verbindung eines Hasses auf Schwule mit Antisemitismus spricht offensichtlich auch in der EU viele Menschen an. Während der französische Rechtsextremist mit homophoben Witzen ähnlich den serbischen Rechtsradikalen an eine verbreitete Gegnerschaft zu LGBTIQ in der Bevölkerung anknüpfen konnte – im Februar 2014 demonstrierten in Paris 100.000 Menschen gegen die Einführung der Homo-Ehe und gegen eine angebliche Familienphobie ihrer Regierung – machte er vor allem durch seinen offenen Antisemitismus von sich reden. Es ist M’bala M’bala in Frankreich gelungen, dass christliche Mittelständler_innen des Front-National gemeinsam mit autoritären muslimischen Banlieubewohner_innen über menschenverachtende Witze lachen.70 Die klare Abgrenzung von Werten innerhalb der EU und angenommenen autochthon serbischen oder gegebenenfalls christlichorthodoxen Werten wird also auch durch aktuelle Gegenbeispiele aus der EU selbst erschwert. Nun verwundert es grundsätzlich nicht, dass international rechts-konservative Kreise heteronormative Werte vertreten. 70 | Joel Naber, „Masse Macht Humor. Über Dieudonné, die Attraktion der Barbarei und die Einsamkeit ihrer Gegner“, in: sans phrase 4 (2014), S. 229–240, hier S. 230. Die „Quenelle“, M‘bala M’balas Variante eines Hitlergrußes, ist inzwischen international zu einem anti-westlichen Erkennungszeichen geworden. Hier zeigt sich eine Verbindung zu einem aktuell virulenten Narrativ, welches Juden und Schwule zu einem gemeinsamen Feindbild konstruiert. Auch Jasbir Puars Unterstützung für den Gebrauch ihres Ansatzes, um das angebliche Phänomen des „pinkwashing“ zu verstehen, ist bemerkenswert. Anhänger_innen der „pinkwashing“-Theorie gehen davon aus, dass der israelische Staat eine ProHomosexuellen-Kampagne betreibe, um sich Kritik von Menschenrechtler_innen vom Hals zu halten und sich von den arabischen Nachbarn abzugrenzen. Diese Idee bedient sich dabei einer Verbindung von Homosexualität mit dem jüdischen Staat in finsterer Absicht, die sonst bei rechten Verschwörungstheoretiker_innen zu finden ist. Es wäre voreilig, zu viele Gemeinsamkeiten zwischen Homophobie und Antisemitismus zu behaupten, aber bemerkenswert ist der aktuelle Aufschwung dieser Kombination von Ressentiments, und dass beiden, Homosexuellen und Juden, von Seiten ihrer Gegner die Attribute antinationaler Transnationalität und Dekadenz zugeschrieben werden.

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Das EU-skeptische Lager der homophoben Rechten innerhalb der EU, die russische Regierung und die serbischen radikale Rechte meinen in der vermeintlichen Dominanz liberaler Kräfte in der EU den Niedergang des Abendlandes zu erkennen. Die Ablehnung von männlicher und weiblicher Homosexualität bei Konservativen und Rechtsradikalen hat weniger mit distinkten kulturellen Traditionen zu tun als mit dem dominanten gemeinsamen Profil von Angehörigen des rechten Lagers: Kulturübergreifend weisen Bevölkerungen einen Anteil auf, dessen homophobe Ansichten immer mit anderen typischen Merkmalen autoritärer Persönlichkeit zusammenfallen.71

F a zit Der Versuch, eine Grenze Europas an der Gesamtheit der vermeintlichen europäischen Werten und Ideen festzumachen, ist zum Scheitern verurteilt, da das Repertoire europäischer Ideen zu umfassend und zu widersprüchlich ist, um das Ziel einer normenbasierten distinkten Identität erreichen zu können. Das Abstecken von symbolischen Grenzen des ­Europäischen ist daher immer eine interessengeleitete Handlung, die sich in der Wahl spezifischer Quellen europäischer Werteordnungen und spezifischer Interpretationen dieser ausdrückt. Dabei sollte allerdings nicht angenommen werden, dass interessengeleitet gleichbedeutend mit einer nüchternen rationalen Abwägung zur Erreichung eines bestimmten Ziels ist. Ein wichtigerer Aspekt für das Verständnis h ­ omophober Ansichten und Gefühle ist die Persönlichkeit eines Individuums. Christliche psychologische Autoritäre und Konservative in Europa tendieren zu einer hohen Wertschätzung eines christlich-traditionellen Europabildes, einschließlich dessen homophober Forderungen. Die liberale Tendenz in Europa, die sich der Renaissance und der Auf klärung verpf lichtet fühlt, wird dabei meistens nicht vollständig ignoriert, sondern ihr wird lediglich ein geringerer Stellenwert für „das gute Leben“ eingeräumt. Der Umstand, dass es in Gesellschaften Menschen gibt, bei denen der (psychologische) Trait Autoritarismus stark ausgeprägt ist und andere, bei denen er schwach ausgeprägt ist, ist nicht kulturspezifisch, sondern universell. Kultur bestimmt jeweils nur die spezifische Ausprägung einer 71 | Robert Altemeyer, The Authoritarians, Winnipeg 2006.

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ethnozentrischen Tendenz, das heißt, welche spezifischen Traditionen als überdurchschnittlich wichtig empfunden werden und welche spezifischen Autoritäten die Maßstäbe für das normativ „Richtige“ festlegen. Im Fall der klerikalen serbischen radikalen Rechten sind diese Autoritäten rechtsradikale Teile der Serbisch-Orthodoxen Kirche sowie die militärischen „Helden“ der historischen Č etniks und insbesondere serbische Befehlshaber der j­ugoslawischen Sezessionskriege. Der extreme Mitglieder- und Wähler_innenschwund, den die SRS nach der Abspaltung der SNS erlitten hat – und der für die gesamte radikale Rechte ein erheblicher Rückschlag war – lässt sich derart interpretieren, dass die psychologisch ­konservativen Teile sich der neuen SNS zugewandt haben.72 ­Psychologische ­Konservative sind in der Lage, den Weisungen der Führung über neue normative Standards zu folgen. Wenn die von Konservativen anerkannte Führung dabei nicht zu radikal mit der überlieferten ­ undierung, Normenordnung bricht, etwa dessen christlich-orthodoxer F dann ist ein Wandel des Bewusstseins auch bei den Anhängern wahrscheinlich. Die Vernunft ist allerdings nicht abwesend bei Autoritären und Konservativen, sodass sich etwa der Pro-EU-Kurs auch r­ ational nachvollziehen lässt. Dennoch setzt die p ­ sychologische Struktur den Rahmen, innerhalb dessen die Vernunft wirken kann. Ein Überdenken der eigenen Haltung zur Homosexualität ist im Rahmen des Möglichen, wenn etablierte Autoritäten dies vorgeben. Der Wandel von einer aggressiven Unterstützung des homophoben Programms der radikalen Rechten ­ durch große Teile der Bevölkerung hin zu einem eher legalistischen Verhältnis zu dem Thema, sowie einer allgemeinen Zuwendung zu den liberaleren Teilen des europäischen Wertekanons sprechen für sich. Die Teile der radikalen Rechten, die nun in viele Splittergruppen unterteilt sind, und den alten homophoben Anti-EU-Kurs weiterverfolgen, müssen sehr wahrscheinlich dem Bevölkerungsteil mit einer klassischen autoritären psychischen Disposition im Sinne Karen Stenners zugerechnet werden.73 Diese sind zur Rebellion gegen Autoritäten, etwa die Regierung, in der Lage, solange ihr Verlangen nach einer homogenen Gesellschaft nicht befriedigt ist. Diese Rebellion gegen das „EU-hörige Establishment“, ver72 | Vgl. Karen Stenner, The Authoritarian Dynamic, Cambridge 2010. Nach Stenner sind Konservative hauptsächlich am Erhalt des Status Quo interessiert, während Autoritäre die Homogenität der Gesellschaft anstreben. 73 | Ebd.

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einigt nun die ideologisch gespaltene Minderheit von Klerikal-Faschisten. Sie befinden sich im Zustand extremer Marginalisierung und damit möglicherweise auch Radikalisierung. Gesamtgesellschaftlich lässt sich aber sagen, dass Serbien gegenwärtig (2015) wieder einen Schwenk zum nicht-traditionalistischen Lager europäischer Ideen und Werte gemacht hat. Dies ist nicht als eine Konversion des „balkanischen Außenseiters“ zum EU-Werte-Kosmos zu verstehen. Die aufklärerischen Teile des europäischen Erbes haben in Serbien trotz widriger Umstände stets bei etwa der Hälfte der Bevölkerung Bestand gehabt. Nun sind durch einen Kurswechsel der konservativen Eliten diese Werte lediglich bei einem weiteren Bevölkerungsteil aktiviert worden. Die Grenzen Europas, die durch eine Normenordnung definiert werden, bleiben stets umstritten, da es keine echte Grenze gibt. Die ­imaginäre „echte“ Grenze erscheint psychologischen Autoritären, Konservativen und Liberalen jeweils in unterschiedlicher Gestalt. Was in einer Gesellschaft schließlich dominiert, ist vorrangig eine Frage der Macht, diskursiver Macht, aber besonders auch politischer und charismatischer Macht. T ­ endieren Konservative auch dazu, an alten Vorstellungen festzuhalten, so sind sie normativ leicht regulierbare Meinungsträger, wenn die etablierten Autoritäten ihre Vorstellungen ändern. David Camerons öffentliche Inklusion der Homosexuellenrechte in den Wertekosmos der ­britischen Konservativen ist dafür ebenso ein Beispiel wie die entschiedene Hinwendung der SNS zur EU und deren Ansprüchen.

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Q uellen

und

L iter atur

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Über die Grenzen hinaus: Arbeit am EU-Gedächtnis „Atemschaukel“ (2009) von Herta Müller und „Der neunte Tag“ (2004) von Volker Schlöndorff Irina Gradinari

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Grenzen stehen in einer ebenso komplexen wie konstitutiven Wechselwirkung mit nationalen Identitäten. 1 Die Erweiterung der Europäischen ­Union nach Mittel- und Osteuropa in den Jahren 2004 und 2007 hat erneut Fragen zur Grenzpolitik und in diesem Zusammenhang nach supra-, trans- und nationalen Identitätsentwürfen aufgeworfen. Europa, dessen Selbstdefinition den Rahmen für politische Legitimation und künftige Entwicklungen geben sollte,2 ist „auf der Suche nach sich

1 | Vgl. z. B. Raimund Krämer, Zwischen Kooperation und Abgrenzung – Die Ostgrenzen der Europäischen Union, Potsdam 2005, S. 5-22. Die Wirkung der Grenzen ist sehr unterschiedlich. So können rigide Grenzen zu einer aktiven Kommunikation zwischen den Nachbarstaaten führen, offene Grenzen sind hingegen nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem stärkeren Austausch. 2 | Vgl. auch Achim Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa. Wege zu einer supranationalen Demokratie, Frankfurt am Main 2005. Thomas Meyer spricht von einer politischen Identität, die notwendig ist, um die Legitimation der EU-Handlung und die Solidarität der Bürger*innen herzustellen. Vgl. Thomas Meyer, „Europäische Identität“, in: Thomas Meyer, Christel Hartmann-Fritsch (Hg.), Europäische Identität: Innen- und Außensichten, Wiesbaden 2009, S. 15-30.

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selbst“3 . Zunächst ist jedoch festzustellen, dass Grenzen und ­Identitäten zu verschiedenen diskursiven Wissensregistern gehören, die sich gleichwohl an bestimmten Stellen überschneiden, einander legitimieren, aber nicht deckungsgleich miteinander sind. Territorial-topografische Grenz­ziehungsprozesse sind institutionell-staatliche, relativ stabile und dauerhafte Gebilde, die historischen und politischen Entwicklungen unterliegen. Über die Konstruiertheit und Willkür von Grenzen, die ­ nichtsdestotrotz Herrschaftsinstitutionen bleiben, 4 besteht jedoch heutzutage kein Zweifel mehr; die Grenzen innerhalb Europas haben sich im Kontext von Kriegen immer wieder verschoben, und nur wenige Staaten blieben davon unberührt. Identitäten im Allgemeinen gehören hingegen vorwiegend zu e­ inem symbolisch-imaginären Register im psychoanalytischen und medialen Sinne.5 Sie werden zwar auch institutionell und diskursiv geregelt und unterliegen einem historischen Wandel, zeichnen sich jedoch durch ihre Aktualität und Vielfalt aus, werden im Alltag verankert6 und als „echt“ empfunden, befinden sich stets in einer weiteren Ausdifferenzierung und strukturieren individuelles Begehren. Identitäten sind viel dynamischer und instabiler als Staatsgrenzen, und möglicher­weise sind es gerade die nationalen Grenzen, die ihnen überhaupt etwas ­Stabilität 3 | Werner Weidenfeld, „Reden über Europa – die Neubegründung des europäischen Integrationsprojekts“, in: Julian Nida-Rümelin, Werner Weidenfeld (Hg.), Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, Baden-Baden 2007, S. 11-28, hier S. 12. 4 | Henrice Altink, Chris Weedon, „Introduction“, in: Jane Aaron, Henrice Altink, Chris Weedon (Hg.), Gendering border studies, Cardiff 2010, S. 1-15, hier S. 2. 5 | In der Psychoanalyse Lacans sind das Symbolische (Sprache, soziale Ordnung, Gesetze) und das Imaginäre (vorsprachliche Bilder) zentrale Träger jeder Identität, die durch Friedrich Kittler später auf die Medien der automatisierten Schrift (Typewriter) und des Kinos bezogen wurden. 6 | Aus sozialwissenschaftlicher Sicht können das kollektive Gedächtnis, eine entsprechende Bildungsstrategie, eine gemeinsame Wehrpflicht und massenmediale Öffentlichkeit zur Herausbildung einer gemeinsamen EU-Identität beitragen. Vgl. Renate Seebauer, „Allgemeine Vorbemerkungen zum Begriff der ‚Identität‘“, in: Dies. (Hg.), Europa – Nachdenken und Vordenken. Regionale, nationale und europäische Identitäten. Persönlichkeiten im europäischen Bildungswesen, Wien 2007; T. Meyer, „Europäische Identität“.

Über die Grenzen hinaus: Arbeit am EU-Gedächtnis

verleihen. Diese Grenzen haben an sich – von der Bevölkerung der Grenzregionen abgesehen – für die meisten Bürger*innen keine wirkliche B ­ edeutung, sie e­rlangen ihre Relevanz schließlich erst durch ­symbolische ­Verdeutlichungen,7 narrative Plausibilisierungen und vor allem durch nationale Zuschreibungen und staatliche Selbstbilder. 8 Prozesse der Grenzziehung und -auf lösung haben daher eine Ref lexion über Identitäten zur Folge, umgekehrt sind jedoch Identitäten nicht allein auf Grenz­markierungen angewiesen, um zu bestehen. Identitäten sind viel größer und paradoxer, entstehen sie doch im Kontext intersektionaler ­Beziehungen. Das Verhältnis zwischen beiden besteht vor allem, so lässt sich vorab festhalten, in der Übersetzung abstrakter institutioneller Verwaltungsstrukturen in die Begehrensbilder und -narrative, die in einer historischen Situation eine politisch-identitäre Kohärenz sichern. Sie verleihen wiederum den aktuellen Grenzziehungsprozessen Sinn. Auf diese Weise fallen beispielsweise Landes- und Körpergrenzen zusammen – ein Verfahren, das in der Mythologie, Kartografie, Literatur und in Filmen verbreitet wird9 und für diese Analyse von Bedeutung ist. Beispielsweise können Grenzüberschreitungen durch die Penetration des (weiblichen) Körpers inszeniert werden, die wiederum zugleich die nationalspezifische Herrschaft über eine asymmetrische, hierarchische Genderordnung legitimiert. In Bezug auf die Grenzen Europas sind zwei Tendenzen zu beobachten, die sich teilweise konträr gegenüberstehen, sich aber auch gegenseitig verstärken. Innerhalb Europas virtualisieren sich im Zuge der Integrationsprozesse die Grenzen immer stärker – sie konstituieren sich nun vorwiegend im Symbolischen: in der Sprache, den n ­ ationalspezifischen Gesetzen, kulturellen Traditionen und der nationalen G ­ eschichte. Diese Auf lösung der territorialen Grenzen hat ­jedoch nicht zu einer integrativen supranationalen Identität geführt. Aus ­verschiedenen Gründen 7 | Vgl. Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt am Main 1993, S. 30. 8 | Vgl. Claudia Bruns, Karten, Körper, Kollektive. Europas Grenzdiskurse - Interrelationen zwischen Geschlecht, Raum, Religion und „Rasse“ in Kartographie, Mythos und europäischer Identität, Köln et al. 2020, S. 9 (im Erscheinen). 9 | Vgl. dazu auch Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellung von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985. Vgl. auch C. Bruns, Karten Körper, Kollektive, S. 32-36.

