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German Pages [321]
Michele C. Ferrari, Klaus Herbers und Christiane Witthöft (Hg.) Europa 1215
BEIHEFTE ZUM ARCHIV FÜR KULTURGESCHICHTE IN VERBINDUNG MIT KARL ACHAM, EGON BOSHOF, WOLFGANG BRÜCKNER, BERNHARD JAHN, EVA-BETTINA KREMS, FRANK-LOTHAR KROLL, TOBIAS LEUKER, HELMUT NEUHAUS, NORBERT NUSSBAUM, STEFAN REBENICH HERAUSGEGEBEN VON
KLAUS HERBERS HEFT 79
EUROPA 1215 Politik, Kultur und Literatur zur Zeit des IV. Laterankonzils Herausgegeben von
Michele C. Ferrari, Klaus Herbers und Christiane Witthöft
Unter Mitarbeit von Harriet Ziegler und Steve Riedl
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: © The British Library Board, Royal ms 16 G.VI, f374v. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Dore Wilken, Freiburg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
ISBN 978-3-412-50662-9
Inhalt
Michele C. Ferrari, Klaus Herbers, Christiane Witthöft
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph H. F. Meyer
Das Vierte Laterankonzil als Einschnitt der kirchlichen Rechtsgeschichte . . . .
29
Jochen Johrendt
Innozenz III. und das IV. Laterankonzil. Predigt, verweigerte Aussprache und fiktiver Dialog . . . . . . . . . . . . . . .
93
Jörg Oberste
Die Pastoralbeschlüsse des IV. Lateranums und die europäische Ketzerfrage .. .
107
Matthias Maser
Dissolve colligationes impietatis – Papst Innozenz III. und die Anfänge seiner Politik des negotium crucis auf der Iberischen Halbinsel (1198–1204) .. . . . .
123
Thomas Noll
Das Apsismosaik von Innozenz III. in Alt-St. Peter. Zur Selbstdarstellung des Papsttums im frühen dreizehnten Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
Tafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Bruno Reudenbach, Jochen Hermann Vennebusch
Zeigen und Beweisen. Beobachtungen zur Inszenierung von Evidenz in der Kunst des dreizehnten Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
Susanne Friede
Die ›Geburt der Prosa‹. Überlegungen zur Entstehung französischer Texte in Prosa (1205–1215) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
Tobias Bulang
Kontext und Intertext – Inszenierte Ordale in mittelhochdeutschen Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
237
Andreas Hammer
Spuren des Konzils in der geistlichen Literatur : Das Mirakel vom Judenknaben und die Gründungslegenden der Neuen Orden .. . . . . . . . . . . . . . . . .
255
6
Inhalt
Christiane Witthöft
Bekenntnis, Beichte und Selbstbezichtigung. Kanon 21 des IV. Laterankonzils und die mittelhochdeutsche Novellistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michele C. Ferrari, Klaus Herbers, Christiane Witthöft
Einleitung
Das von Papst Innozenz III. einberufene Vierte Laterankonzil 1215 gilt gemeinhin zu Recht als ein Höhepunkt der mittelalterlichen Kirchengeschichte. ›Mich hat sehnlich danach verlangt, dieses Passahmahl mit euch zu essen, bevor ich sterbe‹, so begann in Anklang an Lukas 22,15 Papst Innozenz III. († 1216) seine Eröffnungsrede zum Vierten Laterankonzil, das am 11., 20. und 30. November 1215 in Rom tagte. Was wollte der Papst damit sagen ? Spricht hier ein Todgeweihter, wie die ältere Forschung meinte ? Immerhin ersetzt der Text das antequam patiar (›bevor ich leide‹) des Bibeltextes durch ein antequam moriar (›bevor ich sterbe‹). Bedeutete der Hinweis auf das Passahmahl aber nur Leiden oder war dies nicht zugleich ein Fest ? Waren dies die Worte eines Papstes, der zwar biblisch und theologisch formulierte, aber im Grunde juristisch dachte ? War das Konzil die Bühne, um die päpstliche Zentralgewalt zur Geltung zu bringen, wie jüngst mehrfach im Anschluss an die vielen Untersuchungen zur symbolischen Kommunikation im Mittelalter unterstrichen wurde ?1 Das Vierte Laterankonzil ist das letzte der vier großen Konzilien, die seit 1123 mit der großen römischen Kirche verbunden sind. Eines fällt jedenfalls auf : Die drei Versammlungen 1123, 1139 und 1179 fanden nach den Einigungen im sogenannten Investiturstreit sowie nach einschneidenden Papstschismen statt. Ging es hier vielleicht darum, die Ergebnisse solcher Auseinandersetzungen zwar aufzuarbeiten, aber auch die allgemeine Akzeptanz für diese zu schaffen ? Die Kanones des Vierten Lateranum reichten von zahlreichen innerkirchlichen Regelungen bis zu Fragen von Häresie, Judenverfolgung, Kreuzzug und Rechtsverfahren.2 Die Inhalte waren offensichtlich breiter angelegt als die der drei Vorgängerkonzilien. War dies dem Papst zu verdanken, der in allen diesen Bereichen deutliche Akzente setzte und den man oft als großen ›Juristenpapst‹ bezeichnet hat ? Auch der vorliegende Sammelband zum Jubiläum 2015 fragt implizit nach dem Verhältnis von Papst und Konzil, schließt aber die breite Wirkung in den verschiedensten Bereichen wie Kunst und Literatur ein. Denn zahlreiche der dort verabschiedeten Normen zei1 Vgl. z.B. die Diskussion im Beitrag von Jochen Johrendt, unten S. 93–106 In dieser Einleitung wird grundsätzlich auf die Spezialliteratur in den dicht dokumentierten verschiedenen Beiträgen verwiesen, nur im Einzelfall wird weitere Literatur angefügt. 2 Hierzu im Einzelnen mit reicher Literatur Christoph H. F. Meyer, unten S. 29–92 ; sowie Jörg Oberste, unten S. 107–122.
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Michele C. Ferrari, Klaus Herbers, Christiane Witthöft
tigten religiöse, kirchliche, politische und soziale Folgen, die auch für die Kunst und Literatur der Zeit kaum überschätzt werden können.3 Somit möchte der Band nicht nur das Konzil im engeren Sinne, sondern vor allem den breiten Kontext dieses Ereignisses würdigen.4
Einladung, Eröffnung, Ziele
›In den Weinberg des Herrn brechen Tiere aller Art ein, um ihn zu verwüsten‹, so beginnt das Einladungsschreiben Vineam Domini Sabaoth des Papstes vom 19. April 12135 mit dem beliebten Bild des Weinbergs für die Aufgabenfelder der Kirche. Zwei Dinge hätten, so der Papst, sein Herz in letzter Zeit bewegt : die Wiedererlangung des Heiligen Landes und die Reform der universalen Kirche. Unter Tränen habe er häufig gebetet, damit Gott ihm seinen Willen offenbare, und er habe mit den Kardinälen und anderen klugen Männern die Einberufung eines Konzils beschlossen. Und dann folgt eine Agenda : Laster sollten ausgerottet und Tugenden eingepflanzt, Auswüchse korrigiert, die Moral gebessert, Irrlehren beseitigt werden. Ein langer Katalog von Aufgaben und Vorschlägen schließt sich an. In einem weiteren Abschnitt nimmt Innozenz zur langen Vorbereitungszeit Stellung und bemerkt, dass er viros pruden tes, kluge Männer, in alle Provinzen geschickt habe, die dort ermitteln sollten, was ›durch die apostolische Fürsorge‹ getan werden müsse. Außerdem wolle er geeignete Männer (viros idoneos) für die Angelegenheit des Heiligen Landes ausschicken. Der Episkopat wird ermahnt zu klären, was der Korrektur und Reform bedürfe, und er möge zur Teilnahme am Konzil überflüssige Ausgaben vermeiden und vor allem bei der Vorbereitung des Kreuzzugs helfen.
3 Vgl. dazu die Beiträge von Thomas Noll, unten S. 153–192 ; Bruno Reudenbach/Jochen Hermann Vennebusch, unten S. 205–214 ; Susanne Friede, unten S. 217–236 ; Tobias Bulang, unten S. 237–253 ; Andreas Hammer, unten S. 255–285 ; Christiane Witthöft, unten S. 287–315 ; sowie den vierten Abschnitt ›Die Beschlüsse und das Konzil – Wirkungen und Weiterungen‹ dieser Einleitung, unten S. 16–18. 4 Im Jubiläumsjahr haben zahlreiche Tagungen stattgefunden, deren schriftliche Akten meist noch nicht erschienen sind. Publiziert wurden die Vorträge einer Abendveranstaltung in der Kath. Akademie in München von Werner Maleczek : Das Vierte Laterankonzil und seine Bedeutung für die Gestaltung der Lateinischen Christenheit sowie Klaus Herbers : Das Vierte Laterankonzil und Papst Innozenz III. als alleiniges Haupt der Christenheit. Höhepunkt päpstlicher Machtentfaltung, beide in : Zur Debatte 45 (2/2016) (München 2016), S. 12–14 und S. 9–11. Hieraus wird Einiges in den folgenden Zeilen aufgegriffen. 5 Innocentius III : Vineam Domini Sabaoth. In : Patrologia Latina. Bd. 216. Paris 1855, Sp. 823D–827A. Vgl. hierzu weiterhin Christoph H. F. Meyer, unten S. 29–92, bes. S. 33 mit Anm. 10.
Einleitung
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Kreuzzug und Kirchenreform, passt das zusammen ? Die neuere historische Forschung sieht hier durchaus Verbindungslinien,6 wie am Beispiel der Iberischen Halbinsel trefflich gezeigt werden kann.7 Innozenz III. verfasste Vineam Domini Sabaoth in einer Zeit, als zahlreiche Konfliktherde auch das Papsttum betrafen. Eine Angelegenheit stand deutlich im Vordergrund : Der Verlust Jerusalems 1187, den Papst Gregor VIII. († 1187) mit dem Rundschreiben Audita tremendi beklagt hatte, war nicht vergessen.8 Die littera von 1187 dokumentiert den tiefen Schmerz Gregors VIII.; 25 Jahre später, 1212, sollte Innozenz III. um ein Vielfaches verstärkt seiner Freude darüber Ausdruck geben, dass die Christen in Las Navas de Tolosa gegen die Muslime in Spanien gesiegt hatten. Nach diesem Sieg stand ein neuer Kreuzzug gleichsam auf der Tagesordnung. Auch im Südwesten Frankreichs sprach man bei der Bekämpfung der Häresie der Albigenser oder Katharer von einem Kreuzzug. Wie wichtig dem Papst dieses Anliegen war, zeigt die Tatsache, dass er wenige Tage nach der Konzilseinladung, am 26. April 1213, an den Patriarchen Albert von Jerusalem schrieb und die Enzyklika Vineam Domini Sabaoth beilegte. Innozenz ersuchte schließlich den Patriarchen, früher zu kommen und ›auch einige kluge und zuverlässige Männer‹ mitzubringen, ›die guten Einblick haben in die sachlichen, zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten‹. Nach der intensiven Vorarbeit von zwei Jahren fällt im Vergleich zu früheren Konzilien die große Beteiligung auf : Neben Bischöfen, Äbten, den Generalkapiteln von Cîteaux und Prémontré, den Großmeistern der Ritterorden wurden sogar – eine 6 Vgl. Ernst-Dieter Hehl : Kirche und Krieg im 12. Jahrhundert. Studien zu kanonischem Recht und politischer Wirklichkeit. Stuttgart 1980 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 19) und vor allem ders.: Was ist eigentlich ein Kreuzzug ? In : Historische Zeitschrift 259 (1994), S. 297–336 ; außerdem : Alfons Becker : Papst Urban II. (1088–1099). Bd. 2. Der Papst, die griechische Christenheit und der Kreuzzug. Stuttgart 1988 (MGH Schriften 19/2) ; Klaus Herbers : »Gott will es !« – Christlicher »Fundamentalismus« im europäischen Mittelalter ? In : Fundamentalismus. Erscheinungsformen in Vergangenheit und Gegenwart. Atzelsberger Gespräche 2004. Hrsg. von Helmut Neuhaus. Erlangen 2005 (Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften 108), S. 9–40. Neuster Stand zu diesen und weiteren Aspekten Legati, Delegati e l’Impresa d’Oltremare (Secoli XII–XIII). Papal legates, delegates and the crusades (12th–13th century). Hrsg. von Maria Pia Alberzoni u.a. Turnhout 2014 ; sowie : Die Kreuzzugsbewegung im römisch-deutschen Reich (11.–13. Jahrhundert). Hrsg. von Nikolas Jaspert/Stefan Tebruck. Ostfildern 2016. 7 Vgl. den Beitrag von Matthias Maser, unten S. 123–149, zum Eherecht und zur Kreuzzugsförderung. 8 J. F. Böhmer : Regesta Imperii. Bd. IV. Lothar III. und ältere Staufer. Vierte Abteilung : Papstregesten 1124–1198. Teil 4 : 1181–1198. Lieferung 3 : 1185–1187. Urban III. und Gregor VIII. Erarbeitet von Ulrich Schmidt unter Mitwirkung von Katrin Baaken. Köln u.a. 2012, Nr. 1307 ; Klaus Herbers : Das Göttinger Papsturkundenwerk, Legaten, Delegaten und die Kreuzzugsforschung. In : Legati, Delegati e l’Impresa d’Oltremare (wie Anm. 6), S. 16–30, bes. S. 15–18 mit Nennung der weiteren Schreiben und neuer Literatur.
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Neuerung – Vertreter der Kathedral- und Stiftskapitel nach Rom gebeten. Die Ladungsschreiben zeigen, dass Innozenz nicht nur den orbis latinus, sondern in spätantiker Tradition die ganze Christenheit versammeln wollte, was zu einem für mittelalterliche Verhältnisse riesigen Konzil führte. Will man die Zahlen sprechen lassen, so waren aus 200 Mitgliedern beim Ersten Laterankonzil 1123 rund 1200 geworden, genauer : 400 Kardinäle, Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe sowie 800 weitere Kleriker. Ein anonymer, erst vor einigen Jahren wiederentdeckter Kommentar eines Zeitgenossen (Gießener Anonymus) stellte fest, dass eine solche Menge bisher kein Auge geschaut, kein Ohr je gehört habe. Dieser Bericht lässt neben demjenigen des Richard von San Germano († 1244) den Verlauf der Versammlung deutlich werden : Drei Sitzungstage, am 11. November (Martini), am 20. November und am 30. November (Andreastag) bildeten die Grundstruktur.9 Nach den einleitenden Bemerkungen schildert der Augenzeuge den Beginn der ersten Sitzung am Martinstag mit einer Messe im Lateran, der nur Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe beiwohnten. Danach wurden die anderen ordines zugelassen und das Veni creator Spiritus angestimmt. Nach der oratio habe der Papst in seiner Ansprache zur Befreiung des Heiligen Landes gemahnt, bevor der Patriarch von Jerusalem das Wort ergriffen habe. Die Homilie Innozenz’ III. entsprach dem Zeitgeschmack, sie legte Schrifttexte im allegorischen Sinn aus. Das Paschafest ist die Feier des Konzils ›für die Reform der ganzen Kirche und vor allem für die Befreiung des Heiligen Landes‹. Wenn aber Pascha eine doppelte Etymologie besitzt und sowohl Übergang als auch Leiden bedeute, dann gebe es einen dreifachen Übergang : körperlich – nach Jerusalem, geistlich – zu einer Reform und ewig, das heißt von diesem Leben zu dem Leben, also zur Herrlichkeit. Weitere Bilder folgten. Der Papst sei bereit, den Kelch des Leidens zu trinken, wenn dieser ihm für die Verteidigung des katholischen Glaubens, die Befreiung des Heiligen Landes oder die Freiheit der Kirche gereicht werde. Reform der Kirche und des Klerus hieß aber für den Papst : »[A]lle Verderbtheit geht hauptsächlich vom Klerus aus : wenn nämlich der geweihte Priester sündigt, verleitet er das Volk zur Sünde.«10 Weitere Fragen zur Symbolik ließen sich anfügen, wenn man daran denkt, dass die drei Sitzungstage die Trinität symbolisieren könnten. Auch wüsste man gerne, was in 9 Gießener Anonymus, ed. Stephan Kuttner/Antonio García y García : A new eyewitness account of the Fourth Lateran Council. In : Traditio 20 (1964), S. 115–178 ; Neudruck in : Medieval councils, decretals and collections of canon law : selected essays. Hrsg. von Stephan Kuttner. London 1980 (Collected Studies), S. 115–178 und in : Iglesia, sociedad y derecho. Bd. 2. Hrsg. von Antonio García y García. Salamanca 1987, S. 62–121. 10 Potthast 4706–4708 ; Innocentius III : Vineam Domini Sabaoth. In : Patrologia Latina. Bd. 216. Paris 1855, Sp. 823D–827A. Vgl. hierzu auch Jochen Johrendt, unten S. 95–99 mit Anm. 8–23.
Einleitung
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den Pausen zwischen den Sitzungen geschah, aber hier dürften nur indirekte Vermutungen möglich sein.
Die Beschlüsse und ihre Grundlagen – Schwerpunkte und Tendenz
Was sagen die Beschlüsse ? Die besondere Bedeutung oder Sonderstellung des Kreuzzugsanliegens geht daraus hervor, dass der umfangreiche Kanon 71 hierzu an das Ende gesetzt ist. Die Gliederung in verschiedene Bereiche haben mittelalterliche Kanonisten schon für uns erledigt, Christoph H. F. Meyer verweist vor allem auf die Fünfteilung in der Casus Parisienses,11 verfolgt eine Anordnung laut dem Dekretalenschema und unterteilt in fünf Abschnitte, denen sich folgen lässt. 1. Zum ersten Teil gehören die ersten vier Kanones, die den katholischen Glauben sowie Bestimmungen zu Häresien und unterschiedlichen Riten in Ost und West betreffen. Wohl nach dem Vorbild des Codex Justinianus steht die Konstitution De fide catholica am Beginn der Beschlüsse. Dies gewinnt auch seinen systematischen Sinn, weil sich die drei folgenden Kanones mit Glaubensabweichlern beschäftigen. Die Beschlüsse betrafen insgesamt nicht nur die innere Organisation der Kirche als solcher, sondern hatten weitreichende und lange andauernde Konsequenzen für die societas christiana insgesamt. Sie zeigen, dass wesentliche Bereiche kirchlicher Belange diskutiert wurden und auf die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit reagiert wurde : dogmatische Fragen, der Umgang mit Ketzern, Juden und Muslimen, die kirchliche Struktur, ihre Wahlverfahren und ihre Gerichtsbarkeit sowie das Verhalten von Klerikern. Der letzte Kanon ruft zum Kreuzzug ins Heilige Land auf. Wie kamen die Beschlüsse zustande und welchen Anteil hatte Innozenz hieran ? Drei Beispiele seien angeführt : 1. Das umfangreiche Glaubensbekenntnis im ersten Kanon liest sich fast wie eine Erläuterung zum Credo von Nizäa/Konstantinopel und weist auch Bezüge zum Elften Konzil von Toledo (675) auf. Neu war aber, dass die Kirche auf Christus dergestalt bezogen wurde, dass dieser ›Priester und Opfer zugleich‹ sei. Christi Leib und Blut seien im Altarssakrament in Brot und Wein wahrhaft enthalten, denn sie seien durch Gottes Macht ›transsubstantiiert‹, wesensverwandelt, worden. Die aktuellen theologischen Überlegungen des zwölften und des dreizehnten Jahrhunderts wurden somit aufgegriffen (z.B. Alanus ab Insulis, Stephen Langton) und der Papst hatte sogar selbst in seiner sechsteiligen Abhandlung De sacro altaris mysterio (›über das heilige Geheimnis des Altares‹) zur Transsubstanti-
11 Vgl. Christoph H. F. Meyer, unten S. 29–92.
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ation Stellung genommen.12 Das Konzil griff damit die neusten Interpretationen der damaligen scholastischen Theologie auf. 2. Damit hängt zusammen, dass die Überlegungen weiterer Reformsynoden des beginnenden dreizehnten Jahrhunderts außerhalb Roms zum Teil wiedererkennbar sind. Neben dem Dritten Lateranum (1179) sei vor allem an eine 1209 in Avignon zusammengetretene Synode erinnert (vgl. Kanon 10 des Vierten Laterankonzils). Die Synodalstatuten, die Stephen Langton († 1228) im Juni 1213 nach seiner Ankunft in England beschließen ließ, betrafen Kirchenzucht, Sakramentenverwaltung und Pastoral. Sie gingen wie das Vierte Lateranum auf den Empfang des Bußsakraments und der Eucharistie ein, eine Vorwegnahme von Kanon 21 des Vierten Laterankonzils mit Beichtpflicht und Osterkommunion. Stephen Langton war ebenso wie Robert de Courson († 1219) ein Studiengefährte Innozenz’ III. gewesen. Der Letztere hielt als Legat in Frankreich ab 1213 mehrere Synoden ab. Die unter seinem Einfluss tagenden Synoden beschäftigten sich unter anderem mit der Klerikerdisziplin und mit Fragen der Pastoral. Insofern drang die mit der Domschule von Notre Dame verbundene ›spekulative Theologie‹ in das Konzilsregelwerk ein – Personenverbindungen erschließen hier, worauf sachliche Entscheide auch basieren konnten, denn Innozenz hatte Stephen Langton 1206, Robert de Courson 1212 zur Würde von Kardinalpriestern verholfen.13 Nun konnten sie ihre Ideen in die Vorbereitung von Konzilsbeschlüssen direkt oder indirekt einbringen und den ›Marsch durch die Institutionen‹ vorbereiten. Die Diskussionen der Pariser Theologie drehten sich aber auch um die Sakramentalisierung der Beichte. Zu bestimmen war das Verhältnis von Todsünde und lässlicher Sünde, außerdem die Bedeutung des Bekenntnisses als Akt der Buße und Genugtuung, das Verhältnis von Beichte und ewiger Strafe. Diese Fragen beschäftigten viele Theologen in den sogenannten Summae confessorum im zwölften Jahrhundert. Die Heilung der Seele eines Sünders trat hier gegenüber der Strafe für die Sünde in den Vordergrund. Pastorale Aspekte, wie im Kanon 21 deutlich, basieren damit auf dem Geist dieser Summae confessorum, wenn es dort heißt, dass der Beichtvater die näheren »Umstände des Sünders und der Sünde« sorgfältig erforschen müsse, um den richtigen Rat zu geben. Die Literatur zur Beichte, die sich dann im dreizehnten Jahrhundert weiterentwickelte, basiert auf dieser Tradition.14
12 Hierzu auf der Tagung Michele C. Ferrari (vgl. unten Anm. 25) ; sowie zu einzelnen Aspekten die Beiträge von Bruno Reudenbach/Jochen Hermann Vennebusch, unten S. 205–214 und Andreas Hammer, unten S. 255–285. 13 Vgl. Geschichte des Kardinalats im Mittelalter. Hrsg. von Jürgen Dendorfer/Ralf Lützelschwab. Stuttgart 2011 (Päpste und Papsttum 39), S. 479. 14 Vgl. Christiane Witthöft, unten S. 287–315, bes. S. 307.
Einleitung
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3. Das dritte Beispiel betrifft den wichtigen Kreuzzugskanon (71). Kenner hatten auf Wunsch Innozenz’ eine Textvorlage erarbeitet, die der inzwischen neue Patriarch von Jerusalem, Radulf († 1225), auf der ersten feierlichen Sitzung verlesen hatte. Der Historiograph Roger von Wendover († 1236) hat diese Fassung überliefert.15 Sie weicht von der verkündeten Fassung ab : Neben vielen Einzelheiten werden vor allem die Ausführungsbestimmungen im endgültigen Kanon 71 klarer gefasst. Auch Konzilsdiskussion kann also durchaus angenommen werden. Außer diesen drei Beispielen ist auf die Vorarbeiten des Papstes Innozenz III. selbst hinzuweisen. Neben seinen Briefen ist er mit verschiedenen Werken hervorgetreten,16 verantwortete aber vor allem die erste offizielle Dekretalensammlung, die sogenannte Compilatio tertia von 1210 mit zahlreichen kirchenrechtlichen Satzungen. Hier formulierte Innozenz III. bewusst abstrakt, um langfristige Gültigkeit zu schaffen.17
Das Konzil und der Papst
Lässt das Konzil selbst aber auch das Amtsverständnis des Papstes erkennen ? ›Ich will das Passahmahl mit Euch essen, bevor ich sterbe‹. Das Zitat nach Lukas 22,15 der Eröffnungsrede rückt den Papst in die Nähe von Christus. Wenn er mit den Konzilsvätern wie Christus mit den Jüngern Mahl halten will, dann tritt der Papst an Christi Stelle.18 Dieser Christusbezug ordnet sich in Studien zur päpstlichen Titulatur ein, denn nach früheren Titeln für den Papst wie Stellvertreter Petri (vica rius Petri) verwendete auch Innozenz III. die seit Gregor VII. anzutreffende Bezeichnung vicarius Christi, Stellvertreter Christi, häufig.19 Inwieweit lässt sich aber das Bild von Innozenz III. als Juristenpapst halten ? Innozenz formulierte juristisch – wie aber stand es mit den Inhalten ? Die Beschlüsse des Konzils zur Ketzerbekämpfung verdeutlichen gut, in welche Richtung auch das Bild Innozenz’ III. gesehen werden kann. Die Ketzerbekämpfung wird mit der Klerusreform verbunden.20 Eine reformierte Seelsorge, ein neues Bild vom Beichtvater, die
15 Roger von Wendover : Flores Historiarum, ed. Felix Liebermann. In : MGH SS 28. Hannover 1888, S. 3–73, hier S. 7. 16 Vgl. größere Teile der Registerüberlieferung nun in der Neuedition : Die Register Innocenz’ III. Bearbeitet von Othmar Hageneder/Werner Maleczek u.a. 14 Bde. Wien 1964–2015. 17 Vgl. Christoph H. F. Meyer, unten S. 29–92. 18 Vgl. Jochen Johrendt, unten S. 93–106. 19 Ebd., mit den weiteren Belegen vgl. auch Thomas Noll, unten S. 153–192. 20 Vgl. den Beitrag von Jörg Oberste, unten S. 107–122, insbesondere die Bemerkungen zur Seelsorgereform, S. 112–114.
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Stärkung des Pfarrklerus und der Predigt sind Stichworte.21 Damit begegnete man auch den häretischen Wanderpredigern22 und griff Formen auf, die später Franziskaner und Dominikaner noch weiter entwickelten.23 Eine solche Pastoraltheologie hatte aber ihre Wurzeln in Paris. Maurice de Sully mit seinen Predigttraktaten, Petrus Cantor oder Alanus von Lille gehörten zu den wichtigen Vordenkern, deren Schüler beispielsweise Jakobus von Vitry und Lothar von Segni, der spätere Papst Innozenz III., waren. Pastorale Handbücher nahmen vorweg, was später bei den zur gleichen Zeit entstandenen Ordensgemeinschaften der Dominikaner und Franziskaner gleichsam zum kurzen und griffigen Schlagwort nach Lukas 24,19 wurde : verbo et exemplo, durch Wort und Beispiel wollte man überzeugen. Kanon 10 spielt auf diese Wortkombination an : Die von den Bischöfen bestellten Prediger sollten ›mächtig in Tat und Wort‹ erbauen (eas verbo aedificent et exemplo). Es wäre zu fragen, ob nicht die etwa 80 erhaltenen, freilich noch nicht ausreichend untersuchten Predigten Innozenz’ III. auch diesen Lehren der artes praedicandi folgten. Aufschlussreich bleibt jedenfalls, dass die Dominikanerliteratur später den eigenen Gründungsakt mit dem Vierten Laterankonzil verband.24 Die Person des Papstes kann aber sicher nicht nur aus dem Konzilsgeschehen erfasst werden. Leider wird im vorliegenden Band ein gehaltener Vortrag zu einigen seiner Werke nicht erscheinen, deshalb seien hier zumindest die verschiedenen Abhandlungen kurz hervorgehoben. Innozenz’ Traktat über das Elend des menschlichen Daseins (den sogar noch Thomas Mann in seinem Zauberberg zitierte), sein Traktat über die Messe, seine Abhandlung über den vierfältigen Sinn der Ehe oder sein Kommentar über die Psalmen sind breit überliefert, zum Beispiel existieren etwa 700 Handschriften von seinem Elendstraktat oder etwa 200 seiner Überlegungen zur Messe. Editionsstand und zeitgenössische Bedeutung stimmen auch in diesem Fall 21 Zur »Textsorte der Predigt und ihre[r] Rolle im Diskurs des Vierten Laterankonzils« vgl. den Beitrag von Susanne Friede, unten S. 217–236, bes. S. 224–226. 22 Die Studien zu häretischen Bewegungen sind uferlos, vgl. neben dem Klassiker von Herbert Grundmann : Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik. 3., unveränderte Aufl. Reprogr. Nachdr. der 1. Aufl. Berlin 1935. Darmstadt 1970 unter anderem die kompakten Einführungen von Christoph Auffarth : Die Ketzer. Katharer, Waldenser und andere religiöse Bewegungen. München 2005 (Beck’sche Reihe 2383), Jörg Oberste : Ketzerei und Inquisition im Mittelalter. Darmstadt 2007 (Geschichte kompakt) sowie die bei Jörg Oberste, unten S. 107–122, zitierte Literatur. 23 Vgl. zum Beispiel jüngst Viola Skiba : Honorius III. (1216–1227). Seelsorger und Pragmatiker. Stuttgart 2016 (Päpste und Papsttum 45), die ausführlich auf dessen Verhältnis zu den Bettelorden eingeht. 24 Vgl. Andreas Hammer, unten S. 255–285.
Einleitung
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leider nicht überein.25 Die Bedeutung dessen, was Innozenz III. im Zusammenhang mit seiner Politik hier niedergelegt hat – zum Beispiel hinsichtlich des Kreuzzugs – lässt sich, wie Matthias Maser zeigt, am iberischen Beispiel gut belegen.26 Was bedeutet dies für das Verhältnis von Papst und Konzil ? Der Blick auf die Pariser Studienzeit war lange nicht im Fokus, vielleicht auch, weil die Schriften des Papstes weniger Interesse als seine Briefe fanden. Nur der kurze Tatenbericht der Gesta Innocentii und einige spätere Notizen wollen wissen, dass Lothar von Segni auch in Bologna Recht studiert habe.27 Blickt man auf die vielfältigen Bezüge auch der hier zur Diskussion stehenden Kanones von 1215, so scheint aber Paris die wichtigere Bezugsgröße gegenüber dem wohl kurzen Aufenthalt in Bologna gewesen zu sein. Kann man das Konzil sogar als so etwas wie ein Kommunikationsforum über die verschiedenen Entwicklungen des gelehrten Diskurses und der theologischen Praxis in Paris und an anderer Stelle ansehen ? Neben der Pariser Theologie waren die Weggefährten aus dieser Stadt wichtig, wenn man auf die Kardinalskreationen des Papstes schaut. Persönliche Netzwerke sichern auch den Transfer und den Erfolg von Ideen.28 Bologneser Studienfreunde spielten offensichtlich kaum eine Rolle. Damit wird die Bezeichnung Innozenz’ III. als ›Juristenpapst‹, ein Kampfbegriff des neunzehnten Jahrhunderts, zunehmend 25 Vgl. hierzu Matthias Maser, unten S. 123–149, mit Angabe der gültigen Editionen. – Der Beitrag von Michele C. Ferrari zu weiteren Traktaten konnte leider nicht in den Band aufgenommen werden und wird an anderer Stelle erscheinen. Er soll aber hier dennoch Erwähnung finden, beschäftigt er sich doch mit Innozenz als Verfasser von Traktaten. Für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Nachwelt war Innozenz III. nicht nur der Papst, der im Vierten Laterankonzil kirchliche Bestimmungen von weitreichender Bedeutung beschließen ließ, sondern auch ein vielgelesener Autor. Seine vor der Papstwahl verfassten Texte vermitteln das Bild einer Gelehrtenpersönlichkeit, die Traditionsbewusstsein und Erneuerungsbestrebungen verband. Am populärsten waren ein Traktat über die Messe und ein unvollständig gebliebener Traktat Über das Elend menschlichen Daseins. In De miseria hu mane conditionis zeichnet der damalige Kardinal Lothar von Segni nicht nur ein äußerst düsteres Menschenbild in der Tradition der contemptus mundi, sondern nimmt auch, wie es scheint, Stellung zu den damaligen Kontroversen über Form und Inhalt theologisch-philosophischer Argumentationen. Ein bisher wenig beachtetes Dokument der Rezeption des Werkes zeigt, dass scholastisch gebildete Leser das Werk später durchaus als Provokation deuten konnten. 26 Vgl. hierzu Matthias Maser, unten S. 123–149. 27 Leider fehlt ein Beitrag zu diesen Gesta Innocentii. Eine neue Edition, welche diejenige bei J. P. Migne ersetzen wird, bereitet Jochen Johrendt vor. Kommentierte Übersetzung ins Italienische mit wertvoller Einleitung und Kommentaren : Gesta di Innocenzo III, traduzione di Stanislao Fioramonti. Hrsg. von Giulia Barone/Agostino Paravicini Bagliani. Rom 2001 (La corte dei papi 20). 28 Zu den Netzwerken an der Kurie vgl. die zahlreichen neuen Studien zum Kardinalat : Ulrich Schludi : Die Entstehung des Kardinalkollegiums. Funktion, Selbstverständnis, Entwicklungsstufen. Ostfildern 2014 (Mittelalter-Forschungen 45), künftig Viktoria Trenkle sowie das Kompendium von Dendorfer/Lützelschwab (wie Anm. 13).
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problematisch. Als der Kanonist Heinrich von Segusio oder Hostiensis in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts Innozenz als Vater des Rechts, als pater iuris bezeichnete, wollte er wohl damit sagen, dass der Papst die Formen der rechtlichen Setzung beherrschte. War dies aber vielleicht eher ein Mittel, über dem ein neues, pastorales Grundanliegen stand ? Wenn es sich erweisen sollte, dass pastoraler Impetus und Konzilskanones zusammenwirkten, dann könnte die knappe Formel von Peter Landau, dass Innozenz 1215 eine »Retheologisierung des Kirchenrechts« erreicht habe, zutreffen.29
Die Beschlüsse und das Konzil – Wirkungen und Weiterungen
Die Auseinandersetzung mit dem Lateranum erfordert eine thematische und perspektivische Öffnung, da die Folgen nicht nur im Bereich der allgemeinen Geschichte zu fassen sind. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht erscheint es diskussionswürdig, inwieweit das Konzil mit seiner Normierungsmacht auch zu ästhetisch-literarischen Reflexionen angeregt hat. Hier lässt sich zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts sicherlich auf die didaktische Literatur, aber auch auf die politische Sangspruchdichtung verweisen, in der die Kritik an der päpstlichen Schlüsselgewalt Innozenz’ III. aufgegriffen wird.30 Konkret ist die bekannte Auseinandersetzung Walthers von der Vogelweide mit Innozenz zu nennen, etwa die beißend formulierten, antipäpstlichen Strophen im sogenannten Ottonenton oder im Unmutston, und für die Gegenseite die propäpstliche Stimme Thomasins von Zerklaere.31 Auch die Häresiedebatte wird in der didaktischen und höfischen Literatur des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts ganz grundlegend und vielfältig diskutiert, exemplarisch sei erneut auf den Wälschen Gast Thomasins, auf Freidanks Bescheidenheit oder auf den Renner Hugos von Trimberg verwiesen.32 29 Vgl. Christoph H. F. Meyer, unten S. 29–92, bes. S. 58. 30 Vgl. Ulrich Ernst : Die Auseinandersetzung mit häretischen Strömungen in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts. In : Geistesleben im 13. Jahrhundert. Hrsg. von Jan A. Aertsen/Andreas Speer. Berlin 2000, S. 362–392, hier S. 367. 31 Vgl. dazu Theodor Nolte : Papst Innozenz III. und Walther von der Vogelweide. In : Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas. Hrsg. von Thomas Frenz. Stuttgart 2000, S. 69– 89, bes. S. 72–78, auch in (kritischer) Auseinandersetzung mit Konrad Burdach : Der Kampf Walthers von der Vogelweide gegen Innozenz III. und das vierte Laterankonzil. In : Zeitschrift für Kirchengeschichte 55 (1936), S. 445–522. Vgl. auch Susanne Padberg : Ahî wie kristenlîche nû der bâbest lachet. Walthers Kirchenkritik im Unmutston (Edition, Kommentar, Untersuchungen). Herne 1997. 32 Vgl. Ernst (Anm. 30), S. 368–370.
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Darüber hinaus aber werden in der Erzählliteratur und in der Kunst des dreizehnten Jahrhunderts ganz grundlegende Aspekte und Folgen des normativen Wandels reflektiert. Hier lässt sich beispielsweise an den Einfluss der Transsubstantiationslehre oder der Eucharistiedebatte auf das literarische Zeichenverständnis denken, der schon mehrfach im Fokus der Forschung stand, allerdings ohne Berücksichtigung des Konzils als einen konkreten Austragungsort für diese Debatte.33 Ein sich wandelndes Zeichenverständnis lässt sich nicht nur in den Wissensdiskursen, sondern gerade auch in den literarischen Darstellungen feststellen. Versteht man zudem die Beschlüsse des Laterankonzils als Bestandteil der sogenannten Rationalisierungs- und »Interiorisierungsprozesse« (Le Goff ) des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts,34 dann eröffnen sich weitere Perspektiven, die aus literatur- und kunsthistorischer Sicht diskussionswürdig sind. Zum einen sind hier die Rechtsrituale (Gottesurteile) zu nennen, deren rein formaler Charakter in die Kritik geriet und deren Beurteilung sich einem normativen Wandel ausgesetzt sah.35 Bezeichnenderweise sind Ordalienszenen in ganz 33 Vgl. in Auswahl : Michael Stolz : Kommunion und Kommunikation. Eucharistische Verhandlungen in der Literatur des Mittelalters. In : Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin, New York 2009, S. 453–505 ; Jan-Dirk Müller : Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik. In : ZfdPh 122 (2003), S. 118–132 ; Peter Strohschneider : Die Zeichen der Mediävistik. Ein Diskussionsbeitrag zum Mittelalter-Entwurf in Peter Czerwinskis ›Gegenwärtigkeit‹. In : IASL 20,2 (1995), S. 173–191 ; Horst Wenzel : Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, bes. S. 118–127 ; Michele C. Ferrari : »Die Wende zum Körper. Dialektik und Eucharistie im 11. Jahrhundert« und »Das letzte Jahrhundert. Lateinische Literatur im 11. Jahrhundert«. In : Canossa 1077 – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. Hrsg. von Christoph Stiegemann/Matthias Wemhoff. Bd. 1. München 2006, S. 266–275 bzw. S. 573–578 ; Christiane Witthöft : Vertreten, Ersetzen, Vertauschen. Phänomene der Stellvertretung und der Substitution im ›Prosalancelot‹. Berlin 2016 (Hermaea 141), S. 279–287. 34 Jacques Le Goff : Die Geburt des Fegefeuers. Stuttgart 1984, bes. S. 262 f. Vgl. zur ›Individualitätsdebatte‹ in der Vormoderne in Auswahl Susan R. Kramer/Caroline Walker Bynum : Revisting the Twelfth-Century Individual. The Inner Self and the Christian Community. In : Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum. Hrsg. von Gert Melville/ Markus Schürer. Münster 2002 (Vita regularis 16), S. 57–88 ; sowie die Beiträge in den Sammelbänden Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hrsg. von Peter von Moos. Köln u.a. 2004 (Norm und Struktur 23) ; Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Richard van Dülmen. Köln u.a. 2001. 35 Vgl. auch den Beitrag von Tobias Bulang, S. 237–253. Zu den Gottesurteilen vgl. in Auswahl : Uwe Israel : Sehnsucht nach Eindeutigkeit ? Zweikampf und Ordal im Mittelalter. In : Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption. Hrsg. von Christiane Witthöft/Oliver Auge. Berlin u.a. 2016 (TMP 30), S. 287–304 ; Richard M.
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unterschiedlichen Erzählzusammenhängen des dreizehnten Jahrhunderts äußerst produktiv und offenbaren ein kritisches Interesse an dieser sich wandelnden Form inszenierter Wahrheitsfindung. Zum anderen ist der Blick auf die Änderungen in der Beicht- und Bußpraxis, auf Formen des Bekennens und Beichtens aussagekräftig, die ein zunehmendes Problembewusstsein für die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen zur Folge hatten, das sich in narrativen Handlungssequenzen und Figurendarstellungen greifen lässt.36 Aus dieser literaturwissenschaftlichen Perspektive heraus verspricht das Tagungsthema neue Impulse für ein interdisziplinäres Nachdenken über das Zusammenspiel von wissenschaftlichen, theologischen Diskursen und literarischen Topoi, die sich zu bestimmten Zeiten und im Spannungsfeld zeitgenössischer Diskussionen immer neu darlegen.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes
Die einzelnen Beiträge greifen viele der oben genannten Fragen auf und seien hier einleitend kurz zusammengefasst. Christoph H. F. Meyer stellt in seinem umfassenden Beitrag die Bedeutung des Vierten Lateranum für die kirchliche Rechtsgeschichte und die Konzilsgesetzgebung in den Vordergrund.37 Dies ist nicht zuletzt deshalb gerechtfertigt, weil die Bestimmungen ausgesprochen lange Wirkungen zeitigten. Am Begriff des Universalkonzils kann Meyer mit Rückgriff auf Kanonisten zunächst verdeutlichen, dass hier nicht Fraher : IV Lateran’s Revolution in Criminal Procedure. The Birth of Inquisitio, the End of Ordeals, and Innocent III’s Vision of Ecclesiastical Politics’. In : Studia in honorem Eminentissimi Cardinalis Aphonsi M. Stickler. Hrsg. von Rosalio Josepho Card/Castillo Lara. Rom 1992 (Studia et textus historiae iuris canonici 7), S. 97–111 ; Rüdiger Schnell : Dichtung und Rechtsgeschichte. Der Zweikampf als Gottesurteil in der mittelalterlichen Literatur. In : Mitteilungen der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig 18,2 (1983), S. 53–62 ; Sarah Neumann : Der gerichtliche Zweikampf : Gottesurteil – Wettstreit – Ehrensache. Ostfildern 2010 (Mittelalter-Forschungen 31) ; Wolfgang Sellert : Gewohnheit, Formalismus und Rechtsritual im Verhältnis zur Steuerung sozialen Verhaltens durch gesatztes Recht. In : Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Heinz Durchhardt/Gert Melville. Köln u.a. 1997 (Norm und Struktur 7), S. 29–47. 36 Für einzelne Autoren wird die Kenntnis der Dekrete des Konzils angenommen. Vgl. etwa Stephen L. Wailes : Studien zur Kleindichtung des Stricker. Berlin 1981 (Philologische Studien und Quellen 104). 37 Christoph H. F. Meyer : Das Vierte Laterankonzil als Einschnitt der kirchlichen Rechtsgeschichte. Zugleich zur Konzilsgesetzgebung im dreizehnten Jahrhundert, S. 29–92.
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ein neuer Typus des Universalkonzils entstand und das Konzil deshalb auch keinen Einschnitt in der kirchlichen Rechtsgeschichte bedeutete. Für das kanonische Recht und die kirchliche Gesetzgebung sichtet Meyer zunächst die Übernahme zahlreicher Bestimmungen in die Collectio Quarta, ordnet dann aber die Aktivitäten des Konzils in den Bereich »Wiederentdeckung der Gesetzgebung« (P. Landau, S. 16) ein und sichtet zugleich die Überlieferung im Liber Extra, dessen Bedeutung er im Vergleich zum Liber Sextus relativiert. Dennoch wertet der Verfasser das Vierte Laterankonzil als einen Höhepunkt der Gesetzgebung durch den Papst, denn allein die Quantität der neuen Bestimmungen (constitutiones) sticht heraus. Aber vor allem sei es die große Bühne gewesen, die Innozenz eben nicht wie später als alleinigen Gesetzgeber erscheinen lässt. Das Lateranum war so »Schauplatz und Instrument kirchlicher Gesetzgebung« (S. 55). Die wichtige Rolle des Papstes beleuchtet Meyer in einem weiteren Abschnitt und korrigiert dabei das Bild vom ›Juristenpapst‹ dahingehend, dass er nach dem Urteil eines Matthaeus Parisiensis den Papst als mutigen Erneuerer sah. Blickt man auf die Konstitutionen des Konzils (Abschnitt 3), so sind nicht nur der Informationsfluss von der Peripherie ins Zentrum und die entsprechende Redaktion der Bestimmungen vor Beginn des Konzils hervorzuheben, sondern auch die nur noch bedingt erkennbaren Änderungen während des Konzils sowie die feierliche Verkündigung. Meyer bietet sodann eine inhaltliche Gruppierung in fünf Teile und eine Analyse der Konstitutionen. Ein letzter Abschnitt gilt der Bekanntmachung und dem Ausgreifen des Kirchenrechts und diskutiert Fragen von Effektivität, die mit den Formen der Verkündigung verbunden ist. Spätscholastische Diskussionen zum Beispiel zur ignorantia iuris spielten eine Rolle. Dies wird an einzelnen Beispielen nachgewiesen. Der weitgespannte Beitrag schließt mit Überlegungen zu den Richtungen der Expansion von Recht ab : Hier unterscheidet Meyer den »Außenraum der Institutionen« und den »Innenraum des Menschen« (S. 85). Insofern gewann – und hier liegt ein Bezugspunkt zu mehreren Beiträgen – die rechtliche Dimension des Konzils einen engen Bezug zur cura animarum, zur Seelsorge. Jochen Johrendt trägt mit seinem Aufsatz neue Aufschlüsse zum Verhältnis von Papst Innozenz III. und dem Laterankonzil bei.38 Mit einem Dreiklang zu »Predigt«, »verweigerte[r] Aussprache« und »fiktive[m] Dialog« weist der Verfasser zunächst nach, dass Innozenz III. in seiner einleitenden Predigt durch siebenfache wiederholende Betonung, er wolle das Passahmahl mit den Konzilsvätern vor seinem Leiden essen, sich als alter Christus stilisierte. Dies konturiert den ›Christusvikariat‹, wie er aufgrund der Titulaturen bekannt war, auf eine weitere Weise. Insofern erschie38 Jochen Johrendt : Innozenz III. und das IV. Laterankonzil. Predigt, verweigerte Aussprache und fiktiver Dialog, S. 93–106.
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nen aber – so pointiert – die Konzilsväter als »Claqueure« (S. 101) und das Konzil als Bühne für den Papst. Zudem verdeutlichen die Schilderungen eines Augenzeugen, wie Innozenz im Verfahren selbst im deutschen Thronstreit die Aussprache verweigerte und damit zugleich Entscheidungen lenkte. Mit Bemerkungen, wie diese Disputation in einem fiktiven Dialog zwischen Conti-Papst und der personifizierten Roma fortgesetzt wurde, rundet Johrendt seinen Beitrag ab, der insgesamt die dominante Rolle des Papstes im Konzilsgeschehen hervorhebt. Die Bedeutung der Beschlüsse auf dem Vierten Laterankonzil für die kirchliche Praxis ist unbestritten. Jörg Oberste weist in seinem Beitrag auf die zentrale und in der Forschung ausführlich erörterte Rolle der Ketzerbekämpfung hin, der bezeichnenderweise die ersten drei Kanones gewidmet sind.39 Nicht weniger bedeutsam waren allerdings die Entscheidungen im Bereich der Seelsorge. Das Konzil forderte nicht nur die jährliche Beichte und Eucharistie, sondern setzte sich für eine bessere Ausbildung der Pfarrer und dadurch für eine Verbesserung der lokalen Vorsorge ein. Die geistigen Väter dieser Maßnahmen seien im Pariser universitären Milieu zu suchen, wo mit Petrus Cantor und Alain von Lille (Alanus ab Insulis) zwei einflussreiche Autoren wirkten. Die Stärkung der Predigt, wie die Konziliarväter sie vorantrieben, war auch eine Antwort auf die dringende »europäische Ketzerfrage« (Oberste). Matthias Maser fragt in seinem Beitrag nach dem Verhältnis des Papstes zum Kreuzzug bzw. zur Reconquista auf der Iberischen Halbinsel.40 Es geht in diesem Beitrag darum, nicht nur die Haltung Innozenz’ III. zum militärischen Unternehmen zu bestimmen, sondern auch die »spirituelle Dimension des Kreuzzugs« (S. 125) vor allem in der Anfangsphase seines Pontifikates (vor allem bis 1204) zu erfassen. Entfaltet wird dies in drei Schritten : Zunächst scheinen die Wendung und das Ziel, von der colligatio impietatis (den Banden der Gottlosigkeit) zu befreien, ein Leitmotiv innozentianischer Konzeptionen gewesen zu sein. Die damit gegebene Handlungslegitimation bezog Innozenz im iberischen Fall auf die inneren Zwistigkeiten der Reiche untereinander angesichts wichtiger Herausforderungen und gegen die Praxis illegitimer Herrscherehen. Deshalb geht Maser in einem zweiten Punkt auf die päpstlichen Befriedungsversuche der zerstrittenen Reiche ein, die schon der Vorgänger Coelestin III. intensiv betrieben hatte. Die teilweise verworrene Situation ist nicht leicht zu bewerten, ins39 Jörg Oberste : Die Pastoralbeschlüsse des IV. Lateranums und die europäische Ketzerfrage, S. 107– 122. 40 Matthias Maser : Dissolve colligationes impietatis – Papst Innozenz III. und die Anfänge seiner Politik des negotium crucis auf der Iberischen Halbinsel (1198–1204), S. 123–149.
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besondere die Position des Papsttums zum leonesischen Herrscher Alfons IX. Wenn Innozenz auch mit seinen Bemühungen vor der Kampagne zu ›Las Navas de Tolosa‹ (1212) weitgehend scheiterte, so sollte man die lange tradierten, schon in den Papstbriefen angelegten Beurteilungen kritisch sehen, denn in den Reichen selbst waren die Konflikte auch Ausdruck im »zeittypischen wie zukunftsweisenden Aushandlungsprozess« (S. 137). Das Anliegen des Papstes erscheint aber so eher als eine pastorale denn politische Angelegenheit. Sieht man die Haltung des Papstes aus diesem Blickwinkel, so erschließen sich auch seine Aktivitäten zur Auflösung inzestuöser Ehen, die in einem letzten Abschnitt behandelt werden, vor allem derjenigen zwischen Alfons IX. von León und Berenguela von Kastilien von 1197. Auch hier scheint – so die Interpretation der Quellen –, dass Innozenz von einer spirituellen Auffassung des negotium crucis geprägt war, die ihn daran hinderte, im Ehestreit einzulenken. Damit steht als Ergebnis, dass für Innozenz die spirituelle Dimension des Kreuzzuges weniger militärisch definiert war, »sondern als eine gemeinsame Anstrengung aller Christen zur sittlichen Läuterung, zur Überwindung ihrer Sündhaftigkeit und zur Wiederannäherung der christianitas an Gott« (S. 149). Insofern gehörten Kreuzzug und Reform auch bei der Vorbereitung des Vierten Laterankonzils zusammen. In seinem Aufsatz geht Thomas Noll auf programmatische Äußerungen in Bildform im päpstlichen Machtzentrum ein.41 Zwar sind die Bildprogramme, die seit Calixt II. im Lateranpalast geschaffen wurden, unwiederbringlich verloren, doch kann man mit einer gewissen Sicherheit Aussagen aufgrund der erhaltenen Beschreibungen und Abzeichnungen treffen. Es zeigt sich, dass Innozenz III. eine Interessensverlagerung vom Lateran zum Vatikan vorantrieb, die mit der Neuformulierung seines Machtanspruchs einherging. Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext ist das Apsismosaik in Alt-St. Peter, das Innozenz III. anfertigen ließ. Innozenz hob dadurch die Zentralität Roms hervor, das sich in schlechtem Zustand befand und das er offenbar unter Konservierung des Bestandes erneuern und verändern ließ. Der intensive Vergleich mit den Predigten Innozenz’ III. zeigt ein verhältnismäßig scharfes Bild der intendierten programmatischen Aussagen : Es ging dem Papst darum, die Zentralität Roms aufgrund des doppelten apostolischen Erbes von Petrus und Paulus zu behaupten. Dem Papst, der als Bräutigam der römischen Kirche dargestellt wird, kommt dabei eine herausragende Bedeutung als Stellvertreter Christi und als Garant der kirchlichen und weltlichen Macht zu.
41 Thomas Noll : Das Apsismosaik von Innozenz III. in Alt-St. Peter. Zur Selbstdarstellung des Papsttums im frühen dreizehnten Jahrhundert, S. 153–192.
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Bruno Reudenbach und Jochen Hermann Vennebusch beschäftigen sich mit neuen Sehkonzeptionen, die sich im dreizehnten Jahrhundert vor dem Hintergrund des »Medialisierungsschub[es]« des Konzils und der sich wandelnden »ästhetische[n] Verfahren« greifen lassen (S. 206).42 Diese Wandlungen lassen sich in den neu strukturierten Gelehrtenmanuskripten und in Bibeltexten nachverfolgen, die seit dem dreizehnten Jahrhundert zunehmend eine »im Wortsinne durch-schaubare[] Textordnung« etablierten (S. 208). Im Mittelpunkt stehen die spannungsreichen Formen der Heilsvermittlung der Eucharistie und des Reliquienkultes. Exemplarisch verschmelzen beide Formen in einer Triumphkreuzgruppe des Halberstädter Domes (um 1215/1220), die zu Zeiten des Vierten Laterankonzils entstanden ist. In einem Reliquiendepositorium im Haupt der Christusfigur findet sich eine Kreuzreliquie : »In dieser Kombination lässt sich die Triumphkreuzgruppe auch als Visualisierung der ehemals unmittelbar unter ihr am Kreuzaltar gefeierten Messliturgie verstehen« (S. 212). Sakramentale Feier und Skulpturenensemble lassen sich also als eine gemeinsame »visuelle Inszenierung« (S. 212) verstehen, in der die göttliche Präsenz gefeiert wurde. Die »unterschiedliche Medien kombinierende Heilsinszenierung« (S. 214) verweist auf die Auseinandersetzung mit den divergierenden und komplexen Vorstellungen der Transsubstantiationslehre, die in den Konzilsbeschlüssen zu finden sind, ohne dass dort näher auf einen konkreten Ablauf oder auf die Form der Wesenswandlung eingegangen wurde. Susanne Friede verbindet Überlegungen zur Entstehung französischer Prosatexte zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts mit der ebenfalls in Prosa verfassten Textgattung der Predigt, die »im Grenzbereich zwischen lateinischer klerikaler Kultur und volkssprachlicher Profankultur zu verorten« sei (S. 225).43 Einzelne Capitula der Konzilsakten wiederum lassen sich als Indikator verstehen, dass es zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts einen zunehmenden Bedarf an geeigneten, volkssprachigen Predigten gab. Friede setzt sich mit der Frage auseinander, welche Rolle dieser religiöse Diskurs für die Entstehung der Prosa spielte, die sich als eine »neuartige Annäherung an den lateinisch dominierten religiösen Diskurs« verstehen lässt (S. 232). Ein besonderer Stellenwert wird in diesem Argumentationszusammenhang dem Prosaideal der Gralsromane zugesprochen, ohne dass aber von einer zeitlichen Abfolge von alter und neuer Form auszugehen sei, vielmehr von einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Darstellungsmodi (S. 232, 236). Ein längerer Ausblick beschäftigt sich 42 Bruno Reudenbach/Jochen Hermann Vennebusch : Zeigen und Beweisen. Beobachtungen zur Inszenierung von Evidenz in der Kunst des dreizehnten Jahrhunderts, S. 205–214. 43 Susanne Friede : Die ›Geburt der Prosa‹. Überlegungen zur Entstehung französischer Texte in Prosa (1205–1215), S. 217–236.
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mit dem Prosa-Joseph und der »Umwandlung des sermo humilis in den stilus gravis« (S. 235), der eine Nähe zum apokryphen Nikodemusevangelium bzw. zu religiöser Traktatliteratur aufweist. Der Beitrag von Tobias Bulang verbindet die Auseinandersetzung mit dem literarischen Motiv des Gottesurteils mit der ganz grundlegenden Frage nach den »Möglichkeiten und Grenzen« der Beeinflussung einer gelehrten Auseinandersetzung, der rechtlichen Praxis bzw. der theologischen Diskussion und der Dichtung (S. 238).44 Als Beispiel dient ihm das Gottesurteil der Isolde in Gottfrieds von Straßburg Tris tan, welches in der Forschung zu kontroversesten Interpretationen eingeladen hat. In einer intratextuellen Vorgehensweise versteht Bulang dabei das Ordal in Hartmanns Iwein als »modellbildend« (S. 244) für den Tristanroman Gottfrieds, sodass für die mögliche Kontextualisierung und das Verständnis der Ordalszene die Intertextualität einen wichtigen Beitrag leistet. In einem zweiten, intratextuellen Schritt bezieht Bulang die paradigmatische Reihe der Sakralisierung der minne mit ein, in deren Kontext das Ordal einzubetten sei. Durch die inter- und intratextuelle Vorgehensweise wird der konkrete Einfluss außertextueller Kontexte angemessen kritisch reflektiert. Andreas Hammer begibt sich auf die Suche nach konkreten Spuren, die die Beschlüsse des Konzils in der geistlichen, hagiographischen Literatur des dreizehnten Jahrhunderts, genauer in der Legendensammlung Passional, hinterlassen haben. Im Mittelpunkt stehen das Mirakel des Judenknaben ( Jüdel) und dessen Darstellung des eucharistischen Wunders, welches deutliche Bezüge zur verbindlich dargelegten Transsubstantiationslehre des Konzils aufweist und zudem ganz grundsätzlich die »mediale[] Erfassung und Vermittlung von Heiligkeit« reflektiert (S. 266).45 Auch durch Einbezug weiterer Eucharistiewunder, in denen die Präsenz Christi in einer Wandlung der Wesensart gezeigt wird, lässt sich zeigen, inwiefern das Zusammenspiel verschiedener Zeichenebenen wiedergegeben wird, indem die »Kernelemente der Transsubstantiationslehre auf der Ebene der Darstellung narrativiert« werden (S. 270). Ein zweites Thema sind die Ordensneugründungen der Dominikaner und Franziskaner, die sich in unterschiedlichen Legenden greifen lassen. Im Mittelpunkt steht die Vision Innozenz’ III. von der einstürzenden Lateranbasilika, die zeitgleich zur Bestätigung beider Orden, also in zwei verschiedenen Legendentraditionen, eine Rolle spielt, in der Stoffgeschichte dann aber weniger mit Franziskus in Verbindung 44 Tobias Bulang : Kontext und Intertext – Inszenierte Ordale in mittelhochdeutschen Dichtungen, S. 237–253. 45 Andreas Hammer : Spuren des Konzils in der geistlichen Literatur : Das Mirakel vom Judenknaben und die Gründungslegenden der Neuen Orden, S. 255–315.
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gebracht wird (S. 277–283) : »Damit nimmt dieses Motiv in der Literaturgeschichte eine umgekehrte Entwicklung im Vergleich zur Kunstgeschichte« (S. 281), in der die Vision fast ausschließlich mit Franziskus verbunden wird. Durch die weite Verbreitung der symbolischen Vision scheint dem Dominikanerorden, der maßgeblich für die Verbreitung der Beschlüsse des Konzils relevant werden sollte, der literarische Boden bereitet. Christiane Witthöft setzt sich im Kontext des 21. Kanons zur Einführung der verpflichtenden Beichte 1215 mit Kultur- bzw. Erzählmustern auseinander. Für die literarische Reflexion spielen insbesondere die Frage nach der Autorität des Priesters und die Macht oder Funktion der Sprache im Ritual der Ohrenbeichte eine entscheidende Rolle.46 Die zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts entstehende Gattungstradition der mittelhochdeutschen Novellistik beschäftigt sich intensiv und produktiv mit dieser Thematik und inszeniert in parodierender Form die Beichte als eine zweifelhafte Technik der Wahrheitsproduktion, die für Manipulationen offen steht. Einbezogen werden verschiedene Stofftraditionen (Pfaffe und Ehebrecherin, Die zwei Beichten, Der beichtende Student, Die missverständliche Beichte u.a.), die sich unter ihrer rein schwankhaften Oberfläche ganz grundlegenden Fragen widmen, »hinsichtlich einer authentischen Selbst- und Fremdwahrnehmung der Figuren oder aber hinsichtlich der Intention von Handlung und Sprache« im Beichtkontext (S. 315). So wird literarisch diskutiert, inwiefern das Bekennen ein (rein) ritueller Sprechakt ist.
Dank
Tagung und Drucklegung des Bandes, der bewusst nicht nur 1215, sondern das gesamte Umfeld in den Blick nehmen wollte und will, waren ein Gemeinschaftswerk, an dem viele beteiligt waren. Zuvörderst sind hier die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und Hilfskräfte des Lehrstuhls für Ältere deutsche Literatur zu nennen, insbesondere Altyn Trummer, Vera Zöller, Bernd Straußberger, Nadine Jäger, Harriet Ziegler und Steve Riedl. Den beiden Letztgenannten gilt außerdem ein besonderer Dank für die akribische Betreuung der Drucklegung. Zudem gilt unser Dank auch den Hilfskräften der beiden anderen Lehrgebiete (Mittelalterliche Geschichte und Mittellateinische Philologie), insbesondere Sebastian Wiesneth (Mittelalterliche Geschichte).
46 Christiane Witthöft : Bekenntnis, Beichte und Selbstbezichtigung. Kanon 21 des IV. Laterankonzils und die mittelhochdeutsche Novellistik, S. 287–315.
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Den Referenten und Referentinnen und zugleich den späteren Autoren und Autorinnen des Bandes danken wir für engagiertes Mittun und die Lieferung der überarbeiteten Beiträge, die von den lebhaften Diskussionen noch manches aufgegriffen haben. Für die Finanzierung von Tagung und Band standen namhafte Beträge der Dr. Alfred-Vinzl-Stiftung und des IZEMIR (Interdisziplinäres Zentrum für Europäische Mittelalter- und Renaissancestudien) an der FAU Erlangen-Nürnberg zur Verfügung. Das Ziel der Tagung war von Anfang an interdisziplinär ausgerichtet, deshalb glauben wir, dass der Band in den Beiheften des Archivs für Kulturgeschichte einen guten Platz gefunden hat. Das Interesse der Herausgeber und des Verlages haben unsere Arbeit erleichtert. Allen Förderern sei hiermit herzlich gedankt. Zum Schluss aber gilt unser Dank neben Frau Harriet Ziegler und Herrn Steve Riedl, die bei der Vorbereitung der Druckfassung unermüdlich tätig waren, auch Frau Dr. Judith Werner und Frau Dr. Claudia Alraum. Erlangen im April 2018 Die Herausgeber
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Christoph H. F. Meyer
Das Vierte Laterankonzil als Einschnitt der kirchlichen Rechtsgeschichte Zugleich zur Konzilsgesetzgebung im dreizehnten Jahrhundert
Dass das Vierte Laterankonzil, das zwischen dem 11. und dem 30. November 1215 in Rom abgehalten wurde, für die kirchliche Rechtsentwicklung von großer Bedeutung war, steht außer Zweifel.1 Es bildete nicht nur den Höhepunkt des Pontifikats 1 Grundlage dieser Untersuchung ist hinsichtlich der Texte des Vierten Laterankonzils die im Rahmen der Monumenta Iuris Canonici 1981 erschienene Edition von García y García, nicht die auf dieser Basis im Rahmen der Conciliorum oecumenicorum generaliumque Decreta (COGD) publizierte Ausgabe. Vgl. Constutiones Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum. Hrsg. von Antonio García y García. Città del Vaticano 1981 (Monumenta Iuris Canonici, Series A 2), S. 41–118; Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta. Editio critica. Bd. 2: The General Councils of Latin Christendom. Teil 1: From Constantinople IV to Pavia-Siena (869–1424). Hrsg. von Antonio García y García u. a. Turnhout 2013 (Corpus Christianorum), S. 149–204. Im Folgenden werden die Vorschriften des IV. Lateranense verkürzt zitiert, und zwar als ›4 Conc. Lat.‹ in Verbindung mit der Angabe des entsprechenden Kapitels (›c.‹). Die Zitation der teils in zweiter, teils schon in dritter Auflage vorliegenden, erstmals von Philipp Jaffé bearbeiteten Papstregesten bis zum Jahre 1198 erfolgt für die Zeit bis 1024 entsprechend der vom Herausgeber der dritten Auflage gemachten Vorgabe, d. h. durch die Abkürzung ›J3‹ gefolgt von der Ordnungszahl des Regests. Dagegen wird für die Zeit nach 1024 für den noch von Samuel Löwenfeld im Rahmen der zweiten Auflage bearbeiteten Regestenbestand die traditionelle Kurzform ›JL‹ (in Verbindung mit der Regestennummer) verwendet. Vgl. Philipp Jaffé (ed.): Regesta pontificum Romanorum. Ab condita ecclesia ad annum post Christum natum MCXCVIII. 2. Aufl. Hrsg. von Wilhlem Wattenbach, Bd. 2, Leipzig 1888 (ND Graz 1956); Philipp Jaffé (ed.): Regesta pontificum Romanorum. Ab condita ecclesia ad annum post Christum natum MCXCVIII. 3. Aufl. Hrsg. von Klaus Herbers, Bd. 1–3, Göttingen 2016–2017. Zur Entlastung des Anmerkungsapparats wird auch bei der Zitation von Teilen des Corpus Iuris Canonici, der Quinque Compilationes Antiquae und des Corpus Iuris Civilis auf vollständige bibliographische Angaben verzichtet. Zugrunde liegen die Ausgaben von Friedberg und Krüger/Mommsen. Vgl. Corpus Iuris Canonici. Hrsg. von Emil Friedberg. 2 Bde. Leipzig 1879 (ND Graz 1959); Quinque compilationes antiquae nec non Collectio canonum Lipsiensis. Hrsg. von Emil Friedberg. Leipzig 1882 (ND Graz 1956); Corpus Iuris Civilis. Bd. 1,1: Iustiniani Institutiones. Hrsg. von Paul Krüger. 17. Aufl. Berlin 1963; Bd. 1,2: Digesta. Hrsg. von Theodor Mommsen/Paul Krüger. 17. Aufl. Berlin 1963; Bd. 2: Codex Iustinianus. Hrsg. von Paul Krüger. 14. Aufl. Berlin 1968. Die Abkürzungen der zitierten Werke lauten: X (Liber Extra), Comp. (Compilatio), Inst. (Institutiones), Dig. (Digesta), Cod. (Codex Iustinianus). Der Zitation von Teilen des Decretum Gratiani liegen folgende Abkürzungen zugrunde: a.c. (Dictum Gratiani) ante capitulum; c. capitulum; C. causa; D./d. distinctio; De cons. De consecratione; De pen. De penitencia; dict. dictum; p.c. (Dictum Gratiani) post capitulum; pr. principium; q. quaestio; rubr. rubrica.
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Innozenz’ III. (1198–1216), eines der mächtigsten Päpste des Mittelalters, sondern auch den Ausgangspunkt vieler Regelungen, die das kirchliche Leben über lange Zeit bestimmten. Das zeigt ein Blick in den Codex Iuris Canonici von 1917.2 Im ersten modernen Gesetzbuch der katholischen Kirche taucht bei knapp 10% der Kanones im Quellenapparat eine Bestimmung des IV. Lateranense auf.3 Nicht nur per se, sondern auch im Vergleich zu anderen Konzilien ist diese Präsenz bemerkenswert. Nur das Tridentinum ist in den Fontes des Codex von 1917 mit einer größeren Anzahl von Texten vertreten.4 Die Zahlen deuten auf einen außerordentlichen Einfluss des Vierten Laterankonzils hin, der sich nicht auf das Spätmittelalter beschränkte, sondern bis in die Moderne reichte.5 Ungleich größere Schwierigkeiten als eine generelle Einschätzung bereitet allerdings die Frage, inwiefern das IV. Lateranense einen Einschnitt oder Wendepunkt der kirchlichen Rechtsgeschichte darstellt. Die vorliegende Untersuchung kann keine umfassende Antwort darauf geben und muss sich auf ausgewählte Aspekte dieses vielschichtigen Problems beschränken. Ausgehend von einigen allgemeinen Beobachtungen zum Phänomen des Konzils gilt es zunächst, nach der historischen Bedeutung des Vierten Laterankonzils aus Sicht der kirchlichen Verfassungs- und Rechtsgeschichte zu fragen. In einem zweiten Schritt rückt der Initiator des Konzils, 2 Codex Iuris Canonici Pii X Pontificis Maximi iussu digestus Benedicti Papae XV auctoritate promulgatus, praefatione, fontium annotatione et indice analytico-alphabetico ab emo. Petro Card. Gasparri auctus. Rom 1917. 3 Antonio García y García: The Fourth Lateran Council and the Canonists. In: The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX. Hrsg. von Wilfried Hartmann/Kenneth Pennington. Washington 2008 (History of Medieval Canon Law), S. 367–378, S. 367. 4 Codicis iuris canonici fontes. Hrsg. von Jusztinián György Serédi. Bd. 9: Tabellae. Rom 1939. Vgl. René Metz: Les conciles œcumeniques et le Code de droit canonique de 1917. In: Revue de droit canonique 10–11 (1961) (Mélanges en l’honneur de S. E. le Cardinal André Jullien), S. 192–213, S. 211. 5 Raymonde Foreville: Latran I, II, III et Latran IV. Paris 1965 (Histoire des conciles œcumeniques 6), S. 317. Foreville konstatiert in diesem Zusammenhang eine »remarquable pérennité du Corpus lateranense« (ebd., S. 317). Zu Forschungsstand und Wirkungsgeschichte allgemein vgl. Agostino Paravicini Bagliani: Le concile de Latran IV: un aperçu des recherches récentes. In: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kirchengeschichte 109 (2015), S. 15–26; Johannes Grohe: El IV Concilio de Letrán en la Historia de la Iglesia y en la Historia de los Concilios. In: El IV Concilio de Letrán. En perspectiva histórico-teológica. Hrsg. von Nicolás Álvarez de las Asturias. Madrid 2016, S. 17–45; Cyrille Dounot: L’héritage du IVe concile du Latran chez les canonistes français de l’époque moderne. In: Revue historique de droit français et étranger 94 (2016), S. 114–131 sowie Walter Brandmüller: Das Nachleben des IV. Lateran-Konzils. In: The Fourth Lateran Council. Institutional Reform and Spiritual Renewal. Hrsg. von Gert Melville/Johannes Helmrath. Affalterbach 2017, S. 11–14.
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Innozenz III., in seinem Verhältnis zum Kirchenrecht in den Mittelpunkt des Interesses. Daran schließt sich ein dritter Abschnitt zu Entstehung und Inhalt der Konzilskonstitutionen an. Am Ende dieser Untersuchung stehen dann ein Blick auf die vom Gesetzgeber vorgesehene Bekanntmachung einzelner Vorschriften und die sich daraus ergebende abschließende Rückfrage, wie sich das IV. Lateranense ausgehend von diesem Teilaspekt der Konzilsgesetzgebung in die allgemeine kirchliche Rechtsentwicklung einfügt.
1. Zur Bedeutung des Vierten Laterankonzils aus Sicht kirchlicher Verfassungs- und Rechtsgeschichte
Die Umsetzung des so umrissenen Arbeitsprogramms beginnt mit einer Vergewisserung: Unter welchen Vorzeichen könnte man im Vierten Laterankonzil überhaupt einen markanten Punkt innerhalb der kirchlichen Rechtsgeschichte sehen? Vor allem zwei Blickrichtungen, die eine Einordnung in unterschiedliche Kontexte und Teildisziplinen der Kirchenrechtsgeschichte erlauben, kommen in Betracht. Sie zeichnen sich ab, wenn man das Phänomen des Konzils (concilium, synodus) unter allgemeinen rechtshistorischen und kanonistischen Vorzeichen betrachtet.6 Geht man von der Grundbedeutung des Wortes aus, ließe sich ein Konzil als »eine Versammlung von hierfür Zuständigen, auf welcher bindende Beschlüsse oder Urteile hinsichtlich des Glaubens und der Disziplin der Kirche gefaßt bzw. gefällt werden« (W. Brandmüller), umschreiben.7 6 Michael Brlek: De momento conciliorum pro iuris ecclesiae formatione. In: Antonianum 38 (1963), S. 50–86; Hubert Jedin: Strukturprobleme der Ökumenischen Konzilien. Köln, Opladen 1963 (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften 115); Willibald M. Plöchl: Das Factum »Konzil« in rechtshistorischer Sicht. In: Ius Canonicum 11 (1971), S. 136–179; Franz-Josef Schmale: Synodus – synodale concilium – concilium. In: Annuarium Historiae Conciliorum 8 (1976), S. 80–102; Thomas Duve: Church Councils and Conciliar Canons. In: The Oxford International Encyclopedia of Legal History. Bd. 1. Oxford 2009, S. 469–472; Andreas Thier: Konzil. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 161–165; Danica Summerlin: Papal Councils in the High Middle Ages. In: A Companion to the Medieval Papacy. Growth of an Ideology and Institution. Hrsg. von Keith Sisson/Atria A. Larson. Leiden, Boston 2016 (Brills Companions to the Christian Tradition 70), S. 174–196. Ferner vgl. Mona Kirsch: Das allgemeine Konzil im Spätmittelalter. Organisation – Verhandlungen – Rituale. Heidelberg 2016 (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 21). 7 Walter Brandmüller: Zum Plan einer neuen Konziliengeschichte. In: Annuarium Historiae Conciliorum 4 (1972), S. 1–6, S. 2. Zu Versuchen einer Begriffsklärung aus der Wortwurzel vgl. Hermann Josef Sieben: Kleines Lexikon zur Geschichte der Konzilsidee. Paderborn 2018 (UTB 8715), S. 57 (s. v. Etymologie).
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Aus Sicht des Kirchenrechts fällt bei dem so umrissenen Gegenstand vor allem zweierlei ins Auge und fordert zu einer Vertiefung heraus. Da ist zunächst die außerordentliche, d. h. nicht auf Dauer gestellte Zusammenkunft einer größeren Gruppe von kirchlichen Amtsinhabern, insbesondere von Bischöfen, die sich mit personellen, rechtlichen oder theologischen Fragen befassen und diese verbindlich entscheiden können. Solche Versammlungen stehen in engem Zusammenhang mit der – modern gesprochen – Verfassung der Kirche. Davon zu unterscheiden ist ein anderer wichtiger Aspekt. Er betrifft die allgemeinen Vorschriften und konkreten Lehr- oder Disziplinarentscheidungen, die auf einem Konzil erlassen oder getroffen werden. Diese Phänomene verweisen vor allem auf den Bereich der Normen des kanonischen Rechts, welche die Organisation und das Leben der Kirche regeln. Wenngleich die beiden gerade unterschiedenen Seiten eines Konzils eng miteinander zusammenhängen, sind mit ihnen doch zwei unterschiedliche Blickwinkel umrissen, aus denen heraus sich die Bedeutung des IV. Lateranense innerhalb der kirchlichen Rechtsgeschichte etwas genauer beurteilen und erklären lässt. 1.1 Das IV. Lateranense als Universalkonzil: ein verfassungsgeschichtlicher Wendepunkt? Im Folgenden gilt das Augenmerk zunächst dem verfassungsgeschichtlichen Aspekt. Um zu verstehen, inwiefern das Vierte Laterankonzil unter solchen Vorzeichen betrachtet als Einschnitt erscheinen könnte, bietet es sich an, bei seiner Eigenschaft als Universalkonzil anzusetzen. Die Ursprünge dieser aufgrund ihres umfassenden Charakters bedeutendsten Form des Konzils liegen in der Antike. Sieht man einmal von kleineren räumlich begrenzten Zusammenkünften bis zum frühen vierten Jahrhundert ab, dann kommt als Erstes das von Kaiser Konstantin I. einberufene Konzil von Nizäa (325) in den Blick. Wenngleich die ca. 300 Bischöfe, die daran teilnahmen, nur einen kleineren Teil des Gesamtepiskopats bildeten und fast ausschließlich aus dem griechischsprachigen Osten stammten, war es damit zu einer quasi amtlichen Kirchenversammlung für das ganze römische Reich als Oikumene der Christen gekommen. Dem I. Nicaenum folgten bis zum Zweiten Konzil von Nizäa (787) sechs weitere Konzilien, die nach katholischem und orthodoxem Verständnis ebenfalls als ökumenisch oder gesamtkirchlich erachtet werden. Die Frage, worin genau das IV. Constantinopolitanum als achtes ökumenisches Konzil bestand – in der Synode von 869/870 oder in der von 879/880 – wurde von West- und Ostkirche bereits unterschiedlich beantwortet und verweist auf die in den einzelnen kirchlichen Traditionen entwickelten unterschiedlichen Vorstellungen davon, was ein ökumenisches Konzil, das
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doch nie wirklich weltumfassend war, genau ausmacht.8 Das gilt für das erste Jahrtausend genauso wie für das zweite, wenn man etwa an die neuzeitliche katholische Zählung der concilia oecumenica denkt, zu denen traditionell auch das Vierte Laterankonzil gerechnet wird.9 Dass das IV. Lateranense als ein universales Konzil im Sinne der Väterzeit geplant war, belegt das Schreiben Vineam Domini Sabaoth vom 19. April 1213, in dem Innozenz III. für das übernächste Jahr ein generale concilium iuxta priscam sanctorum patrum consuetudinem einberuft.10 Auf die Frage, wodurch sich ein solches generale concilium auszeichnet, gibt die zeitgenössische kirchenrechtliche Literatur Auskunft. 8 Sieben nennt als »proprium der Ökumenischen Konzilien« des ersten Jahrtausends die folgenden vier Kriterien: »erstens die kaiserliche Einberufung, zweitens der gesamtkirchliche Charakter in der konkreten Gestalt der fünf Patriarchen, drittens die gesamtkirchliche Fragestellung, viertens die besondere Mitwirkung des Papstes«. Vgl. Hermann Josef Sieben: Definition und Kriterien ökumenischer Konzilien vor der morgenländischen Kirchenspaltung (1054). In: Ders.: Studien zum Ökumenischen Konzil. Definitionen und Begriffe, Tagebücher und Augustinus-Rezeption. Paderborn 2010 (Konziliengeschichte, Reihe B: Untersuchungen), S. 69–106, S. 106. Zu den terminologischen Unschärfen, die Bezeichnungen wie concilium generale und concilium universale anhaftet, vgl. Kirsch (Anm. 6), S. 41–42. 9 Vittorio Peri: I concili e le chiese. Ricerca storica sulla tradizione d’universalità dei sinodi ecumenici. Rom 1965 (Cultura 29), S. 55–89; Ders.: Vent’anni dopo. Ancora sul numero dei concili ecumenici. In: Rivista di storia e letteratura religiosa 23 (1987), S. 289–300; Christopher Robert Cheney: The Numbering of the Lateran Councils of 1179 and 1215; Ders.: Medieval Texts and Studies. Oxford 1973, S. 203–208; José Goñi Gaztambide: El número de los concilios ecuménicos. In: Ecclesia militans. Studien zur Konzilien- und Reformationsgeschichte. Remigius Bäumer zum 70. Geburtstag gewidmet. Hrsg. von Walter Brandmüller u. a. Bd. 1. Paderborn 1988, S. 1–21; Johannes Grohe: Cesare Baronio e la polemica sui Concili ecumenici. In: Venti secoli di storiografia ecclesiastica. Bilancio e prospettive. Hrsg. von Luis Martínez Ferrer. Rom 2010, S. 131–145; Hermann Josef Sieben: Die Liste der ökumenischen Konzilien der katholischen Kirche. Wortmeldungen, historische Vergewisserung, theologische Deutung. In: Ders.: Studien zum Ökumenischen Konzil. Definitionen und Begriffe, Tagebücher und Augustinus-Rezeption. Paderborn 2010 (Konziliengeschichte, Reihe B: Untersuchungen), S. 153–190. Zu einer Sicht auf die Konzilien des zweiten Jahrtausends, die von der sich im Titel der COGD (Anm. 1) widerspiegelnden Wahrnehmung abweicht, vgl. Walter Brandmüller: Zum Problem der Ökumenizität von Konzilien. In: Annuarium Historiae Conciliorum 41 (2009), S. 275–312. 10 Innocentius III: Vineam Domini Sabaoth. In: Patrologia Latina. Bd. 216. Paris 1855, Sp. 823D–827A, Sp. 824B. Vgl. Georgine Tangl: Studien zum Register Innocenz’ III. Weimar 1929, S. 84–88; Selected Letters of Pope Innocent III Concerning England (1198–1216). Hrsg. von Christopher Robert Cheney/William Hugh Semple. London u. a. 1953, Nr. 51, S. 144–147, S. 145 sowie Antonio García y García: Prehistoria del Concilio IV Lateranense de 1215. In: Homenaje al Professor Alfonso García-Gallo. Bd. 1. Madrid 1996, S. 191–205, S. 204–205; Alberto Melloni: Vineam Domini – 10 April 1213: New Efforts and Traditional Topoi – Summoning Lateran IV. In: Pope Innocent III and his World. Hrsg. von John C. Moore. Farnham, Burlington (VT) 1999, S. 63–74.
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Der von Innozenz geschätzte Huguccio von Pisa († 1210), der wohl bedeutendste italienische Kanonist des späten zwölften Jahrhunderts, verfasste zwischen 1188 und 1190 eine große Summe zum Decretum Gratiani.11 Anknüpfend an Gratian (D.17 pr.) liefert er darin folgende Definition des generale vel universale concilium.12 Es handelt sich demnach um ein Konzil, das ›von dem Papst oder seinem Legaten mit Bischöfen unterschiedlicher Kirchenprovinzen gefeiert wird‹. Davon grenzt Huguccio das concilium particulare vel speciale, d. h. das Provinzialkonzil, das ein Metropolit oder Primas mit seinen Suffraganbischöfen veranstaltet, sowie das concilium episcopale vel singulare ab, d. h. die Synode, die ein Diözesanbischof mit seinen Klerikern abhält. Diese Begriffsbestimmung lässt sich durch eine zweite ergänzen, die Huguccio an einer anderen Stelle seiner Summe (zu D.3 pr.) vornimmt.13 Danach werden concilia generalia ›in der Gegenwart des dominus papa oder seines Legaten gefeiert, nachdem dazu umfassend (generaliter) Bischöfe und andere Kirchenobere zusammengerufen worden sind‹. Im Anschluss daran liefert der Kanonist noch zwei Erklärungen des Ausdrucks concilia universalia et generalia, der ihm zufolge entweder daher rührt, dass solche Konzilien alle umfassend (generaliter) binden, oder seinen Ursprung darin hat, dass dort Konzilsväter aus allen Teilen der Welt zusammenkommen. Der zuletzt referierte Erklärungsversuch verweist auf den räumlichen Rahmen des Konzils. Dieser fällt in der ersten Definition (zu D.17 pr.) – das universale concilium als Versammlung von Bischöfen aus unterschiedlichen Kirchenprovinzen – eher minimalistisch aus, in der zweiten (zu D.3 pr.) tritt er dagegen etwas stärker hervor. 11 Zum Decretum Gratiani siehe unten S. 41–42. 12 Huguccio Pisanus: Summa decretorum. Hrsg. von Oldřich Přerovský. Bd. 1: Distinctiones I– XX. Città del Vaticano 2006 (Monumenta Iuris Canonici, Series A 6), D.17 pr. v. generalia, S. 258, Z. 12–S. 259, Z. 20: Generale uel universale concilium est quod a papa uel eius legato cum diuersarum prouinciarum episcopis celebratur; particulare uel speciale est prouinciale, scilicet quod facit metropolita nus uel primas cum suis suffraganeis, ut di. xviii. c. i. et di. xcii. Si quis episcopus; episcopale uel singulare est quod episcopus facit cum suis clericis, nam et episcopus cum suis clericis potest facere concilium, ut di. xxxviii. Quando et xii. q. ii. Placuit, Episcopus qui. Generale non debet fieri sine autoritate pape, ut hic, particulare non debet esse sine auctoritate metropoliani uel primatis, episcopale sine auctoritate episcopi. Zum Autor vgl. Wolfgang P. Müller: Huguccio. The life, works, and thought of a twelfth-century jurist. Washington 1994 (Studies in medieval and early modern canon law 3); Maria Magdalena Martínez Almira: Hugoccio de Pisa. In: Diccionario general de derecho canónico. Bd. 4. Cizur Menor 2012, S. 355–357. 13 Huguccio: Summa (Anm. 12), D.3 pr. v. nomine canonis censetur, S. 64, Z. 24–32: notandum quod con ciliorum quedam dicuntur generalia siue uniuersalia, quedam prouincialia siue particularia. Generalia siue uniuersalia dicuntur illa que in presentia domini pape uel eius legati, conuocatis ad hoc generaliter episcopis et aliis ecclesiarum prelatis, celebrantur. Et dicuntur uniuersalia et generalia quia omnes genera liter astringunt uel quia ibi conueniunt patres de uniuersis partibus mundi. Prouincialia siue particularia dicuntur illa que a primate uel a metropolitano, suis tantum conuocatis suffraganeis, per diuersas pro uincias fiunt.
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Allerdings ist dieser ›ökumenische‹ Aspekt des Universalkonzils bei Huguccio im Vergleich zu älteren kanonistischen Werken bereits in die zweite Reihe gerückt, während ein anderes, eher qualitatives oder normatives Element, das auch in der ersten Begriffsbestimmung von entscheidender Bedeutung ist, am Anfang der zweiten Definition steht, und zwar die Gegenwart des Papstes oder seines Legaten, d. h. allgemein gesprochen die Rolle des Nachfolgers Petri für ein solches Konzil.14 An diesem Punkt beginnt sich ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen zwei zentralen Strukturen oder Prinzipien der betreffenden Institution abzuzeichnen. Da ist zunächst das concilium als Versammlung von Konzilsvätern de universis parti bus mundi (Huguccio). Die Teilnehmer – in der Spätantike fast nur Bischöfe, seit dem Hochmittelalter dann auch Kardinäle, Äbte und andere Prälaten15 – bilden ein Kollegium, das zumindest teilweise konsensual entscheidet.16 Diese Form der Willensbildung findet jedoch eine wesentliche Einschränkung durch das zweite Element, und das ist die Vollmacht des Papstes. Wenn Huguccio hervorhebt, dass ohne seine Erlaubnis kein allgemeines Konzil stattfinden darf, dann spricht er einen Grundsatz aus, der bis in das Frühmittelalter zurückreicht.17 Der Nachfolger Petri war für ihn kein primus inter pares im Kreis der Konzilsväter, sondern eher conditio sine qua non 14 Hermann Josef Sieben: Die Konzilsidee des lateinischen Mittelalters (847–1378). Paderborn u. a. 1984 (Konziliengeschichte, Reihe B: Untersuchungen), S. 239 bzw. S. 253–255; Ders.: Westkirchliche Definitionen und Begriffe vom Ökumenischen Konzil nach der morgenländischen Kirchenspaltung (1054). In: Ders.: Studien zum Ökumenischen Konzil. Definitionen und Begriffe, Tagebücher und Augustinus-Rezeption. Paderborn 2010 (Konziliengeschichte, Reihe B: Untersuchungen), S. 107–151, S. 111. 15 Rudolf Weigand: Teilnehmer der Ökumenischen Konzilien in der Geschichte und im CIC. In: La Synodalité. La participation au gouvernement dans l’Église. Paris 1992 (L’Année Canonique, Hors série 1), S. 125–142. 16 D.15 c.1; Antonio Rota: La definizione isidoriana di »concilium« e le sue radici romanistiche. In: Atti del Congresso internazionale di diritto romano e di storia del diritto, Verona 27–28–29–IX–1948. Hrsg. von Guiscardo Moschetti. Bd. 4. Mailand 1953 (Accademia di Agricultura Scienze e lettere), S. 211–225; Yves M.-J. Congar: Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet. In: Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen zu den modernen Parlamenten. Hrsg. von Heinz Rausch. Darmstadt 1980 (Wege der Forschung 196), S. 115–182; Hermann Josef Sieben: Consensus, unaminitas und maior pars auf Konzilien. Von der Alten Kirche bis zum Ersten Vatikanum. In: Theologie und Philosophie 67 (1992), S. 192–229; Alberto Cadili: Composizione, ruoli e formazione del consenso nei concili della chiesa latina medievale (secoli XI–XIII). In: Cristianesimo nella storia 32 (2011), S. 963–1005. 17 JL 4304–4305 (Leo IX.); D.17 c.1 (Ps.-Marcellus, J3 † 327 ( JK † 161)). Zum Folgenden vgl. Horst Fuhrmann: Das Ökumenische Konzil und seine historischen Grundlagen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 12 (1961), S. 672–695, S. 681–686 sowie Clara Harder: Pseudoisidor und das Papsttum. Funktion und Bedeutung des apostolischen Stuhls in den pseudoisidorischen Fälschungen. Köln u. a. 2014 (Papsttum im mittelalterlichen Europa 2), S. 99.
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eines concilium generale. Diese überragende Bedeutung erklärt sich nicht nur aus einzelnen Befugnissen des Papstes, sondern auch aus seiner Stellung insgesamt. Er ist zwar auch ein Bischof, als Bischof von Rom, der mater universorum christifidelium et magistra (4 Conc. Lat. c.5), zugleich jedoch Nachfolger Petri, vicarius Christi, Haupt der Gesamtkirche und Inhaber der plenitudo potestatis.18 Wenngleich es schon in der Kirchenrechtswissenschaft der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts eine Tendenz gab, in bestimmten Ausnahmefällen wie z. B. bei Häresie den Papst der Autorität eines Universalkonzils zu unterstellen,19 deutet doch das Gesamtbild, das Kanonisten um die Wende vom zwölften zum dreizehnten Jahrhundert vom Verhältnis von Papst und Universalkonzil zeichneten, in die entgegengesetzte Richtung. »Das Generalkonzil ist […] geradezu das Konzil des Papstes« (H. J. Sieben).20 Dieser Eindruck lässt sich anhand der hochmittelalterlichen Konziliengeschichte noch vertiefen. Seit Leo IX. (1049–1054) hatten die Reformpäpste zur Durchsetzung ihrer Ziele von dem Instrument der Synode intensiven Gebrauch gemacht und eine neue Form des concilium in Gestalt der päpstlichen Synode entwickelt, in der der Nachfolger Petri nicht nur den Vorsitz führte, sondern auch als
18 Alfred Hof: »Plenitudo potestatis« und »imitatio imperii« zur Zeit Innocenz’ III. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 66 (1954/55), S. 39–71; Kenneth Pennington: Pope and Bishops. The papal monarchy in the twelfth and thirteenth centuries. Philadelphia 1984, S. 43–74; Alessandro Recchia: L’uso della formula plenitudo potestatis da Leone Magno ad Uguccione da Pisa. Rom 1999 (Corona Lateranensis); Stefanie Unger: Generali concilio inhaerentes statuimus. Die Rezeption des Vierten Lateranum (1215) und des Zweiten Lugdunense (1274) in den Statuten der Erzbischöfe von Köln und Mainz bis zum Jahr 1310. Mainz 2004 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 114), S. 30–32; Brigitte Basdevant-Gaudemet: Note sur Plenitudo potestatis. In: Églises et Autorités. Études d’histoire de droit canonique médiéval. Hrsg. von ders. Paris 2006 (Cahiers de l’Institut d’Anthropologie Juridique 14), S. 75–81; Sieben, Westkirchliche Definitionen (Anm. 14), S. 108–121; Agostino Paravicini Bagliani: Hat das Papsttum seiner plenitudo potestatis Grenzen gesetzt? (1050–1300). In: Das begrenzte Papsttum. Spielräume päpstlichen Handelns. Legaten – delegierte Richter – Grenzen. Hrsg. von Klaus Herbers u. a. Berlin, Boston 2013 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge 25), S. 29–41. Zum Primat allgemein vgl. Manuel Ríos Fernández: El primado del romano pontífice en el pensamiento de Huguccio de Pisa decretista. In: Compostellanum 6 (1961), S. 47–97, 7 (1962), S. 97–149, 8 (1963), S. 65–99, 11 (1966), S. 29–67 sowie Klaus Schatz: Der päpstliche Primat. Seine Geschichte von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Würzburg 1990; Wolfgang Klausnitzer: Der Primat des Bischofs von Rom. Entwicklung – Dogma – Ökumenische Zukunft. Freiburg u. a. 2004. 19 John Watt: The Early Medieval Councils and the Formation of Conciliar Theory. In: Irish Theological Quarterly 24 (1957), S. 13–31; Brian Tierney: Pope and Council: Some New Decretist Texts. In: Mediaeval Studies 19 (1957), S. 197–218; Ders.: Foundations of the Conciliar Theory. The contribution of the medieval canonists from Gratian to the Great Schism. 2. Aufl. Leiden u. a. 1998 (Studies in the History of Christian Thought 81), S. 43–61. 20 Sieben, Konzilsidee (Anm. 14), S. 255. Vgl. aber auch ebd., S. 267–268.
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alleiniger Gesetzgeber und Richter auftrat, während die Funktion der versammelten Bischöfe vor allem darin bestand, den päpstlichen Entscheidungen zuzustimmen.21 Ein ähnliches Bild ergibt sich für die erste Phase der sogenannten päpstlichen Universal- oder Generalsynoden, die mit dem I. Lateranense (1123) beginnt und mit dem Konzil von Vienne (1311) endet.22 Die betreffenden Universalkonzilien heben sich einerseits von den acht ökumenischen Konzilien des ersten Jahrtausends und andererseits von den beiden Reformkonzilien des fünfzehnten Jahrhunderts, Konstanz (1414–1418) und Basel – Ferrara – Florenz (1431–1445), ab.23 Die Frage, wie sich für die zwischen 1123 und 1311 abgehaltenen Konzilien die Rolle des Papstes darstellt, lässt sich mit Hans Erich Feine vielleicht am einfachsten so beantworten: »Als erweiterte Papalsynoden wurden sie von den Päpsten berufen und geleitet; ihre Beschlüsse geben sich denn auch als unter Beirat und Zustimmung der Synode erlassene päpstliche Dekrete.«24 Vor diesem Hintergrund betrachtet bereitet es zunächst einmal Schwierigkeiten, im IV. Lateranense einen Einschnitt in die kirchliche Verfassungsgeschichte zu sehen, denn das Konzil von 1215 erscheint dann nur als Teil einer größeren Epoche der Konziliengeschichte. Allerdings ließe sich fragen, ob nicht gerade das Vierte Laterankonzil mehr war als eine »erweiterte Papalsynode«. Immerhin weist es von allen Konzilien des Hoch21 Schmale (Anm. 6), S. 94–102; Ders.: Systematisches zu den Konzilien des Reformpapsttums im 12. Jahrhundert. In: Archivum Historiae Conciliorum 6 (1974), S. 21–39; Georg Gresser: Die Synoden und Konzilien in der Zeit des Reformpapsttums in Deutschland und Italien von Leo IX. bis Calixt II. 1049–1123. Paderborn u. a. 2006 (Konziliengeschichte, Reihe A: Darstellungen); Ders.: Zur Funktion der päpstlichen Synode in der Zeit der Kirchenreform. In: Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweisen – Strategien – Darstellungsformen. Hrsg. von Stefan Weinfurter. Ostfildern 2012 (Mittelalter-Forschungen 38), S. 81–95. 22 Von besonderem Interesse sind hier die vier Laterankonzilien. Vgl. Hermann Josef Sieben: Lateransynoden. I. Lateran I–IV. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 20. Berlin, New York 1990, S. 481–489; Jochen Johrend: Laterankonzilien. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 657–663 sowie Johannes Helmrath: Das IV. Lateranum von 1215 in Rom im konzilsgeschichtlichen Vergleich. Überlegungen zu Organisation, Oratorik und Procedere. In: Et l’homme dans tout cela? Von Menschen, Mächten und Motiven. Festschrift für Heribert Müller zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Gabriele Annas/Jessika Nowak. Stuttgart 2017 (Frankfurter Historische Abhandlungen 48), S. 19–46. 23 Jedin (Anm. 6), S. 9–11; Plöchl (Anm. 6), S. 153–155. 24 Hans Erich Feine: Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche. 5. Aufl. Köln, Wien 1972, S. 330. Vgl. auch Gabriel Le Bras u. a.: L’âge classique 1140–1378. Sources et théorie du droit. Paris 1965 (Histoire du droit et des institutions de l’Église en Occident 7), S. 157. Dazu passt, dass in der Rubrik von Kapiteln des Liber Extra, die Konzilskanones enthalten, der Bezeichnung des Konzils oft der Name des jeweiligen Papstes vorangestellt ist. Vgl. Gérard Fransen: Die Ekklesiologie der Konzile des Mittelalters. In: Das Konzil und die Konzile. Ein Beitrag zur Geschichte des Konzilslebens der Kirche. Hrsg. von Bernard Botte u. a. Stuttgart 1962, S. 145–164, S. 152–154.
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mittelalters die vielleicht stärksten universalen Züge auf.25 Dafür spricht abgesehen von der großen Zahl der Teilnehmer26 – allein über 400 Bischöfe und mehr als 800 andere Prälaten – auch die Tatsache, dass schon im Einladungsschreiben an die ökumenischen Konzilien des ersten Jahrtausends angeknüpft und eine breite Teilnahme von Erzbischöfen, Bischöfen und anderen Inhabern höherer Kirchenämter eingefordert wird.27 Es stellt sich daher die Frage, ob nicht das Konzil von 1215 einen Punkt markiert, an dem die Quantität in eine neue institutionelle Qualität umschlug und sich damit auch der Charakter des concilium universale veränderte. So gesehen könnte sich mit dem IV. Lateranense ein neuer Typus des Konzils ankündigen, der in gewisser Weise Entwicklungen im Zeitalter der Reformkonzilien vorwegnimmt: die Kirchenversammlung, die gleichsam die gesamte Christenheit repräsentiert. Diese Überlegung klingt in der einen oder anderen Form seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bei ganz unterschiedlichen Autoren an und fordert zu einer kurzen Auseinandersetzung heraus.28 25 Gabriel Le Bras: Institutions ecclésiastiques de la Chrétienté médiévale. Bd. 2. Paris 1964 (Histoire de l’Église depuis les origines jusqu’à nos jours 12), S. 334, Anm. 2 (»L’idée d’œcuménicité n’est pleinement réalisé qu’en 1215.«). Dazu allerdings vgl. auch ebd., S. 335. 26 Achille Luchaire: Un document retrouvé. In: Journal des savants 3 (1905), S. 557–568; Jakob Werner: Nachlese aus Zürcher Handschriften. I. In: NA 31 (1906), S. 575–593; Hermann Krabbo: Die deutschen Bischöfe auf dem vierten Laterankonzil 1215. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 10 (1907), S. 275–300; Juán Francisco Rivera: Personajes hispanes asistentes en 1215 al IV concilio de Latrán (Revisión y aportación nueva de documentos. Datos biográficos). In: Hispania Sacra 4 (1951), S. 335–355; Patrick J. Dunning: Irish Representatives and Irish Ecclesiastical Affairs at the Fourth Lateran Council. In: Medieval Studies presented to Aubrey Gwynn, SJ. Hrsg. von J. A. Watt u. a. Dublin 1961, S. 90–113; Antonio García y García: El Concilio IV Lateranense (1215) y Francia. In: Annuarium Historiae Conciliorum 26 (1994), S. 61–86; Kirsch (Anm. 6), S. 161–168. 27 Innocentius III: Vineam Domini Sabaoth (Anm. 10), Sp. 824D–825A. 28 Albert Hauck: Die Rezeption und Umbildung der allgemeinen Synode im Mittelalter. In: Historische Vierteljahrschrift 10 (1907), S. 465–482, S. 469–472; Fuhrmann (Anm. 17), S. 689; Walter Ullmann: A Short History of the Papacy in the Middle Ages. London 1972, S. 221–222; Tierney: Foundations of the Conciliar Theory (Anm. 19), S. 43; Hans-Joachim Schmidt: Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa. Weimar 1999 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 37), S. 109; Jürgen Miethke: Formen der Repräsentation auf Konzilien des Mittelalters. In: Politische Versammlungen und ihre Rituale. Repräsentationsformen und Entscheidungsprozesse des Reichs und der Kirche im späten Mittelalter. Hrsg. von Jörg Peltzer u. a. Ostfildern 2009 (Mittelalter-Forschungen 27), S. 21–36, S. 26–27; Cadili (Anm. 16), S. 984–985; Helmrath (Anm. 22), S. 27–28. Ferner vgl. Le Bras u. a. (Anm. 24), S. 158; Brian Tierney: The Idea of Representation in the Medieval Councils of the West. In: Concilium 187 (1983), S. 25–30 (ND Ders.: Rights, Laws and Infallibility in Medieval Thought. Aldershot, Bookfield [Vt] 1997 [Collected Studies Series 578], XI), S. 27; Aldo Landi: Le radi del conciliarismo. Una storia della canonistica medievale alla luce dello sviluppo del primato del papa. 2. Aufl. Turin 2001 (Studi storici. Saggi); Kirsch (Anm. 6), S. 44–45, S. 154.
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Der Gedanke erscheint zunächst einmal eingängig. Das heißt aber noch nicht, dass er sich bei genauerer Betrachtung auch als richtig erweist. Die Schwierigkeiten beginnen bereits bei dem für die ganze Überlegung zentralen Begriff der Repräsentation und bestehen nicht nur mit Blick auf Innozenz III. und das Konzil von 1215 darin, »dass die Vorstellung der Repräsentation der Kirche noch fehlt« (A. Hauck).29 Vielmehr sind Zweifel geboten, ob der Kanonistik der Begriff der repraesentatio als Instrument zur Analyse von Phänomenen wie Kirche und Konzil vor Mitte des dreizehnten Jahrhunderts überhaupt zur Verfügung stand.30 Doch selbst wenn man auf diesen Terminus verzichtet, bleibt festzuhalten, dass das Konzil als aus eigener Kraft handelnde Versammlung schwerlich erkennbar ist. Das gilt insbesondere für die Normgebung von 1215, kostet es doch bereits einige Anstrengungen, in ihr Spuren von consilium oder consensus der Konzilsväter wiederzufinden.31 Davon abgesehen bereitet bezüglich der gerade angedeuteten Vorstellung aber auch die in ihr vorausgesetzte Kontinuität der Entwicklung Probleme. Zumindest fällt es schwer, vom frühen dreizehnten Jahrhundert eine durchgehende Linie zu den Reformkonzilien des fünfzehnten Jahrhunderts zu ziehen. Das gilt gerade mit Blick auf die unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen und die Stärke oder Schwäche des zeitgenössischen Papsttums. Schließlich erscheint auch im Detail manches vergewisserungsbedürftig. Das betrifft etwa den großen Teilnehmerkreis des Konzils von 1215, der wohl weniger auf tiefere institutionelle Entwicklungen als auf die besonderen Anstrengungen und Zielsetzungen des Papstes zurückzuführen ist, wenn man etwa an zwei zentrale Anliegen Innozenz’ III. denkt, die Aufnahme des Kreuzzugs und die Bekämpfung der Häresie bzw. der Ketzer.32 Angesichts solcher Schwierigkeiten erscheint es fraglich, ob man ausgehend von dem Gedanken, im IV. Lateranense deute sich ein neuer, die gesamte Christenheit repräsentierender Typus des Universalkonzils an, tatsächlich zu dem Ergebnis gelangen kann, es sei 1215 zu einer institutionellen und rechtlichen Wende in diesem Sinne 29 Hauck (Anm. 28), S. 470. 30 Walter Brandmüller: Sacrosancta synodus universalem repraesentans ecclesiam. Das Konzil als Repräsentation der Kirche. Ders.: Papst und Konzil im Großen Schisma (1378–1431). Studien und Quellen. Paderborn u. a. 1990, S. 157–170, S. 161. Zur Repräsentation allgemein vgl. Kenneth Pennington: Representation in Medieval Canon Law. In: The Jurist 64 (2001), S. 361–383; Hasso Hofmann: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. 4. Aufl. Berlin 2003 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 22); Repraesentatio. Mapping a Keyword for Churches and Governance. Proceedings of the San Miniato International Workshop October 13–16, 2004. Hrsg. von Massimo Faggioli/Albert Melloni. Berlin 2006 (Christianity and History 3). 31 Unger (Anm. 18), S. 30 bzw. S. 32. Dazu siehe auch unten S. 66–67. 32 Siehe S. 63. Vgl. auch Klaus Herbers: Primat des Papstes. Das Vierte Laterankonzil 1215: Zu seiner Bedeutung in Geschichte und Gegenwart. In: Zur Debatte 45 (2016/2), S. 9–11, S. 9.
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gekommen. Der eher negative Befund verstärkt die bereits angedeuteten Zweifel, ob das Vierte Laterankonzil als institutionelles Ereignis überhaupt einen Einschnitt der kirchlichen Rechtsgeschichte bildete. 1.2 Zur Bedeutung des IV. Lateranense für das kanonische Recht und die kirchliche Gesetzgebung Angesichts des eher negativen verfassungsgeschichtlichen Befundes liegt es nahe, die Perspektive zu wechseln und die historische Bedeutung des Vierten Laterankonzils mit Blick auf die Vorschriften, die auf ihm erlassen wurden, zu prüfen. Dazu bedarf es allerdings einer genaueren Bestimmung, unter was für einem Blickwinkel man diesen rechtlichen Ertrag des Konzils betrachten will, denn die Kirchenrechtsgeschichte erstreckt sich einerseits auf die Geschichte einzelner Institutionen (Ehe, Prozess etc.), die durch die Normen des kanonischen Rechts geregelt werden, und andererseits auf die Geschichte der Quellen und der Literatur des kirchlichen Rechts. Soweit es den ersten Bereich betrifft, steht es, wie der eingangs angedeutete Befund hinsichtlich des Codex Iuris Canonici von 1917 zeigt, außer Frage, dass die Vorschriften des IV. Lateranense über sehr lange Zeit großen Einfluss auf die Rechtsentwicklung ausgeübt haben. Worin genau die Bedeutung der Konzilsnormen für die Ausgestaltung der kirchlichen Institutionen lag, lässt sich jedoch nur in Hinblick auf konkrete Bestimmungen klären. Dementsprechend wird man umfassende Antworten auf die Ausgangsfrage aus dieser Richtung schwerlich erwarten können. Dies gilt umso mehr, als sich aus entsprechenden institutionengeschichtlichen Einzelbefunden noch keine Antwort auf die naheliegende Frage ergibt, weshalb und wodurch das IV. Lateranense einen so großen Einfluss auf die Entwicklung des Kirchenrechts ausüben konnte. Aufschlüsse darüber kann zumindest mittelbar ein Blick auf die Quellen des Kirchenrechts liefern.33 Dass ein enger Zusammenhang zwischen der Geschichte der Konzilstexte und der der Institutionen besteht, ergibt sich schon aus der großen Bedeutung, welche die Beschlüsse der großen Konzilien für die kirchliche Rechtsüberlieferung hatten und haben. Sie gehören neben biblischen Weisungen, den Entscheidungen der Päpste, der Lehre der Kirchenväter sowie dem römischen Recht 33 Alphons M. Stickler: Historia iuris canonici latini. Institutiones academicae. Bd. 1: Historia fontium. Turin 1950; Le Bras u. a. (Anm. 24); Jean Gaudemet: Les sources du droit canonique. VIIIe–XXe siècle. Repères canoniques. Sources occidentales. Paris 1993; Péter Erdö: Die Quellen des Kirchenrechts. Frankfurt a. M. 2002 (Adnotationes in Ius Canonicum 23) (id.: Storia delle fonti del diritto canonico. Venedig 2008 [Istituto di diritto canonico San Pio X, Manuali 2]); The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX. Hrsg. von Wilfried Hartmann/Kenneth Pennington. Washington 2008 (History of Medieval Canon Law).
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von alters her zu den zentralen Quellen des Kirchenrechts. Konzilskanones als Form des geschriebenen Rechts sind teils als zusammenhängender Text, teils auszugsweise in Kirchenrechtssammlungen überliefert. Für das IV. Lateranense stellt sich diese doppelte Tradition folgendermaßen dar.34 Die 71 Konzilskonstitutionen sind in 66 Handschriften ganz oder in großen Teilen überliefert. Das ist eine nicht unerhebliche Anzahl, und doch erscheint sie klein, wenn man im Vergleich dazu die Überlieferung im Rahmen der wichtigsten kirchlichen Rechtssammlung des dreizehnten Jahrhunderts betrachtet: Fast alle Kanones des IV. Lateranense35 fanden Eingang in den Liber Extra (1234), von dem nach aktueller Zählung allein 675 Handschriften mehr oder weniger vollständig überkommen sind.36 Um die Bedeutung und Hintergründe dieser Zahlenangaben zu verstehen, bedarf es eines kurzen Seitenblickes auf die kirchliche Rechtsentwicklung des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem Decretum Gratiani.37 Diese Kirchenrechtssammlung, die zumindest in ihrer ersten wohl um 34 Antonio García y García: Introducción. In: Constutiones Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum. Hrsg. von dems. Città del Vaticano 1981 (Monumenta Iuris Canonici, Series A 2), S. 3–39, S. 4, S. 18–32; Peter Johanek: Methodisches zur Verbreitung und Bekanntmachung von Gesetzen im Spätmittelalter. In: Histoire comparée de l’administration (IVe–XVIIIe siècles). Hrsg. von Werner Paravicini/Karl Ferdinand Werner. München 1980 (Beihefte der Francia 9), S. 88–101 (ND Peter Johanek, Was weiter wirkt ... Recht und Geschichte in Überlieferung und Schriftkultur des Mittelalters. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Antje Sander-Berke/Birgit Studt. Münster 1997, S. 211–224), S. 93–95. 35 Es fehlen in der Compilatio Quarta c.42 und c.71 sowie im Liber Extra c.42, c.49 und große Teile von c.71. Vgl. Uta-Renate Blumenthal: Liber Extra 5.6.17 (Ad liberandam). A Surprising Commentary by Hostiensis. In: Honos alit artes. Studi per il settantesimo compleanno di Mario Ascheri. Hrsg. von Paola Maffei/Gian Maria Varanini. Bd. 1. Florenz 2014 (Reti Medievali E-Book 191,1), S. 309–318, S. 311–313. 36 Zur Überlieferung vgl. Martin Bertram: Signaturliste der Handschriften der Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra). Neubearbeitung April 2014. http://dhi-roma.it/fileadmin/user_upload/ pdf-dateien/Online-Publikationen/Bertram/Bertram_Extrahss_2014.pdf, letzter Zugriff 08.01.2016. Ferner vgl. ders.: Überlegungen zu einem qualifizierten Überlieferungsbild der Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra). In: Rechtshandschriften des deutschen Mittelalters. Produktionsorte und Importwege. Hrsg. von Patrizia Carmassi/Gisela Drossbach. Wiesbaden 2015 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 29), S. 285–302; Martin Bertram: Fragmente der Dekretalen Gregors IX. (Liber Extra). Wanderungen durch eine europäische Trümmerlandschaft. In: Fragment und Makulatur. Überlieferungsstörungen und Forschungsbedarf bei Kulturgut in Archiven und Bibliotheken. Hrsg. von Hanns Peter Neuheuser/Wolfgang Schmitz. Wiesbaden 2015 (Buchwissenschaftliche Beiträge 91), S. 139–161. 37 Decretum Magistri Gratiani. In: Corpus Iuris Canonici (Anm. 1). Bd. 1. Zum Stand der unter Leitung von Anders Winroth begonnenen Edition der ersten Rezension des Dekrets vgl. https:// sites.google.com/a/yale.edu/decretumgratiani/, letzter Zugriff 16.02.2017. Ferner vgl. Anders Winroth: The Making of Gratian’s Decretum. Cambridge 2000 (Cambridge Studies in Medieval Life and
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1139 vollendeten Rezension auf den historisch schwer fassbaren Gratian zurückgeht und in ihrer zweiten Rezension Mitte oder spätestens Ende der 1140er Jahre (zunächst ohne De consecratione) vorlag, leitete das bis in das vierzehnte Jahrhundert reichende Zeitalter des klassischen kanonischen Rechts ein. Das Dekret verdrängte in kurzer Zeit alle früheren Sammlungen des Kirchenrechts und bildete die Grundlage eines kanonistischen Lehrbetriebs, zunächst in Bologna und später auch außerhalb Italiens. Darüber hinaus war es der Ausgangspunkt für eine auf ihm beruhende kirchenrechtliche Literatur. Diese Entwicklungen verweisen auf die beiden wichtigsten Unterschiede im Vergleich zur vorgratianischen Epoche. Sie liegen in der Entstehung einer eigenen Wissenschaft vom Kirchenrecht, der Kanonistik, und der Herausbildung eines neuen Typus des besonders geschulten kirchlichen Rechtsgelehrten, des Kanonisten. Die gerade angedeuteten Prozesse sind eng verbunden mit dem intensiven Gebrauch, den die Nachfolger Petri vom Kirchenrecht machten. Seit Mitte des zwölften Jahrhunderts hatte das Decretum Gratiani Eingang nicht nur in die kuriale Praxis, sondern auch in die Entscheidungen der Päpste gefunden. Das gilt insbesondere für jene als Dekretalen bezeichneten Papstbriefe, die mit Blick auf Fragen oder Rechtshandlungen, die dem Nachfolger Petri vorgelegt oder kundgetan worden waren, rechtlich bedeutsame Antworten oder Verfügungen enthalten und deshalb (oft) in Kirchenrechtssammlungen aufgenommen wurden.38 Die Anzahl dieser Dekretalen Thought. Fourth Series 49); Ders.: Where Gratian Slept: The Life and Death of the Father of Canon Law. In: ZRG KA 99 (2013), S. 105–128; Peter Landau: Gratian and the Decretum Gratiani. In: The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX. Hrsg. von Wilfried Hartmann/Kenneth Pennington. Washington D. C. 2008 (History of Medieval Canon Law), S. 22–54; José Miguel Viejo-Ximénez: Graciano. In: Diccionario general de derecho canónico. Bd. 4. Cizur Menor 2012, S. 239–246; John C. Wei: The Later Development of Gratian’s Decretum. In: Proceedings of the Fourteenth International Congress of Medieval Canon Law. Toronto, 5–11 August 2012. Hrsg. von Joseph Goering u. a. Città del Vaticano 2016 (Monumenta iuris canonici, Series C 15), S. 149–159. 38 Gérard Fransen: Les décrétales et les collections de décrétales. Turnhout 1972 (Typologie des sources du moyen âge occidental 2), S. 12–15; Anne Lefebvre-Teillard: Modeler une société chretienne: les décrétales pontificales. In: Le médiéviste devant ses sources. Questions et méthodes. Hrsg. von Claude Carozzi/Huguette Taviani-Carozzi. Aix-en-Provence 2004 (Collection Le temps de l’histoire), S. 41–49; Knut Wolfgang Nörr: Texturen mittelalterlicher Rechtsfortbildung: Die Dekretale und die Dekretalensammlung (von Alexander III. bis Gregor IX.). In: Dienst an Glaube und Recht. Festschrift für Georg May zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Anna Egler/Wilhelm Rees. Berlin 2006 (Kanonistische Studien und Texte 52), S. 263–279; Lotte Kéry: Dekretalenrecht zwischen Zentrale und Peripherie. In: Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III. Hrsg. von Jochen Johrendt/Harald Müller. Berlin, New York 2008 (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Neue Folge 2), S. 19–45;
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nahm in den folgenden Jahrzehnten beträchtlich zu. So klagte schon Stephan von Tournai 1182 in einem Brief an Papst Lucius III. über die inextricabilis silva decreta lium.39 Nachdem die päpstlichen Dekretalen als ius novum seit den 1170er Jahren in eigenen Kollektionen gesammelt worden waren, wurden sie seit 1190, d. h. seit der Compilatio Prima des Bernhard von Pavia, Gegenstand kanonistischer Kommentierung. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich auch, dass das Decretum Gratiani in der Folgezeit durch die sogenannten Quinque Compilationes Antiquae zunehmend in den Hintergrund gedrängt wurde.40 Diese zwischen 1190 (Compilatio Prima) und 1226 (Compilatio Quinta) entstandenen fünf Kollektionen enthalten vor allem neues Dekretalenmaterial, das aufgrund seiner Aktualität für die Kanonisten von besonderem Interesse war. Den vorläufigen Abschluss der Entwicklung bildete die Promulgation des Liber Extra durch Papst Gregor IX. am 5. September 1234.41 Auf Gregors Anweisung hatte Raymund von Peñafort eine amtliche Kompilation kirchenrechtlicher Normen geschaffen, die nicht im Decretum Gratiani enthalten waren, einen, wie es später hieß, liber decretalium extra decretum vagantium, der 1971 Kapitel umfasst. Der amtliche Charakter des Liber Extra verweist auf die Rolle, die das Papsttum seit Beginn des dreizehnten Jahrhunderts für die gerade skizzierte Entwicklung spielte. Unter Innozenz III. wurde erstmals eine Dekretalensammlung, die Compi latio Tertia (1209/1210) vom Papst approbiert und an die Universität Bologna versandt, so dass sie den Rang einer offiziellen Sammlung erlangte.42 Der Vorgang deutet Dies.: Das Kirchenrecht als Instrument päpstlichen Führungsanspruchs. In: Die Päpste. Bd. 1: Amt und Herrschaft in Antike, Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von Bernd Schneidmüller u. a. Regensburg 2016 (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen 74), S. 275–298; Atria A. Larson/ Keith Sisson: Papal Decretals. In: A Companion to the Medieval Papacy. Growth of an Ideology and Institution. Hrsg. von Keith Sisson/Atria A. Larson. Leiden, Boston 2016 (Brills Companions to the Christian Tradition 70), S. 158–173. 39 Lettres d’Étienne de Tournai. Hrsg. von Jules Desilve. Valenciennes, Paris 1893, Ep. 274 (a. 1182), S. 345. 40 Joaquín Sedano: Quinque Compilationes Antiquae. In: Diccionario general de derecho canónico. Bd. 6. Cizur Menor 2012, S. 675–680. 41 Decretalium D. Gregorii Papae IX. Compilatio. In: Corpus Iuris Canonici (Anm. 1). Bd. 2, Sp. 1–928. Vgl. Edward Andrew Reno III: The Authoritative Text: Raymond of Penyafort’s editing of the Decretals of Gregory IX (1234). Columbia 2011. http://academiccommons.columbia.edu/item/ ac:132233, letzter Zugriff 08.01.2016; Martin Bertram: Decretales de Gregorio IX. In: Diccionario general de derecho canónico. Bd. 2. Cizur Menor 2012, S. 916–923. Zum Liber Extra vgl. auch Anm. 64. 42 Quinque compilationes antiquae (Anm. 1), S. 105–134. Vgl. Kenneth Pennington: The Making of a Decretal Collection: The Genesis of Compilatio Tertia. In: Proceedings of the Fifth International Congress of Medieval Canon Law. Hrsg. von Stephan Kuttner/Kenneth Pennington. Città del Vaticano 1980 (Monumenta Iuris Canonici, Series C 6), S. 67–92 (ND Ders.: Popes, Canonists and Texts, 1150–1550. Aldershot, Brookfield [Vt] 1993 [Collected Studies Series 412], I sowie Additi-
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auf eine bedeutsame Entwicklung hin. Neben einzelnen ›privaten‹ Sammlern trat nun auch die Institution, d. h. das Papsttum bzw. der Papst auf den Plan, der für die authentische Überlieferung seiner Dekretalen Sorge zu tragen begann und bald auch bestimmte, was in seine offiziellen Sammlungen aufgenommen wurde. Den nächsten großen Einschnitt markiert der Liber Extra. Nun entschied der Papst nicht nur über die Authentizität einer Kirchenrechtssammlung, er hatte sie auch eigens in Auftrag gegeben und ihr vor Gericht und im Rechtsunterricht eine andere Sammlungen ausschließende Autorität verliehen.43 Vom Endpunkt dieser kurzen Tour d’Horizont führt der Weg aus Sicht der Überlieferungsgeschichte zurück zum Konzil von 1215. Fast sein gesamter Normenbestand wurde in die von Johannes Teutonicus (ca. 1170–1245) zusammengestellte Collectio Quarta (1216) übernommen, die im Gegensatz zur Compilatio Tertia allerdings keine Approbation durch Innozenz III. erfuhr,44 und gelangte schließlich auch in den Liber Extra. Dadurch war das IV. Lateranense in der kirchlichen Rechtskultur des Spätmittelalters und der Frühneuzeit quasi omnipräsent. Kein anderes Konzil hatte für die Kanonisten eine ähnliche Bedeutung.45 Das gilt auch für die Literatur des kanonischen Rechts,46 wenn man etwa an die zahlreichen Kommentare und onal Thoughts, S. 1), S. 69–79; Ders.: Decretal Collections 1190–1234. In: The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX. Hrsg. von Wilfried Hartmann/Kenneth Pennington. Washington D. C. 2008 (History of Medieval Canon Law), S. 293–317, S. 309–311; Othmar Hageneder: Die Register Innozenz’ III. In: Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas. Hrsg. von Thomas Frenz. Stuttgart 2000, S. 91–101, S. 100; Andreas Thier: Die päpstlichen Register im Spannungsfeld zwischen Rechtswissenschaft und päpstlicher Normsetzung: Innocenz III. und die Compilatio Tertia. In: ZRG KA 88 (2002), S. 44–69; Hans-Jürgen Becker: Päpstliche Gesetzgebung und päpstlicher Gesetzgebungsanspruch von Innozenz III. bis zu Innozenz IV. In: Gli inizi del diritto pubblico/Die Anfänge des öffentlichen Rechts. Hrsg. von Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni. Bd. 2: Da Federico I a Federico II/Von Friedrich Barbarossa zu Friedrich II. Bologna, Berlin 2008 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento/Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Contributi/Beiträge 21), S. 157–194, S. 163–164 (zum Zweck der Compilatio Tertia). 43 Gregorius IX.: Rex pacificus (X, proem.): Volentes igitur, ut hac tantum compilatione universi utantur in iudiciis et in scholis, districtius prohibemus, ne quis praesumat aliam facere absque auctoritate sedis apostolicae speciali (Corpus Iuris Canonici [Anm. 1]. Bd. 2, Sp. 3–4). Dazu vgl. Cod. 1.17. 44 Quinque compilationes antiquae (Anm. 1), S. 135–150. Vgl. Pennington (Anm. 42), S. 314–315; Stephan Kuttner: Johannes Teutonicus, das vierte Laterankonzil und die Compilatio Quarta. In: Miscellanea Giovanni Mercati. Bd. 5. Città del Vaticano 1946 (Studi e testi 125), S. 608–634 (ND Ders.: Medieval Councils, Decretals, and Collections of Canon Law. Selected Essays. 2. Aufl. Hampshire, Brookfield [Vt] 1992 (Collected studies series 126), X, Rectractationes S. 9–11, New Rectractationes S. 7). 45 García y García (Anm. 3), S. 370: »No conciliar text of the Middle Ages made such an impact on the canonists as the Lateran constitutions of 1215.« 46 Antonio García y García: Tradicion manuscrita y editorial del Conc. 4 Lateranense. Ders.: Iglesia, sociedad y derecho. Bd. 2. Salamanca 1987 (Bibliotheca Salmanticensis 89), S. 15–59, S. 16.