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wachsen das Abgrenzungsbedürfnis und der ­Nationalismus in den je­ egierungen in vielen der weiligen Mitgliedstaaten 10 – rechtsorientierte R EU-Länder gelten dafür als Symptom. Diese nationalistischen Tendenzen werden durch das Bestreben Europas, sich von Nicht-EU-Ländern abzugrenzen, verstärkt. Die EU hat somit nationale Prozesse und den territorialen Bezug voneinander abgespalten – die Topografie hat sich teilweise von der Topologie abgelöst. 11 In anderen Worten: Es gibt viele nationalspezifische topologische Ordnungen, die das Territorium der Europäischen Union aus der Perspektive des jeweiligen Landes beschreiben und nicht unbedingt als Ganzes erfassen. Die meisten nationalen Grenzen werden im Zuge dessen zugleich an die Außengrenze der EU verlagert. In nationalen Selbstbildern bildet sie den Ersatz für nationale Grenzen, 12 wobei kürzlich in einzelnen Staaten, z. B. in Dänemark, auch wieder die klassische Grenzkontrolle eingeführt wurde. Am Rande wird jedoch weiterhin einerseits eine undurchlässige, technisch und mit Waffen ausgerüstete Mauer angestrebt, 13 die sich andererseits zugleich nach Afrika und

10 | Z. B. die Beiträge in Günter Buchstab, Rudolf Uertz (Hg.), Nationale Identität im vereinten Europa, Freiburg i. Br. 2006. 11 | Zum Begriff vgl. Stephan Günzel, „Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen“, in: Jörg Döring, Tristan Thilmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2009, S. 219-238. Die Kurzdefinition heißt „Raum ohne Metrik“. In Anlehnung an Dünne verstehe ich Topografie als eine Tätigkeit, die „mediale Dispositive der Symbolisierung und Operationalisierung von Raum“ inkludiert. Vgl. Jörg Dünne, „Geschichten im Raum und Raumgeschichte, Topologie und Topographie: Wohin geht die Wende zum Raum?“, in: Albrecht Buschmann, Gesine Müller (Hg.), Dynamisierte Räume. Zur Theorie der Bewegung in den romanischen Kulturen, Potsdam 2008, S. 5-26, hier S. 18. Dazu auch Sigrid Weigel, „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“, in: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2,2 (2002), S. 151-165. 12 | Vgl. Bo Strath, „Karten – Repräsentationen Europas aus vier Jahrhunderten“, in: Rüdiger Hohls, Iris Schröder, Hannes Siegrist, (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, S. 237-243. 13 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Estela Schindel in diesem Band.

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nach Asien auszubreiten scheint. 14 Sie soll nicht einfach die EU-Grenzen markieren, sondern diese bereits im Vorfeld schützen 15 – nicht nur vor territorialen Nachbarn, sondern zunehmend auch vor Staaten des Nahen Ostens und des afrikanischen Kontinents. Beispielsweise wird versucht, Menschen auf der Flucht in Afrika und im Nahen Osten daran zu hindern, die Reise nach Europa überhaupt anzutreten. Die EU-Gemeinschaft bildet daher ein Spannungsfeld: Einerseits inkludiert sie nun Länder mit ganz unterschiedlichen Geschichten und national-politischen Selbstverständnissen aufgrund einer territorialen (und aus diesem Grund zufälligen) Nachbarschaft. Für das EU-Selbstbild spielt somit eine konkrete Geografie und Topografie im Sinne einer legitimierenden medialen und politischen Praxis eine besondere Rolle. Für die Gemeinschafts- und Identitätsbildung mangelt es jedoch gerade an identitätsstiftenden Diskursen, da die Sphäre des Symbolisch-Imaginären ­eigentlich im Dienste der nationalen binneneuropäischen Differenzierungen steht. Die gemeinsamen europäischen Prozesse und Entscheidungen bleiben für die meisten EU-Bürger*innen abstrakt. 16 Die EU-Gemeinschaft im Sinne von Benedict Anderson ist daher t­erritorial ­begrenzt, kann aber auf keine gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichte, gemeinsamen Traditionen und gemeinsame Rituale z­urückgreifen, ­ ­welche für nationale Gemeinschaften konstitutiv sind. 17 Die EU muss also an der Erschaffung der gemeinsamen symbolischen-imaginären Ordnung arbeiten, um als Gemeinschaft auf Dauer bestehen zu können. Ein 14 | Vgl. Luiza Bialasiewiecz, „Off-shoring and Out-sourcing the Borders of EUrope: Lybia and EU Border Work in the Mediterranean“, in: Geopolitics, 17:4, (2012), S. 843-866. 15 | Vgl. Henk van Houtum, Freerk Boedeltje, „Questioning the EU’s Neighbourhood Geo-Politics: Introduction to a Special Section“, in: Geopolitics, 16:1 (2011), S. 121-129. Die EU-Grenzen werden immer mehr im Dienste präventiver Sicherheit ausgebaut und verwaltet, die nun auch Nachbarländer als Teil dieses Border-Managements versteht. 16 | Vgl. R. Seebauer, „Allgemeine Vorbemerkungen zum Begriff der ‚Identität‘“, S. 7-12. In verschiedenen Umfragen zur EU-Identität, auf die die Autorin Bezug genommen hat, steht Europa in der Regel an letzter Stelle nach der nationalen, regionalen und sogar nach der Welt als Ganzes-Zugehörigkeit. 17 | Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main, New York 1996, S. 53, 68.

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­ emeinsames (Selbst-)Bild soll dabei auch das Verhältnis zwischen der g europäischen Topografie und der nationalen Topologie konsolidieren und der Außengrenze Europas eine Bedeutung geben. V ­ ielleicht sind die Prozesse der Vergemeinschaftung auch gar nicht mehr vermeidbar – sie sind Effekte ökonomischer, politischer und topografischer Grenzauf lösungen, die eine Revision nationaler identitärer Prozesse unumgänglich machen. Die Europäische Union arbeitet vor allem, so meine These, an der Erschaffung einer gemeinsamen europäischen Vergangenheit, 18 aus der supranationale EU-Identitäten der Gegenwart legitimiert werden könnten: „Man könnte sogar sagen, dass die Geschichte die wahre Substanz Europas ausmacht.“19 Das zeigt sich an einer Reihe von Initiativen, die auf eine Vergemeinschaftung der europäischen Vergangenheit zielen:20 Die europäische Übernahme des israelischen Holocaust Memorial Day, der den Tag der Auschwitz-Befreiung am 27. Januar ehrt, die Gründung des ENES („Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität“) 2005, die Etablierung der „Plattform für das Gedächtnis und Gewissen Europas“ 2011, die Inkraftsetzung der Gesetze gegen die Verleumdung des Holocaust und Genozide, Resolutionen zur Verurteilung diktatorischer kommunistischer Regimes sowie des Franco-Regimes.21 Der Beitritt der 18 | Die bundesdeutsche Erinnerungskultur wurde dabei als „exportfähig“ anerkannt, weil die BRD durch ihre Übernahme der Verantwortung für die Juden­ ermordung andere Kulturen in Bezug auf Genozide sensibilisierte. Nach der ironischen Aussage von Timothy Garton Ash hat die bundesdeutsche Erinnerungskultur eine „DIN-Norm“. Timothy Garton Ash, „Mesomnesie – Plädoyer für mittleres Erinnern“, in: Transit 22 (2002), S. 32-48. Vgl. auch Stefan Troebst, „Von Nikita Chruščev zu Sandra Kalniete: ‚1956‘ und Europas aktuelle Erinnerungskonflikte“, in: Ders., Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion: Ostmitteleuropa in Europa, Stuttgart 2013, S. 123-136, hier S. 135. 19 | W. Weidenfeld, „Reden über Europa“, S. 16. Dazu auch Jacques Le Goff, Die Geburt Europas im Mittelalter, München 2007. 20 | Vgl. Paulina Gulińska-Jurgiel, „Vergangenheitsaufarbeitung Made in Europe“, in: Zeitgeschichte-online, März 2012. http://www.zeitgeschichte-online.de/ kommentar/vergangenheitsaufarbeitung-made-europe (zuletzt aufgerufen am 17.04.2020). 21 | Katrin Hammerstein, Birgit Hofmann, „Europäische ‚Interventionen‘. Resolutionen und Initiativen zum Umgang mit diktatorischer Vergangenheit“, in: ­K atrin Hammerstein, Ulrich Mählert, Julie Trappe (Hg.), Aufarbeitung der Diktatur

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ostmitteleuropäischen Länder in die Europäische Union löste ebenfalls Debatten um Verfahren des Abgleiches der Vergangenheiten und generell über transnationale europäische Erinnerungen aus. Zu erwähnen ist das Drängen auf die Errichtung eines gemeinsamen europäischen Gedenktages für die Opfer des Stalinismus und des Nationalsozialismus. Erst nach drei Jahren der Kontroverse im EU-Parlament, der EU-Kommission und im EU-Rat wurde diesem Wunsch 2011 stattgegeben.22 Dieses Bestreben, der Opfer zu gedenken, ist ganz im Sinne Walter Benjamins, der einst in seiner Kritik am Historismus darauf hinwies, dass die Geschichte von Siegern in einer Art geschrieben wird, in der die Stimmen der Opfer der Diktaturen, der Gewalt und Verfolgung keinen Platz finden. Sie blitzen nach Benjamin „im Augenblick einer Gefahr“ auf und ermöglichen die von Siegern und Tätern geschriebene Historie gegen den Strich zu lesen.23 Allerdings müssen diese Stimmen zu supranationalen Identitätsangeboten verallgemeinert und unifiziert werden, wenn die EU im Gedenken an Katastrophen des 20. Jahrhunderts vereinigt werden und sich dadurch gegen die nationalen, heroischen und abgrenzenden Gedächtnisse zur Wehr setzen will: Nach Claus Leggewie sind Erinnerungen an die Opfer des Holocaust, des Stalinismus, des Genozids an den Armenier*innen, der Vertreibungen durch Kriege und der Errichtung neuer Grenzen sowie der Kolonialverbrechen zusammenzubringen, aber auch die westeuro­päische Erfolgsgeschichte nach 1945.24 Eine derart heterogene gemeinsame

– Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 189-203. 22 | Vgl. Stefan Troebst, „Der 23. August als euroatlantischer Gedenktag? Eine analytische Dokumentation“, in: Ders., Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion: Ostmitteleuropa in Europa, Stuttgart 2013, S. 85-110, hier S. 109; Stefan Troebst, Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerungskultur. Deutsch-polnische Initiativen zur Institutionalisierung seit 2002. Eine Dokumentation, Osnabrück 2006. 23 | Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: Ders., Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19, hg. v. Gérard Raulet, Frankfurt am Main 2010, S. 18. 24 | Vgl. Claus Leggewie, „Schlachtfeld Europas. Transnationale Erinnerungen und europäische Identität“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2 (2009), S. 81-93.

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Vergangenheit sei allerdings nicht in der Lage, eine einzige g­ emein­same und geschlossene Außengrenze Europas zu legitimieren.

E rinnerungsfigur

und - topos

Bei ihrer Suche nach einer europäischen Identität tendieren viele wissenschaftliche Arbeiten dazu, den Ursprung in der griechischen Antike zu setzen und der Europäischen Union ein Alter von 2.500 Jahren zuzusprechen.25 Die antike Agora gilt als Beginn der westlichen Demokratie, das Römische Reich entwickelte die erste effektive Bürokratie und die erste Rechtsordnung, das Christentum vereinigte im Mittelalter verschiedene Völker über Grenzen hinweg,26 die Epoche der Auf klärung brachte die Säkularisierung Europas usw.27 Solche historischen Stationen mögen je nach der Definition Europas zur gemeinsam europäischen Geschichte zählen, sie sind jedoch nicht erinnerungs- und identitätsfähig und können erst zum Bestandteil einer europäischen Identität der Gegenwart werden, nachdem sie in aktuelle Identitätsdiskurse integriert werden. Die aktuellen nationalen Identitäten Europas beziehen sich vor allem auf die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges bzw. liegen dessen nationale ­erinnerungspolitische Deutungen den staatlichen Legitimationsstrukturen zugrunde.28 Seit 1945 wurden in kein anderes historisches Ereignis so 25 | Eine differenzierte Kritik daran findet sich bei Claudia Bruns, Karten, Körper, Kollektive; C. Bruns, „Europas Grenzdiskurse seit der Antike – Interrelationen zwischen kartographischem Raum, mythologischer Figur und ‚europäischer‘ Identität“, in: Michael Gehler, Andreas Pudlat (Hg.), Grenzen in Europa, Hildesheim 2009, S. 17-64. 26 | Vgl. Hans-Joachim Seeler, Geschichte und Politik der Europäischen Integration, Baden-Baden 2008. Der Autor setzt den Anfang der EU im Mittelalter. 27 | Für eine kurze Zusammenfassung vgl. W. Weidenfeld, „Reden über Europa“, S. 11-28; auch Jürgen Kocka, „Europäische Identität als Befund, Entwurf und Handlungsgrundlage“, in: Julian Nida-Rümelin, Werner Weidenfeld (Hg.), Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, Baden-Baden 2007, S. 47-59. 28 | Vgl. z. B. Beate Binder, Peter Niedermüller, Wolfgang Kaschuba (Hg.), Inszenierungen des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2001; Renata Makarska, Basil

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viele wissenschaftliche, erinnerungspolitische, ästhetische und mediale Energien investiert wie in die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges. So können nationale Bilder und Identitäten dieses historischen Ereignisses vorerst kaum überboten werden. Seit etwa Mitte der 1990er Jahre wurden durch Änderungen der politischen Weltordnung in allen europäischen Staaten nationale Bilder des Zweiten Weltkrieges einer kritischen Revision unterzogen. Der Kriegsfilm, der in den meisten europäischen Staaten als ein wichtiges Identitätsmedium gilt, wird zunehmend in internationaler Zusammenarbeit produziert. Hier findet die erste gegenseitige Korrektur nationaler ­Erinnerungstopoi und -figuren statt, die etwa durch eine Liebesbeziehung zwischen ehemaligen Kriegskontrahenten ein Versöhnungsmotiv für das vereinigte Europa anbietet. Genuin menschliche (heterosexuelle) Gefühle überwinden die politischen, nationalen und kulturellen Grenzen – beispielsweise in Dresden (D 2006, Regie: Roland Suso Richter), ­Anonyma – Eine Frau in Berlin (D/PL 2008, Regie: Max Färberböck), L ­ aconia/The Sinking of the Laconia (D/UK 2011, Regie: Uwe Janson) oder 4 Tage im Mai (D/RUS/UKR 2011, Regie: Achim von Borries). Zentral für die Erschaffung einer Identität erscheinen dabei, so lässt sich diese Beobachtung theoretisch ausbauen, Erinnerungsfiguren und -topoi. Beide gehören zum symbolischen ebenso wie zum imaginären ­ Register, führen Vergangenheit und Gegenwart zusammen und sind an der Grenze zwischen Realität und Fiktion zu verorten. Die Erinnerungsfigur bietet eine mögliche Identität an, ist nicht frei von staatlich-institutionellen und historischen Entwicklungen, übersetzt diese jedoch in aktuelle Begehrensbilder und entsprechende ästhetische ­Wahrnehmungsformen, die dann identitätsstiftend werden können. Sie agiert vor allem an der Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart, transformiert die Geschichte in die Sprache der Gegenwart, gibt der Geschichte ein konkretes modernes oder gar bekanntes Gesicht und schließt so den historischen Identitätsentwurf an aktuelle politische Diskurse an. Die Erinnerungsfigur verdichtet also unterschiedliche Zeiten, wobei sie auch fiktionalisiert wird. Der Topos fungiert in einer freien Anlehnung Kerski (Hg.), Die Ukraine, Polen und Europa. Europäische Identität an der neuen EU-Ostgrenze, Osnabrück 2004; Helmut Altrichter (Hg.), GegenErinnerung: Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München 2006.

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an das ­Konzept der lieux de mémoire hingegen als eine Schaltstelle zwischen dem ­Symbolischen, dem Topografischen und dem Territorialen. Einerseits ist der Topos ein Gemeinplatz, eine tradierte Vorstellung, andererseits v­ erweist er auf einen Ort,29 an dem sich laut Pierre Nora das kollektive Gedächtnis verdichtet.30 Obwohl für den französischen Historiker vor allem die diskursiv-symbolische Kraft einer in der Regel immateriellen Entität von Bedeutung ist, liegt die Besonderheit eines Erinnerungstopos in seinem Übergangscharakter. Für das kollektive Gedächtnis spielen historische Orte – ob sie nun real existieren oder fiktiv sind – eine zentrale Rolle, um die Authentizität des Historischen zu produzieren. Der Topos gehört daher der Realität und der Fiktion zugleich an. Bei der Erschaffung ­einer neuen kollektiven Erinnerung werden bestehende reale Orte in einen Topos verwandelt, indem sie mit einer Semantik aufgeladen werden, die sowohl historisch nachweisbar ist als auch in der Gegenwart symbolisch wirksam werden kann. Literatur und Film als identitäre Leitmedien ­suchen somit einen Ort in Europa, auf den sich alle Bürger*innen beziehen können. Dieser Ort erscheint zugleich als historischer Herkunfts- und gegenwärtiger Handlungsort der Erinnerungsfigur, die diesen wiederum belebt und ihm eine erinnerungsfähige Bedeutung verleiht. Je nach Wahl der Erinnerungsfiguren und -topoi werden verschiedene Gemeinschaftskonzepte verhandelt, die offene oder geschlossene G ­ renzen legitimieren. 29 | Zur Differenzierung zwischen Raum und Ort vgl. Aleida Assmann, „Geschichte findet Stadt“, in: Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum: Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“, Bielefeld 2009, S. 13-27, hier S. 16. „Während Raum also eher zukunftsgerichtet und – mit den Worten Lefebres – Gegenstand von Instrumenten und Zielen, von Mitteln und Zwecken ist, sind Orte eher vergangenheitsgerichtet und haben eine Geschichte, die an ihnen haftet und weiterhin ablesbar ist.“ 30 | Vgl. Pierre Nora, „Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte“, in: Ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998, S. 11-42; Pierre Nora, „Wie läßt sich heute eine Geschichte Frankreichs schreiben?“, in: Ders. (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 15-23; Pierre Nora, „Das Zeitalter des Gedenkens“, in: Ders. (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 543-557; dazu kritisch vgl. Cornelia Siebeck, „Erinnerungsorte, Lieux de Mémoire, Version: 1.0“, in: Docupedia-Zeitgeschichte vom 02.03.2017, http://docupedia.de/zg/Siebeck_erinnerungsorte_v1_ de_2017 (zuletzt aufgerufen am 17.04.2020).

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Daher sind die Vergangenheitsbilder als Metapher der Gegenwart zu verstehen. Filme wie Dresden oder Anonyma – Eine Frau in Berlin stellen trotz all ihrer Bemühungen und der internationalen Zusammenarbeit deshalb keine europäische Identität her, weil sie zum ­einen genuin deutsche Orte als Handlungsschauplätze auswählen, die in anderen Ländern jeweils eine andere Bedeutung haben und dort in Bezug auf die eigene Identität in der Regel keine Relevanz erhalten. So können sich die anderen EUBürger*innen nicht mit ihnen identifizieren. Zum anderen bleiben sie im Rahmen der heterosexuellen Logik, die zwar im Dienste der Normalisierung in allen europäischen Erinnerungskulturen eingebürgert ist, allerdings zwischen den ehemaligen Kontrahenten eine hierarchische Beziehung herstellt und die Täter-Opfer-Rhetorik reproduziert. Heterosexuelle Weiblichkeit(en) und Männlichkeit(en) werden außerdem in der Literatur, der Kunst und im Kriegsfilm dafür eingesetzt, tradierte Nationalallegorien zu (re-)produzieren,31 die sich gerade durch den Ausschluss des Anderen konstituieren und geschlossene Grenzen propagieren. Vor diesem Hintergrund bedienen sich Herta Müller und Volker Schlöndorff einer anderen Logik, die die europäischen Grenzen im Inneren und nach Außen eröffnen. Zugleich sind solche Werke nur durch die Entstehung der Europäischen Union möglich geworden; sie wurden durch die Dringlichkeit der Suche nach einer gemeinsamen Identität bedingt.

N icht-V erortbarkeit

und

H ybridität

der

EU-I dentität

Herta Müllers Antwort auf die europäischen Debatten zur Erinnerung ist eine queere, ethnisch hybride Identität, die der binären Logik eine deutliche Absage erteilt, für diskursive Anschlüsse offenbleibt und nicht in den nationalen hegemonialen Selbstbildern aufgeht. Der Roman Atemschaukel (2009), der bereits in der 28. Auf lage erschienen ist, von dem eine halbe Millionen Exemplare verkauft wurden und der in 46 Sprachen

31 | Vgl. Sigrid Schade, Monika Wagner, Sigrid Weigel (Hg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln, Weimar, Wien 1994; Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln, Weimar, Wien 1996; ­C hristina von Braun, Versuch über den Schwindel: Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich, München 2001.

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übersetzt wurde,32 vereint die Erfahrung des Holocaust und des Stalinismus. Zugleich lässt sich die Erinnerungsfigur weder geschlechtlich noch national fixieren. Die rumäniendeutsche Hauptfigur ist von Anfang an am ‚falschen‘ Ort, also nicht an ihrem ‚Ursprungsort‘ Deutschland, und kommt dort auch nie hin. Nach ihrem Lageraufenthalt in der Ukraine siedelt sie nach Wien über. Da die EU-Identität um die Idee der geschlechtlichen und ethnischen Minorisierung aufgebaut wird, bleibt sie ganz im Sinne von Homi K. Bhabha im „Dazwischen“33 , von anderen abhängig und gegenüber der Staatsgewalt verletzbar. Herta Müller gestaltet eine neue transnationale Erinnerungsfigur an der Schnittstelle von Fiktion und Realität. Ihr Roman ist aus Gesprächen mit dem rumäniendeutschen Dichter Oskar Pastior, der als 17-Jähriger in ein sowjetisches Arbeitslager verschleppt wurde, und den Erinnerungen von Herta Müllers Mutter, die ebenfalls fünf Jahre in einem solchen Lager verbracht hat, entstanden.34 In ihrem Roman wird ‚vergessenes‘, reales Geschehen ‚erinnert‘, das unmittelbar mit den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges zusammenhängt, aber in keinem der nationalen Gedächtnisse auftauchen könnte. Die Rumäniendeutschen mussten die Schuld der rumänischen Kollaboration mit dem NS-Regime und zugleich die Schuld von NS-Deutschland büßen, ohne direkt an hegemonialen ­Diskursen beider Staaten teilnehmen zu können. Auch wenn sie zum Nationalsozialismus beigetragen haben, blieben sie immer eine ethnische Minorität außerhalb des mächtigen Kollektivs. Die Banater Deutschen wurden gegen Ende des Zweiten Weltkrieges für den Auf bau der UdSSR in ­A rbeitslagern für fünf Jahre interniert, während Rumänien ab 1944 zum Verbündeten der UdSSR wurde. Die einst durch das NS-Regime ausgelöste Gewalt ist mit 1945 nicht zu Ende, sodass die in allen nationalen kollektiven Gedächtnissen eingespeicherten Daten als Konstruktionen 32 | Vgl. Michael Braun, „Die Erfindung der Erinnerung. Herta Müllers Atemschaukel“, in: Gegenwartsliteratur: Ein germanistisches Jahrbuch 2011, S. 3353, hier S. 35. 33 | Homi K. Bhabha, „Einleitung. Verortungen der Kultur“, in: Ders., Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, Tübingen 2000, S. 1-28. 34 | Michael Braun, „Die Erfindung der Erinnerung“, S. 33. Herta Müllers Status als politische Exilantin legitimiert sie zum größten Teil als Autorin, die Zeugnisliteratur schreiben darf.

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entlarvt werden. Die Fokussierung der Minoritätsgruppe erschwert dabei die Unterscheidung von Tätern und Opfern: Rumäniendeutsche sind bei Herta Müller Täter und Opfer, zugleich aber gehen sie nie ganz in hegemonialen Nationalallegorien auf. Herta Müller verarbeitet diese Erfahrung in Atemschaukel mit Hilfe der Holocaust-Literatur: Schon der Titel stellt einen Bezug zu dem Roman Atempause (1963) des italienischen, jüdischen Auschwitz-Überlebenden Primo Levi her, der die Heimreise eines KZ-Überlebenden beschreibt.35 Laut Michael Braun referiert der Titel auch auf Goethes Vers aus dem Westöstlichen Divan, „Im Atemhohlen sind zweierlei Gnaden“36, auf ein von Kertèsz beschriebenes Folterinstrument, die Bogerschaukel, sowie auf Celans Gedichtsammlungen Atemkristall (1965) und Atemwende (1967).37 Der Weg ins stalinistische Lager verdichtet Referenzen auf den Roman eines Schicksallosen (1975) des ungarisch-jüdischen Schriftstellers und Shoah-Überlebenden Imre Kertész – etwa an jener Stelle, an der die Hauptfigur den Sinn der Deportation nicht versteht und sich auf die Reise freut. Einen weiteren Vorlagetext bildet Die große Reise (1963) des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún, der an der Seite des französischen Résistance und gegen die Franco-Diktatur in Spanien kämpfte und nach seiner Verhaftung im KZ Buchenwald interniert wurde. Sowohl die Passagen, die die Zugfahrt ins Lager beschreiben, als auch die Enttäuschung nach der Rückkehr aus dem Lager werden bei Müller zitiert. Die Unmöglichkeit, in Atemschaukel nach der Lagererfahrung ein normales Leben zu führen, ist laut dem Literaturwissenschaftler Norbert Otto Eke38 auch eine Referenz auf die Aussagen des österreichischen Widerstandskämpfers Jean Améry, der ebenfalls in verschiedenen Konzentrationslagern interniert war.39 35 | Auf Italienisch lautet der Titel „La tregua“ und bedeutet „Waffenstillstand“. 36 | Johann Wolfgang von Goethe, „Talismane“, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. v. Karl Richter et al., Bd. 11, 1,2: West-östlicher Divan, München 2006, S. 12. 37 | Vgl. Michael Braun, „Die Erfindung der Erinnerung“, S. 50. 38 | Vgl. Norbert Otto Eke, „‚Gelber Mais, keine Zeit‘. Herta Müllers Nach-Schrift ‚Atemschaukel‘. Roman“, in: Gegenwartsliteratur: Ein germanistisches Jahrbuch 2011, S. 54-74, hier S. 67. 39 | Vgl. Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1980.

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Die Hauptfigur verdichtet also erinnerungsästhetische Erfahrungen verschiedener Opfergruppen unterschiedlicher europäischer Länder, ­wodurch nationalspezifische Erinnerungen zusammengeführt werden. Nun können alle in der EU verorteten Leser*innen motivisch etwas Bekanntes in dem Roman erkennen. Herta Müller geht jedoch in ihrem integrativen Identitätsprojekt weiter nach Osten: Sie verbindet nicht ­ nur Mittel-, West- und Südeuropa, sondern auch Osteuropa, wodurch sie den neuralgischen Punkt der EU-Erinnerungsdebatten trifft. Dabei übernimmt sie einige Motive aus Im Angesicht der Todesengel Stalins40 von Angela Rohr (Pseudonym: Helene Golnipa), zum Beispiel das Motiv des Brottausches, die Metapher des Engels, das Erinnern von Rezepten usw. 41 Die aus Österreich stammende Ärztin kam 1941 gemeinsam mit ihrem Ehemann Wilhelm Rohr wegen angeblicher Spionagetätigkeit in ein stalinistisches Lager. Darüber hinaus gibt es zahlreiche gestalterische und ästhetische Referenzen auf Erzählungen aus Kolyma von Varlam Šalamov, die dieser nach seiner Rückkehr aus den stalinistischen Lagern zwischen 1954 und 1973 verfasste. Er verbrachte insgesamt 20 Jahre im Gulag, 17 davon auf der Kolyma. Die Autorin merkt bei ihrer Vorstellung von Atemschaukel auf der Krakauer Buchmesse im Jahr 2010 selbst an: „heute lese sie Schalamow.“42 Atemschaukel fusioniert die Erfahrung der ­Shoah-Überlebenden mit dem Stil von Šalamov und entwickelt so eine hybride sowie eine fragmentarische, episodische Struktur. Die Fragmentierung ist bei beiden Autor*innen der ästhetische Ausdruck der GewaltErfahrung, welche die Ganzheit und Autonomie der Figuren unterläuft. Die Sprache vermittelt die Entfernung von den bestehenden Subjektstrukturen sowie die Verdinglichung der Individuen. 43 40 | Vgl. Helene Golnipa, Im Angesicht der Todesengel Stalins, Berlin 1989. 41 | Vgl. Norbert Otto Eke, „‚Gelber Mais, keine Zeit‘“, S. 56. 42 | Schon in Rumänien seien die Werke Solženicyns und Klemperers zu ­H erta Müller gelangt, später habe sie Kertész und „alles von Semprún“ gelesen, heute lese sie hingegen Šalamow. Vgl. Gerhard Gnauck, „Chronistin des Totalitarismus. Polen verehrt Nobelpreisträgerin Herta Müller“, in: Berliner Morgenpost vom 10.11.2010. http://www.morgenpost.de/kultur/article104842491/ Polen-verehrt-Nobelpreistraegerin-Herta-Mueller.html (zuletzt aufgerufen am 17.04.2020). 43 | Vgl. Norbert Otto Eke, „‚Gelber Mais, keine Zeit‘“, S. 56; nach Eke referiert Müller auf Erzählungen wie „Durch den Schnee“, „Linkes Ufer“ und „Künstler der

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Herta Müller holt mit ihrer Ref lexion von Internierung und Zwangsarbeit ethnischer Deutscher in stalinistischen Arbeitslagern den Stalinismus als eine kritische Erinnerung nach Europa. Das sowjetische Lagersystem umspannte das ganze Land wie ein Netz, als kritisches Sinnbild des Stalinismus etablierte sich jedoch Kolyma, ein Gebiet im Permafrost im Nordosten Sibiriens, das mit seinen harten klimatischen Bedingungen für die Härte und Grausamkeit des stalinistischen Staates steht. B ­ ereits in den 1960er Jahren wird der Gulag als „Auschwitz ohne Öfen“44 bezeichnet. Dieses Bild verortet allerdings das Repressionssystem an der Peripherie des Landes, weit weg von den kulturellen Zentren Russlands und weit weg von Europa. Mit der Ansiedlung der Handlung im Donezk-Gebiet in der Ostukraine weist Herta Müller auf die nicht aufgearbeiteten historischen Ereignisse der UdSSR hin und bringt die Erinnerung ­zugleich an die Grenze Europas. Es ist symptomatisch, dass sie gemeinsam mit Oscar Pastior die ehemaligen Lager in der Ostukraine besuchte und damit deutlich machte, dass der Erinnerungstopos eine reale Dimension besitzt. Mit ihrer Erinnerungsfigur lenkt sie die Aufmerksamkeit zudem auf die Rolle der Gender-Kategorie in der Zeugnisliteratur und aktualisiert diese, indem sie sie mit den Traditionen der kritischen und avantgardistischen deutschen Frauenliteratur in Verbindung bringt. 45 Die Autorin spielt am Anfang des Romans mit der Erwartung der Lesenden, wenn das Ich zunächst nicht benannt wird. Aus der etablierten Rezeptionshaltung gegenüber der Zeugnisliteratur erwarten wir, dass das erzählerische Ich in Übereistimmung mit der Autorin eine Frauenfigur ist, zumal die Schaufel“. Zur Verdinglichung bei Herta Müller vgl. Anja K. Meier, „‚Gegenstände, wo die Haut zu Ende ist‘. Dinge und Körper in Herta Müllers Prosa“, in: Philip Bracher, Florian Hertweck, Stefan Schröder (Hg.), Materialität auf Reisen: zur kulturellen Transformation der Dinge, Berlin 2006, 175-198; Helgard Mahrdt, Sissel Lægraid (Hg.), Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller, Würzburg 2013. Zur Problematik der Stalinismusaufarbeitung vgl. Osteuropa 57. Jg., 6 (2007) und Karoline Thaidigsmann, Lagererfahrung und Identität. Literarische Spiegelungen sowjetischer Lagerhaft in Texten von Valram Šalamov, Lev Konson, Naum Nim und Andrej Sinjavskij, Heidelberg 2009. 44 | Franziska Thun-Hohenstein, „Poetik der Unerbittlichkeit. Varlam Šalamov: Leben und Werk“, in: Osteuropa 57. Jg., 6 (2007), 35-45, hier S. 42. 45 | Dazu gehören beispielweise Ingeborg Bachmann, Gisela Elsner, Marlen Haushofer, Elfriede Jelinek, Marieluise Fleißer und Marlene Streeruwitz.

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Figur zu Beginn von ihren Treffen mit Männern spricht. Erst im Nach­ hinein wird deutlich, dass es sich bei der Hauptfigur um einen schwulen Mann handelt: Seine Identität wird auf Seite 43 offengelegt. Es liegt hier die Strategie einer narrativen Dezentrierung und gleichzeitig einer Öffnung identitärer Diskurse vor, da die heterosexuelle Männlichkeit in der Regel mit der Norm assoziiert wird und den Körper als eine geschlossene Einheit konstituiert. Herta Müller erzählt hingegen von einer schwulen Identität, die in der Gegenwart von anderen Ländern außerhalb der EU – allerdings in diffamierender Weise – als europäisch identifiziert wird. 46 Indem Homosexualität für jegliche Art der Minorisierung als repräsentativ gesetzt wird, wertet der Roman diese Identität jedoch wieder auf. Die Kritik an der Staatsgewalt fußt nicht auf einer Normalisierung der Opfer (Heterosexualität, Gründung einer Familie), sondern gerade auf der Betonung ihrer existenziellen Verletzbarkeit, wodurch Müller die Erinnerungsfiguren von nationalen Diskursen getrennt hält. Die Erinnerungsfigur kann dadurch auch nicht zur Allegorie werden: Sie bleibt ein Symbol der existentiellen Verwundbarkeit und kann nicht mit Staatssymbolen oder der Macht assoziiert werden. Darüber hinaus repräsentiert diese Figur einen modernen Identitätsentwurf, welcher der europäischen Gegenwart entspricht: Deplatzierung, Mobilisierung, Dynamisierung und Vermischung von verschiedenen identitären Kontexten. Die Entziehung einer eindeutigen ethnischen und geschlechtlichen Identität und die Etablierung östlicher Erinnerungstopoi subvertiert mithin die der Heterosexualität implizite Hierarchie und deutet den Körper als offen und verletzbar: Die EU-Identität kann keine festen Grenzen haben, da sie von anderen abhängig und zugleich selbst nicht lokalisierbar ist.

Z entrierung

der

EU-I dentität

Anders geht Volker Schlöndorff in seinem EU-Versöhnungswerk Der neunte Tag (2004) mit der EU-Identität um. In Luxemburg wurde der deutsche Film über den luxemburgischen Widerstand der Bevölkerung als Abbitte gelesen, die zugleich einen Appell für das gesamte Europa der Gegenwart darstellt. In einem Hochglanzbuch zum Film deutet der damalige luxemburgische Premierminister und heutige Präsident der 46 | Vgl. dazu den Beitrag von Björn Goldstein in diesem Sammelband.