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Summen zum Liber Extra denkt. Davon abgesehen gab es aber auch eine direkte kanonistische Beschäftigung mit den betreffenden Konzilsvorschriften. Zu den Konstitutionen des IV. Lateranense entstanden zwischen 1215 und 1220 drei zum Teil recht umfangreiche Glossenapparate, und zwar aus der Feder des Johannes Teutonicus, des Vincentius Hispanus und des Damasus, sowie zwei kleinere anonyme Bearbeitungen, die Casus Parisienses und die Casus Fuldenses.47 Bedeutend von diesen Werken ist vor allem der Apparat des Johannes Teutonicus, eines der führenden Kanonisten des frühen dreizehnten Jahrhunderts. Zur quellen- und literaturgeschichtlichen Wirksamkeit des IV. Lateranense mag das genügen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die historische Bedeutung der Konzilskanones von 1215 etwas besser einschätzen. Allerdings betreffen die gerade angedeuteten Entwicklungen eher die literarische Überlieferung als ihre rechtlichen Antriebskräfte, ging es doch bislang nur um die formellen Quellen des Kirchenrechts, die der Erkenntnis des Rechts dienen. Diese fontes iuris cognoscendi setzen allerdings materielle Quellen ( fontes iuris essendi) voraus, denen das in den Rechtserkenntnisquellen medial fassbare Recht der Kirche entspringt.48 Institutionell und personell werden diese fontes iuris essendi nicht zuletzt in Gestalt des kirchlichen Gesetzgebers, d. h. etwa des Papstes oder der Konzilien, greifbar. Damit zeichnet sich für das IV. Lateranense und seine Bestimmungen zugleich ein umfassenderer rechtshistorischer Verständnis- und Deutungshorizont ab, und zwar als Teil eines weiterreichenden Aufschwungs von Gesetz und Gesetzgebung im späteren Mittelalter. Um diese Überlegung genauer verfolgen zu können, gilt es zunächst, sich etwas Klarheit über den gerade angesprochenen größeren Zusammenhang zu verschaffen. Die Geschichte der Gesetzgebung im Mittelalter ist bis heute nicht umfassend erforscht und in manchen Punkten auch umstritten.49 Die Kontroversen betreffen 47 Alle genannten Texte wurden von García y García zusammen mit den Konstitutionen des IV. Lateranense ediert. Vgl. García y García (Anm. 1), S. 173–490. Zu den drei namentlich bekannten Autoren und ihren Werken vgl. Anzelm Sz. Szuromi: Dámaso Húngaro. In: Diccionario general de derecho canónico. Bd. 2. Cizur Menor 2012, S. 879–880; Manuel A. Bermejo Castrillo: Juan Teutónico. Ebd. Bd. 4. Cizur Menor 2012, S. 874–877; Javier Otaduy: Vicente Hispano. Ebd., Bd. 7. Cizur Menor 2012, S. 860–861 (jeweils mit weiterführender Literatur) sowie Nicólas Álvarez de las Asturias: El comentario de Vicente Hispano a la constitución 4 del IV Concilio de Letrán: elementos doctrinales para la valoración de la praxis oriental. In: Ephemerides iuris canonici 56 (2016), S. 245–266. 48 Bernardus Lijdsman: Introductio in jus canonicum cum uberiore fontium studio. Bd. 1. Hilversum 1924, S. 33–35; Stickler (Anm. 33), S. 3–4. 49 Zur Forschung allgemein vgl. Reiner Schulze: Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung. Zu Forschungsstand und Methodenfragen eines rechtshistorischen Arbeitsgebietes. In: ZRG GA 98 (1981), S. 157–235; Martin P. Schennach: Gesetz und Herrschaft. Die Entstehung des Gesetzgebungsstaates am Beipiel Tirols. Köln u. a. 2010 (Forschungen zur deutschen Rechtsge-
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nicht zuletzt die theoretischen Grundlagen entsprechender Untersuchungen, und zwar insbesondere die Frage, was für einen Gesetzesbegriff man in Hinblick auf die Vormoderne voraussetzen kann oder soll. Ein Problem, auf das an dieser Stelle nicht näher einzugehen ist. Als Arbeitsgrundlage mag hier ein von Reiner Schulze und Bernhard Diestelkamp erarbeiteter Ansatz dienen, demzufolge ein Gesetz »Ergebnis autoritativer Setzung oder Darstellung von Recht« (R. Schulze) ist, das sich durch unterschiedliche Eigenschaften wie z. B. Schriftlichkeit und Allgemeinheit auszeichnen kann.50 Lenkt man den Blick von den methodischen Problemen, die in erster Linie die autochthone Rechtskultur betreffen, auf das gelehrte Recht, dann lässt sich für das zwölfte Jahrhundert im kirchlichen genauso wie im weltlichen51 Bereich eine »Wiederentdeckung der Gesetzgebung« (P. Landau) beobachten, auf die im dreizehnten Jahrhundert mitunter ein »Drang zur Kodifikation« (St. Gagnér) folgte.52 Der Geschichte 28), S. 112–115; Thomas Frank: Mittelalterliche europäische Gesetzgebung im Vergleich. In: Europas Aufstieg. Eine Spurensuche im späten Mittelalter. Hrsg. von Thomas Ertl. Wien 2013 (Expansion, Interaktion, Akkulturation 23), S. 84–102; Herbert Kalb: Rechtswissenschaften, Rechtsgeschichte und der Gesetzesbegriff im Mittelalter. In: Das Gesetz – The Law – La Loi. Hrsg. von Andreas Speer/Guy Guldentops. Berlin, Boston 2014 (Miscellanea Mediaevalia 38), S. 3–18. Zu einigen Kontroversen vgl. Marie Theres Fögen: Morsche Wurzeln und späte Früchte. Notizen zum Gesetzesbegriff der deutschen Rechtsgeschichte. In: Rechtshistorisches Journal 6 (1987), S. 349–359; Bernhard Diestelkamp: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«. Oder: Wie steht es mit der Kritik am Gesetzesbegriff der deutschen Rechtsgeschichte? In: Rechtshistorisches Journal 7 (1988), S. 427–434; Thomas Simon: Gab es im Hochmittelalter eine »gesetzespositivistische Umwälzung«? Zum Zusammenhang von Staatsbildung und Gesetzgebung. In: Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für Werner Ogris zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Thomas Olechowski u. a. Wien u. a. 2010, S. 477–498; Peter Landau: Kritische Bemerkungen zu Thomas Simons Bestreitung der gesetzespositivistischen Umwälzung des hohen Mittelalters. In: Festschrift für Jan Schröder zum 70. Geburtstag am 28. Mai 2013. Hrsg. von Arndt Kiehnle u. a. Tübingen 2013, S. 81–97. 50 Schulze (Anm. 49), S. 165; Bernhard Diestelkamp: Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit. In: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 385–420, S. 390. Vgl. auch Schennach (Anm. 49), S. 147–148; Kalb (Anm. 49), S. 17. 51 Zum weltlichen Recht allgemein vgl. Léopold Genicot: La loi. Turnhout 1977 (Typologie des sources du moyen âge occidental 22); Armin Wolf: Gesetzgebung in Europa 1100–1500. Zur Entstehung der Territorialstaaten. 2. Aufl. München 1996. 52 Peter Landau: Über die Wiederentdeckung der Gesetzgebung im 12. Jahrhundert. In: Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Gisela Drossbach. Paderborn u. a. 2010, S. 13–15; Sten Gagnér: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung. Stockholm u. a. 1960 (Acta Universitatis Upsaliensis, Studia Iuridica Upsaliensia 1), S. 288. Für einen Abriss der klassischen kanonistischen Gesetzgebungslehre vgl. Le Bras u. a. (Anm. 24), S. 423–465; Gérard Fransen: Gesetzgebung, A. Kirchliche. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 4. München 1989, Sp. 1392–1394; Peter Landau: L’evoluzione della nozione di »legge« nel diritto canonico classico.
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danke der Wiederentdeckung verweist vor allem auf die Aneignung verlorener römischer Regelungstraditionen und -techniken, wenn man etwa an die intensive Gesetzgebungstätigkeit der Kaiser, die im Codex Justinianus ihren wichtigsten Niederschlag gefunden hat, und die sogenannte Renaissance des römischen Rechts im zwölften Jahrhundert denkt. Dass spätantike Vorstellungen von (imperialer) Gesetzgebungskompetenz schon unter Gregor VII. Eingang in das päpstliche Rechtsverständnis fanden, belegt der Dictatus Papae.53 Doch interessiert hier nicht so sehr der Einfluss des römischen Rechts als vielmehr die Frage, wie sich universalkirchliche Gesetzgebung im zwölften und frühen dreizehnten Jahrhundert darstellt. Dabei liegt das besondere Augenmerk auf der Allgemeinheit, sei es der Norm oder sei es des Adressatenkreises, als einem wesentlichen Kriterium des Gesetzes, auf das etwa schon der römische Jurist Papinian und Thomas von Aquin hingewiesen haben.54 Unter diesen Vorzeichen betrachtet ist zunächst festzuhalten, dass die Anzahl päpstlicher Konstitutionen vor dem IV. Lateranense recht überschaubar ist. Das gilt sowohl für die Zeit vor 1198, für die man nur von In: »Lex et iustitia« nell’utrumque ius: radici antiche e prospettive attuali. Atti del VII Colloquio internazionale romanistico-canonistico (12–14 maggio 1988). Hrsg. von Americo Ciani/Giovanni Diurni. Città del Vaticano 1989 (Utrumque ius 20), S. 263–280. Ferner vgl. Jacques Krynen: Sur la façon de législation ecclésiastique du Policraticus. In: Auctoritas. Mélanges offerts à Olivier Guillot. Hrsg. von Giles Constable/Michel Rouche. Paris 2006 (Cultures et civilisations médiévales 33), S. 497–502. 53 Das Register Gregors VII. Hrsg. von Erich Caspar. Bd. 1. Berlin 1920 (MGH Epp sel. 2,1), Lib. II, cap. II, 55a (Dictatus Papae), VII, S. 203: Quod illi soli [Papae, C. M.] licet pro temporis necessitate novas leges condere, […] Cod. 1.14.12.3 (a. 474): Si enim in praesenti leges condere soli imperatori concessum est, [...]. Vgl. Hans Martin Klinkenberg: Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechtes im frühen und hohen Mittelalter. In: Lex et sacramentum im Mittelalter. Hrsg. von Paul Wilpert. Berlin 1969 (Miscellanea Mediaevalia 6), S. 157–188, S. 174–175; Peter Leisching: ›Quod illi soli licet pro temporis necessitate novas leges condere‹. In: Proceedings of the Tenth International Congress of Medieval Canon Law. Syracuse, New York, 13–18 August 1996. Hrsg. von Kenneth Pennington u. a. Città del Vaticano 2001 (Monumenta iuris canonici, Series C 11), S. 195–243 sowie Andreas Thier: Dictatus Papae. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1043–1045 und Uta-Renate Blumenthal: Dictatus Papae. In: Diccionario general de derecho canónico. Bd. 3. Cizur Menor 2012, S. 308. 54 Dig. 1.3.1; Thomas Aquinas: Summa Theologiae. In: Ders.: Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita. Bd. 7 (Ia IIae q. 71–114). Rom 1892, Ia IIae q. 96 art. 1, S. 180. Vgl. Alphons van Hove: De legibus ecclesiasticis. Mecheln, Rom 1930 (Commentarium Lovaniense in Codicem Iuris Canonici 1,2), S. 100–101 sowie Die Allgemeinheit des Gesetzes. 2. Symposion der Kommission »Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart« am 14. und 15. November 1986. Hrsg. von Christian Stark. Göttingen 1987 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, Folge III, Nr. 168); Gregor Kirchhoof: Die Allgemeinheit des Gesetzes. Über einen notwendigen Garanten der Freiheit, der Gleichheit und der Demokratie. Tübingen 2009 ( Jus Publicum 184).
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einer sehr geringen Anzahl päpstlicher Gesetzgebungsakte ausgehen kann,55 als auch für den Pontifikat Innozenz’ III., wenn man einmal vom Konzil von 1215 absieht. So lassen sich etwa von den über 300 Innozenz-Dekretalen der Compilatio Tertia gerade einmal zehn als Konstitutionen verbuchen.56 Ein ganz anderes Bild ergibt sich für die sogenannte Dekretalengesetzgebung der Päpste. Die etwas missverständliche Bezeichnung verweist vor allem auf zweierlei, den Ausgangspunkt in Gestalt der Dekretale und ihren Weg über (authentische) Dekretalen- bzw. Kirchenrechtssammlungen in den Liber Extra. Lässt man einmal die Frage, wie sich die Dekretale nach ihrer redaktionellen Bearbeitung in den Sammlungen oder im Liber Extra darstellt, außer Acht und betrachtet nur den ursprünglichen Regelungsanspruch, dann lassen sich unterschiedliche Typen unterscheiden. Da ist zum einen die traditionelle Konsultationsdekretale, die an einen konkreten Adressaten gerichtet ist und eine Antwort auf Fragen oder eine Entscheidung von Fällen bietet, die dem Papst vorgelegt worden waren.57 Abgesehen von diesem besonders häufig vertretenen Typus finden sich noch andere Arten von Dekretalen, die den Konstitutionen etwas näher kommen. Dazu zählen etwa solche, die eine vom Nachfolger Petri motu proprio getroffene Regelung enthalten, und die sogenannten Universaldekretalen, die nicht an einen konkreten Adressaten gerichtet sind, sondern sich an die Allgemeinheit wenden und insofern universale Autorität beanspruchen. Wenn sich auf der Ebene der einzelnen Dekretalen so gesehen bereits gewisse Tendenzen in Richtung von Gesetzgebung bemerkbar machen, so gilt dies umso mehr für die Sammlungen, insbesondere den Liber Extra als Gegenstück zum Codex Justinianus.58 55 Walter Holtzmann: Die Dekretalen Gregors VIII. In: MIÖG 58 (1950), S. 113–123; Fransen (Anm. 38), S. 12–14 bzw. S. 33–35; Ders.: La décrétale, facteur d’évolution. In: Studi Senesi 107 (1995), S. 7–15 (ND in: Ders.: Canones et quaestiones. Évolution des doctrines et système du droit canonique. Bd. 2. Goldbach 2002 [Bibliotheca eruditorum 25], S. 613*–621*), S. 13–14 (S. 619*– 620*); Ders.: Du cas particulier à la jurisprudence et de la jurisprudence à la legislation. L’évolution du droit canonique de 1140 à 1234. In: Ders.: Canones et quaestiones. Évolution des doctrines et système du droit canonique. Bd. 2. Goldbach 2002 (Bibliotheca eruditorum 25), S. 637*–645; Landau (Anm. 52), S. 275–277; Ders.: Rechtsfortbildung im Dekretalenrecht. Typen und Funktionen der Dekretalen des 12. Jahrhunderts. In: ZRG KA 86 (2000), S. 86–131, S. 120–127; Anne J. Duggan: Making Law or Not? The Function of Papal Decretals in the Twelfth Century. In: Proceedings of the Thirteenth International Congress of Medieval Canon Law. Esztergom, 3–8 August 2008. Hrsg. von Peter Erdö/Sz. Anzelm Szuromi. Città del Vaticano 2010 (Monumenta Iuris Canonici, Series C: Subsidia 14), S. 41–70, S. 62–65. 56 Landau (Anm. 55), S. 128. 57 Landau (Anm. 55), S. 99. Vgl. Fransen (Anm. 38), S. 15. 58 Zur Wahrnehmung des Liber Extra als Pendant zum Codex Justinianus vgl. Acta congressus iuridici internationalis VII saeculo a decretalibus Gregorii IX et XIV a codice Iustiniano promulgatis. Romae 12–17 novembris 1934. 5 Bde. Rom 1935–1937. Allerdings bestehen zwischen den beiden nicht nur
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Soweit ein erster Abriss dessen, worin der Beitrag der Dekretalen zur kirchlichen Gesetzgebung im späten zwölften und frühen dreizehnten Jahrhundert bestehen könnte. Dieses Bild erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als ergänzungsbzw. korrekturbedürftig. Die Probleme beginnen bereits auf der Ebene der einzelnen Dekretalen, die in den Liber Extra gelangten. Die meisten von ihnen zeichnen sich – sei es, was die Adressaten, oder sei es, was die Natur der Regelungen betrifft – durch eine ursprüngliche Kleinteiligkeit aus, die sich mit der Allgemeinheit eines Gesetzes nicht ohne weiteres in Einklang bringen lässt.59 Ein grundsätzlich anderes Bild ergibt sich ungeachtet der bis weit in das zwölfte Jahrhundert zurückreichenden Existenz von Dekretalen, die motu proprio zustande gekommen waren oder einen universalen Regelungsanspruch hatten, erst, wenn man die im Liber Extra enthaltenen 195 Dekretalen Gregors IX. betrachtet. Von ihnen birgt ein Drittel abstrakte Regelungen und kam wohl erst im Zuge der Redaktion zustande, so dass diese »novae decretales, saepius mere theoreticae« (A. Stickler) tatsächlich als Konstitutionen, die von vornherein als solche konzipiert waren, anzusprechen sind.60 Doch nicht nur mit Blick auf die einzelne Dekretale, auch hinsichtlich ihrer Sammlungen ergeben sich einige Fragen. Sie betreffen vor allem den Weg von der Dekretale zum kirchlichen Gesetzbuch, und zwar insbesondere die Rolle der Com pilatio Tertia und des Liber Extra. Was jene angeht, so kann man sicherlich Innozenz’ Approbation als Ausdruck päpstlicher Autorität deuten. Allerdings ließe sich fragen, ob Innozenz überhaupt die treibende Kraft hinter der Authentisierung der Compilatio Tertia war oder ob er nicht von ihrem Schöpfer Petrus Beneventanus zu diesem eher in der Theorie als in der Praxis folgenschweren Schritt bewegt wurde.61 hinsichtlich der Ausführung, sondern auch mit Blick auf die Absichten der jeweiligen Gesetzgeber deutliche Unterschiede. Vgl. Stephan Kuttner: Quelques observations sur l’autorité des collections canoniques dans le droit classique de l’Église. In: Actes du Congrès de droit canonique. Cinquantenaire de la Faculté de droit canonique. Paris, 22–26 Avril 1947, Paris 1950 (Bibliothèque de la Faculté de droit canonique de Paris), S. 305–312, S. 311. 59 Hans-Jürgen Becker: Kanonisches Recht. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 1569–1576, Sp. 1572–1573. Ferner vgl. Henri Vidal: Le pape législateur de Gregoire VII à Gregoire IX. In: Renaissance du pouvoir législatif et genèse de l’état. Hrsg. von André Gouron/Albert Rigaudière. Montpellier 1988 (Publications de la Société d’histoire du droit et des institutions des anciens pays de droit écrit 3), S. 261–275. 60 Stickler (Anm. 33), S. 246; Pierre Michaud-Quantin: Remarques sur l’œuvre legislative de Grégoire IX. In: Études d’histoire du droit canonique dédiées à Gabriel Le Bras. Bd. 1. Paris 1968, S. 273–281; Stephan Kuttner: Raymond of Peñafort as Editor: The ›decretales‹ and ›constitutiones‹ of Gregory IX. In: Bulletin of Medieval Canon Law 12 (1982), S. 65–80 (ND Ders.: Studies in the History of Medieval Canon Law. Aldershot, Brookefield [VT] 1990 [Collected studies series 325], XII und S. 17–19 [Retractationes]), S. 68–72. 61 Pennington (Anm. 42), S. 77; Kéry (Anm. 38), S. 295.
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Davon einmal abgesehen lässt sich der Vorgang aber auch anders deuten, und zwar als Flucht nach vorn und als einen nicht sonderlich erfolgreichen Versuch, gegenüber der Schule und den gelehrten Sammlern die Kontrolle über die eigenen Dekretalen (wieder) zu gewinnen.62 Aber noch in anderer Hinsicht erscheint das Bild der kirchlichen Gesetzgebung vergewisserungsbedürftig, und zwar mit Blick auf den Liber Extra als Kodifikation des Kirchenrechts. Wenn Stephan Kuttner hervorhebt, der Liber Extra sei »an important step towards what nowadays we call a Code«,63 dann hat er dabei vor allem die eben erwähnten decretales theoreticae Gregors IX. im Blick. Doch worum es sich bei dem Werk insgesamt handelt, um eine offizielle Kompilation, die noch in der Tradition der alten Kirchenrechtssammlungen steht (M. Bertram), oder um eine Kodifikation, ja womöglich das »grösste[n] Gesetzbuch des Mittelalters« (P. Landau), ist bis heute umstritten.64 Den Gipfel kirchlicher Gesetzgebungskunst im Mittelalter markiert der Liber Extra jedenfalls nicht. Bis dieser erreicht war, sollte noch einige Zeit vergehen. Wenngleich sich seit Mitte des dreizehnten Jahrhunderts die Hinweise auf eine »planmäßige Gesetzgebung« (M. Bertram) der Päpste mehren,65 erfolgte der
62 Thier (Anm. 42), S. 58–66. Zur Bedeutung der Schule vgl. Nörr (Anm. 38), S. 270–272; Becker (Anm. 42), S. 167–168. 63 Kuttner (Anm. 60), S. 72. 64 Martin Bertram: Die Dekretalen Gregors IX: Kompilation oder Kodifikation? In: Magister Raimundus. Atti del Convegno per il IV centenario della canonizzazione di San Raimundo de Penyafort (1601–2001). Hrsg. von Carlo Longo. Rom 2002 (Dissertationes historicae 28), S. 61–86; Peter Landau: Schwerpunkte und Entwicklung des klassischen kanonischen Rechts bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. In: Stagnation oder Fortbildung? Aspekte des allgemeinen Kirchenrechts im 14. und 15. Jahrhundert. Hrsg. von Martin Bertram. Tübingen 2005 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 108), S. 15–31, S. 23. Zu dieser Kontroverse, in der eine ganze Reihe von Autoren teilweise recht differenzierte Positionen bezogen haben, vgl. Filippo Liotta: Tra compilazione e codificazione. L’opera legislativa di Gregorio IX e Bonifacio VIII. In: Studi di storia del diritto medioevale e moderno. Hrsg. von dems. Bd. 2. Bologna 2007, S. 21–39, S. 25–37; Becker (Anm. 42), S. 170–176. 65 Martin Bertram: Die Konstitutionen Alexanders IV. (1255/56) und Clemens’ IV. (1265/1267). Eine neue Form päpstlicher Gesetzgebung. In: ZRG KA 88 (2002), S. 70–109, S. 72; Knut Wolfgang Nörr: Päpstliche Dekretalen und römisch-kanonischer Zivilprozeß. In: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte. Hrsg. von Walter Wilhelm. Frankfurt a. M. 1972, S. 53–65 (ND in: Knut Wolfgang Nörr: Iudicium est actus trium personarum. Beiträge zur Geschichte des Zivilprozeßrechts in Europa. Goldbach 1993 (Bibliotheca eruditorum 4), S. 53*–65*), S. 55 (S. 55*); Becker (Anm. 42), S. 179–181. Ferner vgl. Gagnér (Anm. 52), S. 135–179 sowie Martin Bertram: Von der decretalis epistola zur constitutio: Innozenz IV. und Alexander IV. In: Kuriale Briefkultur im späteren Mittelalter. Gestaltung – Überlieferung – Rezeption. Hrsg. von Tanja Broser u. a., Köln u. a. 2015 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 37), S. 263–272.
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wirklich große Auftritt des Papstes als Gesetzgeber erst mit dem Liber Sextus (1298) Bonifaz’ VIII.66 Die gerade angedeuteten Beobachtungen, die keineswegs die zentrale Bedeutung der Dekretalen für die Geschichte des kanonischen Rechts relativieren sollen, führen zu der Frage, wie vor diesem Hintergrund die Rolle des IV. Lateranense für die Ausbildung einer kirchlichen Gesetzgebungskultur im frühen dreizehnten Jahrhundert zu bewerten ist. Folgt man geläufigen Wahrnehmungskonventionen, dann dürfte eigentlich nicht viel zu erwarten sein. Gegenüber der Erfolgsgeschichte der Dekretalen, denen seit Ende des zwölften Jahrhunderts in den Augen der Kanonisten ohnehin größere Autorität zukam als den Konzilskanones,67 nimmt sich die konziliare Normgebung eher bescheiden aus und kann spätestens seit dem III. Lateranense (1179) wie ein Auslaufmodell anmuten.68 Das vierte Laterankonzil zeigt, dass es sich so einfach nicht verhält. Seine Vorschriften, die »nach Anspruch und Wirklichkeit wohl den Höhepunkt mittelalterlicher Gesetzgebung und Rechtsänderung bedeuten« (P. Landau),69 waren, wie Antonio García y García und andere Autoren hervorgehoben haben, das wichtigste Ensemble von Gesetzen, das von einem Papst im Mittelalter zwecks kirchlicher Reformen zusammengestellt worden ist.70 Daran ändert auch der Umstand nichts, dass 66 Gérard Fransen: Papes, Conciles, Evêques du XIIe au XVe siècle. In: Problemi di Storia della Chiesa. Il Medioevo dei secoli XII–XV. Mailand 1976 (Cultura e Storia 16), S. 3–20 (ND Ders.: Canones et quaestiones. Évolution des doctrines et système du droit canonique. Bd. 2. Goldbach 2002 [Bibliotheca eruditorum 25], S. 287*–304*), S. 10–11 (S. 294–295*); Liotta (Anm. 64), S. 37–38; Becker (Anm. 42), S. 180–181. Ferner vgl. Tilmann Schmidt: Papst Bonifaz VIII. als Gesetzgeber. In: Proceedings of the Eighth International Congress of Medieval Canon Law. Hrsg. von Stanley Chodorow. Città del Vaticano 1992 (Monumenta Iuris Canonici, Series C: Subsidia 9), S. 227–245; Michèle Bégou-Davia: Le Liber Sextus de Boniface VIII et les extravagantes des papes précédents. In: ZRG KA 121 (2004), S. 77–191; Dies.: Les origines doctrinales du Liber Sextus de Boniface VIII. Unie première ébauche. In: Proceedings of the Fourteenth International Congress of Medieval Canon Law. Toronto, 5–11 August 2012. Hrsg. von Joseph Goering u. a. Città del Vaticano 2016 (Monumenta iuris canonici, Series C 15), S. 243–255; Helmuth Pree: Bonifaz VIII. (1294–1303) als kirchlicher Gesetzgeber. In: Recht – Bürge der Freiheit. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Konrad Breitsching/Wilhelm Rees. Berlin 2006 (Kanonistische Studien und Texte 51), S. 453–479. 67 Peter Landau: Die Entstehung der systematischen Dekretalensammlungen und die europäische Kanonistik des 12. Jahrhunderts. In: ZRG KA 65 (1979), S. 120–148, S. 121; Kéry (Anm. 38), S. 289. 68 Landi (Anm. 28), S. 131. 69 Landau (Anm. 55), S. 128. 70 García y García (Anm. 3), S. 367: »which [die Kanones des IV. Lateranense, C. M.] constitute the single most substantial collection of legislation put together by medieval popes for the reform of the Church and society of the time«. Vgl. Antonio García y García/Stephan Kuttner: A New Eyewitness Account of the Fourth Lateran Council. In: Traditio 20 (1964), S. 115–178 (ND Stephan Kuttner: Medieval Councils, Decretals and Collections of Canon Law. Selected Essays.
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die konsequente Anwendung und Durchsetzung vieler dieser Vorschriften mehr als vier Jahrhunderte bis zum Tridentinum auf sich warten ließ.71 Wenn das Vierte Laterankonzil einen Einschnitt der Kirchenrechtsgeschichte darstellt, dann nicht zuletzt unter den gerade angedeuteten Vorzeichen.72 Wie lässt sich dieser in der Geschichte der Gesetzgebung ebenso frühe wie unerwartete Höhepunkt erklären? Zweifellos liegt ein Schlüssel zur Lösung der Frage in der Beschaffenheit der betreffenden Normen. 1215 hatte Innozenz III. gleichsam als Frucht langjähriger päpstlicher Entscheidungspraxis, weiter zurückreichender kanonistisch-theologischer Reflexion und jüngerer partikularkirchlicher Normgebung nicht erst ex post, sondern a priori 71 allgemeine Vorschriften en bloc erlassen.73 Sie verweisen auf das Ende und den Anfang bedeutender Entwicklungen im Kirchenrecht, aus denen sich zumindest partiell die Dauerhaftigkeit der betreffenden Regelungen erklärt. Zum einen erfuhren wichtige weiter zurückreichende Entwicklungen in den betreffenden Konstitutionen eine Verdichtung und zugleich einen Abschluss, der die fraglichen Bestimmungen von der älteren konziliaren Normgebung bis zum II. Lateranense (1139) deutlich unterscheidet.74 Zum anderen erscheinen die betreffenden Vorschriften, auch wenn sie oft an ältere Normen anknüpfen, als Teil einer breiter angelegten rechtlich-institutionellen Erneuerung und insofern als ein Neuanfang.75 2. Aufl. Aldershot, Brookfield [VT] 1992 [Collected Studies Series 216], IX und S. 7–8 [Retractationes], S. 6 [New Retractationes]), S. 163; John W. Baldwin: Paris et Rome en 1215: les réformes du IVe Concile de Latran. In: Journal des savants 1 (1999), S. 99–124, S. 101 sowie Augustin Fliche: Le Quatrième Concile du Latrin. In: Ders. u. a.: La Chrétienté romaine (1198–1274). Paris 1950 (Histoire de l’Église 10), S. 194–213, S. 210. 71 Antonio García y García: La Iglesia española y el pontificado romano en el s. XIII. Notas sobre un libro reciente. In: Salmanticensis 19 (1972), S. 355–363, S. 361–362; Brandmüller (Anm. 5), S. 12–14. 72 Peter Landau: Die Durchsetzung neuen Rechts im Zeitalter des klassischen kanonischen Rechts. In: Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde. Hrsg. von Gert Melville. Köln, Weimar, Wien 1992 (Norm und Struktur 1), S. 137–155, S. 142. 73 Pennington vermutet, dass Innozenz die Konzilskanones als eigene (Gesetzes-)Sammlung in Umlauf brachte. Vgl. Ken Pennington: The Fourth Lateran Council, Its Legislation and the Development of Legal Procedure. In: Texts and Contexts in Legal History: Essays in Honor of Charles Donahue. Hrsg. von John Witte Jr. u. a., Berkeley 2016 (Studies in Comparative Legal History), S. 179–198, S. 182–188. Zur Genese von 4 Conc. Lat. c.71, das in mancherlei Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt, siehe unten S. 65–67. 74 Gérard Fransen: Papes, conciles généraux et oecuméniques. In: Le istituzioni ecclesiastiche della »Societas christiana« dei secoli XI–XII. Papato, cardinalate ed episcopate, La Mendola, 26–31 Agosto 1971. Mailand 1974 (Pubblicazioni dell’Università Cattolica del Sacro Cuore, Miscellana del Centro di Studi medievali 7), S. 203–228 (ND Ders: Canones et quaestiones. Évolution des doctrines et système du droit canonique. Bd. 2. Goldbach 2002 [Bibliotheca eruditorum 25], S. 395*–410*), S. 205 (S. 263*). 75 Vgl. auch Jean Gaudemet: Église et Cité. Histoire du droit canonique. Paris 1994, S. 381, Anm. 4.
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Größere Erklärungsschwierigkeiten als die Qualität bereitet der Umfang der im Rahmen des IV. Lateranense getroffenen Regelungen. Das zumindest lässt ein Blick auf den größeren Kontext konziliarer Normgebung vermuten. Vergleicht man die Anzahl der Bestimmungen von 1215 mit derjenigen der vorangehenden Konzilien, d. h. dem I.–III. Lateranense (1123, 1139, 1179), und der folgenden Kirchenversammlungen, d. h. dem I.–II. Lugdunense und dem Viennense (1245, 1274, 1311), dann zeigt sich schnell der singuläre Charakter des Vierten Laterankonzils: Auf keiner der betreffenden Kirchenversammlungen wurden auch nur halb so viele Vorschriften erlassen wie auf der von 1215. So gesehen fällt das IV. Lateranense aus dem Rahmen. Das macht es schwer, den quantitativen Befund auf ähnliche Weise zu erklären wie die Qualität seiner Normen, d. h. als Abschluss oder Ausgangspunkt mehr oder weniger kontinuierlicher rechtlicher Entwicklungen. Angesichts dieser Sonderstellung liegt der Gedanke nahe, den außerordentlichen Gesetzgebungsenthusiasmus, der sich in den Bestimmungen des Vierten Laterankonzils niedergeschlagen hat, mit dem ebenfalls außergewöhnlichen Papst, der die Kirchenversammlung einberief und in ihr als Gesetzgeber auftrat,76 in Verbindung zu bringen. Immerhin könnte Innozenz III. angesichts seiner noch näher zu betrachtenden Fähigkeiten für eine solche Aufgabe geradezu prädestiniert erscheinen. War es also der Papst, der den Ausschlag gab? Ein zweiter quantitativer Befund, und zwar die geringe Anzahl der von Innozenz bis 1214 erlassenen Konstitutionen, dämpft die Hoffnung, allein auf diesem Wege die enorme legislative Beschleunigung des Jahres 1215 erklären zu können. Sinnvoller erscheint es, neben dem personalen Faktor auch strukturelle Aspekte in die Überlegung einzubeziehen. Dadurch erweitert sich das Bild des Geschehens. Es lässt einen mächtigen, kanonistisch versierten Nachfolger Petri erkennen, der sich in einer fortgeschrittenen Phase der Formierung des klassischen kanonischen Rechts und in einer noch vergleichsweise frühen Phase kirchlicher Normgebung als Gesetzgeber an eine seinen vielfältigen Reformanliegen entsprechend umfangreiche Arbeit gemacht hat. Nähere Aufschlüsse über die Rahmenbedingungen dieses Vorgangs vermittelt die Terminologie der betreffenden Bestimmungen. Bemerkenswerterweise ist in den Vorschriften des IV. Lateranense nicht mehr wie in denen der ersten drei Laterankonzilien von canones, sondern von constitutiones die Rede.77 Hier zeichnet sich wohl nicht 76 Siehe S. 55–65. 77 Landau (Anm. 52), S. 277; John Gilchrist: Canon law. In: Medieval latin. An introduction and bibliographical guide. Hrsg. von Frank A. C. Mantello/Arthur G. Rigg. Washington 1996, S. 241–253, S. 247; Uta Renate Blumenthal: Das Dritte Laterankonzil, seine Beschlüsse und die Rechtspraxis. In: Die Ordnung der Kommunikation und die Kommunikation der Ordnungen. Hrsg. von Cristina Andenna u. a. Bd. 2: Zentralität: Papsttum und Orden im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts. Stuttgart 2013 (Aurora. Schriften der Villa Vignoni 1,2), S. 37–49, S. 40. Ferner vgl. Inst. 1.2.6.
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nur der allgemeine Aufschwung der Gesetzgebung ab, sondern auch ein Gesetzesverständnis in der Tradition des römischen Rechts, demzufolge das Recht, Gesetze (constitutiones) zu erlassen, allein dem Kaiser zukommt. Eine Kompetenz, die schon im Dictatus Papae dem Nachfolger Petri vindiziert wird.78 Allerdings legt die geringe Zahl päpstlicher Konstitutionen vor 1215 die Vermutung nahe, dass es Innozenz III. genauso wie seinen Vorgängern ungeachtet aller Legitimationstitel nicht ganz leicht fiel, die traditionelle Rolle als Richter mit der eines im Stil römischer Imperatoren allein agierenden Gesetzgebers zu vertauschen.79 In diesem Lichte betrachtet erscheint es durchaus nachvollziebar, dass sich der Papst nicht nur allgemein zugunsten des Universalkonzils als Reforminstrument, sondern auch für einen konziliaren Rahmen bei der legislativen Bewältigung der anliegenden Probleme entschieden hatte. So war Innozenz als Gesetzgeber nicht auf sich allein gestellt und hatte außerdem für seine Normgebung nicht nur die größtmögliche Bühne, sondern auch das beste Publikum in Gestalt zentraler Normadressaten zur Verfügung. Der letztgenannte Punkt verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt. Auch in eher praktischer Hinsicht erscheint die Entscheidung zugunsten des Konzils als Schauplatz päpstlicher Normgebung einleuchtend. Damit nämlich hatte Innozenz das zu dieser Zeit noch immer effektivste Gesetzgebungsinstrument der Kirche gewählt.80 Betrachtet man die weitere historische Entwicklung, dann wird klarer, weshalb das Vierte Laterankonzil gerade auch in quantitativer Hinsicht einen besonderen Platz in der Gesetzgebungsgeschichte des Mittelalters einnimmt. In den folgenden Jahrzehnten sollte sich die universalkirchliche Normgebung immer stärker in Richtung auf den außerhalb von Konzilien als Gesetzgeber agierenden Papst und die thematisch einheitliche Einzelkonstitution verlagern. Ein facettenreicher, von vielschichtigen Reformanliegen getragener Normgebungsakt wie derjenige von 1215 wurde dadurch immer mehr zur großen Ausnahme. Allein der Bedeutung der betreffenden Konzilsvorschriften gerade auch mit Blick auf die Geschichte der Gesetzgebung gerecht zu werden, bereitet paradoxerweise gerade aufgrund ihres größten überlieferungsgeschichtlichen Erfolges einige Schwierigkeiten. Denn die Aufnahme der Bestimmun78 Siehe Anm. 53. Ferner vgl. C.25 q.1. c.6.; Stephan Kuttner: Urban II and Gratian. In: Traditio 24 (1968), S. 504–505; Jörg W. Busch: Der Liber de Honore Ecclesiae des Placidus von Nonantola. Eine kanonistische Problemerörterung aus dem Jahre 1111. Die Arbeitsweise ihres Autors und seine Vorlagen, Sigmaringen 1990 (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 5), S. 55. 79 Zu Innozenz in der Nachfolge des weisen Salomo siehe unten S. 59–61. 80 Peter Landau: Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur. In: Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung. Hrsg. von Reiner Schulze. Berlin 1991 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 3), S. 39–57, S. 44.
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gen in den Liber Extra kann leicht den Blick dafür verstellen, dass das, was in diesem großen Textmagazin in viele Einzelteile zergliedert auftaucht – anders als die Dekretalen –, einmal Teil eines größeren legislativen Ganzen war. Erst wenn man sich dies vor Augen hält, zeigt sich der volle Einschnitt der kirchlichen Rechts- und Gesetzgebungsgeschichte, für den das IV. Lateranense steht.
2. Innozenz III. und das Kirchenrecht
Der Umstand, dass das IV. Lateranense ein Schauplatz und Instrument kirchlicher Gesetzgebung war, das vom Initiator der Kirchenversammlung mit Bedacht gewählt worden war und versiert gehandhabt wurde,81 lenkt den Blick auf die treibende Kraft hinter dem Konzil und seinen Konstitutionen, d. h. auf Innozenz III.82 Angesichts der auch aus rechtshistorischer Sicht großen Bedeutung dieses Papstes kann es im Folgenden nur um einige vergleichsweise allgemeine Beobachtungen gehen. – Schon Hostiensis (ca. 1200–1271), einer der bedeutendsten Kanonisten des dreizehnten Jahrhunderts, sah in ihm einen pater iuris divini canonici et humani83 oder einfach einen pater iuris.84 Die Anerkennung, die aus diesen Ehrentitlen spricht, blieb nicht auf das dreizehnte Jahrhundert beschränkt. So bezeichnet etwa Antoine Dadin de Hauteserre (1602–1682) in seinem Kommentar zu den auf Innozenz III. 81 Siehe unten S. 63–68. 82 Zur Person vgl. John C. Moore: Pope Innocent III (1160/61–1216). To Root Up and to Plant. Leiden, Boston 2003 (The medieval Mediterranean 47); Werner Maleczek: Innocenzo III. In: Dizionario biografico degli Italiani. Bd. 62. Rom 2004, S. 419–435; Andreas Thier: Innozenz III. (1160/61–1216). In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 1228–1230; Heinz-Meinolf Stamm: Inocencio III. In: Diccionario general de derecho canónico: Bd. 4. Cizur Menor 2012, S. 603–607. 83 Heinrich von Segusio (Hostiensis): Summa una cum summariis et additionibus Nicolai Superantii. Lyon 1537 (ND Aalen 1962), X 5.7 (De hereticis), n. 1, fol. 237vl. Vgl. Clarence Gallagher: Canon Law and the Christian Community. Rom 1978 (Analecta Gregoriana 208/Series Facultatis Iuris Canonici, Sectio A 8), S. 194. 84 Kenneth Pennington: The Legal Education of Pope Innocent III. In: Ders.: Popes, Canonists and Texts, 1150–1550. Aldershot, Brookfield (Vt) 1993 (Collected Studies Series 412), I (erweiterter ND aus: Bulletin of Medieval Canon Law, New Series 4 (1974), S. 70–77), S. 3, Anm. 12 bzw. S. 6; Ders.: Further Thoughts on Pope Innocent III’s Knowledge of Law, ebd., II (erweiterter ND der Rez. zu: Wilhelm Imkamp: Das Kirchenbild Innocenz’ III. [1198–1216]. Stuttgart 1983 [Päpste und Papsttum 22]. In: ZRG KA 72 (1986), S. 1–14); Ders.: Pope Innocent III’s View on Church and State: A Gloss to Per Venerabilem, ebd., IV (erweiterter ND aus: Law, Church and Society. Essays in honor of Stephan Kuttner. Philadelphia 1977, S. 49–77), S. 9, Anm. 33. Zu Hostiensis vgl. Javier Ferrer Ortiz: Enrique de Susa. In: Diccionario general de derecho canónico. Bd. 3. Cizur Menor 2012, S. 608–610.
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zurückgehenden Bestimmungen des Liber Extra diesen Papst als einen iurisconsult orum Pontifex et Pontifex iurisconsultissimus.85 Eine breitenwirksamere Würdigung, nun allerdings aus Sicht einer eher populären Wahrnehmung universaler Rechtsgeschichte, erfuhr Innozenz III. schließlich Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts im Zuge der künstlerischen Ausgestaltung der House Chamber des Repräsentantenhauses in Washington. In ihr wurden in den Jahren 1949/1950 insgesamt 23 Porträts bedeutender Gesetzgeber und Juristen der Menschheitsgeschichte angebracht. Eines davon ist ein von dem Bildhauer Joseph Kiselewski geschaffenes Marmorrelief, das Innozenz III. darstellt.86 Soweit zum Nachruhm eines Papstes, der sich den Ehrentitel pater iuris in der kanonistischen Literatur allerdings mit einem anderen Nachfolger Petri, und zwar Innozenz IV. (1243–1254) teilen muss.87 Betrachtet man den Sitz im Leben dieser Bezeichnung, dann erscheint es für Innozenz III. durchaus verständlich, dass manche Autoren in ihm einen Vater des (Kirchen-)Rechts gesehen haben. Immerhin stammen 598 der 1971 Kapitel des Liber Extra von diesem Papst.88 Doch sind sie nur ein kleiner Teil der zahlreichen Dekretalen, die auf ihn zurückgehen, in seinem 85 Antonius Dadinus Alteserra: Innocentius Pontifex Maximus seu Commentarius perpetuus in singulas decretales huiusce Pontificis quae per libros V. decretalium sparsae sunt. Paris 1666, S. 1 (Praefatio). Zum Verfasser vgl. Jacques Poumarède: Hauteserre (Altaserra) Antoine Dadin (Dadine). In: Dictionnaire historique des juristes français XIIe–XXe siècle. Hrsg. von Patrick Arabeyre u. a. Paris 2011, S. 398–399; Cyrille Dounot: L’œuvre canonique d’Antoine Dadine d’Auteserre (1602– 1682). L’érudition au service de la juridiction ecclésiastique. Toulouse 2013 (Collection des thèses de l’IFR/Histoire du Droit). 86 https://www.aoc.gov/capitol-hill/relief-portrait-plaques-lawgivers/innocent-iii, letzter Zugriff 08.01. 2016. Vgl. Art in the United States Capitol. Prepared by the Architect of the Capitol under the direction of the Joint Committee on the Library. Washington 1978, S. 286. 87 Paul Ourliac/Henri Gilles: La période post-classique (1378–1500). Bd. 1: La problématique de l’époque: les sources. Paris 1971 (Histoire du droit et des instutions de l’Église en Occident 13,1), S. 145. Ferner vgl. Charles Lefebvre: Sinibalde de Fieschi (Innocent IV), IV.-VII. In: Dictionnaire de droit canonique. Bd. 7. Paris 1965, Sp. 1039–1062; Vito Piergiovanni: Innocenzo IV legislatore e commentatore. In: Gli inizi del diritto pubblico/Die Anfänge des öffentlichen Rechts. Hrsg. von Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni. Bd. 2: Da Federico I a Federico II/Von Friedrich Barbarossa zu Friedrich II. Bologna, Berlin 2008 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento/ Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Contributi/Beiträge 21), S. 195– 222. 88 Peter Landau: Innnocenz III. und die Dekretalen seiner Vorgänger. In: Innocenzo III. Urbs et orbis. Atti del Congresso Internazionale Roma, 9–15 settembre 1998. Hrsg. von Andrea Sommerlechner. Bd. 1. Rom 2003 (Istituto storico italiano per il medio evo, Nuovi studi storici 55/Miscellanea della Società romana di storia patria 44), S. 175–199, S. 177–178. Für einen inhaltlichen Überblick zu diesem auf Innozenz III. zurückgehenden Normenbestand vgl. Raoul Naz: Innocent III. In: Dictionnaire de droit canonique. Bd. 5. Paris 1953, Sp. 1365–1418, Sp. 1374–1412 (›IV. Innocent III législateur‹).
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Register verzeichnet wurden und sich von Rom aus fast über das gesamte Abendland ergossen.89 Diese und andere für die kirchliche Rechtsgeschichte richtungsweisenden Entwicklungen zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts zu erklären, ohne auf die Rolle Innozenz’ III. hinzuweisen, fällt schwer. Rechtsentwicklung und historische Person erscheinen insofern eng miteinander verbunden. Ja, das eine erschließt sich vollends erst im Lichte des anderen. So ist etwa ein derart starker Rückgriff auf das ius canoni cum, wie er in Innozenz’ Entscheidungen fassbar wird, ohne tiefere Rechtskenntnisse des Papstes kaum vorstellbar. Tatsächlich existieren Quellen, die ein solches Wissen anschaulich belegen. Dazu zählen etwa eine Schilderung von Innozenz’ richterlicher Tätigkeit in den Gesta Innocentii III90 und folgende Episode aus der zu Beginn des Jahres 1206 vor Innozenz geführten gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen der Abtei Evesham und dem Bischof von Worcester.91 Als der Vertreter des Bischofs auf Nachfrage des Papstes bemerkte, er habe gelernt – und dies sei auch die Meinung seiner Lehrer –, gegen bischöfliche Rechte könne keine Verjährung laufen, musste er sich vom Papst die spöttische Bemerkung gefallen lassen, er und seine Lehrer hätten wohl zu viel englisches Bier getrunken, als sie das lernten. Der Kommentar weist Innozenz nicht nur als einen schlagfertigen, sondern auch als einen beschlagenen Richter aus, der die ihm vorgetragenen Argumente aufgrund eigener Kenntnisse schnell und treffend beurteilen konnte. Vor diesem Hintergrund könnte Innozenz III. als ein gutes Beispiel für den Typus des sogenannten Kanonisten- oder Juristenpapstes erscheinen, jenes rechtlich vorgebildeten Nachfolgers Petri, der aufgrund seiner Ausbildung dem Kirchenrecht eine besondere Bedeutung beimaß und es für den rechtlichen Ausbau der Kirche im Allge89 Zum Register vgl. Hageneder (Anm. 42), S. 91–101; Nörr (Anm. 38), S. 275–276. 90 Gesta Innocentii PP. III. In: Patrologia Latina. Bd. 214. Paris 1855, Sp. XV–CCXXVIII, hier: Cap. XLI, Sp. LXXX C–LXXXI B. Vgl. David Richard Gress-Wright: The »Gesta Innocentii III«: Text, introduction and commentary. Pennsylvania 1981, S. 61, Z. 3–16. 91 Chronicon Abbatiae de Evesham ad annum 1418. Hrsg. von William Dunn Macry. London 1863 (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 29), a. 1206, S. 189. Vgl. M. Spaethen: Giraldus Cambrensis und Thomas von Evesham über die von ihnen an der Kurie geführten Prozesse. In: NA 31 (1906), S. 595–649, S. 629–649; Peter Landau: Papst Innocenz III. in der richterlichen Praxis. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Kooperationsmaxime. In: Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag. Hrsg. von Christian Broda u. a. Neuwied 1985, S. 727–733, S. 728– 732; Jürgen Petersohn: Papst Innocenz III. und das Verjährungsrecht der römischen Kurie. Stuttgart 1999 (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main XXXVII, Nr. 3), S. 84–85; Othmar Hageneder: Zur Effizienz der römischen Kurie als Gerichtshof um 1200. In: Der weite Blick des Historikers. Einsichten in Kultur-, Landes- und Stadtgeschichte. Peter Johanek zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Wilfried Ehbrecht u. a. Köln u. a. 2002, S. 99–112, S. 111.
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meinen und des Primats in Besonderen intensiv nutzte.92 Mit dieser Vorstellung stimmt allerdings das Bild, das die Forschung von den Rechtskenntnissen Lothars von Segni, des späteren Innozenz’ III. zeichnet, nur teilweise überein.93 Wenn die spärlichen Informationen zu Bildungsgang und -hintergrund nicht trügen, scheint Lothar seit den späten 1170er Jahren in Paris theologischen Studien, in deren Verlauf er wohl mit Petrus Cantor in Kontakt kam, nachgegangen zu sein94 und dann in Bologna kirchenrechtliche Kenntnisse erworben zu haben. Was nun diese kanonistische Bildung betrifft, so erscheint die traditionelle Vorstellung, dass Lothar ein Schüler des Huguccio war und ein ordentliches Studium des Kirchenrechts absolviert hatte, aus heutiger Sicht nicht mehr sonderlich überzeugend. Wenngleich sein vertieftes Wissen insbesondere im kanonischen Recht außer Zweifel steht, wird man in Innozenz wohl eher einen rechtlich versierten Theologen als einen theologisch bewanderten Kanonisten zu sehen haben. Eine solche Unterscheidung mag haarspalterisch und anachronistisch wirken, doch kann sie helfen, sich über die Bedeutung des Bildungshintergrundes für die rechtshistorische Wirksamkeit des Papstes etwas größere Klarheit zu verschaffen. Das gilt etwa für Innozenz’ »Anleihen bei den Theologen« ( J. Miethke) oder eine von ihm vorangetriebene »Retheologisierung des Kirchenrechts« (P. Landau).95 So umrissene Tendenzen erscheinen vor allem dann bemerkenswert, wenn man in diesem Papst einen Kanonisten oder Juristen sieht. Geht man dagegen davon aus, dass Innozenz seine intellektuelle Prägung in der Theologie erfahren hatte, wird man solche Ansätze wohl eher für naheliegend halten. Doch vielleicht sollte man anstelle der Frage, ob Innozenz nun Theologe oder Kanonist bzw. Jurist war, das Augenmerk 92 Alfons Becker: Das 12. Jahrhundert als Epoche der Papstgeschichte. In: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts. Hrsg. von Ernst-Dieter Hehl u. a. Stuttgart 2002 (Mittelalter-Forschungen 6), S. 293–323, S. 311–312; Ilona Riedel-Spangenberger: Juristenpäpste. In: Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht. Hrsg. von Axel Frh. v. Campenhausen u. a. Bd. 2. Paderborn u. a. 2002, S. 356–357. Ferner vgl. Horst Fuhrmann: Der Laie und das mittelalterliche Recht. Darf ein Nichtjurist Rechtsgeschichte treiben? In: Ders.: Einladung ins Mittelalter. 4. Aufl. München 1989, S. 253–261, S. 255. 93 Für einen Überblick zum Forschungsstand vgl. Keith Harold Kendall: Sermons of Pope Innocent III: The Moral Theology of a Pastor and Pope. Syracuse 2003, S. 29–31; Atria A. Larson: Master of Penance. Gratian and the Development of Penitential Thought and Law in the Twelfth Century. Washington 2014 (Studies in Medieval and Early Modern Canon Law 11), S. 456–458. Ferner vgl. J. Michael Rainer: Innocenz III. und das römische Recht. In: Römische historische Mitteilungen 25 (1983), S. 15–33; James M. Powell: Pope Innocent III and Secular Law. In: Law as Profession and Practice in Medieval Europe. Essays in Honor of James A. Brundage. Hrsg. von Kenneth Pennington/Melodie Harris Eichenbauer. Farnham, Burlington (Vt) 2011, S. 41–48. 94 Baldwin (Anm. 70), S. 103; Maleczek (Anm. 82), S. 419. 95 Jürgen Miethke: Geschichtsprozeß und zeitgenössisches Bewußtsein – die Theorie des monarchischen Papats im hohen und späten Mittelalter. In: HZ 226 (1979), S. 564–599, S. 584; Landau (Anm. 80), S. 198–199.
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eher auf die besondere Mischung aus theologischer und rechtlicher Reflexion richten, durch die sich sein Denken und Handeln auszeichneten. Diese Synthese kommt etwa im zeitgenössischen Wort von Innozenz als neuem Salomo zum Ausdruck, in dem biblisch-theologische und normativ-kanonistische Vorstellungen von einem gerechten Herrscher und Richter ineinander übergehen.96 Es findet sich bereits in der auf Exzerpten der ersten drei Jahrgänge des Registers Innozenz’ III. beruhenden Dekretalensammlung des Rainerius von Pomposa (um 1200). Im Prolog der Kollektion hebt der Verfasser hervor, dass er sein Werk nicht zuletzt mit Blick auf diejenigen, die aus allen Teilen der Welt zum Apostolischen Stuhl kommen, um die sapientia nostri temporis Salomonis zu hören, sowie auf Bitten der vielen Gelehrten und Würdenträger verfasst hat, die sich mit der Bitte um Kopien seiner, d. h. Innozenz’, Vorschriften und Entscheidungen (iustitiae et iudicia ipsius)97 an ihn wenden.98 Auch in einem zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts entstandenen und wohl gegen Innozenz III. gerichteten satirischen Gedicht wird auf den Papst als novus Salomon Bezug genommen.99 Ferner stößt man in leicht abge96 Zur Figur des Salomo insbesondere in der Kanonistik vgl. 1 Comp. 2.16.1–2; X 2.23.1–2; Petrus Marcus Marti: Ad iudicium Salomonis interpretatio, Barcelona 1585; Bernard Ribémont: Le sage et juste roi Salomon dans la littérature médiévale. In: Le roi fontaine de justice. Pouvoir justicier et pouvoir royal au Moyen Âge et à la Renaissance. Hrsg. von Silvère Menegaldo/Bernard Ribémont. Péronnas 2012 ( Jus & Litterae 3), S. 29–53; Élodie Hartmann: L’analyse du jugement de Salomon par les canonistes: la conscientia judicis, palliatif des insuffisances de l’ordo judiciarius. In: La justice entre droit et conscience du XIIIe au XVIIIe siècle. Hrsg. von Benoît Garnot/Bruno Lemesle. Dijon 2014 (Collection Histoires), S. 25–39; Sophie Démare-Lafont: La justice savante de Salomon. In: Plenitudo Juris. Mélanges en hommage à Michèle Bégou-Davia. Hrsg. von Brigitte Basdevant-Gaudemet u. a. Paris 2015, S. 157–174. 97 Vgl. Ps 147,19–20. 98 Rainerius Pomposianus: Prima collectio decretalium Innocentii III. In: Patrologia latina. Bd. 216. Paris 1855, Sp. 1173–1272, Sp. 1173B. Vgl. Mt 12,42; Lc 11,31 sowie Othmar Hageneder: Papstregister und Dekretalenrecht. In: Recht und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Peter Classen. Sigmaringen 1977 (Vorträge und Forschungen 23), S. 319–347, S. 331–332; Gabriella Rossetti: La pastorale nel IV lateranense. In: La pastorale della Chiesa in Occidente dall’étà ottoniana a Concilio Lateranense IV. Atti della quindicesima Settimana internazionale di studio, Mendola, 27–31 agosto 2001, Mailand 2004 (Storia: Richerche), S. 197–222, S. 206. Zu Rainerius von Pomposa und seiner Sammlung vgl. Frank Theisen: Die Dekretalensammlung des Rainerius von Pomposa und ihre Hintergründe. In: Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Richard H. Helmholz u. a. Paderborn u. a. 2000 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge 91), S. 549–577; Pennington (Anm. 42), S. 301–303. 99 *** [Marie Therèse d’Alverny]: Novus regnat Salomon in diebus malis. Une satire contre Innocent III. In: Festschrift Bernhard Bischoff zu seinem 65. Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern. Hrsg. von Johanne Autenrieth/Franz Brunhölzl. Stuttgart 1971, S. 372–390, IX.–X., S. 383–384. Vgl. Fuhrmann (Anm. 92), S. 254–255; Rossetti (Anm. 98), S. 206, Anm. 14.
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wandelter Form auf diese Prägung in einem 1202 verfassten Brief eines unbekannten Kurialen, der darin auf den Sommeraufenthalt von Papst und Kurie in Subiaco eingeht.100 In dem Schreiben bezieht sich der Verfasser an vier Stellen auf Innozenz als tertius Salomon.101 Worauf genau die Bezeichnung als dritter Salomo abzielt, hat die Forschung bislang nicht befriedigend zu klären vermocht.102 Doch spricht angesichts der Tatsache, dass der Beiname als bekannt vorausgesetzt wird, einiges dafür, dass dieser im engeren Umkreis des Papstes geläufig war.103 Das war wohl kein Zufall, sondern eher eine Reaktion auf Vorstellungen, die Innozenz selbst von seiner Rolle hatte. So findet sich etwa in der Arenga einer päpstlichen Urkunde von 1198, die eine Entscheidung im Streit zweier Augsburger Kanoniker enthält, eine Bezugnahme auf den Papst als Richter, der, wenn er Recht spricht und ihm vorgetragene Fälle und Fragen entscheidet, Salomos Schwert führt.104 Auf eine ähnliche Einleitung, allerdings ohne Salomo-Bezug, stößt man in einer Papsturkunde von 1206, die Innozenz’ Entscheidung in der bereits erwähnten gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Kloster Evesham und dem Bischof von Worcester enthält.105 100 Die Kampanische Briefsammlung (Paris lat. 11867). Hrsg. von Susanne Tuczek. Hannover 2010 (MGH Briefe des späteren Mittelalters 2), Nr. 153, S. 251–259. Vgl. Karl Hampe: Eine Schilderung des Sommeraufenthaltes der römischen Kurie unter Innozenz III. in Subiaco 1202. In: Historische Vierteljahrschrift 8 (1905), S. 509–535; Robert Brentano: Rome before Avignon. A social history of thirteenth-century Rome. New York 1974, S. 154–155. 101 Die Kampanische Briefsammlung (Anm. 100), Nr. 153, S. 254, Z. 12, S. 257, Z. 19–21, S. 258, Z. 15– 16 bzw. Z. 21–22. 102 Hampe (Anm. 100), S. 519; Brentano (Anm. 100), S. 155. 103 Hampe (Anm. 100), S. 519. 104 Die Register Innocenz’ III. Hrsg. von Othmar Hageneder/Anton Haidacher. Bd. 1: 1. Pontifikatsjahr, 1198/99. Graz, Köln 1964 (Publikationen der Abteilung für historische Studien des Österreichischen Kulurinstituts in Rom, Abteilung II, Reihe I 1), Nr. 290, S. 406, Z. 21–25: Ex ore sedentis in throno procedebat gladius bis acutus: hic est gladius Salomonis qui secat utrimque, reddens unicuique quod suum est. Nos ergo, qui licet immeriti locum veri Salomonis divina dignatione tenemus, gladium istum tunc prudenter exerimus, cum questiones in auditorio nostro legitime ventilatas mediante iustitia diffinimus. Vgl. 3 Comp 3.12 un.; X 3.11.3 sowie Brigitte Meduna: Studien zum Formular der päpstlichen Justizbriefe von Alexander III. bis Innocenz III. (1159–1216): die non obstantibus-Formel. Wien 1989 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 536), S. 28. 105 Die Register Innocenz’ III. Hrsg. von Othmar Hageneder/Andrea Sommerlechner. Bd. 8: 8. Pontifikatsjahr, 1205/1206. Graz, Köln 1964 (Publikationen der Abteilung für historische Studien des Österreichischen Kulturinstituts in Rom, Abteilung II, Reihe I 8), Nr. 205 (204), S. 351, Z. 18–20: Ex ore sedentis in throno procedit gladius bis acutus, quoniam ex ore Romani pontificis, qui presidet apostolice sedi, rectissima debet exire sententia, que contra iusticiam nulli parcat, sed reddat quod suum est unicuique. Vgl. Jane Sayers: »Original«, Cartulary and Chronicle: the Case of the Abbey of Evesham. In: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae
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Von besonderem Interesse ist mit Blick auf das Wort von Innozenz III. als neuem Salomo der Gedankengang in der Urkunde von 1198. Er wird in zwei bzw. drei Schritten entwickelt. Ausgehend von der Vorstellung des göttlichen Richters, der am Tag des Gerichts die Seelen mit einem zweischneidigen Schwert richtet (Apc 1,16; 19,15),106 wird dieses Bild zunächst auf das irdische Rechtsleben bezogen, indem es eine Deutung im Sinne des gladius Salomonis erfährt, der beidseitig schneidet, wenn er jedem gewährt, was das Seine ist. In einem weiteren Schritt wird dann die richterliche Tätigkeit des Papstes zu derjenigen Salomos in Parallele gesetzt, insofern der Papst nach göttlichem Willen die Stellung eines verus Salomon einnimmt. Die tiefgründige und doch zugleich prägnante Konstruktion beruht auf der Kombination von Metaphern und Vorstellungen, die sowohl theologisch als auch rechtlich aufgeladen waren, wenn man an Salomos Schwert denkt, das nicht nur als biblisches Symbol der Gerechtigkeit, sondern ausweislich der im Schreiben verwendeten Formel reddens unicuique quod suum est auch als Sinnbild des Rechts bzw. der Rechtsverwirklichung erscheint.107 Auf ähnlich vielschichtige Bilder stößt man auch in anderen Zusammenhängen. Erinnert sei hier nur an die Metapher der Feile. Sie taucht etwa in Vineam Domini Sabaoth in Gestalt der Wendung apostolicae provisionis lima auf,108 ferner in einem Schreiben des Papstes an den französischen König aus dem Jahre 1214.109 Das Bild der Feile, die von geschulter Hand dazu eingesetzt wird, in der Kirche oder ihren Institutionen korrigierend einzugreifen, verweist sowohl auf den übergeordneten Konzilszweck einer reformatio universalis ecclesiae als auch auf das Instrument der
Historica München, 16.–19. September 1986. Bd. 4. Hannover 1988 (MGH Schriften 33,4), S. 371– 395; Uta Kleine: Litterae, cartae, codices, petentes und notarii: Aspekte der Vertrauenswürdigkeit von Papsturkunden im Pontifikat Innozenz’ III. (1198–1216). In: Strategies of Writing. Studies on text and trust in the Middle Ages. Hrsg. von Petra Schulte u. a. Turnhout 2008 (Utrecht studies in medieval literacy 13), S. 185–211, insbesondere S. 202. 106 Ferner vgl. Apc 19,21. 107 Dazu vgl. auch Sententie magistri Petri Abaelardi. Hrsg. von David Luscombe. Turnhout 2006 (CC CM 14), Sent. 256, S. 134, Z. 3031–3034: Iusticiam uero sic diffiniunt philosophi: ›Iusticia est habitus animi reddens unicuique quod suum est, communi utilitate seruata‹. Hoc idem Iustinianus sua diffinitione notauit cum sic diceret: ›Iusticia est constans et perpetua uoluntas‹ etc. Vgl. Inst. 1.1 pr.: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens. Ferner vgl. Dig. 1.1.10 pr. sowie III Rg 3,16–28 und Aloysius Novarinus (Luigi Novarini): Adagia formulaeque proverbiales ex sanctorum patrum, ecclesiasticorumque scriptorum monumentis accurate promptae. Bd. 1. Verona 1651, S. 205 Nr. 856 (Sententia, aut aliud, quo suum vero possessori tribuitur, gladius Salomonis prouerbiali ter dicetur). 108 Innocentius III: Vineam Domini Sabaoth (Anm. 10), Sp. 824C. 109 Supplementum ad regesta Innocentii III. In: Patrologia latina. Bd. 217. Paris 1855, Sp. 9–308, Sp. 230B (limam omnium generali concilio reservando).
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konziliaren Normgebung, dessen sich der Nachfolger Petri bedient, um sein Ziel zu erreichen.110 Beides erscheint für einen kirchlichen Gesetzgeber an und für sich nicht weiter erstaunlich. Außergewöhnlich war jedoch, auch wenn der legislative Elan zwischen 1198 und 1216 sehr schwankte, der Umfang der von Innozenz angestrebten rechtlichen Reformen, der schon in der Historiographie des dreizehnten Jahrhunderts Widerhall fand. So vermerkt etwa der Verfasser der zwischen 1208 und 1215 entstandenen Gesta episcoporum Halberstadensium über Innozenz, er sei in apostolici iuris reformatione super omnes antecessores suos strennuus et maturus.111 In eine ähnliche Richtung deutet eine Bemerkung des Matthaeus Parisiensis (um 1200–1259), der die kanonistische Wirksamkeit dieses Papstes auf folgenden Punkt bringt: in scientia erat magnus, audax simul et iurisperitus.112 Auffällig an diesem Lob ist vor allem das Attribut audax. Schon Dadin de Hauteserre hat es so verstanden, dass sich Innozenz nicht scheute, alte Regelungen zu beseitigen und neue zu schaffen.113 Mit Blick auf die in seinen Dekretalen zutage tretenden reformerischen Anliegen kann man in diesem Papst tatsächlich einen mutigen Erneuerer sehen, der dank seines vielschichtigen Bildungshintergrunds in der Lage war, das Instrument des geschriebenen Rechts mit Blick auf zeitgenössische Regelungsanliegen und -bedürfnisse der Kirche kunstvoll und innovativ zu handhaben.114 Das gilt insbesondere für die Feile konziliarer Reform, die Innozenz als Gesetzgeber 1215 an die Kirche anlegte.
3. Die Konstitutionen des Vierten Laterankonzils
Angesichts ihrer Bedeutung liegt die Frage nach den Ursprüngen der Bestimmungen des IV. Lateranense in mehrfacher Hinsicht nahe. Auf den größeren historischen Zusammenhang und einzelne Bezugspunkte – etwa die Kreuzzüge, den deutschen Thronstreit und die Auseinandersetzungen mit den häretischen Albigensern – kann 110 Melloni (Anm. 10), S. 68; Unger (Anm. 18), S. 30. Zur reformatio universalis ecclesiae siehe unten S. 63. Die ungewöhnliche Feilenmetapher findet sich schon in der Patristik. Vgl. Georges de Plinval: Essai sur le style et la langue de Pélage. Suivi du traité inédit De induratione cordis Pharaonis (Texte communiqué par Dom G. Morin). Freiburg i. Ü. 1947 (Collectanea Friburgensia N. S. 31), S. 133, Anm. 2. 111 Gesta episcoporum Halberstadensium. Hrsg. von Ludwig Weiland. Hannover 1874 (MGH SS in folio 23), S. 78–123, S. 111, Z. 29. 112 Matthaeus Parisiensis: Chronica major. Hrsg. von Henry Richards Luard. Bd. 2 (A. D. 1067 to A. D. 1216). London 1874 (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 57,2), a. 1199, S. 460. 113 Dadinus Alteserra: Innocentius Pontifex Maximus (Anm. 85), S. 1 (Praefatio). 114 Für einen Überblick zu den vielfältigen Reformbemühungen Innozenz’ III. vgl. Augustin Fliche: Innocent III et la réforme de l’Église. In: Revue d’histoire ecclésiastique 44 (1949), S. 87–152.
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an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.115 Das Gleiche gilt für die kirchlich-pastoralen Reformbemühungen seit Ende des zwölften Jahrhunderts, insbesondere für die Partikularkonzilien im Vorfeld des IV. Lateranense, wenn man etwa an die 1204 vom Pariser Bischof Odo von Sully († 1208) erlassenen Diözesanstatuten denkt.116 Stattdessen sollen hier einige Beobachtungen zur Entstehung der Konzilskanones zusammengetragen werden, bevor es kurz den Inhalt der entsprechenden Vorschriften in den Blick zu nehmen gilt. Wie für die meisten anderen Konzilien des Hochmittelalters, so liegt auch für das IV. Lateranense die Redaktionsgeschichte seiner Normen weitgehend im Dunkeln. Als erster sicherer Anhaltspunkt kann das bereits erwähnte Einladungsschreiben Vineam Domini Sabaoth gelten. Darin nennt Innozenz die beiden Hauptzwecke des Konzils: die Wiedergewinnung des Heiligen Landes und die Erneuerung der gesamten Kirche (reformatio universalis ecclesiae).117 Auf dem dazu einberufenen Konzil sollen mit dessen Zustimmung (de ipsius approbatione concilii) verbindliche Regelungen getroffen werden.118 Diese betreffen folgende ausdrücklich genannte Punkte: Ausrottung der Laster und Pflege der Tugenden, Bestrafung von Vergehen, Erneuerung der Sitten, Beseitigung der Häresien, Stärkung des Glaubens, Beilegung von Zwistigkeiten, Festigung des Friedens, Zurückdrängung von Unterdrückung, Förderung von Freiheit und Unterstützung des Heiligen Landes.119 In verschiedener Hinsicht erinnert dieses Programm, wenn man den religiösen Hintergrund einmal beiseitelässt, an einen aus der römischen Rechtskultur geläufigen Gedanken, der sich auf die Formel armis et legibus bringen lässt: Durch Gesetzgebung, die auf Reformen
115 Zur Vorgeschichte des IV. Lateranense vgl. Foreville (Anm. 5), S. 227–244; García y García (Anm. 10). Zum Vierten Laterankonzil allgemein vgl. Antonio García y García: Historia del Concilio IV Lateranense de 1215. Salamanca 2005 (Bibliotheca oecumenica Salmanticensis 31). 116 Joseph Avril: Naissance et évolution des législations synodales dans les diocèses du Nord et de l’Ouest de la France (1200–1250). In: ZRG KA 72 (1986), S. 152–249, S. 155–167; Peter Johanek: Die Pariser Statuten des Odo von Sully und die Anfänge der Statutengesetzgebung in Deutschland. In: Proceedings of the Seventh International Congress of Medieval Canon Law. Cambridge, 23–27 July 1984. Hrsg. von Peter Linehan. Città del Vaticano 1988 (Monumenta Iuris Canonici, Series C 8), S. 327–345; Jörg Oberste: Zwischen Heiligkeit und Häresie. Religiosität und sozialer Aufstieg in der Stadt des hohen Mittelalters. Bd. 1. Köln u. a. 2003 (Norm und Struktur 17,1), S. 188–206. Ferner vgl. in diesem Sammelband S. 107–122. 117 Innocentius III: Vineam Domini Sabaoth (Anm. 10), Sp. 824A. Zu Vorgeschichte, Planung und Zweck des IV. Lateranense vgl. García y García (Anm. 10); Melloni (Anm. 10); Kirsch (Anm. 6), S. 152–156. 118 Ebd., Sp. 824C. 119 Ebd., Sp. 824B–C.
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im Inneren abzielt, sucht man die Kampfkraft des Gemeinwesens gegenüber äußeren Feinden zu stärken.120 Mindestens genauso bemerkenswert wie seine Ziele ist der Weg, den Innozenz einschlug, um sie zu erreichen. Für den Zeitraum zwischen der Einberufung und der Abhaltung des Konzils wollte er nicht nur geeignete Leute zur Vorbereitung eines Kreuzzugs aussenden, sondern vor Ort (in singulis provinciis) auch viri prudentes mit der Ermittlung dessen beauftragen, was rechtlicher Regelung durch das Konzil bedurfte.121 Darauf kommt Innozenz am Schluss seines Schreibens noch einmal zurück, wenn er einen allgemeinen Auftrag an die Adressaten formuliert: (Auch) Sie sollen persönlich und per alios viros prudentes alles genau in Erfahrung bringen, was der Korrektur oder Erneuerung bedarf, es getreulich aufzeichnen und dem Konzil zur Prüfung vorlegen.122 Gerade mit Blick auf den Wissensstand des Gesetzgebers sind diese vom Papst angestoßenen Informations- und Kommunikationsprozesse außergewöhnlich.123 Da keine Antworten überliefert sind,124 fällt es schwer, den möglichen Einfluss auf die Konzilsgesetzgebung abzuschätzen. Allerdings finden sich gerade im letzten Drittel des Normenbestandes des IV. Lateranense eine Reihe von Vorschrif120 Paolo Mastandrea: Armis et legibus. Un motto attribuito a Iamblichus nei Romana di Iordanes. In: Incontri triestini di filologia classica 5 (2005−2006), S. 315−328; Marie Theres Fögen: Armis et legibus gubernare. Zur Codierung von politischer Macht in Byzanz. In: Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit. Byzanz, Okzident, Rußland. Hrsg. von Otto Gerhard Oexle/Michail A. Bojcov. Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 226), S. 11–22. 121 Innocentius III: Vineam Domini Sabaoth (Anm. 10), Sp. 824C. Zu teilweise ähnlichen Ermittlungen im Vorfeld des Zweiten Konzils von Lyon (1274) vgl. Unger (Anm. 18), S. 105–108. 122 Innocentius III: Vineam Domini Sabaoth (Anm. 10), Sp. 825B. 123 Dazu allgemein vgl. Hans-Joachim Schmidt: Einleitung: Zentrum und Netzwerk. Metaphern für kirchliche Organisationsformen im hohen und im späten Mittelalter. In: Zentrum und Netzwerk. Kirchliche Kommunikationen und Raumstrukturen im Mittelalter. Hrsg. von Gisela Drossbach/ dems. Berlin, New York 2008 (Scrinium Friburgense. Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg 22), S. 7–40; Thomas Wetzstein: Zur kommunikationsgeschichtlichen Bedeutung der Kirchenversammlungen des hohen Mittelalters. Ebd., S. 247–297; Ders.: Wie die urbs zum orbis wurde. Der Beitrag des Papsttums zur Entstehung neuer Kommunikationsräume im europäischen Hochmittelalter. In: Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III. Hrsg. von Jochen Johrendt/Harald Müller. Berlin, New York 2008 (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Neue Folge 2), S. 47–75; Ders.: Die Welt als Sprengel. Der päpstliche Universalepiskopat zwischen 1050 und 1215. In: Die Ordnung der Kommunikation und die Kommunikation der Ordnungen, Bd. 2: Zentralität: Papsttum und Orden im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Cristina Andenna u. a. Stuttgart 2013 (Aurora. Schriften der Villa Vigoni 1,2), S. 169–187. Ferner vgl. Jürgen Miethke: Die Konzilien als Forum der öffentlichen Meinung im 15. Jahrhundert. In: DA 37 (1981), S. 736–773, S. 753–767. 124 García y García (Anm. 34), S. 10.
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ten, in denen von Missständen in einzelnen Kirchen(regionen) die Rede ist125 oder in denen an den Papst weitergeleitete Informationen kolportiert werden.126 Der (beabsichtigte) Informationsfluss von der Peripherie in das Zentrum ist allerdings nur ein Teilaspekt der außergewöhnlich langen Vorbereitungen auf das Konzil.127 Nach gegenwärtigem Forschungsstand kann man davon ausgehen, dass die Konzilskonstitutionen zum größten Teil vor dem November 1215 verfasst worden sind, sei es von Innozenz selbst oder sei es von unbekannten Kanonisten, die in seinem Auftrag oder auf seine Anweisung hin arbeiteten.128 Dass sich die entsprechenden Redaktionsprozesse über einen längeren Zeitraum erstreckten, lassen einzelne Kanones erkennen, die Parallelen zu anderen päpstlichen Bestimmungen der Jahre 1213–1215 aufweisen oder Regelungen enthalten, auf die bereits vor dem Konzil in Papstschreiben Bezug genommen wird.129 Auch die in den 71 Kanones enthaltenen Verweise und Zitate aus kirchenrechtlichen Quellen legen die Vermutung nahe, dass über längere Zeit konzentriert an geeigneten Regelungen gearbeitet wurde.130 Noch schwerer erkennbar als der redaktionelle Vorlauf ist, inwieweit es im Laufe des Konzils zu Eingriffen in die Vorlagen kam. Dass zumindest die Kreuzzugskonstitution (c.71) zwischen der ersten Sitzung des Konzils (11. November) und der drit-
125 4 Conc. Lat. cc.11, 32, 45, 53, 60, 62, 63, 65. Vgl. Foreville (Anm. 5), S. 290; Antonio García y García: Los concilios particulares en la edad media. In: Ders.: Iglesia, sociedad y derecho. Bd. 2. Salamanca 1987 (Bibliotheca Salmanticensis 89), S. 309–338, S. 329–330. 126 4 Conc. Lat. cc.32, 56, 60, 63, 66, 68. Vgl. Antonio García y García: El gobierno de la Iglesia universal en el Concilio IV Lateranense. In: Ders.: Iglesia, sociedad y derecho. Bd. 2. Salamanca 1987 (Bibliotheca Salmanticensis 89), S. 123–141 (ND aus: AHC 1 [1969], S. 50–68), S. 139–140. 127 Michele Maccarrone: Il IV Concilio Lateranense. In: Divinitas 5 (1961), S. 270–298, S. 276– 277. 128 García y García (Anm. 3), S. 367–368; Ders. (Anm. 126), S. 132–135; Ders.: Las constituciones del Concilio IV Lateranense de 1215. In: Innocenzo III. Urbs et orbis. Atti del Congresso Internazionale Roma, 9–15 settembre 1998. Hrsg. von Andrea Sommerlechner. Bd. 1. Rom 2003 (Istituto storico italiano per il medio evo, Nuovi studi storici 55/Miscellanea della Società romana di storia patria 44), S. 200–224, S. 206–209; Alberto Melloni: Concilium Lateranense IV 1215, Introduction. In: Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta. Editio critica. Bd. 2: The General Councils of Latin Christendom. Teil 1: From Constantinople IV to Pavia-Siena (869–1424). Hrsg. von Antonio García y García u. a. Turnhout 2013 (Corpus Christianorum), S. 151–159, S. 153–155; Pennington (Anm. 73), S. 188–198. 129 Foreville (Anm. 5), S. 248–250. 130 García y García (Anm. 34), S. 12–15; Ders.: La Biblia en el concilio 4 lateranense. In: Ders.: Iglesia, sociedad y derecho. Bd. 2. Salamanca 1987 (Bibliotheca Salmanticensis 89), S. 237–249; Anne Duggan: Conciliar Law 1123–1215: The Legislation of the Four Lateran Councils. In: The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX. Hrsg. von Wilfried Hartmann/Kenneth Pennington. Washington 2008 (History of Medieval Canon Law), S. 318–366, S. 341.
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ten und letzten (30. November 1215) Gegenstand von Änderungen war, ist sicher.131 Unklar ist dagegen, inwieweit das auch für die übrigen Vorschriften gilt.132 Eine Antwort bereitet aufgrund der Quellenlage erhebliche Probleme. Zwar geben vor allem zwei zentrale Quellen, die Chronica des Richard von San Germano und der Bericht des Gießener Anonymus, Einblick in Verhandlungen und Diskussionen auf dem Konzil.133 Doch betrifft das fast ausschließlich (kirchen)politische und theologische Themen, die nur ausnahmsweise Niederschlag in einzelnen Kanones gefunden haben, während über Beratungen über die zahlreichen, im engeren Sinne kirchenrechtlichen Vorschriften, die auf die reformatio ecclesiae universalis abzielten, nichts bekannt ist. Stefanie Unger vermutet daher, dass es solche Beratungen gar nicht gegeben hat und »die Konzilsväter erst bei der Verlesung der Konstitutionen auf der letzten Sitzung mit dem Reformprogramm des Vierten Lateranum befaßt wurden«.134 Das ist nicht auszuschließen. Allerdings legt, abgesehen von der streckenweise erratischen Anordnung der Vorschriften, die etwas provisorisch anmutende Form einzelner Konzilskanones, in denen zuweilen unterschiedliche Materien behandelt werden, die Vermutung nahe, dass das eine oder andere noch kurzfristig berichtigt oder ergänzt worden ist.135 Das wiederum könnte zumindest für punktuelle Veränderungen und Zusätze während des Konzils sprechen. Klar ist aber auch, wenn man den Gesamtbestand der 71 Konstitutionen überblickt, auf wen diese Vorschriften zurückgehen, und zwar nicht auf die Konzilsversammlung, sondern auf den Papst. In mehreren Kapiteln ist deutlich erkennbar, dass sich hinter der omnipräsenten ersten Person Plural Innozenz verbirgt, dessen gesetzgeberischen Entscheidungen das Konzil, wenn überhaupt, im Wesentlichen nur noch zustimmte, wie die schon in Vineam Domini Sabaoth auftauchenden und in den Kanones gelegentlich wiederkehrenden Konsensformeln sacri approbatione concilii und sacro approbante concilio zeigen.136 131 García y García/Kuttner (Anm. 70), S. 133–134; Foreville (Anm. 5), S. 271; Kirsch (Anm. 6), S. 175–178. Für eine Übersicht zum Ablauf des Konzils vgl. García y García (Anm. 126), S. 125–126. Siehe auch unten S. 67. 132 Dazu mit Blick auf 4 Conc. Lat. c.3 vgl. Le Bras u. a. (Anm. 24), S. 158, Anm. 4. 133 Ryccardi de Sancto Germano Chronica. Hrsg. von Carlo Alberto Garufi. 2. Aufl. Bologna 1938 (Rerum Italicarum Scriptores VII,2) (ND Turin 1966), S. 61–73; García y García/Kuttner (Anm. 70), S. 123–129. 134 Unger (Anm. 18), S. 34. Dagegen vgl. Kirsch (Anm. 6), S. 179, Anm. 190. Zum Folgenden vgl. auch Gillian R. Evans: The Attack on the Fourth Lateran Council. In: Annuarium Historiae Conciliorum 21 (1989), S. 241–266, S. 244–246 bzw. S. 265–266 sowie Helmrath (Anm. 22), S. 44–46. 135 So z. B. 4 Conc. Lat. c.15 (Trunkenheit von Klerikern, Jagd- und Beizverbot), c.40 (Besitz des Klägers, Verbot der Laienjurisdiktion super rebus spiritualibus) und c.62 (Heiligenverehrung, Ablassbriefe). Zur Anordnung der Kanones siehe unten S. 69–72. 136 4 Conc. Lat. c.2 (Nos autem, sacro uniuersali concilio approbante, credimus et confitemur); 4 Conc.
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Unabhängig davon, wie diese Formeln inhaltlich zu deuten sind, verweisen sie doch vor allem auf ein konziliares Normgebungsverfahren, an dessen Ende in der letzten Sitzung am 30. November 1215 die einzelnen Bestimmungen verlesen und dadurch zugleich promulgiert wurden. Dies geschah dem Bericht des Gießener Anonymus zufolge in mehreren Schritten.137 Zunächst wurden das Glaubensbekenntnis, d. h. c.1, verlesen, die Zustimmung der Konzilsteilnehmer dazu erfragt (Creditis hec per omnia?) und von diesen gegeben (Credimus.). In einem zweiten Schritt wurde bezüglich der Häretiker Joachim von Fiore und Amalrich von Bena die Frage an die Versammlung gerichtet: An reprobatis sententias Ioachim et Emelrici? Was ebenfalls bejaht wurde (Reprobamus). Damit dürfte c.2 angenommen worden sein. Sodann wurde der Kreuzzug behandelt und in Hinblick darauf eine firmissima pax festgesetzt. Vermutlich bezieht sich diese Bemerkung auf zusätzliche Bestimmungen innerhalb der Kreuzzugskonstitution Ad liberandam (c.71), die später mit einer frühen Textfassung, die auf die erste Session des Konzils zurückging und deren Inhalt sich aus einer von Roger von Wendover († 1236) überlieferten Version erschließen lässt, verbunden wurden.138 Überspringt man die sich im Bericht des Anonymus anschließenden Schilderungen des weiteren Versammlungsverlaufs, die hier nicht interessieren müssen, dann gelangt man zum letzten Schritt, der in der Verlesung der übrigen Konzilskonstitutionen, d. h. von cc.3–70, bestand, die ausdrücklich als Vorschriften des Papstes bezeichnet werden: Deinde leguntur constitutiones domini pape.139 Von einer Zustimmung der Konzilsteilnehmer ist hier – im Gegensatz zu den beiden ersten rein theologischen Kapiteln – bezeichnenderweise keine Rede.140 Lat. c.8 (sicut olim aperte distinximus et nunc sacri approbatione concilii confirmamus); 4 Conc. Lat. c.44 (sacri approbatione concilii decernimus); 4 Conc. Lat. c.47 (Sacro approbante concilio prohi bemus); 4 Conc. Lat. c.55 (sacri approbatione concilii reuocantes); 4 Conc. Lat. c.71 (sacro approbante concilio diffinimus […] ex communi concilii approbatione statuimus). Vgl. Maccarrone (Anm. 127), S. 282–284; García y García/Kuttner (Anm. 70), S. 164. 137 García y García/Kuttner (Anm. 70), S. 127, Z. 149–S. 128, Z. 184. Vgl. Foreville (Anm. 5), S. 271–272; García y García/Kuttner (Anm. 70), S. 164; Unger (Anm. 18), S. 35 sowie Martin Kaufhold: Die Rhythmen politischer Reform im späten Mittelalter. Institutioneller Wandel in Deutschland, England und an der Kurie 1198–1400 im Vergleich. Ostfildern 2008 (Mittelalter-Forschungen 23), S. 89–90. 138 Rogeri de Wendover Chronica, sive Flores historiarum ab anno Domini MCLIV. Annoque Henrici Anglorum regis secundi primo. Hrsg. von Henry G. Hewlett. Bd. 2. London 1887 (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 84,2), S. 156–159. Vgl. García y García/Kuttner (Anm. 70), S. 133–134, S. 156. 139 García y García/Kuttner (Anm. 70), S. 128, Z. 184. Vgl. ebd., S. 163–164 sowie García y García (Anm. 126), S. 133–135. 140 Der Grund könnte im unterschiedlichen Regelungsgehalt liegen, geht es doch in 4 Conc. Lat. cc.3– 70 vorrangig um Fragen der kirchlichen Disziplin, während 4 Conc. Lat. cc.1–2, wie Unger (Dies. [Anm. 18], S. 37) hervorgehoben hat, Glaubensfragen betreffen, die aus Sicht der Zeitgenossen ei-
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Nach der feierlichen Verkündung scheint es noch zu einem zweiten Promulgationsakt gekommen zu sein, der darin bestand, dass alle Kanones am 14. Dezember 1215 in einen heute verlorenen Band des Registers Innozenz’ III. eingetragen wurden.141 In welchem Verhältnis die beiden Handlungen zueinander standen, lässt sich nicht mit Gewissheit feststellen. Was das Verlesen betrifft, so handelt es sich um eine Form mündlicher Bekanntmachung, die im Rahmen einer Kirchenversammlung nicht zuletzt durch ihre liturgischen und rituell-performativen Funktionen gekennzeichnet ist und sich schon im ersten Jahrtausend findet, wenn man etwa an die ältesten Fassungen des westgotischen Ordo de celebrando concilio denkt.142 Ein etwas anderes Bild ergibt sich für den Registereintrag, der wohl vor allem darauf abzielte, die Authentizität des Textes bzw. seiner Überlieferung zu gewährleisten.143
ner Zustimmung durch das Konzil bedurften. Ferner vgl. Evans (Anm. 134), S. 242–244; Kirsch (Anm. 6), S. 183–184. 141 García y García/Kuttner (Anm. 70), S. 133 bzw. S. 7 (Retractationes IX); García y García (Anm. 34), S. 19; Uta-Renate Blumenthal: A Gloss of Hostiensis to X 5.6.17 (Ad liberandam). In: Bulletin of Medieval Canon Law N. S. 30 (2013), S. 89–122, S. 93–94; Dies. (Anm. 35), S. 310– 311, S. 317. Ferner vgl. Eugène Martin-Charbot: Copies certifiées de bulles pontificales. In: Mélanges d’archéologie et d’histoire de l’École française de Rome 70 (1958), S. 423–441, S. 431–434; Anton Haidacher: Beiträge zur Kenntnis der verlorenen Registerbände Innozenz’ III. In: Römische historische Mitteilungen 4 (1960/61), S. 37–62, S. 47. 142 Die Konzilsordines des Früh- und Hochmittelalters. Hrsg. von Herbert Schneider. Hannover 1996 (MGH Ordines de concilio celebrando 1), Ordo 1,4, S. 140, Z. 21–23. Vgl. ebd., S. 12–13; Charles Munier: L’Ordo de celebrando concilio wisigothique. Ses remaniements jusqu’au Xe siècle. In: Revue des sciences religieuses 37 (1963), S. 250–271, S. 267. Zur Promulgation allgemein siehe S. 73–77. – Pennington (ders. [Anm. 73], S. 182 Anm. 13 bzw. S. 184) nimmt an, dass die Konzilskonstitutionen an die Bologneser Kanonisten bzw. Legisten versandt wurden, lässt jedoch offen, wie dieser (vermutete) Vorgang rechtlich zu bewerten ist. 143 Dazu allgemein vgl. Hageneder (Anm. 98), S. 319–347. – Hier sind gewisse Parallelen zu einem früheren Gesetzgebungsprojekt Innozenz’ III. erkennbar. In der bereits erwähnten Dekretalensammlung des Rainerius von Pomposa (XIV,4) ist eine Konstitution Innozenz’ III. überliefert, deren Inskription lautet: Decretum ejusdem [gemeint ist Innozenz III.] in constitutione Lateranensis palatii promulgatum. Vgl. Rainerius Pomposianus: Collectio decretalium (Anm. 98), Sp. 1221A–B (vgl. 3 Comp. 5.11.4; X 5.20.7). Von Heckel hat diesen Wortlaut so gedeutet, dass die Regelung wohl ganz gezielt in einem im Lateranpalast, näherhin in der Kanzlei befindlichen Statutenbuch eingetragen und damit veröffentlicht wurde, um Personen, die dort (z. B. in einem Verfahren) zu tun hatten, von dem Inhalt der Bestimmung in Kenntnis zu setzen. Vgl. Rudolf von Heckel: Studien über die Kanzleiordnung Innozenz’ III. In: Historisches Jahrbuch 57 (1937), S. 258–289, S. 264–265. Sollte diese Interpretation, der sich Kuttner angeschlossen hat, zutreffen, dann könnte die Konstitution genauso wie die Promulgation durch Registereintrag (1215) als Ausdruck eines verstärkten Interesses an einer authentischen Überlieferung normativer Texte gedeutet werden. Vgl. Kuttner (Anm. 60), S. 70–71.
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Wie stellen sich die 71 Kanones nun ihrem Inhalt nach dar?144 Der folgende Überblick erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Inhaltsangabe oder gar eine Würdigung historisch bedeutender Vorschriften zu bieten. Vielmehr geht es nur darum, ausgehend vom Normtext einen ersten Eindruck von darin behandelten Themen und Regelungsgegenständen zu gewinnen. Eng verbunden mit der so gestellten Frage nach dem Inhalt ist eine zweite, und zwar, ob die Vorschriften, die ausweislich der Handschriftenüberlieferung ursprünglich nicht in größeren Gliederungseinheiten zusammengefasst waren, nach einem bestimmten Schema angeordnet sind, in dem sich womöglich eine innere Ordnung spiegelt. Antwort darauf gibt eine Florentiner Handschrift der Konstitutionen von 1215, in welcher der Normenbestand in fünf Teile (cc.1–4, 5–22, 23–34, 35–49, 50–71) gegliedert ist.145 Die gleiche Einteilung in fünf partes novellarum findet sich im Prolog der zwischen 1216 und 1220 möglicherweise von Vincentius Hispanus verfassten Casus Parisienses.146 Die fünf Teile finden eine Entsprechung in der Fünf-Bücher-Einteilung der Quinque Compilationes Anti quae und des Liber Extra, die durch einen bekannten Merkvers folgendermaßen umrissen wird: iudex iudicium clerus sponsalia [connubia] crimen.147 Der Vers verweist auf zentrale Themen des Fünf-Bücher-Schemas: Rechtsquellen, Weihe und Ämter (I), Prozess (II), Kleriker-, Regularen- sowie Vermögensrecht (III), Eherecht (IV) und Strafrecht (V).148 144 Zum folgenden Überblick vgl. Le Bras u. a. (Anm. 24), S. 162–164; Foreville (Anm. 5), S. 287– 306; García y García (Anm. 128), S. 209–224; Szabolcs Anzelm Szuromi: A Turning Point in the History of the General Councils of the West in the 13th Century (A Critical Summary on the Importance of the Constitutions of the Fourth Lateran Council [1215] According to its Theological, Canonical and Historical Aspects). In: Folia theologica 14 (2003), S. 161–178; Ders.: The Constitutions of the Fourth Lateran Council (1215) according to its Theological, Canonical and Historical Aspects. In: Rivista internazionale di diritto comune 15 (2004), S. 185–199; Nicolás Álvarez de las Asturias: Una Iglesia dibujada canónicamente: las constituciones conciliares. In: El IV Concilio de Letrán. En perspectiva histórico-teológica. Hrsg. von dems. Madrid 2016, S. 71–112; Natale Loda: La legislazione del 1215 del Concilio Lateranense IV. I greci e i cristiani orientali fra tradizione ed innovazione del diritto canonico. In: Lateranum 82 (2016), S. 491–527. 145 Firenze, Biblioteca Mediceo-Laurenziana S. Croce IIIsin 6, fol. 96ra–107vb. Vgl. García y García (Anm. 46), S. 28; Ders. (Anm. 34), S. 17; Ders. (Anm. 128), S. 203–204. 146 Casus Parisienses. In: Constutiones Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum. Hrsg. von Antonio García y García. Città del Vaticano 1981 (Monumenta Iuris Canonici, Series A 2), S. 459–475, S. 465–466. 147 Christoph H. F. Meyer: Ordnung durch Ordnen. Die Erfassung und Gestaltung des hochmittelalterlichen Kirchenrechts im Spiegel von Texten, Begriffen und Institutionen. In: Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter. Hrsg. von Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter. Ostfildern 2006 (Vorträge und Forschungen 64), S. 303–411, S. 364–367. 148 Bernardus Papiensis: Summa decretalium. Hrsg. von Ernst A. Laspeyres. Regensburg 1860 (ND Graz 1956), S. 1–283, S. 2. Vgl. Jacoba J. H. M. Hanenburg: Decretals and Decretal Collec-
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Betrachtet man den Inhalt und die Abfolge der Konstitutionen von 1215 etwas genauer, dann fällt es zunächst einmal schwer, in dem betreffenden Text das Dekretalenschema wiederzuerkennen. Offensichtlich ist die Einteilung in fünf partes kein getreues Abbild des Fünf-Bücher-Schemas. Allerdings lassen sich gewisse Parallelen wie z. B. die Dominanz strafrechtlicher Materien im Schlussteil (cc.50–71) und im fünften Buch der Dekretalen nicht von der Hand weisen. Es wäre daher denkbar, dass das Dekretalenschema als wichtigste Ordnungskonfiguration der zeitgenössischen Kirchenrechtssammlungen einen gewissen Einfluss auf die Anordnung der Konzilsnormen ausgeübt hat, ohne jedoch ihre Abfolge durchgängig zu bestimmen. Die weitgehende Eigenständigkeit zeigt sich bei einem kurzen Gang durch den Text bereits, wenn man den Blick auf cc.1–4 lenkt, die aus Sicht der Florentiner Handschrift und der Casus Parisienses die prima pars novellarum bilden. Auffällig ist der theologische Impetus. Die vier Vorschriften umfassen ein Glaubensbekenntnis, die Verurteilung der Irrtümer des Joachim von Fiore und des Amalrich von Bena, eine Vorschrift über die Bestrafung von Häretikern und schließlich eine Konstitution, welche die Gültigkeit der Sakramentenspendung durch lateinische Priester mit Blick auf die Griechen urgiert. Aus Sicht der ersten drei Compilationes Antiquae ist die Spitzenstellung dieser Vorschriften ungewöhnlich.149 Innozenz (oder sein Redaktor) setzte hier neue Akzente und war dabei vielleicht vom Codex Justinianus beeinflusst, dessen Buch I mit 13 Titeln zu theologischen oder kirchlichen Fragen beginnt.150 Der entsprechend der Einteilung in fünf partes novellarum zweite große Abschnitt umfasst cc.5–22, die inhaltlich vor allem dem dritten und fünften Buch der Dekretalen zuzuordnen sind. Nun geht es um kirchenrechtliche Materien im eigentlichen Sinne. Nach einem Kapitel über die Patriarchate (c.5) rücken zunächst vor allem Bischof und Diözese (cc.6–11) in den Blick. Auffällig ist hier das Interesse an Fragen der Glaubensverkündigung, wenn man etwa an die Bestellung von Predigern an Kathedral- und Kollegiatkirchen (c.10) und von Magistern an Kathedralen (c.11) denkt.151 Im folgenden Block (cc.12–18) stehen Themen aus dem Recht der Religiosen (cc.12–13) – etwa das Verbot neuer Orden (c.13) – und Fragen der Klerikerdisziplin (cc.14–18) im Mittelpunkt des Interesses. Dazu zählen etwa Bestimmungen tions in the Second Half of the Twelfth Century. In: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 34 (1966), S. 552–599, S. 587. 149 Sie findet sich erst in der Compilatio Quarta (1216), deren erster Titel (De fide catholica) die ersten beiden Konstitutionen des IV. Lateranense umfasst. Vgl. 4 Comp. 1.1. 150 Vgl. Juan Antonio Bueno Delgado: La legislación religiosa en la compilación justinianea. Madrid 2015 (Monografías de Derecho Romano y Cultura Clásica, Derecho Público y Privado Romano). 151 Renzo Gerardi: »Regimen animarum«, predicazione e disciplina dei sacramenti al concilio Lateranense IV. In: Lateranum 82 (2016), S. 529–563, S. 532–533, S. 541–543, S. 552–554.
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über Enthaltsamkeit (c.14), Trunksucht und Jagd (c.15) sowie das Verbot, an Gottes urteilen mitzuwirken (c.18). Eine dritte Sequenz (cc.19–22) umfasst schließlich vier Vorschriften zu Fragen des Sakramentenrechts, zu denen auch das Gebot, mindestens einmal im Jahr die Beichte abzulegen (c.21), gehört.152 Setzt man die Lektüre fort, dann gelangt man zu cc.23–34, die in der Florentiner Handschrift und den Casus Parisienses als tertia pars zusammengefasst werden. Die betreffenden Normen verteilen sich in den Dekretalensammlungen auf Buch I und Buch III. Der Regelungsbestand zerfällt im Wesentlichen in zwei Sequenzen. In der ersten (cc.23–26) geht es im Rahmen des kirchlichen Ämterrechtes um Fragen der Wahl, während die zweite Sequenz (cc.27–33) vorrangig dem Pfründenrecht (cc.28– 32) und den zeitlichen Gütern (c.33) gewidmet ist. – Der vierte große Sinnabschnitt der Konzilskonstitutionen reicht aus Sicht der Gliederung in fünf Teile von c.35 bis c.49 und umfasst Material, das großenteils in Buch II der Dekretalen eingeordnet wurde und dementsprechend nicht zuletzt dem kanonischen Prozessrecht zuzurechnen ist. Dazu gehört etwa die Verpflichtung (c.38), alle prozessualen Handlungen zu protokollieren, oder das Erfordernis der Gutgläubigkeit bei Ersitzung (c.41). Wenngleich innerhalb dieses Normenbestandes fast keine größeren Themenblöcke erkennbar sind, fällt doch auf, dass sich der konziliare Gesetzgeber vor allem in cc.43–46 um eine Abgrenzung von der weltlichen Jurisdiktion bemüht. Das beginnt bei Fragen der Eidesleistung (c.43) und endet bei den Steuern (c.46). Den Abschluss bilden drei Vorschriften zu Exkommunikation und damit zusammenhängenden Fragen (cc.47–49). Mit cc.50–71 ist schließlich der letzte Teil des Normenbestandes erreicht. Die meisten dieser Vorschriften wurden in das fünfte Buch des Liber Extra übernommen. Nicht ohne weiteres in das Bild eines eher strafrechtlichen Schlussteils passen allerdings einige kleinere Themenblöcke in der ersten Hälfte des Abschnitts. Eine erste kurze Sequenz (cc.50–52) enthält wichtige eherechtliche Bestimmungen u. a. über die Einschränkung des Ehehindernisses der Verwandtschaft (c.50) und das Verbot klandestiner Ehen (c.51), während eine zweite (cc.53–56) dem Zehntrecht gewidmet ist. Darauf folgen cc.57–61, in denen es vor allem um einzelne Rechte der Religiosen geht, die mit Blick auf die Kompetenzen der Ortsbischöfe näher bestimmt werden. Nach einer Vorschrift (c.62) über Reliquienhandel und Ablässe, die bereits auf die folgende Materie verweist, richtet sich der Blick dann auf das Thema ›Simonie‹ (cc.63–66). Es bleiben fünf Kapitel, die unmittelbar oder mittelbar das Verhältnis zu Menschen betreffen, die außerhalb der Kirche stehen. Hier zeigt sich eine gewisse Parallele zu den ersten vier bzw. fünf Konstitutionen, in denen es vor allem um Häretiker und Orthodoxe geht. Nun richtet sich der Blick insbesondere auf die Nichtchristen. 152 Dazu siehe auch S. 77–78 und S. 89–92.
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Zunächst geht es in vier Vorschriften (cc.67–70) vorrangig um Juden und Muslime, näherhin um Zinsgeschäfte der Juden (c.67), um die Kennzeichnung von Juden und Muslimen anhand ihrer Kleidung (c.68), das gegen Juden und Heiden gerichtete Verbot (c.69), ein öffentliches Amt zu bekleiden und die Teilnahme jüdischer Konvertiten an rituellen Handlungen ihrer früheren Religion (c.70). Die Kanones des IV. Lateranense schließen mit der langen Konstitution Ad liberandam (c.71), in der für das übernächste Jahr zu einem neuen Kreuzzug ins Heilige Land aufgerufen wird und verschiedene damit in Zusammenhang stehende Regelungen (z. B. gegen Saraceni gerichtete Handelsverbote) getroffen werden.
4. Bekanntmachung der Konzilskonstitutionen und Ausgreifen des Kirchenrechts
Nach dem Gang durch den Normenbestand des IV. Lateranense wendet sich der Blick noch einmal dem Ausgangspunkt dieser Untersuchung zu, d. h. der Frage nach dem Vierten Laterankonzil als Einschnitt der kirchlichen Rechtsgeschichte. Wenn sich das IV. Lateranense nicht zuletzt durch seine Vorschriften als eine besondere Form der kirchlichen Gesetzgebung auszeichnet, dann stellt sich die Frage, inwieweit sich daraus auch seine (rechts)historische Bedeutung erklärt. Der Gedanke liegt nahe, die Ursachen oder Gründe dafür in der Wirkungsmacht der Konzilskonstitutionen zu suchen. Verfolgt man diesen Überlegungsansatz etwas weiter, dann könnte man zu dem Ergebnis gelangen, dass die Antwort auf die Ausgangsfrage nicht zuletzt in der Effektivität der kirchlichen Normgebung liegen dürfte, ist doch »die Durchsetzungschance des gebotenen Rechts das vornehmste Charakteristikum seiner historischen Realität« (F. Wieacker).153 Mit dem Gesichtspunkt der Effektivität des (geschriebenen) Rechts ist ein zentrales Problem der rechtshistorischen Mediävistik angesprochen, das seit den frühen 1970er Jahren zunächst mit Blick auf die spätantike und frühmittelalterliche Rechtsgeschichte diskutiert wurde.154 In den letzten Jahrzehnten hat sich der Fokus entspre153 Franz Wieacker: Zur Effektivität des Gesetzesrechts in der späten Antike. In: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971. Bd. 3. Göttingen 1972 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36,3), S. 546–566, S. 548. 154 Dazu vgl. u. a. Wieacker (Anm. 153); Clausdieter Schott: Pactus, Lex und Recht. In: Die Alemannen in der Frühzeit. Hrsg. von Wolfgang Hübener. Bühl, Baden 1974 (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg im Breisgau 34), S. 135–168; Hermann Nehlsen: Aktualität und Effektivität der ältesten germanischen Rechtsaufzeichnungen. In: Recht und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Peter Classen. Sigmaringen 1977 (Vorträge und Forschungen 23), S. 449–502; Harald Siems: Zu Problemen der Bewertung frühmittelalterlicher Rechtstexte. In: ZRG GA 106 (1989), S. 291–305.
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chender Fragestellungen nicht zuletzt in Richtung der spätmittelalterlichen Konziliengeschichte verschoben.155 Unter diesen Vorzeichen betrachtet bietet es sich prima facie an, den Blick auf die Rolle der Kanones von 1215 in der ›Rechtswirklichkeit‹ zu lenken. Ob damit viel für die Lösung des hier interessierenden Problems gewonnen wäre, ist allerdings eine ganz andere Frage, und das nicht nur, weil viele Vorschriften des IV. Lateranense bis in das sechzehnte Jahrhundert nicht konsequent angewendet wurden. Natürlich kann man den Maßstab moderner Vorstellungen und Begriffe wie ›Effektivität‹ und ›Rechtswirklichkeit‹ an die sogenannte Vormoderne anlegen und – erwartungsgemäß – zu negativen Befunden gelangen. Doch wird man damit einem Phänomen wie der Konzilsgesetzgebung von 1215 historisch kaum gerecht. Ungleich sinnvoller erscheint gerade mit Blick auf die sich unter Innozenz III. andeutende Wende zur Gesetzgebung eine andere Frage, der im Folgenden etwas genauer nachgegangen werden soll, und zwar, inwiefern sich in den Normen selbst, d. h. in den Konstitutionen von 1215, ein (rechts)historisch bedeutsamer Durchsetzungswille des Gesetzgebers zeigt, der nicht zuletzt in der Sorge um die Kenntnis des neuen Rechts als Voraussetzung für seine Anwendung zum Ausdruck kommt. Konkret ist zu fragen: Welche Rolle spielt die Bekanntmachung der betreffenden Normen in den Konzilstexten und welche Zwecke verfolgte der Gesetzgeber damit? Aus der Antwort darauf ergeben sich womöglich Hinweise zur Lösung einer weitergehenden Frage, und zwar, ob diese Bemühungen um Wirksamkeit auf eine allgemeine Richtung oder Tendenz hindeuten, welche die Normgebung von 1215 als Teil umfassenderer Entwicklungen innerhalb der kirchlichen Rechtsgeschichte zu erkennen gibt und insofern weitergehende Aufschlüsse über ihre historische Bedeutung vermittelt. 4.1 Die Sorge des Gesetzgebers um die Kenntnis seiner Vorschriften Um die gerade umrissene Aufgabe zu lösen, gilt es zunächst, etwas allgemeiner bei einem Gegenstand anzusetzen, der in engem sachlichen und historischen Zusam155 Johanek (Anm. 34), insbesondere S. 89 (grundlegend); Enno Bünz: »Die Kirche im Dorf lassen …«. Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen. In: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft. Hrsg. von Werner Rösener. Göttingen 2000 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 156), S. 77–167, S. 90–91; Johannes Helmrath: Partikularsynoden und Synodalstatuten des späteren Mittelalters im europäischen Vergleich. Vorüberlegungen zu einem möglichen Projekt. In: Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik. Hrsg. von Michael Borgolte. Berlin 2001 (Europa im Mittelalter 1), S. 135–169, S. 164–165; Unger (Anm. 18). Ferner vgl. Peter Wiegand: Diözesansynoden und bischöfliche Statutengesetzgebung im Bistum Kammin. Zur Entwicklung des partikularen Kirchenrechts im spätmittelalterlichen Deutschland. Köln u. a. 1998 (Forschungen zur pommerschen Geschichte 52), S. 52–68.
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menhang mit der päpstlichen Gesetzgebung steht,156 und zwar bei der Publikation oder Promulgation von kirchenrechtlichen Vorschriften.157 Die feierliche Bekanntmachung einer kanonischen Norm war im Hoch- und Spätmittelalter nicht an eine bestimmte Form gebunden. Sie konnte mündlich z. B. durch öffentliches Verlesen (z. B. auf einem Konzil) oder schriftlich etwa durch Versendung (z. B. an Bischöfe oder Universitäten), Registereintrag oder Anschlag an bestimmte Gebäude (z. B. sogenannte promulgatio in acie Campi Florae in Rom) erfolgen. Da Gesetz und Gesetzgebung erst allmählich Gegenstand gelehrter Reflexion und rechtlicher Normierung wurden, kann man für die Publikation von Gesetzen im zwölften oder dreizehnten Jahrhundert keine allgemein befolgten Regeln voraussetzen. Eine Vorstellung von der Bedeutung des Vorgangs ist jedoch schon bei Gratian fassbar: Leges instituuntur, cum promulgantur, firmantur, cum moribus utentium approbantur (D.4 p.c.3.).158 Lässt man einmal den zweiten Teil der Sentenz, der nicht nur mit Blick auf die Rezeption kirchenrechtlicher Normen, sondern auch hinsichtlich des Effektivitätsproblems von Interesse ist,159 unberücksichtigt und betrachtet nur den ersten Teil, dann geht aus dem Dictum Gratiani klar hervor, dass kirchliche Gesetze einer wie auch immer gearteten Bekanntmachung bedürfen.