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EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, das Werk empathisch als Warnung: „nie wieder! Europa!“47 Der Film bietet durch eine starke Identifizierungsstrategie eine Lesart an, die die kollektiven Erinnerungen des winzigen Herzogtums Luxemburg als Grundlage der supranationalen EU-Identität zu akzeptieren und den Ursprung der EU topografisch und symbolisch im Zentrum Europas – im heutigen Luxemburg – zu verorten ermöglicht. Im Film sind zahlreiche reale Orte der Stadt Luxemburg zu sehen: die Adolphe-Brücke, der beliebte Aussichtspunkt Place de la Constitution, die Cathédrale Notre-Dame de Luxembourg, die Villa Pauly und der Liebfrauenfriedhof im Zentrum der Stadt. Diese Orte werden durch die Erinnerungsfigur im Film zu Topoi des Widerstands semantisiert. Zugleich sind es reale Orte Luxemburgs, die nun europäische Bekanntheit erlangen und für die meisten EU-Bürger*innen außerhalb des eigenen Staates liegen. Die Legitimation dieses Erinnerungstopos geschieht durch ­Verweis auf die Tatsache, dass auch kleine Nationen eine Beachtung in der ­gemeinsamen europäischen Erinnerung finden. Zur Erinnerungsfigur wird Abbé Henri Kremer (Ulrich Mathes), der als Dachau-Häftling für neun Tage Heimaturlaub bekommt, jedoch freiwillig in das Konzentrationslager zurückkehrt, um die eigene Familie und andere Häftlinge des Pfarrerblocks nicht in Gefahr zu bringen. Es handelt sich um eine freie Verfilmung der Tagebücher des katholischen luxemburgischen Priesters Jean Bernard, 48 der vom 6. Januar 1941 bis zum 5. August 1942 in Dachau inhaftiert war und seine Erinnerungen bereits 1945 im Luxemburger Wort publizierte. 49 Um die biografisch-fiktive Erinnerungsfigur zu internatio­ nalisieren, wird eine historische Person nicht nur europaweit bekannt 47 | Jürgen Haase, Léon Zeches (Hg.), „Der neunte Tag“. Pfarrerblock 25487. Das Buch zum Film des Oscar-Preisträgers Volker Schlöndorff, Luxemburg 2004, S. 9. 48 | Jean Bernard, Pfarrerblock 25487. Dachau 1941-42, Luxemburg 2004. 49 | Jósef Niewiadomski, „‚Mysterium fascinosum‘ inmitten von ‚mysterium tremendum‘. ‚Der neunte Tag‘ und die transformierende Kraft der Eucharistie“, in: Dietmar Regensburger, Gerhard Larcher (Hg.), Politik – Religion – Gewalt im Spiegel des Films, Marburg 2009, S. 149-171, hier S. 149; vgl. auch Reinhold Zwick, „Fiktion und/oder Authentizität? Ein Zwischenruf zu Volker Schlöndorffs ‚Der neunte Tag‘“, in: Dietmar Regensburger, Gerhard Larcher (Hg.), Politik – Religion – Gewalt im Spiegel des Films, Marburg 2009, S. 172-181. Zwick kritisiert

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gemacht, sondern durch die christlichen Referenzen auch universalisiert. Als katholischer Priester wird Henri Kremer im Film außerdem als asexuelle Figur gezeichnet, wodurch seine geschlechtliche Zugehörigkeit keine Rolle mehr spielt: So wird beispielsweise sein Körper die meiste Zeit über mit der schwarzen Sutane bedeckt. Gegen Ende des Films wird er vermehrt in Großaufnahme gezeigt, was seine Körperlichkeit aus dem Bild vertreibt und zur Allegorisierung der Figur zu einer staatlichen Idee verhilft (Abb. 1). Diese Allegorisierung unterstützt das Mise-en-Scène, das die Figur durch den Himmel im Hintergrund erhaben erscheinen lässt und sie in diesem Moment aus dem historischen Kontext herausnimmt. Der Film zeigt das Ringen zweier Ideen50 des vereinigten Europas: der gewaltsamen nationalsozialistischen Eroberungsidee und einer friedlichen christlichen Idee der Selbstaufopferung und Hilfsbereitschaft, ­wodurch der Film den Ursprung der EU im Zweiten Weltkrieg verortet. Für die Nazi-Visionen steht der Untersturmführer Gebhardt (August Diehl), selbst ein katholischer Diakon, der jedoch aufgrund seiner Faszination für die Nazi-Ideologie die Kirche verlassen hat und der Gestapo beigetreten ist. Für das neue Nachkriegs- und somit Gegenwartseuropa hingegen steht Henri Kremer, der zu Hause in Luxemburg eine Entwicklung durchlebt, an deren Ende er die Angst vor den Nazis überwunden hat. In seiner geistigen Läuterung wird er zu einer Jesus-Figur stilisiert, womit er eher eine universelle Idee der Selbstaufopferung darstellt. So geht er zu Beginn des Films beispielsweise davon aus, dass er bald am Kreuz sterben wird. An einer anderen Stelle wird er von seiner Schwester als Engel bezeichnet. Zu Hause wäscht ihm seine Schwester Marie (Bibiana Beglau) die Füße, wie es die Sünderin Maria Magdalena in der Bibel tut. Die Eucharistie als heilige Kommunion und Vereinigung findet im Film zweimal statt – in beiden Fällen im Konzentrationslager – und umrahmt zudem die Filmhandlung: Mit der Eucharistie beginnt und ­endet der Film. Zu Beginn ist die Rolle dieses Rituals noch unklar, obwohl der allerdings die Verfilmung aufgrund der Abweichung des Films von den biografischen Notizen des luxemburgischen Pfarrers. 50 | Ausführlicher zur Duellsituation zwischen beiden Parteien vgl. Karsten ­V isarius, „Der Wunsch des Täters nach der Tat. Volker Schlöndorffs ‚Der neunte Tag‘“, in: Margrit Frölich, Christian Schneider, Karsten Visarius (Hg.), Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus im Film, München 2007, S. 245-259.

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christliche Kontext hervorgehoben wird. Am Ende kommen Häftlinge aus allen Ländern freiwillig zu Abbé Kremer und nicht mehr im Kontext eines christlichen Rituals, wodurch das Bild des künftigen Europas geschaffen wird. Um den luxemburgischen Priester als Idee der Selbstaufopferung versammeln sich alle internationalen Pfarrer, die nun Essen wie Leid miteinander teilen. Gebhardt will den Abbé dazu benutzen, den Luxemburger Bischof Philippe (Hilmar Thate) auf die Seite NS-Deutschlands wechseln zu lassen. Der Bischof verweigert jedoch den Kontakt, und durch das tägliche Glockenläuten wird den Bürger*innen eine Hoffnung auf Befreiung ­gegeben. Außerdem versteht der katholische Abbé, dass der Untersturmführer eigentlich selbst über die Verbrechen der Nazis erschrocken ist und von den Opfern Absolution erhofft, was ihm Kremer jedoch verweigert. In der Gegenüberstellung beider Europaprojekte spielt sich auch die Versuchung Jesus in der Wüste ab.51 Dem Priester werden wiederholt Freiheit und Vergünstigungen versprochen. Auch Judas Verratsgeschichte bildet eine Folie für die Handlung: Ist der Verrat ein Bestandteil des göttlichen oder des teuf lischen Handwerks? Schlöndorff gestaltet den Konf likt aber vor allem als persönliches Drama, das sich von dem rein religiösen und biblischen Kontext löst und an aktuelle liberale Verhältnisse anpasst: Das Individuum soll letztendlich selbst entscheiden, ob es sich von politischen Visionen oder seinem Gewissen leiten lässt.

51 | Davon spricht der Regisseur selbst in einem Interview, das im Making-of zu sehen und im Buch zum Film nachzulesen ist. Claude François, „‚Märtyrer müssen nicht unbedingt Fanatiker sein.‘ Interview mit dem Regisseur Volker Schlöndorff im ‚Luxemburger Wort‘“, in: Jürgen Haase, Léon Zeches (Hg.), „Der neunte Tag“. Pfarrerblock 25487. Das Buch zum Film des Oscar-Preisträgers Volker Schlöndorff, Luxemburg 2004, S. 98-105, hier S. 100.

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„Der neunte Tag“. Abbé wird nun bildlich zur Allegorie des friedlichen Europas angehoben.

Die christliche Religion fungiert somit eher als eine historische Vorlage für die EU-Identität, die im Laufe der Handlung, genau wie der nationale Kontext, aufgelöst wird. Die verstorbene Mutter von Henri Kremer, die nur auf einem Foto zu sehen ist, scheint die Nationalallegorie zu sein, die nun begraben ist. Die Religion eröffnet als Werk des geistigen Vaters jene Dimension, die die Völker durch das Gewissen und im Akt der Selbstaufopferung vereint. Der luxemburgische Abbé wird im Gegensatz zu Herta Müllers Erinnerungsfigur, die jeglicher Allegorisierung Widerstand leistet, zu einer europäischen Allegorie (Abb. 1), die sich vor allem durch Selbstaufopferung und Barmherzigkeit auszeichnet. Die festen Grenzen gehören dabei dem NS-Europa und daher der Vergangenheit an, nicht aber dem neuen Europa, das alle Völker im freien Zusammenschluss vereinigt und für alle Hilfesuchenden offen ist.

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Q uellen

und

L iter atur

Filmverzeichnis Volker Schlöndorff, Der neunte Tag, D/LUX/CZE (2004)

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Das biopolitische Schisma Materielle und symbolische Abgrenzungen entlang der EU-Grenzen Estela Schindel 1 Im Juni 2016 führte die Künstlergruppe „Zentrum für politische ­Schönheit“ (ZfS) eine Aktion durch, mit der die Aufmerksamkeit auf das anhaltende Sterben von Menschen im Mittelmeer gelenkt werden sollte. Die Aktion suggerierte eine Analogie zwischen dem dieses Sterben zulassenden – und mithin darüber entscheidenden – Handeln europäischer und insbesondere deutscher Politiker*innen und der Bewegung des Daumens, mit der römische Kaiser das Schicksal derer besiegelten, die lebendig den Löwen vorgeworfen werden sollten. Die Aktion erntete zurecht Kritik, unter anderem für die durch sie verstärkte Spektakularisierung der EU-Grenzen und die geschmacklose Idee, Gef lüchtete dazu einzuladen, sich freiwillig als Beute wilder Tiger anzubieten, die in einem Käfig in Berlin-Mitte gehalten wurden. Von diesen problematischen Aspekten einmal abgesehen, gelang es der Aktion jedoch, eine Frage hervorzuheben, die in der komplexen Thematik von Migration, Flucht und Asyl in Europa immer wiederkehrt: Warum können Gef lüchtete eigentlich nicht einfach per Flugzeug nach Europa kommen? Die vermeintliche Naivität dieser Frage – die ein Plakat des ZfS auch tatsächlich einem Kind an der Hand seiner Mutter in den Mund legt – vermittelt ein radikales Paradox im Europa des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts: die Gleichzeitigkeit der Existenz von Flugzeugen und anderen Transporttechno­logien und des massenhaften Sterbens von Personen, sei es durch Ertrinken oder durch andere Formen der Auslieferung an die Elemente.

1 | Dieser Aufsatz wurde aus dem Englischen übersetzt von Nicolas Schneider.

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Dass es ausgerechnet die hochentwickelten Methoden der Grenzüberwachung und -kontrolle sind, die die unerwünschten Migrierenden und Gef lüchteten in Zonen drängt, in denen sie diesen Umweltrisiken ausgesetzt sind, mag zuerst einmal paradox erscheinen. Dies ist jedoch konsistent mit der gleichzeitigen Verdrängung unerwünschter nicht-europäischer Reisender ins Reich der Natur, die sich im kollektiven Imaginären vollzieht.2 Der zentralen These dieses Artikels zufolge werden die europäischen Grenzen materiell und symbolisch als Abgrenzungen zwischen zivilisierten Gebieten technologischer Überlegenheit und Zonen der Auslieferung an die Elemente konstruiert. Dies geschieht in Kontinuität und Kontiguität mit unserer Auffassung von Natur und „reinigt“3 Europa als technologisch überlegenen Kontinent. Dieses Verfahren unterstellt und reproduziert damit eine zutiefst rassifizierte Konstruktion der nicht-­ europäischen „Anderen“, während es die globalen Entwicklungen, die die irregulären Grenzübertritte überhaupt erst verursachen, enthistorisiert und entpolitisiert. Eine symbolische Abgrenzung, die mit den geopolitischen Grenzen sowohl verschränkt als auch überlappend ist, schafft die nicht-europäischen „Anderen“ als in Kontiguität mit dem, was als „Natur“ konstruiert wird. Dieses Verfahren, das unerwünschte Reisende politisch auf ihr bloßes Dasein reduziert, was auch als „nacktes Leben“ bezeichnet werden kann (eine biologische Existenz, die ihres legalen und politischen Status beraubt ist), wird durch Technologien und Diskurse verstärkt, die grenzübertretende Menschen unterschiedlich definieren: entweder als individualisierte Bürger*innen oder aber als vage und bedrohliche, organische Anwesenheit. Im Ergebnis werden an den europäischen Grenzen bestimmte Subjektivitäten ermöglicht, gefördert und produziert, aber auch bestritten und angefochten, während die Grenzkonf likte in ein vorgeblich neutrales, „Natur“-ähnliches Terrain verdrängt werden. Dieser Artikel ist im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts über das EU-Grenzregime entstanden. Er fokussiert insbesondere auf die Praktiken und Hilfsmittel, die bei Grenzüberquerungen genutzt werden. Wer geht wie über die geographische Grenze? Welches Wissen, welche 2 | Zum Begriff des „Imaginären“ vgl. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt am Main 1990 und Harald Wolf (Hg.), Das Imaginäre im Sozialen: Zur Sozialtheorie von Cornelius Castoriadis, Göttingen 2012. 3 | Siehe dazu Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2008.

Das biopolitische Schisma

Techniken und Diskurse werden sowohl bei der Überquerung als auch in der Politik der Grenzüberwachung und -kontrolle mobilisiert? Welche Konstruktionen von Alterität und welche Schwellen in der Definition vom menschlichen Leben stehen letztendlich auf Spiel?4

K ultur , N atur

und die biopolitische

G renze

Über ihren politischen und institutionellen Charakter hinaus lassen sich Grenzen als Räume betrachten, in denen nicht lediglich eine materielle Grenze zwischen geopolitischen Einheiten realisiert wird, sondern auch symbolische und kulturelle Abgrenzungen entlang westlicher Unter­ stellungen in Bezug auf Natur und Kultur gezogen und angefochten ­werden. Grenzen werden gewöhnlich mit dem souveränen Staat assoziiert und stecken nationale Identitäten von Individuen ab, indem sie sie auf Staatsbürgerschaft und Nationalität festlegen. Ein Großteil der traditionellen Wissenschaft folgt diesem sogenannten Westfälischen Konzept des Staates, der auf sein Territorium beschränkt und mit Grenzen ausgestattet ist, die den Einen eindeutig von dem Anderen trennen und jedem einen eigenen, spezifischen Bereich der Souveränität, des Territoriums

4 | Für den Fall der Seegrenzen habe ich mikrosoziologische Beobachtungen, semi-strukturierte Interviews und spontane Gespräche während vier ­Forschungsaufenthalten im griechisch-türkischen Seegrenzraum durchgeführt (auf den griechischen Inseln Lesbos 2013 und 2014, Chios und Samos 2015, Kos und Leros 2016 sowie auf der gegenüberliegenden türkischen Küste um Ayvalik 2014 und Bodrum 2016). Die Ansprechpartner*innen waren Mitglieder von Frontex, der Hellenic Coast Guard, im Feld tätige internationale und Nichtregierungs­­organisationen, Gruppen von Freiwilligen und Aktivist*innen sowie Politiker*innen, Journalist*innen, lokale Einwohner*innen und Menschen auf der Flucht. Einige Gespräche waren im Voraus vereinbart und andere sind vor Ort durch Kontakte oder spontan entstanden. Beobachtungen habe ich vor allem auf Booten und in Häfen, lokalen Ämtern, Internierungszentren für Menschen auf der Flucht und Büros von NGOs sowie an den Küsten der von den illegalisierten Grenzüberquerungen betroffenen Gegenden durchgeführt.

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und der Jurisdiktion zuweisen.5 Debatten zwischen Autor*innen, die die ­Bedeutung von Grenzen im Zeitalter der Globalisierung bestreiten – vielmehr ihr Verschwinden postulieren – und denjenigen, die die Stärkung des Territorialitätsprinzips und der Versicherheitlichung hervorheben, sind allmählich der Anerkennung des sich stetig verändernden Charakters von Grenzen gewichen. Grenzen werden zunehmend nicht nur als festgelegte Territorien demarkierende, physische Bereiche betrachtet, sondern als komplexe politische, soziale und diskursive Konstruktionen, die es nicht als Objekte, sondern vielmehr als permanent sozial produziert zu behandeln gilt.6 Eine signifikante Verschiebung in den Border Studies und Borderland Studies im Verlauf der letzten zwanzig Jahre unterstreicht die Prozessualität von Grenzen. Begriffe wie borderland, (re)bordering, borderscape oder borderwork sind vorgeschlagen worden, um die ­Umstrukturierung und Verlagerung von Grenzen in unserer Zeit zu erfassen.7 Anstatt sie als statische Trennlinien an den äußeren Begren­ zungen eines Territoriums zu betrachten, gehen Autor*innen zunehmend zur Artikulation von Grenzen als mobile, zeitliche und veränderliche Prozesse über. Sie betrachten sie nicht länger als festgelegte „Fakten“, ­sondern als instabile Konstruktionen, die in Alltagspraktiken eingebettet, geographisch verlagert und stetig umkämpft sind. 8 Grenzen werden also 5 | Siehe Malcolm Anderson, Frontiers. Territory and State Formation in the Modern World, Cambridge 1996; J. R. V. Prescott, Political Frontiers and ­B oundaries, London 1987. 6 | Siehe Corey Johnson et al., „Interventions on rethinking ‚the border‘ in border studies”, in: Political Geography 30(2) (2011), S. 61-69. 7 | Siehe Gloria Anzaldúa, Borderlands/La Frontera, The New Mestiza, San Francisco 1987; Étienne Balibar, „Europe as Borderland“, in: Environment and Planning D: Society and Space 27(2) (2009), S. 190-215; Chiara Brambilla, „Exploring the Critical Potential of the Borderscapes Concept“, in: Geopolitics 20(1) (2014), S. 14-34; Henk Van Houtum und Ton Van Naerssen, „Bordering, Ordering and Othering“, in: Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 93(2) (2002), S. 125-136; Chris Rumford, „Introduction: Citizen and Borderwork in Europe“, in: Space and Polity 12(1) (2008), S. 1-12. 8 | Siehe Mark Salter, „To Make Move and Let Stop: Mobility and the A­ ssemblage of Circulation“, in: Mobilities 8(1) (2013), S. 7-19; Noel Parker et al., „Lines in the sand? Towards an Agenda for Critical Border Studies“, in: Geopolitics 14(3) (2009), S. 582–587.

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nicht mehr als verschwindend oder verstärkt, sondern als immer wieder neu behauptet verstanden. Sie stellen damit einen weitaus selektiveren ­bordering und de-bordering Prozess dar, der, teilweise von geopolitischen Grenzen losgelöst, diskontinuierlich und ubiquitär ist und somit Vorstellungen von Souveränität und Territorium destabilisiert.9 Das Bild der Festung oder der Mauer ist daher irreführend, auch wenn nach wie vor Absperrungen und Barrieren eingesetzt werden: Grenzen sind vielmehr Instrumente der Selektion und Filterung und erfordern dementsprechend eine komplexere und dynamischere Sprache. 10 Sandro Mezzadra und Brett Neilson fassen Grenzen dementsprechend als Konf liktfelder auf, als Orte von Grenzkonf likten, die wiederum von anderen Konf likten und mobilen Machtbeziehungen durchzogen sind, welche heterogene Prozesse differentieller Inklusion durcharbeiten. Die Autoren betonen die Heterogenität, Multiplizität und Proliferation von Grenzen in der heutigen Welt. Sie unterstreichen, dass Grenzen als Schlüsselorte der Auseinandersetzung und als Arenen der Produktion von Subjektivität gedacht werden müssen. Der vorliegende Text möchte zu dieser Ref lexion bei­ tragen, indem er die Produktion und ihre Anfechtung entlang der Trennlinie „Kultur/Natur“ in zwei verschiedenen Szenarien betrachtet. Er geht der Frage nach, ob und inwiefern die eurozentrische Unterstellung, die zwischen den westlichen „modernen“ und allen anderen als „anthropologischen“ Kulturen 11 unterscheidet, nach wie vor aktiv ist und Politiken, Diskursen und Praktiken zugrunde liegt, die im Namen der Euro­päischen Union umgesetzt werden – und damit den „Grenzkonf likt“ („border struggles“) auf biologisiertes Terrain verdrängt. Einige Autor*innen ­haben auf einen Wandel des Analysehorizonts in den Border Studies von einem geopolitischen zu einem biopolitischen hingewiesen, der sich auf eine „generalisierte biopolitische Grenze“12 oder eine „humanitäre 9 | Siehe Étienne Balibar, Politics and the Other Scene, London and New York 2002; Didier Bigo, „When Two Become One: Internal and External Securitisations in Europe“, in: Morten Kelstrup, Michael C. Williams (Hg.), International Relations Theory and the Politics of European Integration, London 2000. 10 | Siehe Sandro Mezzadra, Brett Neilson, Border as Method, or the Multiplication of Labor, Durham 2013. 11 | Vgl. B. Latour, Wir sind nie modern gewesen, 2008. 12 | Nick Vaughan-Williams, Border Politics. The Limits of Sovereign Power, Edinburgh 2012.

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Grenze“13 bezieht. Einige Arbeiten haben sich damit auseinandergesetzt, wie die Geographie genutzt wird, um die Zuf lucht an bestimmte Orte – beispielsweise Inseln – zu verhindern und zu untergraben. Alison Mountz14 bezeichnet diese Einbeziehung geographischer Aspekte in ­Abschreckungspolitiken als „neo-refoulement“. Eine adäquate K ­ onzep‑ tualisierung der komplexen Methoden, in denen biologische, ­geographische und ökologische Faktoren, die hier als „Natur“ erfasst werden, mit dem Grenzregime der EU verf lochten sind und darin eine produktive Rolle in der Bestimmung der Grenzkonf likte spielen, steht indes noch aus. In welchem Ausmaß sind geographische, topographische, ozeFaktoren Teil der anographische, meteorologische und physiologische ­ Kalkulation von Strategien zur Grenzüberwachung und -­kontrolle? Wie formen und überwinden Migrationsrouten diese Faktoren, und wie widerstehen sie ihnen? Welche logistischen Ressourcen und Kenntnisse sind in diesen Grenzkonf likten involviert? Wie verstärken und reproduzieren Diskurse, die mit den technologischen Instrumenten verbunden sind, diese symbolischen Grenzziehungen, während sie gleichzeitig zur Auslöschung der Handlungsmacht beitragen? Und welche Auswirkungen hat das auf die Produktion von Subjektivität und die Schaffung ­symbolischer Grenzziehungen von den außereuropäischen „Anderen“? In der westlichen Wissenschaft ist Natur lange als Gegensatz zu Kultur oder Zivilisation aufgefasst worden. Die Unterscheidung zwischen dem „Menschlichen“ und einer „nicht menschlichen Natur“ ist seit der Renaissance behauptet worden, als sich die Menschen radikal aus der Natur zurückzogen und sie als System schufen, das ausdrücklich frei von ­ menschlicher Teilhabe und von der Sphäre der Geschichte ausgeschlossen ist. 15 Diese Trennung setzt eine strikte Ausnahme voraus, die in Menschen gefundene Eigenschaften aus dem Reich der Natur ausschließt: 13 | William Walters: „Foucault and Frontiers: Notes on the Birth of the Humanitarian Border“, in Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.), Governmentality: Current Issues and Future Challenges, New York 2011, S. 138-164. 14 | Alison Mountz, „Shrinking spaces of asylum: vanishing points where geography is used to inhibit and undermine access to asylum“, in: Australian Journal of Human Rights 19(3) (2013), S. 29-50. 15 | Siehe Neil Evernden, The Social Creation of Nature, Baltimore/London 1992; Viktor Ferkiss, Nature, Technology, and Society: Cultural Roots of the

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„eine Welt frei von Eigenschaften, die wir mit Menschen assoziieren – kurz gesagt, frei von Subjektivität.“16 Die Annahme der Existenz einer Wildnis „da draußen“, die darauf wartet, entdeckt zu werden, ist jedoch selbst bereits ein Produkt des kulturellen Verlangens und Framings. Schon Karl Marx bemerkte, dass die Natur, bevor sie von Menschen bearbeitet wurde, nicht als solche existierte und dass die Menschen sie nicht lediglich mithilfe der Technologie unterwarfen, sondern überhaupt erst erschufen. Das Konzept des Menschen selbst ist Giorgio Agamben ­zufolge bereits Produkt einer „anthropologischen Maschine“17, die uns in unserer Fähigkeit zur Selbsterkenntnis unablässig vom Kontinuum des organischen Lebens abtrennt. Die epistemische Trennung zwischen biologischen und sozialen Sphären ist in jüngerer Zeit zum Gegenstand weiterführender wissenschaftlicher Prüfung geworden und durch Konzepte wie Netzwerke, Hybride, Verwicklung oder Verknüpfung von Menschen und Nicht-Menschen ersetzt worden. 18 Kritische Anthropolog*innen haben auf die Wissenspolitik aufmerksam gemacht, die die moderne Wissenschaft und aufgeklärte Wissenschaftler*innen von der Natur abhebt und die Menschen den Machenschaften der Natur sowohl überlegen als auch ­äußerlich erscheinen lässt. Diese Natur wird als das Reich von eigenständigen Gesetzen unterworfenen Gegenständen aufgefasst und liefert den Hintergrund, vor dem sich die menschlichen Aktivitäten entfalten. 19 Es gibt aber keine universelle, einzige, transhistorische Definition dessen, was „Natur“ ist, sondern nur „Naturen/Kulturen“20. Natur ist kein gegebenes, präexistentes Reich, das der Kultur und der Gesellschaft vorhergehend oder äußerlich ist, sondern eine konstruierte Annahme, welche sich historisch entwickelt hat und sozial und politisch bedingt ist. Deswegen ist das, was wir unter Natur verstehen, nicht trennbar von den Current Environmental Crisis. New York/London 1993; Hans Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt am Main 1994. 16 | N. Evernden, The Social Creation of Nature, 1992, S. 50. 17 | Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt am Main 2003, S. 47. 18 | Vgl. B. Latour, Wir sind nie modern gewesen, 2008. 19 | Vgl. Tim Ingold, „Death of a Paradigm“, in: Tim Ingold, Gisli Palsson (Hg.), Biosocial Becomings. Integrating Social and Biological Anthropology, Cambridge 2013; Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Berlin 2011. 20 | B. Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 14.

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Diskursen und Imaginären, die in einer bestimmten Gesellschaft vorherrschen: Die Weise, in der eine bestimmte Gesellschaft die Abgrenzung zwischen Natur und Kultur vornimmt, drückt die hegemonischen Unterstellungen und Werte in eben dieser Gesellschaft aus. Bruno Latour zufolge wird die westliche Wissenschaft im Wesentlichen durch zwei „Große Trenn­ungen“ gekennzeichnet: die Trennung zwischen Natur und Kultur/Gesellschaft und die interne Teilung, die die modernen von den vormodernen oder „anthropologischen“ Kulturen abtrennt.21 Um „symmetrisch“ zu werden, muss die Anthropologie diese Trennungen überwinden. Der vorliegende Artikel behauptet, dass durch Praktiken und Diskurse der Grenzüberwachung und -kontrolle beide Trennlinien aktiv und produktiv weiterbestehen, von den Asyl- und Visaregimen, die Migrierende daran hindern, legal nach Europa einzureisen, bis hin zu den Überwachungs- und Abschreckungsmaßnahmen, die unerwünschte Grenzübertretende als nacktes Leben produzieren. Diese Situation jedoch wird durch die beteiligten Akteure stetig verhandelt und angefochten, ­sodass ein neues Feld von „Grenzkonf likten“ entsteht. Ausgehend von Latours Kritik der modernen Trennung zwischen Natur, Gesellschaft und Diskurs einerseits und von Michel Foucaults und Giorgio Agambens Überlegungen zur Biopolitik als auf das biologische Leben angewendete Machttechnologie andererseits, wird die diesen Trennlinien folgende Auseinandersetzung entlang materieller, politischer und symbolischer Achsen untersucht, die sich 1) in der politischen Schaffung von Zonen ökologischer oder physiologischer Auslieferung und 2) in der diskursiven und narrativen Konstruktion illegalisierter Migrierender in Kontinuität und Kontiguität mit der ­Natur manifestieren.22 21 | Vgl. B. Latour, Wir sind nie modern gewesen, 2008. 22 | Der Gebrauch des Begriffs „illegalisierte“ anstelle von „illegale“ Migrierende oder Reisende zielt darauf ab, das soziale Phänomen, welches die Migrierenden „illegal“ macht, zu verdeutlichen: Der Begriff unterstreicht, dass ihr Zustand der „Illegalität“ nicht inhärent ist, sondern durch bestimmte Visa- und Grenzregime produziert wird, die alle legalen Wege zum Asylantrag verschließen. Grenzübertretende werden als „illegal“ benannt, noch bevor sie die Möglichkeit haben, legal ihren Status als Geflüchtete geltend zu machen (siehe Leanne Weber, Sharon Pickering, Globalization and Borders. Death at the Global Frontier, Basingstoke 2011; Harald Bauder, „Why we should use the Term Illegalized Immigrant“, in: RCIS Research Brief No. 2013/1, August 2013).

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Dieser Ansatz wird durch Konzeptualisierungen der Grenze als einem entlokalisierten Ort des Konf likts und der Anfechtung23 ergänzt und dementsprechend die Spaltung Natur/Kultur als k ­ ontingent, prozessual und stets angefochten aufgefasst. Das Augenmerk auf die politische Trennung „nackten Lebens“ von der unerwünscht die Grenze übertretenden Person zu legen, bedeutet – wie wir sehen werden – nicht, die Handlungsmacht oder Widerstandsfähigkeit von Grenzübertretenden zu ignorieren oder zu vernachlässigen. Ziel ist vielmehr, das Terrain zu ref lektieren, auf welches die Übertretungen und involvierten materiellen und symbolischen Auseinandersetzungen verlagert werden.

Ü bertre tungen der europäischen S eegrenze : N ack tes L eben und einsame I nseln Es ist gezeigt worden, dass abschreckende Maßnahmen, seien sie noch so streng, potentielle Migrierende nicht von dem Versuch abhalten, Grenzen zu übertreten. Abschreckung ist nicht nur ineffektiv, sondern auch tödlich – und zwar deshalb, weil die meisten Migrierenden oder Gef lüchteten nicht abgeschreckt werden, sondern das Risiko auf sich nehmen, unter unsichereren Bedingungen und über längere und gefährlichere Routen zu reisen.24 Genau dies lässt sich seit Jahrzehnten in der Wüste an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko beob­achten. Die im Zuge der „Operation Gatekeeper“, welche von Washington in den 1990er Jahren umgesetzt wurde, verstärkten Sicherungsmaßnahmen – einschließlich der Errichtung einer Mauer – schrecken Migrierende zwar nicht ab, zwingen sie aber dazu, alternative Routen durch die Wüste zu wählen, auf denen sie dem Tod durch „natürliche“ Faktoren ausgeliefert sind. In Europa sind die meisten grenzbezogenen Todesfälle auf eben jene zunehmende Auslieferung an die Umwelt zurückzuführen, wie beispielsweise auf extreme Temperaturen oder gefährliche See, auf körperlichen Zusammenbruch oder auf eine Kombination äußerer und

23 | Vgl. S. Mezzadra, B. Neilson, Border as Method, 2013. 24 | Vgl. A. Mountz, Shrinking spaces of asylum, 2013; Joseph Nevins, Operation Gatekeeper: The Rise of the „Illegal Alien“ and the Making of the U.S. Mexico Boundary, New York 2002.

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physiologischer Faktoren, wie Ertrinken, Dehydrierung, Ersticken oder Unterkühlung. Interviews und Beobachtungen, die zwischen 2013 und 2016 im Rahmen von vier Forschungsaufenthalten im Bereich der türkisch-­ griechischen Seegrenze durchgeführt wurden, liefern einen genaueren Blick auf die in solche Grenzübertretungen eingebundenen Praktiken und Logistiken und deren Verknüpfung mit häufig dem Reich der „Natur“ zugeschriebenen Elementen. In der Region benötigt man für die Überfahrt ungefähr anderthalb Stunden mit der Fähre, eine Stunde mit dem Katamaran und noch weniger mit dem Schnellboot. Migrierende brauchen aber viel länger für die Überquerung – einige doppelt so lang, andere verbringen bis zu 12 Stunden auf dem Wasser beim Versuch, die europäische Küste zu erreichen. Dies liegt daran, dass sie entweder nach weniger patrouillierten Grenzabschnitten suchen, um die sie z­ urückdrängenden Schiffe der griechischen und türkischen Küstenwachen zu meiden, oder einfach weil sie die Orientierung verlieren. Ihre Schlauchboote sind selten in gutem Zustand; häufig müssen sie aufgrund technischer Probleme umkehren und ans türkische Ufer zurückfahren. Die Patrouillen, das Meer selbst s­ owie der Zustand der Schlauchboote spielen in der Tat eine relevante Rolle, aber sie sind nicht die einzigen Faktoren, die die Grenzübertritte beeinf lussen.25 Eine Vielzahl weiterer Variablen spielt eine Rolle in der Logistik der Überfahrten, wie die Preislisten, die Schlepper*innen für ihre Dienste erstellt haben, demonstrieren.26 Die Kosten werden zum Teil bestimmt durch die geographische Distanz zwischen der türkischen 25 | Die Hellenische Küstenwache (Limeniko Soma) ist beschuldigt worden, Boote mit Migrierenden abzufangen, ihre Motoren und Ruder zu zerstören oder zu beschlagnahmen, männliche Passagiere zu schlagen, ihre persönlichen Gegenstände und Rettungswesten ins Wasser zu werfen und sie anschließend in türkischen Gewässern zurückzulassen (Siehe Amnesty International, Frontier Europe. Human Rights Abuses on Greece‘s Border with Turkey, 2013; Pro-Asyl, Pushed Back. Systematic human rights violations against refugees in the Aegean Sea and at the Greek-Turkish land border, 2013). 26 | Die Verwendung der Begriffe Schlepper*innen, Schleuser*innen und Menschenhändler*innen zur Beschreibung von Personen, die den illegalisierten Grenzübertretenden ihre Dienste anbieten, ist nicht gleichwertig und impliziert unterschiedliche Interpretationen ihrer Aufgabe. Aus stilistischen Gründen werden die Begriffe in diesem Artikel jedoch durchweg synonym verwendet.

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Küste und der gewählten griechischen Insel, durch die Strömungen und die Gefährlichkeit des betreffenden Abschnittes der Ägäis, durch das jahreszeitbedingte Wetter und die Stärke des Windes sowie durch verschiedene topographische Faktoren, die sowohl die Abfahrt als auch die Ankunft beeinf lussen. Eine dieser Variablen ist zum Beispiel die Stelle auf der Insel, an der die Reisenden anlanden, und die Entfernung, die sie dort – erschöpft und durchnässt – laufen müssen, b ­ evor sie das nächstgelegene Polizeirevier erreichen, wo sie erst die Papiere b ­ ekommen, die ihnen die Weiterreise ermöglichen. Überfahrten nach Lesbos sind aufgrund der Größe der Insel und dem weiten Weg in die Stadt, den die Migrierenden zu Fuß zurücklegen müssen, weniger t­ euer. Wie einfach oder schwer sich das Anlanden gestaltet, ist ein weiterer Faktor: Die Überfahrt nach Samos – die mit nur zwei Kilometern Entfernung zur türkischen ­ ontinent am nächsten gelegene griechische InKüste dem asiatischen K sel – ist aufgrund des felsigen Profils der Inselküste tatsächlich riskanter als andere, da Reisende oft im unwegsamen Gelände steckenbleiben oder sich in der Wildnis verirren, noch bevor sie eine Straße finden. Auf der Preisliste der Schlepper*innen ist die Fahrt nach Samos günstiger als zum Beispiel die von Ç eş me an die sanften Strände von Chios, wo das Anlanden verhältnismäßig leicht und die Hauptstraße nahegelegen ist. Ozeanographische, geographische, topographische und meteorologische Faktoren, technischer Zustand und Bauweise der Boote – all diese Aspekte sind Teil der Kalkulationen und Strategien von Migrierenden, Küstenwachen und Schleusernetzwerken, die ihre Dienste auf Basis der Beanspruchung, der Dauer und des Risikos der Route berechnen. Türkische Fischer in der Region Ayvalik, von wo aus die Boote nach Lesbos ablegen, erzählen Geschichten von Grenzpatrouillen und Schlepper*innen, die Gef lüchtete an abgelegenen Stränden oder auf einsamen Inseln zurücklassen. Sie berichten davon, wie sie auf See häufig solchen Gef lüchteten in ihren überfüllten Schlauchbooten begegnen – rufend fragen die Gef lüchteten sie nach dem Weg nach Griechenland, oder dass sie die Geflüchteten auf den Inseln umherlaufen sehen. Ihre Berichte, ebenso wie die Aussagen von Gef lüchteten, erzählen vom Überleben im Freien und vom Schlafen auf nassem Untergrund, vom Verbrennen feuchten Grases, um auf sich aufmerksam zu machen, von Erkrankungen nach dem Konsum wilder Früchte, oder sogar vom gemeinsamen Trinken der Milch einer stillenden Mutter.