156 Johann Friedrich Schulte: Das katholische Kirchenrecht. Bd. 1: Die Lehre von den Quellen des katholischen Kirchenrechts [...]. Gießen 1860, S. 76–78. 157 Georg Phillips: Kirchenrecht. Bd. 5. Regensburg 1854, S. 54–62; Paul Hinschius: System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland. Bd. 3. Berlin 1883 (Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland 3), S. 774–777; Martin Nicholas Lohmuller: The Promulgation of Law. Washington D. C. 1947 (The Catholic University of America, Canon Law Studies 241), S. 57–73; Johanek (Anm. 34); Piero Pellegrino: La pubblicazione della legge nel diritto canonico. Mailand 1984 (Università degli Studi di Lecce, Studi di diritto pubblico, Quaderni 13), S. 61–167; Armin Wolf: Publikation von Gesetzen. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 85–92; Bertram (Anm. 64), S. 64–67; Tilmann Schmidt: Publikation und Überlieferung des Liber Sextus Papst Bonifaz’ VIII. In: Proceedings of the Twelfth International Congress of Medieval Canon Law, Washington, D. C. 1–7 August 2004. Hrsg. von Uta-Renate Blumenthal u. a. Città del Vaticano 2008 (Monumenta Iuris Canonici, Series C 13), S. 567–579; Sz. Anzelm Szuromi: Remarques concernant la necessité de la promulgation de la loi ecclésiastique. In: Periodica de re canonica 98 (2009), S. 565–580. 158 Dazu vgl. Piero Pellegrino: Il concetto di »promulgatio« nella »Summa Theologiae« di San Tommaso d’Aquino. Dal Diritto Romano al Decreto di Graziano. In: Ius Canonicum 19 (1979), S. 265–313 (vgl. Pellegrino [Anm. 157], S. 27–85). Ferner vgl. C.25 q.2 c.18 (Nikolaus I a. 863 ( J3 5857 [ JE 2747]). 159 Luigi De Luca: L’accettazione popolare della legge canonica nel pensiero di Graziano e dei suoi interpreti. In: Studia Gratiana 3 (1955), S. 193–276; Brian Tierney: »Only the Truth has Authority«: The Problem of the »Reception« in the Decretists and in Johannes de Turrecremata. In: Law, Church and Society. Essays in Honor of Stephan Kuttner. Hrsg. von Kenneth Pennington/ Robert Somerville. Philadelphia 1977, S. 69–96.
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Ausgehend von den eben genannten Beispielen für eine förmliche Publikation lässt sich die Natur eines solchen Vorgangs ex negativo etwas näher bestimmen. Denn es ist klar, dass die betreffenden Verfahren und Techniken für sich allein genommen nicht dazu geeignet waren, eine allgemeine Bekanntheit der publizierten Normen herbeizuführen, auch wenn feierlich bekannt gemachte Texte als Vorlagen für die handschriftliche Überlieferung durchaus eine wichtige Rolle spielen konnten. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Verbreitung von Rechtswissen nicht die einzige Funktion der Promulgation war, wenn man etwa an den Beweis oder die symbolisch-rituelle Darstellung des Gesetzgebungsaktes denkt. Tatsächlich war die Autorität neuer kirchenrechtlicher Vorschriften aber auch gar nicht davon abhängig, ob sie flächendeckend publik gemacht worden waren.160 Vielmehr ging das Kirchenrecht gemäß dem römischrechtlichen Grundsatz ignorantia iuris nocet davon aus, dass jedermann zur Kenntnis des Rechts verpflichtet ist.161 Allerdings sind in der kanonistischen Literatur Unterschiede gegenüber der Legistik erkennbar.162 So waren die Kanonisten in stärkerem Maße als die Legisten bereit, Ausnahmen von dem gerade erwähnten Prinzip zuzulassen. Das zeigt sich etwa in einer theologisch motivierten Tendenz, die Bewertung des Rechtsirrtums bzw. der Rechtsunkenntnis stärker von der Fähigkeit, ein entsprechendes Wissen zu erlangen, abhängig zu machen.163 Damit rückten mittelbar vor allem die literaten Kleriker, von 160 X.1.5.1 (Innozenz III.). Vgl. Pellegrino (Anm. 157), S. 87–114. 161 Hans Kiefner: Die gegenwärtige Bedeutung der Maxime »nul n’est censé ignorer la loi«. In: Deutsche Landesreferate zum VII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Upsala 1966. Hrsg. von Ernst von Caemmerer/Konrad Zweigert. Berlin, Tübingen 1967 (Sonderveröffentlichung von Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht), S. 87–97; Laurens C. Winkel: Error iuris nocet: Rechtsirrtum als Problem der Rechtsordnung. Bd. 1: Rechtsirrtum in der griechischen Philosophie und im römischen Recht bis Justinian. Zutphen 1985 (Studia amstelodamensia ad epigraphicam, ius antiquum et papyrologicam pertinentia 25); Ders.: Vorbemerkungen zum Thema Rechtsirrtum in der mittelalterlichen Jurisprudenz, zugleich ein Thema aus der Geschichte der Rechtsideologie. In: Ius Commune 13 (1985), S. 69–82. Ferner vgl. Theo Mayer-Maly: Rechtsirrtum. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 302–307. Zu den Ausnahmen siehe unten S. 78. 162 Zum Folgenden vgl. Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. Systematisch auf Grund der handschriftlichen Quellen dargestellt. Città del Vaticano 1935 (Studi e testi 64), S. 163–175; Odon Lottin: Le problème de l’ »ignorantia iuris« de Gratien à Saint Thomas d’Aquin. In: Ders.: Psychologie et morale aux XIIe et XIIIe siècles. Bd. 3,1. Löwen, Gembloux 1949, S. 53–96. Zum römischen Recht vgl. Theo Mayer-Maly: Rusticitas. In: Studi in onore di Cesare Sanfilippo. Bd. 1. Mailand 1982 (Università di Catania, Pubblicazioni della Facoltà di giurisprudenza 96), S. 307–347; Franck Roumy: L’ignorance du droit dans la doctrine civiliste des XIIe–XIIIe siècles. In: Cahiers de recherches médiévales (XIIIe–XVe s.) 7 (2000), S. 23–43. 163 Lottin (Anm. 162), S. 53–96. Vgl. auch Raynerius de Pisis: Pantheologia. Hrsg. von Jean Nicolai. Bd. 2. Lyon 1670, s. v. De ignorantia, cap. VI § III, S. 621–622.
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denen zumindest eine gewisse Rechtskenntnis verlangt und erwartet werden konnte, in den Mittelpunkt des Interesses.164 Soweit zu der Publikation oder Promulgation kirchlicher Gesetze. Schon die frühneuzeitliche Kanonistik hat von der promulgatio legis eine divulgatio legis unterschieden,165 d. h. die nochmalige oder gar mehrmalige Bekanntmachung einer Vorschrift, nachdem diese bereits feierlich publiziert worden war. Tatsächlich finden sich Belege für entsprechende Vorgaben, die auf die Information eines möglichst großen Personenkreises z. B. durch das Verlesen von Normen in Kirchen oder an anderen zentralen Orten166 abzielen, sowohl in der Epoche der klassischen Kanonistik als auch in nachklassischer Zeit, sei es im Spätmittealter oder sei es in der Neuzeit.167 Die Unterscheidung zwischen promulgatio und divulgatio dient nicht zuletzt dazu, diesen Phänomenen begrifflich gerecht zu werden, ohne den Gedanken, demzufolge die Publikation nicht auf eine flächendeckende effektive Bekanntmachung gerichtet ist, in Frage zu stellen.168 Bei genauerer Betrachtung bleiben allerdings einige Fragen offen, die sich durch die spätscholastische Distinktion nicht lösen lassen. Wenn die promulgatio essentieller Bestandteil einer Konstitution und insofern Voraussetzung dafür war, dass die Rechtsunterworfenen zur Befolgung der publizierten Vorschriften verpflichtet wer164 Das gilt insbesondere für die Bischöfe, die verpflichtet waren, ihren Diözesanen den Inhalt promulgierter Gesetze bekannt zu machen. Vgl. D.20 c.2 (Nikolaus I a. 862 ( J3 5769 [ JE 2691]). 165 So z. B. Francisco Suárez: De legibus ac deo legislatore/Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Liber tertius: De lege positiva humana/Drittes Buch: Über das menschliche positive Gesetz, Teil I. Hrsg. und übers. von Oliver Bach u. a. Stuttgart, Bad Cannstatt 2014 (Politische Philosophie und Rechtstheorie des Mittelalters und der Neuzeit, Reihe I: Texte 6), Lib. III cap. 16 n. 3, S. 330. Vgl. Wim Decock: Theologians and Contract Law. The Moral Transformation of the Ius Commune (ca. 1500–1650). Leiden, Boston 2013 (Legal History Library 9/Studies in the History of Private Law 4), S. 58. Zur modernen Unterscheidung von formeller und materieller Publikation vgl. Timo Holzborn: Die Geschichte der Gesetzespublikation insbesondere von den Anfängen des Buchdrucks um 1450 bis zur Einführung von Gesetzesblättern im 19. Jahrhundert. Berlin 2003 ( Juristische Reihe Tenea 39), S. 5–6. 166 Heiner Lück: Verkündplätze. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5. Berlin 1998, Sp. 748–750; Ders.: Verlesen von Rechtssatzungen. Ebd., Sp. 760–761; Gabriela Signori: Sakral oder profan? Der Kommunikationsraum Kirche. In: The Use and Abuse of Sacred Places in Late Medieval Towns. Hrsg. von Paul Trio/Marjan De Smet. Löwen 2006 (Mediaevalia Lovaniensia, Series I: Studia 38), S. 117–134, S. 121. 167 Phillips (Anm. 157), S. 75–79; Hinschius (Anm. 157), S. 780–781; Rudolf von Scherer: Handbuch des Kirchenrechtes. Bd. 1. Graz 1886, S. 164; Bernardus Lijdsman: Introductio in jus canonicum cum uberiore fontium studio. Bd. 2. Hilversum 1929, S. 413, S. 420–421. 168 Anderenfalls könnte man womöglich – wie schon in der Frühen Neuzeit gallikanische und febronianische Autoren – zu der Auffassung gelangen, dass die Rechtsunterworfenen nur bei flächendeckender Bekanntmachung zur Befolgung einer Vorschrift verpflichtet sind.
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den konnten, wie erklärt es sich dann, dass im Kirchenrecht in manchen Fällen noch eine rechtlich relevante divulgatio vorgesehen war?169 Erinnert sei hier nur an c.22 des Vierten Laterankonzils.170 In dieser Vorschrift über die Tätigkeit von Ärzten ist die Bekanntmachung der darin getroffenen Regelung durch die örtlichen Kirchenoberen Voraussetzung für den Eintritt bestimmter kanonischer Strafen. Der Befund fordert zu einer weitergehenden Vergewisserung mit Blick auf die Texte von 1215 heraus. Welche Funktion kommt aus Sicht der Konzilskonstitutionen einer wiederholten Bekanntmachung von Normen zu? Antwort darauf geben abgesehen von der Ärzteregelung vier weitere Bestimmungen des Vierten Laterankonzils, in denen angeordnet wird, dass eine bestimmte Vorschrift regelmäßig (cc.6, 64, 71) oder oft (c.21) bekannt gemacht wird. Vergewissert man sich des Wortlauts dieser Bestimmungen, dann stellt man fest, dass eine solche Vorgehensweise unterschiedlichen Zwecken dienen kann. Gut erkennbar sind diese in den Kanones über die jährliche Beichte (c.21) und den simonistischen Eintritt in ein Kloster (c.64). C.21 setzt fest, dass alle erwachsenen Gläubigen mindestens einmal im Jahr einem Priester allein und getreulich ihre Sünden beichten, die ihnen auferlegte Buße erfüllen und zumindest zu Ostern das Sakrament der Eucharistie empfangen müssen.171 Anderenfalls wird ihnen, solange sie leben, der 169 Christoph H. F. Meyer: Kanonistik im Zeitalter von Absolutismus und Aufklärung. Spielräume und Potentiale einer Disziplin im Spannungsfeld von Kirche, Staat und Publizität, S. 35–36. Max Planck Institute for European Legal History Research Paper Series, 2012-06. http://dx.doi. org/10.2139/ssrn.2184754, letzter Zugriff 08.01.2016. 170 4 Conc. Lat. c. 22: Si quis autem medicorum huius nostre constitutionis, postquam per prelatos locorum fuerit publicata, transgressor extiterit, tamdiu ab ingressu ecclesie arceatur, donec pro transgressione hui usmodi satisfecerit competenter. Vgl. X 5.38.13; Phillips (Anm. 157), S. 76; Hinschius (Anm. 157), S. 779, Anm. 4; Norbert Brieskorn: Heilen und Kontrollieren. Die Dekretale Cum infirmitas – Ihre Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. In: ZRG KA 89 (2003), S. 363–414, S. 366. 171 4 Conc. Lat. c. 21: Omnis utriusque sexus fidelis, postquam ad annos discretionis peruenerit, omnia sua solus peccata confiteatur fideliter, saltem semel in anno, proprio sacerdoti, et iniunctam sibi penitentiam studeat pro uiribus adimplere, suscipiens reuerenter ad minus in Pascha eucharistie sacramentum, nisi forte de consilio proprii sacerdotis ob aliquam rationabilem causam ad tempus ab eius perceptione duxe rit abstinendum; alioquin et uiuens ab ingressu ecclesie arceatur et moriens christiana careat sepultura. Vnde hoc salutare statutum frequenter in ecclesiis publicetur, ne quisquam ignorantie cecitate uelamen excusationis assumat. Vgl. X 5.38.12; Nicole Bériou: Autour de Latran IV (1215): la naissance de la confession moderne et sa diffusion. In: Pratiques de la confession. Des pères du désert à Vatican II. Quinze études d’histoire. Paris 1983, S. 73–93; Brian Ferme: Dal Decretum Gratiani al Lateranense IV: Origine dell’obbligo della confessione. In: La penitenza tra Gregorio VII e Bonifacio VIII. Teologia – Pastorale – Istituzioni. Hrsg. von Roberto Rusconi u. a. Città del Vaticano 2013 (Monumenta studia instrumenta liturgica 72), S. 127–155; Claudio Canonici: Hoc salutare statutum frequenter in ecclesiis publicetur. La ricezione del canone XXI De confessione nella normativa sinodale pre-tridentina (secoli XIII–XV). In: Lateranum 82 (2016), S. 575–599.
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Zugang zur Kirche und nach ihrem Tode ein christliches Begräbnis verwehrt. Demgegenüber sieht c.64 für alle, die sich gegen Bezahlung Aufnahme in ein Kloster verschaffen oder eine solche gewähren, vielfältige, bis zu Ausschluss und lebenslanger Buße reichende Strafen vor.172 In beiden Vorschriften wird der Zweck der Bekanntmachung im Anschluss an die angedrohte Sanktion genau genannt: Niemand soll sich durch Unkenntnis (ignoran tia) oder Einfalt (simplicitas) entschuldigen können. Gedacht ist hier offenbar an Entschuldigungsgründe, die jemand geltend macht, um der für den Fall der Nichtbefolgung vorgesehenen Sanktion zu entgehen. Die Publikation dient also mittelbar dazu, dass die angedrohte Strafe auch zur Anwendung gelangen kann. Die besondere Stoßrichtung gegen ignorantia und simplicitas setzt eine ältere kanonistische Tradition voraus, die schon bei Gratian fassbar wird.173 Dieser war bereit, bei Unkenntnis des menschlichen, weltlichen wie kirchlichen Rechts für einzelne nicht näher bestimmte Personengruppen von dem Grundsatz, demzufolge Rechtsunkenntnis schadet, Ausnahmen zuzulassen. Anknüpfend an das römische Recht finden sich in der kanonistischen Literatur seit den späten 1160er Jahren Versuche, die betreffenden Gruppen näher einzugrenzen.174 Dass ein durch die kanonistische Lehre von der ignorantia iuris geschärftes Problembewusstsein den Hintergrund der betreffenden Begründungen in c.21 und c.64 bildete, ist sehr wahrscheinlich. Dafür spricht mittelbar auch eine andere Besonderheit der beiden Konstitutionen, die auf die Ärztebestimmung c.22 gleichfalls zutrifft, und zwar dass sich die Vorschriften nicht wie die meisten anderen Kanones des IV. Lateranense vorrangig an Kleriker richten, sondern auch oder sogar in erster Linie an Laien. Der Beichtkonstitution ist dies klar zu entnehmen (omnis utriusque sexus fide lis), und für die damit in engem sachlichen Zusammenhang stehende Ärztevorschrift wird man das Gleiche annehmen dürfen. Ebenso für c.64. Diese Konstitution stellt sich gegenüber der vorangehenden Bestimmung c.63, in der es um die simonistische Weihe von Bischöfen, Äbten und Klerikern geht, als Spezialnorm dar und zielt wohl 172 4 Conc. Lat. c. 64: Quoniam simoniaca labes adeo plerasque moniales infecit ut uix aliquas sine pretio recipiant in sorores paupertatis prætextu, uolentes huiusmodi uitium palliare, ne id de cetero fiat, peni tus prohibemus, statuentes ut quecumque de cetero talem commiserit prauitatem, tam recipiens quam recepta, siue sit subdita siue prelata, sine spe restitutionis de suo monasterio expellatur, in locum arctioris regule, ad agendum perpetuo penitentiam, retrudenda. […] Hoc etiam circa monachos et alios regulares decernimus obseruandum. Verum ne per simplicitatem uel ignorantiam se ualeant excusare, precipimus ut diocesani episcopi singulis annis hoc faciant per suas dioceses publicari. Vgl. X 5.3.40. 173 C.1 q.4 p.c. 12. 174 Zur Literatur siehe oben Anm. 151–153. Entsprechende Unterscheidungen spiegeln sich noch in der Summa iuris canonici des Raymund von Peñafort wider. Vgl. Raimundus de Pennaforte: Summa de iure canonico. Hrsg. von Xaverio Ochoa/Aloisio Diez. Rom 1975 (Universa bibliotheca iuris 1 A), Pars I, tit. XII n. 3–4, Sp. 37–40.
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in erster Linie auf Ordensleute im Laienstand ab. Das legt nicht zuletzt die Tatsache nahe, dass in c.64 zunächst nur weibliche Religiosen angesprochen werden und die mit Blick auf sie getroffenen Regelungen am Ende der Vorschrift auch auf Mönche und andere Regularen Anwendung finden. Wenn es noch eines zusätzlichen Belegs bedarf, dass das in den drei Kanones erkennbare Interesse an einer intensivierten Bekanntmachung in engem Zusammenhang mit den laikalen Normadressaten steht, dann liefert diesen die 1253 vollendete Summe des Hostiensis. In diesem Werk vertritt der Verfasser die Auffassung, dass Frauen, Bauern, Soldaten und andere simplices Rechtsunkenntnis geltend machen können.175 Diese Personen sind seiner Ansicht nach auch der Grund, weshalb Gesetze oft auf Konzilien bekannt gemacht werden, und zum Beleg dafür verweist er u. a. auf die in den Liber Extra aufgenommenen c.64 und c.71 des IV. Lateranense. Mit der letztgenannten Bestimmung ist die vierte hier zu betrachtende Vorschrift angesprochen. Der Kreuzzugskonstitution (c.71) zufolge unterliegen Personen, die den Sarazenen bestimmte Waren (z. B. Waffen) verkaufen oder ihnen z. B. als Seeleute Dienste leisten, die für die Kriegsführung gegen die Christen im Heiligen Land von Bedeutung sind, u. a. der Exkommunikation.176 Von Interesse ist im vorliegenden Zusammenhang die sich daran anschließende Ausführungsbestimmung, und zwar soll diese sententia, d. h. die Exkommunikation, in allen Seestädten an Sonn- und Feiertagen erneuert werden.177 Der Ausdruck sententia lenkt den Blick auf das Besondere der Vorschrift. Sie steht in engem Zusammenhang mit den im dreizehnten Jahrhundert weitverbreiteten sogenannten Processus generales oder Generalexkommunikationen.178 175 Heinrich von Segusio (Hostiensis): Summa una cum summariis et additionibus Nicolai Superantii. Lyon 1537 (ND Aalen 1962), Super rubr., De constitutionibus, n. 13, fol. 5vl. 176 Zu dieser Vorschrift vgl. Stefan K. Stantchev: Spiritual Rationality. Papal embargo as cultural practice. Oxford 2014, S. 58–61 (mit weiterer Literatur). 177 4 Conc. Lat. c. 71: Excommunicamus preterea et anathematizamus illos falsos et impios christianos qui contra ipsum Christum et populum christianum Saracenis arma ferrum et lignamina deferunt galearum; eos etiam qui galeas eis uendunt uel naues, quique in piraticis Saracenorum nauibus curam gubernationis exercent uel in machinis aut quibuslibet aliis aliquod eis impendunt consilium et auxilium in dispen dium Terre Sancte, ipsosque rerum suarum priuatione mulctari, et capientium seruos fore censemus. Pre cipientes ut per omnes urbes maritimas diebus dominicis et festiuis huiusmodi sententia publice innouetur, et talibus gremium non aperiatur ecclesie, nisi totum quod ex commercio tam dampnato perceperint, et tantundem de suo in subsidium predicte Terre transmiserint, ut equo iudicio in quo deliquerint punian tur. Vgl. X 5.6.12. 178 Mathias Hausmann: Geschichte der päpstlichen Reservatfälle. Ein Beitrag zur Rechts- und Sittengeschichte. Regensburg u. a. 1868, S. 89–106; Hinschius (Anm. 157). Bd. 5. Berlin 1895, S. 135–140; Peter Huizing: The Earlies Development of Excommunication Latae Sententiae by Gratian and the Earliest Decretists. In: Studia Gratiana 3 (1955), S. 277–320, insbesondere S. 315–317; Christian Jaser: Ecclesia maledicens. Rituelle und zeremonielle Exkommunikationsformen im Mittelalter. Tü-
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Die Ursprünge dieses sich mit der Exkommunikation als Tatstrafe (poena latae sententiae) zum Teil berührenden Sanktionsinstruments liegen in der sich seit dem frühen zwölften Jahrhundert herausbildenden Praxis, dass Päpste oder Bischöfe, aber auch Konzilien allgemeine, d. h. nicht namentliche Exkommunikationen in Hinblick auf bestimmte bereits begangene oder noch zu begehende Delikte aussprachen. Im Gegensatz zur Exkommunikation latae sententiae, die aufgrund einer allgemeinen Vorschrift von selbst eintrat, beruhte die Generalexkommunikation letztlich auf einer richterlichen Entscheidung, die es gerade auch wegen der Weite des potentiell betroffenen Personenkreises besonders zu verkünden galt. In diesem Zusammenhang kam es zur Ausprägung vor allem einer Form der Bekanntmachung. Schon vor 1226 war es, wie ein Schreiben Honorius’ III. an Friedrich II. belegt, üblich, dass der Papst in Rom zu bestimmten Kirchenfesten die Exkommunikation von Straßenräubern öffentlich verkündete.179 Aus dieser Praxis und der erstmals 1229 belegten Zusammenstellung der einzelnen Processus generales180 entwickelte sich die öffentliche Publikation der Generalexkommunikationen an Gründonnerstag zunächst in Rom und später auch außerhalb der Stadt in allen Kirchen, wo eine entsprechende Aufstellung zur Verlesung kam, die seit dem fünfzehnten Jahrhundert auch als Abendmahlsbulle (In coena Domini) bezeichnet wurde.181 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wird der größere Zusammenhang, in dem die Publikationsbestimmung der Kreuzzugskonstitution steht, etwas klarer. Er lässt sich durch einen Vergleich mit dem III. Lateranense noch genauer bestimmen, wurden doch die in c.71 behandelten Vergehen zum Teil schon 1179 mit derselben Sanktion bedroht.182 Während jedoch das III. Lateranense nur eine ›häufige und fei-
bingen 2013 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation/Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation 75), S. 359–373; Ders.: Ostensio exclusionis. Die päpstliche Generalexkommunikation zwischen kirchenrechtlicher Innovation und zeremoniellem Handeln. In: Die Päpste. Bd. 1: Amt und Herrschaft in Antike, Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von Bernd Schneidmüller u. a. Regensburg 2016 (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen 74), S. 357–383. 179 Epistolae saeculi XIII e regestis pontificum romanorum selectae. Hrsg. von Carl Rodenberg. Bd. 1. Berlin 1883 (MGH Epp. saec. XIII 1), Ex Honorio III registro, Nr. 306, S. 233, Z. 20–24 (Potth. 7601). 180 Ebd., Ex Gregorio IX registro, Nr. 399, S. 318–320 (Potth. 8445). 181 Zur Geschichte der Abendmahlsbulle im Mittelalter vgl. Emil Göller: Die päpstliche Pönitentiarie von ihrem Ursprung bis zu ihrer Umgestaltung unter Pius V. Bd. 1,1. Rom 1907, S. 242–277; Bd. 2,1. Rom 1911, S. 190–208; Agostino Paravicini Bagliani: La loggia di giustizia al Laterano e i processi generali di scomunica. In: Rivista di storia della Chiesa in Italia 59 (2005), S. 377–428 (ND Ders.: Il potere del Papa. Corporeità, autorappresentazione, simboli. Florenz 2009 [Millennio medievale 78/Strumenti e studi N. S. 21], S. 153–214); Jaser (Anm. 178), S. 374–404. 182 Göller (Anm. 168). Bd. 1, S. 257.
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erliche Exkommunikation‹ in den Kirchen aller Seestädte vorsah,183 wird in der entsprechenden Vorschrift des Vierten Laterankonzils diese Bestimmung präzisiert und verschärft. Die intensivierten Bemühungen um ein weitverbreitetes Wissen um Vergehen und Sanktion sind deutlich erkennbar und reichen vor das Jahr 1215 zurück. Das zeigt der Wortlaut des betreffenden Passus in c.71, der sich bereits in Innozenz’ Kreuzzugsaufruf vom April 1213 (Bulle Quia maior nunc) findet.184 Doch ändert die Existenz von Vorläuferbestimmungen wie im Falle von c.71 nichts daran, dass in den Konzilstexten von 1215 ein besonderes Interesse an Publikation und Offenkundigkeit manifest ist. Dies zeigt sich nicht nur in den bisher betrachteten Vorschriften, sondern auch in zwei weiteren Konstitutionen (c.24 und c.51), in denen es nicht um die Bekanntmachung von Normen, sondern von Rechtsakten geht. Das betrifft zum einen die kanonische Wahl (c.24), zum anderen beabsichtigte Eheschließungen, die gemäß c.51 von dem örtlichen Priester öffentlich verkündet werden müssen, so dass jedermann ihm bekannte Ehehindernisse, die der Verbindung entgegenstehen, zur allgemeinen Kenntnis bringen kann.185 Diese Aufgebotspflicht, die zuvor bereits als partikulare Gewohnheit existierte, wurde durch das Konzil zu einer universalen Vorschrift erhoben. Sie zielt nicht nur auf verborgene Ehehindernisse ab, sondern ist generell gegen klandestine Ehen gerichtet.186 In diesem Punkt berührt sich c.51 mit dem erstgenannten Kanon (c.24) über die Wahlanzeige, durch die elec tiones clandestinae verhindert werden sollen. In beiden Konzilskonstitutionen zeigt sich der Gesetzgeber bemüht, heimliche (Rechts-)Handlungen, aus denen Konflikte oder Missstände erwachsen können, zu unterbinden, indem er die Beteiligten oder kirchliche Amtsträger verpflichtet, rechtlich relevantes Tatsachenwissen der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Diese Be-
183 Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta. Editio critica. Bd. 2: The General Councils of Latin Christendom. Teil 1: From Constantinople IV to Pavia-Siena (869–1424). Hrsg. von Antonio García y García u. a. Turnhout 2013 (Corpus Christianorum), 3 Conc. Lat. c.24, S. 144, Z. 403–405: Praecipimus autem ut per ecclesias maritimarum urbium crebra et solemnis in eos excom municatio proferatur. 184 Innocentius III: Quia major nunc. In: Patrologia latina. Bd. 216. Paris 1855, Sp. 817–822, Sp. 820C. Vgl. Potth. 4725; Tangl (Anm. 10), S. 95, Z. 6–8. 185 James B. Roberts: The Banns of Marriage. An historical synopsis and commentary. Washington 1931 (The Catholic University of America, Canon Law Studies 64), S. 9–16. 186 Werner Ogris: Aufgebot (privatrechtlich). In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. Berlin 1971, Sp. 247–250; Ders.: Aufgebot. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 331–332. Zu den clandestina matrimonia vgl. Rudolf Weigand: Klandestinenehe. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München, Zürich 1991, Sp. 1192; Christina Deutsch: Illegale Eheschließungen und gültige Ehen. Die Ehestatuten der Salzburger Kirchenprovinz (1215–1515). In: Archiv für katholisches Kirchenrecht 173 (2004), S. 353–383.
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mühungen um Publizität187 als Ressource und Instrument des Rechts berühren sich mit einem allgemeineren, in den Konstitutionen des IV. Lateranense erkennbaren Interesse an Fragen der öffentlichen Kommunikation, wenn man etwa an die Vorschriften über Predigt und Prediger denkt.188 Auch wenn die betreffenden Regelungen unterschiedlichen Gegenständen gelten, ist doch ein grundsätzliches Bemühen erkennbar, durch rechtliche oder religiöse Information Kontrolle auszuüben oder ein normkonformes Verhalten sicherzustellen.189 In den bisher betrachteten Vorschriften spielten Laien als Normadressaten eine besondere Rolle, sei es, dass die betreffenden Bestimmungen auch oder gar vorrangig an sie gerichtet waren (cc.21–22, 64), oder sei es, dass ihnen bestimmte Sanktionen angedroht wurden (c.71). Nicht zuletzt aus diesem Umstand erklärt sich wohl die in den Vorschriften vorgesehene intensive Form der Bekanntmachung. Demgegenüber stellt sich die letzte hier zu betrachtende Konzilskonstitution in mancherlei Hinsicht anders dar. – C.6 verpflichtet zunächst alle Metropoliten, d. h. Erzbischöfe, mit ihren Suffraganbischöfen jährlich Provinzialkonzilien zu feiern, auf denen über die Beseitigung von Missständen und die Wiederherstellung der Disziplin insbesondere des Klerus, d. h. über Grundanliegen des IV. Lateranense, zu beraten ist.190 Auf diesen Versammlungen sollen sie canonicae regulae und insbesondere die Bestimmungen des Vierten Laterankonzils verlesen lassen, um so ihre Befolgung sicherzustellen, und Delinquenten die gebührende Strafe auferlegen.191 In einem zweiten Schritt geht es dann 187 Werner Ogris: Publizität. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 92–95; Albrecht Cordes: Publizität. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München 1995, Sp. 318–319. Ferner vgl. Christoph H. F. Meyer: Das Publicum als Instrument spätmittelalterlicher Justiz. In: Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter. Hrsg. von Martin Kintzinger/ Bernd Schneidmüller. Ostfildern 2011 (Vorträge und Forschungen 75), S. 87–145. 188 4 Conc. Lat. cc.3, 10. 189 Das zeigt sich etwa in Überlegungen zur abschreckenden Wirkung von Strafe, die im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Handelsverbot in der Kreuzzugskonstitution angestellt werden. Vgl. 4 Conc. Lat. c.71 (Quod si forte soluendo non fuerint, sic alias reatus talium castigetur, quod in pena ipsorum aliis interdicatur audacia similia presumendi.). Vgl. Richard M. Fraher: Preventing Crime in the High Middle Ages: The Medieval Lawyers’ Search for Deterrence. In: Popes, Teachers, and Canon Law in the Middle Ages. Hrsg. von James Ross Sweeney/Stanley Chodorow. Ithaca, London 1989, S. 212–233; René Pahud de Mortanges: Strafzwecke bei Gratian und den Dekretisten. In: ZRG KA 78 (1992), S. 121–158, S. 134–136, S. 140–142; Lotte Kéry: Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Köln u. a. 2006 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen 10), S. 265–267, S. 323–326. 190 Zu den Metropoliten im klassischen kanonischen Recht vgl. Peter Landau: Die Rechtsstellung des Metropoliten in der Geschichte des Kirchenrechts. In: 1200 Jahre Erzbistum Salzburg. Dom und Geschichte. Festschrift. Hrsg. vom Domkapitel zu Salzburg. Salzburg 1998, S. 173–184, S. 178–180. 191 4 Conc. Lat. c. 6: Sicut olim a sanctis patribus noscitur institutum, metropolitani singulis annis cum
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um Bestimmungen, die der Umsetzung dieser Vorgabe auf diözesaner Ebene dienen. Dazu zählt zum einen die Bestellung geeigneter Männer in den einzelnen Bistümern, die, ohne dass sie über besondere Jurisdiktionsbefugnisse verfügen, das ganze Jahr hindurch alles, was korrektur- und reformbedürftig ist, ermitteln und es auf dem nächsten Provinzialkonzil dem Metropoliten und seinen Suffraganen zur Kenntnis bringen. Zum anderen soll dafür Sorge getragen werden, dass die Beschlüsse, die auf den Provinzialkonzilien gefasst worden sind, befolgt und auf den in jedem Bistum jährlich zu feiernden Diözesansynoden bekannt gemacht werden. Die Konstitution endet mit der Androhung einer Sanktion: Wer das betreffende salutare statutum nicht umsetzt, muss mit Suspension, d. h. zeitweiliger Amtsenthebung, rechnen. C.6 ist eine vielschichtige Vorschrift. Sie fußt zum Teil auf Bestimmungen, die sich schon im Decretum Gratiani finden,192 und nimmt zugleich zeitgenössische Reformbemühungen, die auf der Ebene der Diözesansynoden und -statuten ansetzten, auf.193 Schon Paul Hinschius hat die große Rolle von c.6 für die partikularkirchliche Gesetzgebung im Spätmittelalter, und zwar insbesondere mit Blick auf den Bereich der Diözese, hervorgehoben.194 Diese historische Bedeutung ist insofern erstaunlich, als in der Vorschrift zwar die Normgebung durch das Provinzialkonzil erwähnt wird, sich aber keinerlei Hinweis auf eine entsprechende Tätigkeit der Diözesansynoden findet.195 Auch in anderer Hinsicht wirft die Konzilskonstitution mancherlei Fragen auf. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf ihre Wirkung, d. h. inwiefern sie tatsächlich die Abhaltung von Partikularkonzilien stimulierte.196 suis suffraganeis prouincialia non omittant concilia celebrare, in quibus de corrigendis excessibus et mo ribus reformandis, presertim in clero, diligentem habeant cum Dei timore tractatum, canonicas regulas et maxime que statute sunt in hoc generali concilio relegentes, ut eas faciant obseruari, debitam penam transgressoribus infligendo. Vt autem id ualeat efficacius adimpleri, per singulas dioceses statuant ido neas personas, prouidas uidelicet et honestas, que per totum annum simpliciter et de plano, absque ulla iurisdictione sollicite inuestigent que correctione uel reformatione sint digna, et ea fideliter proferant ad metropolitanum et suffraganeos in concilio subsequenti, ut super hiis et aliis, prout utilitati et honestati congruerit, prouida deliberatione procedant. Et quod statuerint faciant obseruari, publicaturi ea in episcopalibus synodis annuatim per singulas dioceses celebrandis. Quisquis autem hoc salutare statutum neglexerit adimplere, a sui executione officii suspendatur. 192 D.18 c.3, 7; C.9 q.3 c.2. Vgl. Gabriel Le Bras: Institutions ecclésiastiques de la Chrétienté médiévale. Bd. 1. Paris 1959 (Histoire de l’Église depuis les origines jusqu’à nos jours 12), S. 89. 193 Foreville (Anm. 5), S. 314–315. 194 Hinschius (Anm. 157), S. 491, S. 590–591. Zum heutigen Forschungsstand vgl. Unger (Anm. 18), S. 7–8, S. 40–43; Duggan (Anm. 130), S. 354–355. 195 Vgl. Unger (Anm. 18), S. 8: »Man kann die Sachlage wohl nicht anders verstehen, als dass die zentralen Bestimmungen von Canon 6 des Vierten Lateranum buchstäblich von den realen Gegebenheiten überrannt wurden.« Ferner vgl. Schmidt (Anm. 28), S. 116. Siehe auch Anm. 202. 196 Zur Häufigkeit von partikularen Kirchenversammlungen im dreizehnten Jahrhundert vgl. Jean Gaudemet: Aspects de la législation conciliaire française au XIIIe siècle. In: Revue de droit cano-
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Lenkt man den Blick von der Wirkungsgeschichte auf die Vorschrift selbst, dann ist ein zentraler Aspekt, soweit es die Funktion des Kanons wie auch der zeitgenössischen Provinzialkonzilien und Diözesansynoden allgemein betrifft, unschwer erkennbar: Sie dienten der Durchsetzung universalkirchlicher Normen, was in c.6 in den Wendungen ut eas faciant observari und quod statuerint faciant observari deutlich zum Ausdruck kommt. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zur älteren Kirchenrechtsgeschichte. Bis zum elften Jahrhundert spielten Provinzialkonzilien eine durchaus eigenständige und insofern auch bedeutendere Rolle für die kirchliche Rechtsentwicklung. Erst seit der Gregorianischen Reform beschränkte sich ihre Funktion zunehmend auf die Umsetzung von Bestimmungen des universalen, d. h. päpstlichen Rechts.197 Daher kann man die Partikularkonzilien, so wie sie sich in c.6 darstellen, durchaus als Werkzeug und Teil päpstlicher Hierarchie ansprechen.198 Das zeigt nicht zuletzt der zweistufige Ansatz der Konstitution. Von der nicht genannten und doch vorausgesetzten universalen Ebene führt der Weg zunächst zu den Metropoliten und Provinzialkonzilien und von dort zu den Diözesansynoden. Zur Umsetzung des übergreifenden Regelungszwecks, d. h. der Normdurchsetzung, kommen in der Vorschrift unterschiedliche Instrumente zum Einsatz. Dazu gehören abgesehen von neuen Vorschriften zunächst die am Schluss von c.6 angedrohten Sanktionen, die sicherstellen sollen, dass Erz- und Suffraganbischöfe die ihnen gestellten Aufgaben erfüllen und gegebenenfalls Druck auf niedrigere Hierarchieebenen ausüben. Allerdings erstrecken sich diese Sanktionen nur auf die eigentlichen Normadressaten. Durchsetzungsinstrumente, die den Bischöfen bzw. den Diözesansynoden zur Verfügung gestellt werden, um die ihnen auferlegten Reformlasten in der Praxis zu bewältigen, sucht man vergebens.199 Ungleich bemerkenswerter als die Androhung von Strafen ist jedoch ein anderes Werkzeug, von dem der universale Gesetzgeber in c.6 Gebrauch macht, und zwar die wiederholte Bekanntmachung kirchenrechtlicher Bestimmungen.200 Gegenstand
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nique 9 (1959), S. 319–340, S. 320; Silvio Cesare Bonicelli: I concili particolari da Graziano al Concilio di Trento. Studio sulla evoluzione del diritto della Chiesa latina. Brescia 1971 (Pubblicazioni del Pontificio seminario lombardo in Roma, Ricerche di Scienze Teologiche 8), S. 82. García y García (Anm. 125), S. 323. Schmidt (Anm. 28), S. 115–116. Bonicelli (Anm. 196), S. 82; García y García (Anm. 71), S. 361–362; Schmidt (Anm. 28), S. 115. Dazu vgl. auch Gabriel Le Bras: Préface. In: Répertoires des statuts synodaux des diocèses de l’ancienne France du XIIIe à la fin du XVIIIe siècle. Hrsg. von André Artonne u. a. Paris 1963, S. 3–10, S. 7. Die besondere Bedeutung der Publikation zeigt sich im Übrigen auch, wenn man c.6 mit den zuvor betrachteten Konstitutionen c.21, c.64 und c.71 vergleicht. Während in den drei letztgenannten Kapiteln die Bekanntmachung dazu dient, den Vollzug der Strafe sicherzustellen, ist in c.6 die Publikation selbst durch die am Ende der Vorschrift für den Fall der Zuwiderhandlung vorgesehene Suspension sanktioniert.
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einer solchen Publikation sind abgesehen von den nicht genauer bestimmten cano nicae regulae201 vor allem die Konstitutionen von 1215. C.6 erscheint insofern als zentrale Publikationsnorm des Konzils. Der Gesetzgeber, d. h. Innozenz III., will mit ihr sicherstellen, dass seine Vorschriften – unabhängig von der schwer zu kontrollierenden Überlieferung im Rahmen der Kirchenrechtssammlungen – in den Teilkirchen sowohl unmittelbar als auch mittelbar, d. h. durch die sie umsetzenden Statuten der Provinzialkonzilien, dem Klerus zur Kenntnis gebracht werden.202 Dabei geht es wohl in erster Linie um eine mündliche Publikation. Doch zeigt die Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Konstitutionen des Vierten Laterankonzils, dass die Ebene der Schriftlichkeit, sei es im Sinne eines Abschreibens oder sei es in Gestalt eines Fortschreibens der Konzilstexte, hier stets mitgedacht werden muss.203 4.2 Richtungen rechtlicher Expansion: zwischen Außenraum der Institutionen und Innenraum des Menschen Blickt man vor dem Hintergrund der gerade dargelegten Befunde auf den zweiten Teil der zu Beginn dieses Abschnitts gestellten Ausgangsfrage, d. h. nach der Rolle der Normgebung von 1215 im Rahmen der allgemeinen kirchlichen Rechtsgeschichte, dann bietet es sich an, die Beobachtungen zur Publikation von Konzilsvorschriften in ein umfassenderes Vorstellungsmodell einzufügen, das als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage dienen kann. Anknüpfend an einen bis in die Antike zurückreichenden Gedanken ließe sich ein solches Modell bildhaft umreißen: Der Papst verändert auf dem Vierten Laterankonzil die Architektur der Kirche und des Kirchenrechts und greift dazu auf Gesetz, Publizität und rechtliche Kommunikation zurück.204 Wie für jede Bautätigkeit so liegt auch für die des päpstlichen Gesetzgebers die Frage nahe, in welche Richtung sie ging. 201 Wiegand (Anm. 155), S. 15 (der darin das päpstliche Dekretalenrecht sehen will); Unger (Anm. 18), S. 41, Anm. 88. 202 Conrad Franz Rosshirt: Canonisches Recht. Schaffhausen 1857, S. 344. 203 Johanek (Anm. 34), S. 93–95; Ders.: Synodaltätigkeit im spätmittelalterlichen Reich. In: Partikularsynoden im späten Mittelalter. Hrsg. von Nathalie Kruppa/Leszek Zygner. Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 219/Studien zur Germania Sacra 29), S. 29–53, S. 46; Unger (Anm. 18). 204 Vgl. 1 Cor 3,9–11; Hieronymus Lauretus: Silva seu potius hortus floridus allegoriarum totius Sacrae Scripturae. Köln 1681, s. v. architectus, S. 130. Zum Verhältnis der Tätigkeiten des Architekten und des Gesetzgebers vgl. Aristoteles: Ethica nicomachea. Translatio Roberti Grosseteste Lincolniensis sive ›Liber Ethicorum‹ B. Recensio recognita. Hrsg. von René Antoine Gauthier. Leiden, Brüssel 1973 (Aristoteles latinus, Bd. XXVI,1–3, Fasc. 4), Lib. VI cap. 8 (41b22–28), S. 485; Ioannes Chifletius: Apologetica dissertatio de iuris utriusque architectis, Iustiniano, Triboniano, Gratiano et S. Raymundo. Antwerpen 1651 sowie Christoph Kummer: Der Fürst als Gesetzgeber
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Wenngleich im Rahmen dieser Untersuchung keine abschließende Antwort darauf gegeben werden kann, deuten sich, wenn man die Ansatzpunkte der eben untersuchten Regelungen betrachtet, zumindest zwei auch aus Sicht der allgemeinen Rechtsentwicklung entscheidende Richtungen an. Bevor diese herauszuarbeiten sind, gilt es zunächst, den größeren kanonistischen Rahmen des Geschehens kurz in den Blick zu nehmen. Das betrifft gerade auch die Grenzen des historischen Gesetzgebers und des zeitgenössischen Kirchenrechts. Wie an anderer Stelle näher ausgeführt, kann man weder mit Blick auf den Papst als architectus iuris noch für die Kirchenrechtssammlungen des klassischen kanonischen Rechts davon ausgehen, dass im zwölften oder dreizehnten Jahrhundert ein halbwegs umfassendes Bild der Kirche als Institution und ihres Rechts existierte.205 Das hängt nicht zuletzt mit der Anlage der großen Textmagazine zusammen. Weder die komplizierte Einteilung des Decretum Gratiani noch das eingängigere Dekretalenschema, das auf die Compilatio Prima (1190) zurückgeht, wurde dem Entwicklungsstand des Kirchenrechts um 1215 wirklich gerecht. Wichtige Themen blieben außen vor.206 Unabhängig von der Leistungsfähigkeit ihrer Gliederungen verweisen Gratians Dekret und die Dekretalensammlungen jedoch auf eine folgenschwere Verschiebung der Gewichte innerhalb des Kirchenrechts, die auch für das Verständnis der (konziliaren) Gesetzgebung von Bedeutung ist. Wenngleich es auch vor Gratian weitverbreitete Kirchenrechtssammlungen gab, markiert doch erst der Siegeszug des Dekrets den Punkt, von dem an man von einer vergleichsweise einheitlichen kirchlichen Rechtskultur im Abendland sprechen kann. Diese beruhte auf einer zunehmenden Expansion des universalen Kirchenrechts auf Kosten der partikularen Rechtsordnungen. Auf das Decretum Gratiani folgte eine zweite große Expansionswelle in Gestalt der (authentischen) Dekretalensammlungen. Während das Dekret, wie sein Titel Concordia discordantium canonum bereits erkennen lässt,207 noch stark von dem scholastischen Grundanliegen der Harmonisierung widersprüchlicher Autoritäten geprägt ist, bestimmen die autoritativen Entscheidungen der Päpste das Bild, das etwa die Compilationes Antiquae vom universalen Recht vermitteln. Allerdings ist dieses Bild entscheidend durch das Verhältnis von Frage und Antwort geprägt: Wenn nicht entsprechende Anfragen nach Rom gelangten, trafen die Päpste von sich aus in den lateinischen Übersetzungen von Averroes. Ebelsbach 1989 (Münchener Universitätsschriften, Juristische Fakultät, Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 71), S. 60–61. 205 Meyer (Anm. 147), S. 399–406. 206 Insofern ist es vielleicht auch gar nicht so erstaunlich, dass die Anordnung der Konzilskanones des IV. Lateranense über weitere Strecken eigenen Ordnungskonfigurationen folgt. Siehe oben S. 69–72. 207 Zum Titel des Decretum Gratiani vgl. Christoph H. F. Meyer: Die Distinktionstechnik in der Kanonistik des 12. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des Hochmittelalters. Löwen 2000 (Mediaevalia Lovaniensia, Series I 29), S. 145–148.
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nur selten weiterreichende Entscheidungen, die in die großen Kirchenrechtssammlungen gelangten. Dieser Einschränkung, die sich letztlich aus der Natur der Dekretalen ergibt,208 unterlag die Gesetzgebung der Päpste, die in den ersten Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts allmählich an Bedeutung gewann, nicht. Das gilt auch für ihre konziliare Normgebung, die allerdings, um eine von Antonio García y García geprägte Formel aufzugreifen, sich nicht in einer »particularización de la legislación universal« erschöpfte, sondern immer auch in einer »universalización de la legislación particular« bestand.209 Mit dem Gesetz stand den Nachfolgern Petri ein hervorragendes Instrument rechtlicher Veränderung und Innovation zur Verfügung, durch das sich neue Gegenstände und Anwendungsbereiche des kanonischen Rechts definieren ließen.210 Nicht zuletzt aus diesem größeren Zusammenhang erklärt sich die Bedeutung der Konstitutionen von 1215. Mit Blick auf ihren Umfang und rechtlichen Charakter erscheinen sie als eigentlicher Beginn einer neuen vom Papst als Gesetzgeber ausgehenden Expansionswelle des universalen Kirchenrechts, die ihren Höhepunkt mit dem Liber Sextus (1298) erreichte und sich bis in die partikulare Normgebung des Spätmittelalters fortsetzte. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich die beiden bereits erwähnten Richtungen gesetzgeberischer Bautätigkeit im Rahmen des IV. Lateranense etwas klarer ab. Die erste von ihnen hat einen augenfälligen Niederschlag in c.6 gefunden. Im Rahmen eines hierarchischen Ansatzes, der von der Universalkirche zu den verschiedenen Ebenen der Teilkirchen führt, gibt der gesamtkirchliche, d. h. päpstliche Gesetzgeber nicht bloß Anweisungen und droht mit Sanktionen, sondern hält die Normadressaten, d. h. Erz- und Suffraganbischöfe, auch zu eigenständigen Aktivitäten im Sinne der allgemeinen Reformanliegen des Konzils an und dekretiert zugleich den Einsatz bestimmter Formen rechtlicher Information über die Konzilsvorschriften von 1215. Auch wenn man sich fragen kann, ob nicht diese hochgesteckten Ziele die Norm adressaten letztlich überforderten,211 bleibt die Vorgehensweise bemerkenswert, und 208 Siehe oben S. 48. 209 García y García (Anm. 125), S. 326–329. Ferner vgl. Gabriel Le Bras: Dialectique de l’universel et du particulier dans le droit canon. In: Annali di storia del diritto 1 (1957), S. 77–84; Carlo Fantappiè: La Santa Sede e il Mondo in prospettiva storico-giuridica. In: Rechtsgeschichte 20 (2012), S. 332–338, S. 335 335 sowie Joseph Goering: Law and Empowerment at the Fourth Lateran Council. In: Texts and Contexts in Legal History: Essays in Honor of Charles Donahue. Hrsg. von John Witte Jr. u. a., Berkeley 2016 (Studies in Comparative Legal History), S. 199–212, S. 201–203. 210 Hans-Joachim Schmidt: Gesetze finden – Gesetze erfinden. In: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter. Hrsg. von dems. Berlin, New York 2005 (Scrinium Friburgense 18), S. 295–333. 211 García y García (Anm. 71), S. 361; Ders.: (Anm. 125), S. 322.
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das auch deshalb, weil sich hier besonders deutlich die auf die räumliche Organisation der Kirche gerichtete Stoßrichtung der Konzilsgesetzgebung zeigt. Dass im größeren historischen Zusammenhang »kirchlicher Raumgestaltung« (H.-J. Schmidt) dem Vierten Laterankonzil erhebliche Bedeutung zukommt, ist schon seit längerem bekannt.212 Diese allgemeine Einsicht findet in c.6 insofern eine Bestätigung, als die Vorschrift auf ein besonderes vom Zentrum, d. h. von Papst und Konzil in Rom ausgehendes Bemühen um die theologische und rechtliche Integration der Teilkirchen, ihrer Glaubensvorstellungen und ihrer Normen in den Zusammenhang der Gesamtkirche, ihrer Dogmen und des universalen Kirchenrechts verweist.213 Darüber hinaus fallen vor allem Form und Reichweite dieser Integrationsbemühungen ins Auge. Das betrifft zum einen die hier und in anderen Bestimmungen des IV. Lateranense erkennbare Tendenz, bei der Umsetzung der konziliaren Reformen örtliche Amtsinhaber verstärkt einzubinden.214 Zum anderen zeigt sich in c.6 wie auch in anderen Publikationsvorschriften der Wille des Gesetzgebers, sich bei der Anwendung der Konzilsnormen nicht auf die nächstniedrigere Hierarchiestufe, d. h. die Ebene der Metropoliten, zu verlassen, sondern noch mindestens einen Schritt weiter zu gehen, d. h. im vorliegenden Falle die Bischöfe für die Adaptation (und insofern auch für eine mittelbare Verbreitung) der universalrechtlichen Normen vor Ort in die Pflicht zu nehmen. 212 Schmidt (Anm. 28), S. 102–119; Jochen Johrendt/Harald Müller: Zentrum und Peripherie. Prozesse des Austausches, der Durchdringung und der Zentralisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter. In: Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III. Hrsg. von Jochen Johrendt/Harald Müller. Berlin, New York 2008 (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Neue Folge 2), S. 1–16, S. 12–13. Zu der in den letzten Jahren intensiver erforschten räumlichen Dimension von Recht und Verfassung gerade der hochmittelalterlichen Kirche vgl. Zentrum und Netzwerk. Kirchliche Kommunikationen und Raumstrukturen im Mittelalter. Hrsg. von Gisela Drossbach/Hans-Joachim Schmidt. Berlin, New York 2008 (Scrinium Friburgense. Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg 22); Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III. Hrsg. von Jochen Johrendt/Harald Müller. Berlin, New York 2008 (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Neue Folge 2); Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter. Hrsg. von Jochen Johrendt/Harald Müller. Berlin, Boston 2012 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge 19); Die Ordnung der Kommunikation und die Kommunikation der Ordnungen, Bd. 2: Zentralität: Papsttum und Orden im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Cristina Andenna u. a. Stuttgart 2013 (Aurora. Schriften der Villa Vigoni 1,2). 213 Vgl. auch Schmidt (Anm. 28), S. 115–116; Unger (Anm. 18), S. 42–43. 214 García y García (Anm. 125), S. 329–330; Le Bras u. a. (Anm. 24), S. 146, Anm. 3 (vgl. ebd., S. 164).
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Diese Vorgehensweise wirft nicht zuletzt die Frage nach den ihr zugrunde liegenden Motiven oder Antriebskräften auf. Zweifellos ergeben sich aus zeitgenössischen Phänomenen und Prozessen wie etwa den vielfältigen Zentralisierungstendenzen in Kirche und Kirchenrecht wichtige Antworten. Ob solche eher äußerlichen Faktoren eine erschöpfende Erklärung liefern können, erscheint jedoch zweifelhaft. Schon vor einigen Jahrzehnten hat Gabriel Le Bras für die Zeit zwischen Innozenz III. und Bonifaz VIII. manche dieser Entwicklungen in einem kurzen Essay skizziert und mit Blick auf die Vorstellung einer christlichen Einheit Europas analysiert.215 Unabhängig von der Frage, inwieweit seine streckenweise pointierte Argumentation im Einzelnen zutreffend und auf der Grundlage des heutigen Forschungsstandes noch tragfähig ist, erscheint doch der Versuch, die in den Normen des Vierten Laterankonzils wie auch im Kirchenrecht des dreizehnten Jahrhunderts allgemein zu beobachtenden Expansions- und Universalisierungstendenzen nicht nur in ihren räumlichen und institutionellen Bezügen anzusprechen, sondern auch in größere ideengeschichtliche Zusammenhänge zu stellen, bedenkenswert. Doch noch einmal zurück zu der Frage, in welche Richtungen Innozenz’ legislative Bautätigkeit 1215 ging. Ein Fingerzeig auf eine zweite Dimension seiner gesetzgeberischen Bemühungen findet sich in der berühmten Beichtkonstitution c.21. Die Vorschrift ist auch aus Sicht der gerade erörterten Tendenzen von Interesse, denn der Hinweis auf den proprius sacerdos und die hier vorausgesetzte exklusive Zuständigkeit eines Priesters für einen bestimmten Pfarrsprengel lassen gut erkennen, wie weit die Regelungsbemühungen des Gesetzgebers aus Sicht räumlicher Organisation reichten.216 Doch hat in der betreffenden Konstitution noch eine andere Tendenz päpstlich-konziliarer Bautätigkeit ihren Niederschlag gefunden. Im Vergleich zur ersten zeichnet sich diese zweite Stoßrichtung durch ihr weitergehendes Ziel aus: die Seele und das Seelenheil jedes Christen.
215 Gabriel Le Bras: Unité chrétienne de l’Europe et pontifes d’Anagni (1198–1303). In: Communione interecclesiale collegialità – primato ecumenismo. Acta conventus internationalis de historia sollicitudinis omnium ecclesiarum Rom 1967. Hrsg. von Giuseppe d’Ercole/Alphons M. Stickler. Bd. 2. Rom 1972 (Communio 13), S. 587–605. Vgl. Alfons M. Stickler: Das Verhältnis von kirchlicher und staatlicher Obrigkeit bei den anagniner Päpsten (Innocenz III.–Bonifaz VIII.). Zum Interpretationsproblem ihrer Erkenntnisquellen. In: Justice et justiciables. Mélanges Henri Vidal, Montpellier 1994 (Société d’histoire du droit et des institutions des anciens pays de droit écrit, Recueil de mémoires et travaux 16), S. 105–117; Filippo Liotta: I papi anagnini e lo sviluppo del diritto canonico classico: tratti saliente. In: Archivum historiae pontificiae 36 (1998), S. 33–47 sowie Gabriella Rossetti: La pastorale nel IV lateranense. In: La pastorale della Chiesa in Occidente dall’età ottoniana al concilio lateranense IV. Atti della quindicesima Settimana internazionale di studio. Mendola 27–31 agosta 2001. Mailand 2004, S. 197–222, S. 210, S. 216. 216 Schmidt (Anm. 28), S. 109–110.
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Das zeigt sich in c.21 in den Bestimmungen über die Beichte in doppelter Weise, und zwar mit Blick auf die Rolle der Kirche und des einzelnen Menschen. Zunächst zu den kirchlich-pastoralen Ansatzpunkten. Was sie historisch bemerkenswert erscheinen lässt, ist nicht etwa, dass die in c.21 enthaltenen Regelungen bereits eine radikale oder gar revolutionäre Wende gebracht hätten.217 Entscheidend ist vielmehr der sich aus der jährlichen Beichtpflicht ergebende Zugriff auf das Gewissen jedes erwachsenen Gläubigen und die daraus resultierende Bedeutung der betreffenden Vorschrift als »fundamental charter of the Church’s internal forum« ( J. Goering).218 Was das bedeutet, wird angesichts der Entwicklung des Bußsakraments in den Jahrzehnten nach 1215 klarer. Seit Mitte des dreizehnten Jahrhunderts wurde die Beichte als ein eigenes, vom äußeren forum iudiciale unterschiedenes forum poenitentiale gedeutet, in dem der mit einer besonderen iurisdictio ausgestattete Beichtiger dem Pönitenten gegenüberstand.219 Diese Unterscheidung, die später in die Distinktion von forum externum und forum internum gekleidet wurde,220 verweist auf eine sich nach 1215 immer klarer abzeichnende neue Form kirchlicher Entscheidungsgewalt, die sich nicht mehr nur auf das äußere Verhältnis der Christen zueinander, sondern nun auch auf das Innere des einzelnen Gläubigen, d. h. auf sein Gewissen erstreckte, das der Priester in der Beichte zu erforschen und zu richten hatte. Nicht nur für das Kirchenrecht, auch für die kanonistische Literatur eröffnete sich damit ein weites Feld, von dessen Größe man sich bis heute nur eine ungefähre Vorstellung machen kann.221
217 Peter Landau: Epikletisches und transzendentales Kirchenrecht bei Hans Dombois. Kritische Anmerkungen zu seiner Sicht der Kirchenrechtsgeschichte. In: Ders.: Grundlagen und Geschichte des evangelischen Kirchenrechts und des Staatskirchenrechts. Tübingen 2010 ( Jus ecclesiasticum 92), S. 80–100, S. 93–95. 218 Joseph Goering: The Internal Forum and the Literature of Penance and Confession. In: The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX. Hrsg. von Wilfried Hartmann/Kenneth Pennington. Washington 2008 (History of Medieval Canon Law), S. 379–428, S. 381. 219 Winfried Trusen: Zur Bedeutung des geistlichen Forum internum und externum für die spätmittelalterliche Gesellschaft. In: ZRG KA 76 (1990), S. 254–285, S. 257–263. 220 Lotte Kéry: Forum externum, Forum internum. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1641–1643; Juan Ignacio Arrieta: Fuero interno. In: Diccionario general de derecho canónico. Bd. 4. Cizur Menor 2012, S. 139–144. Zum allgemeinen Hintergrund vgl. Christoph H. F. Meyer: Kirchenbuße. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 1781–1786. 221 Für einen ersten Überblick vgl. Johann Friedrich von Schulte: Die Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts. Bd. 2: Von Papst Gregor IX. bis zum Concil von Trient. Stuttgart 1877 (ND Graz 1956), S. 408–456 (›Die Schriftsteller für das Forum internum‹). Ferner vgl. Mathias Schmoeckel: Beichtstuhljurisprudenz. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 505–508 sowie Goering (Anm. 218).
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Betrachtet man c.21 im Kontext der übrigen hier untersuchten Konzilskanones, aber auch im Rahmen der allgemeinen Rechtsentwicklung, dann zeichnet sich die bereits angedeutete zweite Richtung legislativer Bautätigkeit im Rahmen des IV. Lateranense noch etwas deutlicher ab. Die salus animarum als übergeordneter Normzweck des kanonischen Rechts, der seit der Gregorianischen Reform im Kirchenrecht stetig an Bedeutung gewonnen hatte, erfuhr in den Jahrzehnten nach dem Vierten Laterankonzil eine neue Ausgestaltung und Konkretisierung in Form einer allmählichen Verrechtlichung des regimen animarum, das in c.27 – vielleicht unter Rückgriff auf die Regula pastoralis Gregors des Großen – als ars artium angesprochen wird.222 Zweifellos reichen die Ursprünge dieser Entwicklung vor das Jahr 1215 zurück. Fragt man jedoch, wann und wo sich auf der Ebene des universalen Kirchenrechts im dreizehnten Jahrhundert erstmals Bestrebungen bemerkbar machten, das christliche Leben gerade auch der Laien zu lenken und dazu zentrale Formen der Seelsorge gesetzlich zu regeln, dann gelangt man zum IV. Lateranense und zu Innozenz III., der wohl vor allem als Theologe die Bedeutung dieses Regelungsgegenstandes – nicht zuletzt im Kampf gegen die Häresie – erkannt hatte. Abgesehen vom institutionell-pastoralen Aspekt hatte die auf das Seelenheil gerichtete normative Expansion im Gefolge des Vierten Laterankonzils aber noch eine 222 4 Conc. Lat. c. 27: Cum sit ars artium regimen animarum […]. Zu dieser Sentenz bei Innozenz III. und ihren möglichen Quellen vgl. Christoph Egger: The Growling of the Lion and the Humming of the Fly: Gregory the Great and Innocent III. In: Pope, Church and City. Essays in honour of Brenda M. Bolton. Hrsg. von Frances Andrews u. a. Leiden 2004 (The medieval Mediterranean 56), S. 13–46, S. 25–26. Zur Verrechtlichung der Seelsorge vgl. Gabriel Le Bras: L’originalité du droit canon. In: Études juridiques offertes à Léon Julliot de la Morandière. Paris 1964, S. 265–275, S. 266; Peter Erdö: Die Funktion der Verweise auf das »Heil der Seelen« in den zwei Gesetzbüchern der katholischen Kirche. In: Österreichisches Archiv für Recht & Religion 49 (2002), S. 279– 292. Zu Seelsorge und Kirchenrecht vgl. Leonard E. Boyle: Pastoral Care, Clerical Education and Canon Law, 1200–1400. London 1981 (Collected studies series 135); Michele Maccarone: »Cura animarum« e »parochialis sacerdos« nelle costituzioni del IV concilio lateranense (1215). Applicazioni in Italia nel sec. XIII. In: Ders.: Nuovi studi su Innocenzo III. Hrsg. von Roberto Lambertini. Rom 1995 (Istituto storico italiano per il medio evo, Nuovi studi storici 25), S. 271– 367; Roberto Rusconi: »Hoc salutare statutum«: La politica sacramentale di Innocenzo III. In: Innocenzo III. Urbs et orbis. Atti del Congresso Internazionale Roma, 9–15 settembre 1998. Hrsg. von Andrea Sommerlechner. Bd. 1. Rom 2003 (Istituto storico italiano per il medio evo, Nuovi studi storici 55/Miscellanea della Società romana di storia patria 44), S. 383–416; A Companion to Pastoral Care in the Late Middle Ages (1200–1500). Hrsg. von Ronald J. Stansburg. Leiden, Boston 2010 (Brill’s Companions to the Christian tradition 22); Gerardi (Anm. 151); Renata Salvarani: La pastorale dopo il IV concilio Lateranense tra movimenti laicali, confraternite ed eresie. In: La penitenza tra Gregorio VII e Bonifacio VIII. Teologia – Pastorale – Istituzioni. Hrsg. von Roberto Rusconi u. a. Città del Vaticano 2013 (Monumenta studia instrumenta liturgica 72), S. 111–125.
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andere individuelle oder personale Seite. Darauf deutet bereits der Umstand hin, dass jeder erwachsene Gläubige Adressat der in c.21 enthaltenen Regelung ist. Diese besondere Tendenz, die sowohl die ignorantia als Gefahr für das persönliche Seelenheil als auch die Beichtsituation allgemein vor Augen führen, betraf das Gewissen des Einzelnen als Gegenstand einer Erforschung und Formung, die im Laufe der weiteren Entwicklung nicht mehr nur dem Beichtiger, sondern zunehmend auch dem Gläubigen selbst oblag. Hier deutet sich eine im Vergleich zur Regelung der Seelsorge noch weitergehende Ausdehnung kirchlicher Normierung an, die – modern gesprochen – nicht nur in einer kirchenrechtlichen und kanonistischen, sondern auch in einer moralischen und theologischen Kolonisation des menschlichen Innenraums mit Hilfe des Subjekts bestand. Doch ganz gleich, ob man diese spätmittelalterlichen Prozesse noch mit dem IV. Lateranense in Verbindung bringen will oder nicht, in der Wende zu einer verstärkten gesetzgeberischen Sorge um das Seelenheil liegt zweifellos ein wichtiger Aspekt des Vierten Laterankonzils als Einschnitt der Kirchenrechtsgeschichte. Wie im Falle der Quellen des kanonischen Rechts, so ruht auch in diesem Bereich die kirchliche Rechtskultur der Neuzeit auf Fundamenten, die zu einem Gutteil 1215 gelegt wurden.
Jochen Johrendt
Innozenz III. und das IV. Laterankonzil. Predigt, verweigerte Aussprache und fiktiver Dialog Das Vierte Laterankonzil wird in der Literatur immer wieder als die Krönung des Pontifikates Innozenz’ III. gekennzeichnet. Die Gedanken des Papstes seien hier nochmals gebündelt worden und kämen in den 71 Konstitutionen des Konzils zum Ausdruck. Sie können – so Werner Maleczek – »als persönliches Werk Innozenz’ III. betrachtet werden«.1 Sie bilden eine wichtige Wegmarke bei der Entwicklung von der Bischofskirche zur Papstkirche, die mit der papstgeschichtlichen Wende in der Mitte des 11. Jahrhunderts einsetzte2 und schließlich am Ende des 13. Jahrhunderts bei Aegidius Romanus in der Feststellung gipfelte, dass der Papst die Kirche sei.3 Das setzte Bonifaz VIII. in seiner berühmten Bulle Unam Sanctam im Bild vom Papst als dem neuen Noah um, der die Arche zu leiten hatte. Er ließ sie in der Festlegung gipfeln, dass es zur Heilsnotwendigkeit eines jeden Menschen notwendig sei, dass dieser dem Papst untertan sei.4 Die Regelungen des Vierten Laterankonzils und damit auch 1 Werner Maleczek : Art. Laterankonzil IV. In : LexMA 5 (1991), Sp. 1742–1744, hier Sp. 1743. Den persönlichen Anteil Innozenz’ III. bis hinein in die Formulierungen betonte bereits Helene Tillmann : Papst Innocenz III. Bonn 1954 (Bonner Historische Forschungen 3), S. 159 f. 2 Zur papstgeschichtlichen Wende vgl. Rudolf Schieffer : Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert. In : Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 27–41 ; dazu zuletzt der Beitrag von Johannes Laudage : Die papstgeschichtliche Wende. In : Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweisen – Strategien – Darstellungsformen. Hrsg. von Stefan Weinfurter, Ostfildern 2012 (Mittelalter-Forschungen 38), S. 51–68. 3 Aegidius Romanus : De ecclesiastica potestate. Hrsg. von Richard Scholz. Weimar 1929, III c. 12, S. 209 ; sowie Giles of Rome’s On ecclesiastical Power. A Medieval Theory of World Government. Hrsg. von Robert W. Dyson. New York 2004 (The Records of Western Civilization), S. 396 : summus pon tifex, qui tenet apicem ecclesie et qui potest dici ecclesia, est timendus et sua mandata sunt observanda, quia potestas eius est spiritualis, celestis et divina, et est sine pondere, numero et mensura. Vgl. dazu Agostino Paravicini Bagliani : Egidio Romano, l’arca e la tiara di Bonifacio VIII. In : Chiesa, vita religiosa, società nel medioevo Italiano. Studi offerti a Giuseppina De Sandre Gaspari. Hrsg. von Mariaclara Rossi/Gian Maria Varanini. Roma 2005 (Italia Sacra 80), S. 503–519, hier S. 518 f. Zum Traktat des Aegidius Romanus vgl. auch Elmar Krüger : Der Traktat »De ecclesiastica potestate« des Aegidius Romanus. Eine spätmittelalterliche Herrschaftskonzeption des päpstlichen Universalismus. Köln u.a. 2007 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 30). 4 Edition in : Les Registres de Boniface VIII. Hrsg. von Georges Digard u.a. 4 Bde. Paris 1907–1939 (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome. Série 2), Nr. 5382, Bd. 3, Sp. 888–890, das Zitat Sp. 890. Zur Bulle vgl. Agostino Paravicini Bagliani : Bonifacio VIII. Torino 2003,
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Innozenz III. persönlich haben zu dieser Entwicklung Maßgebliches beigetragen, vor allem über die Neuordnung der Pastoral in der Kombination von Einführung der Pflichtbeichte und der Regelung des Ablasses. Diese Entwicklung war zwar 1215 noch nicht abzusehen, doch sie eröffnete dem Ausbau der päpstlichen Stellung neue Entwicklungsmöglichkeiten, so auch im Hinblick auf die Ausbreitung des Ablasswesens durch die Bettelorden.5 Denn die Päpste waren nunmehr die einzige Institution, die Ablässe jenseits von einem Jahr und 40 Tagen erteilen konnte – und je begehrter der Ablass wurde, desto entscheidender wurde das Papsttum für das Seelenheil der Gläubigen. In dieser Perspektive gewinnt sicherlich auch die Festlegung von Unam Sanctam eine bisher eher vernachlässigte Dimension. Die Grundlagen dazu waren 1215 gelegt worden. Und dies war nicht allein durch die Regelungen des Laterankonzils erfolgt, sondern auch durch das persönliche Auftreten des Papstes, durch seine Eröffnungsansprache auf dem Laterankonzil. Um die Bedeutung der Predigt für Innozenz III. generell einordnen zu können, ist es nicht uninteressant, dass die 10. Konstitution des Vierten Laterankonzils den Bischöfen angemessene Predigten vorschrieb und – vermutlich durch einschlägige Erfahrungen bischöflicher Predigtkunst ernüchtert – diese, falls sie nicht selbst predigen könnten, an ihrer statt geeignete Männer für die Predigt einsetzen sollten.6 Auch daran kann man erkennen, welche Bedeutung Innozenz III. der Predigt zumaß. Und dabei war er nicht nur ein Kirchenpolitiker, der angemessene Predigten für Seelsorge und Häresiebekämpfung förderte und die Erfolge dieses Vorgehens am Aufstieg des Ordo predicatorum wahrnehmen konnte. Er predigte auch selbst viel, seine Sermones wurden rasch gesammelt und dienten anderen als Vorlagen.7 S. 303–312 ; Emanuele Conte : La bolla Unam Sanctam e i fondamenti del potere papale fra diritto e teologia. In : Mélanges de l’École française de Rome (Moyen-Âge) 113 (2001), S. 663–684 ; Wiederabdruck in : Bonifacio VIII, i Caetani e la storia del Lazio. Atti del Convegno di studi storici. Roma 2004, S. 43–63 ; Karl Ubl : Die Genese der Bulle Unam sanctam. Anlass, Vorlagen, Intention. In : Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters. Essays in honour of Jürgen Miethke = Political thought in the age of scholasticism. Hrsg. von Martin Kaufhold. Leiden u.a. 2004 (Studies in medieval and reformation traditions 103), S. 129–149. 5 Vgl. dazu grundlegend Étienne Doublier : Ablass, Papsttum und Bettelorden im 13. Jahrhundert. Köln u.a. 2017 (Papsttum im mittelalterlichen Europa 6). 6 C. 10 Lateranum IV, Edition bei Constitutiones Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum. Hrsg. von Antonio García y García. Città del Vaticano 1981 (Monumenta iuris canonici. Series A, Corpus glossatorum 2), S. 58 f.: Unde precipimus tam in cathedralibus quam in aliis conventualibus ecclesiis viros idoneos ordinari, quos episcopi possint coadiutores et cooperatores habere, non solum in predicationis officio verum etiam in auiendis confessionibus et penitentiis iniungendis ac cete ris [...], dt. Übersetzung bei : Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Hrsg. von Josef Wohlmuth, Bd. 2 : Konzilien des Mittelalters. Paderborn u.a. 2000, S. 239 f. 7 Vgl. dazu die Zusammenstellung bei : Innocenzo III – Sermoni (sermones). Hrsg. von Stanislao Fioramonti. Città del Vaticano 2006 (Monumenta, studia, instrumenta liturgica 44), jedoch zum
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So wurde auch das Vierte Laterankonzil durch eine eindrucksvolle Predigt Innozenz’ III. eröffnet. Die Vorbereitungen zu diesem Konzil hatten schon zweieinhalb Jahre vor dessen Eröffnung begonnen. Das Ladungsschreiben Veniam domini Sabaoth datiert auf den 19. April 1213 und ist noch in drei Schreiben erhalten.8 Darin hatte Innozenz III. bereits die beiden Hauptpunkte des Konzils benannt : recuperationem [...] terrae sanctae ac reformationem universalis ecclesiae – Kreuzzug und Kirchenreform.9 Um das Konzil effektiv gestalten und auf die Probleme der Einzelkirchen besser eingehen zu können, fordert Innozenz III., dass in jeder Kirchenprovinz viri pru denti die Missstände aufnehmen und ebenso viri idonei ins Heilige Land geschickt werden sollten, um sich dort mit der Sachlage vertraut zu machen. Die so erworbenen Erkenntnisse sollten dann dem Konzil zugänglich gemacht werden.10 Zudem forderte der Papst die Bischöfe auf, bis auf ein oder zwei Suffragane einer Kirchenprovinz sämtlich in Rom zu erscheinen – und auch die in den Kirchenprovinzen verbliebenen Suffragane sollten Stellvertreter schicken,11 was allen Kirchen bekannt Teil mit zweifelhaften Zuschreibungen ; ein Überblick findet sich auch bei Johannes Baptist Schneyer : Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150–1350. 11 Bde. Münster 1969–21990 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen 43), hier Bd. 4, S. 42–49 ; vgl. auch die Bemerkungen bei Wilhelm Imkamp : Das Kirchenbild Innocenz’ III. (1198–1216). Stuttgart 1983 (Päpste und Papsttum 22), S. 64 f.; zu Predigten Innozenz’ III. vor seiner Erhebung zum Papst vgl. jetzt Olivier Hanne : De Lothaire à Innocent III. L’ascension d’un clerc au XIIe siècle. Aix-en-Provence 2014, S. 188–190. Zur Predigttätigkeit der Päpste im Hochmittelalter vgl. in jüngster Zeit vor allem die Studien von Georg Strack, dessen Habilitationsschrift sich dem Thema widmet. Vgl. bisher Georg Strack : Oratorik im Zeitalter der gregorianischen Kirchenreform. Reden und Predigten Papst Gregors VII. In : Rhetorik in Mittelalter und Renaissance. Konzepte – Praxis – Diversität. Hrsg. von dems./Julia Knödler. München 2011 (Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft 6), S. 121–144 ; Ders.: The sermon of Urban II in Clermont 1095 and the Tradition of Papal Oratory. In : Medieval Sermon Studies 56 (2012), S. 30–45 ; Ders.: Doppelzüngige Phrasendrescherei ? Die Konsistorialansprachen Papst Clemens VI. gegen Ludwig den Bayern. In : Ludwig der Bayer (1314–1347). Reich und Herrschaft im Wandel. Hrsg. von Hubertus Seibert. Regensburg 2014, S. 413–433. 8 Potthast 4706–4708 ; am einfachsten zugänglich ist die Edition von Potthast 4707 bei Migne PL 216 Reg. Inn. III. XVI/30 Sp. 823–827. Zu diesem Schreiben vgl. jüngst Alberto Melloni : Veniam Domini – 10 April 1213 : New Efforts and Traditional Topoi – Summoning Lateran IV. In : Pope Innocent III and his World. Hrsg. von John C. Moore. Aldershot u.a. 1999, S. 63–73. 9 Migne PL 216 Reg. Inn. III. XVI/30 Sp. 824A : Illius ergo testimonium invocamus qui testis est in coelo fidelis quod inter omnis desiderabilia cordis nostri duo in hoc saeculo principaliter affectamus ut ad recuperationem videlicet terrae sanctae ac reformationem universalis ecclesiae valeamus intendere cum effectu. Die weiteren Ankündigungen lassen sich in die genannte Thematik einfügen, ebd.: in quo ad extirpanda vitia et plantanda virtutes, corrigendos excessus, et reformandos mores, eleminandas haereses, et reprobandam fidem [...]. 10 Migne PL 216 Reg. Inn. III. XVI/30 Sp. 824D. 11 Migne PL 216 Reg. Inn. III. XVI/30 Sp. 824D.
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war.12 Kurzum : Die Vorbereitungen begannen bereits zweieinhalb Jahre vor dem avisierten Konzilsbeginn und im Grunde war nichts Geringeres angestrebt als eine Zusammenkunft aller Bischöfe der lateinischen Christenheit oder zumindest deren Vertreter.13 Dieses Konzil eröffnete Innozenz III. durch eine etwa einstündige Predigt, seine einzige Predigt auf dem Laterankonzil.14 Sie ist durch den ausführlichsten Zeugen der Versammlung überliefert, durch Richard von San Germano, der persönlich am Vierten Laterankonzil teilnahm und dessen Chronica uns im Autograph überliefert sind.15 Daneben findet sich die Predigt noch in zwei Handschriften des 13. und zwei Handschriften des 15. Jahrhunderts.16 Nach Richard von San Germano habe der 12 Vgl. dazu etwa die Nachrichten bei Gerald von Wales in seinem Giraldi Cambrensis Speculum ecclesiae, distinctio 4, c. 19, 7. Hrsg. von John Sherren Brewer. In : Giraldi Cambrensis opera, Bd. 4. London 1873 (ND 1964) (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 21/4), S. 3–354, jetzt bei Richard Kay : Gerald of Wales and the Fourth Lateran Council. In : Viator 29 (1998), S. 78–93, hier S. 93. 13 Zur personellen Dimension des Vierten Laterankonzils vgl. jüngst Werner Maleczek : Der Mittelpunkt Europas im frühen 13. Jahrhundert. Chronisten, Fürsten und Bischöfe an der Kurie zur Zeit Papst Innocenz’ III. In : Römische Historische Mitteilungen 49 (2007), S. 89–157, hier S. 92–96. Vgl. auch John C. Moore : Pope Innocent III (1160/61–1216). To Root Up and to Plant. Leiden, Boston 2003, S. 229 f. 14 Zu dieser vgl. Wilhelm Imkamp : Sermo ultimus, quem fecit Dominus Innocentius papa tertius in Lateranensi concilio generali. In : Römische Quartalschriften 70 (1975), S. 149–179. Von einer Dauer von ca. einer Stunde geht aus Moore : Innocent III (wie Anm. 13) S. 233, zur Rede insgesamt vgl. ebd., S. 231–233. Relativ deskriptiv zur Predigt Innozenz’ III. vgl. auch Philipp Schäfer : Innozenz III. und das 4. Laterankonzil. In : Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas. Hrsg. von Thomas Frenz. Stuttgart 2000, S. 103–116, hier : S. 106–108. Eine angeblich zweite Predigt, die sich auch in der Zusammenstellung der Predigten bei Sermoni, ed. Fioramonti (wie Anm. 7), S. 646– 657 findet, dürfte hingegen nicht auf dem Laterankonzil gehalten worden sein, so bereits Carl Josef v. Hefele : Conciliengeschichte. Bd. 5. Freiburg i. Br. 21886, S. 878 ; so dann auch in der französischen und überarbeiteten Version des Werkes bei Henri Leclerqe : Histoire des Conciles. Bd. 5. Paris 1913, S. 1323. 15 Zur Eröffnungspredigt vgl. Raymond Foreville : Lateran I–IV. Mainz 1970 (Geschichte der ökumenischen Konzilien), S. 310–312. Zu Richard von San Germano vgl. den Artikel im Repertorium Fontium http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_04095.html, letzter Zugriff 04.03.2013. Die Eröffnungsrede Innozenz’ III. ist lediglich in der ersten Redaktion der Chronik des Richard von San Germano enthalten, die den Zeitraum von 1208 bis 1226 abdeckt. In der Edition bei Ryccardi de sancto Germano notarii chronica. Hrsg. von Carlo Alberto Garufi. Bologna 1936–1938 (Rer. It. 7/2), ist diese Version in der linken Spalte dargestellt. Zur Arbeitsweise und zur literarischen Form der Historia Richards vgl. Edoardo D’Angelo : Stil und Quellen in den Chroniken des Richard von San Germano und des Bartholomaeus von Neocastro. In : Quellen und Forschungen aus Italienischen Archiven und Bibliotheken 77 (1997), S. 437–458, hier S. 438–448. 16 Vgl. dazu die Zusammenstellung bei Imkamp : Sermo ultimus (wie Anm. 14), S. 150, dem auch die unveröffentlichte und bei Michele Maccarrone entstandene Dissertation von Giuseppe Scuppa :
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Papst erhöht gesessen, sodass alle Konzilsteilnehmer ihn sehen konnten. Nachdem Ruhe hergestellt und der Hymnus Veni creator spiritus gesungen worden war, drang seine gewaltige Predigt auch über die höher Sitzenden zu den darunter Sitzenden durch, wie uns Richard berichtet.17 Innozenz III. begann mit einem Zitat aus der Passionsgeschichte Jesu, konkret aus dem Bericht des Evangelisten Lukas zum Letzten Abendmahl am Gründonnerstag. Den Einsetzungsworten des Abendmahls schickt Lukas das Herrenwort voraus : ›Mich hat herzlich verlangt, dies Passalamm mit euch zu essen, ehe ich leide.‹ (Lk 22,15). Von diesem Herrenwort geht die Predigt Innozenz’ III. aus, wodurch das Leiden Christi, das Leiden für die gerechte Sache bis hin zum Tod den Ton vorgibt.18 Um den im Evangelium dargestellten Einsatz bis zum Letzten, das unverschuldete Leiden bis in den Tod, auf den Einsatz für das Konzil und dessen Erfolg zu übertragen, führte Innozenz III. zunächst aus, dass er sich nicht weigern werde, den Kelch des Leides zu trinken (bibere calicem passionis), wenn dies göttlicher Wille sei. Damit verkündete er zunächst seine persönliche Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, dem Beispiel Christi zu folgen. Unmittelbar daran anknüpfend machte er den Zuhörern klar, welche Punkte auf der Agenda stehen, für welche Punkte seine Bereitschaft vorhanden war, den Kelch des Leides zu trinken. Und dabei nahm er direkten Bezug auf die bereits im Ladungsschreiben formulierten zentralen Punkte des Konzils. Denn den Kelch des Leids galt es nach Innozenz III. zu trinken : sive pro defensione fidei catholicae, sive pro subsidio Terrae sanctae, sive pro statu ecclesiasticae libertatis – sowohl für die Verteidigung des katholischen Glaubens, der Hilfe im Heiligen Land und die Freiheit der Kirche war er bereit, den Kelch des Leidens zu trinken.19 Doch nicht um weltlichen Gewinns willen galt es, dieses Unterfangen durchzuführen und das Passalamm zu essen. Innozenz III. verkündete den Konzilsteilnehmern, dass er für die Reform der Kirche und die Befreiung des Heiligen Landes zu handeln bereit sei, und sprach sie direkt an mit den Worten : ›Allein aus einem geistlichen Bestreben heraus will ich mit euch dieses PasI sermoni di Inncenzo III. Pontificia Università Lateranense 1961, zur Verfügung stand. Weitere Handschriftenfunde finden sich in der Habilitationsschrift von Georg Strack. 17 Ryccardi chronica, ed. Garufi (wie Anm. 15), S. 62, Z. 28–30 : omnipotens sermo suus ad subditos de supernis sedibus venit, cuius tenor talis est ; eine deutsche Übersetzung der Ansprache Innozenz’ III. findet sich bei Foreville : Lateran I–IV (wie Anm. 15), S. 391–396. 18 Diese Thematik kann im Vergleich zu den anderen Predigten Innozenz’ III. als durchaus ungewöhnlich gelten. Das betont die Bedeutung, die der Papst offensichtlich dieser Predigt mit der für ihn ungewöhnlichen Leitthemenwahl zuwies. 19 Ryccardi chronica, ed. Garufi (wie Anm. 15), S. 62, Z. 36–38 = Sermones ed. Fioramonti (wie Anm. 7), S. 648. Der Text bei Fioramonti weicht zum Teil erheblich vom bei Richard von San Germano gebotenen Text ab. Die Zitate folgen alle der Version bei Richard von San Germano.
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salamm essen.‹20 Damit übertrug er die biblische Schilderung des Letzten Abendmahls auf die Situation des Konzils, indem er die Worte Christi zu seinen machte und den Konzilsteilnehmern die Rolle der Jünger zuwies. In einem nächsten Schritt führte Innozenz III. anhand ausgewählter Bibelstellen aus, was genau pascha sei, und definierte es als einen transitus, einen Übergang in die Glorie Gottes durch das Leiden für Christus. Und erneut – nunmehr zum vierten Mal, zitierte Innozenz III. Lukas 22,15 und führte aus : ›Dieses Passalamm, diese Phase, die ein Übergang ist, habe ich hingebungsvoll mit euch zu essen begehrt.‹21 Nach dieser biblisch-historischen Eingrenzung des Pascha-Begriffs erfolgt nun dessen allegorische Deutung : ›Ein dreifaches Paschafest beziehungsweise Phase möchte ich aber mit Euch feiern, ein körperliches, ein spirituelles und ein auf das Jenseits ausgerichtetes : Ein körperliches, das meint die Reise zu einem Ort, um das beklagenswerte Jerusalem zu befreien ; spirituell, das ist der Übergang von einem Zustand in einen anderen, um die gesamte Kirche zu reformieren ; auf das Jenseits ausgerichtet, das ist der Übergang von einem Leben ins andere, um den himmlischen Ruhm zu erlangen.‹22 Diese drei Formen des Paschafestes führte der Papst dann eindringlich aus, wobei er seine Erörterungen zum auf das Jenseits ausgerichteten Paschafest mit einem Zitat aus Lukas 14,15 : ›Selig ist, der das Brot isst im Reich Gottes !‹ verortet. An dieses eschatologische Mahl knüpfte Innozenz III. an und brachte es mit dem von ihm begehrten Paschamahl in Verbindung. Die Predigt schloss mit den Worten : ›Dieses letzte Mahl begehre ich vor allem mit euch zu essen, dieses Passalamm, damit wir aus der Mühsal zur Ruhe hinübergehen, vom Schmerz in die Freude, vom Unglück in den Ruhm, aus dem Tod ins Leben, aus der Vergänglichkeit zur Ewigkeit. Dies geschehe mit der Hilfe unseres Herren Jesus Christus, dem Ehre und Ruhm sei, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.‹23 20 Ryccardi chronica, ed. Garufi (wie Anm. 15), S. 63, Z. 16–18 = Sermones ed. Fioramonti (wie Anm. 7), S. 648. 21 Ryccardi chronica, ed. Garufi (wie Anm. 15), S. 64, Z. 6–8 = Sermones ed. Fioramonti (wie Anm. 7), S. 648 : Hoc pascha, quod dicitur phase, id est transitus, desiderio desideravi manducare vobis cum. 22 Anders und etwas irreführend die Übersetzung bei Foreville : Lateran (wie Anm. 15), S. 393. Ryc cardi chronica, ed. Garufi (wie Anm. 15), S. 64, Z. 34–42 = Sermones, ed. Fioramonti (wie Anm. 7), S. 648 f.: Triplex enim phase, sive pascha, desidero celebrare vobiscum, corporale, spirituale, eter nale : corporale, ut fiat transitus de loco ad locum, pro miserabili Ierusalem liberanda ; spirituale, ut fiat transitus de statu ad statum, pro universali Ecclesia reformanda ; eternale, ut fiat de vita in vitam, pro coelesti gloria obtinenda. 23 Ryccardi chronica, ed. Garufi (wie Anm. 15), S. 70, Z. 28–36 = Sermones, ed. Fioramonti (wie Anm. 7), S. 656 : Hanc ultimam manducationem desidero manducare vobiscum hoc pascha, ut transea mus de hoc mundo ad patrem, de dolore ad gaudium, de infelicitate ad gloriam, de morte ad vitam, de
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Damit hatte Innozenz III. das Thema mustergültig durchexerziert. Er hatte ein Leitthema gewählt, Lukas 22,15 : ›Mich hat herzlich verlangt, dies Passalamm mit euch zu essen, ehe ich leide.‹ Dieses Thema wurde, wie gesagt, zunächst biblisch-historisch eingegrenzt und dann dreifach allegorisiert und erklärt. Zentraler Gegenstand waren der Kreuzzug und die Reform der Gesamtkirche. Die Eröffnungsrede entsprach damit dem schon im Einladungsschreiben vorgegebenen Themenkanon und führte diesen nunmehr aus. Doch die Rede hat noch eine andere Folge als die inhaltliche Einstimmung in das Konzilsthema – und eine nicht unwesentliche. Die Stellung des Papstes zum Konzil wurde von Innozenz III. zwar nicht explizit thematisiert. Doch sie ergibt sich sowohl aus der Wahl des Leitthemas als auch aus seiner siebenfachen Wiederholung. Innozenz III. zitierte Lukas 22,15 nicht nur, er baute es mehrfach in seine Rede ein. Damit stellte Innozenz III. nicht nur allen Konzilsteilnehmern seine Bereitschaft vor Augen, bis zum Äußersten zu gehen. Er parallelisierte die Rede Jesu an seine Jünger mit seiner Ansprache an das Konzil. Er verwendete die Worte Christi und damit Christi Rolle als Redner, in dessen Rolle nun Innozenz III. schlüpfte, indem er das Herrenwort zu seinem Wort machte. Dieses wurde nicht nur ausgelegt, sondern Christi Worte wurden zu den päpstlichen Worten. Die Worte Christi und seine Worte waren identisch. Innozenz III. sprach als Christus, er trat an die Stelle Christi. Nicht nur durch seine Bereitschaft, Leid auf sich zu nehmen, sondern auch durch die Verwendung des Herrenwortes als sein Wort stellt er den Christusvikariat des päpstlichen Amtes in den Vordergrund.24 Wie Christus mit seinen Jüngern das Letzte Abendmahl feierte, so wollte Innozenz mit dem Konzil das Passalamm essen. Doch über diese Parallelisierung hinaus ergibt sich noch ein weiterer Hinweis darauf, dass Innozenz III. mithilfe seiner Eröffnungsrede an die Stelle Christi trat, ohne dies direkt zu formulieren.25 Lukas 22,15 weist auf das Leiden Christi voraus. Und es dürfte in diesem Zusammenhang auch kein Zufall sein, dass Innozenz III. in seiner Predigt Lukas 22,15 siebenmal zitiert. Siebenmal sprach der Papst das Konzil durch das Herrenwort an. corruptione ad eternitatem ; prestante Domino nostro Jesu Christo, qui cum patre et Spiritu sancto vivit et regnat in saecula saeculorum. Amen. 24 Anders hingegen Stefan Weinfurter : Der Papst weint. Argument und rituelle Emotion von Innozenz III. bis Innozenz IV. In : Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention. Hrsg. von Claudia Garnier/Hermann Kamp. Darmstadt 2010, S. 121–132, hier S. 124 : »Er selbst rückt sich ganz nahe an Christus heran, der mit den Teilnehmern des Konzils das letzte Abendmahl feiert. Dennoch bleibt die Distanz gewahrt [...].« Zum Christusvikariat in der Titulatur Innozenz’ III. vgl. Michele Maccarrone : Vicarius Christi. Storia del titolo papale (Lateranum N. S. An. 18 N. 1–4). Roma 1952, S. 109–118. 25 Die Bedeutung Innozenz’ III. für die Ausreifung des Christusvikariates bei Innozenz IV. betonte bereits Maccarrone : Vicarius Christi (wie Anm. 24), S. 117.
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Siebenmal sprach er als Christus. Und die Siebenzahl ist angesichts der geschickten Komposition der Rede vermutlich kein Zufall, sondern vielmehr bewusst gewählt. Die Wiederholung der Zitate am Beginn und am Ende der Rede machen die Zuhörer mit dem Inhalt intensiv vertraut, wiederholen ihn zur Einprägung. Doch für einen bibelfesten Kleriker dürfte die häufige Zitierung eher redundant gewirkt haben. Die siebenfache Zitierung könnte jedoch jenseits der Wiederholung zum Zwecke der Einprägung auch noch einen anderen Sinn gehabt haben. Die Sieben ist eine grundsätzlich sehr bedeutungsreiche Zahl. Zu denken wären an die sieben Kardinalsünden und -tugenden. Doch ebenso könnten die sieben Seligpreisungen gemeint sein.26 Aber das will nicht so recht zur Passion Christi passen, die mit Lukas 22,15 in direkter Verbindung steht. Indem Innozenz III. siebenmal Lukas 22,15 zitiert, belegt er nicht nur siebenmal seine Bereitschaft zum Passamahl, zum Leiden. Denn dies ist nach Lukas 22,15 die direkte zeitliche Folge des Passamahls : ›Mich hat herzlich verlangt, dies Passalamm mit euch zu essen, ehe ich leide.‹ Siebenmal wird dieses zukünftige Leiden beschworen – bei dem manche Konzilsteilnehmer vielleicht auch die konkreten Folgen des avisierten Kreuzzugs vor Augen gehabt haben werden. Doch die Siebenzahl dürfte sich nicht auf das Leiden der Kreuzfahrer beziehen, sondern sie verstärkt den Aspekt der Leiden Jesu. Rupert von Deutz, den Innozenz III. in seinen Schriften rezipierte,27 hatte im 12. Buch Kapitel 5 seines Werkes De victoria verbi Dei die siebenfache Verfolgung Christi dargelegt, bei der er sich mehrfach auf die Einsetzungsworte Christi zum Abendmahl bezogen hatte.28 Die siebenfache Betonung Innozenz’ III. in seiner Eröffnungsrede, Leid auf sich nehmen zu wollen und somit wie Christus zu handeln, könnte hier ihre Begründung finden, in der siebenfachen Verfolgung Christi. Durch dieses subtile Mittel – das vermutlich nicht allen Zuhörern sofort bewusst wurde, das jedoch etwas über das Selbstverständnis Innozenz’ III. aussagt – verstärkte der Papst nochmals den Christusbezug. Indem er siebenmal das Leid ansprach, vergegenwärtigte er Christi Leiden siebenmal – und das, indem er selbst durch ein auf das Leid verweisendes Herrenwort sprach. Ohne es direkt zu thematisieren, nahm Innozenz III. dadurch eine christusgleiche Stellung ein. Die Rede weist dem Papst, der die Worte Christi zu seinen Worten macht, die Stellung Christi zu, macht sein Wort 26 Vgl. Heinz Meyer/Rudolf Suntrup : Lexikon der Mittelalterlichen Zahlenbedeutung. München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 56), Art. Sieben, Sp. 479–565, hier B.I. Sp. 484–489. 27 Vgl. Imkamp : Kirchenbild (wie Anm. 7), S. 196 f. u. S. 303, jeweils zur Rezeption des Liber de divinis officiis durch Innozenz III. 28 Vgl. Rupert von Deutz : De victoria verbi Dei, lib. XII c. 15, ed. Rhaban Haacke. Weimar 1970 (MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 5), S. 387 f.; der Hinweis auf die siebenfache Verfolgung Christi bei Rupert von Deutz findet sich bei Meyer/Suntrup : Zahlenbedeutung (wie Anm. 26), Art. Sieben, Sp. 479–565, hier B.I.4.d Sp. 486.
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jenseits des Zitates zwar nicht zu einem Herrenwort, doch es rückt die Ausführungen Innozenz’ III. auf der rhetorisch-persuasiven Ebene in diese Nähe. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass in den Konstitutionen des Laterankonzils sehr viel Innozenz steckt. Innozenz III. beherrschte das Konzil ganz offensichtlich. Daher war es ihm auch möglich, eine wesentlich subtilere Christusimitation zu vollziehen als Innozenz IV. bei der Eröffnung des Konzils von Lyon im Jahre 1245 – und dennoch ist der Gedanke bereits 1215 da und jenseits der Siebenzahl für die Zeitgenossen deutlich zu erkennen.29 Über die direkte Wirkung der Rede berichtet uns Richard von San Germano leider nichts. Die bereits in den ersten Sätzen Innozenz’ III. vorgegebenen Leitlinien wurden zudem durch zwei weitere Predigten vertieft. Nach Richard erteilte Innozenz III. im Anschluss an seine Rede dem Patriarchen von Jerusalem die Erlaubnis zu einer Predigt. Radulf von Mérencourt war im Februar 1215 zum Patriarchen gewählt worden und wurde auf dem Vierten Laterankonzil geweiht. Seine Rede lobte zunächst den Papst und beschäftigte sich dann mit dem Heiligen Land und den Möglichkeiten seiner Rückgewinnung für die christliche Seite.30 Den Aspekt der Häretikerbekämpfung thematisierte dann anschließend nochmals Thedisius, der Bischof von Agde.31 Die einleitenden Predigten nahmen damit die in den Einladungsschreiben genannten Themen auf und vertieften sie. Doch jenseits einer rhetorischen Vorbereitung der weiteren Diskussionen und Erörterungen positionierte sich Innozenz III. durch seine Predigt auf sehr geschickte Weise gegenüber dem Konzil. Die Predigt brachte ihn in eine deutlich über dem Konzil stehende Position. Und in Analogie zur Ansprache Jesu an seine Jünger ist damit auch die Rolle der Konzilsteilnehmer beschrieben. Sie erwiesen sich als rechte Christen, wenn sie sich dieser Rolle gemäß verhielten, indem sie das Wort Innozenz’ III. aufnahmen und verbreiteten. Nicht die Diskussion der Konzilsinhalte und die Beratung des Papstes war die Aufgabe der aus ganz Europa zusammengekommenen Bischöfe und Prälaten, sondern schlicht ihre Anwesenheit. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass ihre Rolle diejenige von Claqueuren war. Sie sollten eine wahrlich universal ausgerichtete Bühne für die papale Verkündung bilden. Als wahre Diener Christi erwiesen sie sich folgerichtig durch ihre Zustimmung und den Vollzug der päpstlichen Bestimmungen. Denn dass es sich auch in der 29 Zur Eröffnungsrede Innozenz’ IV. auf dem Konzil von Lyon im Jahre 1245 vgl. Weinfurter : Papst (wie Anm. 24), S. 125. 30 Ryccardi chronica, ed. Garufi (wie Anm. 15), S. 70, Z. 37–41 : Quo finito patriarcha Ierosolimita nus cum licentia est locutus faciens in suo sermone de succursu terre sancte principaliter mentionem, licet quedam in laudem pretulit domini pape. 31 Ryccardi chronica, ed. Garufi (wie Anm. 15), S. 70, Z. 41–S. 71, Z. 1 ; vgl. dazu Foreville : Lateran I–IV (wie Anm. 15), S. 312.
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Wahrnehmung der Zeitgenossen um eine Verkündung päpstlicher Verlautbarungen handelte, wird etwa auch im Liber Extra deutlich, der die Regelungen nicht als einen Beschluss des Laterankonzils kennzeichnet, sondern meist ausführt : Innocentius papa in concilio generali – das Konzil war nur die Bühne.32 *** Doch Innozenz III. agierte auf dem Konzil nicht allein durch subtile und doch sehr überzeugende persuasive Methoden wie in seiner Eröffnungsansprache. Vielmehr verweigerte er auch sehr offen und geradezu konfrontativ die argumentative Auseinandersetzung. Gemeint sind im Rahmen des deutschen Thronstreits die Auseinandersetzungen um Otto IV., der an das Konzil appelliert hatte.33 Der exkommunizierte Welfe hatte an das Kardinalskollegium – das in allen causae maiores zu hören und zu beteiligen war34 – sowie an das Konzil appelliert. Durch einen von Stephan Kuttner und Antonio García y García entdeckten und 1964 edierten Augenzeugenbericht sind wir über den konkreten Ablauf der Ereignisse in dieser Causa deutlich besser informiert.35 Zunächst trat offenbar Erzbischof Berard von Palermo als Gesandter Friedrichs II. auf, anschließend beantragten die Mailänder als Vertreter Ottos IV. Stellung nehmen zu können, was jedoch zunächst zu einer heftigen und offenbar auch lautstarken Auseinandersetzung um deren Rederecht führte, in der Innozenz III. die Streitparteien mehrfach zur Ruhe auffordern musste. Der Papst ließ die Mailänder jedoch schließlich gewähren, nicht zuletzt aus verfahrensrechtlichen Überlegungen, 32 So beispielsweise in X 5.38.12–14, Edition bei Decretalium D. Gregorii papae IX. compilatio (= Liber Extra[vagantium]). Hrsg. von Aemilius Friedberg. In : Corpus Iuris Canonici. Leipzig 1879 (Nachdr. Graz 1959), Bd. 2 Sp. 1–928, hier Sp. 887 f. Die Rubrik lautet Idem [i. e. Innocentius III] in concilio generali. 33 Vgl. dazu Ulrich Hucker : Kaiser Otto IV. Hannover 1990 (MGH Schriften 34), S. 320–326 ; als Überblick zur Positionierung Innozenz’ III. im Thronstreit nach wie vor Egon Boshof : Innozenz III. und der deutsche Thronstreit. In : Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas. Hrsg. von Thomas Frenz. Stuttgart 2000, S. 51–67. 34 Werner Maleczek : Papst und Kardinalskolleg von 1191 bis 1216. Die Kardinäle unter Coelestin III. und Innocenz III. Wien 1984 (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, Abt. 1, 6) ; zuletzt auch Andreas Fischer : Die Kardinäle von 1216 bis 1304 : zwischen eigenständigem Handeln und päpstlicher Autorität. In : Geschichte des Kardinalats im Mittelalter. Hrsg. von Jürgen Dendorfer/Ralf Lützelschwab. Stuttgart 2011 (Päpste und Papsttum 39), S. 155–224 ; Jochen Johrendt : Zwischen Autorität und Gehorsam. Papst und Kardinalskolleg im 13. Jahrhundert. In : Autorität und Akzeptanz. Das Reich im Europa des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Hubertus Seibert u.a. Ostfildern 2013, S. 65–89. 35 Vgl. Stephan Kuttner/Antonio García y García : A New Eyewittness Account of the Fourth Lateran Council. In : Traditio 20 (1964), S. 115–178 ; Wiederabdruck in : Stephan Kuttner : Medieval Councils, Deretals and Collections of Canon Law. London 1980, IX S. 115–178. Noch ohne die Kenntnis dieses Zeugen Tillmann : Innocenz III. (wie Anm. 1), S. 149.
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da jeder reuige Sünder gehört werden müsse. Um die Ausführungen der Mailänder für das Konzil auch gleich richtig einzuordnen, führte er zudem aus : ›Schließlich wäre sogar der Teufel zu hören, wenn er denn Buße üben könnte.‹36 Eine unpartei ische Anhörung sieht sicherlich anders aus. Und die Einstimmung verfehlte offenbar auch nicht ihre Wirkung. Denn die Folgen waren weitere Tumulte und lautstarke Unterbrechungen der Mailänder, die nun die Position Ottos IV. vortrugen – oder dies zumindest versuchten. Lärm und Heftigkeit der Auseinandersetzungen schwollen schließlich derart an, dass Innozenz III. die Sitzung abbrach und das Konzil verließ. Am darauffolgenden Tag, am 30. November, nahm Innozenz III. in der abschließenden Sitzung sehr geschickt den Faden der Causa Ottos IV. nicht mehr sofort auf, sondern ließ zunächst die Übertragung Englands durch König Johann Ohneland an den Heiligen Stuhl behandeln.37 Das wiederum regte den Mainzer Erzbischof Siegfried II. von Eppstein zu einem Einspruch an, mit dem er allem Anschein nach die Ausführungen des Papstes unterbrach, surgens pre ceteris, indem er sich mit anderen erhob, wie der anonyme Augenzeuge des Laterankonzils ausführt.38 Siegfried machte die Übertragung Englands an das Reich durch Richard Löwenherz geltend, um zu betonen, dass die Übertragung an den Heiligen Stuhl nicht rechtmäßig sei. Auf den ersten Blick erwies sich der Mainzer damit als ein braver Reichsfürst, der für die Interessen des Reiches eintrat und des eben in Aachen gekrönten ehemaligen Mündels Innozenz’ III., Friedrichs II. Doch diese Intervention lieferte dem Papst eine Steilvorlage, um den weiteren Verlauf in seinem Sinne zu gestalten. Denn der Papst stoppte den offenbar gleich lossprudelnden Mainzer, indem er die Hand hob, um ihm Ruhe zu gebieten, und damit dessen Redefluss beendete. Daraufhin führte Innozenz III. aus : ›Zunächst sollst Du mir zuhören, dann werde ich auch Dir zuhören.‹39 Der Augenzeuge beschreibt auch die sofortigen Folgen : ›Daraufhin ging der genannte Erzbischof, wie auf einen Schlag ein gehorsamer Sohn, so wie es sich ziemt und gehört, in keinster Weise mehr gegen den Willen des Vaters und Herrn vor.‹40 Die Form 36 Kuttner/García y García : Eyewittnes (wie Anm. 35), S. 126, Z. 109 f.: ibidem audiantur, adhi ciens etiam quod si diabolus posset penitere, certe recipiendus esset. 37 Zur Einordnung dieser Übertragung vgl. jetzt Rudolf Schieffer : Papsttum und neue Königreiche im 11./12. Jahrhundert. In : Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweisen – Strategien – Darstellungsformen. Hrsg. von Stefan Weinfurter. Ostfildern 2012 (Mittelalter-Forschungen 38), S. 69– 80, bes. S. 78 ; sowie zu den Vorverhandlungen und dem konkreten Ablauf Christopher Robert Cheney : Pope Innocent III and England. Stuttgart 1976 (Päpste und Papsttum 9), S. 332–348. 38 Kuttner/García y García : Eyewittnes (wie Anm. 35), S. 128, Z. 169–171. 39 Kuttner/García y García : Eyewittnes (wie Anm. 35), S. 128, Z. 175 : Audias me modo, posthac audiam te. 40 Kuttner/García y García : Eyewittnes (wie Anm. 35), S. 128, Z. 175–177 : Et sic dictus archiepis copus tamquam promptus obedientie filius, ut decuit et oportuit, contra voluntatem patri et domini mi nime processit …
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der Einrede Siegfrieds ist von der Forschung zwar auch als »dumm«41 bezeichnet worden, doch sie scheint Innozenz III. auch bestens in seinen Plan gepasst zu haben, sodass Hucker wohl zu Recht vermutete, dass diese den Papst unterbrechende Einrede durchaus mit Innozenz III. abgesprochen und geplant gewesen sein könnte.42 Denn sie gab dem Papst die Möglichkeit, nun nach seinen Vorstellungen zu verfahren, ohne dass irgendein anderer Prälat ihn noch unterbrochen hätte – vor allem kein anderer Prälat aus dem Reich mehr, nachdem der Erzkanzler sich so schlagartig als ein gehorsamer und den Papst nicht mehr unterbrechender Sohn erwiesen hatte. Die Unterbrechung durch den Mainzer gab Innozenz III. die Möglichkeit, die Erklärung zu England abzuschließen und in diesem Zusammenhang – nun unwidersprochen – auch die Wahl Friedrichs II. anzuerkennen, indem er ausführte, dass ›wir es für rechtmäßig halten, wie die Fürsten Deutschlands und des Reiches sich gegenüber Friedrich II., dem König Siziliens, verhalten haben. Und wir wollen ihn sogar unterstützen und in allen Dingen voranbringen.‹43 Damit war die Appellation Ottos IV. gescheitert – durch einen zur Rede gehörenden Trick, durch die verabredete Einrede in ungebührlicher Form gelang es Innozenz III., seinen Willen auf dem Konzil durchzusetzen. Nicht nur in den Fragen der Theologie, Ekklesiologie und Pastoral erwies sich Innozenz III. damit als der souveräne Herr des Konzils, sondern auch auf der politischen Bühne. Eine offizielle Verurteilung und Absetzung Ottos IV., eines Kaisers – wie sie 1245 in Lyon das erste Mal in der Geschichte erfolgte –, war auf dem Vierten Laterankonzil nicht notwendig, zumal es für Innozenz III. und seine Politik sowieso besser war, wenn die Dinge ein wenig in der Schwebe blieben, wie es im deutschen Thronstreit der Fall war, der damit die politische Situation geschaffen hatte, um den Kirchenstaat auszubauen.44 ***
41 So Kuttner/García y García : Eyewittnes (wie Anm. 35), S. 160. 42 Vgl. Hucker : Otto IV. (wie Anm. 33), S. 326. 43 Kuttner/García y García : Eyewittnes (wie Anm. 35), S. 128, Z. 181–193 : Nulli debet esse du bium : Quod principes Alimannie et imperii circa Fridericum Cecilie [sic] regem fecerunt, ratum habemus, immo ipsum fovere et promovere in omnibus volumus et complebimus. 44 Vgl. dazu David Waley : The Papal State in the Thirteenth Century. London 1961, S. 30–67 ; zur konkreten Herrschaftsausübung im Kirchenstaat v.a. Christian Lackner : Studien zur Verwaltung des Kirchenstaates unter Papst Innocenz III. In : Römische Historische Mitteilungen 29 (1987), S. 127–214 ; vor allem das Moment der fidelitas als Mittel der Herrschaftsbildung betonend Sandro Carocci : »Patrimonium beati Petri« e »fidelitas«. Continuità e innovazione nella concezione Innocenziana dei domini pontifici. In : Innocenzo III. Urbis et orbis, Atti del Congresso Internazionale, Roma, 9–15 settembre 1998. Hrsg. von Andrea Sommerlechner. 2 Bde. Roma 2003 (Miscellanea della Società Romana di Storia Patria 44 = Nuovi Studi Storici 55), S. 668–690, hier S. 681–689.
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Fiktiv ist hingegen die dritte hier zu behandelnde rhetorische Auseinandersetzung Innozenz’ III. auf dem Laterankonzil. Es handelt sich um einen Dialog zwischen dem Conti-Papst und der personifizierten Roma – der jedoch deswegen hier zu behandeln ist, da er die Bedeutung der öffentlichen Argumentation für die Urteilsfindung des Konzils veranschaulicht, wenn auch im fiktiven Raum und mit einem fiktiven Ergebnis. Es handelt sich um eine Disputatio im Umfang von 399 Hexametern, die am Hof Ottos IV. entstanden sein könnte, vermutlich durch Heinrich von Avranches.45 Die fiktive Disputatio ist in gewisser Weise als eine Fortsetzung des auf dem Laterankonzil ausgebliebenen Disputes aufzufassen. Denn sie führt die Auseinandersetzung fort, die Innozenz III. auf dem Laterankonzil durch die Einrede des Mainzer Erzbischofs geschickt unterbrochen und damit auch abgebrochen hatte. Zu Beginn des Dialogs zwischen Innozenz III. und Roma ist das Einvernehmen beider noch bestens. Roma bezeichnet sich dem Papst gegenüber als tua Roma, Innozenz III. erwidert die Zuneigungsbezeugungen mit artigen Komplimenten, indem er Rom als mundi Roma caput, Urbs urbe beatior omni bezeichnet : Papst und Rom – eine glückliche Beziehung zu Beginn des 13. Jahrhunderts, bereits hier wird jedem Kenner der römischen Geschichte klar, wie ungeheuer fiktiv diese Ausführungen sind.46 In realistischere Fahrwasser kommt der Dialog, als Innozenz III. schließlich Otto IV. anklagt und Rom für diesen Partei ergreift. Als Innozenz III. Roma daraufhin den Mund verbietet,47 wendet sich diese gegen den Papst und an das Konzil, macht das Laterankonzil zu dem, was Konzilien in alter Tradition eben auch immer waren : zu einem Ort, an dem auch Recht gesprochen und Urteile gefunden wurden. Die Parallelität zu den re45 Disputatio inter Romam et papam de Ottone IV. imperatore. Hrsg. von Gottfried Wilhelm Leibniz. In : Scriptores rerum Brunsvicensium 2. Hannover 1710, S. 525–532 ; vgl. dazu Ulrich Hucker : Otto IV. Der wiederentdeckte Kaiser. Frankfurt a. M., Leipzig 2003, S. 429 nennt mit Hinweis auf die zukünftige Ausgabe seiner Gedichte im Rahmen der MGH Heinrich von Avranches als den Autor der Disputatio, vgl. dazu zukünftig die Ausgabe der Gedichte im Rahmen der Scriptores-Reihe der MGH durch Konrad Bund. Vgl. dazu auch seine Darlegungen Konrad Bund : Studien zu Magister Heinrich von Avranches. II. Gedichte im diplomatischen Umfeld Kaiser Ottos IV. 1212–1215. In : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 56 (2000), S. 525–545, hier S. 537– 545. Der älteren Forschung war der Autor unbekannt, vgl. Franz Josef Worstbrock : Politische Sangsprüche Walthers im Umfeld lateinischer Dichtung seiner Zeit. In : Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Hrsg. von dems./JanDirk Müller. Stuttgart 1989, S. 61–80, hier S. 75–78, plädiert für einen Autor englischer Herkunft, da ihm Verse Galfrids von Vinsauf für den englischen König Johann Ohneland bekannt sind ; zur Disputatio vgl. auch Hucker : Otto IV. (wie Anm. 33), S. 320, dort noch an Worstbrock orientiert. Zur Disputatio im Kontext der politischen Streitgedichte vgl. Hans Walther : Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters. München 1920 (ND Hildesheim u.a. 1984) (Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 5/2), S. 178 f. 46 Disputatio inter Romam et papam, ed. Leibniz (wie Anm. 45), S. 525. 47 Ebd., S. 530 : Roma tace, quid enim polixa locutio prodest ?
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alen Vorgängen auf dem Laterankonzil ist nicht zu verkennen. Der Ausgang des Disputs ist in der Fiktion jedoch ganz anders. Vom Christusvikariat Innozenz’ III., der ihm neben der traditionellen und unter diesem Papst noch ausgeweiteten plenitudo potestatis eine noch dominantere Stellung gegenüber dem Konzil verleiht, kommt folglich in der Rede der Roma auch nichts vor. Vielmehr spricht Roma dem Papst die persönliche Eignung zum Amt ab, doch nicht wie Walther von der Vogelweide in seinem Reichston, der einen Klausner klagen lässt : owê, der bâbest ist ze junc, hilf, hêrre, dîner cristenheit !48 Roma geht noch weiter. Denn sie formuliert : Non es Apo stolicus, sed Apostaticus : neque pastor, / Immo lupus, vescens ipso grege : nec pater, immo / Vitricus Ecclesiae.49 Der Papst wird damit zum Apostaten erklärt, zum Häretiker, womit Roma den einzigen Umstand nennt, aufgrund dessen ein Papst angeklagt und verurteilt werden kann – allein, wenn er ein Häretiker ist.50 Doch zu einer Absetzung kommt es auch in der Fiktion nicht, auch wenn sie die Androhung in den Raum stellt. Vielmehr erklärt das Konzil Roma, dass es einen Papst nicht abzusetzen vermag (non est nostrum deponere Papam). In der Sache schließt sich das Konzil im fiktiven Dialog jedoch der Sache Roms an und fordert die Absetzung Friedrichs sowie die Restitution Ottos IV.51 Und damit hatte sie dann auch Erfolg, sie hatte sich – zumindest in der literarischen Fiktion52 – gegen Innozenz III. durchgesetzt. Doch lassen wir die drei Schritte der Predigt, der verweigerten Aussprache und des fiktiven Dialogs nochmals Revue passieren, so wird vermutlich nicht nur der Innozenz-Bewunderer zu dem Ergebnis kommen : Gegen diesen Papst kommt man eben nur im fiktiven Dialog an. 48 Reichston III, V 24 in : Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. Hrsg. von Chris toph Cormeau. 14., völlig neu bearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein/Horst Brunner. Berlin, New York 1996, S. 13. Vgl. dazu sowie zu den anderen kritischen Ausführungen Walthers von der Vogelweide zu Innozenz III. auch Theodor Nolte : Papst Innozenz III. und Walther von der Vogelweide. In : Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas. Hrsg. von Thomas Frenz. Stuttgart 2000, S. 69–89 ; zum Reichston jetzt auch die bei Thomas Bein entstandene voluminöse Dissertation von Jens Burkert : Walthers von der Vogelweide »Reichston«. Eine kritische Aufarbeitung der altgermanistischen und historischen Forschungsgeschichte. Frankfurt a. M. 2015 (Walther-Studien 8), zu L 9,16 ff. ebd., S. 360–546. 49 Disputatio inter Romam et papam, ed. Leibniz (wie Anm. 45), S. 532. 50 Zur Nichtjudizierbarkeit des Papstes vgl. Salvatore Vacca : Prima sedes a nemine iudicatur. Genesi e sviluppo storico dell’assioma fino al decreto di Graziano. Roma 1993 (Miscellanea historiae pontificiae 61) ; sowie im Hinblick auf die Möglichkeit der Abdankung des Papstes die Arbeit von Martin Bertram : Die Abdankung Papst Cölestins V. (1294) und die Kanonisten. In : Zeitschrift der Savi gny-Stiftung für Rechtsgeschichte : Kanonistische Abteilung 56 (1970), S. 1–101 ; weniger stark kanonistisch ausgerichtet Harald Zimmermann : Papstabsetzungen des Mittelalters. Graz u.a. 1968. 51 Disputatio inter Romam et papam, ed. Leibniz (wie Anm. 45), S. 532 : Jus est Fredericum / Ut depona mus, et restituamus Otonem. 52 Zu den Auseinandersetzungen auf dem Vierten Laterankonzil und der Aburteilung Ottos IV. durch Innozenz III. vgl. Friedrich Stürner : Friedrich II. 2 Bde. Darmstadt 32009, hier : Bd. 1, S. 181–183.