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Solche Vorfälle erinnern an eine archaische Auslieferung an die Wildnis und an Zustände der Vulnerabilität, deren Überwindung die emanzipatorischen Versprechen der modernen Fortschrittsträume v­ erheißen hatten. Das Projekt einer Welt, in der wissenschaftliches Wissen und Technologie uns von den Zwängen der Natur befreien würden, bricht angesichts solcher Berichte zusammen. Gef lüchtete werden in eben jene Sphäre des Überlebens in der Wildnis verdrängt, von der sich L ­ atours „Moderne“ für immer erlöst geglaubt hatten. Das bedeutet nicht, Grenzübertreter*innen lediglich als Opfer oder als passive, unter Abschreckungs- und Überwachungspolitiken Leidende zu betrachten. Ganz im Gegenteil: Wie Autor*innen, die dem „Autonomie der Migration“-Ansatz27 folgen, ausführlich dargelegt haben, sind es der E ­ rfindungsreichtum ihrer Praktiken und ihre Resilienz, die Politiken dazu veranlassen, den Ressourcen und Routen der Reisenden zu folgen und sich ihnen anzupassen. Wichtig ist hier nicht, ob der Schwerpunkt auf die Bewegung oder die Kontrolle zu legen ist. Vielmehr geht es darum, das Terrain zu ref lektieren, auf das Grenzkonf likte verlagert werden, wenn Migrierende einer Sphäre biopolitisch geschaffener Umweltrisiken ausgeliefert werden, nachdem ihnen das Visa- und Asylregime die Nutzung sicherer Einreisewege versagt hat. Es ist, als ob Gef lüchtete, um nach Europa zu gelangen, dazu gezwungen würden, eine Art „Naturzustand“ zu durchschreiten, eine Sphäre außerhalb des politischen und technologischen Schutzes, sowohl der Härte der Grenzschutzbeamt*innen und der Willkür der Schleusernetzwerke als auch der Rauheit und Unerbittlichkeit der Elemente ausgesetzt. Als ob das Durchqueren eines vorzivilisatorischen Zustandes als Einreisegebühr, als Initiationsritus oder, Mezzadra und Neilson folgend, als Moment der Produktion von Subjektivität im Kontext globaler Grenzkonf likte gelte.

27 | Vertreter*innen dieser Forschungsausrichtung im deutschsprachigen Raum sind Autor*innen wie Bernd Kasparek, Sabine Hess und Vassilis Tsianos. Siehe auch die in Sabine Hess, Bernd Kasparek (Hg.), Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Hamburg 2010; Lisa-Marie Heimeshoff et al. (Hg.), Grenzregime II. Migration, Kontrolle, Wissen. Transnationale Perspektiven, Hamburg 2014; sowie die in der Zeitschrift Movements (https://movements-journal. org) publizierten Arbeiten.

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r isiko , r E t tung

und

p roduk tion

von

s uBjEk tivität

Anhand der altgriechischen Begriffe für „Leben“ unterscheidet Agamben zwischen dem „qualifizierte[n] Leben des Bürgers“28, der mit Rechten ausgestattet ist (bios) und der bloßen biologischen Existenz (zoe). Folgt man diesen Konzepten, werden illegalisierte Migrierende in eine Sphäre verdrängt, die sie dem zoe ausliefert: alleingelassen mit ihrer biologischen Subsistenz und um ihre staatsbürgerlichen Rechte beraubt. Das Übertreten der Grenze degradiert sie zu dem, was Agamben als homo sacer bezeichnet: eine Figur, die getötet werden darf, ohne dass dies als Verbrechen betrachtet würde. Sie werden in eine Zone „nackten Lebens“ verdrängt, welche weder zoe noch bios ist, sondern eine Zone der Nichtunterscheidung zwischen den beiden, in der zoe jederzeit politisch hergestellt werden kann. Eine in diese Zone gefallene Person ist eine Existenz ohne bürgerlichen Wert und einem Tod ohne kulturelle, legale oder religiöse Einschreibung überstellt. Agamben zufolge bedeutet der Zustand des nackten Lebens, der Macht des Souveräns ausgesetzt zu sein. In ­diesem Fall jedoch werden die Verlassenheit und die Auslieferung ausgedehnt auf die Gewalt der Elemente, auf eine Zone bloßen biologischen Überlebens im direkten Kontakt mit ökologischen und physiologischen Prozessen. Während Agambens Ansicht nach die juristisch-politische Struktur, in der sich die biopolitische Beziehung zwischen Souverän und nacktem Leben vollzieht, das „Lager“29 ist, haben diverse Studien gezeigt, inwiefern diese Struktur auch in Bezug auf Grenzen und Mobilität untersucht werden kann und muss.30 Ins Reich bloßen Überlebens gedrängt, wird das Leben der irregulär die Grenze Übertretenden der „Schwelle der Ununterscheidbarkeit und des Übergangs zwischen Tier 28 | Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S. 132. 29 | G. Agamben, Homo Sacer, 2002. 30 | Mark Salter, „When the exception becomes the rule: borders, ­s overeignty, and citizenship“, in: Citizenship Studies, 12(4), 2008, S. 365–380; Nick Vaughan-Williams, „The generalized bio-political border? Re-conceptualising the limits of sovereign power“, in: Review of International Studies 35 (2009), S. 729–749; N. Vaughan-Williams, Border Politics, 2012. 31 | G. Agamben, Homo Sacer, 2002, S. 115

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und Mensch“31 preisgegeben, einer Zone bloßer biologischer Existenz, die politisch produziert worden ist. Operationen der Zurückdrängung, die unerwünschte Migrierende dazu zwingen, ihre Boote abtreiben zu lassen und ihre Auslieferung an die „Natur“ noch zu verschärfen, erlauben es, Schiff brüche und das Sterben auf hoher See als der Handlungsmacht entzogene ­Ereignisse zu maskieren. Hinter der vorgeblichen Neutralität ökologischer Faktoren wird damit ihr politischer Charakter verschleiert und jegliche Verantwortlichkeit von vornherein ausgeschlossen. Folgt man Michel Foucaults Konzept der Bio-Macht, werden Menschen, denen in diesen Grenz­gebieten der Weg versperrt wird, dem Tod nicht durch direkte Einwirkung ausgeliefert, sondern er tritt als Konsequenz einer Gewalt auf, die sich durch das Vermögen des Lebenmachens und des ­Sterbenlassens manifestiert. Der Tod, der auf die Verdrängung in eine Zone nackten Lebens folgt, tritt nicht durch direkte Ermordung, sondern durch das Überlassen an die Elemente ein. Indem restriktive Einreisebestimmungen und Asylregime es diesen Reisenden vorenthalten, als Bürger*innen durch reguläre ­Grenzübergänge nach Europa einzureisen, wird ihnen nur die Option gelassen, sich auf eine lebensgefährliche Reise einzulassen und bestenfalls als bloße Menschen gerettet zu werden. Nicht als mit Rechten ausgestattete Bürger*innen, sondern als biologische Existenzen werden sie nach ihrer Rettung Gegenstand humanitären Schutzes. Wenige Stunden nach seiner Ankunft auf der Insel Chios im Oktober 2015 berichtete mir ein syrischer Arzt, der auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg war, von den traumatisierenden Umständen seiner Überfahrt aus der Türkei. Auf dem Meer wurde die Gruppe, mit der er unterwegs war, von einer Patrouille abgefangen, die den Motor ihres Schlauchbootes zerstörte. Sie begannen daher, die Ruder zu benutzen, doch als kurz darauf auch diese zerstört wurden, blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit ­bloßen Händen zu rudern. Obwohl sie ein GPS-Gerät hatten und das Handy-Netz stark war, konnten sie auf dem Display nicht erkennen, ob sie sich in die richtige Richtung bewegten – viel zu langsam war ihr Fortkommen. Erst nach Stunden erkannten sie, dass sie sich Griechenland näherten. Es entstand also eine logistische Inkompatibilität zwischen ihrer Ausrüstung und der Situation, in die sie gewaltsam gebracht worden ­waren. Als die Patrouille den Motor des Bootes zerstörte, versuchte sie nicht nur, die Überfahrt nach Griechenland zu verhindern oder zu erschweren, sondern zielte auch darauf ab, sie auf ein Terrain t­echnologischer

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Unterlegenheit zu drängen, welches in eurozentrischen Konstruktionen der Moderne als vormodern, näher an der Natur, „weniger zivilisiert“ gilt. Nicht nur ihre Pläne, Europa zu erreichen, sondern auch ihre Subjektivität wurde zum Ziel dieser Aktion.32 In ähnlichen Aktionen, die Berichten zufolge in der Ägäis systematisch Anwendung fanden, wurden Telefone gestohlen oder ins Meer geworfen. Alle diese Fälle zielen gleichzeitig auf die Demütigung und auf die Erschwerung der Reise-Logistik der ­Gef lüchteten ab und drängen sie damit sowohl symbolisch als auch ­materiell in eine vor-technologische Lage. Aus diesem Grund sind der gleichzeitige Fokus auf die Sicherung der Grenzen und auf den humanitären Ansatz gegenüber Migrierenden nicht widersprüchlich, wie oft durch die mediale Konstruktion der EU-Grenzräume suggeriert, sondern miteinander komplementär: Beide drücken die Konstruktion von irregulären Grenzübertreter*innen als bloße Träger einer biologischen Existenz aus, die entweder abgeschreckt oder gerettet werden muss.33 In beiden Fällen wird eine zu schützende Zone menschlicher Existenz in Unterscheidung zum qualifizierten Leben eines mit Rechten ausgestatteten Bürgers geschaffen. Charles Heller und Lorenzo Pezzani34 zufolge gab es 32 | Kurz bevor die Gruppe die Insel Chios erreichte, wurde sie von einem Boot der Hellenischen Küstenwache gesehen und zur Küste begleitet. Mehrere Reisende behaupteten, es handelte sich dabei um dasselbe Boot, das sie nachts abgefangen hatte und ihren Motor zerstörte. So eine Praxis wäre mit dem oben genannten Handlungsmuster durchaus kompatibel, die gleichzeitig abschreckt und rettet bzw. „humanitäre“ Hilfe bietet, denn beide beziehen sich auf und produzieren letztlich nacktes Leben. 33 | Die selbsterklärten Funktionen von Migrations-, Asyl- und Grenzpolitiken sind zum einen humanitärer Schutz und Rettung, zum anderen Abschreckung und Versicherheitlichung. Dass diese Funktionen sich nicht konträr, sondern komplementär gegenüberstehen und sich gegenseitig ergänzen, wird u. a. dargelegt in Michel Agier, Managing the undesirables. Refugee camps and humanitarian government. Cambridge 2011; Ruben Andersson, „Mare Nostrum and migrant deaths: the humanitarian paradox at Europe’s frontiers“, in: opendemocracy.net, 30. Oktober 2014; W. Walters, „Foucault and Frontiers“, 2011; und Didier Fassin, „Compassion and Repression: The Moral Economy of Immigration Policies in France“, in: Cultural Anthropology 20(3) (2015), S. 362-387. 34 | Charles Heller, Lorenzo Pezzani, „Forensic Oceanography: The Deadly Drift of a Migrants’ Boat in the Central Mediterranean, 2011“, in: Forensic Architec-

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später eine tendenzielle Verschiebung weg von Zwischenfällen, in denen Praktiken der „unterlassenen Hilfeleistung“ zum Tod von Migrierenden auf hoher See führten, hin zu Fällen, in denen sich der Verlust von Leben während und teilweise bedingt durch Rettungsversuche selbst ereignete, beispielsweise wenn Boote von Migrierenden kentern, während Schiffe sich nähern, um Hilfe zu leisten. Nichtsdestotrotz ist dieses von Heller und Pezzani hervorgehobene Paradox lediglich ein weiterer Ausdruck eines biopolitischen ­Verständnisses des Grenzmanagements, das Migration und Asylprozesse zu biologisieren tendiert und unerwünschte Reisende überhaupt erst in Gefahr bringt. Die politische Erzeugung bloßen Lebens indes ist nicht unilateral und sie bleibt nicht unangefochten. Agambens Unterscheidung zwischen q ­ ualifiziertem Leben und rein biologischer Existenz sollte nicht als binärer Gegensatz zweier Extreme und zweier festgelegter Kategorien aufgefasst werden, sondern vielmehr als zwei Pole in einer Reihe stratifizierter und angefochtener Status. Auch sind die mit dem nackten Leben assoziierten Figuren nicht als ihrer Handlungsmacht beraubt zu betrachten. Als Folge der Versicherheitlichung der Ägäis wurde es unter Schlepper*innen üblich, illegalisierte Migrierende, die versuchten, Griechenland von der Türkei aus zu erreichen, mit einem Messer auszustatten und sie anzuweisen, ihre Schlauchboote selbst zu zerstechen, sobald sie in Sichtweite einer Grenzpatrouille gerieten und somit einen Seenotfall zu schaffen. Anstatt sie in türkische Gewässer zurückzudrängen, sind die Grenzschützer*innen dann verpf lichtet, sie zu retten und an Land zu bringen. Es ist paradox, dass Migrierende sich, um gerettet und an Land gebracht zu werden, in noch größere Gefahr begeben. Mein Interesse an dieser Praktik betrifft hier allerdings weder ihre mögliche Wirksamkeit noch ihre moralischen Implikationen, sondern gerade ihre Bedeutung für die heutige politische und kulturelle Definition der europäischen Grenzen. Was bedeutet es, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um durch eine Rettungsoperation nach Europa eingelassen zu werden? Welche Art von

ture (Hg.), Forensis. The Architecture of Public Truth, Berlin 2014, S. 637-655; Dies., „Ebbing and Flowing: The EU’s Shifting Practices of (Non-) Assistance and Bordering in a Time of Crisis“, in: Near Futures Online 1 „Europe at a Crossroads“, März 2016, http://nearfuturesonline.org/wp-content/uploads/2016/03/Heller_ Pezzani_Ebbing_2016.pdf (zuletzt aufgerufen am 01.05.2020).

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Grenze wird durch dieses Handeln geschaffen? Und welche Definition von Europa und der Grenzübertretung liegt ihr zugrunde? Migrierende, die, weil die Wege zur Beantragung einer legalen Einreise in die EU versperrt worden sind, ihre eigenen Boote zerstören, um die Überfahrt zu einer Seenot-Rettungsaktion zu machen und auf europäischen Boden gerettet zu werden, nutzen ihr eigenes Überleben als Wertmarke. In nacktes Leben gedrängt entscheiden sie sich dazu, ihre prekäre Situation in ihren eigenen Vorteil zu wenden. Wie ein Gefangener im Hungerstreik investieren sie den einzigen Wert, der ihnen bleibt: ihre biologische Existenz. Indem sie ihre Vulnerabilität radikalisieren, setzen sie ihr eigenes biologisches Leben oder ihre physische Integrität aufs Spiel. Die Schaffung von Räumen nackten Lebens ist dementsprechend nicht lediglich biopolitische Strategie der Mächtigen, sondern sie wird auch zu Zwecken des Widerstands und der Anfechtung umgenutzt und ­umgedeutet. Die Zerstörung der eigenen Boote zeigt, dass der Zustand nackten Lebens, in den illegalisierte Reisende gedrängt werden, nicht der Handlungsmacht beraubt ist, sondern im Zuge des radikalen Risikos, das eine solche Meeresüberquerung bedeutet, als Vorteil genutzt und überwunden werden kann. Gleichzeitig veranschaulicht dies das Ausmaß, in dem die europäischen Grenzen als Linie produziert werden, an der nacktes Leben konstruiert und angefochten wird. Grenzkonf likte in solchen Begriffen zu analysieren bedeutet also weder, eine binäre Gleichsetzung Technologie/Kultur – Nacktes Leben/ Natur zu reproduzieren, so als seien dies zwei stabile und eindeutige Kategorien, noch, Migrierenden nur Hilf losigkeit und Vulnerabilität zuzuschreiben. Vielmehr legt die Analyse Konstruktionen frei, die immer noch Politiken, Praktiken und Diskursen des EU-Grenzmanagements zugrunde liegen, und offenbart die von ihnen mitgeformten Imaginären. Das Zerstechen der Boote deutet auf den Kern des Konf likts hin, der derzeit an den europäischen Seegrenzen ausgefochten wird. Letztendlich geht es um die Verdrängung unerwünschter Grenzübertretender in eine Zone nackten Lebens. Diese Konstruktion stimmt, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden wird, mit der diskursiven Konstruktion irregulär die Grenze Übertretender als in Kontiguität mit der Natur überein.

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D igitale

und geogr aphische G renzen : ist das übertre tende S ubjek t ?