Jörg Oberste
Die Pastoralbeschlüsse des IV. Lateranums und die europäische Ketzerfrage 1. Ketzer auf dem IV. Laterankonzil
Die Ketzerfrage stand – im buchstäblichen Sinne – an der Spitze der Sorgen der Konzilsväter des IV. Lateranums. Die ersten drei Kanones befassen sich explizit mit dieser Frage. Kanon 1 besaß natürlich eine grundlegende theologische Dimension, die sich nicht auf die Frage der Ketzerei reduzieren lässt, sondern aktuelle theologische Diskussionen spiegelt, doch diente der Text nicht zuletzt der präziseren Bestimmung heterodoxer Lehren, auf die in Kanon 3 im Einzelnen abgehoben wird.1 Der ausführliche Text des Glaubensbekenntnisses in Kanon 1 war, gestützt auf die dogmatischen Grundsätze der frühen ökumenischen Konzilien, an jene Glaubensformeln angelehnt, die man an der Kurie zur Beendigung von Ketzerverfahren entworfen hatte, zuerst eingesetzt beim Lyoneser Kaufmann und Wanderprediger Valdes (1180), dann unter Innozenz III. weiterentwickelt zu den Bekenntnissen, die den Waldensergruppierungen um Durandus von Huesca (1208) und Bernhard Prim (1210) vorgelegt wurden. Insbesondere die Professio fidei Waldensibus praescripta von 1208 nimmt den Text des IV. Lateranums in vielen Einzelheiten vorweg.2 Nach den Festlegungen zur Trinität in Kanon 2, die sich gegen bestimmte Anschauungen Joachims von Fiore und gegen ein nicht näher bestimmtes perversissimum dogma Amalrichs von Bena richten, beginnt Kanon 3 mit der Feststellung : Ketzer sei derjenige, der in einem oder mehreren Punkten gegen das oben festgelegte Glaubensbekenntnis verstoße, unter welchem Namen oder unter welcher Lebensweise er auch auftrete. Was dann folgt, ist freilich eine systematisierende Zusammenfassung des gerade in den letzten beiden Jahrzehnten zuvor gewaltig angewachsenen Rechtsbestandes zu Fragen der Ketzerei und weniger eine Neuorientierung, wie sie wenig später das Verfahren der päpstlichen Ketzerinquisition erbracht hat.3 1 Hier und im Folgenden wird als kritische Ausgabe der Konzilsbeschlüsse verwendet : Conciliorum oecumenicorum decreta. Dekrete der ökumenischen Konzilien. Band 2 : Konzilien des Mittelalters. Hrsg. von Josef Wohlmuth. Paderborn u.a. 2000, S. 227–271. 2 Der Text der Professio in PL 215, 1510D–1513C und Innozenz III., Regesten VII, 196. Zu den waldensischen Bekenntnissen allgemein Christine Thouzellier : Catharisme et valdéisme en Languedoc à la fin du XIIe et au début du XIIIe siècle. 2. Aufl. Louvain, Paris 1969. 3 Vgl. im Überblick zur Einordnung von Kanon 3 vor allem Helmut G. Walther : Häresie und päpstliche Politik. Ketzerbegriff und Ketzergesetzgebung in der Übergangsphase von der Dekretistik zur
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Es folgen administrative Regelungen zur Aufspürung von Ketzern, die aus der älteren Dekretalen- und Konzilsgesetzgebung übernommen werden, so etwa die zentrale Passage zur Bischofsinquisition aus der Dekretale Ad abolendam Papst Lucius’ III. aus dem Jahr 1184. Interessant ist die Selektion aus der breiten kanonistischen Überlieferung : Während etwa die strafrechtlichen Regelungen zur Aburteilung von Ketzern weitgehend übergangen werden, wie sie vor allem in den frühen Jahren Innozenz’ III. in wichtigen Dekretalen (z.B. Vergentis 1199 oder Cum ex officiis 1207) neu geordnet wurden,4 beherrscht ein anderer Gedanke große Teile von Kanon 3 : Wer ein weltliches oder kirchliches Amt bekleidet, musste ex officio gegen Ketzer vorgehen, sonst drohten ihm Amtsverlust und empfindliche Strafen bis hin zum Ketzervorwurf. Damit setzte das IV. Lateranum die sich seit dem III. Laterankonzil kontinuierlich verschärfende Gesetzgebung gegen Verteidiger und Förderer der Ketzerei fort und verband diese Stoßrichtung mit einem Regelkatalog für katholische Amtsträger, Territorialherren und Bischöfe.5 Im Zentrum dieses Teils von Kanon 3 stand ein Amtseid, den wohlgemerkt nicht nur gewählte städtische Repräsentanten, sondern alle rechtgläubigen Herrschaftsträger abzulegen hatten.6 Erfahrungen mit solchen antihäretischen Eiden hatte man in der Grafschaft Toulouse seit 1178 gesammelt. In Kanon 3 gingen konkret die durch das III. Lateranum, päpstliche Dekretalien oder Synodalbeschlüsse aus Okzitanien, etwa die Synoden von Avignon 1209 oder Montpellier 1211, vorbereiteten politischen Strafandrohungen für nachlässige Landes- oder Territorialherren ein, die in Amtsverlust oder Absetzung und Verlust der Rechtsfähigkeit einschließlich des Testier- und Erbrechts mündeten. Als Quelle ist hier an erster Stelle an die umfangreiche Dekretale Vergentis in senium von März
Dekretalistik. In : The Concept of Heresy in the Middle Ages (11th–13th C.). Proceedings of the International Conference Louvain May 13–16, 1973. Hrsg. von Willem Lourdaux/Daniel Verhelst. Leuven, Den Haag 1976, S. 104–143. 4 Vgl. dazu den Überblick von Jörg Oberste : Ketzerei und Inquisition im Mittelalter. 2. Aufl. Darmstadt 2012, S. 66–71. 5 Zu diesem Thema nun ausführlich Jörg Oberste : Krieg gegen Ketzer ? Die »defensores«, »receptatores« und »fautores« von Ketzern und die »principes catholici« in der kirchlichen Rechtfertigung des Albigenserkrieges. In : Krieg und Christentum : Religiöse Gewalttheorie in der Kriegserfahrung des Westens. Hrsg. von Andreas Holzem. Paderborn 2009, S. 368–391. 6 IV. Laterankonzils, 1215, Can. 3. Hrsg. von Wohlmuth (Anm. 1), S. 233 f.: »Die weltlichen Gewalten, gleich welches Amt sie bekleiden, werden – sofern sie als Gläubige erachtet werden möchten – gemahnt, veranlasst und nötigenfalls durch die kirchliche Zensur gezwungen, für die Verteidigung des Glaubens öffentlich einen Eid zu leisten, der beinhaltet, daß sie sich gewissenhaft und nach Kräften bemühen werden, alle von der Kirche gebrandmarkten Ketzer aus den Territorien, die ihrer Jurisdiktion unterliegen, zu vertreiben. Wer immer ein weltliches oder kirchliches Amt übernimmt, soll in Zukunft diesen Eid leisten.«
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1199 zu denken.7 Die konkrete Rechtsaussage richtet sich primär nicht gegen Ketzer, sondern gegen die defensores, receptatores, fautores et credentes haereticorum. Diese Gruppe, die bereits im Zentrum des Kanons 27 des III. Laterankonzils gestanden hatte, wurde nun mit härteren Strafandrohungen konfrontiert, unter denen der Infamievorwurf am schwersten wog. Die Verhängung der infamia bedeutete in römischer Rechtstradition eine empfindliche Einschränkung der Rechtsfähigkeit und den Verlust der meisten zivilen Rechte, so des aktiven und passiven Wahlrechts, des Testierund Erbrechts sowie das Verbot, öffentliche Ämter oder Herrschaft auszuüben. Nach Einschätzung Kolmers zielte die Dekretale damit auf eine stärkere soziale Isolation der Ketzer und darauf, öffentliche Amts- und Herrschaftsträger, etwa auch Konsuln und Notare, von der Begünstigung der Ketzerei abzuschrecken.8 Ein im Rechtsalltag wie in der Rechtstheorie bedeutsamer Schritt war auch mit der in der ersten Fassung von 1199 enthaltenen Neuerung verbunden, dass nicht nur verurteilten Ketzern und ihren defensores die Konfiskation ihres Vermögens drohte, sondern auch deren Söhne nicht wieder in das Vermögen eingesetzt werden durften. Durch die faktische Enterbung der Nachkommen erhielt der kirchliche Ketzerprozess eine bislang nicht gekannte soziale Sprengkraft.9 Unfähigen oder unwilligen Territorialherren drohte die Kirche jetzt ganz offen mit dem Entzug der Herrschaftsrechte und des persönlichen Vermögens bis in die zweite Generation. Umstritten waren an der Kurie offenbar sowohl die Praxis der faktischen Enterbung als auch die generelle Ausweitung der Konfiskation auf die Gruppe der defensores und fautores. In späteren Fassungen der Vergentis und auch in den Konfiskationsbestimmungen von Kanon 3 des IV. Laterankonzils sowie des Liber extra fehlte der auf die Söhne bezogene Zusatz. In der für das Patrimonium Petri erlassenen Dekretale Cum ex officii nostri von 1207 beschränkte sich Innozenz III. darauf, defensores und fautores mit der Einziehung eines Viertels ihres Vermögens zu bedrohen.10 Da mit der Gesetzgebung gegen die Verteidiger und Förderer von Ketzern immer offener der höhere territoriale Adel sowie die mächtigen Konsulate in Italien und Südfrankreich in den Bannkreis der kirchlichen Strafpraxis gezogen wurden, war mit der Frage der vollständigen Enteignung und der Sippenhaftung für die folgende Generation offenbar die Grenze 7 Comp. III, V, IV, 1 ; X. V, 7, 10. Vgl. grundlegend Othmar Hageneder : Studien zur Dekretale »Vergentis«. Ein Beitrag zur Häretikergesetzgebung Innozenz’ III. In : ZRG. KA 49 (1963), S. 138– 173. 8 Lothar Kolmer : Ad capiendas vulpes. Die Ketzerbekämpfung in Südfrankreich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und die Ausbildung des Inquisitionsverfahrens. Bonn 1982 (Pariser Historische Studien 19), S. 37. 9 Vgl. Kenneth Pennington : »Pro peccatis patrum puniri«. A moral and legal problem of the Inquisition. In : Church History 47 (1978), S. 137–154. 10 Vgl. dazu Hageneder (Anm. 7), S. 148–151 und Meschini (Anm. 12), S. 477–492.
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dessen erreicht, was man an der Kurie für durchsetzungsfähig hielt. Daraus zog die Regelung des Kanons 3 im Jahr 1215 die Konsequenz. Daneben spielte das negotium pacis et fidei, wie der Albigenserkreuzzug im Jargon der päpstlichen Kanzlei unter Innozenz III. genannt wurde, auch wenn ihm kein eigener Kanon galt, eine wichtige Rolle in den Verhandlungen der ersten Plenarsitzung des Konzils, zu der die Protagonisten des Konflikts nach Rom geladen wurden. Als Ergebnis dieser Verhandlungen, über die ein Dossier unter dem Titel Sententia de Terra Albigensi angelegt wurde, erhielt Simon von Montfort die erwünschte Bestätigung seiner Position als Graf von Toulouse, während gegen Graf Raimund VI. als Förderer der Ketzerei die Strafe von Herrschaftsverlust und Exil verhängt wurde.11 Seinem Sohn Raimund VII. – dies eine direkte Folge der oben diskutierten abgemilderten Konfiskations- und Erbregelung – blieb zumindest die Anwartschaft auf Herrschaftsgebiete in der Provence erhalten. Bereits die Kanonisten des zwölften Jahrhunderts hatten, ausgehend von Causa XXIII des Decretum Gratiani, die Rechtfertigung von Krieg diskutiert.12 Zwar werden Ketzer nicht ausdrücklich genannt, doch lassen sich die allgemeinen Ausführungen Gratians über Kirchenfeinde gut auf Ketzer beziehen, so wie seine Hauptquelle in dieser Causa, Augustinus, viele seiner Dicta zum Krieg direkt oder indirekt mit der Frage der Ketzerei verknüpft hatte.13 Die Glosse zu qu. 3, c. 3 stellt mithin klar : Catholici recte petunt vindictam contra hereticos […]. Immo etiam expugnari pos sunt heretici.14 Der Kanonist Huguccio, dessen Ansichten nachweislich Einfluss auf Innozenz III. ausübten, resümierte in seiner Summa als legitime Kriegsgründe : pro lege sive fide servanda, pro pace aquirenda vel conservanda, pro vindicta referenda, pro injuria sua vel alterius repellenda.15 Wenn unter Innozenz III. die Formel des nego tium pacis et fidei auftaucht, so in den päpstlichen Registern ab 1208, in der etwa 1213 begonnenen Historia Albigensis des Petrus von Vaux-de-Cernay oder in der ge-
11 Die Akten dieser Verhandlungen sind gedruckt in Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Bd. 1–53. Hrsg. von Giovanni Domenico Mansi. Firenze, Venezia 1759–1827 (hier Bd. 22), S. 1060 ff. Vgl. ausführlicher Jörg Oberste : Der Kreuzzug gegen die Albigenser. Ketzerei und Machtpolitik im Mittelalter. Darmstadt 2003, S. 126–130. 12 Vgl. Ernst-Dieter Hehl : Kirche und Krieg im 12. Jahrhundert. Studien zu kanonischem Recht und politischer Wirklichkeit. Göttingen 1979 und vor allem die Dissertation von Marco Meschini : Innocenzo III e il negotium pacis et fidei in Linguadoca tra il 1198 e il 1215. Roma 2007 (Memorie. Classe di Scienze Morali, Storiche e Filologiche. Serie IX, Vol. 20,2). 13 Diesen Aspekt betont Germain Sicard : Paix et guerre dans le droit canon. In : Paix de Dieu et Guerre sainte en Languedoc au XIIIe siècle. Toulouse 1969 (Cahiers de Fanjeaux 4), S. 72–90, hier S. 82. 14 Ebd., S. 88, Anm. 36. 15 Ebd., S. 80.
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nannten Sententia de Terra Albigensi,16 dann bezieht sich der juristisch versierte Papst auf genau jene kanonistische Rechtfertigung militärischer Gewalt, die an erster Stelle mit lex, fides und pax argumentierte. Zwar waren mit der Formulierung negotium pacis et fidei keineswegs nur oder gar in erster Linie Kriegshandlungen gemeint, sondern gemäß dem Bericht der Historia Albigensis zu den Jahren um und nach 1203 das spezielle Mandat der päpstlichen Legaten in Südfrankreich zur Bekämpfung der Ketzerei, das primär auf die Herstellung einer möglichst breiten politischen Front gegen die Ketzer ausgerichtet war.17 Doch den Konzilsvätern von 1215 ging es darum, die Kriegshandlungen und vielen Opfer des mittlerweile sechs Jahre währenden Kreuzzugsunternehmens in Okzitanien mit einer möglichst starken Rechtfertigung zu versehen. Dieses knappe Resümee soll darauf aufmerksam machen, dass auf dem IV. Laterankonzil die Frage der Ketzerei und der weiterhin höchst aktiven Massenbewegungen der Katharer und Waldenser durchaus unter verschiedenen Blickwinkeln und im Kontext unterschiedlicher politischer und kirchlicher Rahmenbedingungen diskutiert worden sind. Im Kontext der Ketzerfrage hat die Forschung bislang weitaus weniger Aufmerksamkeit den Maßnahmen geschenkt, die das IV. Laterankonzil zur Verbesserung der Seelsorge und der klerikalen Disziplin traf. Ziel dieses kurzen Beitrags ist es, diese Reformmaßnahmen, die selbstredend in weiteren Bezügen und Traditionen stehen, in den Kontext der europäischen Ketzerfrage einzuordnen. Meine folgenden Überlegungen sind in drei kurze Schritte gegliedert : 1. Ich stelle die für mich relevanten Pastoralbeschlüsse vor. 2. Ich gehe auf die geistigen Urheber dieser Beschlüsse an der Universität von Paris ein, indem ich in aller Kürze ihre neuartige Pastoraltheologie sowie ihren praktischen Wirkungskreis zu skizzieren versuche. 3. Ich formuliere einige Überlegungen dazu, wie eng die Lösung des europäischen Ketzerproblems seit Innozenz III. mit den drängenden Reformproblemen innerhalb von Kirche und Klerus, insbesondere mit dem Anliegen der Seelsorgereform verknüpft worden ist. Noch 1179 war man die Ketzerproblematik durchaus intensiv und in Teilen sogar innovativ angegangen, wenn man an die Ausdehnung der Kreuzzugsprivilegien auf die gewalttätige Verfolgung von Häretikern denkt.18 Aber ganz in der Tradition früherer Synoden und Dekretalien behandelte das III. Lateranum die Ketzerfrage eher noch als isoliertes Phänomen. Erst seit Innozenz III. wird das alte Anliegen der Klerusre16 Die Belege werden gesammelt und diskutiert bei Meschini (Anm. 12), S. 502–505. 17 Meschini (Anm. 12), S. 502 ff. 18 Zu diesen beiden Punkten des Kanons 27 des III. Laterankonzils vgl. Oberste (Anm. 4), S. 66 f.
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form nach meiner Auffassung gezielt mit der Ketzerfrage verknüpft und damit erst zu einer schlagkräftigen Neuausrichtung geführt, ohne dass Innozenz und seine Nachfolger natürlich auf harte Strafmaßnahmen gegen ketzerische Umtriebe verzichtet hätten. Man muss die Reformpolitik, auf die es mir ankommt, als wesentliche Stütze einer durchaus vielschichtigen Ketzerpolitik begreifen, um ihre Wirkung richtig zu ermessen.
2. Seelsorge auf dem IV. Laterankonzil
Die Kernpunkte der Seelsorgereform, die Regelungen zu Volkspredigt und Beichte, wurden in den Kanones 10 und 21 festgeschrieben : Auf dem christlichen Heilsweg sei »die Nahrung des göttlichen Wortes« besonders wichtig, heißt es in Kanon 10.19 Da aber die Bischöfe aufgrund vieler weltlicher Belastungen oft nicht zum Predigen kämen, von ihrer mangelhaften Bildung ganz zu schweigen, sollten sie geeignete Männer zur Predigt in ihrer Diözese heranziehen (viros idoneos ad sanctae praedicati onis officium). Der Kanon präzisiert, was man sich unter dieser Eignung vorzustellen habe : Männer, die Fähigkeiten in christlichen Werken und im Predigen besitzen (po tentes in opere et sermone) und die ihre Gemeinde durch das Wort und ihre vorbildliche Lebensweise erbauen können (verbo aedificent et exemplo).20 Man denkt zu Recht an die Pastoralregel Gregors des Großen, wenn man solche Formulierungen liest. Die Vermittlung und zeitgemäße Adaption der Ideale Gregors hatte zu diesem Zeitpunkt eine prominente Gruppe von Pariser Theologen und hochrangigen Kirchenleuten übernommen, auf die ich im nächsten Abschnitt näher eingehen werde. Woher die fähigen, das meinte vor allem gebildeten, Prediger kommen sollten, sagt Kanon 11, der die schon auf dem Lateranum von 1179 beschlossene Gründung von Grammatik- und Theologiestudien an Bischofs- und Metropolitansitzen in Erinnerung ruft.21 19 IV. Lateranum, Can. 10 (De praedicatoribus instituendis), ed. Wohlmuth (Anm. 1), S. 240. 20 Zur Frage der Predigt auf dem IV. Lateranum vgl. Rolf Zerfass : Der Streit um die Laienpredigt. Eine pastoralgeschichtliche Untersuchung zum Verständnis des Predigtamtes und zu seiner Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert. Freiburg i. Br. u.a. 1974, bes. S. 192–252 ; Michael Menzel : Predigt und Geschichte. Historische Exempel in der geistlichen Rhetorik des Mittelalters. Köln u.a. 1998 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 45), bes. S. 90–112 und Jörg Oberste : Predigt und Gesellschaft um 1200. Praktische Moraltheologie und pastorale Neuorientierung im Umfeld der Pariser Universität am Vorabend der Mendikanten. In : Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum. Hrsg. von Gert Melville/dems. Münster 1999 (Vita regularis 11), S. 245–294. 21 IV. Lateranum, Can. 11 (De magistris scholasticis), ed. Wohlmuth (Anm. 1), S. 240 : »Natürlich hat die Metropolitankirche trotzdem einen Theologen, der die Priester und andere in der Heiligen Schrift unterweist und sie besonders mit dem vertraut macht, was allgemein zur Seelsorge gehört.«
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Das Programm einer reformierten Seelsorge bedurfte sowohl der Schaffung besserer Bildungsvoraussetzungen als auch der Etablierung neuer Standards bei der Besetzung der Pfarrstellen. Letzterem waren die Kanones 29 und 30 gewidmet, die den Besitz von mehr als einer Pfarrpfründe unterbanden (Can. 29 = III. Lat. 13) und das Idoneitätsprinzip für alle kirchlichen Ämter einführten (Can. 30). Kanon 21 führt sodann unter Betonung des Beichtgeheimnisses die Ohrenbeichte und Eucharistie als Pflicht jedes volljährigen Christen ein, die mindestens einmal jährlich zu Ostern und zwingend beim eigenen Priester, d. h. in der Ortspfarrei des Gemeindemitglieds, zu erfüllen seien. Der hier ausgesprochene Pfarrzwang richtet sich ausdrücklich auch gegen die alternativen seelsorgerischen Angebote von Wanderpredigern oder Mönchen, wenn auch die Seelsorgeprivilegien der im Entstehen begriffenen Bettelorden hier noch nicht im Fokus stehen können. Dem Beichtvater schreibt Kanon 21 vor, er solle ›mit Sorgfalt die Umstände des Sünders und der Sünde‹ erforschen und ›mit Klugheit‹ erkennen, ›welches Heilmittel er anwenden soll‹.22 Der nächstfolgende Kanon 22 über die Pflichten von Ärzten schließlich greift zusammenfassend die paulinische Arztmetapher auf, die den Priester als medicus ani marum beschreibt. Was hier zum Zeitpunkt der Albigenserkriege und der Vorbereitungen zum Fünften Kreuzzug programmatisch mit höchster kirchlicher Autorität verkündet wurde, ist die beidseitige Verpflichtung auf eine neue und intensivere Zusammenarbeit von Laien und Klerikern in der Kirche mit dem erklärten Ziel der Heiligung des Einzelnen. In der Bußlehre und ihrem Dreischritt von Reue (contritio), Beichte (con fessio) und Wiedergutmachung (satisfactio) hatte man das theologische Fundament zur Gestaltung dieser Zusammenarbeit zur Hand, auf dem aber erfolgversprechend nur aufgebaut werden konnte, wenn es zwischen Kirche und Gemeinde zum Dialog über die ›Spielregeln‹ der vita perfectionis kam. Nicht nur, dass zu diesem Zweck der Klerus selbst mit leuchtendem Vorbild voranschreiten sollte – von den zehn Beschlüssen des Laterankonzils zwischen den Kanones 10 und 21 waren gleich sieben der Frage der klerikalen Disziplin gewidmet –,23 vor allem musste man in der Welt der Laien erst wieder Gehör finden, musste das öffentliche wie individuelle Bewusstsein für die Gefahren eines lasterhaften Lebens oder einer falschen Lehre wie auch für die Nützlichkeit von Tugenden und guten Werken geschärft werden. Die Väter des
22 IV. Lateranum, Can. 21 (De confessione facienda), ed. Wohlmuth (Anm. 1), S. 245. 23 IV. Lateranum, Can. 14 (De incontinentia clericorum punienda), Can. 15 (De arcenda ebrietate cleri corum), Can. 16 (De indumentis clericorum), Can. 17 (De comessationibus praelatorum et negligentia eorum super divinis officiis), Can. 18 (De iudicio sanguinis et duelli clericis interdicto), Can. 19 (Ne eccle siae mundanis suppellectilibus exponatur), Can. 20 (De chrismate et eucharistia sub sera conservanda), ed. Wohlmuth (Anm. 1), S. 242–244.
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IV. Laterankonzils fanden dafür die Doppelformel von Kanzel und Beichtstuhl, von öffentlicher Volkspredigt und geheimer Ohrenbeichte. Aus der Retrospektive des Historikers müssen die 1215 noch im Entstehen begriffenen Bettelorden geradezu als Emanation dieses Reformgeistes erscheinen, liegt doch ihre von der Forschung unbestrittene Leistung in dem durch professionelle Predigt, glaubwürdiges Lebensvorbild und weitere pastorale Dienste (z.B. das Beichtehören) verwirklichten Distanzabbau zur laikalen Gesellschaft, ja mehr noch im Aufbau einer produktiven Beziehung zwischen moderner städtischer Lebenswelt und Kirche und in der Überwindung des häretischen Monopols auf die laikale Armutsbewegung, um nur zwei für das beginnende dreizehnte Jahrhundert charakteristische kirchlich-soziale Brennpunkte herauszugreifen. Nichtsdestotrotz dachten die Konzilsväter von 1215 bei der angestrebten Reform der Seelsorge, insbesondere bei den geeigneten Predigern im Umfeld der Bischöfe, wohl kaum an den Poverello von Assisi oder an den spanischen Subprior, der im okzitanischen Kriegsgebiet eine kleine Predigergemeinschaft gegründet hatte. Ihnen schwebte ganz offensichtlich eine breit angelegte Ausbildung einer neuen Generation von Seelsorgern an den europäischen Kathedralschulen vor.
3. Das Programm einer reformierten Seelsorge
Ich komme zu den Urhebern des skizzierten Reformprogramms des IV. Lateranums, den Gründervätern einer neuen Pastoraltheologie im zwölften und frühen dreizehnten Jahrhundert, denen die Chancen von Volkspredigt und Beichtpraxis für die großen kirchlichen Projekte der Verkündung der frohen Botschaft, der Heiligung des Einzelnen, der Kreuzzüge, der Ketzerbekämpfung klar vor Augen standen. Im letzten Viertel des zwölften Jahrhunderts etablierte sich an den theologischen Schulen von Paris, ausgehend von der Kathedralschule von Notre-Dame, eine Gruppe von Lehrern, denen es um die Verbesserung der Seelsorge zu tun war.24 Impulse dafür dürften von der zu dieser Zeit stark anwachsenden Metropole Paris unter ihrem Bischof Maurice de Sully (1160–1196) ausgegangen sein. Von diesem Bischof und Weggefährten des Petrus Cantor sind nicht nur die Pläne für den berühmten gotischen Neubau der Kathedrale Notre-Dame bekannt, sondern auch ein eigener Predigttraktat mit vielen 24 Zu dieser Gruppe um Petrus Cantor vgl. ausführlich John W. Baldwin : Masters, Princes and Merchants : The Social Views of Peter the Chanter and his Circle. Bd. 1–2. Princeton 1970 und Jörg Oberste : Zwischen Heiligkeit und Häresie. Religiosität und sozialer Aufstieg in der Stadt des hohen Mittelalters. Bd. 1 : Städtische Eliten in der hochmittelalterlichen Kirche. Köln u.a. 2003 (Norm und Struktur 17).
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Zitaten seines eigenen Kantors im Domkapitel, Petrus Cantor, und eine groß angelegte Initiative zur Neuordnung des Pfarreiwesens in Paris.25 Theologische Bezugspunkte boten neben der zentralen Regula pastoralis auch verschiedene Vertreter der Kanonikerreform des elften und zwölften Jahrhunderts, die den Zusammenhang von Lebensweise und Wirkungsgrad des Pfarrklerus thematisierten. Petrus Cantor, der führende Theologielehrer an der Pariser Kathedralschule um 1180, hatte mindestens einen recht prominenten Kollegen, den ähnliche Ideen von einer reformbedürftigen Seelsorge umtrieben : Alain von Lille († 1202). Dabei wäre es verfehlt, die genannten Pariser Professoren und ihre Schüler allein an ihren theologischen Schriften zu messen. Die Bedeutung der Predigtreform um 1200 resultiert auch und gerade daraus, dass man mit der Umsetzung dieser Theorien in der pastoralen Praxis sehr entschlossen begann, d. h. konkret, die Universität verließ, um zu predigen. Alain von Lille ist beispielsweise als Urheber einer zisterziensischen Predigtkampagne gegen die südfranzösischen Katharer bekannt.26 Vor allem aber liest sich der Schülerkreis des Petrus Cantor als illustre Reihung berühmter Prediger und Kirchenleute : Dazu zählten die späteren Kardinäle Robert von Courçon († 1219) und Jakob von Vitry († 1240), der in seiner Zeit wohl berühmteste Kreuzzugsprediger Frankreichs Fulko von Neuilly († 1201), der Zisterzienserabt Adam von Perseigne, der spätere Erzbischof von Canterbury Stephen Langton († 1228) und nicht zuletzt Lothar von Segni, der spätere Innozenz III. († 1216).27 Petrus Cantor hat mit dem Verbum abbreviatum (um 1191/92) ein Handbuch der neuen, auf die seelsorgerische Praxis bedachten Theologie hinterlassen, dessen erstes Kapitel gleich die neue Richtung einschlägt : Er widmet seine zusammenfassende Summe der Anklage einzelner Laster und dem Lob von Tugenden, die er als primäre Aufgabe der Theologie betrachtet. Theologie bestehe näherhin aus drei Disziplinen : Lesung (lectio), Disputation (disputatio) und Predigt (praedicatio). Die Lesung bilde das Fundament, die Disputation über die richtige Deutung sei die Gewähr für ein 25 Dies wird gut beleuchtet in dem Beitrag von Jean Longère : Maurice de Sully : évêque de Paris (1160–1196), le prédicateur. In : Notre-Dame de Paris : un manifeste chrétien (1160–1230). Colloque organisé à l’Institut de France. Hrsg. von Michel Lemoine/Alain Michel. Turnhout 2004, S. 27–70. 26 Vgl. die Übersicht seiner Sermones bei Johannes Baptist Schneyer : Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150–1350. Bd. 1. Münster 1969, S. 69–83 ; eine Teiledition in PL 210, 197–228. Zu seiner Initiative gegen die Katharer, zu der nach 1179 auch eine Summe De fide catholica contra haereticos sui temporis zählte, vgl. Arno Borst : Die Katharer. 5. Aufl. Freiburg i. Br. u.a. 1991, S. 22 f. 27 Zu diesem Kreis zuerst Albert Lecoy de la Marche : La chaire française au Moyen Age, spécialement au XIIIe siècle d’après les manuscrits contemporains. 2. Aufl. Paris 1886 (ND Genf 1974), S. 41 ff. und am ausführlichsten Baldwin (Anm. 24), Bd. 1, S. 17–46. Zum Verhältnis zwischen Petrus Cantor und dem späteren Papst Innozenz III. ebd., S. 342 f.
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volles und rechtes Verständnis, die Predigt aber stehe über den beiden als das Dach, das die Gläubigen vor dem Sturm der Laster beschütze.28 Die Theologie hatte mithin die Pflicht zur Vermittlung ihrer Weisheiten und mehr noch, sie trug Verantwortung für den Schutz der Gläubigen. An anderer Stelle schreibt der Kantor, man müsse in der heutigen Zeit Prediger der guten Sitten und Feinde der Laster über den Erdkreis aussenden, wie in der Urkirche die Apostel als Prediger gegen die Ungläubigen geschickt worden seien.29 In diesem Argumentationszusammenhang stehen die Neubewertung der Predigt vor 1200, die Auswahl ihrer vorrangigen Themen und die Öffnung zum Laienpublikum. Wenige Jahre nach dem Werk des Petrus Cantor stellte Alain von Lille seine Predigtsumme Ars praedicatoria (um 1198) fertig. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Professur in Paris und auch seine zweite Lehrtätigkeit in Montpellier bereits hinter sich gelassen, um kurz vor Lebensende den Habit der von ihm bewunderten Zisterzienser anzulegen. Dennoch weist die Summe deutliche Bezüge zur Pariser Theologie der 1180er Jahre auf. Alain vergleicht den ›Weg zur Vollkommenheit‹ (die via perfectionis) mit Jakobs Himmelsleiter (Gen 28,12) und setzt als höchste Stufe die Predigt an, der die klassische Beschäftigung der Theologen – die Auslegung der Heiligen Schrift – untergeordnet ist.30 Die Vollendung jenes Weges, den für gewöhnlich die Engel benutzen, liege in der Offenlegung und Vermittlung all dessen, was man aus der Heiligen Schrift lernen könne (quae ex Scriptura didicit). Präzisierend wird hinzugesetzt : Predigt sei die öffentliche Lehre der Sitten und des Glaubens (manifesta et publica instructio morum et fidei), die der Erbauung des Menschen diene. Alain von Lille fügt hinzu, während alle anderen Stufen schon oft in der Theologie behandelt worden seien, habe man über die Predigt, näherhin ›wie sie gehalten werden soll und von wem und für wen‹ (qualis esse debeat, et quorum et quibus), bislang nur wenig gearbeitet.31 Zu Recht hat man auf die Verwandtschaft zwischen Alains Predigtsumme und dem Verbum abbreviatum hingewiesen, die John Baldwin mit dem Hinweis relati28 Lectio autem est quasi fundamentum [...]. Disputatio quasi paries est in hoc exercitio et aedificatio ; quia nihil plene intelligitur, fideliterve praedicatur, nisi prius dente disputationis frangatur. Praedicatio vero, cui subserviunt priora, quasi tectum est tegens fideles ab aestu, et a turbine vitiorum. PL 205, 25. 29 Credo enim quod ita verum modo esset mittere per universum orbem predicatores bonorum morum et exty rpatores malorum sicut tunc, scilicet, in primitiva ecclesia mittebantur predicatores contra incredulos unde generale concilium deberet a summo pontifice propter hoc congregari. Petrus Cantor, Commentarium in Psalmum 118, zit. nach : Baldwin (Anm. 24), Bd. 2, S. 77, Anm. 155. 30 Alain von Lille : Summa de arte praedicatoria, PL 210, 109–198, hier 111 : In hac scala primus gradus est confessio, secundus oratio, tertius gratiarum actio, quartus Scriptuarum perscrutatio, quintus, sil ali quid occurat dubium in Scriptura, a majore inquisitio, sextus Scripturae expositio, septimus praedicatio. 31 Alain von Lille : Summa de arte praedicatoria, PL 210, 111.
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viert, die Ähnlichkeiten bestünden primär in »commonplaces«.32 Dies muss jedoch nicht abwertend verstanden werden : Spätestens bei den Schülern des Petrus Cantor und dann mit größter Verbreitung in den Bettelorden des dreizehnten Jahrhunderts sind die moraltheologischen Äußerungen zu Predigt und Gesellschaft tatsächlich zu ›commonplaces‹ geworden, was den Erfolg der akademischen Bemühungen der Pariser Theologen und die ungeheure Dynamik dieser für die Reform der Kirche so wichtigen Lehren untermauert. Welche Rezepte hielt die auf Praxisnähe bedachte neue Richtung der Moraltheologie bereit, um die Menschen wieder zur Kirche zu bringen und sie von den im zwölften Jahrhundert in voller Blüte stehenden Ketzerbewegungen fernzuhalten ? Das erste Rezept ist ziemlich professoral : Die Predigt müsse als Kerndisziplin der Theologie angesehen werden, d. h., Predigen kann man nur an der Universität lernen. Oder in der Pointierung des Petrus Cantor : Es könne nur wahrhaftig predigen, wer zuvor vom Zahn der theologischen disputatio gebissen worden sei.33 Die Pariser Gelehrten zogen mithin eine naheliegende Konsequenz aus der manifesten Krise, in der den katholischen Priestern das Volk in Scharen weglief : und zwar das Studium an einer theologischen Fakultät, unterstützt durch pastorale Handbücher und Hilfsmittel aus ihrem eigenen Kreis. Um seine Ideen in den Kathedralschulen zu etablieren, den eigentlichen Zentren der Priesterausbildung, verfasste der Kreis um Petrus Cantor pastorale Handbücher in erstaunlicher Zahl, Predigttraktate, Beichtsummen, Sammlungen von Modellpredigten, Exempla und Bibelstellen. Der Zusammenhang mit dem Zulauf zu den großen Ketzerbewegungen liegt auf der Hand, denn im Erfolg nichtautorisierter Wanderprediger, ob rechtgläubig oder nicht, hatte schon die Dekretale Ad abolendam von 1184 die hauptsächliche Ursache für die Vielzahl von Ketzereien und ihren Sympathisanten gesehen. Bei seiner Aufnahme in das Kollegium der Pariser theologischen Fakultät predigte der Cantor-Schüler Thomas von Chobham im Jahr 1228, ein Jahr vor Ende des Albigenserkriegs, vor seinen Lehrern und Kommilitonen, wenn es im Land der Albigenser eine aktive katholische Universität gegeben hätte, würde die Zahl der Ketzer dort nicht so groß sein.34 Dennoch bereitete das akademische Milieu natürlich Probleme in anderer Hinsicht : Erklärtes Ziel war ja gerade die Volksnähe, die instructio und aedificatio von Laien, deren Alltag zur Sprach- und Lebenswelt der Pariser Theologen denkbar wenige Berührungspunkte aufwies. In der Lösung dieses Widerspruchs liegt vielleicht 32 Baldwin (Anm. 24), Bd. 1, S. 43 und Bd. 2, S. 32, Anm. 308. 33 Disputatio quasi paries est in hoc exercitio et aedificatio ; quia nihil plene intelligitur, fideliterve praedica tur, nisi prius dente disputationis frangatur. PL 205, 25. 34 Doctores igitur liberalium artium fabricant nobis arma militie et eloquentie nostre. Doctores sacre pagine tamquam aurifabri vel fabricantur aurea vasa et ornamenta sapientie, que si fuissent in terra Albigensium non regnasset ibi multitudo infidelium, ediert in Baldwin (Anm. 24), Bd. 2, Appendix III, S. 269.
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der innovativste Beitrag der neuen Pastoraltheologie vor 1200 : Die genannten Autoren behandeln in ihren theologischen Werken zum einen in bislang nicht gekannter Ausführlichkeit didaktische und psychologische Fragen. Die an den überlieferten Predigten etwa Bertholds von Regensburg manchmal belächelte Volkstümlichkeit, sein exzessiver Hang zu anschaulichen Vergleichen, Aufzählungen, Beispielgeschichten und Volksetymologien, dies alles erweist sich als ein Kernanliegen der Pariser Moraltheologie um 1200. Um das Publikum zu fesseln, empfiehlt Alain von Lille den Gebrauch bewegender Worte, die den Geist erweichen und zu Tränen rühren. Zu diesem Zweck solle man vor allem Gebrauch von Beispielgeschichten (Exempla) machen, weil die in Geschichten verpackte Lehre besonders eingängig sei. Über die Funktion, Struktur und Verbreitung der Exempelliteratur ist intensiv geforscht worden. Der Cantor-Schüler Jakob von Vitry etwa hat in seinen Modellpredigten eine der größten Sammlungen hochmittelalterlicher, vormendikantischer Exempla hinterlassen.35 Zum anderen suchte die neue Volkspredigt nicht nur Annäherungen an das Sprach- und Erkenntnisvermögen ihrer Zuhörer, sondern auch an deren Lebensund Erfahrungsraum, an ihre Fragen, Bedürfnisse, Tätigkeiten und Probleme. Die genannten Theologen zeichnen in ihren Predigtentwürfen in bislang nicht erreichter Empirie ein Bild von der zeitgenössischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Sie machen Menschen unterschiedlichsten Standes, Kleriker und Laien, Frauen und Männer, Adlige, Bauern und Bürger, in deren eigenen diversen Lebensumfeldern zum notwendigen Ausgangspunkt ihrer moralischen Betrachtungen. Thomas von Aquin weiß später um diese Stärke einer kasuistischen Moraltheologie, wenn er in seiner Theologiesumme warnt, Sittenpredigten (Sermones morales) seien weniger nützlich, wenn sie allgemein gehalten würden, weil sich das menschliche Verhalten in Einzelfällen vollziehe.36 Dieser neuen Theologie geht es um die Abwägung spezifischer Prämissen, Situationen und Begleitumstände individueller Verhaltensweisen. Und damit verband sich die nicht unbegründete Hoffnung, die Kirche könne in der modernen Welt wieder Gehör und Akzeptanz finden. Eine unmittelbare Folge dieser Aneignung des Weltlichen waren übrigens ganz praxisorientierte Handbücher zu Fragen etwa
35 Als Editionen liegen vor : The Exempla or Illustrative Stories from the Sermones Vulgares of Jacques de Vitry. Hrsg. von Thomas Frederick Crane. New York 1890 (ND 1971) ; Die Exempla aus den Sermones feriales et communes des Jakob von Vitry. Hrsg. von Joseph Greven. Heidelberg 1914 und Die ›Exempla‹ des Jakob von Vitry. Hrsg. von Goswin Frenken. München 1914. Im Überblick Claude Brémond u.a.: L’exemplum. Turnhout 1982 (Typologie des sources du Moyen Age occidental 40), S. 113–145. 36 Sermones morales universales minus sunt utiles, eo quod actionibus in particularibus sunt. Thomas von Aquin : Summa theologiae, Prolog zu II, 2. In : S. Thomae Aquinatis Opera omnia. Hrsg. von Roberto Busa. Bd. 2. Stuttgart 1980, S. 523B.
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von Wucher und Wirtschaft oder auch von Ketzerei aus der Feder der genannten Pastoraltheologen. Ein weiteres Rezept erfolgreicher Seelsorge liegt in der von Gregor dem Großen stammenden Formel der Predigt verbo et exemplo. Diese Formulierung taucht auch in Kanon 10 des IV. Lateranums und bereits in zahlreichen Stellen und Variationen in der Pastoralliteratur des zwölften Jahrhunderts auf. Sie verpflichtet den Seelsorger auf eine der kirchlichen Lehre angemessene Lebensweise. Gerade im Vorfeld des IV. Laterankonzils machte sich das Glaubwürdigkeitsproblem der Amtskirche deutlich bemerkbar, als die groß angelegte Predigtmission gegen die südfranzösischen Katharer schon nach kurzer Zeit scheiterte, weil die mit der Predigt beauftragten Zisterzienser offenbar keinen Zugang zum Volk fanden. Im Zuge der Praedicatio Jesu Christi von 1206/07 sammelte übrigens Dominikus seine ersten Erfahrungen mit der Ketzerpredigt.37 Der Kirche fehlte es an Vorbildern einer evangelischen Lebensweise ; in diese Lücke stießen wenig später vor allem der Poverello von Assisi und Dominikus mit ihren Anhängern. Die Pastoraltheologen des späten zwölften Jahrhunderts kannten diese Alternative natürlich noch nicht und sahen wohl eher in den Zisterziensern die beste Möglichkeit, zumindest kurzfristig den offenkundigen Bildungs- und Sittenverfall im Weltklerus auszugleichen. Sowohl Petrus Cantor als auch Alain von Lille wurden vor ihrem Tod Zisterzienser. Innozenz III. vertraute den Zisterziensern sowohl die Sorge für die Ketzerpredigt in Okzitanien als auch die anfängliche Verantwortung für die politische und militärische Bekämpfung der Katharer an.38 Aber ebenso aufschlussreich ist es, wie hoffnungsvoll und aufmerksam die jüngeren Schüler des Petrus Cantor, etwa Jakob von Vitry oder Thomas von Chobham, die ersten Anfänge der franziskanischen und dominikanischen Bewegung registrierten, die ihnen wohl zu Recht viel besser zum Ideal ihrer Lehrer zu passen schienen als die adligen Prälaten des Zisterzienserordens. Die Väter des IV. Lateranums setzten in dieser Frage – wie eben gezeigt – auf eine dritte Lösung : die möglichst flächendeckende Ausbildung eines theologisch geschulten und moralisch integren Diözesanklerus, der die Seelsorge ernst nimmt. Genau dafür setzten einzelne Bischöfe und Synoden aus der Zeit zwischen 1190 und 1215 erste hoffnungsvolle Zeichen : Der Maurice nachfolgende Bischof von Paris, Odo von Sully (1196–1208), hat in seiner Amtszeit umfangreiche Diözesanstatuten ausarbeiten lassen, die ganz und gar vom Anliegen einer reformierten Seelsorge im Sinne der 37 Oberste (Anm. 11), S. 47–49. 38 Vgl. im Überblick Jörg Oberste : Prediger, Legaten und Märtyrer. Die Zisterzienser im Kampf gegen die Katharer. In : Studia monastica. Beiträge zum klösterlichen Leben im Mittelalter. FS Gerd Melville. Hrsg. von dems./Reinhard Butz. Münster 2004 (Vita regularis 22), S. 73–92.
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Pariser Pastoraltheologie getragen sind : Die Sammlung von etwa 1204 kennt umfangreiche Vorkehrungen für die verbesserte Auswahl und Ausbildung des Klerus (Can. 92), die Intensivierung von Predigt (Can. 68) und Beichte (Can. 26–39) sowie die Sicherstellung der Kreuzzugs- (Can. 95) und Häresiepredigt (Can. 94) – eine Sammlung, deren Initialwirkung sowohl für Frankreich als auch für Deutschland mehrfach herausgehoben worden ist.39 Es wird nicht überraschen, dass Odo von Sully als Absolvent der Pariser Theologischen Fakultät Kontakte zu Petrus Cantor, Alain von Lille und anderen schon genannten Theologen pflegte und dass als Förderer des Projektes in einem Brief des Jahres 1203 Papst Innozenz III. namhaft gemacht werden kann. Etwa der Kanon 21 des IV. Laterankonzils zur Neufassung der Beichtpraxis ist weitgehend aus den umfangreichen Beschlüssen der Pariser Sammlung zur Beichte kompiliert.
4. Pastorale Reform und Ketzerfrage
Die neue Form der Predigt aus dem Umfeld der Pariser Universität schien besonders geeignet, den ketzerischen Massenbewegungen, denen die westliche Papstkirche im zwölften Jahrhundert erstmals gegenüberstand, ihre Basis streitig zu machen. Das war nicht erst eine spätere Erfahrung, sondern stand beim Konzept der Predigtreform gewissermaßen Pate. Dafür, dass den Protagonisten der Pastoralreform selbst dieser Zusammenhang ihrer Ideen und der Aufgabe der Ketzerbekämpfung klar vor Augen stand, habe ich bereits kurz das Zeugnis des Cantor-Schülers Thomas von Chobham angeführt : Wenn es in Toulouse schon früher eine theologische Fakultät gegeben hätte, wäre dort die Zahl der Ketzer nicht so groß. Viel aussagekräftiger ist das Beispiel eines anderen Kantorianers, der wie so viele seiner Pariser Kollegen Karriere in der Kirche gemacht hatte : Jakob von Vitry, Student und Cantor-Schüler in Paris, Kanoniker in Oignies, Bischof von Akkon und Kardinal an der Kurie Gregors IX.; Verfasser von Musterpredigten, Exempelsammlungen, Heiligenleben, Briefen und einer Geschichte der abendländischen Kirche.40 Seinem ehemaligen Pariser Kollegen, dem Kardinal Robert von Courçon, verdankte Jakob in den Jahren 1213/14 den Predigt auftrag zum Albigenserkrieg und zum Fünften Kreuzzug. Bekannt, jedoch schlecht 39 Les statuts de Paris et le synodal de l’Ouest (XIIIe siècle) (Les statuts synodaux français du XIIIe siècle 1). Hrsg. von Odette Pontal. Paris 1971, S. 64–81. Vgl. Peter Johanek : Die Pariser Statuten des Bischofs Odo von Sully und die Anfänge der kirchlichen Statutengesetzgebung in Deutschland. In : Proceedings of the Seventh International Congress of Canon Law. Hrsg. von Peter Lineham. Città del Vaticano 1988 (Monumenta Iuris Canonici C, 8), S. 327–347. 40 Zu seiner Biographie immer noch maßgeblich Philipp Funk : Jakob von Vitry. Leben und Werke. Berlin 1909 (ND Hildesheim 1976), hier S. 31–39.
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dokumentiert ist zudem die Episode, dass Jakob noch in seiner Zeit als Kanoniker in Oignies den Bischof Fulko von Toulouse traf, den Förderer des Dominikus und seiner Gemeinschaft, der ihn gebeten haben soll, eine Vita der heiligen Maria von Oignies († 23. Juni 1213) zu schreiben, damit er ihr Lebensbeispiel in der Predigt gegen die Ketzer einsetzen könne.41 Seine Reputation als Kreuzzugsprediger dürfte Jakob die Wahl als Bischof von Akkon eingebracht haben ; über die Reise im Sommer 1216 zur Bischofsweihe an die päpstliche Kurie nach Perugia und weiter zur Einschiffung nach Genua legt ein in vieler Hinsicht bemerkenswerter Brief Zeugnis ab :42 Nachdem der Satan an einem Flussübergang in der Lombardei einen Anschlag auf seine Waffen, i. e. seine Bücher und eine Reliquie der Maria von Oignies, verübt habe, seine Maultiere die Flut jedoch auf wunderbare Weise überlebt hätten, sei er in der ›Schlangengrube der Häretiker‹ ( fovea hereticorum), in Mailand, eingekehrt, wo er einige Tage lang das Kreuz gepredigt habe. Hier habe er neben vielen Schlechtigkeiten und Enttäuschungen auch Trostspendendes gefunden, vor allem die ihm bis dato unbekannte Lebensform der Humiliaten. Jakobs Loblied auf die Lebensweise und Leistung der Mailänder Humiliaten, der einzigen wirklichen Widersacher der Ketzerei, wie er sagt, formuliert einen dreifachen Auftrag des modernen Predigers, der dem Programm seiner Pariser Lehrer mustergültig entspricht : (1) Gemäß der evangelischen Weisung verkünden diese heiligmäßigen Männer und Frauen (sancti homines et religiosi mulieres) das Wort Gottes (verbum dei frequenter predicant). (2) Indem sie alles Weltliche dafür zurücklassen, geben sie durch ihre Armut und Handarbeit ein Vorbild evangelischer Lebensweise ab. (3) Diese Lebensweise befähige sie, die mit ähnlichen Argumenten werbenden Ketzer dadurch zu bekämpfen, dass sie den Menschen eine glaubwürdige orthodoxe Alternative anbieten. Hier erläutert Jakob die bei den Pariser Moraltheologen und den späteren Bettelorden leitmotivisch wiederkehrende Formel des docere verbo et exemplo in ihrer eigentlichen kirchenpolitischen Dimension. Die verantwortlichen Kirchenleute, angefangen beim Papst, manifestieren seit dem Pontifikat Innozenz’ III. ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass die Ketzerbekämpfung durch Predigt und Seelsorge nur in Verbindung mit sittlichen Reformen in Kirche und Klerus erfolgverheißend sein konnte.
41 Prologus Ad Fulconem Episcopum Tolosanum : [...] Unde cum sanctus et venerabilis Pater, Ecclesiae Tolo sanae Episcopus, a civitate sua ab haereticis depulsus, ad partes Galiiae petiturus auxilium contra inimicos fidei devenisset, et tandem usque in Episcopatum Leodii, quasi tractus odore et fama quorundam, Deo in vera humilitate militantium, descendisset. [...] valdeque desiderabat ut quaedam quae vidit et audivit, ne perirent, tamquam fragmenta colligerentur. Jakob von Vitry : Vita Mariae Oigniacensis. In : AASS, Iuni V, Paris 1867, S. 542–572, hier S. 547. 42 Lettres de Jacques de Vitry. Edition critique. Hrsg. von Robert B. C. Huygens. Leiden 1960, Brief 1, S. 71–78. Vgl. dazu allgemein Funk (Anm. 40), S. 38–41.
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Und wenn es noch gleichsam eines empirischen Belegs für die Bedeutung der europäischen Ketzerfrage für die Pastoralbeschlüsse des IV. Laterankonzils bedarf : Woher stammen eigentlich die Formulierungen des so wichtigen Kanons 10 zur Reform der Volkspredigt ? Auf der am 6. September 1209 durch den päpstlichen Legaten Milo einberufenen Synode von Avignon, die im Zeichen der Kapitulation der Vizegrafschaft Béziers, Carcassonne und Albi und damit eines richtungsweisenden Erfolges der päpstlichen Truppen im Albigenserkrieg stattfand, rückte die Versammlung ein Statut über die bischöfliche Predigt an die erste Stelle : Ut episcopi frequentius uel praedicent, uel faciant praedicari.43 Nachdem bereits der Prolog betont hatte, man wolle die durch den Krieg gerissenen Wunden wieder heilen, droht der erste Kanon unverhohlen all jenen Prälaten, die sich eher wie Söldner als wie Pastoren (mercena rii potius quam pastores) verhielten und ihre eigentliche Aufgabe vernachlässigten, das Volk in der Ethik des Evangeliums zu unterweisen (nec populis suae gubernationi commissis evangelizant evangelicam disciplinam). Das Verb evangelizare kann im Übrigen als einer der Schlüsselbegriffe der pastoralen Reform des frühen dreizehnten Jahrhunderts sowohl in vormendikantischen als auch in den frühen mendikantischen Quellen nachgewiesen werden.44 Es folgt dann in dem Text von 1209 jener Appell an die Bischöfe, in ihren Diözesen öfter und sorgfältiger den rechten Glauben zu predigen und nötigenfalls dafür ehrbare und geeignete Vertreter zu benennen, welcher im Kanon 10 des IV. Laterankonzils von 1215 wörtlich übernommen wurde und somit Gültigkeit und Verbreitung in der ganzen westlichen Christenheit erhalten sollte.
43 Die Kanones sind ediert bei Mansi (Anm. 11), Bd. 22, Sp. 783–798, hier c. 1, Sp. 785. 44 Mit diesem Thema hat sich das Colloque de Fanjeaux 1998 unter der Leitung von Jacques Dalarun beschäftigt, dessen Ergebnisse in dem Band vorliegen : Evangile et évangélisme (XIIe–XIIIe siècles) (Cahiers de Fanjeaux 33). Toulouse 1999.
Matthias Maser
Dissolve colligationes impietatis – Papst Innozenz III. und die Anfänge seiner Politik des negotium crucis auf der Iberischen Halbinsel (1198–1204) In der Geschichte der christlich-muslimischen Auseinandersetzungen auf der Iberischen Halbinsel stellten die Jahrzehnte um die Wende vom zwölften zum dreizehnten Jahrhundert, mithin also die Lebens- und Regierungszeit Papst Innozenz’ III., einen dramatischen Höhepunkt dar : Nach Jahrzehnten der Defensive gelang es einer christlichen Allianz 1212 bei Las Navas de Tolosa, einen historischen Sieg über die Almohaden zu erringen.1 Nach Las Navas war für die spanischen ›Reconquistadoren‹ der Weg nach Süden freigekämpft, und es sollte nun kein halbes Jahrhundert mehr dauern, bis der muslimische Herrschaftsbereich auf der Iberischen Halbinsel auf das kleine Restgebiet des Emirats von Granada zurückgedrängt sein würde. 15 Jahre zuvor freilich, als Innozenz 1198 den Papstthron bestieg, war dieser Durchbruch alles andere als absehbar – im Gegenteil : Noch keine drei Jahre lag damals einer der schlimmsten Rückschläge in der Geschichte der christlichen ›Reconquista‹ zurück. Die desaströse Niederlage des kastilischen Heers bei Alarcos im Juli 1195 hatte das christliche Spanien bis ins Mark erschüttert und die Kräfteverhältnisse auf Jahre zugunsten des muslimischen al-Andalus verschoben.2 Von Alarcos bis zum Triumph von Las Navas 1212 war es ein weiter Weg, an dem Papst Innozenz III. mit seinem Einsatz für das negotium crucis auf der Iberischen Halbinsel einen nicht unerheblichen Anteil hatte. 1 Die Schlacht hat anlässlich ihres 800. Jahrestages jüngst nochmals verstärkt Aufmerksamkeit erfahren : Las Navas de Tolosa 1212–2012. Miradas cruzadas. Hrsg. von Patrice Cressier/Vicente Salvatierra Cuenca. Jaén 2014 ; Martín Alvira Cabrer : Las Navas de Tolosa : The Beginning of the End of the ›Reconquista‹ ? The Battle and its Consequences according to the Christian Sources of the Thirteenth Century. In : Journal of Medieval Iberian Studies 4 (2012), S. 45–51 ; Ders.: Las Navas de Tolosa, 1212. Idea, liturgía y memoria de la batalla. Madrid 2012 ; Francisco García Fitz : Was Las Navas a Decisive Battle ? In : Journal of Medieval Iberian Studies 4 (2012), S. 5–9 ; Miguel Dolan Gomez : The Battle of Las Navas de Tolosa : The Culture and Practice of Crusading in Medieval Iberia. PhD diss. University of Tennessee 2011. (http://trace.tennessee. edu/utk_graddiss/1079, letzter Zugriff 14.02.2018). 2 Zu Alarcos siehe die zahlreichen Beiträge in dem einschlägigen Sammelband : Alarcos 1195–Arak 592 : Actas del Congreso Internacional Conmemorativo del VIII Centenario de la Batalla de Alarcos (1995, Ciudad Real). Hrsg. von Ricardo Izquierdo Benito/Francisco Ruiz Gómez. Cuenca 1996 (Colección Estudios 37).
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Matthias Maser
Die Bedeutung des Kreuzzugsgedankens als Leitidee und Triebfeder des innozentianischen Pontifikats ist von der Forschung seit Langem erkannt und deutlich herausgearbeitet worden.3 In diesem Zusammenhang sind auch immer wieder Fragen nach der Rolle der westeuropäischen Sarazenenfront in Innozenz’ universalem Kreuzzugskonzept4 oder aber nach der Bedeutung seiner Bemühungen um den Kreuzzug auf der Iberischen Halbinsel für die Erfolge der Reconquista im frühen dreizehnten Jahrhundert5 gestellt worden. Häufig haben sich diesbezügliche Forschungen auf das relativ schmale Corpus der wenigen dezidierten Kreuzzugsbullen konzentriert, die aus dem Pontifikat Innozenz’ III. für den hispanischen Raum erhalten sind. Dies freilich führte meist zu einer Verengung des Fragehorizonts : Da alle diese Bullen aus dem Kontext der Kreuzzugskampagne von 1212 stammen, haben sie den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit in der Regel auf den päpstlichen Beitrag zur unmittelbaren Vorbereitung und Durchführung des Militärunternehmens von Las Navas,6 auf Aspekte der Kreuzzugswerbung oder der Indulgenzversprechen7 sowie auf Fragen der liturgischen Unterstützung8 des Kriegsunternehmens gelenkt. Eine solche, vornehmlich auf die 3 Siehe u.a.: Michael Menzel : Kreuzzugsideologie unter Innocenz III. In : Historisches Jahrbuch 120 (2000), S. 39–79 ; James Matthew Powell : Innocent III and the crusade. In : Innocent III. Vicar of Christ or Lord of the World ? Hrsg. von dems. Washington, D. C. 1994, S. 121–134 ; John Gilchrist : The Lord’s War as the Proving Ground of Faith : Pope Innocent III and the Propagation of Violence (1198–1216). In : Crusaders and Muslims in Twelfth Century Syria. Hrsg. von Maya Shatzmiller. Leiden 1993 (The Medieval Mediterranean 1), S. 65–83 ; Elizabeth T. Kennan : Innocent III and the First Political Crusade. In : Traditio 27 (1971), S. 231–250 ; Helmut Roscher : Papst Innozenz III. und die Kreuzzüge. Göttingen 1969 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 21). 4 Roscher (Anm. 3), S. 172–188 sah »den Maurenkrieg als eine neben dem Zug ins Hl. Land andere Art von Kreuzzug« (Zitat ebd., S. 187), der aber dem Orientunternehmen klar untergeordnet war. Nach Menzel (Anm. 3), S. 60–62, stellten Reconquista und Albigenserkreuzzug im Westen für Innozenz hingegen nur vorübergehende »Ersatzziele« dar, die letztlich aber nichts mit seiner eigentlichen, auf Jerusalem bezogenen Konzeption des negotium crucis zu tun gehabt hätten. 5 José Goñi Gaztambide : Historia de la bula de la cruzada en España. Vitoria 1958 (Victoriensia 4). 6 Damian J. Smith : The Papacy, the Spanish Kingdoms and Las Navas de Tolosa. In : Anuario de Historia de la Iglesia 20 (2011), S. 157–178 ; Ders.: Las Navas and the Restoration of Spain. In : Journal of Medieval Iberian Studies 4 (2012), S. 39–43 ; Ders.: ›Soli Hispani‹ ? Innocent III and Las Navas de Tolosa. In : Hispania sacra. Revista española de historia eclesiástica 51 (1999), S. 487–513, hier : v.a. S. 505–512 ; Powell (Anm. 3). 7 Goñi Gaztambide (Anm. 5) ; Leandro Duarte Rust : A medida da Terra Santa : A bula Ad Liberandam (1215) e a institucionalização das cruzadas. In : Mirabilia. Revista Eletrônica de História Antiga e Medieval 10 (2010), S. 85–105. 8 Christoph T. Maier : Crisis, Liturgy and the Crusade in the Twelfth and Thirteenth Centuries. In : The Journal of Ecclesiastical History 48 (1997), S. 628–657 ; Ders.: Mass, the Eucharist and the Cross : Innocent III and the Relocation of the Crusade. In : Pope Innocent III and his World. Hrsg. von John C. Moore/Brenda Bolton. Brookfield 1999, S. 351–360.
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Entscheidungsschlacht von 1212 und ihren organisatorischen Vorlauf konzentrierte Betrachtung des Themas greift freilich zu kurz : Die wenigen, ab Dezember 1210 nach Spanien gesandten Kreuzzugsbullen im engeren Sinne bildeten lediglich einen Baustein in einer deutlich früher ansetzenden päpstlichen Politik zur Vorbereitung und Durchführung des Maurenkrieges im iberischen Raum. Der Triumph des Feldzuges von Las Navas bildete nur den Schlusspunkt eines langfristigen und höchst wechselvollen Prozesses, in dem das von der Katastrophe von Alarcos erschütterte christliche Hispanien moralisch, politisch und militärisch wieder aufgerichtet werden sollte. Der Kampf gegen die ›Feinde des Kreuzes‹, wie Innozenz die Sarazenen in vielen Briefen9 nannte,10 war für den Papst nicht allein ein militärisches Unternehmen. Mindestens ebenso wichtig war in seiner Vorstellungswelt die spirituelle Dimension des Kreuzzugs :11 Im Kreuzzug sammelte sich das gesamte Christenvolk in einer imitatio Christi ; so wie der Gottessohn einst für die Menschen das Kreuz auf sich genommen hatte, so sollte nun jeder Christ seinerseits für den Herrn das Kreuz nehmen – diesen prägenden Gedanken propagierte Innozenz bereits früh in seinem Pontifikat.12 Der Papst begriff den Kreuzzug dabei weit über seine rein kriegerischen Ausprägungsfor 9 Belegstellen aus dem Briefregister Papst Innozenz’ III. werden im Folgenden bei Briefen aus den Pontifikatsjahren I–II und V–XIII in Wortlaut und Zählung nach der kritischen Edition der Registerbände zitiert : Die Register Innocenz’ III. [Bislang ersch.: 1. Pontifikatsjahr 1198/99 bis 2. Pontifikatsjahr 1199/1200 sowie 5. Pontifikatsjahr 1202/03 bis 13. Pontifikatsjahr 1210/11]. Hrsg. von Othmar Hageneder u.a. (bisl. 14 Bde.). Wien 1968–2015 (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturforum in Rom, II. Abteilung : Quellen, I. Reihe 1–2 und 5–15) [im Weiteren : Reg., die römische Zahl benennt gleichermaßen Pontifikatsjahr wie Editionsband] ; bei Iberica wird zusätzlich die Edition von Demetrio Mansilla ausgewiesen : Documentación pontificia hasta Inocencio III. 965–1216. Hrsg. von Demetrio Mansilla Reoyo. Roma 1955 (Monumenta Hispaniae Vaticana/Sección registros) [im Weiteren : MDI]. Für Briefe aus den späteren Pontifikatsjahren ohne Spanienbezug ab 1211 (= Pontifikatsjahre XIV–XVI) muss vereinzelt auf die Bände 215 und 216 der Patrologia Latina. Hrsg. von Jacques-Paul Migne. Paris 1855, verwiesen werden [im Weiteren : MPL] ; in diesen Fällen werden die Briefe nach der Registerzählung der Migne-Ausgabe identifiziert. 10 Zum Muslimbild des Papstes siehe v.a. die zahlreichen Arbeiten von Giulio Cipollone : Inocenzo III e i sarraceni : Atteggiamenti differenziati (1198–99). In : Acta historica et archaeologica mediaevalia 9 (1988), S. 167–187 ; Ders.: Innocent III and the Saracens : Between Rejection and Collaboration. In : Pope Innocent III and his World. Hrsg. von John C. Moore/Brenda Bolton. Brookfield 1999, S. 361–376 ; Ders.: From Intolerance to Tolerance. The Humanitarian Way, 1187–1216. In : Tolerance and Intolerance. Social Conflict in the Age of the Crusades. Hrsg. von Michael Gervers/ James M. Powell. Syracuse 2001, S. 28–40, hier : S. 34–36 ; Ders.: L’immagine mutevole dei saraceni e dei cristiani nelle lettere papali (sec. XI–XIII). In : Archivum Historiae Pontificiae 44 (2006), S. 11–33 ; ferner auch : John Victor Tolan : Saracens. Islam in the Medieval European Imagination. New York 2002, S. 194–196. 11 Maier, 1997 (Anm. 8), S. 631–632. 12 Reg. I :336 (S. 498–505, hier : S. 501, Z. 14–30) vom 15.8.1198 an den französischen Klerus.
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men hinaus als eine spirituelle Bewegung aller Christen hin zu Gott, als eine allgemeine Anstrengung zur sittlichen Besserung und gottgefälligen Reform der gesamten christianitas : Eben diese Besserung würde überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Gott sich seinem christlichen Volk wieder gnädig zuwenden und ihm den Sieg im militärischen Kampf um die haereditas Christi schenken würde – Kreuzzug und Reform des christlichen Lebenswandels waren in Innozenz’ Denken somit zwei Seiten derselben Medaille.13 Aus dieser Perspektive soll im Folgenden die Anfangsphase des innozentianischen Engagements für das negotium crucis auf der Iberischen Halbinsel in den Blick genommen werden : Die Bemühungen Innozenz’ III. um den Kampf gegen die ›Feinde des Kreuzes‹ im Westen der christianitas hatten eine starke pastorale Dimension. Sie zielten von Anbeginn auf eine moralische und spirituelle Erneuerung der christlichen Hispania und ihrer politisch-herrschaftlichen Verhältnisse.14 Gerade die Anfangsphase dieses Bemühens von 1198 bis ca. 1204, als der Vierte Kreuzzug, aber auch die Enttäuschung über die ausbleibenden Erfolge seiner Iberienpolitik den Papst für mehrere Jahre von der Pyrenäenhalbinsel ablenkten, erlauben vielfältige Einsichten in Konzepte, Konstellationen und Krisen des päpstlichen Engagements für den Maurenkrieg im Westen und zeigen Normen- und Zielkonflikte, die nicht zuletzt aus dem Spannungsverhältnis zwischen realpolitischen und spirituell-pastoralen Dimensionen des negotium crucis-Konzepts Innozenz’ III. erwuchsen.
1. Der pastorale Ansatz der iberischen Kreuzzugspolitik Innozenz’ III.
Als Schauplatz des Sarazenenkampfes rückte die Hispania schon bald nach seiner Erhebung auf den Thron Petri ins Blickfeld des jungen Papstes : Bereits im April 1198 entsandte Innozenz den Zisterzienser Rainer von Ponza15 auf die Iberische Halbinsel, um dort angesichts der Bedrängnis der Christenheit in Ost und West den ›Frieden 13 Menzel (Anm. 3), S. 50–51, S. 67–69 ; Maier, 1999 (Anm. 8), S. 351–352, S. 356–357 ; Ders.: 1997 (Anm. 8), S. 631–632 ; Gilchrist (Anm. 3), S. 79–81. 14 Smith, 2011 (Anm. 6), S. 160–162 ; Ders.: 1999 (Anm. 6), S. 502–505. 15 Zur Person siehe Herbert Grundmann : Zur Biographie Joachims von Fiore und Rainers von Ponza. In : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 16 (1960), S. 337–546, hier : S. 442– 461 ; Christoph Egger : Joachim von Fiore, Rainer von Ponza und die römische Kurie. In : Gioacchino da Fiore tra Bernardo di Clairvaux e Innocenzo III. Atti del V congresso internazionale di studi gioachimiti San Giovanni in Fiore, 16–21 settembre 1999. Hrsg. von Roberto Rusconi. Roma 2001 (Opere di Gioacchino da Fiore 13), S. 129–162, hier : S. 136–137 ; Maria Pia Alberzoni : Raniero da Ponza e la curia romana. In : Florensia. Bolletino del Centro Internazionale di Studi Gioachimiti 11 (1997), S. 83–114.
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unter den Herrschern wiederherzustellen und die Banden der Gottlosigkeit aufzulösen‹.16 In der Forschung blieb bislang unbeachtet, dass Innozenz mit dieser Formulierung der Spanienreise seines Legaten ein programmatisches Motto gab : Mit dem Auftrag zur Lösung von ›Banden der Gottlosigkeit‹ (colligationes impietatis) zitierte der Papst einen Vers aus dem alttestamentlichen Buch Jesaja : Nonne hoc est magis jejunium quod elegi ? Dissolve colligationes impietatis, solve fasciculos deprimentes […]. ( Jes 58,6) Damit stellte Innozenz den Legationsauftrag an Rainer in einen exegetischen Deutungsrahmen, den er selbst (zu einem freilich nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt17 seines Pontifikats) in einer Fastenpredigt18 über eben diese Textstelle vor römischen Klerikern näher ausleuchtete. Innozenz identifizierte hier drei verschiedene Formen von ›Banden der Gottlosigkeit‹, in die sich der Gläubige verstricken konnte : Während sich die colligatio haereticorum in falsa dogmata manifestiere, kennzeichneten prava opera die colligatio peccatorum ; die colligatio damnatorum schließlich setzte Innozenz mit den aeterna supplicia der Höllenstrafen gleich.19 Ausführlicher ging Innozenz auf die colligationes peccatorum ein :20 Die Sprachbilder der Bibelstelle aufgreifend, deutete er die ›Fesselstricke der Sünde‹ als aus drei unterschiedlichen ›Seilsträngen‹ ( funicula) geflochten : aus Lüsternheit (concupiscentia carnis oder voluptas), Habgier (avaritia) und Hoffart (superbia). Jeden Abschnitt seiner Ausführungen schloss Innozenz mit der eindringlichen Aufforderung, diese sündhaften ›Verstrickungen‹ gemäß Gottes Gebot aufzulösen und somit zu einem wahrhaft gottgefälligen ›Fasten‹ zu finden.21 Der Kerngedanke der Predigt Innozenz’ und seiner Ausdeutung der Jesaja-Perikope war der Appell zur Umkehr des Sünders,
16 Reg. I :92 (S. 132–134, hier : S. 132 ; MDI nr. 138, S. 168–170, hier : S. 168) : ad reformandam pa cem inter principes et ad dissolvendas colligationes impietatis. Die Edition von Hageneder (Anm. 9), S. 132, Z. 31 bietet collationes iniquitatis, was jedoch nicht dem Vulgatatext entspricht. 17 Ein Großteil der päpstlichen sermones dürfte bereits in der ersten Redaktion der Predigtsammlung enthalten gewesen sein (so John C. Moore : The Sermons of Pope Innocent III. In : Römische historische Mitteilungen 36 [1994], S. 81–142, hier : S. 83), die Innozenz nach Ausweis des Vorworts wohl zwischen 1202 und 1204 für den Zisterzienserabt Arnulph (I.) von Cîteaux hatte zusammenstellen lassen, vgl. Wilhelm Imkamp : Das Kirchenbild Innocenz’ III. (1198–1216). Stuttgart 1983 (Päpste und Papsttum 22), S. 64 ; Moore, S. 85–87, datiert etwas offener zwischen 1201 und 1205. 18 Sermo XII : In eodem die cinerum. De tribus colligationibus impietatis…, ed. in : Innocenzo III : Sermoni. Hrsg. von Stanislao Fioramonti. Città del Vaticano 2006 (Monumenta, studia, instrumenta liturgica 44), S. 106–113 (die Ausgabe folgt dem Text bei Jacques-Paul Migne : Patrologia Latina, Bd. 217, Sp. 367–372). Die Predigt findet sich bereits in der kurz nach Innozenz’ Tod zusammengestellten Predigthandschrift Cod. Vat. Lat. 700, was die Annahme einer Verfasserschaft des Papstes für diesen Sermo untermauert, vgl. Moore (Anm. 17), S. 83. 19 Sermo XII (Anm. 18), S. 106/107 (= MPL 217, Sp. 367). 20 Ebd., S. 108/109–110/111 (= MPL 217, Sp. 368–369). 21 Ebd., S. 110/111–112/113 (= MPL 217, Sp. 370–372).
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die Aufforderung zur Buße und zur Hinwendung zum Herrn. Damit berührte die Jesaja-Stelle ein Leitthema des innozentianischen Pontifikats.22 Es überrascht daher nicht, dass Innozenz dasselbe Prophetenwort auch in seiner Briefrhetorik mehrfach aufgriff : In den erhaltenen Bänden des päpstlichen Registers sind mindestens 14 Schreiben auszumachen,23 in denen sich der Papst einer Ausdeutung der betreffenden Jesaja-Verse bediente. Vier dieser Briefe stehen in direktem Bezug zur Spanien-Gesandtschaft des Rainer von Ponza : Mit den dissolvendae colligati ones impietatis sind hier jeweils Absprachen und Verpflichtungen im Zusammenhang mit der inzestuösen Herrscherehe zwischen den Königshäusern von Kastilien und León gemeint, die im Folgenden noch näher zu betrachten sein werden.24 In anderen Briefen bezog Innozenz das Bibelwort aber z.B. auf unter Todesangst erpresste Eide,25 auf gegen kuriale Interessen gerichtete politische Bündnisse,26 auf rechts- bzw. sittenwidrige Verträge27 oder aber ganz allgemein auf die heilsgefährdenden ›Fallstricke der Sünde‹.28 Das Motiv der colligationes impietatis war offen genug, um auf sehr unterschiedliche Themen und Phänomene bezogen zu werden. In jedem Fall aber transportierte es eine unanfechtbare Handlungslegitimation, gebot doch Gott nach dem Prophetenwort selbst die Auflösung solcher frevlerischer Bindungen. Benennung und Verurteilung freilich fielen damit zusammen : Allein die Bezeichnung einer Ehe, einer Allianz oder einer Eidesleistung als colligatio impietatis setzte diese automatisch ins Unrecht, wobei nicht so sehr der Verstoß gegen irdische (Rechts-)Normen als mehr eine gegen Gott gerichtete Sündhaftigkeit der jeweiligen Bindung zum Ausdruck gebracht wurde. Das Recht, über solche colligationes impietatis zu richten, leitete Innozenz aus der plenitudo potestatis seiner von Gott verliehenen Amtsgewalt ab : Explizit formulieren diesen Gedanken zwei Papstbriefe,29 die beide erst ins achte 22 Moore (Anm. 17), S. 94, S. 100–101. 23 Die Fundstellen sind Ergebnis einer elektronischen Suche in der Patrologia Latina Database auf Grundlage der Textausgabe der Innozenz-Register von Jacques-Paul Migne in den Patrologia Latina-Bänden 214–217. 24 Reg. I :92 (MDI, nr. 138), II :72(75) (MDI, nr. 196), IV :80 (MDI, nr. 276) und VII :93 (MDI, nr. 305). 25 Reg. VIII :115(114). 26 Das Register Papst Innocenz’ III. über den deutschen Thronstreit. Für akademische Übungen herausgegeben. Hrsg. von Wilhelm Holtzmann. Bonn 1947–1948, nr. 25 und nr. 60 [im Weiteren : RNI]. 27 Reg. I :15, IX :130, XI :72(76) und XI :73(77). 28 Reg. I :407 und IX :131. 29 Reg. IX :130 (S. 233–235, hier : S. 234) : Ad hoc Deus apostolice sedis antistitem, qui plenitudinem habet ecclesiastice potestatis, super gentes et regna constituit, ut, iuxta verbum propheticum evellat et destruat, dissipet et disperdat, que in agro Dominico, sue culture commisso, inutilia repererit et nociva, iuxta quod alibi sibi precipitur a Domino per prophetam : Dissolve colligationes impietatis, solve fasciculos deprimen tes ; Reg. VIII :115(114) (S. 202–204, hier : S. 204) : Cum igitur simus in eo loco disponente Domino
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bzw. neunte Pontifikatsjahr datieren und somit in deutlichem zeitlichem Abstand zur Formulierung des Gesandtschaftsauftrags von 1198 stehen ; doch schon in einem seiner frühesten Schreiben aus dem Februar 1198 hatte Innozenz mit Verweis auf das einschlägige Jesaja-Zitat die Lösung ›frevlerischer Bande‹ zur Pflicht des Apostolischen Stuhls erklärt.30 Wenn Innozenz also 1198 seinen Legaten ad dissolvendas colligationes impietatis auf die Iberische Halbinsel schickte, so machte er damit deutlich, dass er mit der Legation pastorale Ziele verfolgte und sich nicht zu einer pragmatischen Betrachtung der von ihm als skandalös gebrandmarkten Zustände an den iberischen Königshöfen bereitfinden würde. Konkret zielte Innozenz vor allem auf zwei Missstände : Zum einen richtete sich sein Unwille gegen die zahllosen Zwistigkeiten, die die iberischen Herrscher untereinander entzweiten und sich immer wieder in gegeneinander gerichteten Bündnissen und Beistandspakten niederschlugen, zum anderen aber gegen die Praxis illegitimer Herrscherehen, mittels derer die iberischen Dynastien ungeachtet kanonischer Verbote versuchten, ihre zahlreichen Konflikte zu überwinden und dauerhaft beizulegen. Beide Themenfelder der innozentianischen Iberienpolitik sollen im Folgenden näher betrachtet werden.
2. Pax reformanda : Die innere Befriedung der christlichen Hispania
Wie im Gesandtschaftsauftrag formuliert, entsandte Innozenz seinen Legaten Rainer 1198 ad reformandam pacem inter prinicipes. Tatsächlich waren die politischen Verhältnisse auf der Iberischen Halbinsel während der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts durchgängig geprägt von Konflikten zwischen den Herrschern der sogenannten cinco reinos Kastilien, León, Katalonien-Aragón, Portugal und Navarra. Die spannungsgeladene Konstellation von fünf untereinander konkurrierenden Reichen hatte sich erst im Laufe des zwölften Jahrhunderts infolge von Sezessionen und Reichsteilungen herausgebildet, deren politische, dynastische und territoriale Folgen keineswegs allgemein akzeptiert und noch vielfach umstritten waren.31 Die Bezieconstituti, ut secundum verbum propheticum debeamus dissolvere colligationes impietatis et fasciculos deprimentes ac dimittere eos, qui confracti sunt, liberos et disrumpere omne onus, discretioni vestre per apostolica scripta precipiendo mandamus […]. 30 Reg. I :15 (S. 25–27, hier : S. 26) : Absit igitur a sedis apostolicae puritate ut, cum Deus virgam peccatoris non dereliquerit super sortem iustorum, ad colligationes illicitas cum operantibus iniquitatem declinet : quin potius dissolvat colligationes impietatis, solvat fasciculos deprimentes. 31 Ludwig Vones : Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter (711–1480). Reiche, Kronen, Regionen. Sigmaringen 1993, S. 88–125 ; Klaus Herbers : Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. Stuttgart 2006, S. 178–204.
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hungen unter den Herrschern der cinco reinos wurden daher bestimmt von Konkurrenzängsten und gegenseitigem Misstrauen : 1195 hatten die schwelenden Konflikte ein gemeinsames Vorgehen der christlichen Reiche gegen die Almohaden verhindert und so zum Desaster von Alarcos geführt. Sollte der Krieg gegen die Sarazenen künftig Erfolg haben, so mussten nach päpstlicher Einschätzung die kräftezehrenden Konflikte beigelegt und eine große Kreuzzugsallianz aller christlichen Herrscher der Hispania gegen den gemeinsamen Feind im Süden der Halbinsel geschmiedet werden – dies war eine der vordringlichsten Aufgaben des 1198 nach Spanien entsandten Legaten Rainer von Ponza : Notfalls sollte dieser zu den geistlichen Zwingmitteln des Anathems und des Interdikts greifen, um die zerstrittenen Könige zur Kooperation und zum Abschluss eines foedus zu bewegen.32 Innozenz griff damit den Faden der Iberienpolitik seines Amtsvorgängers Coelestin III. auf : Bereits 1191 hatte dieser den Kardinaldiakon Gregor von Sant’Angelo auf die Pyrenäenhalbinsel entsandt,33 um dort Frieden unter den zerstrittenen Herrschern zu stiften. Bis 1194 war es dem Legaten gelungen, zwischen Kastilien, León und Portugal den Vertrag von Tordehumos34 auszuhandeln, bereits im Folgejahr jedoch hatte sich diese päpstliche Unierungsinitiative auf dem Schlachtfeld von Alarcos als wirkungslos erwiesen. Und kaum war dort der Waffenlärm verhallt, hatten León und Navarra gar versucht, aus der Schwächung des kastilischen Nachbarreiches Profit zu schlagen : Das ›Fanal‹ von Alarcos hatte die iberischen Herrscher also nicht geeint, sondern vielmehr die Konkurrenzkämpfe noch weiter eskalieren lassen. 1196 hatte Coelestin daraufhin Gregor von Sant’Angelo zu einer neuerlichen Friedensmission nach Spanien entsandt, die Voraussetzungen für deren Erfolg waren allerdings nach Alarcos nochmals schlechter geworden : Im Herbst 1195 hatten Alfons IX. von León und Sancho VII. von Navarra Bündnisverträge mit dem Almohadenkalifen Yaʻqūb al-Manṣūr geschlossen35 und waren im darauffolgenden Frühjahr mit mus32 Reg. I :92 (MDI, nr. 138). 33 Ingo Fleisch : Rom und die Iberische Halbinsel : Das Personal der päpstlichen Legationen und Gesandtschaften im 12. Jahrhundert. In : Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III. Hrsg. von Jochen Johrendt. Berlin 2008 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen : N. F. 2), S. 135–190, hier : S. 183–184 ; Stefan Weiss : Die Urkunden der päpstlichen Legaten von Leo IX. bis Coelestin III. Köln 1995 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 13), S. 300–308. 34 Julio González : Alfonso IX. Madrid 1944, Bd. II, nr. 79, S. 116–119. Siehe auch die leonesisch-portugiesische Vertragsregelung, ed. in Inés Calderón Medina : Las arras de Doña Teresa. El tratado entre Alfonso IX de León y Sancho I de Portugal en 1194. In : Castilla y el mundo feudal. Homenaje al profesor Julio Valdeón. Hrsg. von María Isabel del Val Valdivieso/Pascual Martínez Sopena. Valladolid 2009, Bd. II, S. 443–455, hier : S. 453–455. 35 González (Anm. 34), Bd. I, S. 74–79 ; Ders.: El reino de Castilla en la epoca de Alfonso VIII.
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limischen Hilfstruppen von zwei Seiten in Kastilien eingefallen ; zeitgleich hatten die Almohaden von Süden her in einer Zangenbewegung das Gebiet um Toledo verheert.36 Coelestin und sein Legat hatten versucht, diese ›unheilige Allianz‹ aufzulösen. Während Sancho VII. im Frühjahr 1196 lediglich streng ermahnt worden war, seine amicitia mit den inimici catholicae fidei zu beenden und sich im Bündnis mit Kastilien und Aragón zum Heil seiner Seele im Maurenkrieg zu engagieren,37 hatten seinen Bündnispartner Alfons IX. die päpstlichen Sanktionen mit voller Härte getroffen : Im Oktober 1196 hatte Coelestin gegen Alfons und sein Reich Anathem und Interdikt verhängt und den Erzbischof von Toledo beauftragt, einen Kreuzzug gegen den leonesischen Herrscher zu predigen.38 Weitere Nachrichten über das Vorgehen Coelestins und seines Legaten gegen die iberischen ›Friedensbrecher‹ fehlen. Bereits 1197 muss der Informationsfluss zwischen der hispanischen Peripherie und der römischen Zentrale gestört gewesen sein : Als Innozenz III. Anfang 1198 die Nachfolge Coelestins antrat, lagen ihm offensichtlich keine gesicherten Informationen über die Maßnahmen, die der Legat seines Vorgängers im fernen Westen ergriffen hatte, vor. Allerdings waren inzwischen Gerüchte nach Rom gelangt, die die Rolle Sanchos VII. in der anti-kastilischen Allianz in völlig neuem Licht erscheinen ließen : War Coelestin 1196 noch irrig davon ausgegangen, dass der navarresische Herrscher lediglich einen befristeten Waffenstillstand und (3 Bde.). Madrid 1960 (Escuela de Estudios Medievales : Textos 25–27), Bd. I, S. 972–978 ; Gonzalo Martínez Diez : Alfonso VIII, Rey de Castilla y Toledo. Burgos 1995 (Corona de España 21), S. 151–154. 36 Chronica latina regum Castellae. Hrsg. von Luis Charlo Brea. In : Chronica hispana saeculi XIII. Hrsg. von dems. Turnhout 1997 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 73), S. 7–118, cap. XIV, S. 47, Z. 9–18, [im Weiteren : CLRC]. 37 Bulle Cum in ultionem vom 29.3.1196, Ed.: Papsturkunden in Spanien. Vorarbeiten zur Hispania Pontificia. Band II : Navarra und Aragón. Hrsg. von Paul Fridolin Kehr. Berlin 1928 (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse : Neue Folge 22,1,2), nr. 220, S. 574–576 ; wiederholt in der Bulle Si largitoris vom 20.2.1197, Ed.: ebd., nr. 230, S. 591–593. Ein Auftrag zur Vermittlung eines solchen Bündnisses erging am 28.5.1196 an den päpstlichen Legaten : Bulle Cum in ultionem, Ed.: ebd., nr. 228, S. 588–590 ; vgl. auch Giulio Vismara : Impium Foedus. La illiceità delle alleanze con gli infedeli nella respublica christiana medio evale. Mailand 1950, S. 168–170. 38 Bulle Cum renatis vom 31.10.1196, Ed.: Fidel Fita : Bulas históricas del reino de Navarra en los postreros años del siglo XII. In : Boletin de la Real Academía de la Historia 26 (1895), S. 417–459, hier : nr. 3, S. 423–424. Siehe auch : Vismara (Anm. 37), S. 170–172 ; Damian J. Smith : The Iberian Legations of Cardinal Hyacinth Bobone. In : Pope Celestine III (1191–1198). Diplomat and Pastor. Hrsg. von John Doran/dems. Aldershot 2008 (Church, Faith and Culture in the Medieval West), S. 81–111, hier : S. 106–107. Coelestin gewährte denselben Ablass nochmals ad personam in einem Schreiben an König Sancho I. von Portugal : Bulle Cum Auctores vom 10.4.1197, Ed.: Monumenta Henricina. Bd. I. Coimbra 1969, nr. 16, S. 32–34.
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einen Neutralitätspakt mit den Almohaden abgeschlossen hatte,39 hegte nun Innozenz den berechtigten Verdacht, dass Sancho aktiv an der Seite der Almohaden gegen seine Glaubensbrüder kämpfte. Sollte sich dies als wahr erweisen, so wies Innozenz seinen Legaten an, solle unverzüglich das Anathem gegen die Person des Herrschers und über sein Reich das Interdikt verhängt werden.40 Als Rainer von Ponza freilich im Frühsommer 1198 auf der Iberischen Halbinsel eintraf, war das inkriminierte leonesisch-navarrisch-almohadische Bündnis bereits wieder zerbrochen : Noch im Sommer 1197 hatte Alfons VIII. von Kastilien einen zehnjährigen Waffenstillstand mit den Almohaden schließen41 und seine militärischen Kräfte voll auf die Kriegsschauplätze an den nördlichen Grenzen seines Reichs konzentrieren können. Seines wichtigsten Verbündeten beraubt, hatte Alfons von León daraufhin rasch eine Einigung mit dem kastilischen König gesucht, und so stand nun Sancho VII. von Navarra mit dem Rücken zur Wand, als der kastilische König im Bündnis mit Aragón daranging, seine eigenen Territorialinteressen gegen Navarra zu verfolgen. Für das isolierte Pyrenäenreich ging es dabei um die nackte Existenz : Im Mai 1198 vereinbarten Alfons VIII. und Peter II. im Vertrag von Calatayud42 eine Zerschlagung und Aufteilung Navarras und eröffneten im Frühsommer desselben Jahres an zwei Fronten gleichzeitig die Kampfhandlungen. In seiner Not scheint sich Sancho hilfesuchend an den Papst gewandt zu haben,43 nachdem ihm seine Widersacher schier unannehmbare Bedingungen für eine Waffenruhe diktiert hatten : Sancho hatte sich unter anderem eidlich verpflichten müssen, dem Plan einer inzestuösen Eheverbindung seiner Schwester mit dem König von Aragón zuzustimmen. Als Innozenz III. im Februar 1199 diesen illegitimen Eid für nichtig erklärte,44 half das Sancho zwar aus seinen Gewissensnöten, nicht aber aus seiner militärischen Zwangslage : Unter dem Druck eines Zwei-Fronten-Krieges sah sich der navarresische Herrscher 1199 erneut gezwungen, Hilfe im muslimischen Machtbereich zu suchen : Persönlich reiste er ins Almohadenreich, um dort abermals – wenngleich letztlich erfolglos – mit dem
39 Bulle Cum in ultionem vom 29.3.1196, Ed.: Kehr (Anm. 37), nr. 220, S. 574–576, hier : S. 575 : Verum ad apostolatus nostri audientiam de tua nobilitate pervenit quod cum inimicis catholice fidei imo ipsius domini nostri Iesu Christi amicitiam contraxisti, ab eis certam pecunie quantitatem annis singulis percep turus, si auxilium et consilium in huius necessitatis articulo christianis regibus denegares. 40 Reg. I :92 (S. 132–134, hier : S. 133 ; MDI nr. 138, S. 168–170, hier : S. 169). 41 González (Anm. 35), Bd. I, S. 979–980 ; Martínez Diez (Anm. 35), S. 162–163. 42 Martín Alvira Cabrer : Pedro el Católico, Rey de Aragón y Conde de Barcelona (1196–1213). Documentos, Testimonios y Memoria Histórica. (5 Bde.). Zaragoza 2010 (Fuentes históricas aragonesas 52), Bd. I, nr. 154, S. 299–305 ; González (Anm. 35), Bd. III, nr. 667, S. 179–186. 43 Das Schreiben Reg. I :553(556) (MDI nr. 181) an Sancho VII. vom 11.2.1199 dürfte als Antwort auf eine nicht erhaltene Nachricht des Navarresen zu verstehen sein. 44 Ebd.
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jungen Kalifen Muḥammad an-Nāṣir über ein Schutzbündnis gegen Kastilien und Aragón zu verhandeln.45 Schutzbündnisse, Waffenstillstände und befristete Separatfrieden mit den Muslimen von al-Andalus waren in der iberischen Reconquista seit jeher geübte Praxis und unterbrachen die Phasen der militärischen Konfrontation an der Expansionsgrenze immer wieder für Jahre.46 Entsprechende Abkommen gehörten in der Wahrnehmung der iberischen Akteure zu den normalen außenpolitischen Instrumenten, die ihre Wirkung nicht nur im Kontext der Reconquista, sondern ebenso in den Auseinandersetzungen unter den christlichen Machthabern entfalteten, bestimmten sie doch mit, wie viele Ressourcen im Konfliktfall gegen potenzielle Gegner zu mobilisieren waren. Von allen Beteiligten wurden treugae mit den Almohaden daher als taktische Optio nen bei ihren Konfliktstrategien einkalkuliert.47 Diesen allgemein tolerierten Verhal tensrahmen freilich scheinen Sancho VII. von Navarra und Alfons IX. von León verlassen zu haben, als sie 1195 unmittelbar nach der Schlacht von Alarcos einen ersten Bündnisvertrag mit dem Almohadenkalifen Yaʻqūb al-Manṣūr abschlossen, der nicht allein Waffenruhe, sondern aktive Truppenhilfe und Subsidienzahlungen für einen gemeinsamen Kampf gegen Alfons VIII. von Kastilien vorsah.48 Den damit begangenen Tabubruch bezeugt nicht zuletzt die scharfe Kritik, mit der die zeitnahe Chronistik vor allem Alfons IX. für diesen ›Verrat‹ bedachte49 – eine Kritik, die bis in die jüngste Forschungsliteratur hinein das überwiegend negative Bild dieses Herr45 Nevil Barbour : The relations of King Sancho VII of Navarre with the Almohads. In : Revue de l’Occident musulman et de la Méditerranée 4 (1967), S. 9–21. Romantisch-amouröse Anekdoten spinnen sich um den Aufenthalt Sanchos am muslimischen Herrscherhof, siehe Roger of Hoveden : Chronica. Hrsg. von William Stubbs (4 Bde.). Nendeln ND 1964 (Rerum britannicarum medii aevi scriptores or Chronicles and Memorials of Great Britain and Ireland during the Middle Ages 51,1–4), Bd. III, S. 90–92. 46 Adam J. Kosto : Reconquest, Renaissance, and the Histories of Iberia. In : European Transformations. The long Twelfth Century. Hrsg. von Thomas F. X. Noble/John H. van Engen. Notre Dame 2012 (Notre Dame Conferences in Medieval Studies), S. 93–116, hier : S. 96–98. 47 Dies zeigen z.B. Vertragsschlüsse der Zeit, in denen explizite Regelungen zu treugae an der Sarazenengrenze getroffen werden. Der kastilisch-leonesische Vertrag von Fresno-Lavadero verbot etwa 1183 beiden Seiten den Abschluss von Waffenstillständen mit den Almohaden und bewehrte dieses Verbot mit Pfandburgen, die im Fall eines Verstoßes an den jeweiligen Vertragspartner fallen sollten : González (Anm. 35), Bd. II, nr. 407, S. 700–708, hier : S. 707–708. 48 CLRC (Anm. 36), cap. XIV, S. 48, Z. 9–11 : Confederatus est statim regi Marroquitano et, accepta pecu nia ab eodem et multitudine militum armatorum, guerram mouit regi Castelle […]. 49 CLRC (Anm. 36), cap. XIV, S. 47, Z. 2–3 : consilio quorumdam satellitum Sathane conuersus est in arcum prauum querens occasiones quibus discederet ab amico, et de amico factus est crudelissimus inimicus […] ; ebd., S. 48, Z. 27–31 : Sic igitur Christiani cum Mauris colligati colligatione impietatis in desolatio nem regis Castelle conspirasse uidebantur, mala quecumque poterant atrociter toto regno undique inferen tes, adeo quod nusquam in toto regno uel angulus unus inueniri posset, in quo quisquam securus esset.
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schers bestimmt. Zu bedenken ist hier freilich, dass alle einschlägigen Chroniken des dreizehnten Jahrhunderts zum einen aus einer mehr oder minder stark ausgeprägten pro-kastilischen Perspektive über die Geschehnisse berichten50 und sich zum anderen häufig die im Rückblick siegreich gebliebene Position des Papsttums im Konflikt mit dem leonesischen Herrscher zu eigen machen. Die Chronica latina regum Castellae bedient sich gar einer vertrauten Formulierung, um das leonesisch-almohadische Bündnis zu verurteilen : Christiani cum Mauris colligati colligatione impietatis.51 Das Papsttum akzeptierte im ausgehenden zwölften Jahrhundert grundsätzlich die Notwendigkeit strategischer Waffenstillstandsvereinbarungen mit nichtchristlichen Gegnern. In den Briefregistern Innozenz’ III. finden sich mehrere Aussagen zu solchen treugae, die freilich insgesamt kein ganz einheitliches Bild ergeben. Zwar erklärte Innozenz 1199, sich bei seiner Verfolgung des negotium crucis nicht von Waffenstillständen mit den Muslimen einschränken lassen zu wollen,52 dienten diese Abkommen aber christlichen Interessen, so waren sie nach päpstlicher Auffassung doch zulässig und bisweilen sogar ratsam : Beispielsweise empfahl Innozenz angesichts höchst ungünstiger Voraussetzungen für einen Kriegserfolg noch im Frühjahr 1212 – nur Wochen vor Las Navas – dem kastilischen König nachdrücklich, die lange gehegten Kreuzzugspläne vorerst nicht weiter zu verfolgen, sondern bis auf Weiteres eine treuga mit den Almohaden einzugehen.53 Waren entsprechende Verträge einmal abgeschlossen, ging Innozenz von deren verbindlicher Gültigkeit aus : Waffenstillstände, auch mit muslimischen oder heidnischen Gegnern,54 waren einzuhalten, selbst wenn dadurch strategisch günstige Konstellationen ungenutzt bleiben mussten. So forderte Innozenz 1205 die Ordensritter von Calatrava und Vélez auf, ihre Operationsbasen vorübergehend ins Königreich Aragón zu verlegen, da von kastilischem Reichsgebiet aus eine Fortsetzung des Maurenkrieges unmöglich war, solange der 50 José-Luis Martín Martín : Alfonso IX y sus relaciones con Castilla. In : Espacios, Tiempo y Forma. Serie III. Historia Medieval 7 (1994), S. 11–31, hier : S. 15–17. 51 CLRC (Anm. 36), cap. XIV, S. 48, Z. 27–28. 52 Reg. II :180(189) (S. 345–346, hier : S. 346). Auch : Roscher (Anm. 3), S. 286. 53 Reg. XIV :154 (MPL 216, Sp. 513B–514A ; MDI nr. 470, S. 500–501, hier : S. 501). 54 Auch an anderen Schauplätzen des Heidenkampfes schränkten rechtlich bindende treugae mit nichtchristlichen Gegnern die Möglichkeiten zur Führung selbst eines Kreuzzugs ein : 1199 stellte Innozenz den Krieg gegen die livländischen Heiden, für den der Papst allen Bewohnern von Sachsen und Westfalen die remissio peccatorum in Aussicht gestellt hatte, unter den Vorbehalt, nisi pagani circa Livoniensem Ecclesiam constituti cum Christianis treugas inire voluerint et initas observarint, vgl. Reg. II :182(191) (S. 348–349). Waren Muslime und Heiden in den Augen des Papstes unter bestimmten Umständen legitime Vertragspartner für den Abschluss von treugae, so schloss Innozenz entsprechende Vereinbarungen mit Häretikern kategorisch aus, vgl. MDI nr. 505 vom 1.6.1213 an den König von Aragón (S. 546–550, hier : S. 549) : Cum quibus, cum nulla sit societas lucis ad tenebras, nec participatio Christi ad Belial, aut pars fideli cum infideli, orthodoxae fidei professores treugas habere non convenit sive pacem.
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1197 geschlossene Waffenstillstand zwischen König Alfons VIII. und dem Almohadenkalifen galt ;55 und als dieser Waffenstillstand schließlich auslief, unterstützte der Papst die kastilischen Pläne zur Wiederaufnahme der Reconquista 1210 mit einer Kreuzzugsbulle, ließ aber den Kreuzzug nur jenen Fürsten predigen, qui non sunt cum illis ad treugas observandas astricti.56 Wenn Innozenz III. also seinen Legaten ab 1198 mit scharfen Maßnahmen gegen die Bündnispolitik der iberischen Herrscher vorgehen ließ, erboste ihn nicht die auf der Pyrenäenhalbinsel übliche Praxis57 der Vertragsschlüsse mit den ›Ungläubigen‹ als solche. Was die wiederholten Bündnisse Sanchos VII. von Navarra und Alfons’ IX. von León mit den Almohaden in den Augen des Papstes von anderen treugae mit den Muslimen unterschied und zu verdammungswürdigen colligationes impietatis machte, war ihre aktiv antichristliche Stoßrichtung. In der erhaltenen Iberien-Korrespondenz des Papstes finden sich keine weitergehenden Äußerungen zu solchen Pakten mit dem ›Feind‹ ; zur selben Zeit aber, als sich Innozenz der iberischen Verhältnisse annahm, sah er sich auch in Sizilien mit einem ähnlich gelagerten ›Skandal‹ konfrontiert : Der staufische procurator Markward von Annweiler hatte sich in seinem Kampf gegen die päpstlichen Zugriffsversuche auf das Königreich Sizilien seit 1198 der Hilfe von Truppen bedient, die er aus der muslimischen Minderheit auf der Insel rekrutierte. Im November 1199 formulierte Innozenz sein vernichtendes Urteil58 über diese per fidia Markwards, das auf die zeitgleichen iberischen Parallelfälle übertragen werden kann : Innozenz brandmarkte das Militärbündnis mit den Muslimen als eine ›Verschwörung‹ nicht allein gegen das regnum von Sizilien, sondern gegen den gesamten populus Christianus ; wie ein alius Saladinus ziele Markward auf die Vernichtung aller Gläubigen und die Ausmerzung des gesamten christlichen Glaubens.59 Markward galt dem Papst daher als hostis Christianae religionis ; sein Kampf gegen Glaubensbrüder, Seite an Seite mit den inimici crucis, verletzte nach päpstlicher Darstellung nicht allein die Rechte des päpstlichen Mündels Friedrich von Staufen, sondern war ein frevlerisches Unrecht gegen den Gekreuzigten selbst (iniuria Crucifixi).60 Wie 55 Reg. VIII :97(98) (MDI nr. 321). 56 Reg. XIII :181(183) (S. 272–273, hier S. 273 ; MDI nr. 442, S. 472–473, hier : S. 473). 57 Vgl. etwa Kosto (Anm. 46), S. 97–99. Für die Kreuzfahrerstaaten im Osten ist das Religionsgrenzen übergreifende Bündnis- und Vertragswesen gründlich untersucht worden von : Michael A. Köhler : Allianzen und Verträge zwischen fränkischen und islamischen Herrschern im Vorderen Orient. Berlin 1991 (Studien zur Sprache, Geschichte und Kultur des islamischen Orients/Neue Folge 12). 58 Reg. II :212(221), an den Adel von Sizilien (vom 24.11.1199). Siehe auch Cipollone, 1999 (Anm. 10), S. 366–367. 59 Reg. II :212(221) (S. 411–414, hier : S. 411) : non solum contra regnum Sicilie sed universum fere con iuraverit populum Christianum, quod factus sit contra vos alius Saladinus […]. 60 Ebd., S. 413 : Quem igitur, etsi non pueri regis, Regis regum causa non moveat et non tangat iniuria Cru cifixi ?
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schon Coelestin 1196 gegen Alfons von León verkündete daher auch Innozenz den Kreuzzug gegen den inimicus Dei et Ecclesiae und gewährte dafür dieselben Indulgenzen wie für eine bewaffnete Fahrt ins Heilige Land. Sicherlich bediente dieses scharfe Verdikt über die angebliche Verschwörung Markwards gegen Gott, Christus und das gesamte Christenvolk 1199 konkrete politische Interessen des Apostolischen Stuhls im Kampf um die Kontrolle über Sizilien ; als symptomatisch für Innozenz’ Gedankenwelt darf aber die christuszentrierte und auf spirituelle Dimensionen abhebende Betrachtungsweise des christlich-muslimischen Truppenbündnisses gelten, die sich auch im päpstlichen Urteil über Sancho VII. findet : Wie Markward zieh Innozenz auch den König von Navarra 1198 einer ›Verschwörung‹ gegen die Christenheit insgesamt.61 Die geistlichen Waffen freilich, mit denen der Papst den ›Verschwörern‹ drohte, blieben stumpf und führten nicht zum gewünschten Erfolg : Der päpstliche Legat Rainer hatte die Iberische Halbinsel kaum verlassen, da suchte Sancho 1199 erneut die Waffenhilfe der Almohaden im immer wieder aufflammenden Grenzkrieg mit Kastilien und Aragón, der schließlich erst 1207 bzw. 1208 durch befristete Waffenstillstände vorübergehend zur Ruhe kommen sollte.62 Und als zudem 1204 auch die Konflikte zwischen León und Kastilien wieder blutig aufflammten, rückte der von Innozenz so dringend angestrebte Frieden unter den iberischen Herrschern in weite Ferne. Die Frustration über die ausbleibenden Erfolge seiner Iberienpolitik wird aus der resignierten Zwischenbilanz deutlich, die Innozenz 1204 nach Jahren des Bemühens um eine christliche Einigung im Dienste des negotium crucis auf der Iberischen Halbinsel zog : Als der jugendliche König Peter II. von Aragón den Papst Ende 1203 über seine Pläne informierte,63 die Reconquista wiederaufnehmen zu wollen, und um die Entsendung eines Kreuzzugslegaten bat, der die anderen iberischen Herrscher zur Unterstützung dieses Vorhabens bewegen sollte, lehnte Innozenz die Erfüllung dieser Bitte ab : Angesichts der militärischen Stärke des rex Marroquitanus, der erst im Jahr zuvor Mallorca erobert hatte, hielt er es zu diesem Zeitpunkt für nicht ratsam, den muslimischen Gegner herauszufordern. Als das eigentliche Problem aber benannte der Papst die inneren Verhältnisse der christlichen Hispania : Nicht allein Meinungsverschiedenheiten, sondern regelrechte Feindschaft entzweie deren Könige ; zwischen ihnen herrsche keine echte, von Herzen kommende pax pectoris, sondern al-
61 II :92 (MDI nr. 138). 62 Joseph F. O’Callaghan : Innocent III and the Kingdoms of Castile and Leon. In : Pope Innocent III and his World. Hrsg. von John C. Moore/Brenda Bolton. Brookfield, Vt. 1999, S. 317–335, hier : S. 326–327. 63 VI :234(235) (S. 395–396, hier : S. 396 ; MDI nr. 295, S. 329–330, hier : S. 330).
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lenfalls eine falsche pax peccatoris. Die erbetene Entsendung eines Kreuzzugslegaten erachtete Innozenz daher bis auf Weiteres als aussichtslos.64 Sucht man nach Gründen für das Scheitern der päpstlichen Initiativen zur Befriedung und Einung der christlichen Hispania vor der Kreuzzugskampagne von Las Navas de Tolosa, so sind vor allem die Zielkonflikte zu nennen, die zwischen der päpstlichen Kreuzzugspolitik und dem Agieren der iberischen Herrscher bestanden : Handlungsleitend für die Könige der cinco reinos waren ihre jeweiligen dynastischen und territorialen Partikularinteressen, die sie in Konkurrenz zu den Nachbarreichen verfolgten. Wenn dieses Verhalten bis in die moderne Forschungsliteratur hinein vielfach als ›rückständig‹ oder ›selbstsüchtig‹ beschrieben wird, so wirken hier parteiische Urteile nach, die bereits in den hochmittelalterlichen Papstbriefen angelegt waren.65 Im besten Falle aber sind solche moralisierenden Wertungen einseitig und anachronistisch : Implizit wiederholen sie die problematische ›Meistererzählung‹ von Reconquista, Kreuzzug und Maurenkampf als den vermeintlich überzeitlichen ›Leitmotiven‹ des iberischen Mittelalters. Gerade ein Blick in die zweite Hälfte des zwölften Jahrhunderts aber zeigt, dass zu dieser Zeit ganz andere Prozesse und Kon stellationen die Handlungsstrategien der politischen Akteure bestimmten als die Idee eines gesamtchristlichen Glaubenskampfes gegen den Islam,66 die damals noch vor allem von außen durch das Papsttum in die Hispania hineingetragen wurde.67 Wenn die iberischen Herrscher der Zeit also den römischen Unionsappellen nicht bereitwillig folgten, so war dies kein moralisches Versagen, kein ›Verrat‹ an der vermeintlichen ›nationalen‹ oder ›religiösen Sache‹, sondern war den politischen Herausforderungen der Zeit geschuldet, auf die die päpstliche Utopie einer im negotium crucis geeinten christlichen Hispania keine sinnvollen Antworten zu geben vermochte : Die Konflikte unter den Herrschern waren nicht so sehr Ausdruck von persönlicher Streitsucht und Egoismus, sondern hatten ihre Funktion in dem gleichermaßen zeittypischen wie zukunftsweisenden Aushandlungsprozess einer polyzentrischen Territorial- und Herrschaftsverfassung im christlich beherrschten Norden der Iberischen Halbinsel. Im Kontext eines gesamteuropäischen ›Modernisierungsschubs‹ im zwölften Jahrhundert waren analoge Prozesse der rechtlichen, räumlichen, sozialen und institutionellen 64 Ebd., S. 396, Z. 19–25 (MDI nr. 295, S. 330). 65 Goñi Gaztambide (Anm. 5), S. 100 : »La voz del papa clamó en el desierto. Los príncipes españoles, traicionando el ideal de la cruzada, parecían condenados a destrozarse en guerras fratricidas.« 66 Kosto (Anm. 46), S. 97–101 ; Esther Pascua Echegaray : De reyes, señores y tratados en la Península Ibérica del siglo XII. In : Studia historica. Historia medieval (2002), S. 165–187. 67 Klaus Herbers : Das Papsttum und die Iberische Halbinsel. In : Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts. Hrsg. von Ernst-Dieter Hehl. Stuttgart 2002 (Mittelalter-Forschungen 6), S. 25–60, hier : S. 51 ; Pascual Buresi : La frontière entre chrétienté et Islam dans la péninsule Ibérique. Du Tage à la Sierra Morena (fin IXe–milieu XIIIe siècle). Paris 2004, S. 249–250.
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Konsolidierung von monarchischer Königsherrschaft zeitgleich beinahe überall in Europa zu beobachten ; die Iberische Halbinsel unter den cinco reinos stellte dabei – entgegen anderslautenden Paradigmata der früheren Forschung – keinen Sonderfall dar.68 Innozenz allerdings betrachtete die iberischen Verhältnisse vor allem als Schauplatz des für die christianitas heilsnotwendigen negotium crucis ; das Verhalten der iberischen Herrscher bewertete er daher vornehmlich aus der Perspektive seiner spirituellen Kreuzzugskonzeption : Streit und Zwietracht unter den Herrschern der Christenheit sah er als einen der Hauptgründe dafür an, dass die Ungläubigen über die Christenheit triumphierten.69 Den Dissens der Könige begriff der Papst dabei nicht so sehr als ein militärisch-strategisches Problem, für ihn waren die Uneinigkeit der Herrschenden und ihre als egoistisch gegeißelte Politik der Eigeninteressen vielmehr symptomatisch für die allgemeine Sündhaftigkeit, durch die die Christenheit die Gnade und Gunst Gottes verloren hatte.70 Die Überwindung der discordia principum war für Innozenz daher weniger eine politische als vielmehr eine pastorale Aufgabe : Der angestrebte Frieden sollte die iberischen Herrscher nicht vorrangig untereinander, sondern vor allem mit Gott und Christus versöhnen. Innozenz sah die Beilegung von Zwist und Zwietracht der Herrschenden als Teil jener unabdingbaren moralisch-spirituellen Besserung der Christenheit, ohne die ein Sieg über die Muslime nach päpstlicher Überzeugung nicht gelingen konnte. Eine pax peccatoris aber, also ein auf Sünde gegründeter Frieden, musste dieses spirituelle Ziel verfehlen und war für Innozenz damit nicht akzeptabel. Dies wird auch in der päpstlichen Haltung zum zweiten großen Aktionsfeld der Iberien-Gesandtschaft Rainers von Ponza 1198 deutlich.
3. Turpe contractum : Die Auflösung ›inzestuöser‹ Herrscherehen
Nur Wochen vor dem Amtsantritt Innozenz’ III. war im Spätherbst 1197 die Ehe zwischen Alfons IX. von León und Berenguela von Kastilien geschlossen worden.71 68 Pascua Echegaray (Anm. 66), S. 170–171, S. 186–187 ; Kosto (Anm. 46), S. 99–101. 69 Reg. I :336 (S. 498–505, hier : S. 499–500) : Nunc vero principes nostri, gloria Israel de loco suo in in iuriam nostri translata, vacant adulterinis amplexibus, deliciis et divitiis abutentes. Et dum se invicem inexorabili odio persecuntur, dum unus in alium suas nititur iniurias vindicare, non est quem moveat iniuria Crucifixi […]. 70 Reg. XV :208 (MPL 216, Sp. 736A–737B, hier : Sp. 736B) : manifeste cognoscis quod inter caetera pec cata populi Christiani, quibus exigentibus gentes in haereditatem Domini venientes templum Domini, quod non absque dolore recolimus, polluerunt, plurimum nocuit discordia et contentio quae super principes et magnates ibi consistentes effusa eos fecit in invio aberrare, dum proprias persequentes iniurias, iniuria rum obliti sunt crucifixi, et per adinventionum suarum malitias divinae maiestatis oculos provocantes, illo meruerunt spoliari thesauro in quo solo Apostolus gloriatur, cruce videlicet Domini Iesu Christi. 71 María Isabel Pérez de Tudela y Velasco : El concepto de pecado como arma de control polí-
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Die Hoffnungen, die man in beiden Königreichen in diese Hochzeit setzte, waren angesichts des seit 1196 tobenden Krieges hoch. Die Heiratsverbindung zwischen den Königshäusern erschien vielen als der letzte gangbare Weg, um die seit Jahren blutig ausgefochtenen Konflikte dauerhaft beizulegen : Nicht anders als allein durch diese Ehe, so urteilte etwa die Chronica Latina regum Castelle, habe der Frieden zwischen den verfeindeten Reichen überhaupt wieder hergestellt werden können.72 Was aber erwartete man sich an den beteiligten Höfen von der Heirat ? Die Probleme zwischen Kastilien und León erwuchsen zu einem nicht unerheblichen Teil aus der Tatsache, dass die Herrscherlinien beider Reiche eng miteinander verwandt waren und daher konkurrierende Ansprüche auf Herrschaft und Territorien jeweils gleichermaßen erb rechtlich begründen konnten. Im Vertrag von Tordehumos war dieses Faktum 1194 von päpstlicher Seite als Problem erkannt worden,73 die damals unter Coelestin III. ausgehandelte vertragsbasierte Lösung war aber nicht stabil genug gewesen, um die Konflikte dauerhaft beizulegen. In Einklang mit den zeittypischen Strategien und Instrumenten dynastischer Adelsherrschaft zielten die politischen Akteure in Kastilien und León daher 1197 darauf, die aus genealogischen Konstellationen erwachsenden Schwierigkeiten mit dem Instrument des connubium zu lösen :74 Durch die Ehe zwischen Alfons und Berenguela sollten die umstrittenen Ansprüche wieder in einer gemeinsamen dynastischen Linie zusammengeführt werden. So hoch die Hoffnungen auch gesteckt waren, die man in beiden Reichen mit dem Eheprojekt verband, den beteiligten Entscheidungsträgern war doch von vornherein das Problem der geplanten Verbindung bewusst :75 Die beiden Brautleute waren im zweiten beziehungsweise dritten Konsanguinitätsgrad miteinander verwandt – viel zu nah, als dass die geplante Heirat mit dem kanonischen Recht vereinbar gewesen wäre. Die kirchliche Ehegesetzgebung76 verbot bis 1215 Verbindungen unter Vertico : el matrimonio de Alfonso IX de León y Berenguela de Castilla. In : Pecar en la edad media. Hrsg. von Ana Isabel Carrasco Manchado/María del Pilar Rábade Obradó. Madrid 2008, S. 81–96 ; H. Salvador Martínez : Matrimonio de Alfonso IX de León con Berenguela de Castilla : Una historia de intrepidez femenina. In : Argutorio : Revista de la Asociación Cultural ›Monte Irago‹ 29 (2012), S. 27–31. 72 CLRC (Anm. 36), cap. XV, S. 50, Z. 71–73 : reformata est pax inter regem Legionis et regem Castelle, que non potuit aliter reformari nisi rex Castelle filiam suam dominam Berengariam regi Legionis copularet, in matrimonio. 73 González (Anm. 34), Bd. II, nr. 79, hier S. 106, Z. 5–14. 74 Miriam Teresa Shadis : Berenguela of Castile (1180–1246) and Political Women in the High Middle Ages. New York 2009, S. 62. 75 Janna Bianchini : The Queen’s Hand. Power and Authority in the Reign of Berenguela of Castile. Philadelphia 2012, S. 4. 76 Zur Entwicklung bis ins elfte Jahrhundert : Karl Ubl : Inzestverbot und Gesetzgebung : Die Kon struktion eines Verbrechens (300–1100). Berlin 2008 (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte
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wandten bis einschließlich des siebten Konsanguinitätsgrades ; erst das Vierte Late rankonzil sollte diese Normen lockern und Heiraten ab dem fünften Grad der Verwandtschaft gestatten.77 Die Mehrheit der politischen Entscheidungsträger in den beiden beteiligten Königreichen wertete aber offenkundig den friedensstiftenden Nutzen der Heiratsverbindung höher als die kirchenrechtlichen Hinderungsgründe, und so wurde das Paar am 17. November 1197 in Oviedo vermählt. Allein der englische Chronist Roger von Hoveden berichtet von einer angeblichen permissio des Papstes für diese Ehe ;78 für einen solchen Dispens fehlen aber jegliche Hinweise. Wahrscheinlich hat Coelestin III. gar nichts mehr von der kastilisch-leonesischen Eheverbindung erfahren : Der Papst verstarb am 8. Januar 1198, nur wenige Wochen nach der Hochzeit des Herrscherpaares. Die erhofften politischen Effekte der Heirat stellten sich unmittelbar ein : Die Kriegshandlungen fanden ein Ende, und Alfons VIII. und Alfons IX. gelang auf dem neuen Fundament einer dynastischen Verbindung vorübergehend eine gütliche Regelung der meisten ihrer Streitpunkte.79 Auf dem Weg zu einer stabilen Friedens ordnung, die so unerlässlich für das von Rom erhoffte konzertierte Vorgehen aller christlichen Reiche gegen die sarazenischen Feinde war, schien Spanien damit einen beträchtlichen Schritt vorangekommen zu sein. Innozenz hätte sich eigentlich freuen können – doch weit gefehlt : Als die Nachricht von der kastilisch-leonesischen Vermählung im Frühjahr 1198 nach Rom gelangte, zeigte sich der Papst schockiert und beauftragte seinen Legaten Rainer von Ponza mit der sofortigen Auflösung dieses turpe contractum, das gleichermaßen ›abscheulich vor Gott und verdammungswürdig vor den Menschen‹ sei :80 Innozenz bemühte Jer 17,5, um die Ehepolitik beider Könige als consilium contra Deum zu brandmarken, und teilte seinem Legaten mit, dass er die beiden Verantwortlichen für dieses contractum tam illicitum bereits brieflich aufgefordert habe, die Ehe und alle daran geknüpften colligationes impieta tis unverzüglich und ohne Ausflüchte zu lösen. Etwaige Widerstände der beteiligten Herrscher solle Rainer nötigenfalls mit Anathem und Interdikt brechen. Da freilich des ersten Jahrtausends n. Chr. 20). Für das Hochmittelalter : Pierre J. Payer : Sex and new medieval Literature of Confession. Toronto 2009 (Studies and texts 163), S. 150–168. 77 Kanon 50 : De restricta prohibitione matrimonii. In : Dekrete der ökumenischen Konzilien. Bd. II : Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517). Hrsg. von Josef Wolmuth u.a. Paderborn 2000, S. 257. 78 Roger of Hoveden (Anm. 45), Bd. III, S. 90 : permissione domini papae Coelestini, pro bono pacis. 79 Entscheidend war hierfür der Vertrag beider Herrscher über das Dotalgut Berenguelas, über das u.a. Territorialkonflikte in der Tierra de Campos beigelegt werden konnten : González (Anm. 35), Bd. III, nr. 681, S. 204–208. Dazu : Shadis (Anm. 74), S. 64–66 ; Dies.: Motherhood, Lineage, and Royal Power in Medieval Castile an France. PhD diss. Duke University. Ann Arbor 1996, S. 82–88 ; Bianchini (Anm. 75), S. 43–46. 80 I :92 (S. 132–134, hier : S. 133 ; MDI nr. 138, S. 168–170, hier : S. 169).