W er

oder was

Die Diskurse, welche die zur Grenzüberwachung und -kontrolle verwendeten Technologien beschreiben, offenbaren eine strukturell sehr ä­ hnliche Konstruktion illegalisierter Reisender als in Kontinuität und Kontiguität mit der „Natur“. Der Schwerpunkt im folgenden Abschnitt liegt nicht auf den Projekten oder Politiken von Regierungsstellen, sondern auf Diskur­ erden. sen und Beschreibungen, die von der Industrie selbst geliefert w Es handelt sich nicht um eine Analyse tatsächlicher Technologien in einem positivistischen Sinne, sondern um den Versuch, diese Technologien – und die mit ihnen verknüpften Narrative – als Modi zu beschreiben, wie Europa mit dem Problem und den zugrunde liegenden Definitionen umgeht. Diese Diskurse drücken eine bestimmte Logik aus, die die Geste der Verdrängung illegalisierter Reisender in das Reich der „Natur“ reproduziert. Darüber hinaus kommt die darauffolgende P ­ roduktion e­ iner biopolitischen Spaltung zum Ausdruck, die die feierliche Verbindung von Europa mit Zivilisation und Kultur reproduziert – und damit den Gegensatz zwischen den hochgradig technologisierten Modernen und den Nicht-Modernen, die als der Natur näher wahrgenommen werden. Technologien werden von den historischen, sozialen und politischen Bedingungen beeinf lusst, unter denen sie geschaffen werden und mit denen sie unauf löslich verbunden sind. Sie können dementsprechend Informationen über die Werte liefern, die in einem bestimmten historischen Zusammenhang hegemonisch sind, ebenso wie über die sozialen Imaginären des Zeitalters, das ihren Ursprung durchdrang. Wenn auch weniger programmatisch als Dokumente und Schriftstücke von Regierungsstellen oder Denkfabriken, offenbaren die von Firmen zur Beschreibung ihrer Produkte verwendeten Wörter tieferliegende Unterstellungen, die als ideologisch gelesen werden können, auch wenn – oder gerade weil – sie nicht in einen politischen Rahmen gesetzt werden. Anders als ­erstere sind unternehmerische Narrative weder auf die eigene Legitimierung ausgerichtet, noch den Beschränkungen des politischen Diskurses ­unterworfen, der oft Resultat behutsamer Abwägung und verhandelten Konsenses ist. Der unternehmerische Werbediskurs kann verdeckte Ängste, die von beschämenden Impulsen oder Vorurteilen beherrscht werden, direkt ansprechen. Daher definiert die Industrie im Werbematerial für ihre Geräte ihre Ziele auf eine Weise, die eine sehr konkrete

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Definition und Bewertung des Grenzübergangszenarios und der daran beteiligten Personen zum Ausdruck bringt.35 Überwachungs- und Kontrolltechnologien können grob unterteilt werden in solche, die die EU-Außengrenzen überwachen, um Versuche des „Eindringens“ und andere „Anomalien“ zu erfassen, und solche, die dazu dienen, die „Identität“ von Reisenden an offiziellen Grenzüber­gängen festzustellen. In beiden Fällen wird zunehmend der Körper – als bloßes biologisches Kennzeichen – zum Maßstab und zur Bezugsgröße. Er wird jedoch in den jeweiligen Zusammenhängen in unterschiedlichen, spezifischen Weisen definiert. Die Logik der Instrumente, die im jeweiligen Fall zur Anwendung kommen, drückt jeweils ein bestimmtes ­Verständnis des Grenzszenarios aus und offenbart eine besondere zugrunde liegende Definition dessen, was „menschlich“ ist. In beiden Fällen findet sich eine enge Verwandtschaft zwischen Technologie und Biologie; in einigen Fällen aber richtet sich die Technologie an die Grenzübertretenden als Bürger*innen, in anderen als nacktes Leben.

Eine Doppelachse Gloria González Fuster und Serge Gutwirth36 zufolge werden die EUAußengrenzen mittels einer „Doppelachse“ entwickelt: Die eine besteht in der Schaffung von Datenbanken, die hauptsächlich dazu dienen, an offiziellen Grenzübergängen oder anderen Kontrollpunkten innerhalb der EU Informationen über Angehörige von Drittstaaten zugänglich zu

35 | Diese Analyse beruht auf Beiträgen und Materialien, die beim Workshop on Innovation in Border Control (Uppsala, August 2013), dem European Day for Border Guards (Warschau, Mai 2013) sowie verschiedenen Veranstaltungen der biometrischen Industrie zwischen 2014 und 2016 gesammelt wurden. Unter den analysierten Quellen sind Broschüren und Webseiten der Firmen Ericsson, Thales, ESRI, ECS, GMV Gruppe und Radiobarrier. Für eine detailliertere Analyse siehe Estela Schindel, „Bare Life at the European Borders. Entanglements of Technology, Society and Nature“, in: Journal of Borderlands Studies, 31(2), 2016. 36 | Gloria González Fuster, Serge Gutwirth 2011, „When ‚Digital Borders‘ Meet ‚Surveilled Geographical Borders‘. Why the Future of the EU Border Management is a Problem“, in: Peter Burgess, Serge Gutwirth (Hg.), A Threat Against Europe? Security, Migration and Integration, Brüssel 2011, S. 171-190.

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machen – die sogenannten „digitalen Grenzen“37 –, die andere wird entlang der physischen Grenze selbst eingesetzt, wo Technologie eher Zwecken der Überwachung von Bewegungen in einem Territorium dient. Erstere sollen insbesondere für unverdächtige Reisende den Ablauf an Grenzübergängen erleichtern und beschleunigen. Die Kontrollen der europäischen Peripherie entlang der blauen und grünen Grenzen indes zielen auf Abschreckung ab und sind an die konkrete Materialität der geographischen Grenzen gekoppelt. Nach González Fuster und Gutwirth geht es bei ersterer darum, wer in die EU einreist, mit Schwerpunkt auf persönlichen Daten, während letztere sich darauf konzentriert, was passiert, ohne dies jedoch in Beziehung zu identifizierten oder identifizierbaren Individuen zu setzen. Folgt man Agambens oben beschriebener ­Unterscheidung, so lässt sich hinzufügen, dass die erste Gruppe von Technologien der Individualisierung und Verifizierung der Daten von Bürger*innen (bios), die zweite dagegen dem Aufspüren und Abfangen einer vage definierten Bedrohung in Form der Anwesenheit biologischen Lebens (zoe) dient. Diese Trennung produziert und reproduziert eine rassifizierte Spaltung zwischen konkreten und unterscheidbaren ­Individuen38, ­deren zügige Durchquerung von auf digitalisierten Daten basierten Kontrollpunkten ermöglicht wird, und denjenigen, die zum Gegenstand der Überwachung geographischer Grenzen und als undifferenzierte, organische Masse behandelt werden. Grenzübergänge sollen den „legitim“ Reisenden erleichtert und gleichzeitig verdächtigen Individuen insbesondere durch materiell „robuste“ Barrieren erschwert werden. Technologien des automatisierten Grenzübergangs (Automated Border Crossing), die von EU-Bürger*innen genutzt werden können, finden Anwendung, um den Prozess des Grenzübergangs schneller und reibungsloser für sogenannte „bona fide“ oder „legitime“ Reisende zu gestalten. Auf diese sollen die 37 | Evelien Brouwer, Digital Borders and Real Rights. Effective Remedies for Third-Country Nationals in the Schengen Information System, Leiden/Boston 2008. 38 | Auch unter den Grenzüberquerer*innen, die bei den Grenzkontrollen als Individuen erfasst werden, finden rassifizierende und genderisierende Operationen statt. Die biometrischen Kontrolltechnologien implizieren einen normierten Körper während bestimmte Körper als weniger „lesbar“ und technologisch kompatibel betrachtet werden (siehe E. Schindel, „Bare Life at the European Borders“, 2016).

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Grenzübergänge komfortabler und durchlässiger wirken. Gleichzeitig soll die Einhaltung von Sicherheitsstandards gewährleistet werden, da Expert*innen einen kontinuierlichen Anstieg im Passagierauf kommen an europäischen Flughäfen erwarten. Die Industrie begleitet dies mit der Entwicklung von Apparaten, die die Zugangskontrolle beschleunigen, wie zum Beispiel „benutzerfreundliche, selbsterklärende Gates, die es Menschen erlauben, auf elegante und zügige Weise vollständig automatisiert eine Grenze zu übertreten oder eine Eingangskontrolle zu passieren“ und somit „Prozesse erleichtert und optimiert, um Flughäfen einladender und ansprechender für Passagiere zu gestalten.“39 Während derartige Instrumente zur Nutzung an offiziellen Grenzübergängen gedacht sind und sich an individualisierte Personen richten, die in ihrer bürgerlichen Identität erfasst werden (Geschlecht, Passnummer, Alter), ist die in offenen Grenzbereichen angewendete Technologie darauf ausgerichtet, Versuche des Eindringens in großf lächige Landstriche und Gewässer zu erkennen. Im ersten Falle geht es um die Verifizierung und Einschreibung von Individuen: Leben wird erkannt, registriert und systematisiert. Zwar macht sich die Technologie biometrische Kennzeichen zunutze, jedoch mit dem Ziel, Personen auf Verzeichnisse von Bürger*innen und Visa zurückzuführen. Außerhalb der Grenzübergänge jedoch sind die Technologien zur Erkennung und Überwachung weitläufiger Land- oder Wassergebiete bestimmt. Menschen werden als Signale oder Impulse empfangen, die es aufzuspüren, wahrzunehmen und abzufangen gilt. Während im ersten Fall Grenzübertretende als individualisierte, identifizierte – oder zumindest identifizierbare – Subjekte behandelt werden, wird im zweiten Fall das (unerlaubte) Übertreten der Grenze als abstrakte Invasion auf freiem Feld oder auf hoher See erfasst, deren Kennzeichen die Anwesenheit undifferenzierten, organischen ­Lebens ist, sowie die physischen Spuren von dessen biologischer Existenz registriert: Wärmekameras messen Temperaturen; Radar, Sensoren und Kameras erfassen Bewegungen; Karbondioxidsensoren spüren Atem auf. Nicht das bios eines Individuums, dessen Einschreibung als Bürger*in zurückverfolgt werden kann, wird hier erfasst, sondern eine vage und unbestimmte Bedrohung in Form biologischer Präsenz. 39 | Diese und die folgenden Zitate in diesem Abschnitt sind undatierten Unternehmens-Broschüren entnommen, die Teil eines größeren Archivs sind und die anlässlich oben angeführter Konferenzen zusammengetragen wurden.

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Den Eindringling aufspüren Die von den Herstellern gelieferte Beschreibung dieser zweiten Gruppe von Technologien folgt einem Muster, in dem „Invasionen“ und ­„unerlaubtes Betreten“ eine doppelte Bedrohung darstellen, die gleichzeitig durch Eindringlinge und Umwelt verursacht wird. Die Produktbeschreibungen präsentieren die tägliche Arbeit von Grenzschützer*innen als Herausforderung. Es geht um das Aufspüren von Bedrohungen in einer „gefährlichen Umwelt“, in der sie „die Staatsgrenzen vor Menschen, die das Gesetz brechen (Schmuggler oder illegale Einwanderer), schützen“40 müssen. All das wird zum Teil ein und derselben Serie von Bedrohungen: Irreguläre Einwanderung, illegale oder kriminelle Ma­ chenschaften und topographische oder ökologische Faktoren gehören hier zur selben Kategorie von „Herausforderungen“ und Beschwernissen, die die Überwachung von Grenzgebieten mit sich bringt. Apparate versprechen „Lösungen“ zur Verhinderung „illegaler Übertretungen der ­Staatsgrenze, ­Menschenhandel, Schmuggel und anderen grenzüberschreitenden Verbrechen“41 und vermitteln so den Eindruck, irreguläre Grenzübertritte und kriminelle Machenschaften gehörten zur selben Kategorie. Um diesen Bedrohungen zu widerstehen, bieten die zum Verkauf stehenden „integrierten Systeme“ Nachtsichtgeräte, Infrarotkameras, Landüberwachungsradars – oder einfach „eine enorme Anzahl von Sensoren, Wärmebildkameras, Radar, speziell ausgerüstete Fahrzeuge usw. zur Überwachung und zur Auslösung von Alarm im Falle der illegalen Übertretung von Staatsgrenzen“. 42 Bei der Beschreibung ihrer Zielobjekte beziehen sie sich beispielsweise auf „komplexes geographisches Terrain, schwer zugängliche Örtlichkeiten, Wetterbedingungen, in Kombination mit der großen Zahl von Menschen, die versuchen, illegal die Staatsgrenze zu passieren und in die Europäische Union einzudringen“. 43 Wieder40 | Zitiert aus „Integrated System for Technical Surveillance of the BulgarianTurkish Border“, Broschüre der Firma Ericsson (Sofia o. D.). Diese und die folgenden Zitate in diesem Absatz sind aus dem Englischen übersetzt. 41 | Ebd. 42 | Produktbeschreibung aus der Broschüre „Border Surveillance & Control. Your Strength Multiplier“ der französischen Gruppe Thales (Colombes o. D.). 43 | Zitat aus der Broschüre „Integrated System for Technical Surveillance“ der Firma Ericsson (Sofia o. D.).

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um werden alle diese Aspekte in einem Satz als Teil ein und derselben ­Serie aufgeführt. Die Überwachungsindustrie verspricht, „ein gründliches Verständnis der Bedrohung, der Umweltbedingungen und der operationellen Probleme“ bei „jedem Wetter“ zu liefern und „starke Partnerschaften und Kenntnisse lokaler Einschränkungen (Terrain, klimatische Bedingungen, Organisation der Sicherheitskräfte, Bedrohungen, Operationsprozeduren, usw.) sicherzustellen“. 44 Wiederholt verwechselt und vermischt dies die Kräfte, denen es zu begegnen gilt und wirbt damit, „gegen Terrorismus, organisiertes Verbrechen, Naturkatastrophen und infrastrukturelle Zwischenfälle“45 zu schützen. Schon der Beschreibung ihrer Aufgaben lässt sich entnehmen, dass diese Geräte nicht auf Subjekte abzielen, sondern darauf, im Naturraum verborgene Bedrohungen aufzuspüren. Besonders suggestiv und augenfällig ist die Art und Weise, in der die Beschreibung Grenzübertretende im selben Atemzug mit topographischen, geographischen und meteorologischen Bedingungen nennt und all dies ein und derselben ­K ategorie zuordnet. Natur wird als unbekanntes Umfeld dargestellt, voll von ­potentiellen Bedrohungen – ein Umfeld, in dem „Eindringlinge“ wie Tiere auftauchen. 46 Die konkrete Konsequenz dieser an der Grenze eingesetzten Überwachungstechnologie, nämlich die Umlenkung ­unerwünschter Reisender in andere, noch riskantere Gebiete, in denen sie dann erneut versuchen, die Grenze zu übertreten, wird nie erwähnt. Die Angst, der Schlamm, die Kälte – die subjektive Erfahrung, der potenziell Übertretende gegenüberstehen, bleibt ungesehen. Die diesen Beschreibungen zugrunde liegenden Erzählungen vermitteln ein verbreitetes Narrativ, das entlang der Sequenz Risikowarnung → Bedrohungserkennung → Abfangen strukturiert ist, wobei die Geschichte notwendigerweise mit dem Abfangen endet und es keinerlei Details über den Ausgang dieser Episode und seine Konsequenzen für die beteiligten Individuen gibt. In den Beschreibungen sind die „Eindringlinge“ stets männlich und jung. Soziale, kulturelle oder politische Hintergründe fehlen zumeist, ebenso wie Informationen über mögliche Beweggründe der unerlaubt die Grenze 44 | Aus der Broschüre „Border Surveillance & Control“ der Gruppe Thales (Colombes o. D.). 45 | Ebd. 46 | Vgl. den animierten Clip der Firma „Radiobarrier“ unter http://www.radiobarrier.com/border-surveillance-1/ (zuletzt aufgerufen am 06.01.2019).

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übertretenden Personen. In den seltenen Fällen, in denen das Material visuelle Bezüge zu illegalisierter Migration herstellt, greift es zurück auf stereotype Bilder brüchiger Boote voller afrikanischer Männer oder auf hoher See ertrinkender Personen – all dies wird präsentiert ohne jegliche Erklärung oder Bezugnahme auf den Kontext. In den Broschüren der Industrie wird ein Bild von klinisch steriler Überwachung, von Sorgfalt und hohem Entwicklungsgrad mit einer Rhetorik kombiniert, die technologische Produkte als selbständige Akteure dargestellt. Die Präsentation der Geräte folgt zumeist einer syntaktischen Struktur, in der der handelnde Mensch praktisch nicht anwesend ist. Die Subjekte der Handlung sind entweder die Herstellerfirma oder die Artefakte selbst, aber ihre Eigenschaften und Fähigkeiten werden zumeist im Passiv formuliert. Die beteiligten konkreten Handlungen werden in weichem Gerundium vorgetragen oder direkt substantiviert. Es finden sich so gut wie keine konjugierten Verben, ganz so, als gäbe es keine Handlungen. Alles wird anhand der grammatischen Form von Substantiven stabilisiert. Mithilfe dieses rhetorischen Verfahrens wird Technologie als zeitlos, neutral und objektiv präsentiert, mit geringer historischer Verankerung und insbesondere frei von sozialer Handlungsmacht. Dies ­vermittelt eine Art „Automation“ des spezialisierten Gerätes, so als führte es die Handlungen eigenständig aus. Latour formuliert es so: „Eine Boeing 747 fliegt nicht, es sind Fluggesellschaften, die f liegen.“47 Technologische Instrumente sind Teil einer Verschränkung sozialer, diskursiver, wissenschaftlicher, symbolischer und affektiver Gesichtspunkte, die die westliche Weltsicht herauszugreifen tendiert. Im hier analysierten Material jedoch vollzieht sich Technologie wie in einem Vakuum und wird als apolitisch und wertfrei präsentiert. Auf diese Art legitimieren die ­unternehmerischen Diskurse ein Verständnis von Grenzen und den damit verbundenen Konf likten, das, ganz im Gegenteil zur behaupteten Neutralität, bestimmte Werte und ideologische Unterstellungen in sich trägt. Das Ziel der Lektüre und Interpretation dieser Diskurse ist hier nicht, die nüchterne Prosa derjenigen per se zu verurteilen, die für das Verfassen und die Redaktion von Werbebroschüren verantwortlich sind, sondern das Material als Information über die unterschwelligen Definitionen des Grenzübertretens und der daran beteiligten Akteure zu nutzen.