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León wegen des Sarazenenbündnisses Alfons’ IX. seit Oktober 1196 ohnehin bereits unter dem Interdikt lag, eröffnete der Papst seinem Legaten noch eine alternative Strategie : Sollte sich Alfons hinsichtlich der incestuosa copula einsichtig und gegenüber den Anweisungen des Apostolischen Stuhls gehorsam zeigen, so dürfe Rainer die einst durch Gregor von Sant’Angelo unter Coelestin III. verhängten Sanktionen lockern.81 Aber weder mit Drohungen noch mit Lockungen vermochte Rainer von Ponza die iberischen Herrscher zur Aufgabe der Eheverbindung zu bewegen : Alfons IX. ließ mehrere vom päpstlichen Legaten gesetzte Fristen verstreichen und zog so schließlich abermals die Exkommunikation auf sich.82 Dem kastilischen Herrscher gelang es besser, dem Papsttum seine vermeintliche Kooperationsbereitschaft vorzugaukeln : Er blieb so von geistlichen Sanktionen verschont, in Wirklichkeit hatte aber auch Alfons VIII. nicht die Absicht, die friedensstiftende Ehe seiner Tochter aufzulösen.83 Stattdessen bemühten sich beide beteiligten Höfe um eine nachträgliche Legitimierung der Verbindung : Wohl Ende 1198 oder im Frühjahr 1199 wurde in Rom eine hochrangige geistliche Delegation unter der Leitung des kastilischen Erzbischofs Martin von Toledo vorstellig ; auch die leonesische Kirche war in Person des Bischofs Martin von Zamora in der Delegation repräsentiert. Die Prälaten hatten den Auftrag, beim Papst um rückwirkende Gewährung eines Ehedispenses nachzusuchen, mit diesem Anliegen aber wurden die Gesandten nicht einmal zu Innozenz vorgelassen.84 Wieder ist es Roger von Hoveden, der die anderweitig nicht überprüfbare Nachricht überliefert, Alfons von León habe mit dem Angebot von Geld und der Finanzierung eines Truppenkontingentes auf ein Jahr für den Heidenkrieg versucht, den Papst dazu zu bewegen, die illegitime Ehe für drei Jahre, wenigstens aber bis zur Geburt eines ersten Kindes zumindest zu tolerieren.85 In der Tat verschwindet das Thema der leonesisch-kastilischen Herrscherehe nach dem Ende der Legationsreise Rainers ab Ende Mai 1199 für etwa drei Jahre bis Juni 1203 aus den Papstbriefen. Miriam Shadis hat daher vermutet, Innozenz könnte, wenn nicht durch Dispens, so 81 I :93 (MDI nr. 140) ; I :92 (MDI nr. 138). 82 Dies geht aus einem Papstbrief an den Erzbischof von Compostela aus dem Mai 1199 hervor : Reg. II :72(75) (S. 126–134, hier : S. 130 ; MDI nr. 196, S. 209–215, hier : S. 211). 83 Dies realisierte Innozenz Jahre später : Von 1203 bzw. 1204 stammen zwei scharf formulierte Briefe, in denen der Papst den kastilischen Herrscher als den eigentlich Verantwortlichen für die Eheaffäre und ihre schleppende Auflösung benennt : Reg. VI :80 (S. 125–127 ; MDI nr. 276, S. 305–306), Reg. VII :93 (S. 146–149, hier : S. 147–148 ; MDI nr. 305, S. 336–339, hier : S. 337). Siehe auch : O’Callaghan (Anm. 8), S. 323–325. 84 Reg. II :72(75) (S. 126–134, hier : S. 130–131 ; MDI nr. 196, S. 209–215, hier : S. 211–212) und Reg. VII :93 (S. 146–149, hier : S. 148 ; MDI nr. 305, S. 336–339, hier : S. 338). 85 Roger of Hoveden (Anm. 45), Bd. IV, S. 79.
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vielleicht durch Dissimulation den Wünschen Alfons’ entsprochen haben.86 Dagegen freilich spricht zweierlei : Zum einen hatte der Papst die Nachkommenschaft aus der inkriminierten Verbindung bereits für illegitim und für nicht nachfolgeberechtigt erklärt ;87 unter diesen Bedingungen aber kann die Ehe von den Betroffenen kaum im stillschweigenden Einverständnis mit dem Papsttum fortgeführt worden sein, da sie so von vornherein ihren dynastischen Zweck verfehlt hätte.88 Vor allem aber hätte eine solche Duldung aus pragmatischen Gründen grundsätzlich der spirituell-pastoralen Perspektive widersprochen, aus der heraus sich Innozenz der Angelegenheit von Anfang an angenommen hatte. Die iberische Delegation kehrte also ohne den erhofften Erfolg aus Rom nach Spanien zurück : Innozenz war nicht bereit, die inzestuöse Ehe nachträglich zu legitimieren. Daraufhin ignorierten die hispanischen Protagonisten im Folgenden einfach alle päpstlichen Mahnungen und Drohungen in dieser Angelegenheit.89 Tatsächlich sollte es trotz der verhängten Sanktionen sechs Jahre dauern, bis sich das leonesisch-kastilische Herrscherpaar dem Druck von Exkommunikation und Interdikt schließlich beugte und sich 1203 oder Anfang 1204 trennte : Zu diesem Zeitpunkt waren der Verbindung bereits vier Kinder entsprungen, darunter der spätere kastilisch-leonesische König Ferdinand III. ›der Heilige‹, unter dem 1230 mit der Wiedervereinigung der beiden Reiche die kräftezehrenden Konkurrenzkämpfe zwischen Kastilien und León endgültig überwunden werden konnten. Aus der Sicht der hispanischen Zeitgenossen wäre dies freilich bereits 1197 zu haben gewesen : In der iberischen Historiographie des dreizehnten Jahrhunderts klingt vielfach ein stilles Kopfschütteln über einen Papst an, der den unschätzbaren Nutzen der dynastischen Verbindung zwischen den zerstrittenen Reichen seinen moralischen und spirituellen Vorstellungen opferte und damit die Verlängerung eines brudermörderischen Krieges zwischen den dynastischen Linien in Kauf nahm.90 Tatsächlich zeigen die Chroniken dieser Zeit, dass die Bewertung der kastilisch-leonesischen Verbindung am Ende des zwölf86 Shadis (Anm. 74), S. 69. 87 Reg. II :72(75) (S. 126–134, hier : S. 133 ; MDI nr. 196, S. 209–215, hier : S. 214) : auctoritate apostolica decernentes, ut si ex tam incestuosa et dampnata copula proles est vel fuerit quecumque suscepta, spuria et illegitima penitus habeatur, que secundum statuta legitima in bonis paternis nulla prorsus ratione succedit. 88 Als unglaubwürdig ist daher die Nachricht bei Alberich von Trois-Fontaine zu werten, Innozenz habe die Ehe de necessitate geduldet, solange noch keine Kinder geboren waren, vgl. Chronica Alberici monachi Trium Fontium, a monacho Novi Monasterii Hoiensis interpolata. In : Chronica aevi Suevici. Hrsg. von Heinrich Pertz. Hannover 1874 (Monumenta Germaniae Historica/Scriptores [in Folio] 23), S. 631–950, hier S. 985, Z. 37–39 ; so auch O’Callaghan (Anm. 8), S. 320. 89 Shadis (Anm. 74), S. 67–70 ; Dies., 1994 (Anm. 79), S. 76–87 ; Bianchini (Anm. 75), S. 69–77 ; Robert-Hermann Tenbrock : Eherecht und Ehepolitik bei Innocenz III. Dortmund 1935, S. 92– 96 ; O’Callaghan (Anm. 8), S. 322–325. 90 Pérez de Tudela y Velasco (Anm. 63), S. 81–84, S. 90–93 ; Smith, 1999 (Anm. 6), S. 487–491.
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ten Jahrhunderts noch keineswegs eindeutig war : Der vom Papst propagierten kirchenrechtlich-sakramentalen Beurteilung standen in der iberischen Adelsgesellschaft Auffassungen von der Ehe als einem zweckorientierten dynastischen und politischen Ordnungsinstrument gegenüber. Tatsächlich wird in den Auseinandersetzungen zwischen den iberischen Herrscherhäusern und Innozenz III. über die unkanonischen Eheverbindungen ein Normenkonflikt von gesamteuropäischer Dimension sichtbar, der erst im dreizehnten Jahrhundert zugunsten des Papsttums entschieden werden sollte. Aufgrund der engen dynastischen Verflechtungen der iberischen Reiche und der daraus erwachsenden Verschränkungen von erbrechtlich begründeten Territorialund Herrschaftsansprüchen hatte sich gegen alle kirchlichen Verbote unter den iberischen Herrscherfamilien eine noch immer relativ starke Tendenz zum endogamen Konnubium erhalten.91 Die Ehe zwischen Alfons IX. und Berenguela, seiner Nichte zweiten Grades, verstieß zwar gegen die kanonischen Normen, entsprach aber zugleich dem unter den iberischen Monarchien auch im zwölften Jahrhundert noch vielfach praktizierten Muster von Verwandtenehen : Alfons’ Vater, Ferdinand II. von León, hatte beispielsweise 1165 seine Cousine zweiten Grades, die Infantin Urraca von Portugal geheiratet ; Alfons IX. selbst war 1191 eine Ehe mit seiner Cousine ersten Grades, Teresa von Portugal, eingegangen und 1198 unterband nur ein päpstliches Veto den Plan einer Ehe zwischen Peter II. von Aragón mit einer Schwester Sanchos VII. von Navarra, zwischen denen ein Verwandtschaftsverhältnis ebenfalls im zweiten Konsanguinitätsgrad bestanden hätte. Alle diese Ehen oder Ehepläne erfüllten zu ihrer Zeit jeweils wichtige politische Funktionen beim Ausgleich konkurrierender Interessen, bei der Beilegung von Konflikten oder bei der Konsolidierung von Bündnissen. Das Konnubium unter den führenden Familien der cinco reinos war damit, wie in allen Adelsgesellschaften Europas dieser Zeit, ein gängiges Instrument der jeweiligen Reichspolitik. Wie auch im Fall der Ehe von 1197 ersichtlich, war den Protagonisten durchaus bewusst, dass ihre Ehepraxis in vielen Fällen nicht mit den kanonischen Normen in Einklang stand. Noch während des zwölften Jahrhunderts jedoch konnten die Beteiligten in der Regel davon ausgehen, dass der Verstoß gegen das Kirchenrecht zumindest dissimuliert werden und damit ohne gravierende Folgen bleiben würde.92 Dies freilich sollte sich unter Innozenz III. ändern, markierte doch sein Pontifikat den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf die Papstkirche das sakramentale Eheverständnis gegenüber konkurrierenden Ehekonzepten der Laienwelt durchsetzte, die Praxis des kirchlichen Eherechts an den Im91 Simon Barton : The Aristocracy in Twelfth Century León and Castile. Cambridge 1997 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought/4 34), S. 55–56. 92 David L. D’Avray : Medieval marriage. Symbolism and Society. Oxford, New York 2005, S. 94–99.
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plikationen dieses sakramentalen Eheverständnisses – Monogamie und lebenslange Unauflöslichkeit – ausrichtete und zugleich die Jurisdiktion über Eheangelegenheiten exklusiv an sich zog.93 In Kastilien und León war man 1198 durchaus bereit, das Papsttum als zuständige Instanz in Fragen des Eherechts anzuerkennen : Das zeigt nicht zuletzt die Bitte um Dispens, die von der geistlichen Delegation in Rom vorgetragen werden sollte. Als diese Bitte aber abgeschlagen wurde, war man auf der Pyrenäenhalbinsel nicht willens, die wichtigen politischen Funktionen, die die dynastische Verbindung zwischen beiden Höfen erfüllte, auf dem Altar kirchenrechtlicher Normen zu opfern. Warum – so fragten sich wohl bereits Zeitgenossen – zeigte sich Innozenz in der Frage der kastilisch-leonesischen Eheverbindung so wenig zum Kompromiss bereit ? Ein schlichter Verweis auf die Unvereinbarkeit der Verwandtenehe mit den Normen des kanonischen Rechts allein kann hier als Antwort nicht genügen : Innozenz selbst beanspruchte für sich in einer berühmten Sentenz, die Eingang ins kodifizierte Kirchenrecht gefunden hat, aus der Vollmacht seines Amtes als Papst heraus von geltendem Recht dispensieren zu können.94 Von dieser Kompetenz machte er während seines Pontifikats durchaus mehrfach Gebrauch, auch und gerade im Hinblick auf unkanonische Eheverbindungen :95 Noch während die kastilisch-leonesische Eheangelegenheit andauerte, erteilte Innozenz etwa im Sommer 1200 einen Dispens, um die ebenfalls unkanonische Verlobung zwischen dem Welfen Otto von Braunschweig und der mit ihm im vierten Grade verwandten Maria von Brabant zu ermöglichen. Bezeichnend ist in diesem Fall vor allem die Begründung, die Innozenz für seine Entscheidung gab : Mitten im Deutschen Thronstreit zielte die projektierte Eheschließung unverkennbar auf eine Stärkung der welfischen Position im Reich ; mit dem gewährten Ehedispens ergriff Innozenz aktiv Partei für den von ihm favorisierten anti-staufischen Thronkandidaten und begründete dies mehrfach mit der multa et magna utilitas, die dem imperium daraus erwachsen werde.96 In gleicher Weise ebnete er nach der Ermordung Philipps von Schwaben 1208 einer nach geltenden Normen ebenfalls inzestuösen Verwandtenehe im vierten Grad zwischen Otto und der staufi93 Ebd., S. 91, S. 99–108 ; Constance M. Rousseau : The Spousal Relationship : Marital Society and Sexuality in the Letters of Pope Innocent III. In : Medieval Studies 56 (1994), S. 89–109, hier : S. 89– 94 ; Tenbrock (Anm. 89), S. 9–15, S. 17–18. 94 Reg. I :127 (S. 191–193, hier : S. 192, Z. 27–28) : secundum plenitudinem potestatis de iure possumus supra ius dispensare. 95 Tenbrock (Anm. 89), S. 18–36, S. 51–96. 96 RNI (Anm. 26) nr. 23, S. 66 f. und RNI nr. 66, S. 188 f. Vgl. Tobias Weller : Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert. Köln 2004, S. 288–290 ; Constance M. Rousseau : A papal matchmaker : Principle and Pragmatism during Innocent III’s Pontificate. In : Journal of Medieval History 24 (1998), S. 259–271, hier : S. 261–263 ; Tenbrock (Anm. 89), S. 62–64.
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schen Erbtochter Beatrix den Weg.97 Auch hier begründete er den erteilten Dispens mit der urgens necessitas vel evidens utilitas [pro pace in imperio reformanda].98 Politische Nützlichkeitserwägungen konnten für Innozenz III. demnach ein hinreichender Grund sein, um die Befreiung von kirchenrechtlichen Beschränkungen zu gewähren. Warum also wählte Innozenz im kastilisch-leonesischen Fall nicht ebenfalls diesen Weg, entsprachen doch die friedensstiftenden Effekte der inkriminierten Ehe ganz seinen politischen Zielvorstellungen für die christliche Hispania und deren Rolle im gesamtchristlichen negotium crucis ? Constance Rousseau argumentiert, Innozenz habe in seiner Dispenspolitik von Anbeginn seines Pontifikats den rechtlichen Rahmen eingehalten, den er letztlich 1215 im 50. Kanon des Laterankonzils für Verwandtenehen festschreiben ließ : Zwar habe er das Dispensationsrecht durchaus als flexibles Instrument der päpstlichen Interessenpolitik genutzt, sei dabei aber stets prinzipientreu innerhalb dieser 1215 klar gezogenen Grenzen geblieben ; Alfons und Berenguela seien demnach schlicht zu nahe verwandt gewesen, als dass Innozenz ihrer Verbindung seinen Segen hätte erteilen können.99 Die angeführten Beispiele aus dem Kontext des Deutschen Thronstreits zeigen allerdings, dass Innozenz bisweilen doch bereit war, auch Verwandtenehen jenseits des ab 1215 gestatteten fünften Konsanguinitätsgrades zu tolerieren. Wenn er dies im Falle der iberischen Herrscherehe nicht tat, so wird neben dem engen Verwandtschaftsgrad die Tatsache von Bedeutung gewesen sein, dass Alfons IX. in Sachen unkanonischer Eheschließungen bereits als Wiederholungstäter gelten musste, war er doch in erster Ehe mit seiner Cousine zweiten Grades Theresa von Portugal verheiratet gewesen und hatte dafür bereits schon einmal die Exkommunikation auf sich gezogen.100 Eine aufmerksame Lektüre der Iberienkorrespondenz Innozenz’ III. freilich deutet auf nochmals ganz anders gelagerte Hintergründe seiner Haltung hin. Für Innozenz waren es weniger kirchenrechtliche Erwägungen, es war vielmehr seine spirituelle Auffassung des negotium crucis, die ihm ein Einlenken im leonesischen Ehestreit unmöglich machte. Deutlich wird dies in einem Brief, den Innozenz 97 Weller (Anm. 96), S. 293–300 ; Rousseau (Anm. 96), S. 263–264 ; Tenbrock (Anm. 89), S. 64–66. 98 RNI (Anm. 26) nr. 153, S. 350–352 ; RNI nr. 169, S. 375–376 ; RNI nr. 178, S. 384–385 ; RNI nr. 181, S. 390–392 und RNI nr. 182, S. 392. 99 Rousseau (Anm. 96), S. 265, S. 270–271. Pérez de Tudela y Velasco (Anm. 63), S. 88–89, S. 96, geht fälschlich davon aus, dass die Ehe nach Maßgabe der reformierten Kanones ab 1215 dispensierbar gewesen wäre, und wirft Innozenz daher prinzipienreiterische ›Sturheit‹ sowie ›Taubheit‹ gegenüber den Bedürfnissen der Akteure auf der Iberischen Halbinsel vor. 100 Daran erinnerte Innozenz selbst in : Reg. II :72(75) (S. 126–134, hier : S. 129 ; MDI nr. 196, S. 209– 215, hier : S. 210–211). Vgl. Bianchini (Anm. 75), S. 63–68 ; Calderón Medina (Anm. 34), S. 444–446 ; Pérez de Tudela y Velasco (Anm. 63), S. 87.
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im Mai 1199 an den Erzbischof von Compostela schickte ; hier erläuterte Innozenz explizit die Zusammenhänge, die er zwischen der Eheproblematik und der gegenwärtigen Krise des negotium crucis sah : Innozenz eröffnete sein Schreiben mit einer Klage über die zahllosen turbationes et scandala, die der christliche Erdkreis derzeit zu ertragen habe ; die wohl schlimmste Heimsuchung aber sei die persecutio paganorum, die jüngst im Osten wie im Westen des orbis christianus gleichermaßen überhandgenommen habe.101 Die schwere Bedrängnis der Christenheit an beiden Schauplätzen des Sarazenenkrieges sah Innozenz als selbst verschuldet an : Erst die Sündhaftigkeit der Christen habe die Heimsuchung durch die Ungläubigen derart entfacht ; und auch in dieser Hinsicht sah Innozenz die beiden Kreuzzugsfronten in unheilvoller Parallele : An beiden Enden des Mittelmeeres seien es unkanonische Herrscherehen, die jeweils das Unheil über die Christen heraufbeschworen hätten.102 Die wohl noch zu Lebzeiten des Papstes entstandenen Gesta Innocentii papae vertiefen diesen Gedanken und helfen dabei, die Andeutungen aufzulösen : Mit Blick auf das Heilige Land spielte Innozenz demnach auf die Verbindung Isabellas von Jerusalem mit Graf Heinrich II. von der Champagne an, die 1192 nach dem gewaltsamen Tod von Isabellas früherem Gatten Konrad von Montferrat gegen das Ehehindernis einer bestehenden Schwangerschaft geschlossen worden war.103 Während der Herr aber diesen Frevel im Osten inzwischen durch den frühen Tod beider Ehemänner gestraft habe, so Innozenz, sei er im Westen bislang noch ungesühnt und drohe daher immer schlimmer zu werden.104 Die unkanonische Herrscherehe zwischen den Königshäusern von Kastilien und León stürzte Innozenz somit in einen Interessenkonflikt zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen seiner Bemühungen um das negotium crucis : In realpolitischer Hinsicht zeitigte die Verbindung unbestreitbar positive Effekte im Hinblick auf die von Innozenz angestrebte Befriedung und Einigung der cinco reinos ; ohne diese Einigung schien ein erfolgreicher Maurenkreuzzug auf der Iberischen Halbinsel ein Ding der Unmöglichkeit. Gegen diese pragmatische Tatsache freilich galt es für Innozenz, die spirituelle Dimension seiner Idee vom negotium crucis abzuwägen : Die Sündhaftigkeit der Christen galt ihm als vornehmliches Hemmnis für den Kreuzzugserfolg ; 101 Reg. II :72(75) (S. 126–134, hier : S. 128 ; MDI nr. 196, S. 209–215, hier : S. 210) : Inter cetera vero in quibus scandalizatur hodie populus Christianus, precipuum est persecutio paganorum, que tam in Oriente quam in Occidente, peccatis exigentibus, invaluit ultra modum. 102 Ebd.: Sane in Oriente una duobus fuit incestuose coniuncta, in Occidente vero unus sibi duas presumpsit iungere per incestum. 103 Gesta Innocentii III papae. In : Patrologia latina. Hrsg. von Jacques-Paul Migne. Paris 1855, Bd. 214, Sp. XVII–CCXXVIII, hier : cap. LVIII, Sp. CIIIA–CIV. 104 Reg. II :72(75) (S. 126–134, hier : S. 128–129 ; MDI nr. 196, S. 210). Diesen Briefpassus griff Innozenz Jahre später in einem Schreiben an den Klerus von Frankreich in einem weiteren Inzestfall beinahe wörtlich wieder auf : XVIII :7 (MPL 217, Sp. 977).
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Buße und sittliche Besserung waren die Voraussetzung dafür, dass Christus sich seinen Anhängern wieder in Gnade zuwenden und ihnen den Sieg über ihre ungläubigen Widersacher schenken würde. Gerade der Lebensbereich der Ehe aber war für Innozenz dabei in besonderer Weise bedeutungsgeladen, ihr kam in seiner Wahrnehmung regelrecht symbolische Bedeutung zu : Wie bereits angedeutet wurde, pflegte Innozenz eine stark christozentrische Auffassung vom Kreuzzug ;105 zwar begriff er das negotium crucis einerseits als eine Bewegung der ganzen Christenheit, auf individueller Ebene aber gestaltete sich diese für ihn als eine ganz persönliche Beziehung zwischen jedem einzelnen Gläubigen und Christus.106 Für diese persönliche Beziehung fand Innozenz je nach Kontext sehr unterschiedliche Metaphern. Während er etwa den Appell zur Kreuznahme oft in Formen der Vasallität und der Gefolg schaftstreue des einzelnen fidelis gegenüber seinem Herrn Christus fasste,107 wählte er für die spirituelle Dimension dieser Beziehung zwischen Christus und der Seele des getauften Gläubigen häufig eben das Bild der Ehe :108 Wohl erst im Jahr vor seiner Papstwahl, und damit unmittelbar bevor er erstmals mit der kastilisch-leonesischen Mesalliance konfrontiert worden war, hatte Innozenz seine Schrift De quatripartita specie nuptiarum109 verfasst. In diesem Traktat110 hatte er die exegetische Methode des vierfachen Schriftsinns genutzt, um, ausgehend vom irdischen coniugium carnale, die 105 Maier, 1999 (Anm. 8), S. 356–357 ; Maier, 1997 (Anm. 8), S. 638–639. 106 Gilchrist (Anm. 3), S. 78 : »The crusade became the very epitome of the Christian following Christ to his death and resurrection.« 107 Ebd., S. 73–74 ; Menzel (Anm. 3), S. 57–59. 108 Das Bild des matrimonium spirituale gehört zu den meist benutzten Metaphern Innozenz’ III.: Häufig bezeichnet es die Beziehung zwischen dem Bischof und der ihm anvertrauten ecclesia, vgl.: Mary E. Sommar : Innocent III’s Doctrine of Spiritual Marriage. In : Sacri canones servandi sunt. ius canonicum et status ecclesiae saeculis XIII–XV. Hrsg. von Pavel Krafl. Praha 2008 (Práce Historického Ústavu AV ČR : Řada C, Miscellanea 19), S. 479–489 ; Richard Kay : Innocent III as Canonist and Theologian : The Case of Spiritual Matrimony. In : Pope Innocent III and his world. Hrsg. von John C. Moore/Brenda Bolton. Brookfield 1999, S. 35–49. Zudem verwendete Innozenz das Ehebild, um sein eigenes Amtsverständnis als vicarius Christi und seine Vollgewalt über die christliche Gesamtkirche zu erläutern ; John Doran : Innocent III and the Uses of Spiritual Marriage. In : Pope, church and city. Essays in honour of Brenda M. Bolton. Hrsg. von Frances Andrews. Leiden 2004 (The medieval Mediterranean 56), S. 101–114, hier : S. 104–114 ; Imkamp (Anm. 17), S. 300–323. 109 Neueste Textausgabe : Innocenzo III : I quattro tipi di matrimonio. Dialogo tra Dio e il peccatore. (De quadripartita specie nuptiarum ; Dialoum inter Deum et peccatorem). Hrsg. von Stanislao Fioramonti. Segni 2005 (Text nach Migne) ; Übersetzung : Eugene P. Crook : Lothario dei Segni (Pope Innocent III) : On the Four Kinds of Marriage (De Quadripartita Specie Nuptiarum). Introduction & Translation. In : Spiritualität heute und gestern. Internationaler Kongress vom 4. bis 7. August 1982. Salzburg 1982 (Analecta Cartusiana 351), S. 1–95, S. 22–95. 110 Zu diesem Text : Imkamp (Anm. 17), S. 53–63 ; Crook (Anm. 109), S. 7–19.
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mystische Beziehung zwischen Christus und seiner Kirche (coniugium sacramentale) beziehungsweise zwischen Gott und der einzelnen gläubigen Seele (conjugium spiri tuale) auszudeuten : Die Ehe zwischen Mann und Frau war für Innozenz demnach die innerweltliche Entsprechung der unauflöslichen unio spiritualis beziehungsweise unio sacramentalis, die zwischen Gottvater oder Gottsohn und jedem Gläubigen bestand,111 – eben jener Beziehung also, die im Zentrum seiner spirituellen Auffassung des negotium crucis stand.112 Damit aber spiegelten gerade die unkanonischen Herrscherehen für Innozenz die durch Sünde gestörte Beziehung der Christenheit zu ihrem Gott, die er als den eigentlichen Grund für das allgegenwärtige Leid der Christen in Ost und West unter der persecutio paganorum ausgemacht hatte.
4. Zusammenfassung
Als ein Schauplatz des gesamtchristlichen Kampfes gegen die muslimischen ›Feinde des Kreuzes‹ stand die Iberische Halbinsel von Anbeginn im Blickfeld der innozentianischen Kreuzzugspläne. Nur wenige Monate nach seiner Erhebung auf den Thron Petri begann der Papst eine Politik der Förderung des negotium crucis auf der Iberischen Halbinsel, die sich zunächst auf die Überwindung der Katastrophe von Alarcos konzentrieren musste : In jahrelangen diplomatischen Bemühungen zielte Innozenz III. auf die Beilegung der Konflikte zwischen den iberischen Herrschern und auf die Vorbereitung einer großen christlichen Kreuzzugsallianz gegen die almohadischen Feinde im Süden der Halbinsel. Langfristig sollte diese Politik bis 1212 entscheidend zum Erfolg von Las Navas de Tolosa und dem damit erreichten Durchbruch für die iberische Reconquista des dreizehnten Jahrhunderts beitragen. Bis 1204 freilich, als Innozenz sein Engagement für den iberischen Sarazenenkrieg frustriert auf Jahre hinaus einstellte, waren noch kaum greifbare Erfolge dieser Bemühungen zu verzeichnen : Die iberischen Herrscher waren nicht bereit, ihre territorialen und dynastischen Eigeninteressen den päpstlichen Einigungsappellen im Namen des Kreuzzugs unterzuordnen, und umgekehrt hatte Innozenz die Eigeninitiativen der hispanischen Monarchen, durch Separatfrieden, bilaterale Beistandspakte oder dynastische Eheverbindungen die politische Ordnung in der christlichen Hispania zu stabilisieren, mehrfach mit kirchenrechtlichen Sanktionen durchkreuzt. Schon 111 Dazu allgemein auch Isabelle Engammare : Il trattato De quadripartita specie nuptiarum e la parentela spirituale del Cristo con la Chiesa. In : Innocenzo III. Urbs et orbis. Hrsg. von Andrea Sommerlechner. Roma 2003 (Nuovi studi storici 55), Bd. I, S. 340–351. 112 De quadripartita specie nuptiarum (Anm. 108), Sp. 928 : De duplici institutione coniugii : Porro sacra mentales conjugii contrahuntur ad similitudinem carnalium nuptiarum […].
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unter Zeitgenossen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts stieß dieses ›kontraproduktive‹ Verhalten des Papstes, das den politisch-strategischen Erfordernissen des negotium crucis zuwiderzulaufen schien, vielfach auf Unverständnis, welches sich teilweise bis in die moderne Forschungsliteratur fortsetzt. Eine nähere Betrachtung der Kreuzzugskonzeption Innozenz’ III. jedoch lenkt den Blick auf deren spirituelle Dimensionen : Innozenz begriff das negotium crucis nicht als ein primär militärisches Unternehmen, sondern als eine gemeinsame Anstrengung aller Christen zur sittlichen Läuterung, zur Überwindung ihrer Sündhaftigkeit und zur Wiederannäherung der christianitas an Gott. Kreuzzug und Reform, die ab 1213 in der Agenda zur Vorbereitung des Vierten Laterankonzils überdeutlich als zwei Seiten desselben päpstlichen Projektes erscheinen, waren bereits in Innozenz’ Iberienpolitik seit 1198 unlösbar miteinander verbunden. In diesem Sinne sah der Papst sein Wirken für das negotium crucis als vornehmlich pastorale Aufgabe an : Nicht die politisch-militärische Organisation eines Kriegszuges war das Ziel seines Wirkens, sondern die moralische Besserung der in Sünde gefallenen Christenheit und deren Versöhnung mit Gott. Nur auf dieser Grundlage konnte der militärische Kampf gegen die Feinde Gottes nach dem Verständnis Innozenz’ überhaupt Aussicht auf Erfolg haben.
II
Thomas Noll
Das Apsismosaik von Innozenz III. in Alt-St. Peter. Zur Selbstdarstellung des Papsttums im frühen dreizehnten Jahrhundert Für Fidel Rädle zum 4. September 2015
Der Aufstieg des Papsttums im Zuge der Kirchenreform seit der Mitte des elften Jahrhunderts, sein Machtzuwachs innerhalb der Kirche und in der ›Welt‹ von Leo IX. (1049–1054) und Gregor VII. (1073–1085) über Calixtus II. (1119–1124) und Ale xander III. (1159–1181) bis hin zu Innozenz III. (1198–1216) hat einen Niederschlag gefunden nicht zuletzt in der Selbstdarstellung der Päpste bzw. der römischen Kirche in Werken der bildenden Kunst. Wenn diese Werke – zumeist Wandmalereien und Mosaiken – überwiegend untergegangen sind, so geben doch Kopien noch immer einen deutlichen Begriff von deren Gestalt.
1.
In einem von ihm neu errichteten Anbau im Südosten des Lateranpalastes ließ Calixtus II. gegen Ende seines Lebens einen Beratungsraum, die in den Quellen sogenannte Camera pro secretis consiliis, mit (in flüchtigen Nachzeichnungen überlieferten) Wandmalereien ausstatten, in denen der Triumph einer Reihe von Reformpäpsten über ihre Widersacher zu sehen war. In vier Bildern erschien jeweils im Zentrum ein siegreich thronender Amtsinhaber, umgeben von zahlreichen Klerikern, während unter seinen Füßen – und in der Bedeutungsperspektive kleiner – der oder die überwundenen Gegenpäpste dargestellt waren.1 Man sah in chronologi1 Gerhart B. Ladner : Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters. 3 Bde. Città del Vaticano 1941–1984 (Monumenti di Achtichità Cristiana, II serie, 4), Bd. 1 (1941), S. 190–201 und Tafel XIX, Bd. 3 (1984), S. 40 ; Ingo Herklotz : Die Beratungsräume Calixtus’ II. im Lateranpalast und ihre Fresken. Kunst und Propaganda am Ende des Investiturstreits. In : Zeitschrift für Kunstgeschichte 52 (1989), S. 145–214 ; Ders.: Gli heredi di Costantino. Il papato, il Laterano e la propaganda visiva nel XII secolo. Rom 2000 (Il corte dei papi 6), S. 95–158 ; Ders.: Bildpropaganda und monumentale Selbstdarstellung des Papsttums. In : Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts. Hrsg. von Ernst-Dieter Hehl u.a. Stuttgart 2002 (Mittelalter-Forschungen 6), S. 273–291, hier
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scher Ordnung, nach Ausweis der abschriftlich dokumentierten Tituli, Alexander II. (1061–1073) über Cadalus von Parma (Honorius II.) (Abb. 1 links), Gregor VII., Viktor III. (1086–1087) und Urban II. (1088–1099) – einen der drei thronend, die anderen beiden rechts und links von ihm stehend – im Triumph über Wibert von Ravenna (Clemens III.) (Abb. 2 links), weiter Paschalis II. (1099–1118), der – nach dem Titulus – Theoderich von Albano, Albert und Maginulf von S. Angelo (Silvester IV.) ›verdammt‹ (damnat) (Abb. 1 rechts ; die Nachzeichnung zeigt dabei nur eine Gestalt unter seinen Füßen), schließlich Calixtus II. selbst über Mauritius von Braga ›Burdinus‹ (Gregor VIII.) (Abb. 2 rechts) ; rechts neben Calixtus stand zudem Heinrich V. mit einem entrollten Schriftband, einer Urkunde – »deren [überlieferter] Text (die kaiserlichen Versprechen des Wormser Konkordats [1122]) vormals auf der Wand geschrieben stand«2 –, die Kaiser und Papst gemeinsam halten bzw. Heinrich V. dem thronenden Calixtus überhändigt. Vor Augen trat damit der Sieg der Reformpäpste, des sacerdotium, im Investiturstreit über das imperium und die vom Kaiser eingesetzten oder begünstigten Gegenpäpste.3 In dem von Calixtus II. gestifteten, in demselben Anbau des Lateranpalastes gelegenen Oratorium des heiligen Nikolaus von Bari ließ einige Jahre später Anaklet II. (1130–1138) – Gegenpapst von Innozenz II. (1130–1143) – ein (abermals nur in Nachbildungen fassbares) Apsisbild schaffen, das nahtlos anschließt an das Bildprogramm der Camera (Abb. 3).4 Im oberen Register standen beiderseits einer von EnS. 276–284 ; Maria Andaloro : Die Kirchen Roms. Ein Rundgang in Bildern. Mittelalterliche Malereien in Rom 312–1431. Vatikan, Suburbio, Monti. Mainz 2008 (zuerst erschienen : La pittura medievale a Roma 312–1431. Corpus e atlante. Atlante – percorsi visivi, Bd. 1 : Suburbio, Vaticano, Rione Monti. Viterbo 2006), S. 213–216, mit Bibliographie ; Serena Romano : La pittura medievale a Roma 312–1431. Corpus e atlante. Corpus, Bd. 4 : Riforma e tradizione 1050–1198. Mailand 2006, S. 270 f. ( Jérôme Croisier), mit Bibliographie ; Jochen Johrendt : Barbarossadarstellungen in den verschwundenen Lateranfresken. In : Barbarossabilder. Entstehungskontexte, Erwartungshorizonte, Verwendungszusammenhänge. Hrsg. von Knut Görich/Romedio Schmitz-Esser. Regensburg 2014, S. 118–131, hier S. 122–124. Zudem Rudolf Schieffer : Das Reformpapsttum und seine Gegenpäpste. In : Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen. Hrsg. von Harald Müller/Brigitte Hotz. Wien u.a. 2012 (Papsttum im mittelalterlichen Europa 1), S. 71–82. – Für die kritische Durchsicht meiner zahlreichen Übersetzungen aus dem Lateinischen – die mich verschiedentlich vor Fehlern bewahrt hat – danke ich herzlich Herrn Prof. Dr. Fidel Rädle. Für Literaturhinweise gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Achim Arbeiter und Herrn Dr. Daniel Berger. Herrn Stephan Eckardt danke ich für die Anfertigung der Reproduktionsvorlagen. 2 Herklotz 1989 (Anm. 1), S. 150. 3 Ebd., S. 151 ; zur genauen Deutung s. ebd., S. 173–212. 4 Ladner (Anm. 1), Bd. 1 (1941), S. 190–194, S. 202–218 und Tafel XX, Bd. 3 (1984), S. 40 ; Herklotz 1989 (Anm. 1), S. 212–214 ; Herklotz 2000 (Anm. 1), S. 151 f.; Andaloro (Anm. 1), S. 213–216, mit Bibliographie ; Romano (Anm. 1), S. 290–293 ( Jérôme Croisier), mit Bibliographie ; Johrendt (Anm. 1), S. 124.
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geln flankierten thronenden Maria mit Kind die heiligen Silvester I. (314–335) und Anaklet I. (76–88) als Schutzpatrone der zu Füßen Marias knienden Calixtus II. und Anaklet II. (der Name ›Anaklet‹ wurde später jeweils durch ›Anastasius‹ ersetzt, wobei schließlich Anastasius IV. [1153–1154] an die Stelle von Anaklet II. rückte) ; unterhalb von Maria erschien in einer Nische stehend der heilige Nikolaus, flankiert von Leo I., dem Großen, (440–461) und Gregor I., dem Großen, (590–604) sowie, daran anschließend, von jeweils drei Reformpäpsten : Urban II., Paschalis II. und Gelasius II. (1118–1119) links, Alexander II., Gregor VII. und Viktor III. rechts. Neben zwei Heiligen und »bedeutenden frühen Theoretikern des päpstlichen Primats« fanden sich damit, gleichermaßen jeweils als »sanctus« gekennzeichnet, sechs Päpste des Investiturstreits. »Weder hatte es zuvor eine solche ikonographische Gleichsetzung von seit Jahrhunderten schon liturgisch verehrten Kirchenvertretern mit erst jüngst verstorbenen Päpsten gegeben, noch war es je zu einer ähnlichen ikonographisch untrennbaren Verschmelzung von Amtsheiligkeit und persönlich-liturgischer Heiligkeit gekommen.«5
An den Trakt mit der Camera pro secretis consiliis südlich anschließend errichtete Innozenz II. einen weiteren Anbau, der die sogenannte Camera bzw. das Cubiculum von Innozenz II. einschloss. Hier wurden zwischen 1133 und 1143 drei (allein durch flüchtige Nachzeichnungen dokumentierte) Szenen zur Kaiserkrönung Lothars III., von Süpplingenburg, (1133) vor Augen gebracht (Abb. 4).6 Man sah Lothar, der einen Eid vor dem römischen Volk leistet, dann mutmaßlich den »Akt der commenda tio, wonach der Kaiser als Zeichen der Treue seine Hände in die des Papstes legt«7, 5 Herklotz 1989 (Anm. 1), S. 214. Vgl. Romano (Anm. 1), S. 292, wo es heißt : »Ogni elemento del programma decorativo è quindi volto ad affermare le idee politiche della Riforma gregoriana.« 6 Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 17–22 und Tafel III, Bd. 3 (1984), S. 46 f.; Andaloro (Anm. 1), S. 213–216 ; Romano (Anm. 1), S. 296 f. ( Jérôme Croisier), mit Bibliographie ; Johrendt (Anm. 1), S. 122. 7 Andaloro (Anm. 1), S. 213 ; entsprechend Romano (Anm. 1), S. 296 : Bei der ersten Szene »è possibile identificare l’uomo con il mantello con il praefectus urbis Cencio Frangipane e il personaggio in atto di giuramento con l’imperatore Lotario III.« Über die zweite Szene heißt es : »Si tratta del rito della commendatio, nel corso del quale l’imperatore posa le mani unite su quelle del pontefice : è una rappresentazione del bacio di pace tra i due sovrani.« Vgl. Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 18 f., der etwas anders erklärt : »Die erste Szene stellt den ›Römereid‹ des Kaisers dar […], den er nach dem freilich nur ungefähr zeitgenössischen Kaiserkrönungsordo ›Cencius II‹ vor der Krönung dreimal zu leisten hatte […]. Die zweite Szene bezieht sich wohl auf die Leistung des Krönungseides durch den Kaiser an den Papst und stellt am ehesten die Lothar III. nach seiner Eidesleistung zum Friedenskuss einladende Geste Innozenz’ II. dar. Nicht völlig auszuschliessen ist es m. E., dass hier die mit der Eidesleistung verbundene Kommendation gemeint ist.«
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sowie die Kaiserkrönung. »Eine erläuternde Inschrift deutete recht unumwunden an, der Kaiser sei ein Lehensmann des Papstes, seine Krone ein päpstliches Lehen[,] und der Papst sei, so wurde dadurch impliziert, der höchste geistliche und weltliche Herrscher.«8 Ebenfalls im Bezirk des Lateran, vor der Fassade der konstantinischen Basilika, entstand gegen Ende des zwölften Jahrhunderts eine neue Portikus mit einem komplexen Bildprogramm (Abb. 5 und 6).9 Von einem (wiederum nicht erhaltenen) Mosaikzyklus im Fries mit ursprünglich etwa zwanzig Szenen sind neun durch (sechs) auf Karton gemalte farbige Aquarelle und durch Nachstiche (mit acht Szenen) von Giovanni Ciampini (1693) überliefert. Gezeigt wurden danach die Enthauptung von Johannes dem Täufer und das Martyrium von Johannes dem Evangelisten – die Nebenpatrone der zunächst dem Salvator geweihten Basilika waren –, drei Szenen aus der Vita des heiligen Silvester I., zwei Darstellungen, die sich auf die Eroberung und Zerstörung von Jerusalem unter Vespasian und Titus bezogen, aber auch die Höllenfahrt Christi. In schriftlichen Quellen wird darüber hinaus noch die Wiedergabe von Petrus und Paulus und von Calixtus II. vermeldet.10 Dabei verwies die Zerstörung Jerusalems auf den Anspruch Roms als ›neues Jerusalem‹ und der Lateranbasilika als Sinnbild der Ecclesia Romana, die an die Stelle des Tempels im Alten Bund tritt ; mit Petrus und Paulus verknüpfte sich die besondere Stellung Roms, die von den beiden Apostelfürsten begründet worden war, die hier gepredigt und ihr Martyrium
8 Richard Krautheimer : Rom. Schicksal einer Stadt 312–1308. 2. Aufl. München 1996 (1. Aufl.: 1987 ; zuerst erschienen : Rome. Profile of a City, 312–1308. Princeton, New Jersey 1980), S. 213. Die Inschrift lautete : Rex venit ante fores iurans prius Urbis honores // Post homo fit papae sumit quo dante coronam. ›Der König kommt vor die Tore [Roms] und beschwört zuerst die Ehrenrechte der Stadt. Danach wird er Lehnsmann des Papstes und empfängt die Krone, die dieser ihm gibt [überreicht].‹ Übers. Fidel Rädle. Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 17 bzw. S. 21. 9 Ingo Herklotz : Der mittelalterliche Fassadenportikus der Lateranbasilika und seine Mosaiken. Kunst und Propaganda am Ende des 12. Jahrhunderts. In : Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 25 (1989), S. 25–95 ; zur Datierung – die in der Forschung zwischen dem Pontifikat von Alexander III. (1153–1181) und dem ersten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts schwankt – s. hier S. 30–40 (die Portikus wird hier in die Zeit des Pontifikats von Clemens III. [1187–1191] oder Coelestin III. [1191–1198] datiert) ; Herklotz 2000 (Anm. 1), S. 159–209 ; Herklotz 2002 (Anm. 1), S. 287– 291 ; Andaloro (Anm. 1), S. 196 f.; Romano (Anm. 1), S. 372–374 ( Jérôme Croisier) ; Peter Cornelius Claussen : Die Kirchen der Stadt Rom im Mittelalter 1050–1300. Bd. 2 : S. Giovanni in Laterano. Stuttgart 2008 (Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 21), S. 63–89, bes. S. 78–89 (Claussen datiert die Portikus gegenüber Herklotz etwas später, nämlich »um 1200« [S. 89]) ; Thomas Noll : Die Silvester-Kapelle in SS. Quattro Coronati in Rom. Ein Bildzyklus im Kampf zwischen Kaiser und Papst. München, Berlin 2011, S. 113–116. 10 Herklotz (Anm. 9), S. 83 und S. 87 ; vgl. die Vorbehalte gegenüber den Quellen bzw. deren Bewertung von Claussen (Anm. 9), S. 83 f.
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erlitten hatten.11 Die Silvester-Szenen zeigten dann unter anderem die Taufe Konstantins – den Silvester vom Aussatz heilt – und die Konstantinische Schenkung ; nach dem Constitutum Constantini, der berühmtesten Fälschung des Mittelalters,12 die »[i]rgendwann zwischen der Mitte des 8. und der Mitte des 9. Jhs.«13 entstanden ist, hatte Konstantin nach seiner Heilung und Taufe der römischen Kirche, Papst Silvester und dessen Amtsnachfolgern, exuberante Schenkungen gemacht, die neben den kaiserlichen Herrschaftsinsignien nicht nur den Lateranpalast und Rom, sondern auch die Gewalt und Gerichtsbarkeit (potestas et ditio) über alle Provinzen der westlichen Reichshälfte umfassten.14 Mochte damit im Constitutum Constantini nur die geistliche Gewalt gemeint sein, so wurde diese ›Schenkung‹ in der Folge doch als Übergabe auch der weltlichen Herrschaft verstanden.15 In welchem Zusammenhang Calixtus II. gezeigt wurde, bleibt offen ; denkbar wäre – ähnlich wie in der Camera pro secretis consiliis – »die Übergabe des kaiserlichen Privilegs von 1122«,16 das heißt ein Hinweis auf das Wormser Konkordat. Über die Aussage des Bildprogramms im Ganzen erklärt Ingo Herklotz : »Die Kirche Christi, von Petrus und Paulus in Rom begründet, stand unter päpstli11 Zum Bildprogramm s. bes. Herklotz (Anm. 9), S. 71–88 ; Claussen (Anm. 9), S. 78–89 ; zudem die übrige Literatur in Anm. 9. 12 Horst Fuhrmann : Einladung ins Mittelalter. 5., durchges. Aufl. München 1997 (1. Aufl.: 1987), S. 125, spricht von der »wohl berühmtesten mittelalterlichen Fälschung«. 13 Jürgen Miethke : Die Konstantinische Schenkung in der mittelalterlichen Diskussion. Ausgewählte Kapitel einer verschlungenen Rezeptionsgeschichte. In : Konstantin der Große. Das Bild des Kaisers im Wandel der Zeiten. Hrsg. von Andreas Goltz/Heinrich Schlange-Schöningen. Köln u.a. 2008 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 66), S. 35–108, hier S. 35. S. a. ders.: Costantino e il potere papale post-gregoriano. In : Costantino I. Enciclopedia costantiniana sulla figura e l’immagine dell’imperatore del cosiddetto editto di Milano 313–2013. Bd. 2. Rom 2013, S. 573–595. 14 Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung). Text. Hrsg. von Horst Fuhrmann. Hannover 1968 (Fontes Iuris Germanici Antiqui in usum scholarum ex Monumentis Germaniae Historicis separatim editi 10), 16–18, S. 92–94 ; das Zitat ebd., 17, S. 93. 15 Vgl. Johannes Fried : Zu Herkunft und Entstehungszeit des Constitutum Constantini. Zugleich eine Selbstanzeige. In : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 63 (2007), S. 603–611, hier S. 603. Fried betont, dass der ursprüngliche Sinn des betreffenden Textabschnitts darin liege, dass »der Westen des römischen Reichs der geistlichen Gewalt (potestas et ditio) des Bischofs von Rom übertragen wurde, nicht etwa seiner weltlichen Herrschaft«. Erst »seit dem 11./12. Jahrhundert« sei das Constitutum Constantini »anders verstanden« worden, »als sein ursprünglicher Wortlaut intendierte, was im Dekret Gratians während des späteren Mittelalters sogar entsprechende Textveränderungen heraufbeschwor«. Ausführlicher dazu Johannes Fried : Donation of Constantine and Constitu tum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its original Meaning. With a Contribution by Wolfram Brandes : ›The Satraps of Constantine‹. Berlin, New York 2007 (Millennium-Studien 3), S. 11–33, bes. S. 17–20. 16 Herklotz (Anm. 9), S. 87.
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cher Führung als der von Gott bestimmte Nachfolger des Alten Bundes. Seit der Zeit Konstantins verfügte sie über kaiserliche Rechte, und sie hatte ihre Tradition von den Anfängen bis zum gegenwärtigen Tag bewahrt.«17
Den Rang und die Stellung der Laterankirche bezeichnete eine unter dem Fries in Marmor eingemeißelte Widmungsinschrift, von der Fragmente im Kreuzgang des Lateran erhalten sind (und die geradezu in einer Faksimile-Kopie auch in die Fassade des achtzehnten Jahrhunderts eingefügt worden ist) : Dogmate papali datur ac simul imperiali // Quod sim cunctarum mater caput ecclesiarum // Hic Salvatoris celestia regna datoris // Nomine sanxerunt cum cuncta peracta fuerunt // Quesumus ex toto conversi supplice voto // Nostra quod hec aedes tibi Christe sit inclita sedes. ›Durch päpstliche und zugleich kaiserliche Verfügung ist bestimmt, dass ich [die Laterankirche] die Mutter und das Haupt aller Kirchen sein soll. Als alles vollendet war, heiligten sie [heiligte man] dann dieses Himmelreich mit dem Namen des Erlösers, der es geschenkt hat. Dir ganz in demütigem Gebet zugewandt, bitten wir, dass unsere Kirche für dich, Christus, ein ruhmreicher Sitz sein möge.‹18
2.
Die vier knapp skizzierten – bekanntesten und eklatantesten – Beispiele päpstlicher ›Bildpropaganda‹ geben das Selbstverständnis und die verschiedenen Formen der Selbstdarstellung des Papsttums im zwölften Jahrhundert in Rom zu erkennen. Im Falle von Innozenz III. – um den es an dieser Stelle geht – fehlen entsprechende offensichtliche Bildzeugnisse. »Der Höhepunkt der päpstlichen Macht und der Vorherrschaft Roms in der mittelalterlichen Welt zu Beginn des [dreizehnten] Jahrhunderts«, so erklärt Richard Krautheimer, »hat nur wenig sichtbare Spuren im städtischen Gefüge oder in erhalten gebliebenen Denkmälern hinterlassen.«19 Bedeutsam und im höchsten Grade folgenreich für das päpstliche Rom waren jedoch der von
17 Ebd., S. 88. 18 Noll (Anm. 9), S. 113, S. 116 ; zur Interpretation der Inschrift s. Herklotz (Anm. 9), S. 89–95 ; Claussen (Anm. 9), S. 84–88. Zudem Jochen Johrendt : Die Diener des Apostelfürsten. Das Kapitel von St. Peter im Vatikan (11.–13. Jahrhundert). (Habil.-Schrift München 2008/09) Berlin, New York 2011 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 122), S. 316–327 ; mit der Rezension von Daniel Berger. In : Consilium medii aevi 15 (2012), S. 1021–1026. 19 Krautheimer (Anm. 8), S. 226.
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Innozenz III. betriebene Ausbau des Vatikanischen Palastes20 und die Verlagerung der Gewichte von der Lateranbasilika als dem traditionellen Sitz des römischen Bischofs – und cunctarum mater caput ecclesiarum, wie die Inschrift der Portikus gerade noch nachdrücklich unterstrichen hatte – auf die Peterskirche. Innozenz – zuvor Kanoniker des Kapitels von St. Peter – war es auch, der »mit seiner Inthronisation zum Papst in St. Peter […] die spirituelle Dimension der Inthronisation erweiterte und den Erhebungsritus stärker an die Peterskirche koppelte«. (Ihre rechtliche Bedeutung hatte die Inthronisation seit den Papstwahldekreten [1059 und 1179] von Nikolaus II. und Alexander III., zumindest weitestgehend, verloren.) Denn waren »die Päpste bisher stets auf dem marmornen Bischofsstuhl in der Apsis von St. Peter inthronisiert worden, so benutzte Innozenz für diesen Akt [der überdies am 22. Februar, dem Tag von Petri Stuhlfeier, stattfand] offenbar als erster Papst die hölzerne Kathedra Petri. […] Die Peterskirche wurde damit in ihrem Verhältnis zum Papsttum deutlich aufgewertet.«21
Unter diesen Umständen kommt der Erneuerung des Apsismosaiks von Alt-St. Peter, die Innozenz III. unternahm – und die in seinen Gesta, wenn auch knapp, ausdrücklich vermerkt ist22 –, eine vorzügliche Bedeutung zu. Man darf erwarten, dass hier 20 Deoclecio Redig de Campos : I Palazzi Vaticani. Bologna 1967 (Roma cristiana 18), S. 22–25 ; Camillo Rebecchini : Il ritrovamento del palazzo d’Innocenzo III in Vaticano. In : Monumenti, musei e gallerie pontificie. Bollettino 2 (1981), S. 39–52, hier S. 52 die abschließende Charakterisierung, »che la costruzione d’Innocenzo III era costituita da un fabbricato principale, il palazzo, a corpo di fabbrica semplice, quasi rettangolare, di sei piani – seminterrato, rialzato, primo, secondo, terzo e quarto – dalla torre di difesa e da un locale al piano rialzato. […] Il prospetto a nord era alto circa m. 27, mentre a sud raggiungeva circa m. 33«. Anders Antonio Iacobini : Innocenzo III e l’architettura. Roma e il nord del Patrimonium Sancti Petri. In : Innocenzo III. Urbs et Orbis. Atti del Congresso Internazionale, Roma, 9–15 settembre 1998. A cura di Andrea Sommerlechner. 2 Bde. Rom 2003 (Miscellanea della Società Romana di Storia Patria 44), Bd. 2, S. 1261–1291, hier S. 1277–1287. Da heißt es : »In conclusione, la residenza vaticana all’inizio del XIII secolo doveva essere costituita da singole domus autonome e distanziate, in parte sulla collina, in parte nell’avvallamento presso la basilica, suddivise in un’ala di rappresentanza e di culto, in un’ala con ambienti destinati all’uso privato del pontefice e del suo seguito, infine in un settore per gli uffici curiali, situato presso la basilica.« Ebd., S. 1281. S. a. Krautheimer (Anm. 8), S. 226 ; Claussen (Anm. 9), S. 87 ; Johrendt (Anm. 18), S. 279. 21 Johrendt (Anm. 18), S. 292 f.; s. a. ebd., S. 284, S. 291 f., S. 295 ; sowie Berger (Anm. 18), S. 1025. Zudem Michael Borgolte : Petrusnachfolge und Kaiserimitation. Die Grablegen der Päpste, ihre Genese und Traditionsbildung. 2., durchges. Aufl. Göttingen 1995 (1. Aufl.: 1989) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 95), S. 184 f. 22 [A]bsidam ejusdem basilicae [sancti Petri] fecit restaurari mosibus, quod erat ex magna parte consumptum. [Ed. Mai : Absidam ejusdem basilicae fecit decorari musivo, et in fronte ipsius basilicae fecit restaurari mu
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zentrale Gesichtspunkte der Stellung des sacerdotium und der römischen Kirche im Besonderen, wie Innozenz III. sie verstand, zum Ausdruck gebracht waren. Untergegangen ist auch dieses Werk, und zwar mit dem vollständigen Abriss der konstantinischen Basilika im Zuge des Neubaus von St. Peter (Abb. 7). Vor dessen Zerstörung 1592 ließ jedoch Clemens VIII. (1592–1605) von dem Apsismosaik, als einem historischen Dokument, nicht nur drei Fragmente – Büstenausschnitte von Innozenz III. (Abb. 8) sowie der Ecclesia Romana (Abb. 9) und einen Phönix – konservieren,23 sondern auch eine notariell beglaubigte (und im Einzelnen beschriebene) Kopie des Bildes – eine aquarellierte Zeichnung – anfertigen, die sich heute in einem (nach Maria Andaloro) »ca. 1605–1619 entstandenen ›Album‹«24 befindet (Abb. 10). Durch diese Kopie – und weitere danach geschaffene Reproduktionen (Abb. 11)25 – sowie eine Zeichnung aus dem Besitz von Cassiano dal Pozzo (um 1589–1657) in sivum quod erat ex parte magna consumptum.] [sic]. Gesta Innocentii PP. III. In : Innozenz III : Opera omnia. 4 Bde. Patrologiae cursus completus. Series secunda [latina]. Accurante Jacques-Paul Migne. Bd. 214–217. Paris 1855, Bd. 214, Sp. XV–CCXXVIII, hier Sp. CCVB. Die auf das Apsismosaik bezogenen schriftlichen Quellen sind zusammengestellt in : Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 66–68. 23 Die Büste der Figur von Innozenz III. und den Phönix, der sich in einem Baum neben dem Papst befand, schenkte – nach zwei divergierenden Zeugnissen – entweder bereits Clemens VIII. 1596 der Familie Conti, aus der Innozenz stammte, genauer : dem Herzog Lotario II., oder erst Paul V. (1605– 1621) war es, der die Fragmente 1606 der Familie, und zwar in Person des Kardinals Carlo, überließ. In jedem Fall kamen die Mosaiken danach auf das Landgut der Conti in Poli, von wo sie, als Eigentum inzwischen der Familie Torlonia, 1953 nach Rom zurückkehrten und hier 1958 an das Museo di Roma verkauft wurden. Das dritte Fragment, ein Büstenausschnitt der Figur der Ecclesia Romana, ist erst im frühen zwanzigsten Jahrhundert in der Sammlung Barracco in Rom nachweisbar, und erst in den 1920er Jahren wurde die Herkunft aus dem Apsismosaik von Alt-St. Peter erkannt. Heute befindet das Fragment sich im Museo di scultura antica Giovanni Barracco in Rom. S. dazu Antonio Iacobini : Il mosaico absidale di San Pietro in Vaticano. In : Fragmenta picta. Affreschi e mosaici staccati del Medioevo romano. Ausst.-Kat. Castel Sant’ Angelo, Rom, 15.12.1989–18.2.1990. A cura di Maria Andaloro e. a. Rom 1989, S. 119–129, hier S. 119–121 ; s. hier auch zu dem Fragment der Figur des Paulus, das als barocke Kopie angesehen wird. 24 Biblioteca Apostolica Vaticana (= BAV), Archivio S. Pietro (Mss.), A 64 ter, fol. 50r ; Abb. in : Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), Tafel X ; Krautheimer (Anm. 8), S. 228, Abb. 163 ; Andaloro (Anm. 1), S. 35 f. (Zitat S. 35). Die Urkunde ist abgedruckt schon in : Giovanni Ciampini : De sacris aedificiis a Constantino Magno constructis. Synopsis historica. Rom 1693, S. 47 f. 25 Eine aquarellierte Zeichnung von Alfonso Ciacconio : BAV, Cod. Vat. Lat. 5408, fol. 29v–30r : Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 57, Abb. 17 ; Iacobini (Anm. 23), S. 128, Abb. 11. Eine aquarellierte Federzeichnung (1619) von Giacomo Grimaldi : BAV, Cod. Barb. Lat. 2733, fol. 158v–159r : Giacomo Grimaldi : Descrizione della Basilica antica di S. Pietro in Vaticano. Codice Barberini Latino 2733. Edizione e note a cura di Reto Niggl. Biblioteca Apostolica Vaticana 1972 (Codices e Vaticanis selectis 32), fol. 158v–159r (= S. 196 f.) ; eine Abb. der Zeichnung auch in : Andaloro (Anm. 1), S. 36 ; Joachim Poeschke : Mosaiken in Italien 300–1300. München 2009, S. 43, Abb. 41 (vorzügliche Farbabbildung) ; Josef Engemann : Römische Kunst in Spätantike und frühem Christentum bis Justinian. Darmstadt 2014, S. 109, Abb. 95. Ein Kupferstich : Ciampini (Anm. 24), Tafel XIII, nach S. 42.
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Windsor Castle und ein vermutlich darauf fußendes Tafelbild (mutmaßlich) aus der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, das Agostino Mariotti (1724–1806) besaß und beschrieben hat und das heute in der Vatikanischen Bibliothek bewahrt wird (Abb. 12 und 13),26 ist die Gestalt des Apsisbildes aus dem frühen dreizehnten Jahrhundert – mutmaßlich aus den Jahren nach 1204/05 – im Wesentlichen verlässlich überliefert.27 Die in zwei Register unterteilte Darstellung in den Bilddokumenten zeigt in den oberen zwei Dritteln der Apsiskalotte den thronenden Christus, flankiert von den Apostelfürsten Petrus und Paulus, in einer Paradieslandschaft. Im Scheitel der Apsis ragt unter einem gleicharmigen Kreuz eine Hand aus dem Himmel – genauer : dem obersten Himmel oder Empyreum – in einem Gestus, den Ciampini als (fehlerhaften) Segensgestus in Graeca forma28 versteht, der aber sicher einen Zeigegestus meint.29 Unter dieser Hand – als der Hand Gottes oder Dextera Dei – und vor einem mit Sternen übersäten Fond erscheint der Salvator auf einem Thron mit zwei 26 José Ruysschaert : Le tableau Mariotti de la mosaïque absidale de l’ancien S.-Pierre. In : Atti della Pontificia Accademia Romana di Archeologia. Rendiconti 40 (1967/68), S. 295–310 ; Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 58, Abb. 18. Alle bis dahin bekannten Kopien sind aufgeführt ebd., S. 67 f. 27 Zu diesem Apsismosaik s. vor allem Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 56–69 und Tafel IXb–XIa, Bd. 3 (1984), S. 50 ; Joseph Wilpert/Walter N. Schumacher : Die römischen Mosaiken der kirchlichen Bauten vom IV.–XIII. Jahrhundert. Freiburg i. Br. u.a. 1976, S. 11–13 und S. 62–64 ; Iacobini (Anm. 23), passim ; Krautheimer (Anm. 8), S. 228 f.; Stefan Schmitt : Die bildlichen Darstellungen Papst Innozenz’ III. In : Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas. Interdisziplinäre Ringvorlesung an der Universität Passau, 5.11.1997–26.5.1998. Hrsg. von Thomas Frenz. Stuttgart 2000, S. 21–50, hier S. 22–27 ; Valentino Pace : La committenza artistica di Innocenzo III : dall’Urbe all’Orbe. In : Sommerlechner (Anm. 20), Bd. 2, S. 1226–1244, hier S. 1226–1234 ; Julian Gardner : Innocent III and his Influence on Roman Art of the Thirteenth Century. In : Sommerlechner (Anm. 20), S. 1245–1260, hier S. 1250 f. »Das genaue Datum der Innozentianischen Teile des Apsis-Mosaiks von Alt-St. Peter ist unbekannt«, wie Ladner erklärt, doch deutet ein Vergleich der erhaltenen Darstellungen von Innozenz III., die diesen teils mit, teils ohne Bart zeigen, für ihn darauf hin, dass die Wiedergabe des Papstes in dem Apsisbild – in dem Innozenz zumindest einen schmalen Oberlippenbart zu tragen scheint – (bzw. dessen Vorlage) »nach 1205« entstanden ist. Ladner (Anm. 1), Bd. 2, S. 65 f. Entsprechend Pace, S. 1226 f. und S. 1231 (»posteriore a quel 1204«). Auch historische Gründe sprechen für Pace »a una datazione del mosaico petrino a una data di alcuni anni successiva alla sua [Innozenz’] ascesa al trono papale«. Ebd., S. 1227. 28 Ciampini (Anm. 24), S. 42. Auch der Mittelfinger müsste nach seiner Auffassung ausgestreckt sein, um durch den griechischen Segensgestus in bedeutungsvoller Weise den Namen Jesu Christi mit den Buchstaben I, C und X anzuzeigen. Indes sei die Wiedergabe in der Apsis fehlerhaft aut ex Pictoris, sive Musivarii errore, aut ex restauratoris culpa ›aufgrund eines Versehens des Malers bzw. Mosaizisten oder durch die Schuld eines Restaurators‹. Ebd., S. 43. 29 In diesem Verständnis erklärt Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 58 : »[I]m obersten Himmel (Empyreum) sah man die Hand Gottes in Zeigegebärde.« S. a. Schmitt (Anm. 27), S. 24, der bemerkt, dass das Empyreum »gemäß antiker Tradition von einem Velarium umgeben« sei. »Hier erscheint auch die dextera dei, die rechte Hand Gottes.«
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Rollkissen, ohne Rückenlehne, die Füße auf dem Rand einer Muschel, die auf dem Trittbrett liegt. In der Linken hält er, auf den Oberschenkel gestützt, ein Buch – den Liber vitae (Offb 20,15) –, die Rechte hat er erhoben, nach Ciampini wiederum in benedicendi actu, complicato pollice cum annulari30 ›segnend mit zusammengelegten Daumen und Ringfinger‹ ; entsprechend erkennt Gerhart B. Ladner darin den »sog. griechische[n] Segensgestus«,31 während Joseph Wilpert von einem »in der orientalischen Kunst gebräuchlichen Redegestus«32 spricht. Ein Vergleich mit Petrus, der in entsprechender Weise die Rechte erhoben hat, dabei unzweifelhaft im Redegestus dargestellt ist,33 unterstützt Wilperts Erklärung, ohne dass dadurch bei Christus der Aspekt des Segnens ausgeschlossen wäre. Von dem Thron, zu Füßen Christi, sieht man (nach Gen 2,10–14) einen Strom ausgehen, der in vier Arme sich verzweigt, nämlich in die – durch Beischriften ausgewiesenen – vier Paradiesflüsse (von links nach rechts) Gion, Phison, Tigris, Euphrates.34 Beiderseits davon und spiegelsymmetrisch einander zugewandt stehen zwei Hirsche, die sich auf Psalm 42 (41),2 beziehen : ›Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.‹ Gemeint sind mithin, gleichnishaft und pars pro toto, die Gläubigen.35 Rechts neben Christus, im Dreiviertelprofil seinem Herrn zugewandt, sieht man Petrus ; den mit der Rechten beschriebenen Redegestus konkretisiert ein Spruchband, das sich über dem linken Unterarm entrollt und auf dem zu lesen steht : TV ES XPS [CHRISTVS] FILIVS DEI VIVI ›Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes‹ (Mt 16,16). Der Antwort des Petrus auf die Frage Jesu an seine Jünger, für wen diese ihn halten, folgt die Zusage des Herrn : ›Selig bist du, Simon Barjona, denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Ich aber sage dir : Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben ; was du auf Erden binden 30 Ciampini (Anm. 24), S. 43. 31 Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 62 ; ebenso Pace (Anm. 27), S. 1229 : »[I]n atto benedicente (la formula di benedizione è operata opponendo pollice ad anulare).« 32 Wilpert/Schumacher (Anm. 27), S. 62 ( Joseph Wilpert). 33 Allerdings spricht Iacobini (Anm. 23), S. 125, in Bezug auf Petrus von »una posa forse benedicente«, und eine »main droite bénissant« sieht zuvor auch Tilmann Buddensieg : Le coffret en ivoire de Pola, Saint-Pierre et le Latran. In : Cahiers Archéologiques 10 (1959), S. 157–200, hier S. 164. Dass der Apostel seinen Herrn segnet, ist jedoch grundsätzlich (noch abgesehen von dem Spruchband, auf das der Gestus sich beziehen lässt) kaum denkbar. Pace (Anm. 27), S. 1229, erklärt, Petrus, anders als Christus, »dové essere rappresentato non nell’atto di benedizione, ma, più logicamente e come s. Paolo, con un gesto di acclamazione.« 34 Ciampini (Anm. 24), S. 44. 35 Zu Recht sieht darin schon Ciampini Fideles und führt einen exegetischen Beleg dafür an. Ebd., S. 44.
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wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein‹ (Mt 16,18 f.).
Die beiden Schlüssel, die Petrus in der Linken hält, veranschaulichen diese Entgegnung Christi auf sein – deutlich lesbares – Messiasbekenntnis ; umgekehrt aber lässt sich der an sich unbestimmte Redegestus Christi angesichts der Worte des Apostels und der Schlüssel in seiner Hand nicht nur auf ein Segenswort beziehen, sondern auch als Ausdruck eben dieser Verheißung und Übertragung der Schlüsselgewalt deuten. Links neben Christus steht Paulus, der seinerseits die Rechte sprechend, dabei jedoch nicht in demselben Redegestus wie Christus und Petrus, erhoben hat ; seine Worte vermerkt ein Spruchband in der linken Hand : MIHI VIVERE XPS [CHRISTVS] EST ›Christus heißt für mich zu leben‹ (Phil 1,21). Christus, nicht anders als Petrus und Paulus, trägt, wie üblich, eine Tunika und darüber das Pallium ; abgekürzt in griechischen Lettern ist beiderseits seines Hauptes der Name von Jesus (IC) Christus (XC) zu lesen, die Namen der beiden Apostel sind ausgeschrieben und sowohl (halb)griechisch (jeweils hinter den beiden) wie lateinisch (vor ihnen) angegeben.36 Jeweils hinter den Aposteln stehen hohe Dattelpalmen, die die zentrale Konfiguration rahmen, vor allem aber den Ort als Paradies kennzeichnen. Genauer beziehen sich der thronende Christus mit dem Buch des Lebens, der vom Thron ausgehende und in die Paradiesflüsse sich verzweigende Strom sowie die Palmen auf die Beschreibung des ›neuen Jerusalem‹ in der Offenbarung des Johannes, insbesondere auf den ›Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall‹, der ›vom Thron Gottes und des Lammes aus[geht]‹ (Offb 22,1).37 Eine Frage bleibt, ob sich mit der folgenden Schilderung die auf antike Vorbilder der »Nillandschaft«38 zurückgehende Szenerie zu Füßen Christi und der beiden Apostelfürsten, das heißt die Darstellung zahlreicher kleiner Gestalten (und Tiere), die sich an Blumen oder eher blumenartigen Bäumen zu schaffen machen, in Zusammenhang bringen lässt : ›Zwischen der Straße der Stadt [dem ›neuen Jerusalem‹] und dem Strom, hüben und drüben, stehen Bäume des Lebens. Zwölfmal tragen sie Früchte, jeden Monat einmal, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker‹ (Offb 22,2).39 36 Mit einem Fehler bei den letzten beiden Buchstaben des griechischen Namens von Petrus, wie Ciampini bemerkt : cum loco O, G, utpote etiam ultima S. inverso ordine, expressa sit. ›weil anstelle eines O ein G wie ja auch das letzte S seitenverkehrt wiedergegeben ist.‹ Ciampini (Anm. 24), S. 44. 37 Vgl. Wilpert/Schumacher (Anm. 27), S. 62. 38 Krautheimer (Anm. 8), S. 229. 39 Vgl. Ciampini (wie Anm. 24), S. 44 : Campus, sive area, sub harum figurarum pedibus, nonnullis taber naculis, arbusculisque, et figuris in diversis actibus expressis, ornatus cernitur. Diu super eisdem figuris meâ mente revolui, quid significare valerent, illasque etiam eruditis ostendi amicis, sed nec ullam explanatio nem appropriari posse existimavimus. Quare potius ad Pictoris, seu Musivarii placitum, quàm ad ullum de
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Das untere Register des Apsismosaiks als schmalerer Bildstreifen zeigt in der Mittelachse, unterhalb des thronenden Christus, einen mit Edelsteinen verzierten leeren Thron mit zwei Rollkissen, auf dessen Rückenlehne eine crux gemmata zu sehen ist. Vor dem Thron und in einer Achse mit dem Kreuz steht auf einem (kleinen) Berg das Agnus Dei, das den gleichen Kreuznimbus hat wie Christus ; ein Blutstrom aus der Brust des Lammes fließt in den (eucharistischen) Kelch vor ihm, vier weitere Blutströme, die (entsprechend den Wundmalen an Händen und Füßen des Gekreuzigten) von den Füßen des Lammes ausgehen, laufen nach verschiedenen Seiten den Berg herab. Durch den axialen und formalen Zusammenhang ist damit eine augenfällige Analogie hergestellt zwischen den vier Paradiesflüssen, die vom Thron Christi ausgehen – und mit denen hier das Paradies wie das ›neue Jerusalem‹ zugleich bezeichnet sind –, und den vier Blutströmen aus den (Fuß-)Wunden des Agnus Dei. Wie Christus von Petrus und Paulus, so wird das Agnus Dei flankiert von der (durch eine Beischrift ausgewiesenen) ECCLESIA ROMANA und INNOCENTIVS P. P. [PAPA] III.40 Rechts steht, im fußlangen Gewand, nach Ciampini super humeros bir rum, vulgò Mozzetta deferens41 ›um die Schultern den Birrus, gemeinhin Mozetta genannt‹, die Personifikation der römischen Kirche ; allerdings wird das Obergewand, wie der erhaltene Büstenausschnitt zu erkennen gibt, über der Brust mit einer Fibel zusammengehalten und lässt eher an eine Chlamys denken.42 Ihre Kopfbedeckung betrachtet Ciampini als eine Art von Birett, ähnlich einem Herzogshut ;43 tatsächlich handelt es sich um ein kaiserliches Diadem, das mit Edelsteinen und Perlen besetzt und mit Pendilien versehen ist und sich damit an der Krone einer byzantinischen Kaiserin orientiert.44 In der Linken hält Ecclesia ein Buch, in der Rechten die Kirmonstrandum symbolum fuisse expressas, judicavimus. ›Die Ebene bzw. das Feld zu Füßen dieser Figuren [Christus, Petrus und Paulus] sieht man geschmückt mit einigen kleinen Zelten, Bäumchen und Figuren, die bei unterschiedlichen Tätigkeiten dargestellt sind. Lange habe ich mir über diese Figuren Gedanken gemacht, was sie bedeuten könnten und sie sogar gelehrten Freunden gezeigt, aber wir sind der Ansicht gewesen, dass man sich keine Erklärung zu eigen machen könne. Daher haben wir geurteilt, dass sie mehr nach Belieben der Maler bzw. Mosaizisten dargestellt seien, als um irgendein Sinnbild vorzustellen.‹ 40 S. dazu auch die Nachzeichnungen in : BAV, Cod. Vat. Lat. 5407, fol. 103 und fol. 112 ; Abb. in : Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 63, Abb. 23 und Tafel IXb ; Iacobini (Anm. 23), S. 127, Abb. 13 f. 41 Ciampini (Anm. 24), S. 46 ; Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter. Hrsg. von Harry Kühnel. Stuttgart 1992, S. 31, s. v. ›Birrus‹ (Erwin Pochmarski) und S. 173, s. v. ›Mozetta‹ (Harry Kühnel). 42 Abb. in : Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 61, Abb. 22 ; Wilpert/Schumacher (Anm. 27), S. 12 ; vgl. dazu Kühnel (Anm. 41), S. 52 f., s. v. ›Chlamys‹ (Karoline Czerwenka-Papadopoulos). 43 [C]aput quodam byreto, veluti Ducalis corona, redimitum habet. Ciampini (Anm. 24), S. 46. 44 Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 62, spricht zu Recht von »der stilisierten Krone einer byzantinischen Kaiserin« ; im Ganzen stelle die Gestalt der Kirche »wohl eine Kombination des Typus der Madonna Regina […] mit dem der personifizierten Roma dar« (S. 66). Iacobini (Anm. 23), S. 126, sieht, dass Ecclesia »è incoronata da un vistoso diadema gemmato che la connota inequivocabilmente
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chenfahne (vexillum), deren Schaft von einem Kreuz bekrönt ist und deren Tuch zwei Schlüssel zeigt45 – entsprechend denen, die im oberen Register Petrus empfangen hat. Der Kirche gegenüber sieht man Innozenz III.; seine »Hände waren nicht gefaltet, sondern leicht voneinander getrennt, flehentlich und anbetend ausgestreckt. Körperund Handhaltung stellten einen gemässigten Typus der Proskynese dar«.46 Der Papst erscheint als oberster Priester in Pontifikalgewändern, mit Albe, Stola und Kasel, um die Schultern das Pallium, anscheinend auch mit Manipel. Dabei trägt er auf dem Haupt (statt der priesterlichen Mitra) die Tiara (mit Candae),47 die im Constitutum Constantini unter der Bezeichnung frygium genannt ist, im dreizehnten Jahrhundert regnum heißt und zu den Insignien gehört, die Konstantin vormals (vorgeblich) Papst Silvester I. und dessen Nachfolgern überlassen hatte. Sie bezeichnet als signum imperii die weltliche Herrschaft des Papstes.48 Hinter Innozenz III. und der Ecclesia Romana schließt sich jeweils ein Lämmerzug an ; sechs Lämmer kommen hier wie dort aus zwei abbreviativ dargestellten Städten, die durch Beischriften gekennzeichnet sind – links als Jerusalem (HIERVSALEM), rechts als Betlehem (BETLEEM) –, auf das Agnus Dei zu. Die Zwölfzahl der Lämmer könnte auf die Apostel bezogen werden, und Ciampini vertritt diese Ansicht49 ebenso wie Krautheimer.50 Die aus Jerusalem und Betlehem kommenden Lämmer dürften jedoch hier wie etwa auch im Apsismosaik von SS. Cosma e Damiano (sechstes Jahrhundert) eher die Gläubigen der Juden- und Heidenkirche (der ecclesia ex circumcisione und der come imperatrix.« S. a. Schmitt (Anm. 27), S. 26. Vgl. Kühnel (Anm. 41), S. 243 f., s. v. ›Stemma‹ (Karoline Czerwenka-Papadopoulos). 45 »Nach den Kopien […] war die Fahne rot und die Schlüssel waren weiss. Sie endete in zwei oder drei Spitzwimpeln.« Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 62. 46 Ebd., S. 62. 47 »Innozenz III. trägt in dem Originalfragment eine wohl aus Flechtwerk gebildete Tiara mit einer goldenen und roten Borte (nicht Krone) am unteren Rand und zwei hinter dem rechten Ohr herabhängenden Bändern.« Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 62 ; vgl. Kühnel (Anm. 41), S. 263 f., s. v. ›Tiara‹ (Harry Kühnel). Ciampini (Anm. 24), S. 46, spricht von einer Pontificiâ Thiarâ, et ex ea pendentibus lemniscis. Über den Stellenwert dieser Insignie s. Iacobini (Anm. 23), S. 126. 48 S. u. Anm. 70. 49 Durandus verò in suo Rationali Divin. Offic. lib. 1. cap. 3. num. 10. describit varias mysticas formas ap pingendi Apostolos, inter, quas sub forma duodecim ovium aliquando expressos fuisse, affirmat, quae prae senti Musivo operi adaptatur. ›Durantus beschreibt verschiedene symbolische Formen, um die Apostel darzustellen, dabei bestätigt er, dass sie vormals in Form von zwölf Schafen wiedergegeben worden sind, [eine Form,] die in dem vorliegenden Mosaik aufgegriffen wird.‹ Ciampini (Anm. 24), S. 47. Vgl. Guillelmus Durantus : Rationale divinorum officiorum. Ed. Anselme Davril O. S. B./Timothy M. Thibodeau. 3 Bde. Turnhout 1995–2000 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaeualis 140–140B), Bd. 1 (1995), I, III, 10, S. 39. 50 Wenn es etwa heißt, dass »der Papst zwischen den Lämmern, den Aposteln, plaziert« sei. Krautheimer (Anm. 8), S. 229.
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ecclesia ex gentibus) – die mit den beiden Städten bezeichnet sind – versinnbildlichen.51 Hinter den beiden Lämmerzügen ragen jeweils fünf blumenartige Bäume auf, die ihrerseits Palmen meinen ; dabei umschließen die Kronen der ersten beiden Gewächse links und rechts jeweils einen Phönix. Das allegorische Verständnis dieses mythischen Vogels, der sich im Alter selbst verbrennt und aus der Asche wiederersteht – im Physiologus (zweites Jahrhundert) ein Bild für den Tod und die Auferstehung Christi52 –, machte den Phönix zu einem vielfach wiederkehrenden Motiv sowohl in frühchristlicher Zeit53 wie im Mittelalter (und weit darüber hinaus).54 51 Wilpert/Schumacher (Anm. 27), S. 63 ( Joseph Wilpert) ; Engemann (Anm. 25), S. 110, wo von dem Mosaik in SS. Cosma e Damiano die Rede ist. Zu den beiden Städten als Sinnbildern der Juden- und Heidenkirche s. überdies Christa Ihm : Die Programme der christlichen Apsismalerei vom vierten Jahrhundert bis zur Mitte des achten Jahrhunderts. Wiesbaden 1960 (Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 4), S. 34, mit Anm. 85. Zu den Lämmerzügen als Bild – je nach dem größeren Zusammenhang – einmal für die »aus ihren Wirkungsbereichen siegreich heimkehrenden Apostel«, zum anderen für die »Getauften« – also die Gläubigen der Juden- und Heidenkirche – s. ebd., S. 34–36 (Zitate S. 35). In denjenigen Apsisbildern, in denen, auf zwei Register verteilt, Christus zwischen Petrus und Paulus und die auf das Gotteslamm zuschreitenden Lämmer erscheinen, sind nach Christa Ihm »die Sinngehalte zusammengeflossen und die Lämmer stehen sowohl für die Apostel, als auch für die Täuflinge«. Ebd., S. 36. Dies würde für das Apsisbild in Alt-St. Peter gelten. Anders Rotraut Wisskirchen/Stefan Heid : Der Prototyp des Lämmerfrieses in Alt-St. Peter. Ikonographie und Ikonologie. In : Tesserae. Festschrift für Josef Engemann. Münster Westf. 1991 ( Jahrbuch für Antike und Christentum. Erg.-Bd. 18), S. 138–160. Ihnen zufolge war in der Apsis ursprünglich ein Lämmerfries ohne die dezidierte Kennzeichnung der Städte als Jerusalem und Betlehem dargestellt ; die Lämmer aber meinten, nach Offb 14,1, die »Schar der 144 000 (reduziert auf zwölf )«. »Die Plebs Dei, die nach der Zahlensymbolik von 144 000 auf zwölf verringerten Erwählten, scharen sich, aus den Städten dieser Erde kommend, um das Gotteslamm [auf dem Paradies- bzw. Zionsberg].« Ebd., S. 147. In dem Lämmerfries könnten »nicht die Apostel verbildlicht worden sein, sondern nur allgemein Gläubige«. Ebd., S. 149. Wie auch immer das Mosaik in frühchristlicher Zeit zu verstehen war, für Innozenz III. bedeuteten die Lämmer, wie wir sehen werden, kaum etwas anderes als die Gläubigen der ecclesia universalis (was dasselbe meint wie die Schar der »Erwählten«). 52 Physiologus. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Otto Schönberger. Stuttgart 2001, Kap. 7, S. 14–17. Hier heißt es : »Wenn nun dieser Vogel Macht hat, sich selbst zu töten und sich wieder zum Leben zu erwecken, wie dürfen da die unverständigen Juden über den Herrn unwillig sein, der gesagt hat : ›Ich habe Macht, mein Leben hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen‹ [ Joh 10,18] ?« Ebd., S. 17. 53 Christa Ihm kennzeichnet den Phönix »als Symbol der Wiedergeburt im Tod und der Unsterblichkeit«. Ihm (Anm. 51), S. 36, mit zahlreichen Quellenbelegen in Anm. 94 ; s. a. Engemann (Anm. 25), S. 110. Ciampini und seine Zeitgenossen hatten von der Bedeutung des Vogels keinen Begriff mehr : Quid arbores hìc depictae, avesque ibi stantes significent, difficile admodum redditur explicare : diu etenim quaesivi, sed nil adinveni. ›Was die hier abgebildeten Bäume und die darin befindlichen Vögel bedeuten, ist schwer genau zu erklären ; ich habe nämlich lange gesucht, aber nichts [zur Erklärung] gefunden.‹ Ciampini (Anm. 24), S. 46. 54 Im frühen siebzehnten Jahrhundert wurde der erhaltene Phönix aus Alt-St. Peter allerdings – im An-
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Unter dem Apsisbild verläuft schließlich in zwei Zeilen eine Inschrift, vier leoninische Hexameter, die besagen : SVMMA PETRI SEDES EST HEC SACRA PRINCI PIS AEDES. MATER CVNCTAR[VM] DECOR ET DECVS ECCLESIAR[VM] // DEVOTVS XPO [CHRISTO] QVI TENPLO SERVIT IN ISTO. FLORES VIRTV TIS CAPIET FRVCTVSQ[VE] SALVTIS ›Diese heilige Kirche ist der erhabene Sitz des [Apostel- bzw. Kirchen-]Fürsten Petrus, [sie ist] Mutter, Zierde und Muster exemplar aller Kirchen. Wer in dieser Kirche Christus ergeben dient, wird die Blüten der Tugend und die Früchte des Heils erlangen.‹
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Angesichts des in dieser Form überlieferten hochmittelalterlichen Apsismosaiks stellt sich die Frage nach dessen ursprünglicher Gestalt bzw. nach den Veränderungen, die Innozenz III. bei der Erneuerung vornahm und die vor allem signifikant erscheinen müssen für das Verständnis des Bildprogramms. Während die Inschrift einen vollständig anderen Wortlaut erhielt,55 gehen die Meinungen in der Forschung hinsichtlich schluss an eine legendarische Überlieferung – in einem anderen Sinne für bedeutsam angesehen. In eine Stuckdekoration eingepasst, waren die beiden Fragmente des Apsismosaiks im Besitz der Familie Conti in Poli (s. o. Anm. 23) zusammen mit einem dritten Fragment – einer Darstellung Gregors IX. von der Fassade der alten Peterskirche – »sull’altare della cappella del palazzo baronale« (Iacobini [Anm. 23], S. 119) platziert. Der Phönix erschien dabei im Zentrum einer die drei Fragmente erläuternden Inschriftentafel, die über den Vogel zu wissen gab, es sei diejenige Taube (!) dargestellt, die sich bei der Wahl von Innozenz III. zum Papst auf dessen Schulter niedergelassen habe (la colomba, che nel punto della sua eletione si posò nella sua spalla). Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 56, mit Anm. 2, S. 65, Abb. 25 und S. 68 (danach das Zitat) ; Iacobini (Anm. 23), S. 119, mit Abb. 2. S. a. Wilpert/ Schumacher (Anm. 27), S. 64 ( Joseph Wilpert). 55 Die Inschrift des vierten Jahrhunderts lautete : IVSTITIAE SEDES FIDEI DOMVS AVLA PVDORIS // HAEC EST QVAM CERNIS PIETAS QVAM POSSIDET OMNIS // QVAE PATRIS ET FILII VIRTVTIBVS INCLYTA GAVDET // AVTOREMQVE SVVM GENITORIS LAVDIBVS AEQVAT ›Sitz der Gerechtigkeit, Haus des Glaubens und Hort der frommen Sitte ist die Kirche, die du siehst, … welche stolz ist auf die Tugenden des Vaters und des Sohnes (Konstans), den sie als Urheber in gleichem Maße ehrt wie den Vater‹. Text und (unvollständige) Übers. zit. nach Wilpert/Schumacher (Anm. 27), S. 62 ( Joseph Wilpert). Zu dieser Inschrift s. José Ruysschaert : L’inscription absidale primitive de S.-Pierre. Texte et contextes. In : Atti della Pontificia Accademia Romana di Archeologia. Rendiconti 40 (1967/68), S. 171–190 ; Richard Krautheimer : A Note on the Inscription in the Apse of Old St. Peter’s. In : Dumbarton Oaks Papers 41 (1987), S. 317–320. Hier die Übersetzung : »This which you see and which Mercy undivided inhabits is the Seat of Justice, the House of Faith, the Hall of Chastity (Awe), which delights in the virtues of the father and son and equals its donor with the praise of his sire« (S. 317). Besser ist zu übersetzen : ›Die Kirche, die du hier siehst, ist der Sitz der Gerechtigkeit, das Haus des Glaubens, der Festsaal der frommen Ehrfurcht ; alle Frömmigkeit erfüllt sie [hat von ihr Besitz genommen], und sie erfreut sich in ihrem glanzvollen Ruhm der
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des Apsisbildes – und das heißt genauer : der Darstellung, die im dritten Viertel des vierten Jahrhunderts ein zunächst ungegenständliches Goldmosaik ersetzt hatte und unter Papst Severinus (640) restauriert (und mutmaßlich auch nur wiederhergestellt, nicht zugleich auch verändert) worden war56 – weit auseinander. Beim oberen Register stellt sich die Frage, ob Christus ursprünglich bereits thronend zwischen den ihn flankierenden Apostelfürsten oder stehend erschien und ob die Gesetzesübergabe an Petrus (Dominus legem dat) dargestellt war. Für den unteren Bildstreifen (wo die Ecclesia Romana und Innozenz III. offensichtlich eine Neuerung bilden) ist insbesondere die wirksamen Kräfte des Vaters und des Sohnes und erweist ihrem Schutzherrn [eigentlich : Veranlasser, nämlich Christus, dessen Erlösungstat nach der Weiheinschrift Quod duce te mundus surrexit in astra triumphans, // hanc Constantinus victor tibi condidit aulam (s. u. Reinhart Herzog, S. 236) diese Kirche begründet hat] den gleichen Lobpreis wie dessen [Christi] Vater.‹ (Übers. Fidel Rädle.) Angesichts der von Ruysschaert und Krautheimer (und anderen) behandelten Frage, ob mit Vater und Sohn die Stifter Konstantin und Constans (oder Constantius II.) oder die ersten beiden Personen der Trinität gemeint sind – was Ruysschaert (S. 176 f.), anders als Krautheimer, annimmt –, vgl. das Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Bd. 5 : Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr. Hrsg. von Reinhart Herzog. München 1989 (Handbuch der Altertumswissenschaft. Abt. 8, Bd. 5), S. 236 ; hier wird als »arges Mißverständnis« ausgewiesen, »daß man die chiastisch gegliederte Wortfolge in v. 3 f. patris et filii…auctoremque…genitoris häufig auf Konstantin und Constans bzw. Constantius II. bezogen hat, um darauf die Hypothese von der Vollendung von St. Peter erst unter letzteren zu gründen. Gemeint sind natürlich Gottvater und der ihm im Sinne der nicänischen Theologie gleichgestellte (v. 4 aequat) Christus.« 56 Die ursprünglich bilderlose Apsis als Stiftung Kaiser Konstantins erwähnt der Liber pontificalis : Fecit [Augustus Constantinus] autem et cameram basilicae ex trimma auri fulgentem et super corpus beati Pe tri. (Konstantin ›stiftete aber auch die Apsiskalotte mit Goldmosaik, die über dem Leib des heiligen Petrus erstrahlt.‹) Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire par Louis Duchesne. 3 Bde. (Bd. 3 : Cyrille Vogel). 2. Aufl. Paris 1955–1957 (1. Aufl.: 2 Bde. 1886, 1892), Bd. 1 (1955), S. 176, mit Anm. 64. Ebenso ist hier die Restaurierung durch Severinus vermerkt : Hic renovavit absi dem beati Petri apostoli ex musibo, quod dirutum erat. ›Dieser erneuerte die Apsis [der Kirche] des heiligen Apostels Petrus mit dem Mosaik, das zerstört war.‹ Ebd., S. 329. Davon berichtet auch (nur mit einem falschen Datum) Ciampini (Anm. 24), S. 42 : Absidem hanc temporis diuturnitate collabentem, Severinus Summus Pontifex anno 638. refecit, ut Bibliothecarius, in ejusdem Pontificis vita, narrat. »Hic renovavit absidam B. Petri Apostoli ex Musivo, quod dirutum erat.« ›Diese Apsis, die in der Länge der Zeit baufällig geworden war, ließ Papst Severinus im Jahr 638 wiederherstellen, wie der Bibliothekar [gemeint ist Anastasius Bibliothecarius aus dem neunten Jahrhundert ; Hinweis von Fidel Rädle] in seiner Vita des Papstes berichtet : »Er erneuerte die Apsis [der Kirche] des heiligen Apostels Petrus mit dem Mosaik, das zerstört war.«‹ S. a. Wilpert/Schumacher (Anm. 27), S. 63 ( Joseph Wilpert). Zur Datierung des spätkonstantinischen Mosaiks in das dritte Viertel des vierten Jahrhunderts bzw. nach der Mitte des vierten Jahrhunderts s. Buddensieg (Anm. 33), S. 166, und unten Anm. 59 (Achim Arbeiter). Zudem Fabrizio Bisconti : Monumenta picta. L’arte dei Costandinidi tra pittura e mosaico. In : Costantino il Grande. La civiltà antica al bivio tra Occidente e Oriente. Ausst.- Kat. Castel Sismondo, Rimini, 13.3.–4.9.2005. A cura di Angela Donati/Giovanni Gentili. Mailand 2005, S. 174–187, hier S. 181 f.
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vormalige Gestaltung der mittleren Partie zu klären ; offen bleibt, ob man hier bereits das Lamm und überdies auch schon vor einem Thron sah. Denkbar erscheint – für José Ruysschaert57 –, dass sich der Lämmerfries vormals mit Christus und den beiden Aposteln im oberen Register befand, während in dem Bildstreifen darunter die zwölf Apostel standen, beiderseits des Gotteslamms auf dem Paradiesberg und vor einem leeren Thron. Aber vorstellbar ist auch – für Walter N. Schumacher58 –, dass unter einem thronenden Salvator zwischen Petrus und Paulus im oberen Teil der stehende Christus zwischen den beiden Aposteln bei der Gesetzesübergabe vor Augen kam. Indes scheint heute weitgehend Einigkeit darüber zu bestehen, dass das Thema der Gesetzesübergabe (Dominus legem dat) – das offenbar seinen Ursprung in Rom hat und in den erhaltenen Werken nicht vor der Mitte des vierten Jahrhunderts auftaucht – seine erste und wirkmächtige Ausprägung im Apsismosaik der Peterskirche fand.59 Das »ikonographische Grundschema« des Motivs, wie es in verschiedenen Bildgattungen (von Sarkophagreliefs über Wandmalereien bis hin zu Bronzemedaillen und geschliffenen Gläsern) überliefert ist, erscheint »recht fest und markant : Christus zentral und fast immer bärtig, mit erhobener Rechter erhöht stehend, zwischen dem akklamierenden Paulus zu seiner Rechten und Petrus zu seiner Linken, wobei letzterer ein Kreuz trägt und in gebeugter Haltung üblicherweise seinen Gewandbausch wie zum Auffangen unter ein Volumen führt, das Christus entrollt in seiner Linken hält. Eine Lämmerschar pflegt die Komposition zu begleiten, welche in der Regel um eine Auswahl aus weiteren Motiven (Hügel mit vier Flüssen, Gotteslamm, Wolken, Phönix und wie die Lämmer symmetrisch angeordnete Palmen und Gebäude […]) bereichert wird«.60 57 Ruysschaert (Anm. 55), S. 179–185 ; ihm folgend Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 59 f. 58 Wilpert/Schumacher (Anm. 27), S. 11 f. (Walter N. Schumacher). 59 Eingehend dazu Jürgen J. Rasch/Achim Arbeiter : Das Mausoleum der Constantina in Rom. Mit Beiträgen von Friedrich Wilhelm Deichmann und Jens Rohmann. Mainz 2007 (Spätantike Zentralbauten in Rom und Latium 4), S. 124–147 (Achim Arbeiter), bes. S. 144–147 ; zu der traditionellen, dabei »in fast allen Fällen unpassende[n]« Bezeichnung des Motivs als traditio legis s. ebd., S. 124, mit Anm. 210. Vgl. ähnlich Engemann (Anm. 25), S. 110. Zweifel äußert dagegen Beat Brenk : The Apse, the Image and the Icon. An historical Perspective of the Apse as a Space for Images. Wiesbaden 2010 (Spätantike – Frühes Christentum – Byzanz, Reihe B : Studien und Perspektiven 26), S. 55 : »Many scholars believe that the apse mosaic representing the traditio legis of S. Costanza was inspired by the monumental apse mosaic of Old St. Peter. There is, however, no real proof for such an assumption ; it is just a hypothesis. The fact that the two apse mosaics of S. Costanza illustrate papal, ecclesiastical iconography, does not necessarily mean that they reflect an earlier papal apse mosaic.« Die hauptsächlichen Argumente und Indizien, die sehr stark für eine Dominus legem dat-Darstellung in Alt-St. Peter sprechen, bleiben hier unberücksichtigt. 60 Rasch/Arbeiter (Anm. 59), S. 125 (Achim Arbeiter).
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Inhaltlich handelt es sich um die Verkündigung des Gesetzes – das heißt der lex evan gelica – durch Christus, nicht um eine »aktive Aushändigung [des Gesetzes] an Petrus«, denn eine »wirkliche Übergabe wird mit der rechten Hand ausgeführt«.61 Das zentrale Motiv in der Apsis von Alt-St. Peter ist danach von Innozenz III. wesentlich verändert worden. Gewiss nicht thronend, sondern stehend bei der Verkündigung der lex evangelica erschien Christus ursprünglich, das heißt »im Schema der triumphalen Adlocutio«62 nach dem Vorbild des kaiserlichen Hofzeremoniells und entsprechenden Verbildlichungen. Schwieriger ist die Rekonstruktion in anderen Bereichen ; auch eine Bezugnahme jeweils auf die überlieferten Dominus legem dat-Darstellungen – für deren Prototyp nun das Apsisbild der Peterskirche gilt – konnte und kann zu unterschiedlichen Resultaten führen. Ja, nur schon der Rückgriff auf ein und dasselbe Werk, genauer : auf das Elfenbeinkästchen von Samagher (bei Pola in Istrien ; fünftes Jahrhundert) – als der vermeintlich getreuesten »Wiedergabe des ersten figürlichen Apsismosaiks von Alt-St. Peter«63 –, vermochte sehr unterschiedliche Rekonstruktionsversuche zu begründen.64 Bei einer Zusammenschau des von Innozenz III. erneuerten Mosaiks mit den verschiedenen erhaltenen Dominus legem dat-Bildern scheint mir für die spätkonstantinische Komposition am plausibelsten im oberen Bereich eine Wiedergabe des auf Wolken oder (eher) auf einem Hügel stehenden Christus zwischen Paulus und Petrus in einer Paradieslandschaft mit rahmenden Palmen ; im unteren Register dagegen die Darstellung von zwei aus Jerusalem und Betlehem kommenden Lämmerzügen, in deren Mitte das Gotteslamm auf dem Paradiesberg (mit den vier Paradiesflüssen) bzw. dem Berg Zion (Offb 14,1) zu sehen ist.65 Ein Goldglas-Fragment, heute im Museo Pio Cristiano (Abb. 14a und 14b), gibt 61 Ebd., S. 146. Hier auch die Erläuterung : »Was nun den Sachverhalt des wiederholt mehr oder weniger deutlich gegebenen Herüberziehens des freien Endes der Schriftrolle durch Petrus (soweit dies mit verhüllten Händen zu bewerkstelligen ist) oder zumindest des Auffangens in einer Gewandbahn angeht, so handelt es sich dabei um ein nachgeordnetes Motiv, um eine allein von dem Apostel initiierte Geste ehrfürchtiger Betreuung und Fürsorge, die völlig ausreicht, um der Bildaussage den Gedanken an die Sonderstellung Petri als bevorzugter Assistent Christi mitzugeben.« Zum inhaltlichen Verständnis der Dominus legem dat-Darstellung – im Zusammenhang mit dem Lämmerfries – s. a. Wisskirchen/ Heid (Anm. 51), bes. S. 157–160. 62 Rasch/Arbeiter (Anm. 59), S. 146 (Achim Arbeiter) ; s. a. Buddensieg (Anm. 33), S. 164. 63 Rasch/Arbeiter (Anm. 59), S. 126, mit Anm. 222 (Achim Arbeiter). 64 Vgl. bes. Buddensieg (Anm. 33), S. 157 f. und S. 163–168 ; s. a. unten Anm. 65. Dagegen Ruys schaert (Anm. 55), S. 179–185 ; s. a. oben Anm. 57. Ferner Engemann (Anm. 25), S. 108 f., mit vorzüglicher Farbabbildung. 65 Damit folge ich – wie Wisskirchen/Heid (Anm. 51), S. 141 f., und andere – der Rekonstruktion von Buddensieg (Anm. 33), S. 167, Abb. 13, mit Ausnahme der vier Paradiesflüsse, die hier zweimal auftauchen. Während das Gotteslamm zweifellos auf dem Paradiesberg mit den Flüssen stand, wird Christus nicht in genau der gleichen Weise vor Augen gebracht worden sein, sondern auf Wolken oder (eher) auf einem Berg ohne die vier Paradiesflüsse gestanden haben (auch wenn die als Paradies
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vielleicht – eher noch als das Kästchen von Samagher – die genaueste Vorstellung von dem frühchristlichen Mosaik.66 In unserem Zusammenhang ist jedoch vor allem von Interesse, welche Motive sicher auf Innozenz III. zurückgehen. Dies gilt für den thronenden (anstelle eines stehenden) Christus und für Petrus im Redegestus mit seinem Spruchband ;67 es gilt für das Lamm Gottes als Opferlamm mit blutenden Wunden und dem (eucharistischen) Kelch68 sowie für die Personifikation der römischen Kirche und den Papst, von der gänzlich veränderten Inschrift unter dem Bild – als einer programmatischen Kennzeichnung von St. Peter – zu schweigen. Als Angelpunkte einer Interpretation des hochmittelalterlichen Apsisbildes können diese Neuerungen dienen, aber auch für die übrigen Motive, mögen sie aus dem älteren Mosaik übernommen (das heißt in identischer Form nachgebildet) oder verändert worden sein, ist die Bedeutung offenzulegen, die sie für gekennzeichnete Landschaft auf einen entsprechenden Ort hindeutet). In diesem Sinne ist Christus wiedergegeben in der Rekonstruktion von Bisconti (Anm. 56), S. 181, Abb. 7, die m. E. zu Recht, dabei anscheinend erstmals primär, der Darstellung auf einem Goldglas (s. u. Anm. 66 und Abb. 14a und 14b) folgt. Allerdings verzichtet Bisconti auf eine Trennung der Komposition in zwei Register, die nicht nur mit Blick auf das Goldglas, sondern auch auf das hochmittelalterliche Apsisbild zu unterstellen ist. Wisskirchen und Heid, denen die eindringlichste Deutung des spätkonstantinischen Apsismosaiks zu verdanken ist, sehen eine »Doppelung von Christus und Zion« ; damit sei gemeint : »vom Herrn auf dem Berg [Zion] ergeht das Gesetz, wird es verbreitet durch die Apostel und löst es die Wallfahrt der Gläubigen zum Ursprungsort aus.« Wisskirchen/Heid (Anm. 51), S. 159. 66 Charles Rufus Morey : The Gold-Glass Collection of the Vatican Library. With additional Catalogues of other Gold-Glass Collections. Ed. by Guy Ferrari. Città del Vaticano 1959 (Catalogo del Museo Sacro della Biblioteca Apostolica Vaticana 4), S. 19, Nr. 78 (»Greenish glass bottom of cup«, im Durchmesser 7,7 cm). Wisskirchen/Heid (Anm. 51), S. 139, halten eine Datierung noch Ende des vierten Jahrhunderts für »wahrscheinlich« ; mit Vorbehalt allerdings S. 148. S. a. Rasch/Arbeiter (Anm. 59), S. 126 f., mit Anm. 226 und Abb. 5. Bereits Ihm (Anm. 51), S. 36, bemerkt über die Darstellung auf dem Goldglas ganz zu Recht, dass sie »sicher auf ein Apsisbild« zurückgehe ; das Bild in Alt-St. Peter wird dabei jedoch als Vorbild nicht in Betracht gezogen. Ihm vermutet – angesichts der mittelalterlichen Komposition –, dass hier ursprünglich statt einer Dominus legem dat-Szene eher eine »Huldigung der Apostelfürsten beim thronenden XP-Basileus« (S. 34) zu sehen gewesen sei. Zu diesem Bildtypus s. ebd., S. 21–24. 67 Im Hinblick auf die Spruchbänder der Apostel erklärt allerdings Pace (Anm. 27), S. 1229 : »Non è improbabile che il testo del cartiglio paolino replicasse (come anche l’altro) la versione paleocristiana, dal momento che proprio la stessa citazione ricorre nella Traditio legis sull’abside del San Si[l]vestro di Tivoli e ricorrerà pure nel Sacro Speco di Subiaco al tempo di Gregorio IX.« Die mehrfache Wiederkehr derselben Texte auf den Spruchbändern von Petrus und Paulus bezeugt jedoch nur deren Bedeutung im Zusammenhang der Papstkirche des hohen Mittelalters ; ein Argument oder Indiz für die Übernahme von frühchristlichen Darstellungen ist daraus kaum zu beziehen. Diese Frage kann hier indes auf sich beruhen ; entscheidend sind die Vorstellungen und Zwecke, die Innozenz III. insbesondere mit dem Bekenntnis auf dem Spruchband von Petrus verband. 68 Auch im Hinblick auf das Agnus Dei und den Kelch konstatiert Pace (Anm. 27), S. 1233, erstaunlicherweise, es handele sich um ein Motiv »non impossibilmente già presente sull’abside paleocristiana«.
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Innozenz III. besaßen. Darum geht es, wie das Apsisbild im frühen dreizehnten Jahrhundert nach dem Willen dieses Papstes verstanden werden sollte und – angesichts der derzeitigen kirchenpolitischen Situation – auch verstanden werden musste. Zunächst gibt das erste der beiden Distichen der Inschrift unmissverständlich den Rang des Ortes zu verstehen : Das Mosaik schmückt die Apsis der summa Petri sedes, des erhabenen bzw. höchsten, vornehmsten Sitzes Petri ; und diese sacra aedes des Apostel- oder besser : Kirchenfürsten (denn der princeps Ecclesiae ist, wie wir sehen werden, gemeint) bildet die mater cunctarum […] ecclesiarum. Die Peterskirche wird damit genau in der Weise apostrophiert, wie seit Langem allgemein die römische Kirche und wie im Besonderen die Lateranbasilika – nur wenige Jahre zuvor – ausdrücklich in der zitierten Inschrift an der neu errichteten Portikus tituliert worden war, nämlich als cunctarum mater caput ecclesiarum.69 Wie Innozenz III. die Stellung desjenigen begriff, der diese sedes als Nachfolger des Petrus innehatte, lehrt am deutlichsten seine Charakterisierung von Papst Silvester I., dem Konstantin – nach dem Constitutum Constan tini – aus Dank und Ehrerbietung die besagten denkbar weitreichenden Schenkungen gemacht hatte. In einer Predigt in festo d. Silvestri pontificis maximi erklärt Innozenz, der heilige Silvester sei ›nicht nur ein großer, sondern der höchste Priester‹ gewesen ›mit der erhabensten priesterlichen und königlichen Macht. Er war der Stellvertreter dessen, der der »König der Könige und Herr der Herren« (Offb 19,16) ist, der »Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks« (Ps 110,4), so dass nach dem geistlichen Sinn verstanden werden kann, dass zu ihm [Silvester] und seinen Nachfolgern gesagt ist, was der heilige Apostel Petrus, deren erster und vorzüglichster Vorläufer, sagt : »Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft« (1. Petr 2,9). Diese nämlich erwählte der Herr, dass sie Priester und Könige seien. Denn Konstantin, der vortreffliche Kaiser, der infolge einer göttlichen Offenbarung durch den heiligen Silvester in der Taufe vom Aussatz gereinigt worden war, übergab und trat diesem ab gleichermaßen die Stadt [Rom] und den Senat mit seinen Gefolgsleuten und Ämtern und die
69 S. o. Anm. 18. Rund vier Jahrzehnte vor Innozenz III. und der Inschrift in der Apsis von St. Peter hatte der Peterskanoniker Petrus Mallius in seiner Descriptio basilicae Vaticanae – die er Alexander III. widmete – die Peterskirche als fundamentum et caput omnium aliarum ecclesiarum bezeichnet und diesen Vorrang – gegenüber der Laterankirche – mit dem Petrus-Grab begründet. Johrendt (Anm. 18), S. 322–325, bes. S. 324 (Zitat). Hier heißt es im Übrigen : »Dass sich die Gewichte im Streit mit dem Lateran um die Stellung als caput ecclesiarum an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert massiv zugunsten des Peterskapitels verschoben, ist wesentlich auf Innozenz III. zurückzuführen.« Ebd., S. 326. Es folgt der Hinweis auf die Apsis-Inschrift in St. Peter. Zum Titel der ecclesia romana oder apostolica sedes als mater cunctarum ecclesiarum und caput bei Innozenz III. s. Wilhelm Imkamp : Das Kirchenbild Innocenz’ III. (1198–1216). (Diss. theol. Rom 1982) Stuttgart 1983 (Päpste und Papsttum 22), S. 289–300.
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gesamte Herrschaft des Westens, indem er selbst sich nach Byzanz zurückzog und für sich die Herrschaft des Ostens behielt. Sogar seine Krone wollte er ihm [Silvester] überlassen, aber dieser, aus Ehrerbietung gegenüber der geistlichen Krone oder mehr noch aus Demut, mochte sie nicht tragen ; jedoch bediente er sich anstelle des königlichen Diadems des runden Kronreifs (aurifrigium). Aufgrund priesterlicher Gewalt bestimmte er Patriarchen, Primaten, Metropoliten und Kirchenvorsteher ; aufgrund königlicher Gewalt aber setzte er Senatoren, Präfekten, Richter und Notare ein. Daher bedient sich der römische Pontifex als Zeichen weltlicher Herrschaft (imperium) der Tiara (regnum) und als Zeichen der geistlichen Herrschaft (pontificium) der Mitra. […] Dem Petrus aber und in Petrus den Nachfolgern Petri ist vom Herrn gesagt worden : »Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben, und alles, was du auf Erden bindest, wird auch im Himmel gebunden sein« (Mt 16,19). Nichts hat der ausgenommen, der gesagt hat : »alles, was«. Deshalb hat er an anderer Stelle gesagt : »Weide meine Schafe« ( Joh 21,16 f.), indem er nicht unterscheidet zwischen diesen und jenen Schafen, um zu zeigen, dass derjenige durchaus nicht zu seinen Schafen gehöre, der sich weigert, Petrus als Hirten zu haben. Zu ihm im Besonderen auch hat er gesagt : »Du sollst Kephas heißen« ( Joh 1,42), was das ›Haupt‹ (caput) bedeutet, in dem ja die Vollzahl der Sinne ihren Platz hat (in quo sensuum plenitudo consistit). Denn während die anderen [Apostel] in einen Teil der Verantwortung berufen sind, ist allein Petrus in die Vollgewalt (plenitudo potestatis) erhoben worden. Der heilige Silvester war also der Nachfolger Petri, der Stell vertreter Jesu Christi (vicarius Jesu Christi).‹70 70 Fuit ergo B. Silvester sacerdos, non solum magnus, sed maximus, pontificali et regali potestate sublimis. Illius quidem vicarius, qui est »Rex regum, et Dominus dominantium (Apoc XIX), Sacerdos in aeternum, secundum ordinem Melchisedech (Psal CIX),« ut spiritualiter possit intelligi dictum ad ipsum et succes sores illius, quod ait beatus Petrus apostolus, primus et praecipuus praedecessor ipsorum : »Vos estis genus electum, regale sacerdotium (1 Petr II).« Hos enim elegit Dominus, ut essent sacerdotes et reges. Nam vir Constantinus egregius imperator, ex revelatione divina per beatum Silvestrum fuit a lepra in baptismo mundatus, Urbem pariter et senatum cum hominibus et dignitatibus suis, et omne regnum Occidentis ei tradidit et dimisit, secedens et ipse Byzantium, et regnum sibi retinens Orientis. Coronam vero capitis sui voluit illi conferre : sed ipse pro reverentia clericalis coronae, vel magis humilitatis causa, noluit illam portare ; verumtamen pro diademate regio utitur aurifrigio circulari. Ex auctoritate pontificali constituit patriarchas, primates, metropolitanos, et praesules ; ex potestate vero regali, senatores, praefectos, judices et tabelliones instituit. Romanus itaque pontifex in signum imperii utitur regno, et in signum pontificii utitur mitra […]. Petro vero fuit dictum a Domino, et in Petro successoribus Petri : »Tibi dabo claves regni coelorum : et quodcunque ligaveris super terram, erit ligatum et in coelis : et quodcunque solveris super terram, erit solutum et in coelis (Matth XVI).« Nihil excepit qui dixit : »Quodcunque.« Propter quod alibi dixit : »Pasce oves meas ( Joan XXI),« non distinguens inter has oves et illas : ut ostenderet ad oves suas minime pertinere, qui Petrum recusat habere pastorem. Ei quoque singulariter dixit : »Tu vocaberis Cephas ( Joan I),« quod exponitur caput, in quo sensuum plenitudo consistit ; quia cum caeteri vocati sint in partem sollicitudinis, solus Petrus assumptus est in plenitudinem potestatis. Fuit ergo beatus Sylvester successor Petri, vicarius Jesu Christi. Innozenz III.: Sermones de sanctis. Sermo VII : In festo d. Silvestri
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Die Stellung und der Rang des Papstes im Verständnis von Innozenz III. treten hier in aller Kürze vollständig ins Licht. Als successor Petri ist er zugleich – und erstmals Innozenz III. wählt für den Papst diese Titulatur – der vicarius Jesu Christi,71 der Stellvertreter des rex regum und dominus dominantium, dem die Schlüsselgewalt und die plenitudo potestatis in der Kirche übertragen sind. Er erscheint als höchster Priester (sacerdos maximus), der die erhabenste priesterliche und königliche Macht besitzt, dem Konstantin in der Person des heiligen Silvester die Herrschaft über Rom und den Westen des römischen Reichs überlassen hat und der über die auctoritas pontifica lis wie die potestas regalis verfügt, was in der Mitra als signum pontificii und der Tiara (regnum) als signum imperii sichtbar zum Ausdruck kommt. Was Innozenz in dieser Predigt anspricht und anklingen lässt, brachte auch das Apsismosaik in St. Peter vor Augen. Um dessen genaueres inhaltliches Verständnis muss es nun gehen.
4.
Bereits die aus dem vierten Jahrhundert übernommene Darstellung der beiden Apo stelfürsten beinhaltet eine spezifische Kennzeichnung von Rom als dem Sitz des römischen Bischofs. Seine (der Tradition verpflichtete) Rom-Idee entwickelt Innozenz III. in einer Predigt über Lk 5,3–6, über die Berufung der ersten Jünger – Petrus und Andreas, Jakobus d. Ä. und Johannes – und den voraufgehenden wunderbaren Fischzug. Hinsichtlich der an Petrus gerichteten Aufforderung Christi : Duc in altum – das heißt, weiter draußen auf dem See Gennesaret noch einmal die Netze auszuwerfen – erklärt Innozenz (indem er altus im ursprünglichen Sinne von ›hoch‹ auslegt) : ›»Fahre hinauf« (in altum – in die Höhe) meint Rom, das den Vorrang und die Obergewalt (primatum et principatum) über den gesamten Erdkreis innehatte und innehat ; pontificis maximi. In : Patrologia latina (Anm. 22), Bd. 214, Sp. 481–484, hier Sp. 481B–482C. Zu dieser Predigt s. Friedrich Kempf S. I.: Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III. Die geistigen und rechtlichen Grundlagen seiner Thronstreitpolitik. Rom 1954 (Miscellanea Historiae Pontificiae 19), S. 291–294, zur potestas regalis ebd., S. 296–310. 71 Thomas Frenz : Das Papsttum im Mittelalter. Köln u.a. 2010, S. 113. Eingehend dazu Michele Maccarrone : Vicarius Christi. Storia del titolo papale. Rom 1952 (Lateranum, Nova Series 18), bes. S. 100–118. Maccarrone betont, dass schon vor Innozenz III. etwa Eugen III. (1145–1153) von sich als nos, qui licet indigni »Christi vices in terris agimus« (S. 100), sprechen konnte und dass in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts verschiedentlich der Papst als vicarius Christi bezeichnet wurde. »L’elaborazione dottrinale di vicarius Christi nel secolo XII e la fissazione del termine come titolo papale compiutasi in quel periodo, provano chiaramente che Innocenzo III († 1216) non fece cosa nuova assumendo il titolo stesso […]. L’attribuzione al papa era ormai comune.« Ebd., S. 109. S. a. Herklotz 2002 (Anm. 1), S. 280.
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dieses [Rom] wollte die göttliche Gnade in solchem Maße erhöhen, dass es, während es in Zeiten des Heidentums allein die Herrschaft über alle Völker hatte, in Zeiten des Christentums allein die Leitung über alle Gläubigen haben sollte.‹
Würdig und angemessen habe daher die göttliche Vorsehung dafür gesorgt, ›dass jener, der der Fürst der Kirche (princeps Ecclesiae) war, seinen Sitz bei dieser Stadt einrichtete, die die Obergewalt über den Erdkreis innehatte. […] Siehe, klar geht daraus hervor, wie sehr Gott diese Stadt geliebt hat, so dass sie priesterlich und königlich, kaiserlich und apostolisch sei und nicht allein die Herrschaft über die Leiber, sondern sogar die Leitung der Seelen innehabe und ausübe, und zwar weit größer und würdiger nun durch die göttliche Autorität als vormals durch die irdische Macht, indem sie von jener die Schlüssel des Himmelreichs, von dieser die Regierung der Welt hat, damit nicht die Ehre so großer Würde oder vielmehr die Würde so großer Ehren an irgendeine andere Stadt, aus welchem Grund auch immer, übergehe, sondern in dieser Stadt der Bestimmung gemäß durch dauerndes Gesetz bleibe.‹
Denn nun hat in Rom auch Petrus sein Martyrium erlitten. ›Aber als Gefährten hatte er den hochheiligen Paulus. Daher wird im Singular vorausgeschickt : »Fahre hinauf«, im Plural [aber] hinzugesetzt : »Und werft eure Netze zum Fang aus«, weil allein Petrus als Fürst der gesamten Kirche (universalis princeps Ecclesiae) zur Höhe (in altitudinem) des obersten geistlichen Amtes aufstieg, aber mit Paulus [zusammen] die Netze der Predigt in der Stadt auswarf, um Menschen zu fangen. Und man glaubt, dass nicht ohne göttliche Vorsehung dafür gesorgt worden ist, dass dort, wo zwei leibliche Brüder, Remus und Romulus, die diese Stadt materiell gegründet haben, in ehrenvollen Gräbern bestattet liegen, zwei Brüder im Glauben, Petrus und Paulus, die diese Stadt in geistlicher Hinsicht gegründet haben, in ruhmvollen Basiliken bestattet ruhen : Petrus an der Stelle, wo Romulus begraben, und Paulus an der Stelle, wo Remus bestattet ist, damit sie die Stadt durch ihr Patrozinium schützen. […] Zusammen haben die hochheiligen Petrus und Paulus mithin zum Fang die Netze ausgeworfen, durch deren Predigt Rom bekehrt worden ist vom Irrtum zur Wahrheit, von den Lastern zur Tugend. Alle heiligen Apostel insgesamt muss Rom verehren, doch diese beiden als die ersten und vornehmsten, als seine Väter und Patrone muss es [Rom] insbesondere und hauptsächlich ehren, damit es durch ihre Verdienste und Fürbitten, so wie es jetzt heilsam bewahrt wird auf Erden, schließlich glücklich gekrönt werde im Himmel.‹72 72 Altitudo maris istius, de qua Christus inquit ad Petrum : Duc in altum, est Roma, quae primatum et prin cipatum super universum saeculum obtinebat et obtinet ; quam in tantum divina dignatio voluit exaltare, ut
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Das Verständnis von Petrus und Paulus als den zweiten, geistlichen Fundatoren von Rom und die doppelte Apostolizität als Begründung für den Primat der römischen Kirche sind überkommene Topoi ;73 entscheidend ist jedoch, dass und wie Innozenz III. sie zur Sprache bringt. In diesem Lichte wird deutlich, wie die gemeinsame Darstellung von Petrus und Paulus zu den Seiten Christi im Apsismosaik von St. Peter von Innozenz verstanden werden wollte. Die beiden Apostelfürsten als die zweiten Gründer und vornehmsten Schutzpatrone Roms erscheinen hier vor dem himmlischen Thron Christi. Dabei unterscheidet Innozenz in seiner Predigt nachdrücklich zwischen Paulus als dem Mitbegründer des geistlichen Rom, der gemeinsam mit Petrus hier gepredigt hat, und der singulären Stellung von Petrus als univer salis princeps Ecclesiae, durch dessen sedes in Rom der absolute Vorrang des römischen Bischofsstuhls begründet ist. Unübersehbar markiert diesen Unterschied auch das Apsismosaik. Allerdings fand sich, wenn die Gesetzesübergabe dargestellt war, eine Hervorhebung des Petrus schon zuvor. Anders aber stellt Innozenz in jedem Fall den Apostel heraus durch das Spruchband und den darauf zu beziehenden prononcierten Redegestus. Gegenüber dem Wort des Paulus – Mihi vivere Christus est [et mori cum tempore paganitatis sola dominum super omnes gentiles habuerit, Christianitatis tempore sola magis terium super fideles habeat universos. Dignum ergo Deus providit et congruum, sed et congruum providit et dignum ; ut ille qui erat princeps Ecclesiae, sedem constitueret apud urbem, quae tenebat saeculi principatum […]. Ecce liquido patet, quantum Deus urbem istam dilexerit, ut eadem esset sacerdotalis et regia, imperialis et apostolica, obtinens et exercens non solum dominium super corpora, verum etiam magisterium super animas. Longe nunc major et dignior auctoritate divina, quam olim potestate terrena. Per illam habens claves regni coelorum, per istam orbis terrarum regens habenas. Ne vero tantae dignitatis honor, vel potius tanti honoris dignitas ad aliam civitatem quacunque ratione transiret, sed in hac urbe juxta dispositionem perpetua lege maneret. […] Habuit [Petrus] autem socium beatissimum Paulum. Unde cum singulariter praemittitur : Duc in altum, pluraliter subditur : Et laxate retia in capturam, quia solus Petrus tanquam universalis princeps Ecclesiae in altitudinem supremae praelationis ascendit, sed ipse cum Paulo retia praedicationis ad capiendos homines in urbe laxavit. Et quidem non sine divina providentia creditur dispensatum, ut ubi duo fratres secundum carnem, Remus et Romulus, qui urbem istam corporaliter condiderunt, honorabilibus jacent tu mulati sepulcris, ibi duo fratres secundum fidem, Petrus et Paulus, qui urbem istam spiritualiter fundaverunt, gloriosis requiescant basilicis tumulati : Petrus ab ea parte ubi sepultus est Romulus, et Paulus ab illa ubi Re mus est tumulatus ; ut hinc inde locati, civitatem istam suis patrociniis tueantur. […] Haec ergo retia beatissimi Petrus et Paulus laxaverunt pariter in capturam ; per quorum praedicationem Roma conversa est ab errore ad veritatem, a vitiis ad virtutes. Omnes ergo beatos apostolos Roma debet communiter venerari, sed hos duos quasi primos et praecipuos, quasi patres et patronos ipsius debet specialiter et principaliter honorare ; quatenus meritis et precibus eorum adjuta, ita nunc salubriter conservetur in terris, ut tandem feliciter coronetur in coelis. Innozenz III.: Sermones de sanctis. Sermo XXII : In solemnitate d. apostolorum Petri et Pauli. In : Patrologia latina (Anm. 22), Bd. 217, Sp. 555–558, hier Sp. 556C–557C und Sp. 558B–C. 73 S. dazu Herklotz 2002 (Anm. 1), S. 275 f., mit weiterer Literatur ; s. a. oben Anm. 11. Zudem Wisskirchen/Heid (Anm. 51), S. 158 ; Ursula Nilgen : Filaretes Bronzetür von St. Peter in Rom. Ein päpstliches Bildprogramm des 15. Jahrhunderts. In : Jahrbuch des Vereins für christliche Kunst in München 17 (1988), S. 351–376, hier S. 370.
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lucrum – ›und sterben ein Gewinn‹], womit vielleicht dessen Martyrium in Rom anklingen soll – ist bei Petrus das zitierte Messiasbekenntnis (Mt 16,16) – auf das die Übertragung der Schlüsselgewalt folgt – von zentraler Bedeutung für dessen herausgehobene Position. Immer wieder kommt Innozenz III., nicht zuletzt in seinen Predigten, auf dieses Bekenntnis von Petrus zu sprechen, und immer wieder auch werden die verschiedenen Aspekte von dessen Vorrang unter den Aposteln entwickelt. In einer Predigt in festo Beati Petri heißt es, dass zwar alle Apostel geehrt werden sollen, doch ›vornehmlich hat der Apostel Petrus verdient, geehrt zu werden wegen des Glaubens ( fides) und der Liebe (charitas), die in ihm hauptsächlich hervorleuchteten. Denn wegen des Verdienstes eines überaus festen Glaubens gestand der Herr ihm die Schlüssel zu, und wegen des Verdienstes einer überaus brennenden Liebe vertraute er ihm die Schafe an. Vor dem Zugeständnis der Schlüssel befragte der Herr ihn hinsichtlich des Glaubens : »Ihr«, sprach er, »wer sagt ihr, dass ich sei ?« Simon Petrus antwortete und sprach : »Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.« Jesus aber antwortete und sprach : »Selig bist du, Simon Barjona,« etc. »Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben« (Mt 16,19). Vor der Anvertrauung der Schafe befragte er ihn hinsichtlich der Liebe : »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese ?« Er antwortete ihm : »Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe« etc. bis »weide meine Schafe« ( Joh 21,15–17). Insbesondere nach diesen Tugenden fragte er, weil unter den Tugenden (virtutes) der Glaube die erste und die Liebe die vorzüglichste ist ; der Glaube ist das Fundament und die Liebe das Dach ; jene steht am Anfang, diese ist die Vollendung.‹74
Über diesen Glauben des Petrus wird weiter erklärt : ›Dieser wahre und heilige Glaube ist nicht aus menschlicher Erfindung hervorgegangen, sondern aus göttlicher Offenbarung. Darum erwiderte Christus und sprach : »Selig bist du, Simon Barjona, denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein 74 [P]raecipue beatissimus Petrus apostolus honorari promeruit, proper fidem et charitatem quae in eo prin cipaliter claruerunt. Nam propter meritum constantissimae fidei Dominus sibi concessit claves, et propter meritum ferventissimae charitatis Dominus sibi commisit oves. Ante concessionem clavium Dominus inter rogavit de fide : »Vos, inquit, quem me esse dicitis ? Respondens Simon Petrus dixit : Tu es Christus Filius Dei vivi. Respondens autem Jesus dixit ei : Beatus es, Simon Bar-Jona, etc. Tibi dabo claves regni coelorum (Matth XVI).« Ante commissionem ovium interrogavit de charitate : Simon Joannis, diligis me plus his ? Dicit ei : Etiam, Domine, tu scis quia amo te, etc., usque pasce oves meas. De his autem virtutibus spe cialiter requisivit, quia inter virtutes fides est prima, et charitas est praecipua ; fides est fundamentum, et charitas est tectum ; illa inchoat, et ista consummat. Innozenz III.: Sermones de sanctis. Sermo XX : In festo Beati Petri. In : Patrologia latina (Anm. 22), Bd. 214, Sp. 543–548, hier Sp. 543B–D.
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Vater, der im Himmel ist« (Mt 16,17). Auf diesen Glauben ist die Kirche als auf einen Felsen gegründet, deshalb fügte der Herr hinzu : »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen« (Mt 16,18). Diese Würde ist auf zweierlei bezogen, weil nämlich der hochheilige Petrus sowohl das Fundament wie das Haupt der Kirche ist. […] [A]llein ihm wird vom Herrn gesagt : »Du sollst Kephas heißen« ( Joh 1,42). Unter ›Kephas‹ kann nämlich in der einen Sprache ›Petrus‹ (Fels) verstanden, in der anderen damit das Haupt bezeichnet werden. Denn wie die Vollzahl der Sinne im Haupt ihren Sitz hat, in den anderen Körperteilen aber [nur] ein Teil der Vollzahl, so sind die anderen [Apostel] in einen Teil der Verantwortung berufen worden (pars sollicitudinis), allein Petrus aber ist erhoben worden zur Vollgewalt (plenitudo potestatis). Als daher der Herr zu allen Aposteln zugleich sprach, sagte er [an alle gerichtet] im Allgemeinen : »Denen ihr die Sünden erlassen werdet, denen sind sie erlassen« ( Joh 20,23). Als er aber allein zu Petrus sprach, sagte er im Besonderen : »Was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein« (Mt 16,19), weil Petrus die Übrigen binden kann, aber [selbst] nicht gebunden werden kann von den Übrigen als erster und oberster Leiter und Fürst der Kirche (primus et summus magister et princeps Ecclesiae).‹75
Deutlich wird hier, wie Innozenz von dem Messiasbekenntnis des Petrus – als Ausdruck eines unerschütterlichen Glaubens ( fides) – ausgehend den Primat des Apostels und 75 Haec vera fides et sancta, non de figmento processit humano, sed de revelatione divina. Unde Christus intulit, dicens : Beatus es, Simon Bar-Jona, quia caro et sanguis non revelavit tibi, sed Pater meus qui est in coelis. Super hanc fidem Ecclesia est in petra fundata, proper quod Dominus addidit : Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo Ecclesiam meam. Dignitas haec in duobus attenditur, quia scilicet beatissmus Petrus et fundamentum est et caput Ecclesiae. […] [Petro] singulariter a Domino dicitur : »Tu vocaberis Cephas ( Joan I).« Cephas enim licet secundum unam linguam interpretatur Petrus, secundum aliam tamen dicitur caput. Quia, sicut plenitudo sensuum consistit in capite, in caeteris autem membris pars est aliqua plenitudi nis ; ita caeteri vocati sunt in partem sollicitudinis, solus autem Petrus assumptus est in plenitudinem potesta tis. Unde cum Dominus omnibus simul apostolis loqueretur, universaliter ait : »Quorum remiseritis peccata, remittuntur eis ( Joan XX).« Cum autem soli Petro locutus est, particulariter dixit : Quocunque ligaveris super terram, erit ligatum et in coelis ; quia Petrus potest ligare caeteros, sed non ligari potest a caeteris, utpote primus et summus magister et princeps Ecclesiae. Innozenz III.: Sermones de sanctis. Sermo XXI : In solemnitate d. apostolorum Petri et Pauli. In : Patrologia latina (Anm. 22), Bd. 217, Sp. 547–556, hier Sp. 552B–D. Zur »Umschreibung der päpstlichen Vorrangstellung« und der plenitudo potestatis mit dem Begriff caput – wie sie seit dem fünften Jahrhundert nachweisbar ist – im Hinblick auf Innozenz III. s. Imkamp (Anm. 69), S. 278–289 (Zitat S. 278). »Diese Interpretation von Cephas, die auf dem Gleichklang mit dem griechischen ϰεφαλή basiert, ist erstmals für Optatus von Milet nachgewiesen und wurde durch die Vermittlung des Isidor von Sevilla und ihre Aufnahme ins Decretum [Gratiani] so verbreitet, daß sie im 12. Jahrhundert zum exegetischen Allgemeingut geworden war.« Ebd., S. 279 f. Pace (Anm. 27), S. 1230, erklärt angesichts der Benennung von Petrus und Paulus in Latein und Griechisch, dass der Primatsanspruch des Papstes bzw. der »messaggio« des Apsismosaiks »era indirizzato non solo ai fedeli dell’urbe o dell’occidente latino, ma anche a quelli di lingua greca.«
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seine Stellung als caput der Kirche, das heißt seine Schlüsselgewalt und plenitudo potes tatis, entwickelt. Über diese potestas des Apostels heißt es später, sie sei ihm übergeben worden vor allem in zweierlei, ›nämlich für die Lossprechung von Sünden und für das Wirken von Wundern. […] [D]enn es gibt Sünden, bei denen die Absolution allein Petrus vorbehalten ist. Er ist es, der eine so große Macht besaß, Wunder zu wirken.‹76 Genauer wird die Schlüsselgewalt erläutert. Zwei Schlüssel seien Petrus wegen seines ›im höchsten Grade hervorstechenden Glaubens, der in dem einen Christus die zwei Naturen wahrhaft erkannt hat, anvertraut worden. […] Der erste Schlüssel ist zu verstehen als die Einsicht, zu unterscheiden und ein Urteil zu fällen, der zweite als die Binde- und Lösegewalt.‹77 Das obere Register des Apsismosaiks veranschaulicht danach mit den beiden Apostelfürsten die vorzügliche Stellung Roms aufgrund der doppelten Apostolizität seiner geistlichen Gründung ; mit Petrus und seinem im Spruchband lesbaren Messiasbekenntnis als Zeugnis eines von Gott empfangenen Glaubens – und mit den beiden Schlüsseln, die er (bereits) hält – wird hingegen der primus et summus magister et princeps Ecclesiae – samt den aus den Predigten von Innozenz III. erkennbaren vielfältigen und weitreichenden Implikationen – vor Augen gestellt. Das erste Distichon der Inschrift macht dabei klar, dass die summa sedes Petri, des princeps Ecclesiae, eben diese sacra aedes, St. Peter, ist. Aufgrund seines Glaubens erhält Petrus die Schlüsselgewalt, aufgrund seiner Liebe (charitas) zu Christus, die er dreimal bekennt, werden ihm die Schafe – als die Gemeinschaft der Gläubigen – anvertraut. Diese, neben der fides als prima virtus, nach Innozenz praecipua virtus der charitas und das Hirtenamt Petri werden mit dem Lämmerfries im unteren Register verbildlicht. Mit den aus Jerusalem und Betlehem kommenden Lämmern (bzw. Schafen) sind die Juden- und Heidenkirche gemeint, das heißt die Gläubigen der ecclesia universalis,78 die zu Christus als dem Agnus Dei streben. Petrus sind sie vom Herrn anvertraut worden, Innozenz III. als successor Petri und die Ecclesia Romana, deren sedes Petrus als seine summa sedes begründet hat, flankieren das Agnus Dei und stehen damit zwischen Christus und den Gläubigen. Mit Hilfe von zwei einander ergänzenden Metaphern lässt sich diese Konfiguration und Konzeption verstehen. 76 Potestas autem in duobus maxime commendatur, videlicet in absolutione peccatorum, et operatione mira culorum. […] nam et sunt quaedam peccata, quorum absolutio soli Petro est reservata. Hic est qui tanta virtute pollebat ad facienda miracula (Act. III, IV). Innozenz III.: Sermo XXI (Anm. 75), Sp. 553C–D. 77 [Q]uae uni Petro duas claves commisit, propter illam excellentissimam fidem, quae in uno Christo duas naturas veraciter recognovit. […] Et quidem prima clavis intelligitur scientia discernendi et dijudicandi, secunda clavis intelligitur potentia ligandi et absolvendi. Ebd., Sp. 554A. 78 Zur ecclesia universalis im Verständnis von Innozenz III. s. Kempf (Anm. 70), S. 280–313. Sie bedeutet, heißt es hier, »für Innocenz immer nur die Kirche im eigentlichen Sinn des Wortes, der die sedes apostolica, cunctorum mater et magistra, als ihr caput et fundamentum vorsteht« (S. 287). Zudem Imkamp (Anm. 69), S. 191 f.
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In einer Predigt in consecratione pontificis maximi behandelt Innozenz III. das Gleichnis vom treuen und schlechten Knecht (Mt 24,45–51), oder genauer : den ersten Vers : Quis putas est fidelis servus et prudens, quem constituit Dominus super fa miliam suam, ut det eis cibum in tempore ?79 ›Wer, meinst du, ist der treue und kluge Knecht, den der Herr setzt über sein Gesinde, dass er ihnen Speise gebe zur rechten Zeit ?‹ Der Herr nun ist ›nicht irgendeiner, sondern jener, auf dessen Gewand und Hüfte geschrieben steht : »König der Könige und Herr der Herren« (Offb 19,16). […] [D]urch ihn selbst ist der Primat des Apostolischen Stuhls eingerichtet, damit keine Kühnheit seiner Einrichtung sich widersetze. Entsprechend bezeugt er selbst : »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.«‹80
In der Folge erscheint endlich Innozenz als ›jener Knecht, den Gott setzt über sein Gesinde‹, ›ausdrücklich als Knecht und durchaus als Knecht der Knechte‹.81 Aber als dieser Knecht ist er doch auch der, der ›über Königen‹ sitzt (excellentior regibus) und den ›Thron der Herrlichkeit‹ (solium gloriae) innehat. ›Mir auch‹, so erklärt Innozenz, ›wird in dem Apostel gesagt : »Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben, und was du auf Erden binden wirst, wird gebunden sein im Himmel« […]. Nun seht ihr, wer dieser Knecht ist, der über das Gesinde gesetzt ist, in der Tat der Stellvertreter Jesu Christi, der Nachfolger Petri, der Gesalbte des Herrn, der Gott Pharaos, in die Mitte gestellt zwischen Gott und den Menschen, unter Gott, aber über dem Menschen, weniger als Gott, aber mehr als ein Mensch, der über alle urteilt und über den von niemandem zu urteilen ist.‹82
Weiter :
79 Innozenz III.: Sermones de diversis. Sermo II : In consecratione pontificis maximi. In : Patrologia latina (Anm. 22), Bd. 217, Sp. 653–660, hier Sp. 653D. 80 Dominus ergo non quilibet, sed ille, qui in vestimento et in femore suo scriptum habet : »Rex regum et Dominus dominantium (Apoc XIX),« […] : per se ipsum apostolicae sedis primatum constituit, ut ejus constitutioni nulla possit audacia refragari. Juxta quod ipse testatur : »Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo Ecclesiam meam.« Ebd., Sp. 654D. 81 Ego namque sum servus ille, quem Deus constituit super familiam suam […]. Plane servus et utique servus servorum. Ebd., Sp. 655C. 82 Mihi quoque dicitur in Apostolo : »Tibi dabo claves regni coelorum, et quodcunque ligaveris super terram, erit ligatum et in coelis, etc. (Matth XVI).« […]. Jam ergo videtis quis iste servus, qui super familiam constituitur, profecto vicarius Jesu Christi, successor Petri, Christus Domini, Deus Pharaonis : inter Deum et hominem medius constitutus, citra Deum, sed ultra hominem : minor Deo, sed major homine : qui de omnibus judicat, et a nemine judicatur. Ebd., Sp. 657D–658A ; s. dazu Kempf (Anm. 70), S. 280–323.
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›Aber alle und ganz und gar, die zum Gesinde des Herrn gehören, sind unter seine [des Knechts] Aufsicht (cura) gestellt ; es wird nämlich weder unterschieden zwischen diesem und jenem Gesinde noch im Plural gesagt : »über die Gesinde«, als vielen, sondern im Singular wird gesagt : »über das Gesinde«, als eines, damit es eine Herde und einen Hirten gebe ( Joh 10,16).‹83
Dieses Bild des servus, ja servus servorum, und successor Petri, des vicarius Jesu Christi, inter Deum et hominem medius constitutus, lässt sich in dem Apsismosaik erkennen. Zwischen Christus, dem Agnus Dei, und den Gläubigen – dem »Gesinde« –, und das heißt als Mittler, aber auch citra Deum sed ultra hominem, erscheint Innozenz III., und geradezu auch spricht die Inschrift darunter von demjenigen, der devotus Christo […] servit. Damit klingt nicht nur der seit Gregor dem Großen gebräuchliche Titel des Papstes als servus servorum Dei an,84 sondern auch servus ille, quem Deus constituit super familiam suam,85 als der Innozenz sich vorstellt. Und zu sehen ist ebenso – mit der Juden- und Heidenkirche – unum ovile, die unus pastor zu Christus leitet. Was es genauer mit der einen Herde und dem einen Hirten auf sich hat, erhellt deutlich aus einem Schreiben von Innozenz an den englischen König Johann ohne Land. Christus als ›König und Priester nach der Ordnung des Melchisedech‹, heißt es, habe ›einen einzigen allen vorgesetzt, seinen Stellvertreter hier auf Erden, damit ähnlich, wie vor ihm selbst jedes Knie sich beugt im Himmel, auf Erden und in der Unterwelt, alle seinem Vikar gehorchen und willfahren und so ein Hirt und eine Herde sei. Daher verehren diesen die Könige der Welt Gottes wegen in dem Masse, dass sie nicht nach der Ordnung zu regieren meinen [sollen], wenn sie sich nicht bemühen, ihm ehrfürchtig zu dienen.‹86
In diesem Sinne hat man die Lämmerzüge als Bild der ecclesia universalis zu begreifen, die dem einen vicarius Jesu Christi, Innozenz III. hier, unterstellt sind.
83 At omnes omnino qui sunt de familia Domini, sub ejus cura constituti sunt ; non enim distinguit inter hanc atque illam familiam, nec pluraliter dicitur : Super familias, tanquam multas : sed singulariter dicitur : Super familiam, tanquam unam, ut sit unum ovile et unus pastor ( Joan X). Innozenz III.: Sermo II (Anm. 79), Sp. 658C. 84 Vgl. Frenz (Anm. 71), S. 113. 85 S. o. Anm. 81. 86 Jesus Christus, sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedech, […] unum praeficiens universis, quem suum in terris vicarium ordinavit ; ut sicut ei flectitur omne genu coelestium, terrestrium, et etiam infernorum, ita illi omnes obediant et intendant, ut sit unum ovile et unus pastor. Hunc itaque reges sae culi propter Deum adeo venerantur ut non reputent se rite regnare nisi studeant ei devote servire. Innozenz III.: Regesta sive epistulae, Liber XVI, 131 (6.11.1213). In : Patrologia latina (Anm. 22), Bd. 216, Sp. 923D–924D, hier Sp. 923D–924A ; Übers. zit. nach Kempf (Anm. 70), S. 289.
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Die Pontifikalgewänder und zumal das Pallium kennzeichnen dabei, wie erwähnt, den obersten Priester ; die Tiara bezeichnet dagegen als signum imperii, das Silvester vermeintlich von Konstantin empfangen hatte, die potestas regalis des Papstes.87 Die Darstellung Christi als Opferlamm und der Verweis auf das Messopfer können verstanden werden, wenn Innozenz in seiner Predigt auf die ›Speise‹ zu sprechen kommt, die der Knecht dem Gesinde ›zur rechten Zeit‹ geben soll, bzw. wenn es darum geht, dass die Schafe auf die Weide zu führen sind. ›Speise zu geben, ist nämlich zu verstehen als [Speise] des Beispiels, des Wortes und des Sakraments. Als ob man sagt : Weide sie durch das Beispiel des Lebens, durch das Wort der Lehre, durch das Sakrament der Eucharistie.‹88 Im Hinblick auf die dritte Form der Speise setzt Innozenz, nun in der ersten Person, hinzu : ›Dem Gesinde auch die Speise des Sakraments zu geben, bin ich gehalten, dass es durch den das Leben empfange und durch den dem Tod entgehe, der selbst spricht : »Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist ; wer von diesem Brot gegessen hat, lebt in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, mein Fleisch, ist für das Leben der Welt. […]« ( Joh 6,51).‹89
Hinsichtlich der ikonographischen Tradition von (Selbst-)Darstellungen des Papstes in der Apsis verweist bereits Krautheimer auf wesentliche Neuerungen. In älteren Apsisbildern, wie in SS. Cosma e Damiano oder S. Maria in Trastevere, steht der Papst neben den Apostelfürsten, »ein Bewohner des himmlischen Reichs, der durch diese Vermittler Einlaß gefunden hatte in die Gegenwart Gottes« ; oder er kniet, »wie in S. Maria in Domnica, inmitten der himmlischen Heerscharen zu Füßen der Muttergottes«. Mit der Ecclesia Romana nehme Innozenz III. dagegen »einen davon getrennten Raum ein : denjenigen der Welt […]. Auch ist Innozenz nicht durch ein Modell der Kirche in seinen Händen als der Stifter gekennzeichnet, wie dies üblich gewesen war. Eher ist er der Papst überhaupt.«90 Man könnte auch sagen : In seiner 87 S. o. Anm. 70. 88 Pastura gregis, cum dicitur : Ut det illi cibum. Cibum dare tenetur, videlicet exempli, verbi, sacramenti. Quasi dicat : Pasce exemplo vitae, verbo doctrinae, sacramento eucharistiae. Innozenz III.: Sermo II (Anm. 79), Sp. 659A. 89 Cibum quoque sacramenti teneor dare familiae, ut in eo vitam accipiat, et ex eo mortem evadat, ipso dicente : »Ego sum panis vivus, qui de coelo descendi : si quis manducaverit ex hoc pane, vivet in aeternum. Et panis quem ego dabo, caro mea est pro mundi vita. […] ( Joan VI).« Ebd., Sp. 659D–660A ; s. dazu Michele Maccarrone : Innocenzo III teologo dell’Eucarestia. In : Ders.: Studi su Innocenzo III. Padua 1972 (Italia sacra 17), S. 339–431. 90 Krautheimer (Anm. 8), S. 229. Ähnlich erklärt Iacobini (Anm. 23), S. 126 : »Due sono le grosse novità che ne conseguono per la figura papale rispetto all’inveterata tradizione delle absidi romane. Da una parte il pontefice si trova ad assumere un’inedita posizione di centralità, che scavalca il ruolo,
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Person tritt ›an und für sich‹ und grundsätzlich die Stellung des Papstes zwischen Himmel und Erde vor Augen. Von der Personifikation der Ecclesia Romana ist noch nicht die Rede gewesen ; deren Verständnis erhellt aus einer zweiten Predigt in consecratione pontificis, die auch den gesamten unteren Bildstreifen des Mosaiks in einem nochmals anderen Licht zu sehen lehrt. Im Zentrum dieser Predigt steht der Vers : Qui habet sponsam, sponsus est. Amicus autem sponsi, qui stat et audit eum, gaudio gaudet propter vocem sponsi ( Joh 1,29).91 ›Wer die Braut hat, ist der Bräutigam. Der Freund des Bräutigams aber, der dabei steht und ihn hört, freut sich mit [innerer] Freude wegen der Stimme des Bräutigams.‹ Ohne Umschweife erklärt Innozenz zunächst, der Bräutigam sei Christus und die Braut, die er hat, die Kirche.92 Als Freund des Bräutigams beschreibt er sich danach, auch als Nachfolger des Petrus. Dann folgt die Wendung : ›Bin nicht ich der Bräutigam und [ist nicht] jeder von euch der Freund des Bräutigams ? Durchaus. Der Bräutigam, weil ich die vornehme, prächtige und erhabene, geschmückte, keusche, liebliche, hochheilige römische Kirche besitze, die, nach der Verfügung Gottes, die Mutter und Lehrmeisterin aller Gläubigen ist. […] Hauptsächlich drei sind aber die Güter des [geistlichen] Ehebunds [mit dieser Braut] : der Glaube, Nachkommen und das Sakrament. Der Glaube wird zurückgeführt auf die Keuschheit, die Nachkommenschaft auf die Fruchtbarkeit, das Sakrament auf die Festigkeit. Soviel Glauben [bzw. Treue] haben sich nämlich der römische Pontifex und die römische Kirche stets bewahrt, dass ihnen passend zugemessen werden kann, was die Wahrheit [Christus] im Evangelium sagt : »Ich kenne meine Schafe, und meine [Schafe] kennen mich« ( Joh 10,14). […] So hat der römische Pontifex als Braut die römische Kirche, die ihm jedoch die ihr unterstellten Kirchen zuführt, dass sie von ihm die schuldige Fürsorge empfangen, weil umso mehr zurückgegeben wird, je mehr geschuldet wird. […] Aber diese Braut heiratet nicht mittellos, sondern als Mitgift schenkt sie mir ohne Kosten die kostbare Fülle der geistlichen und Weite der zeitlichen Herrschaft, von beiden die [ganze] Größe und Menge. Denn die übrigen [Apostel] sind in einen Teil der Verantwortung berufen worden, allein Petrus aber ist erhoben worden in die Vollgewalt. Zum Zeichen der geistlichen [Gewalt] hat sie [die römische Kirche] mir die Mitra verliehen, zum Zeichen der zeitlichen [Gewalt] die Krone gegeben ; die Mitra für das Priestertum, die Krone für die Königs in fondo collaterale, di donatore che gli veniva di norma attribuito. Dall’altro, svincolandosi dalla dimensione individuale legata alla committenza, egli assume un valore paradigmatico, cui dà conferma l’abbinamento alla personificazione eretta e trionfale dell’Ecclesia.« 91 Innozenz III.: Sermones de diversis. Sermo III : In consecratione pontificis. In : Patrologia latina (Anm. 22), Bd. 217, Sp. 659–666, hier Sp. 659D. 92 Sponsus enim est Christus, et sponsa quam habet Ecclesia. Ebd., Sp. 660D ; s. dazu Imkamp (Anm. 69), S. 203–272.
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herrschaft desjenigen, der mich zum Stellvertreter einsetzt, auf dessen Gewand und Hüfte geschrieben steht : »König der Könige und Herr der Herren« (Offb 19,16).‹93
Auch diese Ausführungen sind ohne Mühe auf das Apsisbild zu beziehen. Als Braut und Bräutigam lassen sich Innozenz III. und die Ecclesia Romana verstehen ; dabei zeigt die Kirche, die ein mit Edelsteinen, Perlen und Pendilien verziertes Diadem auf dem Haupt und (vielleicht) eine Chlamys um die Schultern trägt, in ihrem vexillum die beiden Schlüssel als Zeichen der Binde- und Lösegewalt, mit der sich die plenitudo potestatis verknüpft. Auf derselben Seite, auf der im oberen Register Petrus mit dem Bekenntnis seines Glaubens und den als Lohn dafür empfangenen Schlüsseln steht, erscheint im unteren Bildstreifen die Ecclesia Romana, die die nach göttlichem Willen von Petrus als princeps Ecclesiae eingerichtete sedes verkörpert. Als sponsa des Pontifex hat sie, die selbst im kaiserlichen Ornat auftritt, ihm, dem vicarius Jesu Christi, beim conjugium spirituale nicht nur die geistliche Vollgewalt, sondern auch – sichtbar in der Tiara, dem regnum, als signum imperii – die universale weltliche Herrschaft als Mitgift geschenkt.94 Als cunctarum fidelium mater führt sie ihm außerdem die Schafe als die Gläubigen bzw. Ecclesias sibi subjectas, die ihr unterstellten Kirchen, zu. 93 An non ego sponsus sum, et quilibet vestrum amicus sponsi ? Utique. Sponsus, quia habeo nobilem, divi tem, et sublimem, decoram, castam, gratiosam, sacrosanctam, Romanam Ecclesiam : quae, disponente Deo, cunctorum fidelium mater est et magistra. […] Tria vero principaliter sunt bona conjugii, fides, proles, et sacramentum. Fides ad castitatem, proles ad fecunditatem, sacramentum ad stabilitatem refertur. Tantam enim fidem Romanus pontifex et Romana Ecclesia sibi semper invicem servaverunt, ut eis congrue valeat coaptari, quod Veritas inquit in Evangelio : »Cognosco oves meas, et cognoscunt me meae ( Joan X) :« […]. Sic et Romanus pontifex sponsam habet Romanam Ecclesiam, quae tamen Ecclesias sibi subjectas intro ducit ad ipsum, ut ab eo recipiant debitum providentiae : quia quanto plus redditur, tanto magis debetur. […] Haec autem sponsa non nupsit vacua, sed dotem mihi tribuit absque pretio pretiosam, spiritualium videlicet plenitudinem et latitudinem temporalium, magnitudinem et multitudinem utrorumque. Nam caeteri vocati sunt in partem sollicitudinis, solus autem Petrus assumptus est in plenitudinem potestatis. In signum spiritualium contulit mihi mitram, in signum temporalium dedit mihi coronam ; mitram pro sacerdotio, coronam pro regno, illius me constituens vicarium, qui habet in vestimento et in femore suo scriptum »Rex regum et Dominus dominantium (Apoc XIX) […].« Ebd., Sp. 662C–D, 663C–D, 664B, 665A–C. Auf diesen Abschnitt der Predigt macht bereits Iacobini (Anm. 23), S. 126, aufmerksam. Zu der Titulatur mater et magistra s. Johrendt (Anm. 18), S. 320 f., mit Anm. 269. Hier heißt es, die Bezeichnung »auf die römische Kirche bezogen« finde sich »bereits bei Nikolaus I. und Johannes VIII., doch danach erst wieder in Urkunden des 13. Jahrhunderts.« Ebd., S. 321 ; s. a. Imkamp (Anm. 69), S. 290. Zu den drei Ehegütern s. Imkamp (Anm. 69), S. 260–264 ; zur »Verbindung des Papstes mit der römischen Kirche in der geistlichen Ehe« ebd., S. 300–323 (Zitat S. 300). Vgl. auch Pace (Anm. 27), S. 1232 f., der bezweifelt, »che il concetto [sponsus-sponsa] […] sia riflessa nella composizione musiva, almeno nei termini con cui sarebbe logico aspettarselo e che la percezione dei fedeli e degli osservatori avrebbe dovuto saper cogliervi.« Zum conjugium spirituale vgl. Anm. 110. 94 Zu dieser »Mitgift« s. Kempf (Anm. 70), S. 280–323, bes. S. 296–298 und S. 309.
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Wiederholt ist eine absichtsvolle Analogie festgestellt worden zwischen der Konfiguration von Innozenz III. und der Ecclesia Romana, die das vexillum hält, beiderseits des Agnus Dei und dem Trikliniumsmosaik im alten Lateranpalast um 799/800, in dem Leo III. und Karl der Große beiderseits vor Petrus knien, der Karl eine Fahnenlanze,95 Leo das Pallium reicht.96 Bedeutungsvoll erscheint die Aufnahme und gleichzeitige Abwandlung des Vorbilds, da die Stelle des Königs nun eine imperiale Eccle sia Romana einnimmt. Wenn Ladner unter diesen Umständen über das Apsisbild in Alt-St. Peter erklärt, es handele sich »um die erste klare Verbildlichung der seit dem Zeitalter Gregors VII. entwickelten und durch Innozenz III. stärker ins Bewußtsein gehobenen Konzeption von der im Papst konzentrierten Führerin – Bannerträgerin – der Christianitas«,97 so geht dies mit dem Verständnis der Darstellung im Spiegel der zitierten Predigt ohne Weiteres zusammen. Christus als Agnus Dei mit dem Kelch, der die unblutige Wiederholung des Kreuzesopfers in der Messfeier bezeichnet, lässt sich angesichts dieser Predigt in con secratione pontificis nicht nur, unbeschadet des oben Gesagten, auch auf die aus der Ehe zwischen Romanus pontifex und Romana Ecclesia hervorgehenden geistlichen Nachkommen beziehen, die Christus geboren werden und die dieser – im Altarsakrament – mit Himmelsbrot und dem Kelch des Heils nährt.98 Im Prolog seines Traktats De sacro altaris mysterio – oder wie der ursprüngliche Titel lautet : De missarum mys teriis – weiß Innozenz III. überdies, dass gesagt werde, Petrus sei der Erste gewesen, der in Antiochien die Messe gefeiert hat.99 Im Übrigen konstatiert er hier : ›Fest steht in Wahrheit, dass unter allen Sakramenten dasjenige das vornehmste ist, das in der 95 »Gemeint ist wohl die Fahne der Stadt Rom, denn wir wissen, dass Leo bei seinem Regierungsantritt diese und die Schlüssel der Confessio von St. Peter an Karl sandte.« Ladner (Anm. 1), Bd. 1 (1941), S. 118 ; zu dem Trikliniumsmosaik s. ebd., S. 113–126 ; Manfred Luchterhandt : Famulus Petri. Karl der Große in den römischen Mosaikbildern Leos III. In : 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Beiträge zum Katalog der Ausstellung Paderborn 1999. Hrsg. von Christoph Stiegemann/Matthias Wemhoff. Mainz 1999, S. 55–70, hier S. 58 f.; Andaloro (Anm. 1), S. 217–220. 96 Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 66 ; Borgolte (Anm. 21), S. 185 ; Schmitt (Anm. 27), S. 26. 97 Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), S. 66 ; mit Zustimmung zit. von Borgolte (Anm. 21), S. 186, Anm. 222 ; und Schmitt (Anm. 27), S. 26. 98 Innozenz III.: Sermo III (Anm. 91), Sp. 664C–D. 99 Primus ergo beatus Petrus apostolus missam Antiochiae dicitur celebrasse. Innozenz III.: De sacro altaris mysterio. Libri sex. In : Patrologia latina (Anm. 22), Bd. 217, Sp. 763–916, hier Sp. 773D ; s. dazu Maccarrone (Anm. 89), bes. S. 344–351, mit einer Datierung des Traktats um 1195–1197. Zur Charakterisierung heißt es, während seiner Entstehung habe das Werk – das Lotario de Segni als Kardinal anscheinend aus innerem Antrieb verfasst hat – sich gewandelt »nella sua parte centrale da una trattazione liturgica descrittiva in un vero trattato teologico sul sacramento dell’Eucarestia« (S. 347). S. a. Anko Ypenga : Innocent III’s De missarum mysteriis Reconsidered : A Case Study on the Allegorical Interpretation of Liturgy. In : Sommerlechner (Anm. 20), Bd. 1, S. 323–339.
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Messe auf dem Altar in feierlichster Weise zelebriert wird ; es stellt das Gastmahl der Kirche dar.‹100 Nebenbei versäumt Innozenz jedoch auch in dieser Schrift nicht, die Stellung der apostolica sedes als caeterarum Ecclesiarum mater […] et magistra101 und den Platz von Petrus hervorzukehren, dem Christus ›den Vorrang in der gesamten Kirche sowohl vor der Passion wie während der Passion und nach der Passion übertragen hat.‹102 Die zentrale Position des Agnus Dei mit blutenden Wunden (anstelle des Lammes auf dem Paradiesberg, wie es für das Mosaik des vierten Jahrhunderts anzunehmen ist) betont das zentrale, vornehmste Sakrament der Kirche, wobei die Feststellung der Transsubstantiation auf dem Vierten Laterankonzil (1215) die Realpräsenz des Erlösers beim Messopfer nachdrücklich unterstreichen sollte.103 Die anschauliche Beziehung zwischen dem ›Wasser des Lebens‹, das im oberen Register vom Thron Christi ausgeht und in die vier Paradiesflüsse sich verzweigt, und dem Agnus Dei, vor einem Thron und auf einem Berg – der noch immer als Paradiesberg zu verstehen sein dürfte –, von dem vier Blutströme herabfließen, kennzeichnet unmissverständlich das Opferblut Christi als Quelle des Lebens. Die Kirche und ihr Bräutigam, die cunctarum fidelium mater und der vicarius Jesu Christi, erscheinen als diejenigen, die die Gläubigen – die eine Herde – zu dieser Quelle des Lebens führen, wie denn mit Innozenz’ Worten die Priester Mittler zwischen Gott und dem Menschen sind.104 Und wie das Hirtenamt Petri den Auftrag beinhaltet : ›Weide [meine Schafe] durch das Sakrament der göttlichen Kommunion, denn dies ist die Nahrung, von der ich [Christus] gesagt habe : »Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohns esst und sein Blut trinkt, werdet ihr nicht das Leben in euch haben« ( Joh 6,53).‹105 In der ersten Konstitution des Vierten Laterankonzils heißt es schließlich : ›Eine ist die universale Kirche der Glaubenden ; außerhalb ihrer wird überhaupt niemand gerettet. In ihr ist Jesus Christus selbst Priester und Opfer zugleich : Sein Leib und sein Blut sind im Sakrament des Altares unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten, sobald durch göttliche Macht das Brot in den Leib und der Wein in 100 Verum inter omnia sacramenta illud constat esse praecipuum quod in officio missae supra mensam altaris sacratissime celebratur : illud Ecclesiae repraesentans convivium. Innozenz III.: De sacro altaris mysterio (Anm. 99), Sp. 773B. 101 Ebd., Sp. 774D. 102 Omnibus autem apostolis Christus unum praeposuit, videlicet Petrum, cui totius Ecclesiae principatum, et ante passionem, et circa passionem, et post passionem commisit. Ebd., Sp. 778B. 103 S. u. Anm. 106. 104 Mediatores enim sunt sacerdotes inter Deum et homines. Innozenz III.: De sacro altaris mysterio (Anm. 99), Sp. 780A. 105 Pasce sacramento divinae communionis, quoniam hoc est pabulum de quo dixi : »Nisi manducaveritis carnem Filii hominis et biberitis ejus sanguinem, non habebitis vitam in vobis ( Joan VI)« […]. Innozenz III.: Sermo XX (Anm. 74), Sp. 546B.
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das Blut transsubstantiiert worden sind, damit zur Vollendung des Mysteriums der Einheit wir selbst von dem Seinigen empfangen, was er selbst von dem Unsrigen angenommen hat. Dieses Sakrament kann nur ein Priester vollziehen, der gemäß den Schlüsseln der Kirche, die Jesus Christus selbst den Aposteln und ihren Nachfolgern verliehen hat [der Bezug ist hier Mt 18,18], rechtmäßig ordiniert ist.‹106
In der Apsis von Alt-St. Peter war dies anschaulich gemacht. Der vierte Hexameter der Inschrift gehört nicht zuletzt in diesen Zusammenhang. Die flores virtutis, die derjenige erwerben wird (capiet), der Christus ergeben dient, sind zunächst auf die erwähnten virtutes der fides und charitas zu beziehen, die Petrus besaß und die ihm die Schlüsselgewalt und das Hirtenamt verschafften. Ebenso spiegelt sich diese Wendung in der Kennzeichnung des Apostels, qui tanta virtute pollebat ad faci enda miracula.107 Aber die flores virtutis sind dann auch zu verstehen im Lichte einer weiteren Predigt von Innozenz III., nun in festo d. Gregorii papae, also über Gregor den Großen ; dieser sei, heißt es da, angetan gewesen mit dem ›Schmuck der Tugenden, die 106 Una vero est fidelium universalis ecclesia, extra quam nullus omnino salvatur, in qua idem ipse sacerdos et sacrificium Iesus Christus, cuius corpus et sanguis in sacramento altaris sub speciebus panis et vini ver aciter continentur, transsubstantiatis pane in corpus et vino in sanguinem potestate divina, ut ad perfici endum mysterium unitatis accipiamus ipsi de suo, quod accepit ipse de nostro. Et hoc utique sacramentum nemo potest conficere, nisi sacerdos, qui fuerit rite ordinatus secundum claves ecclesiae, quas ipse concessit apostolis et eorum successoribus Iesus Christus. Viertes Laterankonzil (1215), Constitutiones, 1. De fide catholica. In : Dekrete der ökumenischen Konzilien. Bd. 2 : Konzilien des Mittelalters. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und hrsg. unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth. Paderborn u.a. 2000, S. 230 f.; s. dazu Maccarrone (Anm. 89), S. 390–396. Hier die Feststellung : »Contro le negazioni ereticali, la Chiesa è presentata essenzialmente come la sede dell’unico ed eterno sacrificio di Cristo, la cui perenne rinnovazione sta nella Chiesa stessa grazie al sacramento dell’altare.« Ebd., S. 391. Zur Bedeutung des Vierten Laterankonzils für die Transsubstantiationslehre s. Gary Macy : The »Dogma of Transubstantiation« in the Middle Ages. In : Ders : Treasures from the Storeroom. Medieval Religion and the Eucharist. Collegeville/Minnesota 1999, S. 81–120 (zuerst erschienen in : Journal of Ecclesiastical History 45 [1994], S. 11–41). Hier heißt es abschließend : »Lateran IV did not intend to define transubstantiation, and medieval theologians and canonists never reached a consensus concerning the canonical weight of the decree. [...] To conclude, then, despite a surprisingly tenacious belief that a ›dogma of transubstantiation‹ was promulgated by the Fourth Lateran Council and enforced by the medieval Church, the evidence suggests that this was never the case, especially if by this one equates transubstantiation with transmutation.« Ebd., S. 104 f. Der Begriff der Transsubstantiation und seiner Entsprechungen (transsubstantiatur u. ä.) begegnet übrigens bereits im zwölften Jahrhundert ; starke Indizien deuten darauf hin, »that the term ›transubstantiation‹ was first introduced at Paris around 1140, and that Robert Pullen was its inventor.« Joseph Goering : The Invention of Transubstantiation. In : Traditio 46 (1991), S. 147–170, hier S. 158. Für klärende Auskünfte und den Hinweis auf die beiden letztgenannten Aufsätze danke ich herzlich Herrn Edgar Müller, M. A. 107 S. o. Anm. 76.
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durch die Pontifikalgewänder bezeichnet werden, damit er einer von denen sei, über die gesagt wird : »Deine Priester sollen sich bekleiden mit Gerechtigkeit, und deine Heiligen sollen jubeln« (Ps 132,9).‹108 Es folgt eine allegorische Auslegung der Pontifikalgewänder in diesem Sinne als Veranschaulichung der verschiedensten Tugenden, die den Priester auszeichnen sollen. Die ›Früchte des Heils‹ ( fructus salutis), die in der Inschrift als Lohn des ergebenen Dieners Christi in Aussicht gestellt sind, gehen aus den Tugendblüten hervor. Ihr Fluchtpunkt ist die ewige Seligkeit in Christus.
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Das Apsismosaik von Innozenz III. in Alt-St. Peter und die Inschrift darunter demonstrieren nach alledem die Stellung Roms bzw. der römischen Kirche als sedes apo stolica und der Peterskirche im Besonderen (anstelle der Lateranbasilika) als summa sedes des Petrus ; der Primat Petri, seine Schlüsselgewalt und plenitudo potestatis, wird augenfällig begründet durch sein Messiasbekenntnis, oder genauer: durch sein Bekenntnis der zwei Naturen Christi, als Zeugnis eines unerschütterlichen Glaubens. Man erkennt die Konsequenzen dieses Vorrangs des princeps Ecclesiae darin, dass der Papst als Bräutigam der Ecclesia Romana der Nachfolger Petri, ja der vicarius Jesu Christi ist, der von der römischen Kirche, als deren überreiche Mitgift, eine – in den Insignien (Pallium und Tiara) sichtbare – allumfassende priesterliche und königliche Gewalt empfängt. In der Nachfolge Petri mit dem obersten Hirtenamt betraut, steht er als Mittler zwischen Christus und allen Gläubigen – zwischen dem Erlöser und der in Juden- und Heidenkirche repräsentierten universalen Kirche als einer Herde –, unter Gott, aber über dem Menschen, um mit seiner Braut geistliche Nachkommen hervorzubringen und als Hirte seine Schafe bzw. als treuer und kluger Knecht sein Gesinde mit dem Altarsakrament, dem Himmelsbrot und dem Kelch des Heils, ›zur rechten Zeit‹ zu speisen. Nur über die Ecclesia Romana – die ihre Schlüsselgewalt im vexillum zeigt – und ihren Bräutigam führt der Weg zu Christus, zum Agnus Dei und der Quelle des Lebens als dem Blut des Lammes. Nicht nur ist außerhalb der Kirche kein Heil zu finden, sondern überdies kann auch ohne Anerkennung des Oberhirten keine Zugehörigkeit zu der einen Herde gedacht werden. Festzuhalten bleibt, dass die eminente Stellung des Papstes, wie sie hier unmissverständlich vor Augen tritt, gleichsam in ein frühchristliches Bild inseriert ist. Die 108 Indutus est autem ornamentis virtutum, quae per pontificalia indumenta signantur, ut esset unus eorum, de quibus dicitur : »Sacerdotes tui induantur justitiam, et sancti tui exsultent (Psal CXXXI).« Innozenz III.: Sermones de sanctis. Sermo XIII : In festo d. Gregorii papae, hujus nominis I. In : Patrologia latina (Anm. 22), Bd. 217, Sp. 513–522, hier Sp. 517B–C.
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(mehr oder weniger) vollständige Erneuerung der Apsisdekoration sucht doch offensichtlich soweit wie möglich die ursprüngliche Komposition zu bewahren. Die Veränderungen – ein (über den Paradiesflüssen) thronender statt des (auf Wolken oder einem Hügel) stehenden Christus und der Verzicht auf die Darstellung der Gesetzes übergabe (bzw. der Verkündigung der lex evangelica), Petrus bei seinem Messiasbekenntnis und auf dem Paradiesberg das Agnus Dei mit blutenden Wunden vor einem leeren Thron statt des Gotteslamms über den vier Paradiesflüssen, schließlich die Einbeziehung von Innozenz III. und der Ecclesia Romana –, diese Veränderungen in zentralen Punkten geben dem Mosaikbild eine vollkommen neue Bedeutung. Doch zugleich spiegelt die Komposition mit ihren zwei Registern, reflektieren die einzelnen Motive und ihre Disposition im oberen wie im unteren Bereich noch immer aufs Deutlichste die frühchristliche Form. Man wird dieses Vorgehen zu verstehen haben als das Bestreben, ein altüberkommenes, auch wohl ehrwürdig zu nennendes Bild oder Bilddokument augenfällig zu konservieren, das heißt der Tradition treu zu bleiben, um ihr durch die besagten – inhaltlich gravierenden – Modifikationen wie unter der Hand ein verändertes Aussehen aufzuprägen, das dem derzeitigen Selbstverständnis des Papsttums Rechnung trägt. Wenn in frühchristlicher Gestalt die ple nitudo potestatis und die potestas regalis des Papstes, sein Primat in der Kirche und sein Supremat in der ›Welt‹ wie seine Position bei der Vermittlung der Gnadengaben gezeigt wurden, so konnte das nur heißen, dass alles dies der Tradition entsprach. Gewiss nicht denkmalpflegerische oder kunstgeschichtliche, sondern kirchenpolitische Gesichtspunkte dürften (hier wie an anderer Stelle)109 maßgeblich gewesen sein für den engen Anschluss, formal und motivisch, an das Überkommene. Wie Innozenz III. sein Selbstverständnis als Papst auf die Verfügungen Christi im Evangelium (und auf Prophetenworte im Alten Testament) gründet, so fußt seine Selbstdarstellung im Apsismosaik der Peterskirche auf einem altkirchlichen Bildformular. Bei der Exegese dort und der Wiederherstellung hier ging es nicht darum, Neues vorzutragen, vielmehr sollte ins Licht gerückt werden, was feststand, gültig blieb und niemals anders gemeint war. Dabei bildet das Apsismosaik keine in sich abgeschlossene, selbstgenügsame Entität. Der Thron Christi und der (leere) Thron des Lammes haben einen Bezugspunkt in dem Thron des vicarius Jesu Christi im Scheitel der Apsis. In seiner Predigt in consecra tione pontificis erklärt Innozenz III., er feiere mit seinen Zuhörern den ersten Jahrestag, an dem der geistliche Ehebund mit der Ecclesia Romana vollzogen worden ist ; an eben 109 Vgl. Krautheimer (Anm. 8), S. 181–225, bes. S. 199–202, über die Anknüpfung an frühchristliche römische Vorbilder im Kirchenbau und in der Kirchenausstattung – zunächst in Monte Cassino, dann in Rom, im letzten Drittel des elften und im zwölften Jahrhundert – als sichtbarer Ausdruck für »das Gedankengut des Reformpapsttums und seine Rückwendung zur christlichen Vergangenheit« (S. 200).
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dem Tag (22. Februar 1198) ›bin ich auf dem Apostolischen Stuhl geweiht worden, mit dem der heilige Apostel Petrus auf seinem Bischofsstuhl (cathedra episcopalis) eingesetzt wurde.‹110 Dass Innozenz sich, wie schon erwähnt, als erster Papst in St. Peter auf der hölzernen cathedra Petri am Tag von Petri Stuhlfeier inthronisieren ließ,111 ist mit dem erneuerten und umgestalteten Apsismosaik zusammenzusehen. Die Darstellung eines thronenden – anstelle zuvor eines stehenden – Christus und die Wiedergabe des Agnus Dei vor einem leeren Thron – der mit größter Wahrscheinlichkeit nicht schon Mitte des vierten Jahrhunderts vorhanden war112 – haben ihren gedanklichen Fluchtpunkt in der cathedra Petri als dem sichtbaren Ausdruck der sedes apostolica bzw. summa sedes Petri und des vicarius Jesu Christi. Anschaulich aber besteht ein Bezug zu dem marmornen Papstthron im Apsisscheitel, der »dort offenbar seit Gregor I. stand und im Zeremoniell der Papsterhebung genutzt wurde«113 (Abb. 15) ; in späterer Zeit (denn erst durch Karl den Kahlen kam der in der Folge als cathedra Petri angesehene Thron nach Rom)114 rekurrierte dieser Marmorthron seinerseits auf die (hölzerne) cathedra.115 Ciampini (1693) beschreibt die (vormalige) Situation : ›Zuhinterst an der Wand der besagten Apsis ließ der überaus fromme Caesar den Stuhl des römischen Pontifex an erhöhter Stelle anbringen, einen wunderbar mit Goldmosaik und Reliefarbeiten verzierten Marmorthron ; die beiden Seiten des vorgenannten Sitzes oder Throns des Pontifex aber ließ der Imperator umsäumen von bescheideneren, jedoch [auch] marmornen und vornehmen Sitzen zur Bequemlichkeit und zu Ehren der 110 Anniversarium ergo diem, quo fuit hoc conjugium spirituale consummatum, hodie mecum primum ce lebratis, licet ipso die fuerim in sede apostolica consecratus, quo beatus Petrus apostolus in episcopali fuit cathedra constitutus. Innozenz III.: Sermo III (wie Anm. 91), Sp. 663C. 111 S. o. Anm. 21. Zudem Michele Maccarrone : Die Cathedra Sancti Petri im Hochmittelalter. Vom Symbol des päpstlichen Amtes zum Kultobjekt. In : Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 75 (1980), S. 171–205 und 76 (1981), S. 137–172, hier S. 155–158. 112 Vgl. zur Diskussion darüber Wilpert/Schumacher (Anm. 27), S. 11 f. (Walter N. Schumacher) und S. 63 ( Joseph Wilpert). 113 Johrendt (Anm. 18), S. 284, Anm. 106 ; s. die Rekonstruktion der Apsis nach dem Umbau unter Gregor I. in : Matthias Untermann : Architektur im frühen Mittelalter. Darmstadt 2006, S. 53, Abb. 41 links. Zudem Maccarrone (Anm. 111), S. 190 und S. 137. 114 Johrendt (Anm. 18), S. 292. Karl der Kahle schenkte diesen Thron, der bei seiner Kaiserkrönung 875 verwendet wurde, Papst Johannes VIII. (872–882). Vgl. Maccarrone (Anm. 111), S. 184– 186 ; zu dem Thron s. Nikolaus Gussone/Nikolaus Staubach : Zu Motivkreis und Sinngehalt der Cathedra Petri. In : Frühmittelalterliche Studien 9 (1975), S. 334–358. 115 Darauf verweist Iacobini (Anm. 23), S. 129 : »Al centro dell’abside, alla base dell’asse verticale discendente dalla calotta, si trovava infatti – come testimonia un’incisione del 1581 – la cattedra papale a braccioli leonini, in cui il nuovo tipo dossale triangolare conteneva un esplicito riferimento ad una delle reliquie più importanti della basilica : la cathedra Petri.«
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ministrierenden Priester des Pontifex, während sie am Altar des heiligen Petrus gottesdienstliche Handlungen vollzogen.‹116
In der Zusammenschau der in einer Achse untereinander angeordneten Darstellungen des thronenden Christus und des Lammes vor dem Thron mit dem leibhaftig thronenden Papst, in der Spiegelung auch von Christus zwischen den Apostelfürsten und dem Lamm zwischen den beiden Lämmerzügen in dem zwischen den Klerikern des Kapitels von St. Peter platzierten Papst – in dieser Verbindung zwischen Bild und Wirklichkeit erfüllte sich der letzte Sinn der von Innozenz III. erneuerten Apsisdekoration. Die summa sedes, von der die Inschrift spricht, wird hier unmittelbar mit dem Thron des vicarius Jesu Christi anschaulich gemacht. In der Person des Papstes tritt der irdische Stellvertreter des im Himmel thronenden Christus vor Augen, desjenigen, der – wie der untere Bildstreifen des Mosaiks zeigt – als Bräutigam der Ecclesia Romana, ausgestattet mit den höchsten priesterlichen und königlichen Herrschaftsrechten, die Gläubigen der Weltkirche zu Christus, zum Thron des Lammes, zum ewigen Leben führt. Genauer : diejenigen, die zu der einen Herde des einen (Ober-) Hirten gehören, die die Stellung des summus episcopus, seine auctoritas pontificalis und potestas regalis anerkennen. Die Herrschaftsansprüche des Papstes konnten nach Innozenz III. im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts, bis hin zu Bonifaz VIII. (1294–1303), eine nochmalige Steigerung erfahren, schon wenig später in der Auseinandersetzung von Gregor IX. (1227–1241) und Innozenz IV. (1243–1254) mit dem Staufer Friedrich II. Und sie konnten, abermals in Rom, in der Silvester-Kapelle in SS. Quattro Coronati mit den Medaillonbüsten der priesterlichen und königlichen Vorfahren Christi wie mit den Szenen aus der Vita von Papst Silvester I. – namentlich mit der Darstellung der Konstantinischen Schenkung und von Konstantins Strator-Dienst – in Wandbildern dokumentiert werden.117 Die faktische Macht des römischen Pontifex erreichte nichtsdestoweniger mit Innozenz III. ihren Gipfel, und kein prominenterer Ort als die Apsis von St. Peter war mehr zu finden, um dessen Stellung in Kirche und ›Welt‹ in Szene zu setzen.
116 In extremo pariete, supra memoratae absidis, idem Religiosissimus Cesar Romani Pontificis sedem, seu thronum marmoreum, Musivis signis ex auro, et caelaturis mirabile sublimavit, ac utrumque praedictae sedis, sive throni Pontificis latus idem Imperator sedilibus humilioribus, sed marmoreis, et elegantibus cir cumsepsit in commodum, honoremque Sacerdotum Pontifici ministrantium, dum sacra Deo super Altare B. Petri peragerent. Ciampini (Anm. 24), S. 51. 117 Noll (Anm. 9), passim ; Matthias Thumser : Perfekte Harmonie. Kardinal Stefano Conti und der Freskenzyklus bei SS. Quattro Coronati in Rom. In : Zeitschrift für Kirchengeschichte 123 (2012), S. 145–172 ; s. hier jeweils die ältere Literatur.
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Abbildungsnachweis
1–3 : Ladner (Anm. 1), Bd. 1 (1940), Tafel XIXa/b, XIXc/d, XXa. – 4, 9, 10, 12, 13 : Ladner (Anm. 1), Bd. 2 (1970), Tafel III, S. 61 (Abb. 22), Tafel X, S. 58 (Abb. 18), S. 59 (Abb. 19). – 5, 7 : Andaloro (Anm. 1), S. 197 (Abb. 7–12), S. 35 (Abb. VII). – 6 : Herklotz (Anm. 9), S. 49 (Abb. 17). – 8, 11 : Poeschke (Anm. 25), S. 44 (Abb. 43), S. 43 (Abb. 41) . – 14a : Morey (Anm. 66), Tafel XIII, 78. – 14b : Rasch/Arbeiter (Anm. 59), S. 127 (Abb. 5). – 15 : Untermann (Anm. 113), S. 53 (Abb. 41 links)
Tafeln Abb. 1 Päpste und Gegenpäpste des Investiturstreits, Camera pro secretis consiliis, alter Lateranpalast, Rom. Nachzeichnung der verlorenen Wandmalereien, zweite Hälfte sechzehntes Jahrhundert. Rom, BAV, Cod. Barb. Lat. 2738, fol. 105v Abb. 2 Wie Abb. 1, fol. 104r
Abb. 4 Drei Szenen zur Kaiserkrönung Lothars III. (1133), Camera von Innozenz II., alter Lateranpalast, Rom. Nachzeichnung der verlorenen Wandmalereien, zweite Hälfte sechzehntes Jahrhundert. Rom, BAV, Cod. Barb. Lat. 2738, fol. 104v–105r
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Abb. 3 Verherrlichung der Päpste des Investiturstreits, Oratorium des heiligen Nikolaus von Bari, alter Lateranpalast, Rom. Kupferstich von Costantino Caetani nach den verlorenen Wandmalereien in der Apsis, 1638
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Abb. 5 Figürliche Szenen am Portikus-Fries der alten Laterankirche, Rom. Aquarellierte Federzeichnungen nach den verlorenen Mosaiken, 1672. Rom, BAV, Cod. Barb. Lat. 4423, fol. 14–19 Abb. 6 Figürliche Szenen am Portikus-Fries der alten Laterankirche, Rom. Kupferstiche nach den verlorenen Mosaiken in : Giovanni Ciampini : De sacris aedificiis a Constantino Magno constructis. Synopsis historica. Rom) 1693, S. 11
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Abb. 7 Rekonstruktion von Alt-St. Peter, Blick aus dem Mittelschiff nach Westen in Querhaus und Apsis ; in der Apsiskalotte das Mosaik in einer aquarellierten Federzeichnung (vgl. Abb. 10)
Abb. 9 Ecclesia Romana, Fragment des Apsismosaiks von Alt-St. Peter, Rom, frühes dreizehntes Jahrhundert. Rom, Museo di scultura antica Giovanni Barracco Abb. 8 Innozenz III., Fragment des Apsismosaiks von Alt-St. Peter, Rom, frühes dreizehntes Jahrhundert. Rom, Museo di Roma
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Abb. 10 Apsis von Alt-St. Peter, Rom. Aquarellierte Federzeichnung nach dem verlorenen Mosaik, 1592. Rom, BAV, Archivio di S. Pietro (Mss.), A ter, fol. 50r
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Abb. 11 Apsis von Alt-St. Peter, Rom. Aquarellierte Federzeichnung von Giacomo Grimaldi nach dem verlorenen Mosaik, 1619. Rom, BAV, Cod. Barb. Lat. 2733, fol. 158v–159r Abb. 12 Apsis von Alt-St. Peter, Rom. Tafelbild aus dem Besitz von Agostino Mariotti nach dem verlorenen Mosaik, siebzehntes Jahrhundert. Rom, BAV
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Abb. 13 Pietro Leone Bombelli : Das Agnus Dei. Ausschnitt-Nachstich nach dem Tafelbild (siebzehntes Jahrhundert) im Besitz von Agostino Mariotti nach dem Apsismosaik von Alt-St. Peter in : Aurelio Brandolino : Delle virtù mostrateci nella Passione dal Nostro Signor Gesù Cristo orazione. Rom 1767, vor dem Frontispiz
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Abb. 14a Dominus legem dat und Lämmerfries, Goldglas-Fragment, Ende viertes Jahrhundert (?). Rom, Musei Vaticani, Museo Pio Cristiano Abb. 14b Wie Abb. 14a, Umzeichnung Abb. 15 Rekonstruktion der Apsis in Alt-St. Peter nach dem Umbau unter Gregor I.
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Abb. 16 : Triumphkreuzgruppe (nach 1211) über dem spätgotischen Lettner (um 1510). Halberstadt, Dom
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Abb. 17 : Triumphkreuz mit den Assistenzfiguren Maria (links) und Johannes (rechts)
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Abb. 18 : Detailansicht des Christuscorpus
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Abb. 19 : Kulissenartige rechte Engelskulptur der Halberstädter Triumphkreuzgruppe
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Zeigen und Beweisen. Beobachtungen zur Inszenierung von Evidenz in der Kunst des dreizehnten Jahrhunderts Im Jahre 1948 hielt Erwin Panofsky im Benediktinerkloster Saint Vincent in Latrobe einen Vortrag, den er drei Jahre später unter dem Titel Gothic Architecture and Scho lasticism publizierte. Auf gut 80 Seiten entwarf Panofsky ein Epochenprofil der Gotik, das er ganz aus Analogien zwischen Formen gotischer Architektur und den Argumentationsweisen der Scholastik zu entwickeln suchte. Als ein Schlüsseldokument, das er am Schluss seines Textes wie eine Trumpfkarte auf den Tisch seiner Beweisführung legte, galt ihm ein Blatt der Skizzensammlung des Villard de Honnecourt, auf dem zwei Grundrisslösungen für den Chor einer gotischen Kirche gezeigt sind. Eine später hinzugefügte Beischrift besagt, diese Grundrisse seien ein gemeinsamer Entwurf von Villard und Pierre de Corbie, zu dem beide gelangt seien inter se disputando. Panofsky sah darin einen Beleg für die Findung gotischer Architekturformen nach dem Modus Operandi scholastischen Denkens. So konstruierte er eine Entwicklungsgeschichte gotischer Architektur, die wie eine scholastische quaestio abgelaufen sei. Für das Verhältnis von Horizontale und Vertikale im Aufriss der Obergadenwand sei in der Vorgotik, beispielsweise in Saint Remi in Reims, das videtur quod gesprochen, in Amiens sei das sed contra erfolgt und »Pierre de Monterau sprach schließlich das endgültige respondeo dicendum« mit seinem Entwurf für den Chor von Saint-Denis.1 Panofsky sah also in der gotischen Architektur eine rationale Ordnung, die mit der Rationalität scholastischen Denkens und Argumentierens in Einklang stehe. Architektur wie Denken beruhten auf einem beiden gemeinsamen mental habit, sodass Denkformen und die Strukturen künstlerischer Formbildung einander entsprächen. In den folgenden Ausführungen soll das Modell Panofskys nicht weiter diskutiert, sondern als Impuls aufgenommen werden für die Beobachtung ästhetischer Erscheinungsformen und medialer Konstellationen, in denen sich die Bedeutung des Sehens im dreizehnten Jahrhundert artikulierte. Es geht dabei nicht um einen großen, homogenen Epochenentwurf, sondern um einen einzelnen Aspekt, der auch für Panofskys Überlegungen eine Rolle gespielt haben mag. Es war wohl kein Zufall, dass ihn gerade 1 Erwin Panofsky : Gothic architecture and scholasticism. Latrobe 1951 (Wimmer lecture 2). Deutsche Übersetzung : Ders.: Gotische Architektur und Scholastik. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Thomas Frangenberg. Köln 1989 (DuMont Taschenbücher 225), hier S. 49.
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die Analogie von Gotik und Scholastik zu einem Deutungsmodell animierte, das auf der Vorstellung einer visuellen Versinnlichung von Denkformen beruhte, erfolgte im späten zwölften und dreizehnten Jahrhundert doch auch eine Neubewertung sinnlicher Wahrnehmung und insbesondere des Sehens.2 Dass sich im dreizehnten Jahrhundert neue Sehkonzepte verbreiteten, ist keine neue Erkenntnis, und ebenso sind die dafür verantwortlichen Rahmenbedingungen und die großen Begründungszusammenhänge seit Langem benannt, sei es die Begegnung mit arabischem Wissen, das daraus folgende Bekanntwerden griechischer Wissenschaft, die Aristotelesrezeption oder die Kreuzzüge. Damit ist in groben Zügen ein Kontext aufgerufen, der auch für das Vierte Laterankonzil von Belang ist. Wenn in die Beschlüsse des Konzils philosophisches, ja scholastisches Denken und Argumentieren Eingang fand, wenn das Konzil einen Medialisierungsschub auslöste, der weitgehend pastorale Anliegen der kirchlichen Autorität befriedigte und sich für die Heilsvermittlung zahlreicher auch neuer Kommunikationsformen bediente, dann stehen damit auch ästhetische Verfahren dieser Zeit zur Diskussion, mit denen qua Anschauung Einsicht in und Gewissheit von Sachverhalten, Ideen und Vorstellungen befördert oder gar hergestellt wurden.3 In diesem Zusammenhang sind die Veränderungen signifikant, die in der Buchkultur des dreizehnten Jahrhunderts zu beobachten sind. Wie Texte in Handschriften aufgeschrieben und angeordnet wurden, kann als die wohl unmittelbarste materielle Artikulation gelehrten Denkens angesehen werden. Daher sind die sich im dreizehnten Jahrhundert schnell verbreitenden neuen Formen der mise-en-page, die vor allem im Milieu der Universitäten entwickelt wurden, besonders aufschlussreich.4 Ivan Il2 Silke Tammen : s. v. Wahrnehmung. Sehen und Bildwahrnehmung im Mittelalter. In : Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Hrsg. von Ulrich Pfisterer. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2011, S. 474–479. 3 Die Argumentationsformen der Konzilsbeschlüsse, deren pastorale Anliegen und die damit verbundenen und beförderten Kommunikationsformen kamen in der Erlangener Tagung verschiedentlich zu Sprache ; s. dazu in diesem Band insbesondere die Beiträge von Jörg Oberste und Christiane Witthöft. 4 Robert Marichal : Les manuscrits universitaires. In : Mise en page et mise en texte du livre manuscrit. Hrsg. von Henri-Jean Martin/Jean Vezin. Paris 1990, S. 211–217 ; Claire Angotti : Formes et formules brèves : enjeux de la mise-en-page. L’exemple des manuscrits des théologiens (XIIe– XIVe siècle). In : Qu’est-ce que nommer ? L’image légendée entre monde monastique et pensée scolastique. Actes du colloque du RILMA, Institut Universitaire de France (Paris, INHA, 17–18 octobre 2008). Hrsg. von Christian Heck. Turnhout 2010, S. 59–86 ; Hanna Wimmer : Schnittstellen. Illustration und Seitendisposition zwischen Text und Lehrdiskurs. In : Das Mittelalter 17 (2012) 1, S. 87–97 und ausführlich dies.: Illustrierte Aristotelescodices. Die medialen Konsequenzen universitärer Lehr- und Lernpraxis in Oxford und Paris. Wien u.a. 2018 (Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 7).
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lich hat dem zwölften Jahrhundert die Erfindung des Schriftbildes der Moderne zugesprochen.5 Die mit Scholastik und Aristotelesrezeption einhergehenden höheren methodologischen Standards verlangten danach nach Texten, die stärker strukturiert und an die neuen Denk- und Argumentationsformen angepasst waren, sodass man das dreizehnte Jahrhundert als »turning-point in the history of a presentation of a text«6 bezeichnet hat. Für die neuen Präsentationsformen wurde nun, ausgehend von den Errungenschaften des zwölften Jahrhunderts, ein breites Repertoire visueller Organisation entfaltet, mit unterschiedlichen Schriftgrößen und -farben, Ornamenten und Initialen, eingerückten Zeilen und Absätzen, ebenso mit Indices und Registern, um die Gliederung eines Textes oder die Unterscheidung von Haupttext und Paratexten visuell nachvollziehbar und für die Lektüre leicht und schnell erfassbar zu machen. Dies ist nicht nur an Gelehrtenmanuskripten zu sehen, sondern ebenso am Bibeltext. Im ersten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts setzte sich ein aus Vorläufern des zwölften Jahrhunderts entwickeltes System von Kapitelnummerierungen des Bibeltextes durch, das vor allem in den im Umfeld der Pariser Universität angefertigten Bibelausgaben realisiert wurde und sich von dort rasch in ganz Europa verbreitete.7 Als kleinformatige Bücher wirken diese Bibeln wie ein Gegenmodell zu den Riesenbibeln, die im elften Jahrhundert als Erinnerung an die Pandekten des frühen Christentums die Ideale der Kirchenreform dokumentierten.8 So ist das Kleinformat der Bibeln des dreizehnten Jahrhunderts wohl auch zu Recht mit dem Wechsel der Bibellektüre von der monastischen lectio divina in den Kontext von Wissenschaft und Universität in Zusammenhang gebracht worden. Dort wurde mit dem Eintrag standardisierter Kapitelnummern eine stringente Systematik visueller Textgliederung etabliert. Die Phänomene einer im Wortsinne durch-schaubaren Textordnung können hier allgemein als Indiz für die hohe Bedeutung visueller Wahrnehmung in der Zeit des 5 Ivan Illich : Im Weinberg des Textes : Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt am Main 1991. 6 Malcolm B. Parkes : The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio on the Development of the Book. In : Medieval Learning and Literature. Essays Presented to Richard Willian Hunt. Hrsg. von Jonathan J. G. Alexander/Margaret T. Gibson. Oxford 1976, S. 115–141, hier S. 119 : »The turning-point in the history of the presentation of a text for the academic reader came in the thirteenth century when the rediscovered Aristotelian logic and the consequent interest in more rigorous philosophical procedures entailed the adoption of principles which demanded a more precise method of dissecting and defining human knowledge.« 7 Christoph De Hamel : Das Buch. Eine Geschichte der Bibel. Berlin 2002, S. 114–139 ; danach auch das Folgende. 8 Larry M. Ayres : Bemerkungen zu den frühen italienischen Riesenbibeln. In : Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. 1 : Essays. Hrsg. von Christoph Stiegemann/Matthias Wemhoff. München 2006, S. 325–341.
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Lateranums angeführt werden. Dies soll aber nicht weiter vertieft werden.9 Vielmehr wird davon ausgehend im Folgenden in einer Fallstudie eine komplexe mediale Konstellation vorgeführt, die direkt und konkret das zentrale Anliegen des Konzils, die Heilsvermittlung, betrifft, insbesondere Reliquienkult und Eucharistie. Mit diesen Themen, die auch in den Konzilsbeschlüssen angesprochen wurden, war für eine visuelle Vermittlung die Spannung zwischen sichtbarer Materialität und Immateriellem eröffnet, die von sakraler Kunst ästhetisch zu bewältigen war. Man hat der Transsubstantiationslehre verschiedentlich bescheinigt, dass sie eine hohe Abstraktionsleistung verlange. Wenn in der Wandlung Brot und Wein ihre äußere Form behalten, ihr inneres Wesen, ihre Substanz aber in Leib und Blut Christi verwandelt wird, dann ist gerade das der sinnlichen Wahrnehmung, die die äußere Form erfasst, entzogen. Diese Entsinnlichung der Eucharistie erforderte offensichtlich »sinnliche und affektive Plausibilisierungsstrategien«.10 Man kann dafür auf eine Reihe von Phänomenen im Eucharistiekult hinweisen, aber ebenso auf Darstellungsformen der Kunst. Dass damit die Erfahrung der Wahrheit mit sinnlichen Substituten verbunden wurde, war theologisch nicht unbedenklich, für die Kunst aber kein und auch kein neues Problem. So ist das spätere Mittelalter durch eine »Medialisierung des Heils« gekennzeichnet, durch einen medialen Innovationsschub, für den Phänomene in der Eucharistiefrömmigkeit, im Reliquienkult und ebenso in der Kunst zahlreich zu benennen sind, mit neuen Objekttypen, Bildwerken oder Ikonographien.11 Dass seit dem dreizehnten Jahrhundert Reliquiare vermehrt als Schaugefäße gestaltet wurden und die Reliquien nicht mehr im Innern der Reliquiare verborgen, sondern durch Gucklöcher und transparente Fassungen auch bei geschlossenem Gefäß sichtbar blieben, hat man schon immer gesehen. Dieser Formwandel belegt eine veränderte Einschätzung der sinnlichen Wahrnehmung im Allgemeinen, die dann auch die Präsentations- und Wahrnehmungsformen von Reliquien betraf, die mit dem Beutegut des Vierten Kreuzzugs massenhaft in den Westen gelangten.12 Als 9 S. dazu die in Anm. 4 und 6 genannte Literatur. 10 Thomas Lentes : Dem entsinnlichten Sinne verleihen. Vom produktiven Paradox der Eucharistie im späten Mittelalter. In : Trotz Natur und Augenschein. Eucharistie – Wandlung und Weltsicht. Hrsg. von Ulrike Surmann/Johannes Schröder. Köln 2013, S. 267–276, hier S. 268. 11 Christian Kiening : Einleitung. In : Medialität des Heils im späten Mittelalter. Hrsg. von Carla Dauven-van Knippenberg u.a. Zürich 2009 (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 10), S. 7–20, hier S. 13. 12 Gia Toussaint : Die Sichtbarkeit des Gebeins im Reliquiar – Eine Folge der Plünderung Konstantinopels ? In : Reliquiare im Mittelalter. Hrsg. von Bruno Reudenbach/Gia Toussaint. Berlin 2005 (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5), S. 89–106 ; Cynthia Hahn : Strange Beauty. Issues in the Making and Meaning of Reliquiaries, 400–circa 1204. Pennsylvania 2012, S. 223– 244.
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Reaktion darauf ist wohl das 62. Dekret des Vierten Laterankonzils zu lesen, dem zufolge Reliquien nicht mehr extra capsam gezeigt werden dürften (DH 818).13 In dieser Gemengelage stellte sich für die Gestaltung von Reliquiaren offenbar die alte Frage neu, nämlich in welchem Verhältnis die unscheinbare Reliquienmaterie, deren kostbare Umhüllung durch das Reliquiar und die unsichtbare Heilskraft der Reliquien zueinanderstünden. Im Sinne der Plausibilisierungsthese war die Präsentation von Reliquien insofern vor dasselbe Problem gestellt wie der Umgang mit der Eucharistie. In beiden Fällen ging es um das Paradoxon, das Transzendente im Materiellen erfahrbar zu machen, aber gleichzeitig als Transzendentes markiert zu halten, eine Aufgabe, die offensichtlich ein kreatives und innovatives Potenzial mobilisierte. Als ein Beispiel, das den Umgang mit Reliquien wie mit der Eucharistie auf einzigartige Weise miteinander verband, kann die Triumphkreuzgruppe dienen, die zwischen den beiden östlichen Vierungspfeilern im 1401 geweihten Chorraum des Halberstädter Domes angebracht ist (Abb. 16).14 Die um 1215–1220 datierte Skulpturengruppe, die die gesamte Breite des Mittelschiffs überspannt, dominierte bereits das Langhaus des Vorgängerbaus und wurde von diesem in den Neubau übertragen. Sie besteht aus einem zentral angebrachten Kruzifix, den flankierenden Assistenzfiguren Maria und Johannes Evangelist sowie aus zwei Engelskulpturen auf den Außenpositionen.15 Der Triumphbalken zeigt außerdem Brustbilder von Aposteln (Westseite) und Propheten (Ostseite) sowie eine Darstellung der visitatio sepulchri. Auf der zum Langhaus gerichteten Seite des Kreuzes erhebt sich der Stammvater Adam aus dem Grab und stützt das Kreuz. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass dieses Triumphkreuz aus zwei Elementen besteht und demnach eigentlich ein Doppelkreuz ist (Abb. 17). So wird die moosgrün gefasste und als Anspielung auf die arbor vitae hölzern erscheinende Kreuzleiste, an der das Christuscorpus befestigt ist, von einem großen Kreuz mit dreipassförmigen Enden umschlossen. Die in weiten Teilen noch 13 Der vollständige Wortlaut des Dekretes in deutscher Übersetzung bei Raymonde Foreville : Lateran I–IV. Mainz 1970 (Geschichte der ökumenischen Konzilien 6), S. 439 f. 14 Gerhard Leopold/Ernst Schubert : Der Dom zu Halberstadt bis zum gotischen Neubau. Berlin 1984, S. 78. 15 Aufgrund der äußerst dichten Forschungslage werden hier nur die jüngsten Arbeiten zur Halberstädter Triumphkreuzgruppe erwähnt. Gerhard Lutz : Das Bild des Gekreuzigten im Wandel. Die sächsischen und westfälischen Kruzifixe der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Petersberg 2004, S. 75–106 ; Manuela Beer : Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Regensburg 2005, hier S. 605–621 ; Dies.: Die Halberstädter Triumphkreuzgruppe. Höhepunkt eines mittelalterlichen Bildtypus im europäischen Kontext : In : ...das Heilige sichtbar machen. Domschätze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hrsg. von Ulrike Wendland. Petersberg 2010 (Veröffentlichungen des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt. Arbeitsberichte 9), S. 185–198 ; Andreas Huth : Frühgotische Großkreuze in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Wettin-Löbejün-Dößel 2015, S. 50–69.
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erhaltene Fassung dieses Dreipasskreuzes suggeriert durch eine golden gefirnisste Silberfolie mit aufgemalten grünen und roten Edelsteinen, dass es sich bei dem äußeren Kreuz um ein Werk der Goldschmiedekunst handelt.16 Durch diese Formerfindung wirkt das Triumphkreuz wie ein ins Monumentale gesteigertes Reliquiar, das als strahlendes Gemmenkreuz eine dezidiert in ihrer hölzernen Materialität gezeigte Kreuzreliquie mit dem daran befestigten Gekreuzigten sichtbar präsentiert. Bei der von 1994 bis 1996 durchgeführten Restaurierung der Skulpturengruppe wurde im Haupt des Christuscorpus tatsächlich ein Reliquiendepositorium entdeckt, das aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Entstehungszeit des Werkes stammt und bis zur Wiederauffindung unangetastet geblieben war.17 Zwar waren die papiernen Authentiken und eine in griechischer Kanzleischrift verfasste Urkunde nicht mehr entzifferbar, doch es fand sich im Depositorium neben in Stoffbeutelchen eingenähten Knochenpartikeln eine aus Steatit (Speckstein) gefertigte Staurothek. In das in den unteren beiden Dritteln rechteckige, oben halbrund abgeschlossene und nur 37 mm x 29 mm x 5 mm messende Täfelchen sind fünf Späne aus Nadelholz in Form eines Doppelkreuzes eingesetzt. Durch das Reliquiengelass wird das Triumphkreuz »in den Rang eines figürlichen Kreuzreliquiars erhoben«.18 Der Charakter des Triumphkreuzes als Kreuzreliquiar wird visuell vermittelt durch die Gestaltung des äußeren Dreipasskreuzes, das wie ein aus Gold gefertigtes und mit Edelsteinen besetztes Schatzobjekt erscheint. Ikonographisch wird dies unterstützt durch die Engel, die in den seitlichen Dreipässen die Kreuzleiste halten, ein Motiv, das sich schon seit dem zwölften Jahrhundert an zahlreichen Kreuzreliquiaren findet, wenn dort Engel eine Kreuzreliquie halten und diese dem Betrachter präsentieren.19 Vermutlich wurde das an byzantinische Enkolpien erinnernde Specksteinreliquiar, das in der Christusskulptur geborgen ist, 1205 vom Halberstädter Bischof Konrad von Krosigk aus Konstantinopel in seinen Bischofssitz gebracht.20 Schriftliche 16 Vgl. zur Materialität von Triumphkreuzen als crux gemmata und arbor vitae Beer : Triumphkreuze (Anm. 15), S. 74–95. 17 Hans-Joachim Krause : Der Halberstädter Reliquienfund. In : Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 1 (2002), S. 4–25 ; Barbara Pregla : Die Reliquien der Triumphkreuzgruppe im Dom zu Halberstadt. Untersuchungsergebnisse zu den Funden aus dem Christuskopf. In : Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 16 (2008), S. 54–65. 18 Huth (Anm. 15), S. 52. 19 Vgl. z.B. die sog. Dutuit-Triptychen (um 1170/1180) im Petit Palais in Paris ; dazu Philippe Verdier : Les staurothèques mosanes et leur iconographie du Jugement dernier. In : Cahiers de civilisation médiévale 62 (1973), S. 97–121, hier S. 99, S. 110–113 ; Holger A. Klein : Byzanz, der Westen und das ›wahre‹ Kreuz. Die Geschichte einer Reliquie und ihrer künstlerischen Fassung in Byzanz und im Abendland. Wiesbaden 2004, S. 217–219. 20 Stefan Tebruck : Kreuzfahrer, Pilger, Reliquiensammler. Der Halberstädter Bischof Konrad von Krosigk (1225) und der Vierte Kreuzzug. In : ...das Heilige sichtbar machen. Domschätze in Vergan-
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Quellen, die von der Reliquienrekondierung berichten, sind bisher nicht bekannt. Als mögliche Anlässe, an die Bergung einer Kreuzreliquie im Triumphkreuz zu erinnern und diese zu verehren, sind die Gedächtnisfeiern des adventus der Reliquien am 16. August eines jeden Jahres sowie die Liturgie der Rekonziliation der Büßer am Gründonnerstag und vor allem die der Kreuzverehrung am Karfreitag denkbar.21 Diese liturgischen Feiern lenken den Blick auf den Ort, an dem diese Gottesdienste stattfanden, auf den Kreuzaltar, der sich auch im frühgotischen Bau des Halberstädter Domes unmittelbar unterhalb der Triumphkreuzgruppe befunden hat.22 Sowohl durch die Ikonographie der Triumphkreuzgruppe als auch durch die depositio von Reliquien des wahren Kreuzes im Christushaupt wird auf das historische Passionsgeschehen verwiesen. Die unter dem Kreuz stehenden Assistenzfiguren Maria und Johannes finden im Kreuzigungsbericht des Johannesevangeliums ( Joh 19,25–27) explizit Erwähnung.23 Auf den Ort des Geschehens, den Golgatha hügel, spielt der im unteren Dreipass kauernde Adam an, der sich aus dem Grab erhebt und das Balkenkreuz mit dem Gekreuzigten stützt. Apokryphe jüdische und frühchristliche Legenden schildern, dass der Stammvater an dem Ort bestattet wurde, an dem zu späterer Zeit das Kreuz Christi aufgestellt wurde, und dass Adam durch das auf seine Gebeine herabtropfende Blut des Gekreuzigten erlöst wurde.24 Die in das Christushaupt eingelegte Kreuzreliquie vergegenwärtigte also Christus selbst, schließlich hatten die Berührung mit dem Gekreuzigten und das Benetzen mit seinem Blut erst zur Heiligung des Kreuzesholzes geführt. Zugleich brachte die Religenheit, Gegenwart und Zukunft. Hrsg. von Ulrike Wendland. Petersberg 2010 (Veröffentlichungen des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt. Arbeitsberichte 9), S. 26– 48 ; vgl. zu den Folgen des Vierten Kreuzzugs für die Verehrung von Reliquien und die Gestaltung der Reliquiare Gia Toussaint : Kreuz und Knochen. Reliquien zur Zeit der Kreuzzüge. Berlin 2011, S. 162–191. 21 Andreas Odenthal : Die Liturgie des Gründonnerstags, Karfreitags und Karsamstags im Halberstädter Dom. Textzeugnisse eines Ordinarius aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In : Archiv für Liturgiewissenschaft 43/44 (2001/2002), S. 22–46, hier S. 29, S. 39 ; Jürgen Bärsch : Kirchenraum und Kirchenschatz im Horizont des mittelalterlichen Gottesdienstes. Die Liturgie als Sinnträger für Gebrauch und Funktion gottesdienstlicher Räume und Kunstwerke. In : ...das Heilige sichtbar machen. Domschätze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hrsg. von Ulrike Wendland. Petersberg 2010 (Veröffentlichungen des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt. Arbeitsberichte 9), S. 31–58, hier S. 36 f. 22 Leopold/Schubert (Anm. 14), S. 72 ; Gerhard Leopold : Dom und Liebfrauen in Halberstadt nach der Brandkatastrophe von 1179. In : Halberstadt. Studien zu Dom und Liebfrauenkirche. Hrsg. von Ernst Ullmann. Berlin 1997, S. 30–42, hier S. 33 f. 23 Vgl. zu Maria und Johannes als Assistenzfiguren mittelalterlicher Triumphkreuzgruppen Beer : Triumphkreuze (Anm. 15), S. 108–116. 24 Franz Kampers : Mittelalterliche Sagen vom Paradiese und vom Holze des Kreuzes Christi in ihren vornehmsten Quellen und in ihren hervorstechendsten Typen. Köln 1897, S. 27 f.
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quie unweigerlich die Kreuzigung als historisches Ereignis in Erinnerung. In dieser Kombination lässt sich die Triumphkreuzgruppe auch als Visualisierung der ehemals unmittelbar unter ihr am Kreuzaltar gefeierten Messliturgie verstehen.25 Wie Amalarius von Metz in seinem Dictum In sacramento panis et vini [...] passio Christi in promptu est ›Im Sakrament des Brotes und Weines [...] steht die Passion Christi vor Augen‹ betonte, vergegenwärtigte schon in der frühmittelalterlichen Anschauung das Altarsakrament das Leiden Christi und gab ihm einen sichtbaren Ausdruck.26 Im Falle des Halberstädter Skulpturenensembles wurde besonders bei der Elevation der konsekrierten Hostie die Relation zwischen verschiedenen theologischen Gegenwartsweisen Christi deutlich :27 Die sakramental gewandelten Gestalten von Brot und Wein wurden in Richtung des bildlich repräsentierten Gottessohnes erhoben, der zudem auch durch die unsichtbare, doch realiter vorhandene Kreuzreliquie als gegenwärtig angesehen wurde.28 Im Moment der Elevation wurde der Blick der Gläubigen durch die Erhebung der konsekrierten eucharistischen Gestalten nach oben gelenkt ; die deutliche Horizontale der Triumphkreuzgruppe unterbrach schließlich diese Vertikalbewegung und zog die Blicke auf sich. Das alles überragende und den Raum dominierende Skulpturenensemble stellte somit ganz unmittelbar das bildhaft vor Augen, was sich in sakramentaler Form auf dem Altar vollzog. Dies lässt sich auch als visuelle Inszenierung der hohen Bedeutung verstehen, die in der mittelalterlichen Sakraltopographie dem Kreuzaltar zukam, den Günter Bandmann zu Recht als den »eigentlichen Christusaltar«29 bezeichnet hat. Die Entstehung der Halberstädter Triumphkreuzgruppe, für deren Holz dendrochronologische Untersuchungen als terminus post quem für das Fällen der Bäume 1211 ergaben, fällt in die Zeit des Vierten Laterankonzils.30 Eines der dort verhandelten Themen betraf die Gegenwartsweise Jesu Christi im Altarsakrament im Verhältnis zur Materie der eucharistischen Gestalten von Brot und Wein. In der Definition gegen die Albigenser und Katharer De fide catholica legte das Konzil verschiedene 25 Vgl. zur generellen Beziehung von Triumphkreuzgruppe und Kreuzaltar Beer : Triumphkreuze (Anm. 15), S. 283 f. 26 Amalar of Metz : On the Liturgy. Volume II. Books 3–4. Hrsg. und üb. von Eric Knibbs. Cambridge, London 2014 (Dumbarton Oaks Medieval Library 35–36), S. 168. 27 Vgl. zur Elevation im Mittelalter Peter Browe : Die Elevation in der Messe. In : Ders.: Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht. Hrsg. von Hubertus Lutterbach/Thomas Flammer. 3. Aufl. Münster 2008, S. 475–508. 28 Paulus Hinz : Gegenwärtige Vergangenheit. Dom und Domschatz zu Halberstadt. Berlin 1962, S. 94–96. 29 Günter Bandmann : Früh- und hochmittelalterliche Altaranordnung als Darstellung. In : Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr. Hrsg. von Victor H. Elbern. Düsseldorf 1962, S. 371–411, hier S. 407. 30 Huth (Anm. 15), S. 55.
Zeigen und Beweisen
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Lehren als orthodox fest. Im Gegensatz zur oft geäußerten Meinung, die Transsubstantiation sei in diesem Dokument dogmatisiert worden, handelte es sich jedoch lediglich um eine lehramtliche Abgrenzung des katholischen Glaubens von Irrlehren.31 So formulierten die Konzilsväter Iesus Christus, cuius corpus et sanguis in sacramento altaris sub speciebus panis et vini veraciter continentur, transubstantiatis pane in cor pus, et vino in sanguinem potestate divina (DH 802). Zwar wurde eine Substanzverwandlung des Brotes in den Leib und des Weines in das Blut Christi durch göttliches Wirken während der Messfeier als rechtgläubige Anschauung definiert, wie diese Wesensverwandlung ablaufen sollte, formulierte das Konzil jedoch nicht. So konnte Gary Macy nachweisen, dass nicht nur vor dieser Erklärung des Lateranums, sondern auch noch lange danach die theologischen Interpretationen der Art der sakramentalen Wandlung stark divergierten.32 Macy führt im Blick auf die Eucharistielehre drei vorherrschende Strömungen an, die der Konsubstantiation, der Annihilation und der Transsubstantiation. Hierbei haben sich zunächst die jeweiligen Vertreter der Lehren, die von der später unter dem Begriff der Transsubstantiation gefassten Anschauung abwichen, selbst keinesfalls als häretisch verstanden. Während vor allem die Frage, inwiefern sich die Gestalten von Brot und Wein nach der Konsekration in ihrem Wesen wandeln, die unterschiedlichen Strömungen trennte, so einte sie der Glaube an die Gegenwart Christi in der Eucharistie. Insofern steht in der hochmittelalterlichen Theologie der Eucharistie der Glaube an die göttliche sakramentale Präsenz generell außer Frage. Diese oft thematisierte und reflektierte leibliche Präsenz Christi ist in der Halberstädter Triumphkreuzgruppe zur Anschauung gebracht, nicht nur durch die Kreuzreliquie und die ikonographische Konzeption, sondern vor allem durch die Gestaltung der Christusskulptur selbst, mit der die Leiblichkeit Christi regelrecht inszeniert wird (Abb. 18). Zum einen ist der Oberkörper differenziert durchgebildet ; am Hals spannen sich durch die Wendung des gesenkten Hauptes die Sehnen- und Muskelstränge deutlich an, darunter zeichnet sich die Brustmuskulatur ab und über dem eingefallenen Bauch stehen die Rippenbögen hervor. Zum anderen schwingt der Leib zur Seite aus und ist zugleich nach vorne gebogen. Dieses Vortreten des Leibes ist unterstützt durch das Balkenkreuz, das seinerseits aus dem Dreipasskreuz herausgestellt ist. An ihm hängt der nach vorne ausgreifende Leib des Gekreuzigten, der dadurch geradezu vor dem Tragebalken und vor allen übrigen Figuren schwebt und in den Kirchenraum hineinragt. Dieser Effekt wird noch dadurch gesteigert, dass das körperliche Volumen der Figuren von außen bis zum Gekreuzigten in der Mitte im31 Vgl. zu dieser Konstitution Foreville (Anm. 13), S. 329–344. 32 Gary Macy : The Dogma of Transubstantiation in the Middle Ages. In : The Journal of Ecclesiastical History 45 (1994), S. 11–41.
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Bruno Reudenbach, Jochen Hermann Vennebusch
mer weiter zunimmt. Die Cherubim auf den Außenpositionen sind brettartig flach gehalten, ohne nennenswerte Tiefe, und kontrastieren so die betonte Leiblichkeit Christi (Abb. 19). Mit der durch das Figurenensemble anschaulich inszenierten Leiblichkeit und der Beziehung der Triumphkreuzgruppe zum Messopfer am darunter stehenden Altar wird das historische Kreuzigungsgeschehen auch anschaulich in das überzeitliche Erlösungswerk transformiert, das im Hier und Jetzt der Messe als memoria passionis immer neu wirksam wird. Es liegt nahe, diese Konstellation mit dem Wandlungsprozess in Verbindung zu bringen, der im dreizehnten Jahrhundert allgemein Denkund Argumentationsformen sowie die damit einhergehende Einschätzung der sinnlichen Wahrnehmung betraf und der spezieller auch Folgen für die Vorstellungen von der Eucharistie hatte. Die Halberstädter Triumphkreuzgruppe kann in diesem Sinne als eine komplexe, unterschiedliche Medien kombinierende Heilsinszenierung verstanden werden, in der das Figurenensemble mit dem gedoppelten Kreuz, seiner Ikonographie und seinen Begleitmotiven, mit der unsichtbar im Haupt geborgenen Reliquie und der räumlichen Disposition mit dem Übereinander von Altar, Messopfer und Triumphkreuz zusammenwirkt. Hierdurch stellt die Skulpturengruppe ein anschauliches Substitut der Gegenwart Christi in der Eucharistie wie in der Kreuzreliquie dar.
Abbildungsnachweis
Abb. 16–19: Janos Stekovics, Dößel
III
Susanne Friede
Die ›Geburt der Prosa‹. Überlegungen zur Entstehung französischer Texte in Prosa (1205–1215) 1. Vorbemerkungen
Warum lassen sich Überlegungen zur Entstehung französischer Prosatexte anstellen, wenn es um Europa 1215 und das Vierte Laterankonzil geht ? Das könnte man wohl mit einigem Recht fragen, zumal es nicht im eigentlichen Sinne um Spuren des Konzils in der volkssprachlichen Literatur gehen wird, wie dies in anderen Beiträgen dieses Bandes der Fall ist. Einzelne Kapitel der Konzilsakten1 lassen sich jedoch durchaus mit der in der romanistischen Mediävistik – man möchte beinahe sagen – ›ewig‹ diskutierten Frage nach Gründen und Anlässen für das ›plötzliche‹ Aufkommen französischer Prosaromane im ersten Jahrzehnt des dreizehnten Jahrhunderts in Verbindung bringen.2 Die Vorstellung von einer spontanen Mutation der Darstellungsmodi und ihrer Bedeutung ist literatur- und geistesgeschichtlich besonders frappierend, wenn man sich vor Augen führt, dass bereits in Dantes De vulgari eloquentia, also weniger als hundert Jahre nach dem hier untersuchten Jahrzehnt, die französische Literatursprache im Unterschied zur provenzalischen ganz selbstverständlich als die ›Sprache der Prosa‹ charakterisiert wird.3
1 Bemerkungen zu theologisch-systematischen Inhalten (nicht aber zur Prosaform), die sowohl auf Diskurse des Konzils als auch auf Inhalte altfranzösischer literarischer Texte bezogen werden, finden sich z.B. bei Richard O’Gorman : Robert de Boron’s Angelology and Elements of Heretical Doctrine. In : Zeitschrift für romanische Philologie 109 (1993), S. 539–555, hier : S. 540 (u.a. zur Trinitätsauffassung). 2 Charakteristisch für die genannte Diskussion ist der metaphorische Sprachgebrauch, der das Aufkommen der Prosaromane (z. T. wird generalisiert vom Aufkommen der Prosa überhaupt gesprochen) bezeichnet. Vgl. exemplarisch (und wirkmächtig für die Diskussion) : Jean Frappier : La naissance et l’évolution du roman arthurien en prose. In : Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Hrsg. von Jean Frappier/Reinhold R. Grimm. Heidelberg 1978 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters 4/1), S. 503–512. Neben Termini wie naissance und évolution verwendet Frappier metaphorisch z.B. auch den Ausdruck »métamorphose« (S. 503) für den ›Umschwung‹, welcher die Volkssprache durch das Aufkommen der Prosaromane verändert habe. 3 Siehe Dante Alighieri : De vulgari eloquentia. Ridotto a miglior lezione, commentato e tradotto da Aristide Marigo. Con introdzione, analisi metrica della canzone, studio della lingua e glossario. Hrsg. von Pier Giorgio Ricci. Florenz 1957 (11948), Buch I, Kap. X, Abschnitt 2 (S. 74–76) : Al legat ergo pro se lingua oïl quod propter sui faciliorem se delectabiliorem vulgaritatem quicquid redactum est sive inventum ad vulgare prosaycum, suum est […].
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Vorauszuschicken sind daher zwei Bemerkungen : 1. Es handelt sich nicht im eigentlichen Sinne um die ›Geburt der Prosa‹, denn bereits die im Allgemeinen als erstes altfranzösisches Sprachzeugnis angesehenen Straßburger Eide von 842 sind in Prosa abgefasst.4 Vom neunten bis zum beginnenden dreizehnten Jahrhundert existieren durchaus immer auch französische Texte in Prosa, vor allem Urkunden und Rechtstexte, später Bibelübersetzungen und -kommentare sowie einige historiographische Texte.5 Dennoch haben wir es bei der ›Erneuerung‹ der Prosa zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts mit einer entscheidenden Zäsur, einem ›Umschwung‹ und vielleicht auch einem ›Neubeginn‹ innerhalb der französischen Literatur, der französischen Literatursprache und damit auch innerhalb der Konzeption des literarischen Äußerungsmodus als solchem zu tun. Es handelt sich de facto um das Aufkommen langer Prosatexte, die auch (und dieses auch ist in unserem Kontext von zentraler Bedeutung) Merkmale des Romans aufweisen, d. h. derjenigen Textsorte, die zuvor nur in Versen, als Versroman, vor allem (aber nicht nur) als Versroman Chrétiens de Troyes im letzten Drittel des zwölften Jahrhunderts, das literarische System geprägt hatte. 2. Diese Prosatexte des frühen dreizehnten Jahrhunderts stellen nicht nur aus der rückwärtsgewandten distanzierten Perspektive einer modernen Literaturbetrachtung etwas ›Neues‹ dar. Bereits im Rezeptionshorizont der Zeitgenossen, d. h. schon unmittelbar zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts, erscheint in bestimmten Kontexten die Frage nach der Verwendung von Prosa anstelle des Verses von enormer Bedeutung. Diesbezüglich findet sich einer der ersten, häufig zitierten loci classici in der ersten Übersetzung des sogenannten Pseudo-Turpin, die wohl kurz nach 1195 von den Verwandten des verstorbenen Balduin VIII. von Flandern in Auftrag gegeben wurde : En l’enor nostre Seignor […] voil comencier l’estoire si cum li bons enpereire Karlemaines en ala en Espagnie por la terra conquerra sor Sarrazins. Maintes gens en ont oï conter e chanter, mes n’est si mensongie non ço qu’il en dient e chantent ci jogleor ne cil conteor. Nus contes rimés n’est verais. Tot est menssongie ço qu’il en dient, quar il non seivent rien fors par oïr dire.6 4 Siehe Brian Woledge/H. P. Clive : Répertoire des plus anciens textes en prose française depuis 842 jusqu’aux premières années du XIIIe siècle. Genf 1964 (Publications romanes et françaises 74), S. 10–12. 5 Siehe ebd., S. 12–34, zu den genannten Textgruppen. Vgl. auch die im eigentlichen Répertoire unter Einzelziffern spezifizierten Erläuterungen zu den einzelnen Prosatexten. 6 Le Turpin français (Turpin I), ebd., S. 27. Zum Pseudo-Turpin in den unterschiedlichen Versionen siehe ebd., n. 43–47, S. 99–103. Zur Datierung der ersten Version auf den Zeitraum zwischen 1195 und etwa 1202 siehe ebd., S. 100. Vgl. auch Claudio Galderisi : Vers et prose au Moyen Âge. In :
Die ›Geburt der Prosa‹
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Bei der Ehre unseres Herrn […] will ich die Erzählung beginnen, wie der gute Kaiser Karl der Große sich nach Spanien aufmachte, um das Land gegen die Sarazenen zu erobern. Viele haben diesbezüglich etwas erzählen und davon singen gehört, aber es ist alles Lüge, was diese Spielleute und Erzähler darüber sagen und singen. Keine gereimte Erzählung ist wahr. Alles ist Lüge, was sie darüber sagen, denn sie wissen nichts, außer vom Hörensagen. (Übersetzung : S. F.)
Hier werden die gereimte Überlieferung als solche und selbst die potenziell schriftliche Verbreitung von in Versen verschriftlichten Inhalten mit der Lüge gleichgesetzt.7 Zugleich scheint die Frage nach dem ›das Wahre Sagen‹, die Idee, durch die nichtgereimte Verschriftlichung nicht nur eine, sondern die Wahrheit zu beanspruchen, die Argumentation zu bestimmen.
2. Ältere Überlegungen zur Entstehung der französischen Prosaromane des dreizehnten Jahrhunderts
Seitdem sich Erich Köhler vor etwas mehr als sechzig Jahren Zur Entstehung des altfranzösischen Prosaromans geäußert hat,8 kann beinahe jedes folgende Jahrzehnt – das gilt im Übrigen auch schon für die Jahrzehnte vor Köhler, aber es ist, was die Argumentationslinien betrifft, ausreichend, mit Köhler zu beginnen – mindestens einen Erklärungsansatz für die Frage nach dieser plötzlichen, gewissermaßen wunderbaren Entstehung der französischen Prosaromane vorweisen. Köhler zufolge ist z.B. eine heute selbstverständlich akzeptierte Auffassung tatsächlich niemals ausreichend begründet worden, nämlich die Auffassung, dass die frühen französischen Prosaromane im Grunde und vor allem dem Modell lateinischer und volkssprachlicher zeitgenössischer (und auch vorangehender) Historiographie folgen.9 Wenn wir auch inzwischen schon aufgrund der Erforschung der materiellen, d. h. vor allem der handschriftlichen Grundlagen über einen anderen Wissensstand als zum Zeitpunkt der Abfassung von Histoire de la France littéraire. Bd. 1 : Naissances, Renaissances. Moyen Âge–XVIe. Hrsg. von Frank Lestringant/Michel Zink. Paris 2009 (12006), S. 745–766, hier : S. 754. 7 Zur Kritik an gereimten Texten um die Jahrhundertwende vgl. mit weiteren Belegen auch Michel Stanesco : Les romans en prose au Moyen Âge. In : Histoire de la France littéraire. Bd. 1 : Naissances, Renaissances. Moyen Âge–XVIe. Hrsg. von Frank Lestringant/Michel Zink. Paris 2009 (12006), S. 970–983, hier : S. 971–973. 8 Erich Köhler : Zur Entstehung des altfranzösischen Prosaromans. In : Trobadorlyrik und höfischer Roman. Aufsätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dems. Berlin 1962 (11955/56), S. 213–223. 9 Ebd., S. 214.
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Susanne Friede
Köhlers Argumentation verfügen, scheint es dennoch geboten, diese kritische Feststellung Köhlers in unsere Überlegungen miteinzubeziehen. Eine andere Bemerkung Köhlers, die es sich auch heute noch immer wieder in Erinnerung zu rufen lohnt, ist diejenige, dass, während die Verwendung von volkssprachlichen Versen – selbst für die Darstellung von im weitesten Sinne religiösen Inhalten – stets zumindest potenziell einer Rechtfertigung bedurfte, die Verfasser von Prosatexten – unabhängig von der verwendeten Sprache – die Wahl der Prosa nicht per se positiv rechtfertigen mussten, und zwar schon deshalb, weil die Prosa als solche durch das biblische Modell eine stärkere Daseinsberechtigung besaß als in Versen abgefasste Texte.10 So finden sich in frühen altfranzösischen Prosatexten keine genuin ›verteidigenden‹ Begründungen für die Wahl der Prosa. Demgegenüber lassen die ab dem zweiten Drittel des zwölften Jahrhunderts verfassten Versromane – besonders in ihren Prologen – zunehmend das Bedürfnis nach einer Rechtfertigung des behandelten Inhalts, aber auch der versifizierten Form des volkssprachlichen Textes erkennen. Die Prologe (ergänzt bzw. stellvertretend ersetzt durch Kommentare der jeweiligen Erzählinstanzen) der antikisierenden Romane (Thebenroman, Eneasroman und Trojaroman) sowie der Vulgata des Alexanderromans, aber auch die sogenannten ›bretonischen‹ Romane Chrétiens verzeichnen sämtlich ausdifferenzierte Selbstautorisierungsstrategien der Erzählinstanz.11 Besonders bekannt sind in diesem Zusammenhang die Reflexionen über den Wahrheitsanspruch der benutzten Quellen sowie über die korrekte Zusammenfügung verschiedener narrativer Segmente durch den Erzähler.12 Im Anschluss an Köhler (und wir werden später kurz auf seinen Ansatz zurückkommen) sind vor allem zwei Artikel aus den 1970er Jahren zu nennen, die beide im Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters erschienen sind : Wolf-Dieter Stempels Die Anfänge der romanischen Prosa im XIII. Jahrhundert (1972) und Daniel Poirions Romans en vers et romans en prose (1978).13 10 Vgl. ebd., S. 216. 11 Literatur zu Chrétiens Prologen kann an dieser Stelle aufgrund ihrer Fülle nicht angegeben werden. Zu den antikisierenden Romanen vgl. u.a. Udo Schöning : Thebenroman – Eneasroman – Trojaroman. Tübingen 1991 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 235), S. 68, S. 73–83 sowie S. 98– 127. Zum Alexanderroman ebd., S. 41–43, S. 48–51, sowie Catherine Gaullier-Bougassas : Les Romans d’Alexandre. Aux frontières de l’épique et du romanesque. Paris 1998 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 42), S. 203–216. 12 Vgl. Galderisi (Anm. 6), S. 747–748. 13 Wolf-Dieter Stempel : Die Anfänge der romanischen Prosa im XIII. Jahrhundert. In : Généralités. Hrsg. von Maurice Delbouille. Heidelberg 1972 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters 1), S. 585–601 ; Daniel Poirion : Romans en vers et romans en prose. In : Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Hrsg. von Jean Frappier/Reinhold R. Grimm. Heidelberg 1978 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters 4/1), S. 74–81.