47 | Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main 2002, S. 236.

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Diese Darstellung des Grenzübertretens als ahistorisches, außersoziales „Eindringen“ ist kompatibel mit dem Vokabular und den Ansätzen, die von Frontex verwendet werden. In ihren Risikoanalysen evaluiert die EUGrenzagentur ihre eigene Aktivität, indem sie als Standard-Maßeinheit die „Erkennung illegaler Grenzübertritte“ nutzt. Die Wirksamkeit des Grenzschutzes wird über eine Abnahme der Anzahl solcher „­Erkennungen“ evaluiert. Indem auch hier illegalisierte Reisende als unbestimmte biologische Bedrohung und nicht als konkrete Individuen wahrgenommen werden, erfüllt diese Behandlung Foucaults Beschreibung der Biopolitik des „Staatsrassismus“: nicht ein konkreter Feind, sondern eine ­potentielle Gefahr für die Bevölkerung, die in biologischen Begriffen gefasst wird. 48 Wenn in den Berichten von Frontex das „Risiko“ analysiert wird, beziehen sie sich auf „jahreszeitbedingte“ Tendenzen, die, wie das Wetter, weder Akteur noch Ursache haben, und verwenden Begriffe wie „Migrationsverkehr“, „Ströme“, niedriger oder hoher ­(Migrations-)„Druck“, so als ginge es um physische oder meteorologische Phänomene jenseits der Geschichte und der Politik. Der „Eindringling“ wird ein weiteres Mal als biologische Bedrohung definiert, nicht als ein historisch verortetes Individuum, dessen Handlungen im Kontext bestimmter politischer, ökonomischer oder sozialer Zwänge stattfinden. Wie im oben beschriebenen unternehmerischen Material wird das „Eindringen“ als ahistorisches, apolitisches Phänomen charakterisiert und in Kontinuität und Kontiguität mit den Herausforderungen der Naturgewalten präsentiert.

Paradigmenverschmelzung: Die biometrische Herausforderung Die oben beschriebenen zwei Typen von Technologien und Ansätzen vermitteln differenzierte Konzepte und Definitionen von Personen, die die Grenze übertreten. Dennoch sollten sie nicht als zwei festgeschriebene, stabile und radikal getrennte Sphären aufgefasst werden. Tatsächlich arbeiten sowohl Politiker*innen als auch Technologieanbieter auf eine zunehmende Verschmelzung von Instrumenten hin, die auf digi48 | Diese Schaffung einer Art biologisierter Gefahr wird reproduziert, wenn lokale Behörden sich über die von Migrierenden angeblich eingeschleppten Krankheiten und Epidemien beschweren. In diesem Zusammenhang aktive Ärzt*innen ­b estätigen aber, dass der Gesundheitszustand der Migrierenden zumeist direkt mit den Bedingungen ihrer Reise verknüpft und somit politisch evoziert ist.

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tale und geographische Grenzen ausgerichtet sind, und ihre wachsende Verschränkung stellt eine zusätzliche Herausforderung für die Grenzforschung dar. Politische Entscheidungsträger*innen ebenso wie Sicherheitsfirmen heben den Wert hervor, den das Sammeln und Kombinieren von Daten aus verschiedenen Sensortypen und mobilen Apparaten sowie deren Validierung in Echtzeit in Verbindung mit großen Datenbanken hat. Informationen, die aus diversen, geographisch verstreuten Quellen an Land, in der Luft oder auf dem Wasser stammen und per Radar, Kameras oder Drohnen übermittelt werden, sollen in der Lage sein, mit größeren Datenbanken zu interagieren. Ziel der Grenzschutzbehörden ist es, in existierenden Datensystemen verstreute Informationen zu zentralisieren, zu kombinieren und zu operationalisieren und sie somit vollständig ­kompatibel zu machen. 49 Genauer gesagt bedeutet das, die Erkennung von Signalen in einer Umgebung zu verbinden und an einen umfangreichen Informationsspeicher zu übertragen. Im Freien erfasste Informationen sollen künftig mit großen Datenzentralen verbunden sein, die entweder von Frontex oder den EU-Mitgliedsstaaten betrieben werden. González Fuster und Gutwirth50 äußern sich besorgt über die mögliche Verschmelzung beider Ansätze, da die Kopplung der Informationssysteme mit den 49 | Die verschiedenen bereits existierenden Kontroll- und Überwachungssysteme, wie EURODAC, das Visa Information System (VIS), das Schengen Information System (SIS) I und II, das Europäische Bildspeicherungssystem (FADO), sowie die in Entwicklung (EUROSUR) oder Planung befindlichen, wie das Einreise-/ Ausreisesystem (EES) und das Programm für registrierte Reisende (RTP), sollen in der Lage sein, untereinander Daten von jedem beliebigen Grenzübergang auszutauschen, sodass Beamte an den Außengrenzen Zugang zu bestimmten ­I nformationen über jedes Individuum erhalten (vgl. Vassilis Tsianos, Brigitta Kuster, „Eurodac in Times of Bigness: The Power of Big Data within the Emerging European IT Agency“, in: Journal of Borderlands Studies 31(2) (2016), S. 235249. Der Bekundung der Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (eu-LISA) zum Trotz, wonach die Daten der verschiedenen von der Agentur verwalteten Systeme vollständig voneinander getrennt bleiben sollen, scheint die Erweiterung der Interoperabilität der Systeme den Horizont der beteiligten Behörden zu bilden. 50 | Siehe G. González Fuster, S. Gutwirth, „When ‚Digital Borders‘ Meet ‚Surveilled Geographical Borders‘“, 2011.

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an den geographischen Grenzen verwendeten Technologien juristische Bedenken hinsichtlich persönlicher Daten und des Rechts auf Privatsphäre schafft. Vassilis Tsianos und Brigitta Kusters51 Analyse von EURODAC weist auf verstärkte Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums hin, die im Kontrast zu den Operationen entlang der Außengrenze stehen: Die biometrische Erfassung ihrer individualisierten Daten an der Erstaufnahmestelle zielt auf eine zunehmende Digitalisierung der Grenzkontrolle, die „die mobilen und volatilen Körper der Migrierenden maschinenlesbar“ machen wird – und zwar durch ihre Fingerabdrücke. Ein System, das als „Überwachungsverbund“ bezeichnet worden ist und mittels der „Abstraktion menschlicher Körper von ihren räumlichen Umgebungen und ihrer Aufteilung in eine Folge unterscheidbarer D ­ atenströme“ ­operiert, die dann „in eindeutigen ‚Datendoubles‘ neu zusammengesetzt“ werden.52 Während der hier verfolgte Ansatz die Komplexität dieser Tendenz hin zur stärkeren Verschränkung „geographischer“ und „digitaler“ Grenzen anerkennt, erlaubt die analytische Unterscheidung zwischen ihnen, auf die Definitionen und Framings der Grenzübertritte selbst sowie auf die durch sie vermittelten symbolischen Abgrenzungen hinzuweisen. Die Hervorhebung der Besonderheiten eines jeden Modus gibt Aufschluss über den differentiellen Modus der jeweiligen Konstruktion von Grenzübertretenden. Die Herausforderung, die die Verschmelzung beider Ansätze stellt, besteht darin herauszufinden, wo und wie in Bewegung befindliche Personen fortlaufend als biologisiert produziert werden. Letztlich beruhen auch Fingerabdrücke und andere Formen biometrischer Datenerfassung auf Modi der Abfragung des Individuums qua seiner „Biologie“; dies bedeutet, dass die Festsetzung der „wahren Identität“ von Reisenden im Bereich des Biologischen erfolgt und somit in Grenzkonf likten neue Felder der Anfechtung eröffnet werden.53

51 | Siehe V. Tsianos, Brigitta Kusters, „Eurodac in Times of Bigness“, 2016. 52 | Kevin Haggerty, Richard Ericson, „The Surveillant Assemblage“, in: British Journal of Sociology 51(4) (2000), S. 605-622, hier S. 606. 53 | Siehe Stephan Scheel, „Autonomy of Migration Despite Its Securitisation? Facing the Terms and Conditions of Biometric Rebordering“, in: Millenium. Journal of International Studies 41(3) (2013), S. 575-600.

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D ie A bgrenzung K ultur /N atur : E in S chaupl atz für G renzkonflik te Entlang der EU-Grenzen stehen also nicht lediglich konkrete Übertritte, sondern auch symbolische und kulturelle Bedeutungen auf dem Spiel. Das analysierte Material verdeutlicht, wie die Verwendung von Technologie an den EU-Grenzen eine Grenzziehung zwischen Europa als moderner, zivilisierter und hochgradig technologisierter Welt und unerwünschten Reisenden unterstellt und reproduziert, welche sowohl symbolisch als auch materiell in eine Zone der Nähe oder der Kontinuität mit „Natur“ gedrängt werden. Die zugrunde liegenden Unterstellungen bezüglich der europäischen Selbstdefinition offenbaren ein eurozentrisches Substrat, das permanent die Distanzierung der „Modernen“ vom Reich der Natur und ihren Zwängen anstrebt. Die „Modernen“ definieren sich Latours Kritik zufolge so, als sei der Westen nicht eine Kultur unter anderen, sondern vielmehr als eine radikal vom Rest getrennte und unterschiedene. Die Trennung Natur/Sozial-Kulturelles wird als exklusive Eigenschaft der westlichen Modernen betrachtet, während alle anderen „anthropologischen“ Kulturen unter Verschränkung der Technologien und Diskurse aufgefasst und studiert werden. Die materielle ­Verdrängung von Migrierenden in eine Zone der Auslieferung an die Naturgewalten oder des nackten Lebens wird ergänzt und fundiert durch Diskurse, die Migration als in einem Kontinuum mit dem Reich der Natur stehend konstruieren, im Gegensatz zu und abgetrennt von Europa als hochtechnologisierter Welt. Derart reproduzieren sie die Neigung der „Modernen“, die ­ nicht-westlichen „Anderen“ einem Natur-Kontinuum zuzuweisen, während sie sich selbst im Gebiet legitimen wissenschaftlichen Wissens und wertfreier Technologie wähnen. Dies läuft auf eine zutiefst rassifizierte Spaltung hinaus, welche Latour als „the great divide“54 bezeichnet. Die eurozentrischen Unterstellungen, die diesem Dualismus zwischen Natur und Kultur zugrunde liegen, scheinen, wenngleich akademisch widerlegt, in der den Praktiken und Diskursen der Grenzüberwachung und -kontrolle zugrunde liegenden Logik nach wie vor aktiv und produktiv zu sein. Die paradoxe Dynamik der globalen Mobilität, die immer mehr Personen eben jenen Naturgewalten ausliefert, macht es erforderlich, e­ rneut 54 | B. Latour, Wir sind nie modern gewesen, 2008.

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über die Rolle und die Bedeutung technologischer Apparate und die durch sie getragenen Definitionen des Menschlichen nachzudenken. Ob nun „bona fide“-Reisende, die reibungslos automatisierte Grenzkontrollen passieren, die ihre biometrischen Daten erfassen, oder potentielle „Eindringlinge“, die von Sensoren und Wärmekameras aufgespürt werden – jede Technologie drückt eine bestimmte Definition des Grenz­szenarios aus und offenbart eine spezifische, zugrunde liegende Definition dessen, was „menschlich“ ist.

Nicht so nacktes Leben: Smartphones, Tablets, Handlungsmacht Noch vor wenigen Jahren äußerten sich die Grenzschützer*innen und Behörden der griechischen Inseln erstaunt über Migrierende, die die neuesten Tablets und Smartphones mit sich trugen oder aktiv digitale soziale Netzwerke unterhielten. Als sei ihr Transitzustand unvereinbar mit der Nutzung von Technologie, vollzogen solche Kommentare ein weiteres Mal die symbolische Verdrängung irregulär Grenzen Übertretender in eine vor- oder außer-technologische Zone. Tatsächlich findet der „Grenzkonf likt“ häufig im Zusammenhang mit dem Zugang zu solchen Technologien statt, die für die Migrierenden immer relevanter zur Planung ihrer Fortbewegung werden. Es entsteht ein scheinbarer Gegensatz zwischen ausgeprägter Nutzung technischer Kommunikationsformen einerseits und risikoreicher Auslieferung an das Leben im Freien andererseits. Beispielsweise nutzten Gef lüchtete in Calais das Angebot von Bewohner*innen der Stadt, ihre Handys bei ihnen aufzuladen oder sich in deren Internet einzuloggen. Gleichzeitig tragen die Lager in C ­ alais oder Igumenitsa Namen wie „Dschungel“ und „Berg“. Die Tatsache, dass Grenzübertretende mit Smartphones, Satellitentelefonen und GPS reisen, oder dass sie in den sozialen Medien kursierende Informationen nutzen, widerspricht nicht etwa dem hier dargelegten Argument, sondern unterstreicht die Bedeutung der Spaltung zwischen Auslieferung und Technologie als Trennlinie des Konf likts und als Schauplatz, auf dem Grenzkonf likte stattfinden. Einige Autor*innen legen nahe, dass ein biopolitische Schisma zwischen globalem Süden und globalem Norden gegenwärtig durch das Grenzregime erzeugt wird, indem es bestimmte Bevölkerungsgruppen

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zunehmend der Lebensgefahr aussetzt.55 Dieses Essay vertritt die Ansicht, dass dieses Schisma auch auf einer fortgeführten Spaltung zwischen dem Reich der Technologie und der Zivilisation einerseits und der unmittel­ baren Auslieferung an die Zwänge der Elemente andererseits beruht – und diese reproduziert. Die biopolitische Abgrenzung zwischen der qualifizierten Existenz der Bürger*in und dem nackten biologischen Leben sollte warnend deutlich machen, auf welches Terrain Versuche, das EU-Grenzregime zu überwinden, getragen werden. Auf diesem Terrain geht es zum einen um das Überleben unter Bedingungen der Auslieferung an Naturgewalten. Zum anderen stehen eine symbolische Abgrenzung und die Produktion von Subjektivitäten auf dem Spiel.56 Dennoch sollte die Schaffung von Zonen der Nicht-Unterscheidung zwischen bios und zoe nicht als einseitige, von den Mächtigen durchgeführte Operation aufgefasst werden, sondern als Terrain eines anhaltenden Kampfes entlang der Grenzzonen. Illegalisierte Migrierende könnten sogar versuchen, diese Bedingung zu ihrem Vorteil zu nutzen, indem sie sich der Gefahr a­ ussetzen und humanitäre Hilfe einfordern – wie es auf dramatische Weise die Zerstörung der eigenen Schlauchboote, um gerettet zu werden, zeigt. Auch sollten die ­Figuren, die mit nacktem Leben assoziiert werden, nicht als handlungsohnmächtig aufgefasst werden. Vielmehr schafft dies eine Bedingung, unter der Grenzübertretende Subjektivität und Handlungsmacht besitzen – und damit eine biegsame und veränderliche Dimension, in der Bewegungen und Bedeutungen immer wieder aufs Neue verhandelt und umkämpft werden.57

55 | Siehe Sonja Buckel, Jens Wissel, „State Project Europe: The Transformation of the European Border Regime and the Production of Bare Life“, in: International Political Sociology 4 (2010), S. 33-49; L. Weber, S. Pickering, Globalization and Borders, 2011. 56 | Siehe S. Mezzadra, B. Neilson, Border as Method, 2013. 57 | Anmerkung der Autorin: Dieser Artikel wurde 2016 verfasst und berücksichtigt die Lage an den EU-Grenzen und die Forschungsliteratur bis zu diesem Zeitpunkt. Eine leicht angepasste Version ist 2019 auf Englisch unter dem Titel „Europe and the Biopolitical Schism. Material and Symbolic Boundaries of the EU Border Regime“ in der Schriftenreihe des Viadrina-Instituts für Europastudien der Europa-Universität Viadrina erschienen.

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Estela Schindel

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Das biopolitische Schisma

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Dank

Herzlich danken möchten wir allen Autor*innen dieses Bandes für die ausdauernde, zuvorkommende und kooperative Mitarbeit. Ein besonderer Dank geht an den von Claudia Bruns geleiteten Forschungszusammenhang zu „Europas Grenzen“ am Institut für Kulturwissenschaft und an das Interdisziplinäre Zentrum für transnationale Grenzforschung „Border Crossings – Crossing Borders“ der Humboldt-Universität zu Berlin. Aus diesem Kontext ist der Sammelband hervorgegangen. Inhaltlich wurde er auch durch Marietta Kesting und Antonia Schmid mitgeprägt, beiden danken wir für ihr Engagement und ihre Mitarbeit. Sodann möchten wir ein Dankeschön für die großzügige finanzielle Förderung durch den Lehr- und Forschungsbereich von Claudia Bruns, die Frauenfördermittel des Instituts für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin sowie die FernUniversität in Hagen aussprechen. Gemeinsam ermöglichten sie uns die Drucklegung dieses Bandes. Nicolas Schneider möchten wir für die Übersetzungen der englischen Beiträge ins Deutsche danken. Für das engagierte und effiziente Lektorat danken wir Susanne Drechsel und Verena Katz sowie für das umsichtige Korrektorat Silvana Dorothea Schmidt. Für das Layout bedanken wir uns bei Sebastian Weiß. Dem Verlag, insbesondere Anne Sauerland und Annika Linnemann, danken wir herzlich für die Begleitung des Buches bis zur Drucklegung.

Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)

Right-Wing Populism and Gender European Perspectives and Beyond April 2020, 286 p., pb., ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-4980-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4980-6

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung März 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan

Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 2/2020) Oktober 2020, 178 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4937-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4937-0

Karin Harrasser, Insa Härtel, Karl-Josef Pazzini, Sonja Witte (Hg.)

Heil versprechen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2020 Juli 2020, 184 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4953-6 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4953-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de