Die ›Geburt der Prosa‹
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Stempel behandelt die Entstehung der französischen Prosa im dreizehnten Jahrhundert grundsätzlich im europäischen Kontext. Er unterstreicht zu Recht, dass beinahe alle Prologe von Prosatexten, in denen die Erzählinstanzen gegen die Lügenhaftigkeit der Verstexte polemisieren, zu Texten gehören, die aus dem Lateinischen übersetzt wurden.14 Diese Beobachtung ist in der Folge in der Forschung nicht ausreichend genutzt worden. Stempel jedenfalls zieht aus ihr den Schluss, dass der bestehende ›Abstand‹ zwischen dem lateinischen Modelltext (in Prosa) und der Übertragung in die Volkssprache – die bis dahin beinahe immer und quasi automatisch in einen französischen Verstext mündete – erst in dem Augenblick wirklich wahrnehmbar und damit virulent wurde, in dem die Übertragungen lateinischer Texte nun als Resultat ebenfalls einen Prosatext, nur eben in der Volkssprache, zur Folge hatten.15 Das bedeutet also auch : Ein solcher neuer französischer Prosatext musste sich offenbar besonders stark von den anderen französischen Texten, und d. h. denen in Versen, absetzen, das aber bei gleichzeitiger Beibehaltung des Rekurses auf das autoritätsstiftende lateinische Modell. Müssten deshalb nicht – so unser Eindruck – gerade die lateinischen Modelle und die entsprechenden Textsorten viel intensiver in ihrer Funktion als Auslöser für die offenbar als zunehmend notwendiger und attraktiver angesehene Verwendung der volkssprachlichen Prosa berücksichtigt werden ? Stempel verweist zudem zu Recht auf ein immer größeres Publikum von Laien, das in religiöser und didaktischer Hinsicht nach Belehrung im weitesten Sinne verlangte.16 Volkssprachliche Prosatexte, die sich ihrem Darstellungsmodus nach den lateinischen anschlossen, konnten im Übrigen zudem für den Klerus und alle, die Latein lasen, in genau den Bereichen, die diese Rezipientengruppe interessieren konnten – also die Historiographie und die Behandlung und Vermittlung religiöser Inhalte –, in Richtung sowohl des Lateinischen als auch der Volkssprache die Dinge nur vereinfachen.17 14 Siehe Stempel (Anm. 13), S. 586–587. Die genannten Beispiele umfassen auch die Übertragungen der Chronik des Pseudo-Turpin. 15 Ebd., S. 586 : »Man wird daraus wohl folgern dürfen, daß in der Übersetzung die Diskrepanz zwischen lateinischer Prosavorlage und Reimübertragung nunmehr als unbefriedigend empfunden wurde und durch die Prosafassung auf ein Mindestmaß reduziert werden sollte.« 16 Siehe ebd., S. 587–588, wobei in Bezug auf unterschiedliche Kulturräume wie Italien, die Iberische Halbinsel etc. (im Rahmen des Umfangs) differenziert argumentiert wird. 17 Ähnlich argumentiert auch Stempel, ebd., S. 590 : »Es darf somit wohl vermutet werden, daß Prosa nicht in erster Linie für des Lesens unkundige Laien, sondern viel eher für eine gebildete, fortschreitend auch Geistliche einschließende Leserschaft verfaßt wurde, welche die Verwendung der neuen Form als fällig gewordene Angleichung der eigenen an die lateinische Literatursprache begrüßte. Nichts spricht deutlicher für diese Emanzipation der Volkssprache zum legitimen Instrument literarischer Darstellung als die Tatsache, daß nunmehr auch Übersetzungen von französischen, italienischen und spanischen Prosatexten ins Lateinische angefertigt wurden ; die Konkurrenz zwischen traditionel-
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Ein in der Regel wenig zitierter Artikel von Hans-Josef Niederehe, erschienen im Jahr 1993, enthält zumindest einige Bemerkungen, die in eine ähnliche Richtung weisen, insofern er unterstreicht, dass der scholastischen Disziplin der Logik – in ihrer natürlichen Opposition zu ›rein‹ literarischen und unterhaltenden Texten – seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts auch im Hinblick auf den Darstellungsmodus der Prosa (so unsere Ausdrucksweise) ein immer größerer Einfluss zugekommen sein dürfte.18 Zentrale Argumente, die schon immer die Entstehung der französischen Prosaromane erklären sollten und die u.a. von Stempel wie auch von Poirion genannt werden, sind der Einfluss der Historiographie und der Einfluss eines »enzyklopädischen« Zugriffs auf die Welt.19 Was den Einfluss der Historiographie angeht, so existieren im Grunde zwei unterschiedliche Hypothesen, die sich jedoch ergänzen und eigentlich nur zwei Facetten derselben Argumentation darstellen : 1. Auf der einen Seite wird die Bedeutung der Chroniken und der Kreuzzugsberichte für den Prosaroman unterstrichen, die schon lange vor dem Beginn des dreizehnten Jahrhunderts auch in der Volkssprache (zunächst aber eben in Versform) verfasst wurden, die sich aber in der Verwendung der Prosa dann ihrerseits stark an den lateinischen Kreuzzugsberichten orientierten, wie sie seit gut hundert Jahren zirkulierten.20 Neben dem Pseudo-Turpin sind hier die Berichte über den Vierten Kreuzzug von Geoffroy de Villehardouin und Robert de Clari zu nennen.21 Ein interessanler und neuer Literatursprache hat nun erst eigentlich begonnen, wofür nicht zuletzt auch der Umstand spricht, daß volkssprachliche Handschriften erst seit dem XIII. Jahrhundert in größerer Anzahl in Erscheinung treten.« 18 Hans-Josef Niederehe : Dichtung oder Wahrheit. Einige Anmerkungen zur Entstehung der französischen Prosa. In : Literarhistorische Begegnungen. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Bernhard König. Hrsg. von Andreas Kablitz/Ulrich Schulz-Buschhaus. Tübingen 1993, S. 279–291, hier : S. 282–283. Das Argument der Scholastik verwendet auch Galderisi (Anm. 6), S. 756. 19 Vgl. Stempel (Anm. 13), S. 592, S. 595 ; Poirion (Anm. 13), S. 75, hebt den konservatorischen und Wissen akkumulierenden Aspekt der Prosawerke hervor. Siehe ebd., S. 76, für die Rolle der Historiographie. Für die Rolle historiographischer Modelle vor allem in den späteren arthurischen Prosaromanen des dreizehnten Jahrhunderts vgl. Elspeth Kennedy : Intertextuality between genres in the Lancelot-Grail. In : Text and Intertext in Medieval Arthurian Literature. Hrsg. von Norris J. Lacy. New York, London 1996, S. 71–89. 20 Für die lateinischen Chroniken siehe u.a.: Chronique anonyme de la première croisade. Traduite du latin et présentée par Aude Matignon. Paris 2007 ; Foucher de Chartres : Histoire de la croisade. Le récit d’un témoin de la première Croisade. 1095–1106. Traduction par M. Guizot. Présentation de Jeanne Ménard. Paris 2001. Vgl. auch den von Stempel (Anm. 13), S. 592, angeführten Kommentar zu französischen Prosaberichten eines englischen Verfassers schon über den Dritten Kreuzzug. 21 Siehe Robert W. Hanning : Arthurian Evangelists : The Language of Truth in Thirteenth-Century French Prose Romances. In : Philological Quaterly 64 (1985), S. 347–365, hier : S. 352–353. Vgl. auch
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tes, weil gegenläufiges Beispiel ist in diesem Zusammenhang die jüngst (teil)edierte französische, in Zwölfsilbern abgefasste Chanson de la Première Croisade en ancien français d’après Baudri de Bourgueil vom Beginn des dreizehnten Jahrhunderts, die vielfache direkte Bezüge auf die lateinische Vorlage erkennen lässt und thematisiert.22 Sie stellt gewissermaßen eine volkssprachliche – sicher nicht zufällig im unmittelbaren Umfeld des Vierten Kreuzzuges entstandene – retractatio der lateinischen Berichte über den Ersten Kreuzzug dar, die durch die Wahl des Alexandriners zugleich den Bezug auf den Alexanderroman und die chansons de croisade unterstreicht. Hieran wird deutlich, dass kurz nach 1200 mit Vers und Prosa in der Volkssprache zumindest für bestimmte Gegenstände erstmals zwei gleichberechtigte Ausdrucksmodi zur Wahl stehen. 2. Auf der anderen Seite steht die lateinische Historiographie, der gegenüber allerdings die französische Historiographie, auch wenn sie in Versen abgefasst war, dank ihrer zunehmenden Autorität durchaus konkurrenzfähig war.23 Deswegen kann ebenfalls argumentiert werden, dass eine Angleichung auf formaler Ebene gewissermaßen die selbstverständliche Konsequenz aus dieser Konkurrenzfähigkeit darstellte. Jedenfalls lässt sich konstatieren, dass sich bezüglich einer möglichen prosifizierenden Wirkung, die z.B. die Kreuzzugsberichte hinsichtlich des Prosaromans ausübten, das enzyklopädische Argument (vertreten z.B. in der Beschreibung der Geographie des Raumes und der Beschreibung der vorgefundenen Reliquien), das historiographische Argument und ebenso das Argument einer an das christliche, aber nicht am Kreuzzug teilnehmende Publikum gerichteten Belehrung in perfekter Manier überlagern und ergänzen.
Geoffroy de Villehardouin : La conquête de Constantinople. Éditée et traduite par Edmond Faral. 2 Bde. Paris 1938/1939 (Nachdruck 1961) ; Robert de Clari : La conquête de Constantinople. Hrsg. von Philippe Lauer. Paris 1924. Vgl. auch Robert de Clari : La conquête de Constantinople. Traduction, introduction et notes par Alexandre Micha. Paris 1991. Zum Wahrheitsanspruch vgl. Frank Brandsma : The Eyewitness Narrator in Vernacular Prose Chronicles and Prose Romances. In : Text and Intertext in Medieval Arthurian Literature. Hrsg. von Norris J. Lacy. New York, London 1996, S. 57–69. 22 La Chanson de la Première Croisade en ancien français d’après Baudri de Bourgueil. Hrsg. von Jennifer Gabel de Aguirre. Heidelberg 2015. 23 Zur frühen volkssprachlichen Verschronik siehe jüngst : Susanne Friede : Die Stimme(n) der Chronik. Zur Konstruktion von Autorität in Waces Roman de Brut. In : Autorschaft und Autorität in den romanischen Literaturen des Mittelalters. Hrsg. von Susanne Friede/Michael Schwarze. Berlin, Boston 2015 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 390), S. 147–167.
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3. Die Textsorte der Predigt und ihre Rolle im Diskurs des Vierten Laterankonzils
Die Diskussion um die Entstehung der französischen Prosaromane kann nicht ohne den Blick auf eine Textsorte geführt werden, die zwar verschiedentlich als Bezugsgröße für die volkssprachliche Prosa genannt, jedoch nur selten einer genaueren Betrachtung unterzogen wird. Die Rede ist von der Textsorte der Predigt. Es handelt sich jedoch keinesfalls um eine klar umrissene Textgattung mit einem festen Bestand an operationalisierbaren Merkmalen. In den Handschriften findet sich aus volkssprachlicher Sicht – neben kanonisierten Predigtsammlungen wie der von Maurice de Sully, die etwas älter als die frühesten Prosaromane ist – eine bunte Mischung von religiös-didaktisierenden Texten unterschiedlicher Couleur, die nur z. T. als sermo nes/sermons oder Homelien gekennzeichnet sind, die aber alle – wie Michel Zink eindrucksvoll gezeigt hat – aus der volkssprachlichen Predigt hervorgehen können oder sich fallweise mit dieser überschneiden.24 Die vor oder – nicht in jedem Fall exakt datierbar – um 1300 entstandenen Handschriften versammeln (Seite an Seite mit diesen ›reinen‹ Predigten) religiöse Vorschriften, erbauliche Traktate, Briefe und moralisierende und fromme Abhandlungen ohne Bezug zum liturgischen Jahresablauf und z. T. ohne präzises Thema sowie daneben auch Heiligenviten. Die Verfertigung der Handschriften lässt diesbezüglich also kein homogenes literarisches Bewusstsein von Textsortengrenzen erkennen,25 es ist jedoch ohne Zweifel so, dass in diesem handschriftlich auf uns gekommenen Kontext
24 Siehe zur Definition der Predigt vor und um 1300 : Michel Zink : La prédication en langue romane avant 1300. Paris 1982 (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge 4), bes. S. 17–18. Siehe ebd., S. 12, zur Datierung der Predigtsammlung von Maurice de Sully. Vgl. zu Sullys Sammlung nach wie vor Paul Meyer : Les Manuscrits des sermons français de Maurice de Sully. In : Romania 5 (1876), S. 466–487. 25 Dies äußert sich auch in der nicht homogenen Verwendung von Titeln für bestimmte Werke. Vgl. für das Beispiel der lateinischen wie auch der volkssprachigen Version des apokryphen Nikodemus-Evange liums : L’Évangile de Nicodème. Les versions courtes en ancien français et en prose. Hrsg. von Alvin E. Ford. Genf 1973 (Publications romanes et françaises 125), S. 15–18. Vorhandensein oder Fehlen eines Titels korrelieren weder mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Version noch mit dem Alter der jeweiligen (aus dem dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhundert stammenden) Handschriften. Vgl. hierzu auch : Lydie Lansard : Interférences auctoriales et oscillations génériques à l’œuvre dans quelques réécritures en langue vernaculaire et en prose de l’Évangile de Nicodème. In : Les genres au Moyen Âge. La question de l’hétérogénéité. Hrsg. von Hélène Charpentier/Valérie Fasseur. Bandol 2010 (Méthode ! 17), S. 147–154, bes. S. 147–149, sowie Richard O’Gorman : The Gospel of Ni codemus in the Vernacular Literature of Medieval France. In : The Medieval Gospel of Nicodemus. Texts, Intertexts, and Contexts in Western Europe. Hrsg. von Zbigniew Izydorczyk. Tempe, Arizona 1997, S. 103–131, hier : S. 107 : »[…] in most cases the Évangile figures as one element in larger compilations of pious material, sacred history, or hagiographical legends«.
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der ›reinen‹ Predigt eine Vielzahl unterschiedlicher religiöser Texte mit vermittelndem Impetus zur Seite steht.26 Die Handschriften enthalten zudem regelmäßig sowohl lateinische als auch volkssprachliche Texte und illustrieren so auf unterschiedlichen Ebenen die Tatsache, dass die mittelalterliche sprachübergreifende Textsorte Predigt im Grenzbereich zwischen lateinischer klerikaler Kultur und volkssprachlicher Profankultur zu verorten ist.27 Für alle diese Texte im Umkreis der Textsorte Predigt gilt, dass von einer Multifunktionalität der Texte auszugehen ist, die je nach Handschriftenkontext variabel sein kann. In einer Predigtsammlung kann auch ein in anderem Kontext als Heiligenvita auftretender Text zur Predigt werden, ein für die Predigt im Kirchenjahr vorgesehener Text in einer Handschrift kann anderswo entsprechend dem Kontext offenbar zur erbaulichen Lektüre des Einzelnen vorgesehen sein. Für die einzelnen Handschriften, die Predigttexte in diesem weiten Sinne enthalten, gilt zudem, dass Seite an Seite zwar überwiegend Prosatexte – so sind Predigten lateinisch wie volkssprachlich in aller Regel in Prosa abgefasst –, aber auch z. T. Texte in Versen, wie z.B. Heiligenlegenden oder eine Passion Christi, nebeneinanderstehen. Werfen wir nun einen Blick auf einige einschlägige Kapitel der Akten des Vierten Laterankonzils, die sich mit dem Thema der Predigt und vor allem mit den Bedingungen des Predigens befassen. Das dritte Kapitel spricht davon, dass aufgrund der anmaßenden Predigttätigkeit einiger Häretiker – authoritatem sibi vindicant prae dicandi – zukünftig niemand ohne die Erlaubnis des Heiligen Stuhls oder eines Bischofs predigen dürfe, und dies gelte öffentlich wie privat – da diese eben publice vel privatim praedicationis officium usurpare praesumpserint.28 Nicht nur die Tätigkeit des Predigens wird hier klaren Beschränkungen unterworfen, sondern mittelbar wird auch die Textsorte der Predigt – indirekt und insofern sie schriftlich oder münd26 Vgl. auch Zink (Anm. 24), S. 17 und S. 31. 27 Vgl. ebd., S. 12. Vgl. auch die Handschriftenbeschreibungen von Alvin E. Ford (Anm. 25), S. 21–27. 28 Die entsprechende Passage lautet in ihrer Gesamtheit : Quia vero nonnulli sub specie pietatis, virtutem ejus, juxta quod ait apostolus, abnegantes, authoritatem sibi vindicant praedicandi, cum idem apostolus dicat : ›Quomodo praedicabunt, nisi mittantur ?‹ omnes qui prohibiti, vel non missi, praeter authorita tem ab apostolica Sede, vel catholico episcopo loci susceptam, publice vel privatim praedicationis officium usurpare praesumpserint, excommunicationis vinculo innodentur : et nisi quantocius resipuerint, alia com petenti poena plectantur. Alle lateinischen Zitate sind hier und im Folgenden entnommen aus der zweisprachigen Ausgabe : Carl Joseph Hefele : Histoire des conciles d’après les documents originaux. Nouvelle traductions française corrigée et augmentée par H. Leclercq. Bd. 5/2. Hildesheim, New York 1973 (1Paris 1913). Für die Zitate siehe ebd., S. 1332. Für eine lateinische Textsammlung zum Konzil vgl. zudem Johannes Dominicus Mansi : Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Bd. 22. Graz 1961 (1Paris 1903). Ältere Literatur ist verzeichnet in : Die mittelalterliche Kirche. Zweiter Halbband : Vom kirchlichen Hochmittelalter bis zum Vorabend der Reformation. Hrsg. von Hans-Georg Beck u.a. Freiburg u.a. 1973, S. 206–215.
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lich an einen pragmatischen Kontext, einen Sitz im Leben gebunden ist – zu einem Sprech- oder Schreibakt, der prinzipiell einem Rechtfertigungsgebot unterliegt. Hinzu kommt in unserem Kontext jedoch – in gewissem Sinne gegenläufig – die Ausweitung der Predigttätigkeit, die das neunte und zehnte Kapitel behandeln. Das neunte Kapitel verleiht dem Bedürfnis nach einer Predigttätigkeit in den verschiedenen Volkssprachen Ausdruck. So geht es darum, geeignete Prediger zu finden, die secundum diversitates rituum et linguarum divina officia celebrent […] instruendo […] verbo pariter et exemplo.29 Das zehnte Kapitel regelt die Designation geeigneter Prediger, die anstelle der Bischöfe in weitläufigen Diözesen oder bei Verhinderung des Bischofs das Predigtamt übernehmen können : ut episcopi viros idoneos ad sanctae praedicationis officium salubriter exequendum assumant, potentes in opere et sermone.30 Potentes in sermone – auch hier wird auf eine spezifische Eignung für das officium praedicationis abgehoben, die gleichzeitig erneut auch bestimmte Ansprüche an die Textsorte der Predigt und deren Qualität suggeriert. Diese Kapitel können unseres Erachtens zusammengenommen als Indikator dafür fungieren, dass in der Zeit vor 1215 – und damit in demjenigen Jahrzehnt, in dem (spätestens) die ersten altfranzösischen Prosaromane entstanden sein dürften31 – einerseits ein gesteigerter Bedarf nicht nur an Predigern, sondern auch an geeigneten Predigten, auch in der Volkssprache, bestand und dass andererseits die Textsorte der Predigt als solche und ihre Inhalte im Begriff waren, immer schärfer in das Blickfeld der kirchlichen Autoritäten zu rücken.
29 Die entsprechende Passage (siehe Hefele, Anm. 28, S. 1339) lautet in ihrer Gesamtheit : Quoniam in plerisque partibus intra eamdem civitatem atque dioecesim permixti sunt populi diversarum linguarum habentes sub una fide varios ritus et mores ; districte praecipimus, ut pontifices hujusmodi civitatum sive dioecesum provideant viros idoneos, qui secundum diversitates rituum et linguarum divina officia illis celebrent, et ecclesiastica sacramenta ministrent, instruendo eos verbo pariter et exemplo. 30 Die entsprechende Passage (siehe Hefele, Anm. 28, S. 1340) lautet in ihrer Gesamtheit : Unde cum saepe contingat, quod episcopi propter occupationes multiplices, vel invaletudines corporales, aut hostiles incursus, seu occasiones alias (ne dicamus defectum scientiae, quod in eis est reprobandum omnino, nec de cetero tolerandum) per se ipsos non sufficiunt ministrare populo verbum Dei, maxime per amplas dioeceses et diffusas, generali constitutione sancimus, ut episcopi viros idoneos ad sanctae praedicationis officium sa lubriter exequendum assumant, potentes in opere et sermone, qui plebes sibi commissas, vice ipsorum, cum per se idem nequiverint, sollicite visitantes, eas verbo aedificent et exemplo : quibus ipsi, cum indiguerint, congrue necessaria ministrent, ne pro necessariorum defectu compellantur desistere ab incoepto. 31 Vgl. hierzu in Bezug auf den Prosa-Lancelot-Gral-Zyklus Ulrich Mölk : Literarhistorische Einführung. In : Lancelot en prose. Farbmikrofiche-Edition der Handschrift Bonn, Universitätsbibliothek, Handschrift S 526. München 1992 (Codices illuminati medii aevi 28), S. 7–25.
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4. Die Rolle der Gralsmatière für die Prosafrage
Im skizzierten Kontext ist es sicher nicht zufällig die Gralsmatière, die als erster Stoff, der auch im höfischen Roman – und damit in gänzlich fiktionalen Texten – Ausdruck gefunden hatte, in Prosatexten behandelt wurde. Dabei ist entscheidend, dass wir zumindest zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Matière in die Prosa übertragen wird, nicht mehr von einer genuin literarischen Matière sprechen können.32 In demjenigen Text, der, in Versen verfasst, den Ausgangspunkt für die erste Prosaübertragung der Gralsmatière bildet – der um 1200 von Robert de Boron verfasste Roman de l’Estoire dou Graal (›Roman der Geschichte des Grals‹), wegen seiner Hauptfigur auch Joseph d’Arimathie genannt33 –, kreuzen, überlagern sich und verschmelzen die drei im Rahmen des ersten Teils erwähnten Diskurse, vor allem jedoch der historiographische und der religiöse, und zwar so vollständig, dass man sie im Grunde überhaupt nur noch heuristisch trennen und als solche benennen kann.34 Spuren der Darstellungsweise des höfischen Romans lassen sich in Roberts Text hingegen praktisch nicht finden. Dieser Text, der uns in Versen nur in einer einzigen Handschrift überliefert ist, ist in den ersten Jahren des dreizehnten Jahrhunderts in Prosa übertragen worden.35 Die für diese Prosaübertragung zahlreichen Handschriften erwähnen z. T. noch den Namen Roberts de Boron, andere unterdrücken diesen jedoch auch.36 Berichtet wird in beiden Texten, grob gesprochen, von der – mit Bezug auf das apokryphe Nikodemus-Evangelium entwickelten – Rolle Josephs von Arimathia innerhalb der Passionsgeschichte und weit darüber hinaus, insofern dieser von Christus selbst als erster Gralshüter und seine Familie als der zukünftige Verbund der Gralshüter eingesetzt wird.37 32 Zur Frage, ob und wie die Gralsmatière in Beziehung zu den von Jehan Bodel genannten drei matieres gesetzt werden muss, siehe Susanne Friede : Les débuts d’une matière : approches definitoires et éléments constitutifs de la ›matière du Graal‹. In : Matières à debat. La notion de matière littéraire dans la littérature médiévale. Hrsg. von Christine Ferlampin-Acher/Catalina Girbea. Rennes 2017, S. 491–501. 33 Grundlage ist hier und im Folgenden für den Verstext die Ausgabe Robert de Boron : Le roman de l’Es toire dou Graal. Hrsg. von William A. Nitze. Paris 1999 (Les classiques français du Moyen Âge 57) (11971) sowie für den Prosatext die Ausgabe : Robert de Boron : Joseph d’Arimathie. A Critical Edition of the Verse and Prose Versions. Hrsg. von Richard O’Gorman. Toronto 1973. Zur Datierung siehe ebd., die Einleitung. Die Datierung des Textes um 1200 ist heute allgemein akzeptiert ; vgl.: Les Métamorphoses du Graal. Anthologie. Traduction et présentation par Claude Lachet. Paris 2012, S. 73. 34 Siehe allg. zum Roman de l’Estoire dou Graal Jean-René Valette : La pensée du Graal. Fiction littéraire et théologie (XIIe–XIIIe siècle). Paris 2008, bes. S. 29–35 und S. 487–505 ; Thomas Ollig : Elemente christlicher Spiritualität im altfranzösischen Gralskorpus. Münster 2012 (Erudiri Sapientia 8), S. 89–187 (z. T. auch zur Prosafassung). 35 Zur Datierung der Prosafassung siehe die in Anm. 33 genannten Belege sowie Stanesco (Anm. 7), S. 970. 36 Siehe Richard Trachsler : Merlin l’enchanteur. Étude sur le Merlin de Robert de Boron. Paris 2000, S. 49–62. 37 Vgl. Alexandre Micha : Matière et sen dans l’Estoire dou Graal de Robert de Boron. In : Roma-
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Die besondere Stellung dieser Prosaübertragung, aber auch schon des Ausgangstextes in Versen für die Debatte um die Entstehung der Prosa erfordert es, dass wir noch einmal auf die entsprechende Forschungsdiskussion zurückkommen : Was die zentrale Stellung des religiösen Diskurses angeht, der die Vers- wie auch die Prosafassung prägt, so haben wir es möglicherweise mit einem Effekt zu tun, den Daniel Poirion für den Prosaroman im Allgemeinen als eine Art ›bedeutungstragende Verdichtung der Prosa durch eine moralische Note‹ beschrieben hat.38 Poirion erkannte in den ersten Prosatexten die – bereits in anderem Zusammenhang erwähnten – Spuren der chronikalischen Darstellungsweise und ihrer Anbindung an die Heilsgeschichte, ebenso jedoch Spuren der persuasiven Strategien einer Predigt.39 Darauf werden wir zurückkommen. 1978 unterstrich Jean Frappier mit Blick auf den Prosaroman den Übergang ›von einer Form der Zivilisation in eine andere«, und ebenso »von einer Ästhetik in eine andere‹.40 Dennoch erscheint mir das Beispiel der Prosaübertragung von Roberts Joseph nicht sehr geeignet, um diese Hypothese von einem ›Wechsel der Zivilisationsstufen‹ zu untermauern. Was für diesen Text wesentlich überzeugender erscheint, ist, dass Frappier einen moment critique annimmt, ›in dem sich die Architektur-Idee eines umfangreichen Gesamtensembles herausbildet‹.41 Wenn man vom Roman de l’Estoire dou Graal, d. h. vom Joseph in Versen, ausgeht, der zudem vom Anfang eines Merlin-Textes in Versen begleitet wird, und wenn man bedenkt, dass alle erhaltenen Handschriften neben dem Prosa-Joseph zumindest einen Prosa-Merlin, zumeist aber auch noch weitere Prosaromane enthalten, die den nia 89 (1968), S. 457–480 ; Lothar Struss : Le Roman de l’Histoire du Graal (Robert de Boron). In : Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Hrsg. von Jean Frappier/Reinhold R. Grimm. Heidelberg 1978 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters 4/1), S. 361–375 ; Madeleine Le Merrer : Figure de Joseph d’Arimathie : sa chasteté, sa proximité de Dieu. In : Images et signes de l’Orient dans l’Occident médiéval. Hrsg. von Chantal Connochie-Bourgne. (2. Aufl. online 2014). Aix-en-Provence 1982, S. 229–252 ; Michel Zink : Robert de Boron, la nature du Graal et la poétique du salut. In : Poésie et conversion au Moyen Âge. Hrsg. von dems. Paris 2003, S. 251–306 ; Emmanuèle Baumgartner : Enfances du Graal. In : Enfances arthuriennes. Actes du 2e Colloque arthurien de Rennes. 6–7 mars 2003. Hrsg. von Denis Hüe/Christine Ferlampin-Acher. Orléans 2006, S. 87–97. 38 Siehe Poirion (Anm. 13), S. 76 : »[…] il faut se demander si la segnefiance dont la prose romanesque généralement s’alourdit, n’a pas une couleur morale plus marquée.« 39 Vgl. ebd., S. 75–76. 40 Siehe Frappier (Anm. 2), S. 504 : »[…] il serait à peine exagéré de soutenir qu’en passant du vers à la prose on passe d’un âge mental à un autre, peut-être même d’une forme de civilisation à une autre, en tout cas, d’une esthétique à une autre.« 41 Siehe ebd., S. 505 : »Il est très significatif que dans le domaine arthurien le passage du vers à la prose ait lieu, autant qu’on puisse en juger, relativement à la trilogie dite de Robert de Boron, c’est-à-dire au moment critique où commence à s’organiser l’idée architecturale d’un vaste ensemble.«
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Gralsstoff behandeln,42 ist es legitim zu vermuten, dass die Verwendung der Prosa, ausgehend von der Übertragung des Joseph, die Zykluskonfiguration der Gralsmatière initialisiert und wesentlich mitbestimmt hat. Gerade in Verbindung mit der Konfiguration eines Zyklus erlaubt die Prosa, wie Frappier, viel zitiert, feststellte, »une représentation totale du monde«, gewissermaßen die ›vollständige Nachbildung der Welt‹, ja (in meiner Übersetzung) ›eine vollständige Abbildung der Welt, in der ein profanes Ideal und ein spirituelles Ideal einander gegenüberstehen, sich schließlich versöhnen oder sich eines dem anderen unterordnen mussten‹.43 Hierin wird das essentielle Problem angesprochen, das bis heute nicht gelöst ist : Welche Rolle spielen dieses spirituelle Ideal und der religiöse Diskurs im Allgemeinen für die Prosaübertragungen des ersten Jahrzehnts des dreizehnten Jahrhunderts ? Geht es wirklich darum, zwei gegensätzliche Ideale oder zwei mehr oder weniger gegensätzliche Diskurse zu ›versöhnen‹ ? Illustriert das Beispiel der Gralsromane und besonders der zwei Romane um Joseph von Arimathia nicht vielmehr, auf welche Art und Weise versucht wurde, z. T. auch mit formalen Mitteln, die lectio christiana des Gralsstoffes umzusetzen und also in doppelter Weise eine absolut gedachte Unterordnung des profanen Diskurses (wie er für die höfischen Versromane – zumindest rückwirkend aus der Perspektive der Prosaromane – charakteristisch erschien) unter den religiösen Diskurs herbeizuführen ? Dies diskutieren explizit wie implizit die Forschungsarbeiten der 1980er bis 2000er Jahre. 1984 erschien Francesco Zambons beeindruckende Studie Robert de Boron e i segreti del graal (›Robert de Boron und die Geheimnisse des Grals‹). Zambon geht davon aus, dass die inhärente Wahrheit der Gralsgeschichte, so wie sie Robert de Boron konzipiert hatte – und nach der die Übertragung des Grals an Joseph eine wesentliche Etappe in der Heilsgeschichte darstellt –, über dieses Einschreiben in die Heilsgeschichte die Darstellung in Prosa verlangte.44 Wenn man diese These etwas forciert, so hat Roberts Verstext zwar nicht die ›Entstehung‹ der Prosa ›ausgelöst‹, da diese, wie wir gesehen haben, auch volkssprachlich bereits lange existierte, wohl aber deren Verwendung für eine Narration initiiert, die sich als eine andere ver42 Siehe Robert de Boron : Joseph d’Arimathie (Anm. 33), S. 29. Siehe auch Carol J. Chase : Beginnings and Endings. The Frontiers of the Text in the Prose Joseph d’Arimathie. In : »Moult a sans et val lour«. Studies in Medieval French Literature in Honor of William W. Kibler. Hrsg. von Monica L. Wright u.a. Amsterdam, New York 2012, S. 111–124 (mit einer tabellarischen Beschreibung aller ›Textbegrenzungen‹ in den erhaltenen Handschriften ; S. 123–124). 43 Siehe Frappier (Anm. 2), S. 506 : »[…] la prose parut non sans raison l’instrument le meilleur d’une conception qui tendait à une représentation totale du monde où devaient s’opposer et finalement se concilier ou se subordonner l’un à l’autre un idéal profane et un idéal spirituel.« 44 Dies ist etwas pointiert formuliert, vgl. jedoch Francesco Zambon : Robert de Boron e i segreti del Graal. Florenz 1984, passim ; bes. S. 101–103.
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stand, als wahrer, im Sinne der Heilsgeschichte als historischer und auch als ›näher am Evangelium‹, d. h. als biblischer.45 Im Jahr 2000 gab Richard Trachsler in seiner Studie zum Versfragment des Merlin und dessen Prosaübertragung einen nuanciert abwägenden Überblick über verschiedene Auffassungen zur Entstehung der Prosa.46 Trachsler neigt der (im Jahre 2000 so gut wie vergessenen) Auffassung Köhlers zu, dass es sich bei der Wahl der Prosa letztlich um eine ästhetische Entscheidung handele und dass sie einer Gattungsentwicklung – der des (arthurischen) Prosaromans insgesamt – geschuldet sei.47 Dies kann meines Erachtens hervorragend in Bezug auf die späteren Artusromane in Prosa (d. h. die Vorläufer des Prosa-Lancelot-Gral-Zyklus wie den von Elspeth Kennedy ausgemachten Lancelot), geltend gemacht werden, die zwar etwas früher als allgemein angegeben, aber sicher nicht vor 1210 oder 1215 entstanden sind,48 nicht aber für die diesen vorangehende Prosaübertragung des Robert’schen Gralsromans. Unverzichtbar ist in diesem Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit dem 1999 erschienenen Aufsatz von Ludmilla Evdokimova zum Prosa-Joseph, der durch detaillierte Einzelvergleiche die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen Versund Prosatext lenkt.49 Evdokimova führt erstmals mit aller Deutlichkeit aus, dass sich der Prosaroman vornehmlich am stilus gravis der religiös-didaktisierenden Texte orientiert und sich diesbezüglich stark vom mittleren stilus humilis des Verstextes unterscheidet. Hierin liegt meines Erachtens eine entscheidende Beobachtung. Während sich der Verstext zumindest aufgrund seiner Stilisierung eher in den Umkreis einer (Reim-) Predigt rücken lässt – und dazu passt auch die von René Valette für diesen Text herausgearbeitete Betonung des Erlangens von Erkenntnis durch das Hören und generell die mehrfache Autorisierung der erzählten biblischen Inhalte über die Stimme Christi selbst –50, ist der Prosatext eher entsprechend einem Kommentar zu einem 45 Vgl. Valette (Anm. 34), S. 33–34, sowie Francesco Zambon : Metamorfosi del Graal. Rom 2012, S. 187–218. Vgl. so schon Jean-Charles Huchet : Le Nom et l’image. De Chrétien de Troyes à Robert de Boron. In : The Legacy of Chrétien de Troyes. Hrsg. von Norris J. Lacy u.a. Bd. 2. Amsterdam 1988, S. 1–16, bes. S. 16. 46 Siehe Trachsler (Anm. 36), S. 40–48. 47 Siehe ebd., S. 47 : »Si l’on voulait doter la chevalerie arthurienne d’un nouvel idéal, il fallait également trouver un moyen neuf pour le promouvoir.« 48 Siehe Mölk (Anm. 31), S. 13–19. Zambon (Anm. 44), S. 115, bezeichnet den unter Roberts de Boron Namen überlieferten Prosa-Joseph-Zyklus dezidiert als »primo esempio a noi pervenuto di prosa narrativa francese, primo romanzo in prosa della letteratura d’oil.« So auch Ludmilla Evdokimova : Vers et prose au début du XIIIe siècle : Le Joseph de Robert de Boron. In : Romania 117 (1999), S. 448–473, hier : S. 450. 49 Evodokimova (Anm. 48). 50 Siehe Valette (Anm. 34), S. 493 ; was die Stimme Christi angeht, so vernimmt Joseph diese im Kerker.
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Evangelium oder entsprechend einer Heiligenvita stilisiert und in einigen erhaltenen Handschriften auch zusammen mit Heiligenviten, Apostelviten und biblischen Texten überliefert.51 Dieser Befund beweist die mittelalterliche Rezeption des Prosatextes als religiös-didaktische Schrift. Das heißt allerdings nicht, dass nicht sowohl im Vers- als auch im Prosatext die Anlehnung an das apokryphe Nikodemus-Evangelium und die (relative) Konzentration auf die Vita Josephs und seiner Nachkommen erkennbar wäre, die Akzentsetzung ist jedoch über den gewählten Stil (mediocris oder gravis) und in diesem Zusammenhang auch über die gewählte Form (Vers oder Prosa) im Sinne einer textsortenspezifischen Stilisierung ausdifferenziert.52 So ist die Tatsache, dass in der Mehrzahl der Prosamanuskripte die Nennung der Autorsignatur ›Robert de Boron‹ getilgt wurde,53 meines Erachtens ein Argument für den Impetus, sich in den biblischen Text im engeren Sinne einzuschreiben und eine etwaige Distanz zu diesem biblischen Text durch Betonung der Autorität einer wie auch immer gearteten Autorinstanz zu vermeiden ; auch im Sinne der Auffassung, dass die Evangelien des Neuen Testamentes »selbst Schrift gewordene Predigt Jesu und der Apostel«54 seien. Nicht zufällig sind daher sowohl der Vers- als auch der Prosatext als ›Gralsevangelium‹ bezeichnet worden.55 Die Wahl der Prosa stellt nach Ihre Äußerungen enthalten u.a. ein längeres narratives Versatzstück, durch das Joseph über deren Darstellung von Jesu Leben (siehe die Versversion von Robert de Boron [Anm. 33], V. 739–778, siehe auch Anm. 59) zum ausgezeichneten Rezipienten einer ›privaten Predigt‹ wird. Bereits das exklusive ›Sprechen mit Gott‹ in dieser Episode autorisiert Joseph im Kontext seiner Gralshüterschaft für die spätere eigene Verkündigung, z.B. an den Neffen Alain. Zum Zusammenhang von Verkündigung und Autorisierung vgl. Volker Mertens : Sprechen mit Gott – Sprechen über Gott. Predigt und Legendendichtung im frühen 13. Jahrhundert (Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat). In : Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende. Hrsg. von Nine Midema u.a. Berlin 2012, S. 269–283, sowie Monika Unzeitig : Göttlich autorisiertes Sprechen. Sprechen m i t Gott. In : ebd., S. 217–228. 51 Siehe Chase (Anm. 42), S. 113, S. 116, S. 121 für entsprechende Handschriftenkontexte. Siehe ebd. (die Zusammenfassung), S. 121 : »It would seem, then, that the reception of the Joseph was complex : it must have been viewed by part of the medieval public as hagiography, perhaps even ›biblical‹ […].« 52 Vgl. Evdokimova (Anm. 48), S. 449 (mit Anm.), S. 454 ; den detaillierten Vergleich zwischen beiden Versionen bei Zink (Anm. 24), S. 265–277, sowie jüngst Friedrich Wolfzettel : Fictional history as ideology. Functions of the Grail legend from Robert de Boron to the Roman de Perceforest. In : Romance and History. Imagining Time from the Medieval to the Early Modern Period. Hrsg. von Jon Whitman. Cambridge 2015, S. 90–104, hier : S. 93–97. 53 Siehe Zambon (Anm. 44), S. 116. 54 Siehe Volker Mertens : Predigt. In : Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. von Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 519–527, hier : S. 519. 55 Ebd., S. 102–107. Vgl. auch Susanne Friede : Un Évangile du Graal ? Réflexions intergénériques face à quelques romans du Graal (Conte du Graal, Première Continuation, Roman de l’Estoire dou Graal). In : Miroirs arthuriens entre image et mirage. Actes du XXIVe Congrès international de la Société Internationale Arthurienne. Juillet 2014, Bucarest. Hrsg. von Catalina Girbea. Turnhout 2018, im Druck.
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Francesco Zambon die Wahl einer »scrittura globale« dar, die als einzigen Referenzpunkt sich selbst hat und im Sinne einer »operazione sacra e provvidenziale«56 die Wahrheit aus sich selbst heraus und gewissermaßen als sich selbst produziert, ganz wie die Evangelien. Gab es also eine Rivalität zwischen einem literarischen, auch unterhaltenden Text in der Volkssprache und einem narrativen, ebenfalls volkssprachlichen Text, der mehr oder weniger zum Bereich religiöser Texte gehörte ? Wenn dem so war, dann konnte die Verwendung der Prosa die entscheidende Abgrenzung ermöglichen. Die bei Weitem vorherrschende Verwendung der Prosaform für lateinischsprachige, aber früh auch für volkssprachliche religiöse Texte akzentuiert und betont als solche den ›Graben‹ zwischen den ersten Gralsromanen Chrétiens und seiner Fortsetzer – Chrétiens Conte du graal und mindestens die erste Fortsetzung sind zweifelsfrei vor Roberts Verstext entstanden – und dem religiös-didaktischen Diskurs.57 Die Vorstellung von einem lateinischen wie volkssprachlichen Prosaideal konnte jedoch genau aus diesem Grund einem Text wie Roberts Joseph, der in seiner lec tio christiana des Gralsstoffes bereits über einen stark religiös akzentuierten Inhalt verfügte und der sich durch seine Orientierung an den apokrpyhen Evangelien (die ebenfalls in die volkssprachliche Prosa übertragen wurden) dem von der lateinischen Prosa vertretenen Bereich annähern wollte, den Formwechsel erleichtern und so eine neuartige Annäherung an den lateinisch dominierten religiösen Diskurs ermöglichen. In der Folge – und dies gilt dann zunächst für die späteren Gralsromane, wie sie im Prosa-Lancelot-Gral-Zyklus in verschiedenen Stufen zusammengeführt wurden – konnten weitere Texte, die potenziell an dieses neue Paradigma angepasst oder anpassbar erschienen, über die Übernahme der Prosaform von der differenzierten Verfasstheit eines volkssprachlichen literarischen Systems, das um die Prosaform in ihrer dergestalt konzipierten Verwendung für den Roman erweitert war, profitieren. Dabei handelte es sich jedoch nicht um die Ablösung einer ›bestehenden‹ durch eine ›neue‹ Form, sondern – innerhalb eines bestehenden, sich vielfach ausdifferenzierenden ›Pools‹ von Darstellungsmodi – um zwei Schreibweisen (modes d’éxpres sion nach Poirion),58 welche sich – in der dann bestehenden Gleichzeitigkeit – zu ›Schreibsystemen‹ ausweiteten und verfestigten.
56 Siehe Zambon (Anm. 44), S. 117. 57 Vgl. Ollig (Anm. 34), S. 164–166. 58 Siehe Poirion (Anm. 13), S. 75.
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5. Ausblick
Was die vor 1215 bestehende heterogene Gemengelage angesichts der volkssprachlichen Predigt angeht, wie sie sich post festum aus den Kapiteln des Laterankonzils erschließen lässt – i. e. ein gesteigerter Bedarf an geeigneten volkssprachlichen Predigten, aber kirchlicherseits auch dezidierte inhaltliche Anforderungen an die in sich heterogene Textsorte Predigt und die ihr benachbarten Texte –, so bilden sowohl der Roman de l’Estoire dou Graal in Versen als auch der Joseph d’Arimathie in Prosa diesen heterogenen Istzustand in gewisser Weise ab. Der Versroman zeugt (ohne dass dies im Einzelnen ausgeführt werden kann) von einem moralischen Impetus, der in persuasiver Diktion auftritt, und greift auf verschiedene Techniken und narrative Strukturen zurück, die sich auch in volkssprachlichen – sowie in lateinischen – Predigttexten finden. Neben dem Argument des sermo humilis dieser Predigten (in dem im 3. Abschnitt ausgeführten weiteren Verständnis) seien nur drei Dinge genannt : der typische Beginn einer Predigt als performatives Ereignis in stilisierter Mündlichkeit, wenn die (zuhörenden) Sünder angesprochen werden,59 das Faktum, dass insgesamt viermal von verschiedenen Erzählstimmen (auch von der Figur des Jesus selbst sowie von einer [d. h. wohl seiner] Stimme aus dem Gral) die wichtigsten Stationen des Alten und vor allem des Neuen Testaments – quasi in Minipredigten von einigen Dutzend Versen – kursorisch aufgerufen werden,60 und des Weiteren ein exemplarisches Detail : Wenn im Versroman die Rede auf einen Pilger kommt, der sich in Judäa zur Zeit Jesu aufhielt, wird Jesu Wirken
59 Siehe Robert de Boron : Roman de L’Estoire dou Graal (Anm. 33), V. 1–10 : Savoir doivent tout pe cheeur,/ Et il petit e li meneur,/ Que, devant ce que Jhesus Criz/ Venist en terre, par les diz/ Fist des prophe tes anuncier/ Sa venue en terre, et huchier/ Que Diex son fil envoieroit/ Ça jus aval, et soufferroit/ Mout de tourmenz, mout de douleurs,/ Mout de froiz et mout de sueurs. Zur (fiktiven) Mündlichkeit als Merkmal der Predigt vgl. Mertens (Anm. 54), S. 519. 60 Siehe Robert de Boron : Roman de L’Estoire dou Graal (Anm. 33), V. 1–148 (der Erzähler predigt kursorisch von Adam und Eva bis hin zur Geburt Christi durch Maria in Bethlehem) ; vgl. zu dieser Stelle auch Rupert T. Pickens : Histoire et commentaire chez Chrétien de Troyes et Robert de Boron. Robert de Boron et le livre de Philippe de Flandre. In : The Legacy of Chrétien de Troyes. Hrsg. von Norris J. Lacy u.a. Bd. 2. Amsterdam 1988, S. 17–39, hier : S. 26–27. Siehe auch ebd., V. 739–778 ( Jesus predigt Joseph im Kerker seine Vita unter Bezugnahme auf das Alte Testament, den Sündenfall etc. und fährt ab Vers 779 mit den Anweisungen für das zukünftige Verhalten der Gralshüter fort). Siehe des Weiteren V. 1293–1374 (Pilatus predigt den kaiserlichen Boten des Vespasian, die ihn suchten, Jesu Vita von seiner Kindheit bis hin zur Passionsgeschichte unter rechtfertigender und zugleich beichtender Einbeziehung seiner eigenen Rolle in der Passions- und Auferstehungsgeschichte). Siehe schließlich V. 3008–3084 (die Stimme [ Jesu] aus dem Gral predigt Joseph, wie er mit der Erzählung von Jesu Leben und Passion sowie von der Gralsübergabe seinen Neffen, den zukünftigen Gralshüter, einsetzen soll).
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auf Erden durch zwei Qualitäten charakterisiert, die Predigttätigkeit und das Wirken von Wundern : Tant qu’il avint c’uns pelerins/ Qui fu assez jounes meschins/ En cele terre de Judee/ Fist la mout longue demouree/ Au tens que Jhesus Criz ala/ Par terre e sen non preescha,/ Qui mout de miracles feisoit,/ Car il bien feire les pouoit.61 Es geschah alsbald, dass ein Pilger, ein recht junger Mann, sich in diesem Gebiet von Judäa sehr lange aufhielt, zu der Zeit, als Jesus Christus durch das Land zog und seinen Namen predigte. Jesus wirkte viele Wunder, da er sie zu wirken vermochte. (Übersetzung : S. F.)
Jesus ist also in Roberts Text in Versen zuallererst ein Prediger. Und dieses Detail erscheint umso interessanter, wenn man weiß, dass es in der Prosaversion getilgt wurde : Einsin fu Josep longuement en prison tant qu’il avint que uns pelerins qui avoit esté en pelerinage en la terre de Judee au tans que nostres Sires ala par terre et que il faisoit les miracles et les vertuz des avugles et des contrez et des autres mesaaisiez et que lui plaisoit et i le voloit faire […].62 Joseph war so lange Zeit im Gefängnis, bis es sich zutrug, dass ein Pilger, der auf Pilgerreise im Gebiet von Judäa gewesen war zu der Zeit, als unser Herr durch das Land zog und die Wunder an den Blinden und den Lahmen und den anderen Versehrten wirkte, wie es ihm gefiel und wie er sie wirken wollte […]. (Übersetzung : S. F.)
Hinzu kommt, dass der Prosatext den Terminus pelerinage anstelle des allgemeineren und durchaus dem niedrigeren Stil zuzuweisenden longue demouree verwendet. Die Wunder selbst werden, wohl um umfassende Kenntnisse zu signalisieren, gleich durch zwei einschlägige Termini (miracles, vertuz) bezeichnet. Zudem wird das größte und im Rahmen einer Predigt sicher den größten Eindruck erweckende Wunder der Auferweckung dreier Toter (V. 975–980), das in der Versversion folgerichtig im Sinne einer Klimax an den Schluss der Aufzählung der Wunder gestellt wird, in der Prosa-
61 Siehe Robert de Boron : Le Roman de l’Estoire dou Graal (Anm. 33), V. 967–974. Zu den unterschiedlichen Erzählern und der ritualisierten Wiederholung ›derselben‹ Erzählung durch unterschiedliche Stimmen vgl. die Bemerkungen von Renate Blumenfeld-Kosinski : Transgressing Boundaries. The Oral and the Written in Robert de Boron. In : Stanford French Review 14 (1990), S. 143–160, hier : S. 146–148. 62 Siehe Robert de Boron : Joseph d’Arimathie (Anm. 33), S. 119, Z. 389–392.
Die ›Geburt der Prosa‹
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version getilgt. Es erschien möglicherweise zu sehr Effekt heischend und zu ›unseriös‹ für die anvisierte Textsorte. Die Prosafassung des Joseph trägt über die hier skizzierte Anlehnung der Versversion an die Techniken, Inhalte und narrativen Strukturen der Predigt – und unter Rückgriff auf das Modell der lateinischen und volkssprachlichen Predigt in Prosa – sicher ebenfalls Züge eines Predigttextes. Sie zeugt allerdings von einem stärkeren religiös-didaktischen Bewusstsein und vermeidet zudem explizite Anspielungen auf eine Predigttätigkeit der Figuren. Insofern ähnelt sie eher dem in den Handschriften zusammen mit Predigten überlieferten heterogenen religiös-didaktisierenden Textmaterial, das oben umrissen wurde. Der Verfasser des Prosa-Joseph will sich offenbar stärker an den religiösen und kommentierenden Diskurs, der vom Lateinischen dominiert wurde, anlehnen.63 Die Wahl der Prosa ist dabei sicher keine vordringlich ästhetische Entscheidung, sie lässt sich auch nur zum Teil durch den Bezug auf historiographische und enzyklopädische Modelle und Darstellungsmodi erklären. Im Gegenteil : Die Umwandlung des sermo humilis in den stilus gravis rückt den Text noch stärker in die Nähe einerseits zu den lateinischen (und volkssprachlichen) Prosafassungen des apokryphen Niko demus-Evangeliums, andererseits überhaupt erst zur religiösen Traktatliteratur und ihrem didaktischen Anspruch. Damit gehen eine Konzentration auf die Figur des Joseph und eine Reduktion aller Angaben zu Nebenfiguren einher (so wird z.B. in der oben angeführten Textstelle sogleich das Attribut der Jugend des Pilgers getilgt),64 wodurch auch eine hagiographische Stilisierung eingeführt wird. Joseph erfüllt im Übrigen ohnehin alle notwendigen Kriterien, um als Heiliger angesehen zu werden :65 Er ist als Konfessor stilisiert, denn er überlebt ein Martyrium, das er um der Beharrung auf das Zeugnis, Christi Leichnam begraben, aber nicht selbst aus dem Grab ›entfernt‹ zu haben, willen, also in der notwendigen Bekenntnissituation, erdulden muss : Die Gegner Jesu schlagen ihn sehr stark, sperren ihn in den untersten Kerker eines Turms.66 Durch dieses Martyrium wird die besondere Gottesbeziehung Josephs begründet, die in der Prosafassung dezidiert benannt wird : Er bleibt im Kerker und wäre letztlich Hungers gestorben, wenn nicht Christus selbst ihm erschienen wäre (Et 63 Vgl. Evdokimova (Anm. 48), S. 469, S. 471, S. 473, zur Ausweitung der kommentierenden Elemente und der Nähe zu religiösen Werken in der Prosafassung des Joseph d’Arimathie. Vgl. auch Galderisi (Anm. 6), S. 750, zur Prosa als Sprache des Wissenstransfers versus dem Vers als ›lehrendem‹ Medium. 64 Zu weiteren Beispielen für die Konzentration des Prosatextes auf Reliqiuen und auf Wunder anstatt auf Figuren siehe Evdokimova (Anm. 48), S. 458–459, S. 463. 65 Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung von Peter Gemeinhardt : Die Heiligen. Von den frühchristlichen Märtyrern bis zur Gegenwart. München 2010, S. 24–28. 66 Robert de Boron : Joseph d’Arimathie (Anm. 33), Z. 260–262 und Z. 267 (der Turm wird genannt). Für die Versversion vgl. Robert de Boron : Roman de l’Estoire dou Graal (Anm. 33), V. 695–706.
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cil pour qui il avoit ce sofert et sofroit ne l’oblia mie ; 265) und sich ihm in seiner Rede offenbart hätte, auch bezüglich der geplanten Zukunft des Joseph und seiner Sippe. Damit ist nach der Auffassung des zwölften Jahrhunderts ein weiteres Kriterium für einen Heiligen erfüllt : die Offenbarung, d. h. eine besondere Kommunikationssituation mit Gott, die das Heiligsein überhaupt erst generiert.67 Christus bezeichnet Joseph als bons amis und als über den deciples stehend,68 vielleicht im Sinne eines beatus vir. Drittens wird in der Vers- wie auch in der Prosaversion suggeriert (und in späteren Prosatexten um den Graal wird dies verstärkt), dass Joseph, als der Kaiser Vespasian ihn viel später aus dem Kerker holen lässt, auf wunderbare Weise ohne Nahrung und Wasser (mithilfe des Heiligen Geistes, in späteren Texten durch die Kommunion aus dem Gral) überlebt habe. Die Gegner Jesu entfernen den Deckel, der das Loch verschließt, in dem Joseph ohne Fürsorge, Nahrung und Wasser vermeintlich tot liegen muss. Tatsächlich lebt dieser jedoch und kann unversehrt befreit werden ; es heißt im Text : Et quant cil de hors l’o[ïr]ent, si s’en mervellerent mout et dient que ce ne peut pas estre.69 Die Instruktion der Ungläubigen wird damit offensichtlich ; und wir erfahren zugleich vom ersten Wunder – explizit als vertu benannt –70, das nicht durch, aber jedenfalls an Joseph gewirkt worden ist, sodass auch dieses für einen Heiligen notwendige Kriterium vorliegt ; weitere Wunder werden durch den Gral, den Joseph hütet, und die damit verbundenen Rituale folgen. Der Prosatext hält sich dezidiert fern von allen potenziell häretischen Inhalten, die mit der Gralsmatière im Folgenden verbunden sein werden, und unterwirft sich in Gänze einem Ideal der ›gehobenen Predigttexte‹,dem instruere durch die sermone potentes, wie es sich im historischen Ablauf in vollem Umfang in den Akten des Vierten Laterankonzils manifestieren wird.
67 Vgl. die Ausführungen in Gemeinhardt (Anm. 65), S. 15, zusammengeführt in der Aussage : »Die Heiligen sind nicht Akteure des Heilsgeschehens, sondern Empfangende […].« 68 Robert de Boron : Joseph d’Arimathie (Anm. 33), Z. 309 f. (tu estoies mes bons amis) und Z. 319 ( Joseph steht über den deciples). Für die Versversion vgl. (mit leicht anderer Nuancierung) Robert de Boron : Roman de l’Estoire dou Graal (Anm. 33), V. 828–840. 69 Siehe Robert de Boron : Joseph d’Arimathie (Anm. 33), Z. 902. Für die Versversion vgl. Robert de Boron : Roman de l’Estoire dou Graal (Anm. 33), V. 2017–2020 : Merveilles s’il ha tant duré,/ Qu’i y ha longuement esté,/ C’onques n’i bust ne n’i menja/ Ne confort nul eü n’i ha. 70 Siehe Robert de Boron : Joseph d’Arimathie (Anm. 33), Z. 905–907 : Et quant i le virent, si s’en mervelle rent mout et dient que mout est fors la vertu qui sauvé l’a. Zur Rolle der Wunder für die Auffassung vom Heiligen siehe Gemeinhardt (Anm. 65), S. 81 f.
Tobias Bulang
Kontext und Intertext – Inszenierte Ordale in mittelhochdeutschen Dichtungen 1. Rechtliche Praxis, theologische Diskussion und literarische Inszenierung
Gegen die Praxis der Wahrheitsfindung vor Gericht durch ein berufenes Gottesurteil werden vereinzelt bereits an der Wende zum neunten Jahrhundert und im zwölften und dreizehnten Jahrhundert mit Nachdruck theologische Vorbehalte geäußert. Anstößig waren die Möglichkeit des Justizirrtums, die Vieldeutigkeit der Befunde, beim Gerichtskampf die ungleiche Verteilung physischer Kräfte, und theologisch besonders die Vorstellung vom Gotteszwang, der Verfügbarmachung und Versuchung des Unverfügbaren schlechthin.1 Das Vierte Laterankonzil hatte 1215 den Zweikampf zur Wahrheitsfindung verboten und Klerikern prinzipiell die Beteiligung an der Durchführung von Gottesgerichten untersagt.2 In der Praxis freilich blieben die Ordale weiter im Brauch, und auch in der Dichtung der Zeit finden sich allenthalben inszenierte Gottesurteile.3 Solche Inszenierungen sind immer wieder auch auf die ge1 Vgl. Walther Müller-Bergström : Art. ›Gottesurteil‹. In : Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Berlin, New York 2000 (zuerst 1931), Bd. 3, Sp. 994–1063 ; Charlotte Leitmaier : Die Kirche und die Gottesurteile. Eine rechtshistorische Studie. Wien 1953, S. 45–97 ; Hermann Nattorp : Gottesurteilstudien. München 1956 (Bamberger Abhandlungen und Forschungen 2) ; Adalbert Erler : Art. ›Gottesurteil‹. In : Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Unter Mitarbeit von Wolfgang Stammler hrsg. von Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann. Bd. 1. Berlin 1971, S. 1769–1773 ; Günther Lanczkowski/Hans-Wolfgang Strätz : Art. ›Gottesurteil‹. In : Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Gerhard Müller. Bd XIV. Berlin, New York 1985, S. 100–105. 2 Const. 18 liber extra 3.50.9 ; Dekrete der ökumenischen Konzilien. Konzilien des Mittelalters. Hrsg. von Joseph Wohlmuth. Paderborn u.a. 2000, S. 227–271 ; Raymonde Foreville : Lateran I–IV. Mainz 1970 (Geschichte der ökumenischen Konzilien 6), S. 416. 3 Vgl. Hans Fehr : Die Gottesurteile in der deutschen Dichtung. Rechtshistorische Forschungen, anlässlich des 60. Geburtstags dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern. Festschrift Guido Kisch. Stuttgart 1955, S. 271–281 ; R. J. Hexter : Equivocal Oaths and Ordeals in Medieval Literature. Cambridge, Mass. u.a. 1975 ; Rüdiger Schnell : Rechtsgeschichte, Mentalitäten und Gattungsgeschichte. Zur literarischen Autonomie im Mittelalter. In : Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien Berichtsbände 14), S. 401–430 ; Daniela Karner : Täuschung in Gottes Namen. Fallstudien zur poetischen Unterlaufung von Gottesurteilen in Hartmanns von Aue Iwein, Gottfrieds von Straßburg Tristan, des Strickers Das heiße Eisen und Konrads von Würzburg Engelhard.
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lehrte Auseinandersetzung über die Legitimität von Gottesurteilen bezogen worden.4 Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Bezugnahme sind Gegenstand dieses Beitrags. Welche Perspektive nehmen Dichtungen auf diese rechtlichen Praktiken und die theologischen Diskurse über sie ein ? Manifestiert sich in diesen Inszenierungen eine Beobachtung entsprechender Institutionen ? Sedimentiert sich in ihnen kultureller Wandel ? In welchem Sinne sind sie auf andere historische Quellen beziehbar, in welchem Sinne stellen sie ihrerseits Quellen dar, die über das Thema Auskunft geben ? Ich möchte diese Fragen im Folgenden anhand eines inszenierten Gottesurteils untersuchen, welches zeitlich im unmittelbaren Vorfeld der Konzilsbeschlüsse zu datieren ist, einem Gottesurteil, welches jedem germanistischen Mediävisten aufgrund seiner verstörenden Abgründigkeit als Erstes in den Sinn kommt : die Treueprobe durch das glühende Eisen, der sich Isolde in Gottfrieds von Straßburg Bearbeitung des Tristanstoffes zu unterziehen hat.5 Unter Absehung von dem befremdlichen Kommentar bei Gottfried lässt sich der Hergang der Sache zunächst wie folgt erzählen : König Marke verdächtigt seine Frau Isolde des Ehebruchs mit seinem Neffen Tristan, aber alle Indizien, die den casus zu bestätigen scheinen, werden durch Gegenindizien widerlegt. Auf einem concil zu Lunders in England klagt Marke sein Leid über die Gerüchte von Isoldes Untreue und verlangt den Gottesbeweis durch das glühende Eisen. Isolde bereitet sich durch Gebete und fromme Handlungen darauf vor. Sie fürchtet sich und schreibt an Tristan, er solle in Karliun auf sie warten. Tristan begibt sich verkleidet als Pilger dorthin. Isolde kommt mit dem Schiff und will von keinem Ritter von der Schiffsbrücke ans Ufer getragen werden, sondern von dem frommen Pilger. Der verkleidete Tristan täuscht am Ufer ein Missgeschick vor und lässt sich mit Isolde fallen. Für die Unvorsichtigkeit wollen Markes Leute den Pilger strafen, Isolde aber bittet für ihn, er sei schwach und unfreiwillig gestürzt. In Karliun geht Isolde im Büßergewand zur Messe und verteilt reiche Gaben. Sie selbst bestimmt die Formulierung des Eides und schwört, sie habe keinem anderen Manne zur Seite gelegen als dem König und jenem frommen Pilger. Daraufhin nimmt Isolde das glühende Eisen auf und verbrennt sich nicht. Isoldes Unschuld hat sich vor aller Öffentlichkeit gezeigt. Isolde steht wieder in der Gunst des Königs. Frankfurt am Main u.a. 2010 (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öfentlichkeit 5). 4 Vgl. insbesondere Schnell (Anm. 3). 5 Vgl. Gottfried von Straßburg : Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug/Manfred Günter Scholz. Bd. 1. Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10, 11), V. 15627–15764 ; vgl. den umfassenden Forschungskommentar ebd., Bd. 2, S. 211–213, S. 594–618 ; sowie die Forschungsberichte bei Werner Schröder : Text und Interpretation. Das Gottesurteil im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In : Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 16 (1979), S. 43–66 ; Rüdiger Schnell : Suche nach Wahrheit. Gottfrieds Tris tan und Isold als erkenntniskritischer Roman. Tübingen 1992 (Hermaea N. F. 67), S. 64–68.
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Vieles in dieser literarischen Inszenierung entspricht der mittelalterlichen Rechtspraxis des Ordals, so zum Beispiel die gründliche Vorbereitung der Probandin, der vorherige Gottesdienst, ihre innigen Gebete und die Bußpraktiken.6 Dass Isolde sich die Hände am Eisen nicht verbrennt, ist hingegen nicht die Norm des Verfahrens : in gotes namen greif si’z an | und truoc ez, daz si niht verbran.7 Darin ist eine literarische Überformung mit Legendenmotiven zu sehen : Natürlich entstehen bei Hautkontakt mit glühendem Metall Brandwunden. Bei Feuerproben wurde der Heilungsprozess der Brandverletzungen beobachtet : Hände oder Füße wurden nach der Feuerprobe verbunden, einige Tage später wurden dann die verbrannten Stellen untersucht. Wenn sie gut verheilten, war der bzw. die Verdächtige unschuldig – wobei man sich denken kann, dass solche Sachen nicht immer mit schöner Eindeutigkeit festgestellt werden konnten.8 Die Unversehrtheit der Probandin ist ein Legendenmotiv ; ein Wunder ereignet sich, ein göttlicher Eingriff in den natürlichen Lauf der Dinge bezeugt die Heiligkeit. Dergleichen wurde über die Feuerprobe der heiligen Kunigunde erzählt. Unter den im zeitlichen Umfeld ihrer Heiligsprechung notierten Legenden findet sich auch das Gottesurteil, dem sich Kunigunde unterworfen hatte, nachdem sie von ihrem Mann der Untreue bezichtigt worden war : Kunigunde lief barfuß über glühende Flugscharen und überstand dies unversehrt.9 Das dem Rezipienten völlig evidente und vom Erzähler unbestrittene Faktum von Isoldes Schuld macht den Ausgang des Gottesurteils und mehr noch das wunderbare Eingreifen Gottes, welches sich in der widernatürlichen Unversehrtheit der Probandin manifestiert, in hohem Maße kommentarbedürftig. Gottfried hat das Gottesurteil nicht erfunden, es ist Teil der Stoffgeschichte und findet sich auch bereits in Gottfrieds Vorlage bei Thomas von Bretagne.10 Nun sind zwar die in Gottfrieds Fragment 6 Rosemary Norah Combridge : Das Recht im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Zweite überarb. Aufl. Berlin 1964, S. 83–85 ; Wolfgang Schild : Das Gottesurteil der Isolde. Zugleich eine Überlegung zum Verhältnis von Rechtsdenken und Dichtung. In : Alles was Recht war. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand. Hrsg. von Hans Höfinghoff u.a. Essen 1996, S. 55–75. 7 Tristan und Isold (Anm. 5), V. 15731–15732. 8 Vgl. Müller-Bergström (Anm. 1), Sp. 1018–1022 ; Erler (Anm. 1), S. 1770 ; Schild (Anm. 6), S. 60. 9 Vgl. mit weiterer Literatur Tobias Bulang : Kunigunde. In : Gestalten des Mittelalters. Ein Lexikon historischer und literarischer Personen in Dichtung, Musik und Kunst. Hrsg. von Horst Brunner/ Mathias Herweg. Stuttgart 2007, S. 250–252. Auf die Legendentopik wurde an dieser Stelle immer wieder hingewiesen, vgl. z.B. Schild (Anm. 6), S. 63–66. 10 Es handelt sich auch um die Aktualisierung eines verbreiteten Erzählmotivs : Antti Aarne/Stith Thompson/Hans-Jörg Uther: The types of International Folktales. A Classification and Bibliography Based on the System of Aantti Aarne and Stith Thompson. Helsinki 2004 (FF. Communications 133–135), Nr. 1418 ; Stith Thompson : Motif-Index of Folk-Literature : A Classification of Narrative Elements in Folktales, Ballads, Myths, Fables, Mediaeval Romances, Exempla, Fabliaux,
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ausgeführten Passagen in den uns überkommenen Texten des Thomas von Britannien kaum enthalten (von Thomas kennen wir vor allem den Schluss des Tristan, der bei Gottfried fehlt), aber wir haben die raffende altnordische Prosabearbeitung, die ein Mönch namens Robert für den norwegischen König Haakon Haakonson 1226 angefertigt hat. Bei ihm heißt es : Isolde trug das Eisen so, ›dass niemand feigheit oder muthlosigkeit an ihr bemerken konnte, und gott in seiner milden barmherzigkeit gewährte ihr eine schöne rechtfertigung, sowie versöhnung und eintracht mit dem könig‹.11 Was für die Umstehenden die Unschuld der Königin beweist, manifestiert sich für den Rezipienten als Barmherzigkeit Gottes mit der Sünderin Isolde. Wenn auch bei Thomas/Robert bereits eine Provokation angelegt zu sein scheint,12 so folgt das Geschehen doch immerhin einem theologisch belastbaren Muster von menschlicher Sünde und göttlicher Gnade. Dies kann man von dem Kommentar, den Gottfried der Szene beigab, nicht sagen. Nachdem Isolde die Feuerprobe unversehrt überstanden hatte, heißt es : Dâ wart wol g’offenbæret und al der werlt bewæret daz der vil tugenthafte Crist wintschaffen alse ein ermel ist : er vüeget unde suochet an, dâ man’z an in gesuochen kan, alse gevuoge und alse wol als er von allem rehte sol. er’st allen herzen bereit, ze durnehte und ze trügeheit. ist ez ernest, ist ez spil, er ist ie, swie sô man wil. daz wart wol offenbâre schîn an der gevüegen künigîn :
Jest-Books, and Local Legends. Bd. 3. Helsinki 1934, H 220 ; H 412,4 ; vgl. auch Rüdiger Schnell : Rechtsgeschichte und Literaturgeschichte. Isoldes Gottesurteil. Akten des VI. internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. Hrsg. von Heinz Rupp/Hans-Gert Roloff. Bern 1980 ( Jahrbuch für internationale Germanistik A 8 2–4), S. 307–319. 11 Tristams Saga ok Isondar. Hrsg. von Eugen Kölbing. Heilbronn 1887, Nachdruck Hildesheim 1978, S. 172. 12 Vgl. Christoph Huber : Gottfried von Straßburg. Tristan. 3. Aufl. Berlin 2013 (Klassiker Lektüren 3), S. 104.
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die generte ir trügeheit und ir gelüppeter eit, der hin ze gote gelâzen was, daz si an ir êren genas. Da wurde sehr wohl offenbar und vor aller Welt bestätigt, daß Christus in all seiner Vollkommenheit sich umwenden läßt wie ein Ärmel ; er fügt sich an und er ist geschmeidig, wenn man ihn richtig anzugehen versteht, so gefügig und so gefällig, wie man es zu Recht erwarten darf. Allen Herzen hilft er mit Ehrlichkeit oder Trug. Ob es Ernst ist oder Spiel, er gibt sich stets, wie man ihn will. Das zeigte sich ganz offenkundig an der geschickten Königin : es rettete sie ihr Trug und der verlogene Eid, mit dem sie Gott anging, so daß sie ehrenvoll davonkam.13
Schon beim ersten Lesen zeigen sich der rabulistische Charakter des Kommentars und die theologische Fragwürdigkeit. Bei genauerem Hinsehen erweist er sich zudem als in sich widersprüchlich. Ist Gott den Herzen gefällig oder folgt er dem Zwang des vergifteten Eides ? Und ist er wirklich bereit, allen Herzen in dieser Weise entgegenzukommen ? Das Verstörungspotenzial dieser vielschichtigen Stelle hat jede nur denkbare Interpretation hervorgebracht : Man verdächtigte Gottfried der Häresie (wobei die – nur indirekt erschließbaren – Liebeslehren der Katharer, Amalrikaner oder Ortliebianer und deren Kritik am Gottesurteil angeführt wurden),14 andererseits sah man in Gottfrieds Kommentar eine Kritik an Ordalen aus der Perspektive der rationalen Theologie.15 Auch religiöse Indifferenz hat man dem Text kondiziert,16 13 Text und Übersetzung : Tristan und Isold (Anm. 5), V. 15733–15750. 14 Vgl. Werner Betz : Gottfried von Straßburg als Kritiker höfischer Kultur und Advokat religiöser erotischer Emanzipation. In : Festschrift Konstantin Reichardt. In Verbindung mit Hedwig Zauchenberger hrsg. von Christian Gellineck. Bern, München 1969, S. 168–173 [wieder : Gottfried von Straßburg. Hrsg. von Alois Wolf. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 320), S. 518–525]. Zuletzt – auch weitere eigene Aufsätze zum Thema zusammenfassend – Ulrich Ernst : Häresie und kritische Intellektualität in der mittelalterlichen Stadtkultur. Gottfrieds von Straßburg Antwort auf die Ketzerverfolgungen im 13. Jahrhundert. In : Zeitschrift für deutsches Altertum 137 (2008), S. 419–438. Kritische Anmerkungen dazu bei Karner (Anm. 3), S. 69–72. Generell ablehnend gegen die immer wieder vorgebrachten Häresiethesen : Karl Bertau : Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter II. München 1973, S. 885 ; Tomas Tomasek : Gottfried von Straßburg. Stuttgart 2007, S. 44. 15 Ulrich Stökle : Die theologischen Ausdrücke und Wendungen im Tristan Gottfrieds von Strassburg. Diss. Tübingen. Ulm 1915 ; Friedrich Ranke : Tristan und Isold. München 1925, S. 192 ; Kurt Ruh : Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Zweiter Teil : Reinhart Fuchs, Lanzelet, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg. Berlin 1980, S. 252. 16 Schröder (Anm. 5), S. 65.
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aber auch eine radikale Christusabsage.17 Kritik am naiven Glauben an einen im Sinne des Höfischen anthropomorphisierten Gott hat man ebenso ausmachen wollen wie Kritik an der Isoldenfigur.18 Die jüngere Forschung hat sich genauer auf die poetische Faktur der Stelle eingelassen und ein raffiniertes Spiel mit Perspektiven ausgemacht, welches in der Tat für Gottfrieds Roman charakteristisch ist : Der ganzen Welt wird nämlich nicht der wintschaffen Christus präsentiert, sondern die Unschuld Isoldes.19 Auch sprachkritische Reflexionen hat man angenommen.20 Allegorische Interpretationen des Ärmelgleichnisses wurden angeboten,21 der Stelle andererseits Ironie bescheinigt.22 Nach Sichtung dieser Optionen neigt man dazu, Volker Mertens zuzustimmen : Im Gottesurteil wird Kontingenz ausgestellt. Keine der beiden theologischen Kohärenzmöglichkeiten gilt : weder die von Sünde und Gnade noch die von Schuld und Strafe.23 Der Zusammenhang von Schuld und Strafe wird offensichtlich nicht vollzogen, aus der Wertungsperspektive einer christlichen Welt ist Isolde schuldig, am Faktum des Ehebruchs selbst lässt Gottfried keinerlei Zweifel. Auch der Zusammenhang von Sünde und Gnade greift nicht : Gottes Gnade ist unerforschlich. Er kann sie auch dem größten Sünder gewähren. Freilich ist Buße die Voraussetzung. Bei Isolde ist zwar davon die Rede, dass sie betet und fastet und großzügig die Armen beschenkt, von Schuldbewusstsein und Reue, von constritio cordis aber kann die Rede nicht sein. Sie sorgt sich um ihr Leben und ihre Ehre. Und sie wird es auch immer wieder tun, ja, sie veranlasst paradoxerweise sogar eine Umarmung mit ihrem Geliebten vor den Augen der Menschen und vor Gottes Augen, um die Vorwürfe aus der Welt zu schaffen. Man hat auf wichtige Kontexte verwiesen und gelegentlich alternative Datierungen des Textes, den die Forschung als um 1210 entstanden annimmt, erwogen, um 17 Vgl. Gottfried Weber : Gottfrieds von Straßburg Tristan und die Krise des mittelalterlichen Weltbildes um 1200. Bd. 1. Stuttgart 1953, S. 123–129. 18 Vgl. Combridge (Anm. 6), S. 110–112 ; Ruh (Anm. 15), S. 251. Kritisch dazu : Klaus Grubmüller : ir unwarheit warbæren. Über den Beitrag des Gottesurteils zur Sinnkonstitution in Gotfrids Tristan. In : Philologie als Kulturwissenschaft. Festschrift für Karl Stackmann. Hrsg. von Ludger Grenzmann u.a. Göttingen 1987, S. 149–163, hier : S. 156. 19 Combridge (Anm. 6), S. 104 f.; Schnell 1980 (Anm. 10), S. 308 ; Grubmüller (Anm. 18), S. 160 f. 20 Ebd. 21 Thomas A. Kerth : With God on her Side. Isolde’s »Gottesurteil«. In : Colloquia Germanica 11 (1978), S. 1–18 ; Tomas Tomasek : Die Utopie im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Tübingen 1985, S. 77. 22 Vgl. Schnell 1992 (Anm. 5), S. 67 f. 23 Volker Mertens : Wahrheit und Kontingenz in Gottfrieds Tristan. In : Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin. Göttingen 2010, S. 186–205.
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das Verstörungspotenzial der Stelle mit bestimmten historischen Ereignissen zu synchronisieren.24 Das Verbot der Ordale durch Innozenz III. auf dem Vierten Laterankonzil diente dabei oft als Orientierungspunkt. Außerdem wurde ein Aufsehen erregender Ketzerprozess in Straßburg wiederholt angeführt : Nach den großen Katharerverfolgungen der Jahre 1211/12 wurden in Straßburg mehr als achtzig Männer und Frauen dem Gottesurteil des glühenden Eisens unterzogen und (mit wenigen Ausnahmen) für schuldig befunden.25 Papst Innozenz III. verbot am 9. Januar 1212 in einem Schreiben an den Bischof von Straßburg ein solches Verfahren.26 Unabhängig von Datierungsfragen des Werkes27 stellt sich bei solchen Fällen die Frage nach der Relevanz historischer Kontexte und Ereignisse für literarische Inszenierungen dieser Art grundsätzlich, gerade auch weil sich angesichts der vielen kontroversen Interpretationen der Eindruck einer Beliebigkeit von Auslegungen einstellt. Letzteres liegt sicher auch an der konzeptionellen Überdeterminiertheit von Gottfrieds Tristan einerseits, am Insistieren auf dem Wertekonflikt und der Aporie, die sich Lösungen versagt und damit eben auch eindeutigere Kontextzuschreibungen verunmöglicht, andererseits. Ohne die Relevanz der angeführten Kontexte in Abrede zu stellen, möchte ich im Folgenden versuchen, Gottfrieds Spiel mit dem Ordal aus einer innerliterarischen Dynamik heraus darzustellen. Ich gehe dabei zuerst auf den intertextuellen Horizont volkssprachiger Dichtungen ein, innerhalb dessen Gottfrieds Modellierung des Gottesurteils konturiert werden kann. In einem zweiten Schritt betrachte ich eine intratextuelle Episodenreihe von Gottesberufungen und metaphorischen Liebessakralisierungen im Tristan. Letztere stellt eine Form literarischer Reflexion der Liebeskonzeption dar und die den Gottesbezug wiederholenden Passagen sind auf Steigerung ebenso angelegt wie die intertextuellen Rückgriffe auf Überbietung.
24 Vgl. den Kommentar in Tristan und Isold (Anm. 5), Bd. 2, S. 211–213. Angesichts des ungleichzeitigen Verlaufs rechtshistorischer, mentalitätsgeschichtlicher und literaturgeschichtlicher Sachverhalte ist hier Skepsis geboten ; vgl. dazu Schnell 1993 (Anm. 3). 25 Vgl. den Bericht in den Annalen des Klosters Marbach : Annales Marbacenses qui dicuntur. Hrsg. von Hermann Bloch. Hannover 1979 (Nachdruck der Ausg. 1907) (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum seperatim editi 9), S. 86 f.; Die Chronik Ottos von St. Blasien und die Marbacher Annalen. Hrsg. und übers. von Franz-Josef Schmale. Darmstadt 1998 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 18a), S. 229. 26 Patrologia Latina 216, col. 502, Nr. 138. 27 Vgl. zur Datierungsdiskussion den Forschungskommentar Tristan und Isold (Anm. 5), Bd. 2, S. 211– 213.
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2. Intertextueller Horizont : Die Lunetebefreiung im Iwein Hartmanns von Aue
Gottfrieds Kommentar kann auch als Fort- und Umschrift eines literarischen Ordals im Iwein Hartmanns von Aue gelesen werden.28 Dass Hartmann und die neue deutsche höfische Literatur überhaupt bedeutendes Bezugsfeld Gottfrieds sind, wird im umfassenden Literaturexkurs und der Dichterschau explizit, die Gottfried in die Erzählung von Tristans Schwertleite inseriert hat. Er würdigt die deutschsprachigen Dichter der letzten 30 Jahre als Virtuosen der Sprache. Insbesondere Hartmann von Aue, der Verfasser zweier mittelhochdeutscher Artusromane, wird vor allen anderen Dichtern gekrönt.29 Wichtig ist, dass Gottfried keinen Zweifel daran lässt, dass er angetreten ist, in seinem Tristanroman alle literarischen Traditionen zu überbieten. Nun finden sich bei Hartmann spielerische Umgänge mit dem Institut des Ordals.30 Und Hartmanns Erzählung von Iweins Befreiung der bedrängten Lunete scheint mir für Gottfrieds Gottesurteil modellbildend gewesen zu sein. Die Episode fügt sich bei Hartmann wie folgt in den umfassenderen Zusammenhang : Der Artusritter Iwein ist bei seiner Herrin und Ehefrau in Ungnade gefallen, weil er die von ihr gesetzte Frist zur Rückkehr von einer Turnierfahrt mit Artus vergessen hat. Als Laudine ihm Tisch und Bett aufkündigt, stürzt Iwein in den Wahnsinn. Von diesem Nullpunkt seiner Existenz aus erfolgt ein langer stufenweiser Weg, der zur Wiederherstellung seiner Person führt und zum Beweis seiner triuwe, zuletzt zur Restitution seiner Ehe und seiner Landesherrschaft. In einer Reihe von Episoden vollführt der Ritter Iwein aventiuren, die seine triuwe unter Beweis stellen, wobei er mit zunehmend sicherem Blick auf ethische Prinzipien handelt und dadurch eine Virtuosität der triuwe zeigt, die einen Hau-drauf-Automatismus ritterlichen Zweikampfes hinter sich gelassen hat. Zu diesen Bewährungsproben zählt auch ein Kampf für Lunete. Die listige Vertraute der Königin Laudine hatte Iwein mit ihrer Herrin verkuppelt und wird deshalb nach Iweins Versagen als Ehemann und Landesherrscher Opfer einer Pallastintrige : Der Truchsess und seine Brüder bezichtigen sie der Treulosigkeit ihrer Herrin gegenüber. Sie bietet an, in einem Gerichtsstreit ihre Unschuld zu beweisen, kann aber keinen Kämpfer finden, der sich für sie einsetzt. Der Zufall oder aber Gottes Lenkung führt Iwein zu der in einer Kapelle gefangen gesetzten Lunete und es gelingt ihm in einem Kampf mit dem Truchsess und seinen Brüdern, Lunete durch den Sieg über die Intriganten zu rechtfertigen. 28 Zu den Verweisen auf Hartmanns Werke im Tristan vgl. Detlef Goller : Wan bî mînen tagen und ê hât man sô rehte wol geseit. Intertextuelle Verweise zu den Werken Hartmanns von Aue im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Frankfurt am Main u.a. 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 7). 29 Tristan und Isold (Anm. 5), Bd. 1, V. 4621–4907. Vgl. auch den Forschungskommentar zu Dichterschau und Literaturexkurs ebd., Bd. 2, S. 361–394. 30 Vgl. Schnell 1993 (Anm. 3), S. 428–429 ; Karner (Anm. 3), S. 43–56.
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Dieser Gerichtskampf wird durch Erzählerkommentare und Figurenrede deutlich als Gottesgericht dimensioniert. Dass Gottfried auf diesen Kampf zurückgreift, erhellt ein Vergleich mit dem Morolt-Kampf im Tristan. Bei Hartmann rät der Truchsess Iwein angesichts der Überlegenheit dreier Ritter, vom Kampf abzustehen. Iwein antwortet darauf mit einer Reizrede : Ihm stünden Gott und die Wahrheit zur Seite, von einer Überlegenheit der Gegenpartei könne die Rede nicht sein.31 Gottfried allegorisiert den Einzelkampf von Morolt und Tristan strukturanalog als Feldschlacht zweier Rotten. Dabei vereint Morolt die Kraft von vier Männern in sich, während an Tristans Seite Gott, das Recht und die Willensstärke (willeger muot) kämpfen.32 Nicht nur numerisch wird hier der Vorgänger Hartmann überboten, Gottfried gewinnt der Kampfallegorie noch eine Reihe weiterer Pointen ab, die hier nicht detailliert ausgeführt werden können.33 Auch im Gottesurteil der Isolde greift Gottfried auf den Lunetekampf zurück. Denn auch bei Hartmann kommt der willfährige Gott ins Spiel : Während Iwein gegen den Truchsess und seine Brüder kämpft, bangen junge Frauen um das Los ihrer Gespielin Lunete und beten : Die iuncvrouwen bâten alle got daz er sîne gnâde unde sîn gebot in ze helfe kêrte, unde in ir kempfen êrte, daz er in ze trôste ir gespiln erlôste. nû ist got sô gnædec unde sô guot unde sô reine gemuot daz er niemer kunde sô manigem süezen munde betlîchiu dinc versagen. Die jungen Damen beteten alle zu Gott, er möge mit seiner Gnade und seiner Macht ihnen Hilfe und ihrem Kämpfer die Ehre geben und ihnen zuliebe ihre Gefährtin retten. Nun ist Gott so gnädig und so gut und so lauter, daß er so vielen lieblichen Mündern keine Bitte abschlagen könnte.34
31 Hartmanns Iwein nach folgender Ausgabe zitiert : Hartmann von Aue : Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Text und Kommentar. Hrsg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt am Main 2008 (Bibliothek des Mittelalters 6), S. 317–767, hier : V. 5263–5280. 32 Iwein (Anm. 31), V. 6866–6892. 33 Vgl. V. 6978–7008, zur Forschungsdiskussion Tristan und Isold (Anm. 5), Bd. 2, S. 435–439. 34 Text und Übersetzung : Hartmann von Aue : Iwein (Anm. 31), V. 5351–5361.
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Ironisch wird hier mit dem Ordal gespielt, indem sich die höfische Galanterie auch auf die Transzendenz erstreckt. Zweifellos konnte Gottfried hier ansetzen. Aber die Sache verhält sich bei Hartmann komplizierter. Denn die zentrale Frage des Ordals, ob nämlich Lunetes Rat ein guter oder schlechter Rat war, ob sie ihrer Herrin angemessen und im Interesse des Landes zum Guten riet, als sie Iwein als neuen Ehemann ins Spiel brachte, oder ob es sich um eine intrigant betriebene Schädigung handelte, ist an diesem Punkt des Textes noch nicht entschieden und Gegenstand des Gottesgerichtes, da nach menschlichem Ermessen hier nicht entschieden werden kann.35 Erst dadurch, dass Iwein für die Entrechtete eintritt, wird er überhaupt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Laudine ihn zuletzt wieder als Ehemann und Landesherrscher anerkennt, und erst dann wird sich nachträglich Lunetes Rat als guter Rat erweisen. Das inszenierte Ordal ist, was die Wertung der Schuld oder Unschuld der Protagonistin betrifft, von hinten motiviert, vom positiven Ausgang der Sache und des Romans her, welcher seinerseits eine Wertediskussion ihrem Ende zuführt, die in diesem Roman thematisch ist : eine Diskussion über rechte güete als handlungsleitende Maxime. Wenn der Erzähler hier also den süßen Mündern der hinreißend weinenden Damen zuspricht, Gott in besonderer Weise gnädig zu stimmen, so ist das zwar ein charmanter Kommentar, aber nicht die einzige sinnstiftende Operation im Text. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der Gottesurteilszene im intratextuellen Gewebe der narrativ entfalteten Wertediskussion eine besondere Beweislast zukommt. Literarisch inszenierte Kommentare haben ja in der Regel Rezipienten, die über Schuld und Unschuld der Protagonisten wissen und somit gewissermaßen als Beobachter zweiter Ordnung ein Ordal reflektieren. Diesem Vermögen des Rezipienten wird bei Hartmann einiges abverlangt. Erwähnt sei an dieser Stelle noch ein späterer Text aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, das anonym überlieferte Märe vom Sperber, welches die Verführung einer naiven Novizin durch einen minne erfahrenen Ritter zum Gegenstand hat. Auch hier wird Hartmanns Bemerkung über die roten Münder, denen Gott keine Bitte abschlagen kann, wiederholt. Passend zum galanten Geschehen des Märe erwähnt der Erzähler einleitend in seiner Klosterbeschreibung die roten Münder der Klosterschülerinnen : in wâren die münde sô rôt, swes si gote bâten, ob siz mit vlîze tâten, daz er niht enkunde 35 Zur Lunete-Figur bei Hartmann : Julia Breulmann : Erzählstruktur und Hofkultur. Weibliches Agieren in den Iweinstoff-Bearbeitungen des 12. bis 14. Jahrhunderts. Münster u.a. 2009 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 13), S. 314–317.
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sô rôsenrôtem munde betelîchiu dinc versagen. So rot waren ihre Lippen : Sie mochten Gott bitten, worum sie wollten, wenn sie es nur beflissen taten, dann konnte er so rosenfarbenen Lippen keine Bitte versagen.36
Durch solchen Hinweis verdeutlicht der Erzähler, dass das menschliche Begehren auch vor Klostermauern nicht haltmacht. Dies stellt gewissermaßen die Schwundstufe von Hartmanns ironischer Bemerkung und Gottfrieds provokanter Zuspitzung dar. Hartmanns – gemessen an Gottfried freilich harmlosen – Kommentar über die Verfügbarkeit Gottes betrachte ich als Gottfrieds Überbietungsvorlage und als Hinweis darauf, dass solche Ordale, ehe man sie sogleich auf mögliche Kontexte öffnet, zunächst in ihrem Eingelassensein in das intratextuelle Gewebe des Textes untersucht werden sollten, um ihrer Funktion für die Werkkonzeption näherzukommen.
3. Metaphorische Sakralisierungen – eine intratextuelle Reihe in Gottfrieds Tristan
Das konzeptionelle Zentrum des Gottfried’schen Tristan bildet eine Wertediskussion, die in Gottfrieds Vorlage bereits angelegt ist, die freilich moraltheologisch als hochgradig bedenklich zu gelten hat : Es geht um die Tristanliebe, die weit über das gängige Höfische hinausgehende, äußerst subtile Liebe, zu der nur edle Herzen fähig sind. Eine Liebe, die ehebrecherisch, weltlich erotisch, dem Tode verfallen und von besonderer Intensität in der Freude, aber von noch höherer Intensität im Schmerz geprägt ist. Und diese Liebe wird nicht nur im Verlauf der Erzählung und der eingeschobenen traktatartigen Reflexionen phänomenologisch entfaltet, sie wird – und das ist der Skandal des Gottfried’schen Tristan – als höchster Wert empfohlen. Und dazu greift der Text immer wieder zum Mittel einer Ausstattung der Liebe mit religiösen Vergleichen und Metaphorisierungen, die einer Sakralisierung der ehebrecherischen Minne Vorschub leisten und somit in hohem Maße irritierend sind, wenn man versucht, diese Auseinandersetzung mit dem moraltheologischen Diskurs der Klerikerkultur zu synchronisieren. Beobachten lässt sich eine Reihe durch den Text, welche ganz unterschiedliche geistliche Formen und Semantiken für die Modellierung der Minnekonzeption in
36 Text und Übersetzung : Der Sperber. In : Novellistik des Mittelalters. Texte und Kommentare. Hrsg. übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller. Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 23), V. 44–49 (S. 570–571).
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den Dienst nimmt. Dies beginnt bereits im Prolog. Von der angekündigten Erzählung heißt es : Deist aller edelen herzen brôt. hie mite sô lebet ir beider tôt. wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt und ist uns daz süeze alse brôt. Ir leben, ir tôt sint unser brôt. sus lebet ir leben, sus lebet ir tôt. sus lebent si noch und sint doch tôt und ist ir tôt der lebenden brôt. Da ist dies Brot für alle edlen Herzen, ja, damit lebt ihr beider Tod. Wir hören von ihrem Leben, hören von ihrem Tod, und das ist uns köstlich so wie Brot. Ihr Leben, ihr Tod sind unser Brot. So lebt ihr Leben, so lebt ihr Tod. So leben sie noch und sind doch tot, und es ist ihr Tod für die Lebenden Brot.37
Auch wenn in einem Falle vehement bestritten wurde, dass hier überhaupt an die Eucharistie zu denken sei,38 geht die Forschung doch weitgehend davon aus, dass die Eucharistie bei Gottfried für die Modellierung einer in vielerlei Hinsicht heterodoxen Liebeskonzeption herangezogen wird. Bei der metaphorischen Analogisierung vollzieht sich eine Partizipation am sakralen Ritual, die literarische Inszenierung jedoch geht darin nicht auf. Die Erzählung von Tristan und Isolde empfängt allerdings durch solche Analogisierung eine enorme Aufwertung, womit ein hoher Geltungsanspruch für den volkssprachigen Text behauptet wird.39 Text ist hier nicht nur geistige Speise, sondern dem Erinnerungsmahl der Gemeinde der edelen herzen anheimgegeben. Das erinnernde Eingedenken an die Intensität der Liebe zwischen Tristan und Isolde und an den Schmerz der Liebenden stiftet bei Gottfried ein Gemeinschaftsritual und eine Meditationsvorlage für Liebende, die ihren Liebesschmerz um der Steigerung der Liebe willen noch forcieren wollen. 37 Tristan und Isold (Anm. 5), V. 233–240. 38 Eva Willms : der lebenden brôt. Zu Gottfried von Straßburg Tristan 238 (240). In : Zeitschrift für deutsches Altertum 123 (1994), S. 17–46 ; vgl. zur Forschungsdiskussion Huber (Anm. 12), S. 48 ; Tristan und Isold (Anm. 5), S. 265–272. 39 Vgl. Beate Kellner : Eigengeschichte und literarischer Kanon. Zu einigen Formen der Selbstbeschreibung in der volkssprachlich-deutschen Literatur des Mittelalters. In : Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Hrsg. von ders. u.a. Frankfurt am Main 2001 (Mikrokosmos 64), S. 153–182, hier : S. 169–172.
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Der Bezug auf das eucharistische Mahl bleibt im Tristan nicht der einzige Fall einer Nutzung sakraler Formen und Inhalte zur Illustration der Liebeskonzeption. Nach der Konsumtion des verhängnisvollen Minnetrankes tritt der Erzähler unter Aufbietung des rhetorischen Arsenals einer Bußpredigt auf, um seiner Gemeinde vorzuwerfen, gegen die Gebote und Pflichten, welche die Minne mit sich bringt, immer wieder verstoßen zu haben. Käuflich sei uns eine im Kern unveräußerliche Minne geworden, betont der Prediger Gottfried hier im brüderlichen Wir der Sündhaftigkeit, die der Prediger mit der Gemeinde teilt : Minne, aller herzen künigîn, diu vrîe, diu eine diu ist umbe kouf gemeine ! wie habe wir unser hêrschaft an ir gemachet zinshaft ! wir haben ein bœse conterfeit in daz vingerlîn geleit und triegen uns dâ selbe mite. ez ist ein armer trügesite, der vriunden alsô liuget, daz er sich selben triuget. wir valschen minnære, der Minnen trügenære, wie vergânt uns unser tage, daz wir unserre clage sô selten liebez ende geben ! wie vertuon wir unser leben âne liep und âne guot ! Die Liebe, aller Herzen Königin, die freie und einzigartige, ist allgemein käuflich geworden ! Wie haben wir für ihre Botmäßigkeit bezahlen müssen ! Wir haben einen wertlosen Stein in den Fingerring eingesetzt und täuschen uns damit selbst. Es ist ein erbärmlicher Betrug, Freunde so zu belügen, daß man sich selbst betrügt. Wir falschen Liebhaber, wir Liebesbetrüger, wie gehen uns die Tage ins Leere, indem wir unser Klagen nie zu einem frohen Ende bringen ! Wie vertun wir unser Leben ohne Liebe und ohne Erfüllung !40
So wie in dieser Bußpredigt die Vollkommenheit der Tristanliebe nicht nur behauptet, sondern von den Rezipienten geradezu eingefordert wird, so findet sie in Gott40 Tristan und Isold (Anm. 5), V. 12300–12317.
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frieds Minnegrottenepisode erneut mit Rückgriff auf ein religiöses Sinnbildungsverfahren ihre Explikation und Verklärung. Tristan und Isolde weilen verbannt fernab vom Markehof. Ihre Minnegrotte wird im Stile einer Kathedrale beschrieben (das Liebeslager, ein kristallenes Bett, steht anstelle des Altars) und schließlich nach dem Muster der Kathedralallegorese des Mittelalters auf die vollkommene Liebe hin ausgedeutet.41 Die Stoffgeschichte sah an dieser Stelle das entbehrungsreiche Waldleben Tristans und Isoldes vor. Aber statt des Hungers und der Skrupel entwirft nur Gottfried ein Wunschleben im erotischen Exil, welches allegorisierend als vollendete Liebe überhöht wird. Das Verfahren impliziert einmal mehr die prekäre Sakralisierung ehebrecherischer luxuria : Nu’n sol iuch niht verdriezen, ir’n lât iu daz entsliezen, durch welher slahte meine diu fossiure in dem steine betihtet wære, als si was. si was, als ich iezuo dâ las, sinewel, wît, hôch und ûfreht, snêwîz, alumbe eben unde sleht. diu sinewelle binnen daz ist einvalte an minnen : einvalte zimet der minne wol, diu âne winkel wesen sol ; der winkel, der an minnen ist, daz ist âkust unde list. diu wîte deist der minnen craft, wan ir craft ist unendehaft. diu hœhe deist der hôhe muot, der sich ûf in diu wolken tuot […]. Nun seid nicht ungeduldig, sondern laßt Euch erklären, um welcher Bedeutung willen man die caverne in dem Felsen so hergerichtet hatte, wie sie war. Sie war, wie ich vorhin sagte, rund, weit, hoch und die Wände senkrecht, schneeweiß, ringsherum glatt-
41 Vgl. Friedrich Ranke : Die Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan. In : Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse 2 (1925), S. 21–39 [wieder in : Friedrich Ranke : Kleine Schriften. Hrsg. von Heinz Rupp/Eduard Studer. Bern, München 1971, S. 13–30 ; Gottfried von Straßburg. Hrsg. von Alois Wolf. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 320), S. 1–24].
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gestrichen. Daß sie im Innern rund war, bedeutet die innere Einfachheit der Liebe ; Einfachheit steht der Liebe wohl an, denn sie soll ohne Winkel sein ; Winkel in der Liebe bedeuten Heimtücke und Hinterlist. Die Weite bedeutet die Kraft der Liebe, denn ihre Kraft ist grenzenlos. Die Höhe ist die freudige Hochstimmung, die bis zu den Wolken hochsteigt.42
Vor dem Hintergrund einer solchen paradigmatischen Reihe, die hier nur angedeutet werden kann, die freilich in ihrer bildlichen und reflexiven Entfaltung spektakulär ist, fügen sich das Gottesurteil und der Kommentar dazu nahtlos ein. Einmal aufmerksam geworden auf die vielen Gottesanrufungen im Text, die mannigfach vorgebrachten Gebete der Liebenden um Schutz und Geleit auf ihren Abwegen, zeigt sich, dass hier eine sakrale Modellierung der Gottfried’schen Minnekonzeption nachhaltig betrieben wird. Dies beginnt bereits in der Elternvorgeschichte. Tristans außereheliche Zeugung erfolgt dadurch, dass Blanscheflur ihren im Krieg tödlich verwundeten Geliebten Riwalin in Verkleidung besucht. Sie wohnt dem Sterbenden bei, der dadurch auf wundersame Weise Heilung,43 oder – wie einmal trefflich gesagt wurde – »Ent-Todung« erfährt.44 Bei diesem Zeugungsakt des Helden Tristan sei Riwalin beinahe an Liebe und Blanscheflur gestorben, notiert Gottfried, wan daz im got half uz der not – hätte Gott nicht beigestanden, und er ergänzt : sus genas er, wan ez solte wesen.45 Schon bei der Zeugung des Helden leistet Gott Maßgebliches für Kondition und Gesundheit und dies zieht sich als Reihe weiterer Episoden durch den Text. Eine solche Verbindung der Liebeskonzeption mit religiösen Semantiken und sakralen Formen ist in hohem Maße auffällig. Durch die Wiederholung solcher Koppelungen ist der Rezipient herausgefordert, ana- und kataphorischen Verweisen nachzugehen, um einen Reflexionszusammenhang zu erschließen, der sich solcherart oberhalb des Syntagmas der Erzählung ereignet.46 Über die Finalität dieser Reihe, in der Gottfried weit über das in der Stofftradition Vorgegebene hinausgeht, lässt sich nur spekulieren. Bei Thomas endet der Text mit der innigen Umarmung der Liebenden im Tode.47 Die Tristansaga des Mönches Robert ergänzt die Bestattung : Tristan und Isolde seien an verschiedenen Seiten der 42 Tristan und Isold (Anm. 5), V. 16923–16940. 43 Tristan und Isold (Anm. 5), Bd. 1, V. 1199–1330, Bd. 2, S. 295–297. 44 Bertau (Anm. 14), Bd. 2, S. 930. 45 Tristan und Isold (Anm. 5), V. 1325–1330. 46 Zu solchen ›vertikalen‹ Achsen der Reflexion, die oberhalb des ›horizontalen‹ temporal und handlungslogisch begründeten Erzählzusammenhangs firmieren, vgl. Rainer Warning : Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In : Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176–209. 47 Tristan und Isold (Anm. 5), S. 184–188.
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Kirche begraben worden, aus beiden Gräbern jedoch seien Bäume gewachsen, die sich über dem Kirchendach innig verschränkt hätten.48 Dies gehört zum Traditionsbestand, stellt aber freilich vor dem theologischen Hintergrund eine blasphemische Apotheose dar, welche der soweit entfalteten paradigmatischen Reihe gewissermaßen die Krone jenseitsreligiöser Heiligung weltlicher Verfallenheit aufgesetzt hätte. Solch eine skandalöse Apotheose hat Goethe am Ende der Wahlverwandtschaf ten ausgeführt und dabei die das Heil der ehebrecherischen Liebenden betreffende Pointe explizit gemacht : »So ruhen die Liebenden neben einander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.«49 Die Zeitgenossen haben hier die »Himmelfahrt der bösen Lust« gerügt.50 Man kann sicher davon ausgehen, dass Gottfried, hätte er seinen Text beendet, auch an dieser Stelle entsprechende Akzente gesetzt hätte.
4. Hybridisierung von Diskursen
Kann man nun – so möchte ich abschließend fragen – solche literarischen Spiele mit dem Ordal aus ihrem inter- und intratextuellen Geflecht herauslösen und eindeutig und interpretationsrelevant auf außerliterarische Ereignisse wie die Ordaldiskussion des Vierten Lateranum oder die Straßburger Ketzerprozesse und ihre Verurteilung durch den Papst beziehen ? Angesichts avancierter und von literarischen Darstellungen und Traditionen überdeterminierter Sachverhalte wie im vorliegenden Roman scheint mir dies nahezu unmöglich, insbesondere wenn über solche Operationen darüber entschieden werden soll, wessen Geistes Kind der Verfasser ist (Katharer, Amalrikaner, Ortliebianer, rationaler Theologe, gottesferner Apostat). Die Eigendynamik literarischer Reihen und ihre Steigerungseffekte lassen sich in Gottfrieds inszeniertem Ordal sowohl anhand intertextueller Aufgriffe als auch anhand intratextueller Reihenbildung beobachten. Akte der Überbietung intertextueller Vorlagen51 und die Autonomie einer paradigmatischen Reflexion in intratextuellen Reihen bilden 48 Tristams Saga ok Isondar (Anm. 11), S. 112 ; S. 204. 49 Johann Wolfgang von Goethe : Die Leiden des Jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hrsg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt am Main 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 109), S. 529. 50 So Friedrich Heinrich Jacobi am 12.01.1810 in einem Brief an Friedrich Köppen : »Was mich vollends empört, ist die scheinbare Verwandlung am Ende der Fleischlichkeit in Geistlichkeit, man dürfte sagen : die Himmelfahrt der bösen Lust.« In : »Die Wahlverwandtschaften«. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Hrsg. von Heinz Härtl. Berlin 1983, Nr. 305, S. 113. 51 Harold Bloom : The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. London u.a. 1975.
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kompakte Formen der Literarizität, die sich nicht bruchlos auf die Illustration von in anderen Diskursen generierten Propositionen und Appellen zurückführen lassen. Gottfrieds Tristan ist nicht Medium der Präsentation von im diskursiven Haushalt seiner Epoche identifizierbaren Thesen, der Roman ist vielmehr ein Ort der Hybridisierung von Diskursen.52 Das Resultat eines solchen textkonstitutiven Vorgangs ist schillernde Uneindeutigkeit, ja Widersprüchlichkeit, ein Insistieren darauf, dass die kulturkonstitutiven Werte im Kern aporetisch sind.
52 Joachim Küpper : Was ist Literatur ? In : Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45 (2000), S. 187–215.
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Spuren des Konzils in der geistlichen Literatur : Das Mirakel vom Judenknaben und die Gründungslegenden der Neuen Orden 1. Historischer und literaturgeschichtlicher Rahmen
Die Wende vom zwölften zum dreizehnten Jahrhundert gilt als die Blütezeit der volkssprachigen deutschen Literatur.1 Die sozioökonomischen Umbrüche und die Bildung neuer Eliten (dazu gehören die Etablierung eines städtischen Bürgertums ebenso wie die Herausbildung eines ministerialen Adelsmilieus) sorgen für ein verstärktes Interesse an einem Literaturbetrieb, der sich im Zuge der Entstehung einer neuartigen ›Hofkultur‹ vermehrt an ein Publikum richtet, das nicht die elitär-gebildete Sprache des Klerus spricht, sondern dezidiert der Volkssprache verpflichtet ist. Das beginnt mit der Übernahme höfischer Erzähltraditionen aus dem französischen Sprachraum etwa ab den 1170er Jahren und hat einen ersten Höhepunkt im ersten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts, mit Werken wie Wolframs Parzival oder Gottfrieds Tristan. Ähnliches wäre zur Lyrik in Sangspruch und Minnesang zu sagen ; mit Walther von der Vogelweide werden die z. T. ebenfalls aus der französisch-provenzalischen Literaturszene übernommenen Konventionen dann weitergeführt und an ihre Grenzen und darüber hinaus gebracht. Im Bereich der Heldenepik ist neben der Übernahme französischer Chanson de geste-Stoffe vor allem das Nibelungenlied zu nennen, dessen Entstehung ebenfalls um die Jahrhundertwende anzunehmen ist. Das dreizehnte Jahrhundert kann daher als ein Jahrhundert höchster literarischer Produktivität bezeichnet werden, eine Zeit, die auch stilistisch und erzähltechnisch ausgesprochen innovativ war (Frankreich war freilich schon wieder weiter, während die dort bereits zu dieser Zeit gängigen Prosifizierungen – mit einigen Ausnahmen wie dem Prosalancelot – im deutschen Sprachraum zunächst noch kaum eine Rolle spielten). In den nachfolgenden Jahrzehnten des Jahrhunderts verfestigten sich diese literarischen Traditionen, wurden stilistisch z. T. auf die Spitze getrieben, brachten jedoch wenig Neues, Formprägendes hervor. Die zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts wird darum für die mittelhochdeutsche Literatur auch vielfach die ›nachklassische‹ 1 Vgl. Leslie Peter Johnston : Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 2.1 : Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30). Frankfurt a. M. 1999, S. 3–5.
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Periode genannt, die freilich nicht weniger produktiv war, wie nicht zuletzt an einem Dichter wie Konrad von Würzburg zu sehen ist, dessen Werke zudem eine vielfältige Überlieferung und Breitenwirkung hatten.2 Die ungeheure Dynamik des Literaturbetriebs ausgerechnet im ersten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts kongruiert mit einer wachsenden Dynamik auch in anderen Bereichen : Die Bevölkerung explodiert, neue Siedlungsräume werden erschlossen und insbesondere der Status und Stellenwert der Städte nimmt in beachtlichem Maße zu. Eine direkte Verknüpfung der literarischen Entwicklung mit den politischen Ereignissen dieser Zeit wäre freilich verfehlt : Vor allem werden die Innovationen des französischen Literaturbetriebs aufgenommen und weiterentwickelt, wie ja auch die Entstehung einer laikalen Hofkultur (wenn man das so vereinfacht sagen kann) ihren Ausgangspunkt von dort nahm.3 Hinzu kommt, dass ausgerechnet die Hochphase der volkssprachigen deutschen Literatur in eine Zeit fällt, die in Mitteleuropa durch den deutschen Thronstreit reichs politisch eine recht unsichere und instabile war. Damit einher geht wiederum eine kirchenpolitisch-theologische Entwicklung, denn eben in den ersten beiden Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts ist mit Innozenz III. ein Mann auf den Papststuhl gelangt, der die Kirche und Europa so nachhaltig prägen sollte wie kaum ein anderer. Der Zusammenfall beider Entwicklungen ist daher auch kein reiner Zufall, da Innozenz die Kirche in einem bedrohlichen Zustand des Übergangs und Verfalls vorfand und darauf u.a. mit der Einberufung des IV. Laterankonzils reagierte. Für all diese hier nur ganz grob skizzierten Entwicklungen dürften freilich auch die gesellschaftspolitischen Umwälzungen der vorigen Jahrzehnte (also der letzten des zwölften Jahrhunderts) mitursächlich gewesen sein.4 Unumstritten waren der Papst und sein Programm nicht : Innozenz’ Verordnungen hatten schon zuvor Walther von der Vogelweide zu wütenden Polemiken gegen seine Person veranlasst.5 Als wegweisend allerdings gelten insbesondere die Entschei2 Vgl. etwa Peter Nusser : Deutsche Literatur. Eine Sozial- und Kulturgeschichte. Darmstadt 2012, S. 271–273. 3 Vgl. Joachim Bumke : Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Frankfurt a. M. 51990, S. 55–64 (zur wirtschaftlichen Entwicklung) und S. 83–136 zu den französischen Literaturbeziehungen. 4 Vgl. Karl Stürmer : Konzilien und ökumenische Kirchenversammlungen. Abriß ihrer Geschichte. Göttingen 1962, S. 107–121, hier bes. S. 108–115 zur politischen und kirchenpolitischen Konstellation. 5 Direkt gegen Innozenz III. und dessen Politik sind gleich mehrere Sprüche gerichtet : Die Opferstockstrophen 34,4 u. 34,14, die sich gegen den päpstlichen Erlass zur Aufstellung von Opferstöcken im Jahr 1213 wenden, sowie 33,21, eine antiklerikale Volte, in der Walther Innozenz mit dem als Teufelsbündner geltenden Papst Silvester II. vergleicht. Vgl. Theodor Nolte : Papst Innozenz III. und Walther von der Vogelweide. In : Papst Innozenz III.: Weichensteller der Geschichte Europas. Hrsg. von Thomas Frenz. Stuttgart 2000, S. 69–89.
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dungen des Laterankonzils, die bekanntermaßen nicht nur theologischer, sondern ebenso weitreichend auch politischer Natur waren. In literaturwissenschaftlicher Hinsicht hat man sich jedoch fast ausschließlich mit der vielleicht folgenschwersten dieser Entscheidungen auseinandergesetzt, dem Aufruf zum Kreuzzug, der nachhaltig literarische Spuren hinterlassen hat : im Minnesang mit zahlreichen Kreuzliedern,6 in der Heldenepik mit der Verarbeitung der Chanson de geste-Stoffe wie in Wolframs Willehalm oder der um 1230 entstandenen Rolandslied-Adaption des Stricker, die verstärkt hagiographische Bezüge einbindet, vor allem aber eines der Ergebnisse des Laterankonzils massiv aufgreift : dass nämlich alle im Heidenkampf gefallenen Christen als Märtyrer zu gelten hätten.7 Im Folgenden soll hingegen an zwei ganz unterschiedlichen Beispielen gezeigt werden, wie das Konzil mit seinem es prägenden Papst noch auf andere Weise auch in der Literatur Niederschlag gefunden hat. Ich suche diese Spuren bewusst innerhalb der geistlichen Literatur, die in der Volkssprache des dreizehnten Jahrhunderts einen ebenso bemerkenswerten Schub erhalten hat wie die der laikalen Adelsschicht, wobei es mir in erster Linie um die erzählende, insbesondere die hagiographische Literatur geht, während didaktische Schriften, Predigten und dergleichen weitgehend ausgeblendet werden müssen.8 Die erzählende geistliche Literatur der Volkssprache ist kaum von der lateinischen zu trennen, auf die die volkssprachige in den meisten Fällen direkt oder indirekt zurückgreift, wobei ab der Mitte des zwölften Jahrhunderts eigenständige literarische Formen hervorgebracht werden, die über bloße Bearbeitungen weit hinausgehen. Das gilt auch in stilistischer Hinsicht : Waren die lateinischen Vorlagen fast durchweg in Prosa verfasst, so sind die mittelhochdeutschen Texte der höfischen Verskunst verpflichtet und daher stilistisch ganz eigenständig gegenüber ihren lateinischen Quellen.9 Neben der Ausarbeitung von im engeren Sinne hagiographischen Texten, d. h. den Lebensbeschreibungen von heiligen Persönlichkeiten, entstehen dabei auch Texte, die Stoffe der biblischen Erzählungen (insbeson6 Vgl. etwa Peter Hölzle : Die Kreuzzüge in der okzitanischen und deutschen Lyrik des 12. Jahrhunderts. Das Gattungsproblem »Kreuzlied« im historischen Kontext. 2 Bde. Göppingen 1980 ; Susanne Reichlin : Interferenzen und Asymmetrien. Zu einigen Kreuzliedstrophen Hartmanns und Reinmars. In : Literarische Säkularisierung. Hrsg. von Susanne Köbele/Bruno Quast. Berlin 2014, S. 175–195, mit weiterer Literatur. 7 Vgl. dazu Bernd Bastert : Konrads »Rolandslied« und Strickers »Karl der Große« : Unterschiede in Konzeption und Überlieferung. In : Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität von 1200–1300. Cambridger Symposium 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst/Chris topher Young. Tübingen 2003, S. 91–110. 8 Dazu zählen z.B. die Predigten Bertholds von Regensburg oder Davids von Augsburg, der möglicherweise auch als Inquisitor bei den Waldensern wirkte ; die wenigsten seiner Schriften sind indes in die Volkssprache übertragen worden. 9 Vgl. Johnston (Anm. 1), S. 392.
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dere der Apokryphen) aufnehmen und narrativ ausgestalten. Auch hier erweist sich das dreizehnte Jahrhundert als äußerst produktiv für den Literaturbetrieb, wobei aber die meisten und wirkmächtigsten Werke nicht in die Blütezeit der höfischen Dichtung fallen, sondern erst ins zweite und dritte Viertel dieses Jahrhunderts. Bei diesen Werken ist vor allem die Tendenz zur literarischen Großform auffallend, d. h., hagiographische Stoffe in literarischer Breite auszuerzählen und mit höfischen Motiven und Ordnungsmustern zu überformen.10 Eindrückliches Beispiel dafür ist der vermutlich in den 1240er Jahren entstandene Georg des Reinbot von Durne, der in epischer Breite den heiligen Georg als höfischen Ritter stilisiert und auf diese Weise Heidenmission und miles Christi-Ideal propagiert.11 Aber auch die etwas früher zu datierende Vita des heiligen Kaiserpaares Heinrich und Kunigunde des Ebernand von Erfurt wäre zu nennen, Rudolfs von Ems breit überliefertes Großwerk Barlaam und Josaphat, oder die mit über 40.000 Versen ausgesprochen umfangreiche (aber auch nicht besonders wirkungsvolle) Martinalegende des Hugo von Langenstein, die vermutlich im Kontext des Deutschen Ordens entstanden ist.12 In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist es dann vor allem der höfisch gebildete Konrad von Würzburg, dessen drei literarisch ausgearbeitete Legenden (Panthaleon, Alexius und Silvester) eine überaus breite Rezeption erfahren ; er ist auch der Verfasser der Golde nen Schmiede, einer stilistisch hochkomplexen, mit metaphernreichen Anspielungen ausgeschmückten Lobrede auf die Gottesmutter Maria.13 Zusätzlich schlägt sich das Interesse an den sogenannten ›neuen Heiligen‹ nieder, im deutschen Sprachraum v.a. an Elisabeth von Thüringen, deren erste Lebensbeschreibung durch Konrad von Marburg schon bald in die Volkssprache übertragen wurde ; Gleiches gilt auch für die Bearbeitungen der Schriften Klaras von Assisi. Bei all diesen Texten, egal ob sie biblische oder hagiographische Stoffe verarbeiten, handelt es sich um Erzähltexte von teils beachtlichem Umfang, die eine gleichsam hybride Form bilden, welche man mit den nicht unproblematischen Bezeichnungen ›Legendenroman‹ oder ›Bibelepik‹ belegt hat.14 Diese Benennungen mögen etwas 10 Vgl. dazu grundsätzlich Susanne Köbele : Die Illusion der einfachen Form. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende. In : PBB 134 (2012), S. 365–404. 11 Vgl. Stephanie Seidl : Blendendes Erzählen. Narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters. München 2012. 12 Vgl. Robert Mohr : Präsenz und Macht. Eine Untersuchung zur ›Martina‹ Hugos von Langenstein. Frankfurt a. M. u.a. 2010. 13 Zu Konrads Legenden vgl. nochmals Köbele (Anm. 10), S. 379–395. 14 Die problematische Gattungsbezeichnung spiegelt sich wider in den frühen Arbeiten von Klaus Brinker : Formen der Heiligkeit. Bonn 1968, sowie Ulrich Wyss : Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik. Erlangen 1973 (Letzterer mit deutlichem Ästhetisierungsanspruch). Die Ausgestaltung biblischer Stoffe in vergleichbaren Großformen lässt sich parallel zur hier skizzierten Entwicklung verfolgen, vgl. allgemein Achim Masser : Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters. Berlin 1976.
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unglücklich sein, sie zeigen jedoch, wie sehr sich diese Texte von den ›einfachen Formen‹ entfernt haben, wie sie Legendenerzählungen eigentlich ausfüllen, deren Inhalt sich, wie es Theodor Wolpers formuliert hat, in »andachtsbildartige[r] Verdichtung«15 präsentiert. Aber das dreizehnte Jahrhundert ist, gerade was das geistliche Erzählgut betrifft, eben nicht nur von derartigen literarischen Großformen geprägt, die sich oftmals an die neugebildeten Vorstellungen eines höfischen Literaturbetriebs anlehnen. Denn im Gegensatz zu solch breit auserzählten Einzellegenden entsteht in den 50er oder 60er Jahren dieses Jahrhunderts die wohl bedeutendste und einflussreichste lateinische Legendensammlung, die Legenda aurea des Genueser Bischofs Jacobus de Voragine, die ein enormes Wirkungspotenzial entfaltete. Ihre Entstehung und Verbreitung dürfte in unmittelbarem Zusammenhang mit den Reformbemühungen der Päpste Innozenz und seines Nachfolgers Honorius stehen, die den Dominikanerorden, dem Jacobus angehörte, approbierten und festigten. Denn nicht zuletzt über die Dominikaner erfuhr die Legenda aurea, die als eine Art »Handbuch der Hagiographie« und »hagiographische[s] Kompendium«16 viel mehr darstellte als ein bloßes Legendar, eine außerordentlich schnelle und weite Verbreitung.17 Die erste Übertragung dieser Legendensammlung in die Volkssprache erfolgte noch kurz vor oder um 1300 mit dem möglicherweise im Umfeld des Deutschen Ordens entstandenen mittelhochdeutschen Passional : Erstmals werden hier volkssprachige Legendenerzählungen nicht einzeln und als literarische Großerzählungen präsentiert, sondern in einem klar strukturierten, halbwegs knappgehaltenen Sammlungskontext im Rahmen von drei Büchern dargeboten.18 Das gilt auch für die noch wesentlich breiter überlieferten Sammlungen von Marienmirakeln, die ebenfalls im dreizehnten Jahrhundert einen vorläufigen Höhepunkt fanden, nicht zuletzt, weil 15 Vgl. Theodor Wolpers : Die englische Heiligenlegende des Mittelalters. Eine Formengeschichte des Legendenerzählens von der spätantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1964, S. 32 et passim. Zur Legende als einfache Form vgl. schon André Jolles : Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Studienausgabe der 4. Aufl. Tübingen 1972 [zuerst Halle 1930], zur Diskussion jetzt Köbele (Anm. 10). 16 Reglinde Rhein : Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Die Entfaltung von Heiligkeit in ›Historia‹ und ›Doctrina‹. Köln u.a. 1995, S. 32. 17 Zu Datierung und Verbreitung vgl. Barbara Fleith : Studien zur Überlieferungsgeschichte der lateinischen Legenda Aurea. Brüssel 1991, bes. S. 12–16. 18 Die Texte werden zitiert nach : Passional. Bd. 1 : Marienleben, Bd. 2 : Apostellegenden. Hrsg. von Annegret Haase u.a. Berlin 2013 [Buch I und II], sowie : Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts zum ersten Male herausgegeben und mit einem Glossar versehen von Friedrich Karl Köpke. Quedlinburg, Leipzig 1852 [Buch III]. Die Neuausgabe der ersten beiden Bücher macht in der Einleitung von Martin J. Schubert (hier S. XXXIV–XLI) eine Reihe von Indizien aus, die gegen eine Entstehung im oder eine Beauftragung aus dem Deutschen Orden heraus sprechen, kann aber Bezüge zu Franziskanern oder Dominikanern ebenso wenig erhärten.
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nun ihre Verwendung für Predigtzwecke in den Vordergrund rückte.19 Neben den Exempelsammlungen des Caesarius von Heisterbach sind vor allem die Sammlungskontexte der Mendikantenorden, insbesondere der Dominikaner, entscheidend für die Weiterverbreitung dieser Marienlegenden ; von dort übernimmt auch die Le genda aurea einige Mirakel, und erneut ist das Passional als Hauptträger derartiger Sammlungen in der Volkssprache hervorzuheben : Im Anschluss an das breit angelegte Marienleben werden darin insgesamt 25 Mirakel präsentiert.20 Dabei zieht der Verfasser jedoch nicht nur lateinische Vorlagen heran, sondern in mindestens zwei Fällen auch deutsche Einzelüberlieferungen.21
2. Das Geheimnis der Transsubstantiation : Die mittelhochdeutschen Bearbeitungen des Mirakels vom Judenknaben
Eben hier will ich, nachdem der literaturgeschichtliche Rahmen abgesteckt ist, ansetzen : Denn es sind gerade die einfachen Formen und die konventionellen Erzählungen, an denen sich mitunter sehr viel deutlicher die Geltungsansprüche spezifischer Ordnungssysteme ablesen lassen. Nicht zuletzt die angesprochenen Legendare erzielten eine erhebliche Breitenwirkung, da sie eben nicht ausschließlich dem Studium bestimmter Eliten vorbehalten waren, sondern beispielsweise über die klösterliche Tischlesung eine entsprechend große Rezipientenschicht erreichen konnten, während ein Großteil (gleichwohl nicht alle) der weitschweifigen legendenepischen Texte weitaus geringere Verbreitung und Beachtung fanden. Auf meiner Spurensuche möchte ich zunächst ein Marienmirakel betrachten, das in lateinischen wie volkssprachigen Mirakel- und Exempelsammlungen weitverbreitet ist, im deutschsprachigen Raum einmal als Einzelüberlieferung, zum anderen als das Letzte der 25 in der Sammlung des Passionals auftaucht. Es handelt sich um die Geschichte vom Jüdel bzw. dem Judenkind. Der Erzählkern dieses Mirakels – ein Judenknabe wohnt zufällig einer christlichen Messe bei und empfängt die Eucharistie, wird daraufhin von den übrigen Juden zur Strafe in einen glühenden Ofen geworfen und von Maria daraus gerettet – findet sich in mehreren lateinischen Sammlungen, u.a. bereits bei Gregor von Tours, auch bei Caesarius von Heisterbach und in der Legenda aurea. Die wesentlich ausführlicher ausgestaltete Version des Passionals hat jedoch keine lateinische Vorlage, sondern 19 Vgl. Hardo Hilk : Art. Marienmirakelsammlungen. In : ²VL 6 (1987), Sp. 19–42, hier Sp. 25. 20 Vgl. die umfangreiche Übersicht der lateinischen und volkssprachigen Sammlungen ebd. 21 Vgl. zu den Quellen der Marienmirakel im Passional Schubert : Einleitung zu Neuausgabe (Anm. 18), S. CCXXIII–CCXXXIX.
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dürfte auf eine vielleicht noch im ersten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts entstandene mittelhochdeutsche Fassung zurückgehen, wie sie in einer Wiener Sammelhandschrift mit geistlichen Texten (Wien, cod. 2696) vom Anfang des vierzehnten Jahrhunderts erscheint.22 Gegenüber den lateinischen Fassungen sticht die Länge der mittelhochdeutschen Bearbeitung heraus, die zudem einige neue Motive und Handlungsstränge hinzufügt. In der umfangreichen Vorgeschichte wird vor allem ein Begründungs- und Motivationszusammenhang gesetzt : Das achtjährige Judenkind, so heißt es dort, sei von seinem Vater auf eine Christenschule geschickt worden, da ihm die dort erworbenen Lateinkenntnisse später zum Vorteil gereichen sollen. Der Schulmeister verlangt jedoch von allen seinen Schülern, sich vor einer Marienstatue der nahegelegenen Kirche zu verneigen ; das Judenkind darf keine Ausnahme machen und erkundigt sich bei seinem Mitschüler, was es mit diesem Gruß auf sich habe. Der klärt ihn über das Bildnis und die Hilfskraft Marias für alle, die sie verehren, auf, sodass der Judenknabe nun stets ehrerbietig das Bild grüßt ; als er es einmal mit Spinnweben und Staub verschmutzt sieht, reinigt er es sogar mit dem Zipfel seines teuren Gewands. Somit wird bereits hier eine erste Hinwendung zum Christentum und v.a. zur Marienverehrung inszeniert, die das spätere Interesse an den Geschehnissen der Ostermesse und der Kommunion, an der das Jüdel teilnimmt, erklären.23 Die umfangreiche Vorgeschichte stellt eine wesentliche Änderung gegenüber den lateinischen Fassungen, wie sie etwa die Legenda aurea oder Caesarius von Heisterbach präsentieren, dar. Sie zeigt nicht allein die Eigenständigkeit der mittelhochdeutschen Versionen, sondern setzt den Schwerpunkt ganz besonders auf die Marienverehrung, die insbesondere für das Pas sional von großer Bedeutung ist. Hier schlägt sich offenbar das gesteigerte Interesse an einer Marienverehrung nieder, die im dreizehnten Jahrhundert immer stärkere Kontur gewann.24
22 Vgl. Hans-Friedrich Rosenfeld : Art. Das Jüdel In : ²VL 4 (1983), Sp. 891–893, hier Sp. 891 ; u.a. beinhaltet die Handschrift auch Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu, Die urstende Konrads von Heimesfurt und die Visio Tnugdali. Vgl. auch Manfred Lemmer : Art. Jüdel : in : Marienlexikon 3 (1991), S. 453 f. Die Abhängigkeit des Passional-Mirakels vom Jüdel der Wiener Handschrift gilt als wahrscheinlich, vgl. zusammenfassend Heike A. Burmeister : Der ›Judenknabe‹. Studien und Texte zu einem mittelalterlichen Marienmirakel in deutscher Überlieferung. Göppingen 1998, S. 113 f. 23 Beatrice Kälin : Maria, muter der barmherzekeit. Die Sünder und die Frommen in den Marienlegenden des Alten Passionals. Bern u.a. 1994, S. 147, macht darauf aufmerksam, dass Kniefall und Gebet vor dem Marienbild nicht als Anbetung verstanden werden dürfen, sondern vielmehr als Geste der Ehrfurcht und Demut. 24 Vgl. Cordula Hennig von Lange : ›Das Jüdel‹ – Judenfiguren in christlichen Legenden. In : Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hrsg. von Ursula Schulze. Tübingen 2002, S. 135–162, hier S. 136–138.
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Das gilt in gleicher Weise für die Gestaltung der Ostermesse : Der Judenknabe gerät durch Zufall in einen Ostergottesdienst, bleibt neugierig stehen, und als sich die Gemeinde nach vorne zur Kommunion begibt, geht er ebenfalls mit und nimmt daran teil.25 Nachdem der Junge seinen Eltern gestanden hat, die Kommunion empfangen zu haben, erschrecken diese, können aber trotz Wehklagen das Urteil der Ältesten nicht verhindern : Das Kind, das nicht davon ablässt, mit der Eucharistie vil edeler spise (Pass., V. 17597) erhalten zu haben, wird (mit deutlichen Analogien zum biblischen Daniel) in einen glühenden Ofen gesteckt, ohne jedoch Schaden zu nehmen, wand Maria di gute/ nam sin gantze hute/ und satztez lieplich uf di schoz (Pass., V. 17727–17729). Auch Marias Beistand ist schon durch die Vorgeschichte begründet, denn sie hilft, so die zentrale Aussage aller Passional-Mirakel, all jenen, die sie verehren ; zugleich aber wird dadurch aufgezeigt, dass der Glaube des Judenkindes echt ist. Das Kind bleibt solange im Ofen, bis die Christen auf dieses Wunder aufmerksam werden, die Juden vertreiben und das Kind in ihrer Mitte aufnehmen ; auch viele Juden lassen sich daraufhin taufen. Im Gegensatz zu den lateinischen Fassungen ist der Schluss hier beinahe versöhnlich : Statt wie dort die verstockten Juden selbst in den Feuerofen zu werfen, werden Eltern und Verwandte des Judenknaben ebenfalls bekehrt und in die christliche Gemeinde integriert – wobei ein solches Ende freilich nur aus christlicher Sicht versöhnlich ist.26 25 In der Version der Wiener Handschrift ist es dagegen der Gründonnerstag (das lässt zumindest die Formulierung in V. 109 : an einem antlaz morgen, vermuten ; zum Text vgl. Anm. 22), der Tag der Einsetzung des heiligen Abendmahls, dort ist es auch nicht Zufall, der das jüdische Kind in die Messe bringt, vielmehr folgt es hier wie schon beim Mariengruß dem Gebot des Lehrers, der sich an alle Schulkameraden richtet. Der Ostermorgen, an den auch zahlreiche andere Bearbeitungen des Stoffes diese Szene verlegen, ist dagegen »nicht nur liturgiegeschichtlich, sondern auch im Hinblick auf ihre antijüdische Stoßrichtung« bemerkenswert (Burmeister [Anm. 22], S. 123). Das jüdische Leben im christlichen Mitteleuropa unterlag ohnehin zahlreichen Beschränkungen, zumal diese gerade an den Feiertagen um das Osterfest herum mit besonderen Repressalien durch die Bevölkerung rechnen mussten. Das IV. Lateranum verschärfte die Vorschriften für die jüdische Bevölkerung noch drastischer : So sieht Kanon 68 vor, dass sie an ihrer Kleidung erkennbar sein müssen, an den Kartagen ist es ihnen gänzlich verboten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen ; vgl. Stürmer (Anm. 4), S. 117 ; Hennig von Lange (Anm. 24), S. 147 f. 26 Die verschiedenen Fassungen des Mirakels und ihre Kontexte, die bereits in der Frühscholastik eine spezifische Sichtweise christlicher Diskurse auf das Judentum aufnahmen und dabei historische, jüdische und christliche Motive vermengten, beschreibt Miri Rubin : Gentile Tales. The Narrative Assault on Late Medieval Jews. New Haven u.a. 1999, Kap. 2 : From Jewish Boy to Bleeding Host, S. 7–39. Es ist erstaunlich, wie stark sich die eigentlich ganz unterschiedlichen Narrative hier angleichen : einerseits das jüdische Narrativ vom blutigen Opfer, vom Märtyrertod dessen, der lieber stirbt, als die Zwangsbekehrung zum christlichen Glauben über sich ergehen zu lassen, andererseits das (zutiefst judenfeindliche) Narrativ vom jüdischen Ritualmord, das in christlichen Gelehrtendiskursen (mit einer Fülle angeblich historischer Belege) den Juden die Tötung der eigenen Kinder oder von Christenkin-
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Die Geschichte hat, selbst mit ihren Erweiterungen, zunächst nichts Außergewöhnliches ; sie ist voller Stereotypen von boshaften und verstockten Juden, die ihr Geld mit Wucher verdienen, von wundersamen Bekehrungen und glücklicher Hilfe in größter Not. Beachtlich ist allerdings, dass die mittelhochdeutschen Versionen ein etwas positiveres Judenbild zeichnen, als dies in den lateinischen Fassungen der Fall ist. Dort werden am Ende die Juden selbst in den Ofen geworfen, allen voran der Vater des Judenkindes ; in den mittelhochdeutschen Versionen ist er aber im Gegenteil nicht treibende Kraft, sondern jammert vielmehr aus seiner großen Liebe zu seinem Sohn heraus, er weint und will dessen Tod vermeiden ; am Ende wird gar seine Bekehrung angedeutet.27 Von Interesse ist dieses Mirakel aber aufgrund der ausführlichen dern unterstellte. Vgl. dazu Israel Jacob Yuval : Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Göttingen 2007, der diese komplexen Bezugnahmen untereinander herausarbeitet ; vgl. bes. S. 181–197 ; zur Geschichte vom Judenknaben vgl. S. 195–197. 27 Die Einschätzung Rubins (Anm. 26), die der mittelhochdeutschen Fassung (sie bezieht sich vermutlich auf das Jüdel der Wiener Handschrift) freilich nur einen kleinen Absatz widmet und konstatiert, das mittelhochdeutsche Mirakel »has turned into a polemical tract rather than a Marian tale« (S. 27), kann ich daher nicht ganz teilen. Natürlich ist auch diese Version voll von abfälligen Vorurteilen, die in polemischem Duktus die ›ungläubigen‹, verstockten Juden von den ›rechtgläubigen‹, tugendhaften Christen abgrenzen, wie sie insbesondere das Passional auch an anderen Stellen (z.B. im Rahmen der Passionsgeschichte oder der Kreuzfindungslegende) anwendet. Burmeister (Anm. 22), S. 124, konstatiert zudem eine wesentlich judenfeindlichere Haltung in der Erzählung des Passionals gegenüber dem Jüdel der Wiener Handschrift. Im Vergleich zu den zahlreichen lateinischen Fassungen, aber auch den Übertragungen in andere Volkssprachen fällt dennoch in beiden mittelhochdeutschen Versionen auf, dass es hier v.a. die ›Alten‹, also die jüdischen Religionswächter sind, welche den Tod des Kindes im Ofen veranlassen, während bei den Eltern die Liebe zum Kind größer ist ; insbesondere die Trauer des Vaters über den Verlust seines Sohnes wird intensiv dargestellt, ebenso beachtenswert ist seine Weigerung, die (aus Sicht der Alten notwendige) Sühne selbst zu vollziehen : uwer urteil, uwer slac/ ane allerhande hinderswich/ ge uberz kint und uber mich !/ tut mit mir, waz ir wolt :/ ich bin dem kinde also holt,/ daz ich ez nicht mac ertoten (Pass., V. 17686–17691). Diese positive Haltung führt am Ende dazu, dass der Vater nicht, wie in den anderen Fassungen üblich, von den Christen selbst in den Ofen geworfen wird. Natürlich kann ein solcher Schluss, der dann auch noch zur Bekehrung zum Christentum führt, wie schon bemerkt nur aus Sicht der christlichen Rezipienten ein ›Happy End‹ darstellen. Bei allen Stereotypen und judenfeindlichen Attitüden, die zeittypisch auch für dieses Legendar zu konstatieren sind, erfährt aber ausgerechnet die sonst fast schon als Prototyp des ›verstockten Juden‹ gezeichnete Figur des Vaters in der Version des Passionals, mehr noch in der des Jüdel der Wiener Handschrift, eine differenziertere Rolle ; vgl. als Gegenbeispiel exemplarisch die Analyse der Fassung von Gregor von Tours bei Hennig von Lange (Anm. 24), S. 142 f. Das widerspricht auch der Aussage Rubins (Anm. 26), S. 27, im mittelhochdeutschen Mirakel gehe es letztendlich um Bestrafung, nicht um Bekehrung : Denn da der Vater seinen Sohn nicht selbst bestrafen will, erfährt er auch nicht spiegelbildlich die Strafe im Ofen ; auch von den übrigen Juden widerfährt selbst jenen, die aktiv an der Angelegenheit beteiligt waren, keinerlei Bestrafung. Das soll antijüdische Haltung und Tonfall des Mirakels nicht relativieren, zumal Hennig von Lange (Anm. 24), S. 150 f., mit Blick auf französi-
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Darstellung der Eucharistie in der Perspektive des Judenknabens, die in einem Eucharistiewunder mündet, das gewissermaßen als »Mirakel im Mirakel«28 gelten kann. Dieses führt die Transsubstantiationslehre, wie sie das IV. Laterankonzil eindrücklich formuliert hat, bildlich vor Augen. Während das Kind interessiert die Vorgänge bei der Messe beobachtet, bemerkt es während der Wandlung Erstaunliches : daz aller schonste kindelin sach ez aldar uffe sin, daz ie ouge me gesach. der prister von dem kinde brach swaz er den luten hine gab, und swi vil er gebrach her ab, so lac daz kint ie vollenkumen und wart im nichtesnicht benumen der schonde noch der sterke sin. (Pass., V. 17549–17557)
Noch genauer schildert den Moment der Wandlung die Fassung des Jüdel der Wiener Handschrift, auf der das Passional mutmaßlich beruht : do man daz ampt begie, diu ougen ez nie dar abe verlie, untz im uf dem alter erschæin der aller schonist chinde æin, daz dehæin ouge ie ubersach. der briester vlæisch dar abe brach unt gab ez den liuten in den munt. do doucht ez ie wol tousentstunt schoner unt starcer danne ê, unt entet nicht, als im wære we unt ob ez inder wære wunt. ez erschæin ie ganz unt wol gesunt. (V. 115–126)29
sche Fassungen betont, die volkssprachigen Bearbeitungen seien in ihrer Polemik oft wesentlich drastischer. Burmeister (Anm. 22), S. 77 f., konstatiert im Jüdel der Wiener Handschrift aber immerhin eine deutliche Zurücknahme judenfeindlicher Darstellungsweisen. 28 Burmeister (Anm. 22), S. 41. 29 Der Text der Wiener Handschrift wird zitiert nach Burmeister (Anm. 22), S. 256–289 (sie bietet einen mittelhochdeutschen Text mit neuhochdeutscher Übersetzung) ; vgl. auch : Heinrich MeyerBenfey : Mittelhochdeutsche Übungsstücke. Halle a. d. S. 1909, S. 84–96.
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Mit dieser Formulierung verbildlicht die Erzählung, insbesondere die der Wiener Handschrift, genau das, was der 1. Kanon des IV. Lateranum ausführt : Iesus Christus, cuius corpus et sanguis in sacramento altaris sub speciebus panis et vini veraciter conti netur, transsubstantiatis pane in corpus, et vino in sanguinem potestate divina. ›Jesus Christus, dessen Leib und Blut im Sakrament des Altars unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten sind, wenn durch göttliche Macht das Brot in den Leib und der Wein in das Blut wesenhaft verwandelt sind.‹30 Leib und Blut Christi sind in der Gestalt von Brot und Wein leibhaftig erhalten, im Sakrament des Abendmahls wird das Brot in den Leib wesenhaft verwandelt. Der Transsubstantiationslehre, wie sie im IV. Lateranum formuliert wurde, gingen jahrhundertelange Diskussionen vor aus. Schon der erste Abendmahlsstreit des Frühmittelalters offenbart, wie problematisch sich alle Diskussionen um den Zeichenbegriff und den damit verbundenen Zusammenfall von Zeichen und Bezeichnetem seit jeher gestalten ; das betrifft den karolingischen Bilderstreit ebenso wie das Mysterium der Wandlung : Stets geht es um das Auseinanderklaffen von Zeichen und Wirklichkeit, von Bild und Realpräsenz. Allseits drehte sich die Frage um eine »Identität von historischem und sakramentalem Leib«31, welche Gelehrte wie Hrabanus Maurus oder Johannes Scotus Eriugena beispielsweise klar ablehnten ; hier herrschte die Meinung einer nur geistigen, nicht realen Umwandlung von Wein und Hostie vor. In der Hochscholastik änderte sich das Bild, dem ging aber ein zweiter Abendmahlsstreit um den Substanzbegriff und die Wesensverwandlung im elften Jahrhundert voraus : Fraglich war stets die Alternative »Bild oder Wirklichkeit, Zeichen oder Wahrheit«32. Erst das IV. Laterankonzil unter Innozenz III. goss die Idee der transsubstantiatio in die Form eines kirchlichen Dekretes. Die Diskussionen verstummten allerdings auch im Anschluss daran nicht, 30 Zitat und Übersetzung nach : Heinrich Denzinger : Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert und ins Deutsche übertragen u. unter Mitarb. von Helmut Hoping hrsg. von Peter Hünermann. 38., aktualisierte Aufl. Freiburg i. Br. u.a. 1999, S. 802. 31 Joachim Staedtke : Art. Abendmahl III/2. In : TRE, Bd. 1 (1977), S. 89–122, hier S. 91. Vgl. auch Hans Jorissen : Art. Transsubstantiation. In : LThK 9 (2001), Sp. 177–182, sowie Reinhold Seeberg : Dogmengeschichte. Bd. 3, Darmstadt 1974, S. 214–218 u. S. 520–526. Die diskursgeschichtlichen Zusammenhänge unter dem sich wandelnden Bild- und Zeichenbegriff zeichnet umfassend Claudia Gärtner : Die ›Gregorsmesse‹ als Bestätigung der Transsubstantiationslehre ? Zur Theologie des Bildsujets. In : Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter. Hrsg. von Andreas Gormans/Thomas Lentes. Berlin 2007, S. 125–153, hier S. 127–131, nach ; eine umfängliche Analyse der Diskursgeschichte unter mediengeschichtlichen Gesichtspunkten bei MarcAeilko Aris : Figura. In : Modelle des Medialen. Das Mittelalter 15 (2010), S. 63–74 ; Ders.: Figura und Eucharistie. In : Figura : Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter. Hrsg. von Chris tian Kiening/Katharina Mertens Fleury. Würzburg 2013, S. 91–112. 32 Staedtke (Anm. 31), S. 92.
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wurden jedoch in diese Richtung gelenkt und durch zentrale Denker wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin oder Duns Scotus weiterentwickelt.33 In diesen Diskussionen offenbaren sich die gleichen Probleme und Paradoxien, die grundsätzlich in der medialen Erfassung und Vermittlung von Heiligkeit liegen : Das Heilige löst die Differenz zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen Zeichen und Zeichenträger auf. In Brot und Wein ist Christus (und mit ihm das daran geknüpfte Heilsversprechen) nicht nur bezeichnet, sondern unmittelbar präsent : Die Transsubstantiationslehre ist eben keine Metapher, sondern eher eine metaphorische Inversion,34 durch den liturgischen Akt der Wandlung sind Brot und Wein keine Repräsentation Christi und des Heiligen, sondern erzeugen deren Präsenz. Das ist eine ähnliche Problematik, wie sie sich in bildlichen (Re-)Präsentationen immer wieder zeigt : Ein Bild, eine Darstellung, kann nach christlichen Vorstellungen eigentlich immer nur ein Abbild sein, in dem das Heilige nicht verkörpert, sondern lediglich medial repräsentiert ist ; alles andere wäre Idolatrie (so auch die Positionen im karolingischen Bilderstreit des Frühmittelalters). Zugleich aber betont das Mittelalter immer wieder (diskursiv wie narrativ) die göttliche Wirklichkeit im vera icon, das über ein Abbild-Urbild-Verhältnis eine metonymische Repräsentation mit der Heiligkeit Christi herstellt und damit präsenzstiftend wirkt.35 Hier wie dort kollabiert die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, doch anders als beim vera icon geht es in der Frage des Abendmahls, der Wandlung und der Transsubstantiation nicht allein um Similarität und Partizipation, sondern um den liturgischen Akt der Wandlung als Nachvollzug des heiligen Aktes des österlichen Abendmahls und zugleich des christlichen Opfertodes mit dem darin liegenden 33 In der Weiterentwicklung durch Thomas von Aquin wird das Bestreben erkennbar, die Paradoxie der Wesensverwandlung philosophisch erklärbar zu machen, indem »per modum substantiae« die »wesenhafte Identität Christi« bestimmt wird ( Jorissen [Anm. 31], Sp. 179). Während Thomas von Aquin noch stark an der Impanationstheorie festhielt, nach der der Leib Christi auch materialiter im Brot gegenwärtig sei, versuchte Duns Scotus mit der Konsubstantiationstheorie die Gegenwärtigkeit des Leibes »in ein räumliches Verhältnis zu der Hostie« (Seeberg [Anm. 31]) zu setzen, die damit quasi eine Art Hülle für den Leib Christi wird : Hier ist deutlich zu erkennen, wie sehr sich die Dogmatiker an dem (an sich nur mit den Kennzeichen mythischen Denkens [vgl. Anm. 44] zu fassenden) Kollabieren der Zeichenebenen abarbeiten. 34 Vgl. zum Begriff Andreas Bässler : Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500. Berlin, New York 2003, S. 16. 35 Vgl. dazu Bruno Quast : Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen, Basel 2005, S. 89 : »Im Himmelsbild des vera icon-Typs fallen zwei Formen der Repräsentation zusammen […], eine ikonische, also auf Similaritätsbeziehungen gründende, und eine indexikalische, will sagen : eine metonymische Repräsentation, bei der das Abbild an der Macht des Urbildes partizipiert.«
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Heilsversprechen. Das Verhältnis von Präsenz und Repräsentation ist also ungleich komplexer, zumal die Realpräsenz Christi in Brot und Wein, wie sie die Transsubstantiationslehre ausformt, auch noch ganz andere, praktische Fragen aufwirft (zumal in der Vorstellung, dass dann ja der reale Leib von den Gläubigen inkorporiert würde).36 Nicht zuletzt darum ist in der Formulierung des IV. Lateranums auch von einer wesenhaften Verwandlung die Rede, indem durch das Sakrament Jesus Christus bereits in der Gestalt von Brot und Wein (sub speciebus panis et vini) vorhanden sei – d. h., das Sakrament der Wandlung schafft eine zusätzliche Vermittlungsebene, welche erst den Zusammenfall der Zeichen bewirkt.37 Die Auflösung der Differenz von Signifikant und Signifikat ist demnach nicht einfach durch die Kongruenz von Urbild und Abbild gegeben wie beim vera icon, sondern bedarf einer weiteren Form der Vermittlung, nämlich des Sakraments, ohne die das Brot Brot und der Wein Wein bleiben, die Zeichen also gar nicht auseinandertreten. Das Mysterium des Gegenwärtigwerdens Christi im Messopfer ist nicht zuletzt deswegen so schwer zu begreifen, da die Auflösung der Differenzen, die mit der Präsenz des Heiligen verbunden ist, ihrerseits medial vermittelt wird, indem es in die Formen des liturgischen Vollzugs verschoben wird. Damit wird klar, dass die Wandlung des Brotes in den Leib Christi ein nicht zu fassendes Mysterium ist, das nur über immer neue mediale Vermittlungen vergegenwärtigt, kaum jedoch erfasst werden kann, da die Realpräsenz Christi in Brot und Wein an sich nicht vorstellbar ist. Das schafft erst die Erzählung, die eine weitere, narrative Vermittlung dieses Mysteriums erzeugt und es so ermöglicht, die abstrakte, an sich nicht vorstellbare Transsubstantiation verfügbar zu machen.38 Hier sind es wiederum 36 Innozenz hatte noch vor seiner Wahl als Papst ein ausführliches Traktat zur Messliturgie (De sacro alta ris mysterio) verfasst, in dem auch ganz profane Fragen angesprochen werden – z.B. was geschehe, wenn die geweihte Hostie (immerhin die wahrhaftige Gestalt des Leibs Christi) von einer Maus gefressen würde, vgl. Staedtke (Anm. 31), S. 93. Vgl. zur identitäts-ontologischen Denkfigur der Eucharistie Marc-Aeilko Aris : Quid sumus mus ? Präsenz (in) der Eucharistie. In : Mediale Gegenwärtigkeit. Hrsg. von Christian Kiening. Zürich 2007, S. 179–205. 37 Die Inkommensurabilität der Transzendenz in der Immanenz wiederum wird nur durch die Gottmenschlichkeit Jesu überbrückt : Er ist zugleich wesenhaft und transzendent ; er hat (fleischlich) am Kreuz gelitten und dabei nicht nur, wie es der gnostisch beeinflusste Doketismus propagierte, eine körperliche Hülle hingegeben, sondern zugleich sein göttliches Wesen bewahrt und ist leiblich und geistig (spiritualiter) vom Tode erstanden – eine paradoxe Ambiguität, mit der die Transsubstantiationslehre untrennbar verbunden ist. Am Ende des zwölften Jahrhunderts gab es zwei gegensätzliche theologische Standpunkte, deren Differenz v.a. in der unterschiedlichen Auffassung vom Substanzbegriff gründet, vgl. Jorissen (Anm. 31), Sp. 178. Zugleich ergibt sich auch das Paradoxon der Multilokation, da der Leib Christi nach dieser Vorstellung dann ja in jeder Hostie gleichzeitig und zugleich ungeteilt präsent ist, vgl. Seeberg (Anm. 31), S. 525. 38 Eine andere Form der Verfügbarmachung dieser Idee schafft die Bildende Kunst, vgl. den Beitrag von Bruno Reudenbach und Jochen Hermann Vennebusch in diesem Band.
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Bilder, zugleich Metaphern, welche die an sich inkommensurable Partizipation an der Heiligkeit Gottes visibilisieren, wobei insbesondere in der hagiographischen Literatur stets klargemacht wird, dass es nur auserwählten, heiligen Persönlichkeiten überhaupt möglich ist, den eigentlichen Akt der Wandlung zu schauen, dass also selbst die Visualisierung der Transsubstantiation einer besonderen Gnade bedarf. Dennoch fällt auch hier auf, dass es in der Regel beim Bild bleibt, das die eigentliche Auflösung der Zeichen lediglich metaphorisiert oder deren Resultat in den Mittelpunkt stellt : In den meisten Fällen ist dann von einem Hostienwunder die Rede, wenn etwa eine geweihte Hostie zu bluten beginnt oder sich, wie es von Gregor dem Großen berichtet wird, in einen blutigen Finger verwandelt – das aber ist ein erst nachträgliches Zeichen von der Substantialität des Fleisches in der Hostie.39 Die meisten Eucharistiewunder (egal ob in hagiographischen oder anderen Kontexten vermittelt) sind zeichenhaft : Über dem Altar erscheint z.B. eine Hand, ein Licht oder dergleichen, um die Präsenz des Heiligen nach der Wandlung anzuzeigen ; so beispielsweise in der Ulrichslegende, in der über dem heiligen Bischof während des liturgischen Aktes eine Hand erscheint.40 Dabei wird zumindest in Zusammenhang mit legendarischem Erzählen zugleich klar, dass sich so ein Wunder meist nur für Heilige ereignet – entweder wenn sie, wie Ulrich, selbst die Messe lesen und die Wandlung vollziehen, oder wenn sie als einzige dieses Zeichen sehen können. Derartige Eucharistiewunder profilieren daher in der Regel den Heiligen (und mindestens ebenso die Heilige : Gerade in den Darstellungen spätmittelalterlicher Mystikerinnen ist wiederholt von Hostienwundern die Rede), der/die sie bewirkt oder der/ die gnadenhaft dazu ausersehen ist, sie zu schauen. Außerhalb der hagiographischen Literatur tauchen solche Eucharistiewunder sehr selten auf ; eine Ausnahme bildet der (aber auch in anderer Hinsicht von hagiographischen Elementen durchzogene) mittelhochdeutsche Prosalancelot.41 39 Wiederum ist auffallend, dass das Motiv eng mit der Auseinandersetzung zwischen christlichem und jüdischem Glauben verbunden ist, wie nicht zuletzt die zahlreichen Geschichten von durch Juden begangene Hostienfrevel belegen, die Rubin (Anm. 26), S. 30–39 aufzeigt. 40 Vgl. Alois Döring : Art. Hostie, Hostienwunder. In : EM 6 (1990), Sp. 1277–1284. 41 Dort ist von mehreren Eucharistie- und Hostienwundern die Rede ; in einem Fall sieht Lancelot während der Gralsmesse im Moment der Wandlung die Dreifaltigkeit über den Händen des Priesters (PL V, 494,21–26, vgl. zur Stelle Michael Waltenberger : Das große Herz der Erzählung. Studien zu Narration und Interdiskursivität im ›Prosa-Lancelot‹. Frankfurt a. M. u.a., S. 121) ; vgl. auch Christ iane Witthöft : Vertreten, Ersetzen, Vertauschen. Phänomene der Stellvertretung und der Substitution im ›Prosalancelot‹. Berlin 2016 (Hermaea. Neue Folge 141), S. 279–288. Es scheint, als hebe der Priester den Jüngsten der drei Personen (Christus als Kind), die Lancelot erblicken kann, hoch. Lancelot aber glaubt, der Priester könne die Last nicht tragen und will ihm zur Hilfe kommen ; da er sich dem Gral aber nicht nähern darf, wird er bewusstlos und vor die Kapelle geworfen. Daran zeigt sich, dass Lancelot das Geheimnis der Wandlung wie auch das des Grals offenbar nicht
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Ein Großteil der lateinischen Bearbeitungen des Mirakels vom Judenknaben berichtet an dieser Stelle ebenfalls von einem Eucharistiewunder, gestaltet dieses aber anders, nämlich im konventionellen Sinne hagiographischer Erzählungen. Sieht man einmal von der Mirakelfassung des Caesarius von Heisterbach ab, die allerdings eine ganz andere Umsetzung dieses Mysteriums evoziert, ist in den anderen Fassungen des Mirakels zwar das Wunder der Eucharistie ausgeformt, der Gedanke der Transsubstantiation jedoch gerade nicht.42 Vielfach sieht der Judenknabe über dem Altar das Christkind, oftmals auf dem Schoße Marias (so bereits bei Paschasius Radbertus im neunten Jahrhundert), doch stets bleibt es bei der Erscheinung, oder aber Maria und das Kind teilen die Hostien aus.43 Auf diese Weise aber bleibt die Differenz der Zeichen weiter bestehen : Christus reicht dem Priester die Hostie, der sie dann den Gläubigen spendet ; seine Präsenz ist nicht in der Hostie zugleich, vielmehr partizipiert die konsekrierte Hostie von seiner Heiligkeit, indem sie durch ihn weitergegeben wird ; damit geht dann aber die (mythisch44 zu denkende) Wesenhaftigkeit von Fleisch und Blut in der Gestalt von Brot und Wein weitgehend verloren. Die mittelhochdeutschen Fassungen sind daher insoweit einzigartig, als sie als einzige auch dieses Moment zu erfassen suchen : Indem gezeigt wird, dass der Judenknabe nicht nur das Christkind erblickt, sondern vor allem, dass die Gläubigen tatsächlich von dessen Fleisch essen, das dennoch unversehrt bleibt, wird das Zusammenfallen der Zeichenebenen, wie sie die Transsubstantiationslehre evoziert, direkt narrativiert.45 Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass dem eigentlich zentralen Wunder dieses Mirakels, der Rettung aus dem Feuerofen durch Maria, in den mittelhochdeutschen Fassungen ein fast noch größeres vorangestellt wird, wobei es ausgerechnet ein Jude ist, der das Mysterium der Transsubstantiation sinnlich erfassen darf. Nur oberflächlich, so ergibt sich daraus, ist der Mariendienst in der Verehrung des Marienbilds ausschlaggebend für das Rettungswunder, vielmehr aber verdeutlicht die Erzählung in dieser Szene schon vorab die gnadenhafte Auserwähltheit des Kindes, das die Geheimnisse des christlichen Glaubens offenbar besser zu erkennen vermag als manch anderer und darum auch zu Recht auf göttlichen Beistand hoffen darf, wenn es um durchschaut und erkennen kann : Erneut wird dargelegt, dass er nicht würdig ist, den Gral zu erlangen, sondern nur sein Sohn Galaad. 42 Vgl. Kälin (Anm. 23), S. 317 f., Anm. 27. 43 Vgl. Rubin (Anm. 26), S. 9 f. 44 Ich verwende den Mythosbegriff hier im Sinne des mythischen Denkens von Ernst Cassirer : Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde., Darmstadt 71977, der Mythos als Denkform begreift. 45 Jene Fassungen, die (ohne dabei die Transsubstantiation zu narrativieren) das Kind auch noch Maria sehen lassen, stellen anschließend das Wiedererkennen der Muttergottes bei der Rettung aus dem Feuerofen in den Vordergrund ; das Eucharistiewunder dient dann v.a. der Vorbereitung des ›eigentlichen‹ Rettungswunders.
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dieses Glaubens willen getötet werden soll. Das evoziert ein Paradoxon zeitlicher Abläufe : Man kann das Eucharistiewunder als Bekehrungserlebnis deuten,46 doch fragt sich dann, weshalb ausgerechnet einem noch nicht getauften Judenkind ein derartiges Mysterium ansichtig wird, das eigentlich nur Menschen von großer Heiligkeit oder tiefer mystischer Ergriffenheit vorbehalten ist.47 Das Eucharistiewunder nimmt die wunderbare Rettung durch Maria und die daran anschließende (oder darin liegende) Taufe und Auserwähltheit des Judenknaben bereits vorweg und offenbart so die typische Finalität legendarischen Erzählens. Das Jüdel erkennt damit nicht nur die Heiligkeit des Sakramentes, wie es in den meisten legendarischen Eucharistiewundern inszeniert wird, sondern das eigentliche Mysterium der Wandlung, und zwar in exakt der Weise, wie es das Laterankonzil nach den im zwölften Jahrhundert aufkommenden Diskussionen erstmals verbindlich formuliert hatte. Statt die herkömmlichen Muster von Eucharistiewundern, wie sie die Mehrzahl der lateinischen Versionen präsentieren, aufzugreifen und das in der direkten Präsenz Christi liegende Mysterium der Wandlung nur mittelbar darzustellen, werden hier die Kernelemente der Transsubstantiationslehre auf der Ebene der Darstellung narrativiert : Der Judenknabe erblickt nicht nur das Christkind, sondern auch, dass vom Körper dieses Kindes Fleisch genommen wird, von dem er selbst kosten darf. Die Präsenz Christi ist im Brot wesenhaft geworden ; das Inkommensurable dieser Wandlung ist durch die gleichzeitige Unversehrtheit des Christuskörpers ausgedrückt. Das ist keine nurmehr bildliche Veranschaulichung der Präsenz Christi in Brot und Wein, sondern eine direkte Umsetzung der Transsubstantiation. Schon in seiner frühen Fassung der Wiener Handschrift repräsentiert dieses Mirakel somit ein Stück Dogmengeschichte, das der Passionaldichter aufnimmt und für seine Rezipienten verfestigt.48 46 So Hennig von Lange (Anm. 24), S. 145–149, mit Bezügen zum Sakrament der christlichen Taufe. 47 Eine solche Notwendigkeit formuliert Aris (Anm. 36), S. 185, im Anschluss an Alexander von Hales : »Die Gegenwärtigkeit Christi im Sakrament […] ergibt sich daher nicht durch die bloße Ansichtigkeit der konsekrierten Hostie, sondern aus der Möglichkeit, Inhalt eines Denkaktes sein zu können und sein zu müssen, wenn der Präsenzeffekt zustande kommen soll.« Unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Diskurse kann also der im Mirakel narrativierte Präsenzeffekt gar kein Bekehrungserlebnis sein, da er eine solche Erkenntnis paradoxerweise bereits voraussetzt ; vgl. auch die folgenden Überlegungen von Aris ebd., S. 186 f., der in seiner Analyse eines Exempels des Caesarius von Heisterbach zeigt, wie »die scheinbar gegenläufigen Diskurse eines substanzontologischen Präsenzverständnisses und eines zeichenrelationalen Präsenzverständnisses [...] miteinander konfrontiert« werden (S. 187). 48 Hinweise auf die Entstehungszeit anhand der Darstellung des Eucharistiewunders erwägt Burmeis ter (Anm. 22), S. 67–70, die dann jedoch aufgrund eher vager, literarischer und ikonographischer Parallelen »frühestens die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts« (S. 70) oder sogar noch später für wahrscheinlich hält. Um 1300, zur Entstehungszeit des Passionals, waren die Diskussionen zur Transsubstantiationslehre bereits weiterentwickelt ; vgl. oben, Anm. 33, ausführlich Staedtke (Anm. 31), S. 94–99. In der Folge einer gesteigerten Hostienverehrung im dreizehnten Jahrhundert wurde 1264
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3. Die Gründung neuer Orden : Dominikus und Franziskus
Das zweite Beispiel meiner Spurensuche ist eher kirchenpolitischer Natur und betrifft die Entstehung der Mendikantenorden im beginnenden dreizehnten Jahrhundert. Insbesondere im Zusammenhang mit der Laienfrömmigkeitsbewegung können jene als ein Spiegelbild der fundamentalen Umwälzungen ihrer Zeit gesehen werden. Dass die beiden, in vielen Punkten so gegensätzlichen Heiligen Dominikus und Franziskus und die von ihnen gegründeten Orden eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen, ist bekannt.49 Vor allem eint sie der Reformwille, die sich in einer gleichermaßen in stitutionellen wie spirituellen Krise befindliche Kirche zu erneuern. Genau dieses Potenzial dürfte Papst Innozenz III. wohl erkannt haben, als er 1209 den umbrischen Wanderprediger Franziskus empfing, dessen radikales Armutsideal ihm freilich zunächst sehr suspekt gewesen sein soll. Wie genau dieses Treffen abgelaufen ist und welches konkrete Ergebnis es erbracht hat, darüber geben uns nur die späteren Lebensbeschreibungen des heiligen Franziskus Auskunft, und es ist anzunehmen, dass es sich bei diesen Berichten bereits um legendarische Überhöhungen handelt, die den spezifischen ordenspolitischen Standpunkt ihrer Verfasser wiedergeben. Gesichert scheint zu sein, dass es ein solches Treffen gegeben hat und dass der Papst nach anfänglichem Zögern schließlich die Predigterlaubnis und die Gründung einer ordens ähnlichen Gemeinschaft (freilich ohne eine offizielle Approbation) erteilte.50 Dominikus dagegen scheint, gerade durch sein Wirken im von ständigen Abspaltungen bedrohten Südfrankreich, ein engeres Verhältnis zu Innozenz III. gehabt zu haben. Er nahm offenbar selbst am IV. Laterankonzil teil, auf dem ein Verbot von Ordensneugründungen diskutiert und schließlich auch (im Kanon 13) beschlossen wurde.51 Innozenz konnte daher verständlicherweise seinem Ersuchen, selbst einen Orden zu gründen, nicht einfach entsprechen, weshalb Dominikus zunächst die Augustinerregel übernahm ; erst der Nachfolgerpapst Honorius III. approbierte 1217 den neuen Predigerorden mit den von Dominikus formulierten Regularien, womit er sich über die Ergebnisse des Konzils sogleich hinwegsetzte.52 Soweit die dürren Fakvon Papst Urban IV. das Fronleichnamsfest eingesetzt ; auch hierin kann ein direkter Zusammenhang mit dem IV. Laterankonzil gesehen werden. 49 Vgl. erschöpfend Kaspar Elm : Franziskus und Dominikus. Wirkungen und Antriebskräfte zweier Ordensstifter. In : Ders.: Vitasfratrum. Beiträge zur Geschichte der Eremiten- und Mendikantenorden des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts. Festgabe zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dieter Berg u.a. Werl 1994, S. 121–141. 50 Vgl. Helmut Feld : Franziskus von Assisi und seine Bewegung. Darmstadt ²2007, S. 166–177. 51 Vgl. Justin Lang : Die großen Ordensgründer. Benedikt – Dominikus – Franziskus – Ignatius. Freiburg i. Br. u.a. 1990, S. 62–71 ; Ambrosius Esser : Art. Dominicus. In : TRE 9 (1982), S. 125–127. 52 Vgl. zur Bedeutung Innozenz’ III. für die Institutionalisierung des Ordens Achim Wesjohann :
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ten, großteils nur durch legendarische Überlieferung greifbar. Die bedeutende Rolle der beiden Heiligen, insbesondere aber der von ihnen begründeten Ordensbewegungen, braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass sich die hagiographischen Lebensbeschreibungen der beiden Heiligen ebenfalls für die Momente der Ordensgründung interessieren und insofern so etwas wie Gründungslegenden herausbilden.53 Ich möchte dabei zunächst die Dominikuslegende näher betrachten, und zwar in der ältesten volkssprachigen Version im III. Buch des Passionals, die ihrerseits wiederum auf die Legenda aurea zurückgeht.54 Sie weist dabei die typischen narrativen Kennzeichen legendarischen Erzählens auf, denn sie präsentiert immer wieder verschobene Anfänge : Einerseits soll die Vita eine Lebensbeschreibung sein, die ein Werden aufzeigt und einen eindeutigen Verlauf hat, andererseits sollen sich in Dominikus von Beginn an der Wille Gottes und seine Heiligkeit zeigen, was Entwicklung und Kontinuitäten gerade nicht zulässt. In Dominikus (wie in jedem Heiligen) erweist sich daher von Anfang an und in jeder Episode aufs Neue, was er doch erst im Rückblick geworden ist. Das Passional beginnt daher (in enger Anlehnung an die Legenda aurea) die Dominikuslegende bereits mit einer Inszenierung der Predigergestalt : Schon vor der Geburt habe seine Mutter eine Vision gehabt, in der sie das noch ungeborene Kind mit einer Fackel im Mund erblickt habe, mit der die ganze Welt entzündet worden sei. Dies wird als Vorausdeutung der späteren Predigertätigkeit des Heiligen gegen die irrende diet (354, 23) ausgelegt, die ausdrücklich auch noch im entsprechenden Orden weiterbestehe : nu seht, wi witen ist gewant/ daz heilige vuer in die lant,/ wand der orden ist bekant/ vil nach in allen orten (354, 32–35). Im Folgenden beschreibt die Legende dann die Tugenden des künftigen Heiligen, die sich schon in der Kindheit erweisen und ihn ausdrücklich als von Gott auserwählt kennzeichnen. Hervorgehoben werden neben dem bereits im Schulalter erfolgten Rückzug von der Welt in Askese und Keuschheit seine Affinität zur Schrift : vernumft, herze unde sin/ truc ez al zu male hin/ nach gotes willen in die schrift (354, 83–85) – das bezieht sich sowohl auf das davor geschilderte Studium der Schriften (neben der Heiligen Schrift auch die der Kirchenlehrer) als auch auf die Fähigkeit, das Wort Gottes mithilfe der Schrift zu verbreiten.
Mendikantische Gründungserzählungen im 13. und 14. Jahrhundert. Mythen als Element institutio neller Eigengeschichtsschreibung der mittelalterlichen Franziskaner, Dominikaner und Augustiner-Eremiten. Münster 2011, S. 334–347, bes. S. 337 f. 53 Vgl. zur legitimierenden und orientierenden Form derartiger Geltungsgeschichten und Gründungslegenden grundsätzlich ebd., S. 5–37, zur Ordenshagiographie S. 22–37. 54 Zitiert wird jeweils nach der Ausgabe Köpkes (Anm. 18).
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Nach dieser Präfiguration setzt die Legende noch einmal neu an, um erst jetzt mit der eigentlichen Lebensgeschichte des Dominikus zu beginnen : Alsus began sin mere,/ wie tugenthaft er were/ wachsen beide her und dar (355, 51–53). Eindrücklich werden die Mühen geschildert, die der Heilige im Kampf gegen die Häretiker auf sich nimmt, aber auch die Erfolge, die er insbesondere durch das gesprochene und das geschriebene Wort hierbei erzielt. Obwohl keine konkrete Motivation für die Ordensgründung genannt wird, entsteht in Dominikus gerade aufgrund der großen Anfeindungen der Wunsch nach einer Bündelung und Institutionalisierung des Predigens (vgl. 358, 27–45). Er begibt sich nach Rom, wo man ein concilium hielt zu Lateran,/ Dominicus der gute man/ quam ouch zu dem concilio (358, 59–61). Im Folgenden wandelt sich die Erzählung dann zur Gründungslegende des Dominikanerordens, setzt also ein weiteres Mal mit einem neuen Anfang ein : Dominikus äußert – offenbar in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Laterankonzil – seinen Wunsch vor Innozenz, dessen anfängliche Zweifel zwar durchaus thematisiert werden, allerdings nur, um sie sogleich durch eine göttliche Vision komplett zu zerstreuen : do duchte in, wie er solde stan bi der kirchen zu Lateran und die wolde vallen vor den luten allen, wande sie duchte in gar beweit. dem pabeste was ummazen leit, do er des valles wart gewar. seht, do quam geloufen dar Dominicus, der drunder stunt, als die kreftigen tunt, und hielt die kirchen enpor, daz sie gestunt wol alda vor ane wichliche dol. (358, 93–359, 7)
Das ist eine äußerst wirkmächtige Vision, die der Passionaldichter von der Legenda aurea übernommen hat : Die Laterankirche ist das Symbol für die römische Kirche schlechthin, sie ist (damals wie heute) die Bischofskirche des Papstes und steht daher sowohl für das Papsttum als solches als auch für die gesamte Institution der Kirche überhaupt.55 Das metaphorische Potenzial dieses Traumes ist daher enorm, spiegelt es doch zugleich die allgemeine Situation der Kirche in dieser Zeit wider : Der Papst sieht die Einheit seiner eigenen Kirche akut bedroht, er selbst aber (und das eben 55 Vgl. Rhein (Anm. 16), S. 255 f.
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ist die Setzung der Legende) kann nichts dagegen tun, er ist passiv und verspürt nur ummazen leit. Während der ›historische‹ Innozenz genau deshalb das IV. Laterankonzil einberufen hat, um eben die auseinanderdriftende Kirche einer grundlegenden Neuordnung und Neuausrichtung zu unterziehen, erscheint er in der Legende, trotz der ihm durchaus zugestandenen Größe (der pabest was ein wiser man ; 359, 15), als weitgehend machtlos den Geschehnissen unterworfen. Es ist dagegen der heilige Dominikus, der als Stütze und Retter der Kirche auftritt : Er hält die kirchen enpor,/ daz si gestunt wol alda vor (359, 5 f.). Innozenz kommt dabei lediglich die Aufgabe zu, die göttlichen Zeichen und v.a. den gottgesandten Heiligen zu erkennen : sus wisete got dem pabeste wol, daz Dominicus der gewere und sine predigere an tugenden manicvalden die cristenheit ufhalden mit gotes helfe solden und ouch vil gerne wolden. (359, 8–14)
Doch damit nicht genug, sind die Päpste doch Repräsentanten der weltlichen Institution der Kirche, immerhin Stellvertreter Christi auf Erden, vicarii Christi.56 Die institutionelle Legitimation durch die beiden Päpste Innozenz und Honorius (von dessen endgültiger Approbation nach Innozenz’ Tod das Passional nur in wenigen Versen berichtet, vgl. 359, 58–65) unterstreicht die Legende jedenfalls noch durch eine weitere Vision des Ordensgründers selbst, in der ihm die beiden Apostel Petrus und Paulus erscheinen. Der eine überreicht Dominikus einen Stab, der andere ein Buch : Mit dem Stab solle er die Ketzer aus der Christenheit vertreiben, mit dem Buch aber predigen und lehren (um diese Auslegung erweitert das Passional die Legenda aurea, welche die Vision des Heiligen unkommentiert lässt) ; die beiden Apostel entlassen ihn mit den programmatischen Worten : nu ganc beide hie und dort predigen daz gotes wort,
56 Der Titel Vicarius Christi, den Innozenz III. zwar nicht eingesetzt hat, dessen Verwendung er aber auf die Anrede des Papstes beschränkte, wird später, z.B. bei Dietrich von Apolda (vgl. AASS Aug. I, Antwerpen ³1867, Buch V, Kap. XII, S. 62.), in dem Zusammenhang mit der Ordensgründung des Dominikus und der Vision von der Laterankirche verwendet ; in der Legenda aurea wie auch in den frühen Dominikusviten taucht er nicht auf.
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wand ez dir got hat bevoln, der dich darzu wolde holn und hat dich ime uzgelesen. (360, 5–9)
Trotz der offenkundig recht guten institutionellen Anbindung des Dominikus und der relativ unproblematischen Ordensgründung ist es der Legende besonders wichtig, deren Legitimation regelrecht zu überdeterminieren : Diese ist wie der Tätigkeitsbereich des Predigerordens in der Gestalt des Dominikus direkt von Gott befohlen, von Petrus und Paulus übermittelt und vom Papst bestätigt worden – eine deutlichere Einsetzung durch weltliche und göttliche Instanzen kann man sich kaum vorstellen. Ganz anders präsentiert sich dagegen die Gründung des Minoritenordens in den Legenden um Franz von Assisi. Die älteste mittelhochdeutsche Fassung stammt von Lamprecht von Regensburg und ist eine zwischen 1237 und 1239 entstandene Übertragung der Vita prima des Thomas von Celano, also der ersten schriftlich fixierten Lebensbeschreibung, die bereits zur Heiligsprechung des Franziskus 1229 verfasst wurde.57 Bereits hier wie auch in Thomas’ Vorlage fällt auf, dass der Ordensgründung verhältnismäßig wenig Raum zugemessen wird, die Entstehung der Ordensgemeinschaft ergibt sich vielmehr wie von selbst : Franziskus verfasst, als er immer mehr Nachfolger findet, ein regelorden/ nâch dem evangelio (V. 1388 f.)58 und legt dieses Papst Innozenz vor. Dieser ist dem Ansinnen gegenüber aufgeschlossen und entgegnet : brüeder gêt mit gote hin und prediget als iuch got gelêre. swenne iuch sîn kraft gemêre, sô komet mir herwider zuo, so bevilh ich iu mêr danne nuo. (V. 1430–1434)
Eine offizielle Approbation der Regeln seitens des Papstes gibt es also nicht, nur einen wohlwollenden Segen der Predigertätigkeit, womit die tatsächliche Situation offenbar ziemlich gut wiedergegeben ist. Die Legende fügt, auch dies nach Thomas von Celano, noch einen Traum des Franziskus hinzu, in dem der Heilige höher als ein
57 Zu Lamprechts Franziskusvita und dessen Umgang mit der Vita prima des Thomas von Celano vgl. Manfred Zips : Franziskus von Assisi, vitae via. Wien 2006, S. 48–60, der Lamprecht in einer vermittelnden Position zwischen Thomas von Celano und Julian von Speyer sieht (vgl. S. 59). 58 Zitiert wird nach : Lamprecht von Regensburg: Sanct Franzisken Leben und Tochter Syon. Zum ersten Mal herausgegeben nebst Glossar von Karl Weinhold. Paderborn 1880.
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Baum am Wegrand wächst, um diesen dann niederzubeugen und auf die Blätterkrone zu blicken. Die Auslegung dieses Bildes wird nicht verschwiegen : der boum was Innocencius, der bâbest was ze der zît. den neiget er dâzuo mit bet, daz er allen sînen willen tet vil güetelîche und âne strît. als tet ouch bâbst Honorie sît. (V. 1452–1457)59
Diese Deutung kehrt die institutionelle Ordnung gleichsam um : Zwar muss der Papst den Orden bestätigen und Innozenz gibt Franziskus und seinen Brüdern auch nur den mündlichen Auftrag zur Predigt, doch ist es eigentlich der Bettelmönch, der den Papst zwingt, seine Sache anzuerkennen. Auch hier ist also, wenngleich wesentlich schwächer formuliert, eine göttliche Legitimation gegeben. Betrachtet man von hier aus die Franziskuslegende in Passional und Legenda aurea (den großen Legendaren also), so wird die eigentliche Ordensgründung dort beinahe übergangen – und das, obwohl der heilige Franziskus für den Passionaldichter einen außergewöhnlich hohen Stellenwert gehabt haben muss, was sich nicht zuletzt an dem langen und für dieses Werk unüblichen Prolog zeigt, der neben »enkomiastische[n] Franziskus-Apostrophen«60 ein enthusiastisches Lob auf die franziskanischen Armutsideale und den Minoritenorden enthält. Zudem greift der Verfasser des Passionals gegen seine Gewohnheit nur partiell auf die Legenda aurea zurück und richtet sich vor allem nach der Vita secunda des Thomas von Celano (die auch Jacobus de Voragine als Vorlage benutzt hat) sowie teilweise Bonaventuras Legenda maior.61 Wohl erhält Franziskus in mehreren Gottesbegegnungen eine unmittelbare Bestätigung seines Weges, Franziskus findet Nachfolger, erst zwei oder drei, dann immer mehr, Laien und Kleriker, die mit ihm predigen ; an Innozenz ist es lediglich, die sich bereits inoffiziell gebildete Gemeinschaft umstandslos zu billigen : Innocencius pabest was/ und was so holt im worden,/ daz er den guten orden/ bestetegete nach rechte (519, 78–81). Mehr gibt es für den Passionaldichter nicht zu sagen ; eine Bestätigung im Traum oder dergleichen scheint gar nicht nötig zu sein.
59 Papst Honorius III. hatte in einem ›Schutzbrief‹ den Orden 1218 nochmals bestätigt, vgl. Johannes Schlageter : Art. Franziskaner. In : TRE 11 (1983), S. 389–397, hier S. 391. 60 Edith Feistner : Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995, S. 232. 61 Vgl. ebd., S. 231 f.
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Zwar benutzt das Passional ausgerechnet für die Franziskusvita andere Quellen und erzählt die Legende auch ganz unterschiedlich im Vergleich zur Legenda au rea, übernimmt gerade an dieser Stelle doch die erstaunliche Knappheit, mit der die Ordensgründung beinahe übergangen wird, von der Legenda aurea. Damit stehen die beiden Legendare allerdings im Widerspruch zu ihren Quellen, den autoritativen Franziskusviten des dreizehnten Jahrhunderts : Die erste, schon 1228/29 fertiggestellte Vita des Thomas von Celano misst der eigentlichen Ordensgründung zwar ebenfalls noch eher wenig Bedeutung zu, fügt jedoch bereits die legitimierende Baumvision hinzu, welche dann von Lamprecht, aber auch in der viel breitere Wirkung erzielenden lateinischen Vita des Julian von Speyer aufgenommen wurde, in Legenda aurea und Passional aber fehlt. In der zweiten, wohl 1247 entstandenen Vita des Thomas von Celano, auf die sich Jacobus de Voragine wie auch das Passional maßgeblich stützen, ist die Gründung hingegen weitaus breiter auserzählt ; ebenso wie in der Legenda maior Bonaventuras, von der zumindest das Passional Kenntnis hatte.62 Diese beiden wichtigsten und wirkmächtigsten Franziskus-Biographien des Mittelalters erzählen nämlich durchaus von den Schwierigkeiten der Institutionalisierung, die sich v.a. in den Zweifeln seitens des Papstes ausdrücken. Thomas von Celano hat sowohl die Darstellung dieser Zweifel als auch deren Beseitigung offenbar der sogenannten Dreigefährtenlegende, auf die seine Vita secunda immer wieder zurückgreift, entnommen. Er berichtet nun (in Erweiterung seiner Vita prima also), wie Franziskus im Jahr 1209 bei Innozenz III. vorgesprochen habe, um für die Bestätigung seiner in völliger Armut lebenden Gemeinschaft zu bitten. Der Papst aber habe nicht nur der Vorstellung eines Bettelordens prinzipiell kritisch gegenüber gestanden, überhaupt habe die armselige Gestalt des Franziskus und seiner Mitbrüder ihn befremdet. Erst im Laufe der Auseinandersetzung erinnert sich Innozenz dann an einen Traum, in dem er die einstürzende Laterankirche erblickt, die aber von einem unscheinbaren und unansehnlichen Ordensmann gestützt wird – und Innozenz erkennt nun, Auge in Auge, in jenem einfachen Ordensmann Franziskus, woraufhin er diesem zumindest seine informelle Zustimmung erteilt. Diese Vision von der einstürzenden Lateranbasilika ist in den Franziskusviten also ganz ähnlich gestaltet wie in der Gründungslegende des Dominikanerordens, nur 62 Vgl. I Cel 32–34 ; II Cel 16–17 : Thomas de Celano, Vita prima S. Francisci. In : Analecta Franciscana 10. Clarae Aquae 1927, S. 1–117 ; Vita secunda S. Francisci : ebd., S. 127–268 ; vgl. auch Thomas von Celano : Leben und Wunder des heiligen Franziskus. Hrsg. von Engelbert Grau. Kavelaer 4 2001. S. Bonaventurae : Legenda Maior S. Francisci. In : Analecta Franciscana 10. Clarae Aquae 1927, S. 555–652, III, 10. Sämtliche lateinischen Lebensbeschreibungen des dreizehnten Jahrhunderts sind außerdem übersetzt und mit zahlreichen Quellen- und Literaturangaben versehen in : Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden. Hrsg. von Dieter Berg/Leonhard Lehmann. Kevelaer 2009.
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dass Innozenz der unansehnliche Mönch hier (noch) nicht bekannt ist, da er ja erst danach auf Franziskus trifft, an dem sich nun die Geltung der göttlichen Botschaft bewahrheitet. Der Traum des Papstes wird retrospektiv ins Geschehen eingeführt, nachdem Franziskus ihn mit zahlreichen Argumenten und Gleichnissen zu überzeugen versucht hatte, bei denen Innozenz bereits erkennen muss, dass Gott selbst aus dem Munde des Predigers spricht ; die Erinnerung an den Traum bestätigt ihn dann in dieser Einsicht. Auf diese Weise gewinnt die Inszenierung der Vision in den Dominikusviten wesentlich mehr an Eindringlichkeit, wird sie dort doch nicht erst nachträglich erzählt, sondern unmittelbar in die Handlung integriert. Ist sie bei der Bestätigung der Ordensgründung der Franziskaner nur ein Grund unter mehreren, die Innozenz veranlassen, bewirkt sie in der Dominikusvita direkt den Meinungsumschwung des Papstes. Dass das gleiche Motiv mit dem gleichen Sinnhintergrund ziemlich zeitgleich in zwei völlig verschiedenen Legenden zweier prominenter Heiliger und Ordensgründer des dreizehnten Jahrhunderts auftaucht, ist an sich schon bemerkenswert, bezeichnender allerdings sind die unterschiedlichen Wege, die dieses Motiv dann genommen hat. Die erste Franziskusbiographie, 1228/29 von Thomas von Celano zur Heiligsprechung vorgelegt, kennt diese Vision des Papstes (noch) nicht. Dessen wesentlich ausführlichere Vita secunda, 1247 vollendet, benutzt die kurz zuvor entstandene Dreigefährtenlegende ausgiebig und dürfte auch die ganze Passage inklusive der Vision nach dieser Vorlage umgestaltet haben ; entsprechend hat auch Bonaventuras Legenda maior die Passage dargestellt.63 Ab dem vierzehnten Jahrhundert ändern sich die Verhältnisse dann : Die späteren Franziskusviten transportieren diese Vision nicht mehr, sondern beschränken sich wieder (wie Lamprecht und Thomas’ Vita prima) auf die Baumvision und die Predigten des Heiligen.
63 Zu Innozenz’ Vision in den verschiedenen Franziskusviten des dreizehnten Jahrhunderts vgl. Wesjohann (Anm. 52), S. 228–234 ; Jürgen Einhorn : Der Traum des Papstes Innozenz III. von der stürzenden Lateranbasilika bei Bonaventura. Vorgeschichte und Fortwirken in literatur- und kunstgeschichtlicher Sicht. In : Bonaventura. Studien zu seiner Wirkungsgeschichte. Hrsg. von Ildefons Vanderheyden. Werl 1976, S. 170–193 (Übersicht zur mittelhochdeutschen Texttradition S. 173– 175). Zur Dreigefährtenlegende vgl. AASS, Oct. II. Antwerpen 1768, S. 723–742 ; Legenda trium sociorum. Hrsg. von Théophile Desbonnets. In : Fontes Franciscani. A cura di Enrico Menestò u.a. Assisi 1995, S. 1373–1445. Vgl. auch : Die Dreigefährtenlegende des Heiligen Franziskus. Einführung von Sophronius Clasen, Übersetzung und Anmerkungen von Engelbert Grau. Werl i. Westf. 1972, Nr. 46–53 ; die Vision in Nr. 51. Zum Verhältnis des erst später aufgezeichneten Textes zu Thomas’ Vita secunda vgl. ebd., S. 56–68 u. S. 111–115. Eine Erwähnung der Papstvision findet sich außerdem noch in der unikal überlieferten, um 1275 vermutlich im Benediktinerkloster Oberaltaich entstandenen sog. Münchner Legende, vgl. Berg/Lehmann (Anm. 62), S. 919–954, hier S. 925 (11, 3–6).
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Etwa zur gleichen Zeit wie Thomas’ Vita secunda entstand die dritte Dominikusvita des Konstantin Medici (Konstantin von Orvieto), welche nun ihrerseits die Vision der einfallenden Lateranbasilika in die Dominikusvita integrierte.64 Die meisten Dominikusviten, die die Acta Sanctorum aus dem dreizehnten Jahrhundert bereitstellen, kennen das Motiv hingegen nicht ; dort wird die Ordensgründung meist nur kurz in Verbindung mit Papst Innozenz und dem Laterankonzil angesprochen, während der Schwerpunkt klar auf der Figur des Dominikus liegt – hier bedarf es offenbar keinerlei Inszenierung einer mehrfachen Legitimierung der Ordenseinsetzung. Die Schnittstelle bildet wiederum die Legenda aurea : Jacobus de Voragine war selbst Dominikaner, weshalb man ihm erst recht ein lebhaftes Interesse unterstellen kann, die Vita seines Ordensgründers entsprechend bedeutungsvoll darzustellen. Auf welche Quellen jener sich hierbei stützt, ist dagegen weit weniger klar, während er für die Franziskusvita seines Legendars ziemlich sicher die Vita secunda des Thomas von Celano benutzt haben dürfte.65 Den Legenden der Bettelorden kommt in der Legenda aurea ein besonderer Stellenwert zu : Jacobus de Voragine sah im Predigerorden auch den Beginn eines neuen apostolischen Zeitalters, die zersplitterte und von verschiedenen Seiten bedrohte Kirche (Misserfolg der Kreuzzüge im Osten, die Katharer und Waldenser im Westen) zu einen und in eine neue Zukunft zu führen.66 Das drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass beide Ordensgründungen auf göttlichen Auftrag hin erfolgen ; die Vorrangstellung kommt dabei dem Dominikaner zu : Der aufmerksame Quellenkritiker Jacobus dürfte es bewusst vermieden haben, denselben Traum desselben Papstes in zwei unterschiedlichen Legendenkontexten unterzubringen. Dass der Dominikanerbischof dieses Motiv dann in der Legende seines Ordensgründers implementierte, scheint daher nur folgerichtig (ob ihm die Version des Konstantin Medici bekannt war, bleibt unklar), während die Gründung des Franziskanerordens für ihn von weniger großem Interesse gewesen sein dürfte : Viel wichtiger war ihm sicherlich die Legitimierung des eigenen Ordens, der in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts bereits enorm an Einfluss gewann, eine Reihe der berühmtesten Prediger, Theologen und Wissen64 Vgl. Rhein (Anm. 16), S. 258 ; zu Konstantins Vita ausführlich Wesjohann (Anm. 52), S. 389–392. 65 Vgl. Zips (Anm. 57), S. 68, zur Franziskusvita der Legenda aurea S. 62–70 ; Rhein (Anm. 16), S. 240– 248. Rhein, S. 258, vermutet mit Verweis auf B. Altaner : Der heilige Dominikus. Untersuchungen und Texte. Breslau, Habelschwerdt 1922, S. 143–153, dass Jacobus die Dominikuslegende des Konstantin Medici bekannt gewesen sein müsse und als Quelle gedient habe. Vgl. auch Wesjohann (Anm. 52), S. 405–409. 66 Vgl. Rhein, (Anm. 16), S. 238 f. u. S. 272. Die Bedeutung und Verbindung der beiden Ordensgründer unterstreicht Dante in seiner Divina Commedia, wo im 11. Gesang des Paradiso Thomas von Aquin das Lob auf Franziskus verkündet, worauf im 12. Gesang Bonaventura mit einem Lob auf Dominikus antwortet, vgl. Elm (Anm. 49), S. 121 f.
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schaftler hervorgebracht hatte und institutionell wie politisch bestens verankert war. Seinen literarischen Niederschlag findet dies in den z. T. neu hinzugekommenen Elementen der Dominikusvita : Das betrifft nicht zuletzt die Visionsberichte des Dominikus, welche (wie die oben bereits ausgeführte Erscheinung der Apostel Petrus und Paulus) die Ordensgründung göttlich sanktionieren, ebenso die Inszenierung des Motivs von der Lateranbasilika, die (anders, als es in den autoritativen Franziskusviten eingesetzt ist) gezielt die Entscheidung des Papstes als göttlich inspiriert erscheinen lässt.67 Außerdem lässt Jacobus die beiden Ordensgründer in Rom zusammentreffen, wo sie sich ihrer unverbrüchlichen Freundschaft in Christus versichern, was die Bedeutung beider Orden für Jacobus unterstreicht.68 Dennoch ist diese Szene Bestandteil der Dominikusvita und wird dort einem Franziskanermönch, der zusätzlich von einer Vision des Dominikus berichtet, in den Mund gelegt ; damit wird indirekt die göttliche Auserwähltheit des Dominikus ausgerechnet von einem Franziskaner bestätigt. Interessanterweise räumt der Passionaldichter indessen der Franziskusvita einen außerordentlich hohen Stellenwert ein, wohingegen die Dominikusvita auffallend blass bleibt. Die allzu konventionelle Darstellung der Dominikuslegende wird in der Weitertradierung dieses Stoffes in den volkssprachigen Legendaren erkennbar : Das spätmittelalterliche Prosalegendar Der Heiligen Leben, das für seine Texte ganz überwiegend volkssprachige Quellen verwendete und dabei hauptsächlich die im gleichen Zeitraum entstandenen Sammlungen von Passional und Märterbuch umformte, nahm ausgerechnet bei der Dominikuslegende von dieser Linie Abstand und folgte stattdessen der breit angelegten lateinischen Vita des Dietrich von Apolda.69 Das zeigt, wie wenig profiliert die Dominikusvita innerhalb des Passionals angelegt ist, das dem Franziskusleben ungleich mehr Beachtung schenkt, ja den Heiligen stellenweise sogar wie keinen Zweiten an Christus heranrückt, was insbesondere über die im Passional breit ausgebaute Schilderung der Stigmatisation erfolgt, die beinahe den Rang einer mystischen Vereinigung mit Christus erlangt, indem sie kompassionale Elemente der Passionsschilderung aus dem ersten Passionalbuch aufnimmt.70 Die Schwerpunkt67 Vgl. Rhein (Anm. 16), S. 239 u. S. 256 f.; Wesjohann (Anm. 53), S. 477–481. Neben den üblichen Wundern, die Dominikus zugesprochen werden (u.a. Heilungswunder, Totenerweckungen und Exorzismen) legen zuletzt auch einige Wunderberichte die Wirkmächtigkeit des Predigerordens dar, wenn beispielsweise die Heilung des Reginald von Orléans (eines der bedeutendsten dominikanischen Prediger) und sein Eintritt in den Orden auf Veranlassung Marias geschildert werden oder wenn der Teufel sich mit Dominikus ein Streitgespräch über die Durchführbarkeit des Klosterlebens liefert. 68 Vgl. Zips (Anm. 57), S. 66 f. 69 Vgl. Feistner (Anm. 60), S. 229 ; Maria Oessenich : Die Elisabethlegende im gereimten Passional. In : ZfdPh 49 (1923), S. 181–195. 70 Vgl. Andreas Hammer : Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional. Berlin, Boston 2015, S. 253 f.
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verlagerung erfordert es für den Passionaldichter, bei der Franziskusvita wie schon angedeutet nicht der Legenda aurea, sondern vielmehr Thomas von Celano und Bonaventura zu folgen. Auch das Passional behandelt aber wie Jacobus die eigentliche Ordensgründung nur kurz und ohne das Motiv der Laterankirche. Vielmehr scheint es, als ob der mittelhochdeutsche Dichter den Moment der Ordensgründung viel weiter nach vorn verlagert, nämlich bereits zur Bekehrung des Franziskus und seiner Entscheidung zur Armut – hier liegt für ihn bereits der Keim des neuen Ordens, der dann offensichtlich keiner starken institutionellen Legitimation mehr bedarf.71 Es ist jedoch auffallend, dass in den spätmittelalterlichen Franziskusviten die für die Institutionalisierung durch den Papst so wichtige Vision von der einstürzenden Laterankirche gar keine Rolle mehr spielt, während dieses Motiv umgekehrt in den Dominikuslegenden des vierzehnten/fünfzehnten Jahrhunderts dann fester Bestandteil im Zusammenhang mit der Ordensgründung wird. Dies scheint offenbar mit dem überragenden Erfolg der Legenda aurea zusammenzuhängen, welche die Vision für die Dominikusvita vereinnahmt, in der Franziskusvita indessen gegen seine Quellen streicht. Damit nimmt dieses Motiv in der Literaturgeschichte eine umgekehrte Entwicklung im Vergleich zur Kunstgeschichte : In den bildlichen Darstellungen der Ordensgründung nämlich wird die Vision von der einstürzenden Laterankirche fast ausschließlich mit Franziskus verbunden, nur selten mit Dominikus. Eindrück lichstes Beispiel ist der Freskenzyklus von Giotto, der in der Basilika di San Francesco in Assisi von 1297 bis 1299 insgesamt 28 Szenen aus dem Leben des heiligen Franziskus schuf, die ihrerseits wiederum prägend für die Franziskusdarstellungen der kommenden Jahrhunderte waren.72 Wer das Motiv in der hagiographischen Literatur zuerst aufgriff, ist dagegen nicht mehr zu klären, man kann nur die hier nachgezeichnete Entwicklung aufzeigen : Die Vision von der einfallenden Laterankirche in Verbindung mit der Gründung des Dominikanerordens ist etwa zeitgleich fassbar in der Dominikusvita des Konstantin Medici wie in der Vita secunda des Thomas von Celano, der es wiederum aus der (allerdings erst später verschriftlichten) Dreigefährtenlegende in seine Franziskusvita übernahm, aus der es dann ebenso Bonaventura aufgriff.73 Konstantins Vita bildet 71 Vgl. Zips (Anm. 57), S. 70–81, mit einem Vergleich der Vita im Passional gegenüber der der Legenda aurea. 72 Eines der wenigen Gegenbeispiele, das den Traum des Innozenz mit der Figur des Dominikus verbindet, bildet ein Triptychon von Francesco Traini (1344), das acht Bilder aus dem Leben des Heiligen zeigt (heute Pisa, Museo S. Matteo) ; vgl. Anselm Hertz : Dominikus und die Dominikaner. Freiburg i. Br. 1981, Abb. 27 ; die Bilder von Giotto zu Franziskus sowie Traini zu Dominikus bei Lang (Anm. 51), Abb. 10 bzw. 17. 73 Die Datierungen sind umstritten und liegen bei den frühen dominikanischen und franziskanischen Viten im engen Zeitraum von ca. 1245–1247, vgl. zur Diskussion ausführlich Wesjohann (Anm. 52), S. 229 f.
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aber insofern eine Ausnahme, als sich die meisten Dominikuslegenden des dreizehnten Jahrhunderts auf die Figur des Heiligen und nicht auf die Ordensgründung konzentrieren, weshalb sie auch das Motiv der einstürzenden Lateranbasilika nicht kennen oder berücksichtigen. Die Legenda aurea und in deren Folge auch das Passio nal formen aus seiner Legende dann weit mehr als nur die Lebensbeschreibung eines besonders tugendsamen Heiligen, sie erzählen vielmehr zugleich die Gründungslegende des Dominikanerordens, die mit dem Heiligen untrennbar verbunden ist. Daher wird die Vision hier wie ausgeführt auch ganz zentral eingesetzt : Sie ist göttlich-legitimierendes Zeichen, um den sich zunächst sperrenden Papst zur Einsicht zu bringen, und folgerichtig erkennt dieser auch sogleich umstandslos Dominikus in dem Stützer der Kirche, worauf er ebenso umstandslos die Gründung des Ordens erlaubt. Dessen institutionelle Bedeutung wird bereits auf diese Weise zementiert, mit der Bestätigung durch Petrus und Paulus dann nochmals zusätzlich sanktioniert.74 Dominikus und sein Orden als Retter der Kirche und der Christenheit : Das stellt die Legende nach der Version der Legenda aurea, auf die die späteren Versionen allesamt Bezug nehmen, rückblickend als von Anfang an gottgewollt und vorhergesehen dar. Das, was Dominikus wird bzw. wirken wird, ist bereits vor seiner Geburt in ihm angelegt, und die Bedeutung seines Ordens für die Institution der Kirche wird in der Vision des Papstes von der einstürzenden Laterankirche und deren Stützer Dominikus eindrucksvoll verdichtet : Es ist ein Bild, das gleichsam symbolisch für die gesamte Ordenstätigkeit der Dominikaner im dreizehnten Jahrhundert stehen könnte75 und das ab dem vierzehnten Jahrhundert dann zumindest im volkssprachi74 Wesjohann (Anm. 52), S. 230–232, kommt zu dem Ergebnis, dass die Herkunft des Motivs aufgrund der stimmigeren inhaltlichen Integration in den Franziskuslegenden höchstwahrscheinlich im franziskanischen Bereich zu suchen sei ; insbesondere weil das Motiv der einstürzenden Kirche (im wörtlichen wie im übertragenen, institutionellen Sinne) in der Franziskusvita bereits im Zusammenhang mit der Bekehrung des Heiligen und seiner Vision in San Damiano auftaucht, die Rezipienten den Kontext daher wiedererkennen könnten. Man kann diese Argumentation freilich auch umkehren : Gerade weil ein vergleichbares Motiv bereits Bestandteil der Vita ist, scheint eine Doppelung redundant, zumal die Ordensgründung des Franziskus ja mit etlichen anderen Visionen und Gleichnissen unterstützt wird – möglicherweise ein weiterer Grund für das Fehlen der Papstvision in den spätmittelalterlichen Franziskuslegenden insbesondere der Volkssprache. Bei Dominikus liefert das Motiv hingegen jenes eine, zentrale Ereignis, das zum Meinungsumschwung des Papstes führt, was entsprechend eindrucksvoll inszeniert werden kann. Letztlich bleiben aber derartige Überlegungen immer Spekulation ; der Ursprung des Motivs ist nicht zu klären und spielt insofern auch keine Rolle, als erst die unterschiedliche Entwicklung seiner Inanspruchnahme konkret fassbare Erkenntnisse liefert. 75 Die rege Lehr- und Predigertätigkeit des Ordens bewirkte nicht zuletzt auch eine Verbreitung und Weiterführung der Ergebnisse des IV. Laterankonzils ; seine überregionale Organisation und die Tatsache, dass die Dominikaner später auch noch mit der Inquisition beauftragt wurden, sind weitere Schritte, die vor allem der Stärkung der päpstlichen Zentralgewalt dienten. Vgl. Ambrosius Esser : Art. Dominikaner. In : TRE 9 (1982), S. 127–136, hier S. 128–130.
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gen Bereich sämtliche Dominikusviten prägt, während das gleiche Motiv in den Bearbeitungen der Franziskuslegende trotz der weiterhin populären Vita Bonaventuras offenbar keinen Platz mehr hat. Der damit einhergehende Bedeutungswandel, der sich auch auf die weitere Wahrnehmung der eigentlichen Ordensgründung ausdehnt, lässt sich freilich nicht allein an der großen Breitenwirkung der Legenda aurea festmachen. Dominikus und Franziskus sind zweifellos die bedeutendsten Heiligen des dreizehnten Jahrhunderts, der kirchenpolitische Einfluss ihrer Orden ist aber vor allem für die Dominikaner entscheidend, deren festgelegte und wohldurchdachte Regularien sich als äußerst stabil erwiesen. Dagegen brachten innere Streitigkeiten wie auch äußere Einflüsse (u.a. der Streit um die Lehren Joachims von Fiore, die ja bereits das IV. Laterankonzil thematisiert hatte) den Franziskanerorden um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts an den Rand seiner Existenz. Da die Ordensregeln des Franziskus jedoch bewusst knapp und unbestimmt gehalten waren, konnte man in all diesen Streitigkeiten gerade nicht auf sie als ordnendes Element verweisen, weshalb »nur der Rückgriff auf die Gestalt des Ordensstifters selbst und die [von ihm geprägte] Frühgeschichte des Ordens übrig« blieb.76 Diese unterschiedlichen Entwicklungen spiegeln sich auch in den jeweiligen Legenden wider : Beide rekurrieren (in etwa zeitgleich) im Zuge der Ordensgründung auf das Motiv der einstürzenden Lateranbasilika, aber erst bei Jacobus de Voragine, dessen Legenden form- und stilbildend gewirkt haben, wird darin der institutionelle und kirchenpolitische Anspruch des Dominikanerordens vollends deutlich.77 Die Strahlkraft der Franziskaner war dagegen ganz auf die Spiritualität und das Armutsideal ihres Gründers ausgerichtet, der seine Spuren jedoch vor allem in der Mystik und eher indirekt in der Kirchenpolitik hinterließ. Wenn Thomas von Celano und Bonaventura das Bild der einstürzenden Laterankirche aufgreifen (woher auch immer es vermittelt wurde), so ist in der von Visionen ohnehin sehr reichen Franziskuslegende, trotz der immensen Bedeutung dieser Bewegung, weder die Ordensgründung noch dieses Motiv von vergleichbarer Wirkmächtigkeit angelegt. Vielmehr konzentrieren sich diese Legenden noch viel stärker auf die Gestalt des Heiligen selbst und seine mystische Inspiration, wenn etwa Franziskus den Papst in einem ihm von Christus persönlich ausgedeuteten Gleichnis für sich einnimmt.78 Die Vielzahl 76 Grau (Anm. 62), Einleitung, S. 52. 77 Rhein (Anm. 66), S. 258 f., merkt an, dass Jacobus an anderer Stelle, nämlich in den Sermones aurei, die gleiche Vision beiden Heiligen zuordnet : in der 2. Franziskuspredigt dem heiligen Franziskus, in der 2. Dominikanerpredigt dem heiligen Dominikus. Dietrich von Apolda übernahm alle diese Motive in seiner großangelegten Dominikuslegende um 1296–1298 ; seine Vita blieb (neben der Legenda aurea) die prägende Darstellung für die folgenden Jahrhunderte, vgl. Helmut Lomnitzer : Art. Dietrich von Apolda. In : ²VL, Bd. 2 (1980), Sp. 103–110, hier Sp. 109. 78 In der Dreigefährtenlegende (Anm. 63) Nr. 50 u. Nr. 51, bei Thomas von Celano (Anm. 62) II, 16 u. 17.
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an Visionen unterstreicht vielmehr die enge mystische Verbindung des Heiligen mit Christus, die sich später in den Wundmalen nochmals eindrucksvoll erweist, und es ist eben diese unmittelbare Nähe zu Gott, die in der Legende für Innozenz letztlich den Ausschlag für die Erlaubnis zur Ordensgründung gibt : Franziskus überzeugt nicht mit politischem Kalkül oder gelehrter Argumentation, so die Botschaft, sondern mit Spiritualität und göttlicher Begnadung ; eben damit bringt er sogar den ob des radikalen Armutsideals zunächst skeptischen Papst auf seine Seite.
4. Fazit
Dominikus und Franziskus sind die bedeutendsten Heiligen des dreizehnten Jahrhunderts, die frömmigkeitsgeschichtliche Entwicklung wäre ohne die von ihnen geschaffenen Gemeinschaften nicht denkbar gewesen. Der kirchenpolitische Einfluss der Mendikantenorden ist allerdings vor allem für die Dominikaner entscheidend, die klare, stabile Regularien hatten und in der Folge von den Päpsten immer stärker auch institutionell in Anspruch genommen wurden ; ihnen kann eine gewisse ordnungsstiftende Wirkung zugesprochen werden. Eben das wird in der Gründungslegende der beiden Orden deutlich : Beide rekurrieren auf das Motiv der Lateranbasilika, aber bei Dominikus wird der institutionelle, kirchenpolitische Anspruch offensichtlich : die Dominikaner als Stützer der Kirche, Innozenz als ordnungsstiftende Gestalt, der aber auf Dominikus angewiesen ist und die gestalterische Kraft des Predigerordens voraussieht. In den Franziskuslegenden entfaltet das Motiv hingegen von Anfang an weniger Aussagekraft : Hier sind vor allem die mystische Inspiration und radikale Armut des Heiligen entscheidend, die seine Glaubensgemeinschaft auch entsprechend stark geprägt haben. Eben daraus allerdings resultieren auch die institutionellen Schwierigkeiten des Franziskanerordens, der seine Spuren v.a. in der Mystik, aber wohl eher indirekt in der Kirchenpolitik hinterließ : Das Armutsideal des heiligen Franziskus fand enorm viele Anhänger und Nachahmer, doch institutionell gefestigt war der Orden nicht und wäre aufgrund innerer Streitigkeiten nach dem Tod seines Gründers beinahe wieder zerbrochen.79 An dieser Gründungsgestalt und der Nachfolge seiner Spiritualität mussten die späteren Ordensmitglieder sich daher ausrichten und ihre internen Grabenkämpfe überwinden. Daher fällt selbst bei den prominenten FranVgl. dazu auch Feld (Anm. 50), S. 172–174 ; zur Vision des Innozenz ebd., S. 174–177 ; Wesjohann (Anm. 52), S. 232–234. 79 Vgl. Schlageter (Anm. 59), S. 392 f. Zur Nachwirkung des Franziskanertums nach dem Tod des Ordensgründers vgl. Feld (Anm. 50), S. 450–476.
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ziskusviten auf, dass sie der Institutionalisierung des Franziskanerordens weit weniger Beachtung schenken als der Spiritualität seines Gründers – und auch das erleichtert es Jacobus, die Einsetzung des Minoritenordens in seiner Legenda aurea praktisch auszublenden, die Dominikuslegende hingegen von Beginn an auf die Gründung des Ordens zulaufen zu lassen. In beiden Fällen rekurrieren die Gründungslegenden jedoch auf den Papst Innozenz, der einer der wichtigsten politischen Lenker, aber auch philosophischen und theologischen Vordenker des beginnenden dreizehnten Jahrhunderts war. Seine ordnende Hand wird in den Legenden betont, die sich zugleich über die Institution des Papstes stellen. Wie weitreichend die Reformbemühungen Innozenz’ III. waren, zeigen die Ergebnisse des IV. Laterankonzils, das ja auch direkt mit der Dominikusvita verbunden ist. Die Nachwirkungen dieses Konzils sind in politischer Hinsicht zu spüren gewesen – Friedrich II. erhielt endgültig die Unterstützung der Kirche im deutschen Thronstreit –, es setzte aber auch theologisch bedeutende Maßstäbe. Nicht zuletzt war es die Transsubstantiationslehre, die als eine der wichtigsten theologischen Entscheidungen dieses Konzils gelten kann. Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet in einem volkssprachigen Mirakel die Bedeutung dieses Mysteriums erstmalig narrativ ausgebreitet wird. Sowohl in den Gründungslegenden der neuen Orden wie auch in der mittelhochdeutschen Geschichte vom Judenknaben spiegelt sich daher die geistesgeschichtliche und kirchenpolitische Entwicklung des dreizehnten Jahrhunderts nach dem IV. Lateranum wider.
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Bekenntnis, Beichte und Selbstbezichtigung. Kanon 21 des IV. Laterankonzils und die mittelhochdeutsche Novellistik Omnis utriusque sexus fidelis1 – mit diesen Worten beginnt der bekannte Kanon 21 der Konstitutionen des IV. Laterankonzils, durch den die Privatbeichte als jährliche Ohren- und Osterbeichte zu einem festen Bestand des Kirchenrechts wurde.2 Die Forderung, dass sich ein jeder mindestens einmal jährlich in Absicht und Tat all seinen Verfehlungen vor dem eigenen Priester stellen muss, wurde für tiefgreifende mentalitätsgeschichtliche Folgen verantwortlich gemacht,3 deren Wurzeln bis ins 1 De confessione facienda et non revelanda a sacerdote et saltem in pascha communicando : Omnis utriusque sexus fidelis, postquam ad annos discretionis pervenerit, omnia sua solus peccata confiteatur fideliter, saltem semel in anno proprio sacerdoti, et iniunctam sibi poenitentiam studeat pro viribus adimplere […]. ›Notwendigkeit der Beichte, Schweigepflicht des Priesters und Empfang der Kommunion wenigstens an Ostern : Alle Gläubigen beiderlei Geschlechts beichten nach Erreichen der Jahre der Unterscheidung wenigstens einmal im Jahr persönlich all ihre Sünden gewissenhaft ihrem eigenen Priester und sind bemüht, die ihnen auferlegte Buße nach Kräften zu erfüllen.‹ Zitiert nach Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517). Hrsg. von Josef Wohlmuth (3. Aufl.). Paderborn 2000 (Dekrete der ökumenischen Konzilien 2), S. 244. 2 Vgl. zu den bereits bestehenden Praktiken und allgemeinen Entwicklungen der Pflichtbeichte und dem »innovativen Rang des 21. Kanon« Martin Ohst : Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter. Tübingen 1995 (Beiträge zur Historischen Theologie 89), bes. S. 14–138 (Zitat S. 31) ; Arnold Angenendt : Geschichte der Religiosität im Mittelalter (2. überarb. Aufl.). Darmstadt 2000, S. 650–653 ; Peter Browe : Die Pflichtbeichte im Mittelalter. In : ZkTh 57 (1933), S. 335–374 ; Bernhard Jussen : Confessio. Semantische Beobachtungen in der lateinischen christlichen Traktatliteratur der Patristik und des 12. Jahrhunderts. In : LiLi 126 (2002), S. 27–47 ; sowie Thomas Ertl : Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum. Berlin 2006 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 96), bes. S. 273. 3 Vgl. Peter Dinzelbacher : Das erzwungene Individuum. Sündenbewusstsein und Pflichtbeichte. In : Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von dems. Köln u.a. 2001, S. 41–60, bes. S. 46–57 ; Peter von Moos : »Herzensgeheimnisse« (occulta cordis). Selbstwahrnehmung und Selbstentblößung im Mittelalter. In : Schleier und Schwelle 1 : Geheimnis und Öffentlichkeit. Hrsg. von Aleida Assmann/Jan Assmann. München 1997 (Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 5,1), S. 89–109, hier. S. 102 f.; Ertl (Anm. 2), S. 40 f. u. S. 271–288 (Kapitel »Durchdringung des Ich«) ; Edith Feistner : Zur Semantik des Individuums in der Beichtliteratur des Hoch- und Spätmittelalters. In : ZfdPh 115 (1996), S. 1–17, bes. S. 3–11 ; sowie T. C. Price Zimmermann : Bekenntnis und Autobiographie in der frü-
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Frühmittelalter reichen. In zahlreichen historischen und soziologischen Studien werden das IV. Lateranum und seine Beschlüsse, und insbesondere die geänderte, institutionalisierte Form des Sündenbekennens durch die Pflichtbeichte unter Strafandrohung bei Nichterfüllung des Gebotes, als Meilenstein für die Herausbildung eines ›modernen Selbst‹ verstanden :4 So betont Jacques Le Goff dessen Bedeutsamkeit für »Prozeß[e] der Interiorisierung«,5 Alois Hahn pointiert, dass »neue[] Bewußtseinsinhalte« und eine »neue Form von Individualität« durch das Dekret zu einem einflussreichen »Moment institutioneller Wirklichkeit« wurden,6 und Peter von Moos spricht von einer »kopernikanische[n] Wende in der Geschichte des Sündengeheimnisses«.7 Bereits Michel Foucault sieht die »Subjektivierung der Menschen« in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der ›unerhörten Begebenheit‹ des dreizehnten Jahrhunderts : »Man braucht sich bloß vorzustellen, wie unerhört zu Be-
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hen Renaissance. In : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günter Niggl. Darmstadt 1989 (Wege der Forschung 565), S. 343–366, hier S. 346 u. S. 351 f. Vgl. auch die Beiträge von Christoph H. F. Meyer, S. 29–92, sowie Jörg Oberste, S. 107–122, in diesem Band. Zu Entwicklungstendenzen vgl. David W. Sabean : Selbsterkundung. Beichte und Abendmahl. In : Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Köln u.a. 2001, S. 145–162, bes. S. 147 ; sowie Annette Kehnel : Gnadenlehre oder Reproduktionserfolg. In : Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum. Hrsg. von Gert Melville/Markus Schürer. Münster 2002 (Vita regularis 16), S. 27–56, hier S. 36–39. Vgl. auch Susanne Köbele/Bruno Quast : Perspektiven einer mediävistischen Säkularisierungsdebatte. Zur Einführung. In : Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Hrsg. von dens. Berlin 2014 (Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 4), S. 9–20, hier S. 11 ; Dieter Kartschoke : Der epische Held auf dem Weg zu seinem Gewissen. In : Wege in die Neuzeit. Hrsg. von Thomas Cramer. München 1988 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 8), S. 149–197, bes. S. 158 f. Zur Identitätsdebatte vgl. u.a. Susan R. Kramer/Caroline Walker Bynum : Revisting the Twelfth-Century Individual. The Inner Self and the Christian Community. In : Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum. Hrsg. von Gert Melville/Markus Schürer. Münster 2002 (Vita regularis 16), S. 57–88 ; sowie die Beiträge in dem Sammelband : Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Richard van Dülmen. Köln u.a. 2001. Jacques Le Goff : Die Geburt des Fegefeuers. Stuttgart 1984, S. 260. Vgl. dazu auch ausführlich Werner Röcke : Positivierung des Mythos und Geburt des Gewissens. Lebensformen und Erzählgrammatik in Hartmanns ›Gregorius‹. In : Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens. Hrsg. von Matthias Meyer/ Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 627–647, hier S. 641–643. Alois Hahn : Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse. Selbstthematisierungen und Zivilisationsprozeß. In : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 408–434, hier S. 409. Vgl. auch Jean Delumeau : Le péché et la peur. La Culpabilisation en Occident (XIIIe–XVIIIe siècles). Paris 1983 ; sowie Browe (Anm. 2). Von Moos (Anm. 3), S. 97. Diese Pflicht hatte eine »institutionsstabilisierende wie individualpsychologisch tiefgreifende Bedeutung«. Ebd.
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ginn des 13. Jahrhunderts die an alle Christen gerichtete Vorschrift erschienen sein muß, mindestens einmal im Jahr das Knie zu beugen, um ausnahmslos jeden Fehler zu gestehen.«8 Und an anderer Stelle heißt es : »Das Geständnis der Wahrheit hat sich ins Herz der Verfahren eingeschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt.«9 Ähnliche ›Trendwenden‹ wurden im Kontext der Beichtvorgänge bereits für das Frühmittelalter postuliert, wenn in Forschungen zur pastoralen Gebrauchsliteratur Quellen zitiert werden, in denen die regelmäßige Privatbeichte (im Unterschied zur öffentlichen Kirchenbuße oder dem stillen Beichten) bereits in frühen Jahrhunderten prominent gemacht werde, in denen eine »Pflicht zu sorgfältiger, immer stärker formalisierter Gewissenserforschung« feststellbar sei.10 8 Michel Foucault : Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1983, S. 1074 ; vgl. auch ebd., S. 1071, mit konkretem Hinweis auf das Laterankonzil. Vgl. auch Uta Störmer-Caysa : Gewissen und Buch. Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kirchengeschichte 14), S. 2 : »Foucault betrachtet die (Wieder)Einführung der zumindest jährlichen Ohrenbeichte 1215 als zentrales Datum für die Entstehung einer modernen Geständnisgesellschaft.« 9 Foucault (Anm. 8), S. 1072. »Die waffenloseste Zärtlichkeit wie die blutigsten Mächte sind auf das Bekennen angewiesen. Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.« Ebd., S. 1073. Vgl. zur Beichte als »Instrument der Selbsterkenntnis« auch Zimmermann (Anm. 3), S. 345. 10 Wolfgang Haubrichs : Die Anfänge : Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). Frankfurt a. M. 1988 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit : Von den Anfängen zum hohen Mittelalter, Bd. I/1), S. 300 f. Vgl. ebd., S. 301, zu den Hinweisen auf die »Aschermittwochbeichte«, zu den als notwendig angesehenen Prüfungen der Priester (ebd., S. 302) und zu den Sanktionen bei einer verweigerten Beichtpflicht seit dem zehnten Jahrhundert (siehe Trierer Synode von 927). Zum frühmittelalterlichen Ordo der jährlichen Beichte am Aschermittwoch vgl. u.a. Volker Honemann : Zum Verständnis von Text und Bild der ›Fuldaer Beichte‹. In : Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. FS für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Annegret Fiebig/Hans-Jochen Schiewer. Berlin 1995, S. 111–125 : »Hierbei handelt es sich deutlich um ein Bekenntnis individueller Sünden, nach denen der Priester ihn befragt hat« (ebd., S. 114). Zu den Bußordines in dem Sacramentar der Göttinger Handschrift vgl. auch Ernst Hellgardt : Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.). In : Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien. Hrsg. von Cornelia Herberichs u.a. Berlin 2015 (Lingua Historica Germanica 10), S. 22–46. Zum Ablauf : »Vorbereitende Fragen ; Sündenerfragung ; Leerstelle für die (volkssprachige) Beichte ; kurzes, lateinisches Allgemeinbekenntnis ; Auferlegung der Bußleistung« (ebd., S. 41). Vgl. auch Stephanie Seidl : In-Eins-Setzungen. Zur Ästhetik und Funktionalität von Bamberger Glaube und Beichte. In : Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien. Hrsg. von Cornelia Herberichs u.a. Berlin 2015 (Lingua Historica Germanica 10), S. 47–62. Vgl. zu den frühmittelalterlichen Beichtriten ganz grundlegend Ernst Hellgardt : Zur Pragmatik und Überlieferungsgeschichte der altdeutschen Beichten (achtes bis zwölftes Jahrhundert). In : Volkssprachig-lateinische Mischtexte und Textensembles in der althochdeutschen, altsächsischen und altenglischen Überlieferung. Hrsg. von Rolf Bergmann. Heidelberg 2003, S. 61–96 ; Sarah Hamilton : The Practice of Penance. 900–1050. Woodbridge 2001 (Royal Historical Society studies in history. New series). Zur Vorgeschichte des Kanons vgl. auch Ohst (Anm. 2), bes. S. 31 f.
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Nähert man sich dieser, natürlich sehr verkürzt dargelegten, kulturhistorisch relevanten Thematik mit einem literaturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse, sind zunächst zwei allgemeinere Punkte erwähnenswert : Zum einen lässt sich feststellen, dass im unmittelbaren zeitlichen Kontext der Beschlüsse des Konzils, aber auch in langer Folge neue Literaturgattungen entstehen.11 Neben Beichtspiegeln,12 Mirakelerzählungen,13 Bußpredigten14 oder auch allegorischen Darstellungen der Frau Beichte15 müssen zuvörderst die Beicht- bzw. Rechtssummen genannt werden.16 Diese lösten die frühmittelalterlichen Bußbücher ab, die vornehmlich der Tarifbuße und der taxonomischen Frömmigkeit, also den »katalogartigen Aufzählungen von Vergehen und Bußen«, geschuldet waren.17 Die neuen Medien dienten zum einen dazu, den Priestern Hilfestellungen zu geben, wie Gewissensfragen ethisch entschieden18 werden können und eine »gemeinsame[], übergeordnete[] Norm für alle Einzelsituationen« festgelegt werden kann.19 Zum anderen können sie auch als eine 11 Vgl. umfassend Ulrich Bruchhold : Deutschsprachige Beichten im 13. und 14. Jahrhundert. Editionen und Typologien zur Überlieferungs-, Text- und Gebrauchsgeschichte vor dem Hintergrund der älteren Tradition. Berlin, New York 2010 (MTU 138). Vgl. auch Ertl (Anm. 2), S. 40 ; Frederic C. Tubach : Art. ›Beichte‹. In : Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung 2 (1979), Sp. 45–48. 12 Vgl. u.a. Feistner (Anm. 3), S. 9 f. 13 Vgl. zu zahlreichen Beichtmirakeln Tubach (Anm. 11), Sp. 46. 14 An den Predigttexten Bertholds von Regensburg lässt sich etwa nachvollziehen, »dass sich bereits Mitte des 13. Jahrhunderts eine allgemeine Akzeptanz der Pflichtbeichte und eine Anerkennung ihrer fundamentalen Relevanz für die Erlangung des Seelenheils durchzusetzen begonnen hatte«. Ertl (Anm. 2), S. 277. 15 Zur Allegorie der Frau Beichte in Heinrichs von Burgeis Der Seele Rat vgl. Feistner (Anm. 3), S. 9–11. 16 Vgl. zu Bruder Bertholds Rechtssumme u.a. Störmer-Caysa (Anm. 8), S. 179–189. Vgl. auch Ohst (Anm. 2), S. 63–102. 17 Ertl (Anm. 2), S. 271 u. S. 40 f. Vgl. ausführlich Arnold Angenendt : Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Toten-Memoria. In : Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hrsg. von Karl Schmid/Joachim Wollasch. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 48), S. 79–199, hier S. 131–156 ; Ders. u.a.: Gezählte Frömmigkeit im späten Mittelalter. In : FMSt 29 (1995), S. 1–71 ; Isnard W. Frank : Art. ›Beichte II‹. In : Theologische Realenzyklopädie 5 (1980), S. 412–421, hier S. 416 ; von Moos (Anm. 3), S. 102 f.; StörmerCaysa (Anm. 8), S. 68 f.; sowie Marianne Pratl : Von der Schuld zum Neubeginn. Die Beichte als Übergangsritual. Berlin u.a. 2008 (Theologie 85), S. 31. 18 Vgl. F. Merzbacher : Art. ›Beichtstuhljurisprudenz‹. In : Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1 (1971), Sp. 352–354, hier Sp. 352 f. Zum Entstehen von Handbüchern nach dem IV. Lateranum, in denen »die Welt der Sünden, der Tugenden, der Intentionen und Motive und die Grade der Freiheit und Verantwortung kasuistisch vermessen und systematisiert werden«, siehe Hahn (Anm. 6), S. 412. Vgl. auch Feistner (Anm. 3), S. 4 f.; sowie von Moos (Anm. 3), S. 102. 19 Störmer-Caysa (Anm. 8), S. 175. Vgl. auch Rüdiger Schnell : Die ›Offenbarmachung‹ der Ge-
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Form der Belehrung verstanden werden, »um den Beichtenden in die Kunst der Gewissenserforschung einzuführen«.20 Seit dem vierzehnten Jahrhundert wurden die Beichtsummen in die Volkssprache übertragen, sodass der »objektive Maßstab, der die Verbindlichkeit der Beratung durch den Beichtvater verbürgt«, für den Laien nachprüfbar wurde.21 So verwundert es auch nicht, dass das heterogene Spektrum der ›Bekenntnisliteratur‹ respektive das »System der Selbstbeobachtung« zu den Anfängen eines autobiographischen Schreibens gezählt und die Institution der Beichte als »Biographiegenerator[]« verstanden wird.22 Darüber hinaus wurde das Thema des Sündenbekenntnisses in der weltlichen, volkssprachigen Literatur zu einem weitverbreiteten Erzählmotiv. Beichtszenen finden sich in zahlreichen literarischen Gattungen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts : sei es in den höfischen Romanen, in den (höfischen) Legenden, in den Minnereden, in der Sangspruchdichtung oder aber in der didaktischen Literatur.23 Für die Epik sei hier nur exemplarisch auf Wolframs Parzival,24 Hartmanns Grego heimnisse Gottes und die ›Verheimlichung‹ der Geheimnisse der Menschen. Zum prozesshaften Charakter des Öffentlichen und des Privaten. In : Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hrsg. von Gert Melville/Peter von Moos. Köln u.a. 1998 (Norm und Struktur 11), S. 359–410, bes. S. 376 f. 20 Feistner (Anm. 3), S. 5. 21 Störmer-Caysa (Anm. 8), S. 175 ; sowie Ertl (Anm. 2), S. 41. 22 Zimmermann (Anm. 3), S. 344. Alois Hahn : Identität und Selbstthematisierung. In : Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis. Hrsg. von Alois Hahn/Volker Kapp. Frankfurt a. M. 1987, S. 9–24, hier S. 12 u. S. 18. Vgl. auch Zimmermann (Anm. 3), S. 344 f. 23 Zu ›höfischen Beichten‹ vgl. Jan-Dirk Müller : Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. München 2007, S. 333–339. Vgl. auch Alfred Schopf : Gawains Beichte. In : Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 22 (1981), S. 31–51. Zur Minnerede (Die Beichte einer Frau) vgl. Ludger Lieb/Peter Strohschneider : Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden. In : Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hrsg. von Gert Melville/Peter von Moos. Köln u.a. 1998 (Norm und Struktur 11), S. 275–305, hier S. 278–286 ; sowie Rüdiger Schnell : Darstellung und Bewertung des Ehebruchs in der mittelalterlichen Literatur. In : Intams Review 6 (2000), S. 17–33, hier S. 20 f. Zu zahlreichen weiteren Quellenhinweisen vgl. den Artikel von Feistner (Anm. 3). 24 Vgl. dazu Marina Münkler : Buße und Bußhilfe. Modelle von Askese in Wolframs von Eschenbach Parzival. In : DVjs 84 (2010), S. 131–159, hier S. 146–154, die u.a. einen direkten Vergleich zu den Beschlüssen und dem Beichtgespräch zwischen Parzival und Trevrizent sucht. Vgl. auch Stephan Fuchs-Jolie : Von der Gnade erzählen. Parzival, Gottes hulde und die Gesetze des Grals. In : FMSt 41 (2007), S. 435–446, bes. S. 436 f.; Wolfgang Haubrichs : Bekennen und Bekehren (confessio und conversio). Probleme einer historischen Begriffs- und Verhaltenssemantik im zwölften Jahrhundert. In : Wolfram-Studien XVI (2000), S. 121–156, hier S. 143–146 ; Ulrich Ernst : Die Auseinandersetzung mit häretischen Strömungen in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts. In : Geistesleben im 13. Jahrhundert. Hrsg. von Jan A. Aertsen/Andreas Speer. Berlin 2000, S. 362–392, hier S. 390 ;
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rius25 oder auf den Prosalancelot verwiesen.26 Die literarische Auseinandersetzung mit der Thematik erfolgt über Handlungssequenzen, Erzählerkommentare und Figurendarstellungen, die ein Problembewusstsein für eine sich wandelnde Gewissenserforschung aufweisen und je nach Erzählkontext eine zunehmende Innerlichkeit reflektieren.27 Mein Blick ist auf die geistliche und weltliche Kleinepik gerichtet, in der das Beichtmotiv eine besondere Aufmerksamkeit erfährt. Die mittelhochdeutsche Novellistik ist ein ›Kind des dreizehnten Jahrhunderts‹ und dies nicht zuletzt aufgrund der kulturhistorischen Prozesse, die neue Erzählverfahren und Erzählgegenstände forderten. Gerade für die vormoderne Novellistik ist daher auch die Beichtthematik von großer Bedeutsamkeit.28 In ihrer literarischen Reflexion der Beichte stechen wiederum zwei Aspekte hervor, die sich im weitesten Sinne als Bestandteil einer Rezeptionsgeschichte des Kanons 21 verstehen lassen :29 Auffallend ist, dass sich das Motiv der Beichte auf einen Reflexionskern reduzieren lässt, der die Auseinandersetzung mit dem ›Wo‹ und ›Wie‹ des Bekennens betrifft : vor einem Priester und mit wahrer Reue in lauten Worten.30 Zum einen setzt sich das Erzählmotiv also mit der Autorität des Beichtvaters im Machtdiskurs der Wahrheit auseinander, dessen Einfluss beständig zunahm, nicht zuletzt durch die seelsorgerischen Reformen des Laterankonzils.31 sowie Hans Bayer : Gral. Die hochmittelalterliche Glaubenskrise im Spiegel der Literatur. Stuttgart 1983 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 28,1), S. 133–138, zu Aspekten der Laienbeichte. 25 Vgl. in Auswahl Röcke (Anm. 5) ; Haubrichs (Anm. 24), S. 136–138. 26 Vgl. Christiane Witthöft : Vertreten, Ersetzen, Vertauschen. Phänomene der Stellvertretung und der Substitution im ›Prosalancelot‹. Berlin 2016 (Hermaea 141), S. 263–269. 27 Vgl. zu literarischen Quellen auch Dinzelbacher (Anm. 3), S. 49 f. u.a. 28 Vgl. zu zahlreichen Aspekten Ralph Tanner : Sex, Sünde, Seelenheil. Die Figur des Pfaffen in der Märenliteratur und ihr historischer Hintergrund (1200–1600). Würzburg 2005. So beginnt auch Boccaccios Decameron mit einer Beichtnovelle und die Canterbury Tales enden mit dem Motiv. Vgl. zu diesem Hinweis und zu einer Auseinandersetzung mit den Beichtmären Ann Marie Rasmussen : Gender und Subjektivität im Märe Die zwei Beichten (A und B). In : Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch u.a. Königstein 2005, S. 271–287, hier S. 272 mit Anm. 3. 29 Zur Rezeption dieses Paragraphen vgl. von Moos (Anm. 3), S. 101. In letzter Konsequenz führt nach von Moos ein Weg vom 21. Paragraphen zur Inquisition : »Der Paragraph 21 des Vierten Laterankonzils hat sich in ungeahnter Weise durchgesetzt. Das Geständnis als Geständnis hat eine Eigengesetzlichkeit entwickelt, die Sünden nicht aufdeckte, sondern dank der Findekunst der Beichtväter und Inquisitoren erst erschuf.« Ebd., S. 104 f. Vgl. zu diesem Ansatz aus literaturwissenschaftlicher Sicht : Feistner (Anm. 3), S. 8 : »Ältere Stofftraditionen paßten sich dabei im Laufe der Zeit auch den neuen Anforderungen an, die der Kontritionismus und kirchenrechtliche Veränderungen seit der Einführung der Beichtpflicht von 1215 implizierten.« 30 Zum biblischen Topos ›Herz und Mund‹ siehe unten. 31 Vgl. dazu Peter Dinzelbacher : Wenn Frauen beichten. Religiöse Erfahrung und Repression im Spätmittelalter. In : Ders.: Religiosität und Mentalität im Mittelalter. Klagenfurt,Wien 2003, S. 457–
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Die Bedeutung des beichthörenden Priesters liegt auf der Hand, war man doch letztlich von dessen Urteilsgewalt für das eigene Seelenheil abhängig : »Die Frage, ob eine Sündentat als tödlich oder als läßlich zu gelten hat, ist […] zuallererst in das Ermessen des Priesters als des Inhabers der Schlüsselgewalt gestellt.«32 So wurde aus dem Priester eine Art ›ratgebender Richter‹, der »Gewissensfragen (casus conscientiae) ethisch-kasuistisch zu entscheiden« hatte.33 Dies sollte literarische Konsequenzen haben, zählte doch die parodierende Kritik an unfähigen, disziplinlosen und unmoralischen Beichtvätern geradezu zum ›topischen Allgemeingut‹. Insbesondere im Kontext der zahlreichen Ehebruchmären erfährt der Gedanke, dass der Priester die inneren Sünden der Beichtenden hinterfragen und verstehen soll, eine herbe Polemik, indem gerade die nicht urteilsfähigen Beichtpfarrer zum Thema werden.34 Zum anderen dominiert in der novellistischen Reflexion der Aspekt des inneren, authentischen Willens des Beichtenden, welcher erst durch die laut ausgesprochenen Worte zum akzeptierten Bekenntnis der Reue wird. Gerade das laute Bekennen mit dem Mund vor dem Priester wird zum Garanten für eine aufrichtig empfundene Reue und Scham.35 Damit geht auch das Verbot einer schriftlich formulierten Beichte einher, im Kontext der Beichte wird die Schrift als Wahrheitsmedium abgelehnt.36 In der historischen Studie zur Wortfeldanalyse von Bernhard Jussen finden sich Hinweise auf eben diese beiden genannten Punkte, die für die literarische Reflexion von Bedeutung sind : Bereits im zwölften Jahrhundert lassen sich Häufungen im semantischen Feld von confessio feststellen, die sich auf das Priesteramt (sacerdos) und auf das »Aussprechen der Sünden ›mit dem Mund‹« (os) beziehen (»Kollokation 488, hier S. 461–466. Durch die Pflicht zur jährlichen Ohrenbeichte kam es zu »eine[r] ungeheure[n] Steigerung der priesterlichen Macht«. Von Moos (Anm. 3), S. 100. Vgl. auch Tanner (Anm. 28), S. 230–242. 32 Ohst (Anm. 2), S. 35. Zur zunehmenden »Schlüsselgewalt« der Priester seit dem Frühmittelalter vgl. in Auswahl : Karl-Josef Klär : Das kirchliche Bußinstitut von den Anfängen bis zum Konzil von Trient. Frankfurt a. M. u.a. (Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII. 413), S. 196 ; Jussen (Anm. 2), S. 27–47. »Hatte der frühmittelalterliche Priester nach einem festen Katalog Tarifbußen für begangene Vergehen aufzuerlegen, musste der spätmittelalterliche Priester die individuelle Schuld ermitteln, die […] Gesinnung, Absicht und Umstände in die Überlegungen mit einzubeziehen hatte.« Ertl (Anm. 2), S. 41. 33 Merzbacher (Anm. 18), Sp. 352 ; sowie Ohst (Anm. 2), S. 53 f. Ertl spricht gar von einer »bedingungslose[n] Auslieferung an den Priester«. Ebd., S. 281 (Anm. 2). 34 Zur »semantische[n] Bandbreite« der Priesterfigur in den Mären und zur historischen Entwicklung siehe Tanner (Anm. 28), bes. S. 75–91, S. 323–513 u. S. 184–188 (Zitat S. 16). Interessant ist auch, inwiefern in Wolframs Parzival Trevrizent im Nachhinein zu einem ›unzuverlässigen‹ Erzähler wird. Vgl. aber zum »Status des Priesters« in der Minnerede Lieb/Strohschneider (Anm. 23), S. 285. 35 Vgl. zum Aspekt der inneren, aufrichtigen Reue Feistner (Anm. 3), S. 11 ; sowie Ertl (Anm. 2), S. 276. 36 Siehe dazu die Beispiele bei Caesarius von Heisterbach.
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os/confessio«).37 Indirekt lässt sich hier auf die Praxis des lauten Sündenbekennens im Medium des gesprochenen Wortes verweisen, im Unterschied zum inneren, leisen Bekenntnis gegenüber Gott. Dies ist aber nicht als ein spannungsreicher Konflikt zu verstehen, sondern vielmehr im Sinne einer »semantische[n] Stabilisierung bestehender politischer (oder kirchenrechtlicher) Institutionen«, so Jussen – gestritten habe man über die »Notwendigkeit der sakramentalen Mittler erst später«.38 Davon vermag gerade auch die Literatur ein Zeugnis abzulegen. Die in der Ohrenbeichte geforderte laute Aussprache vor dem Priester führt in der literarischen Reflexion seit dem dreizehnten Jahrhundert immer auch zu einer Darstellung, wie der innere Wille in der Sprache zum Ausdruck kommt oder inwiefern der innere Wille Sprache manipulieren kann. Die beiden genannten Gesichtspunkte leiten meine Textanalyse, die sich den Fragen nach dem Verhältnis zwischen der Macht des Priesters und dem Wahrheitsmedium der Sprache, nach der Autorität des Priesters und der Funktion der Sprache im Ritual der Ohrenbeichte widmet. Seit dem dreizehnten Jahrhundert wird zunehmend die weltliche Kleinepik, die schwankhafte Märendichtung, zum Reflexionsmedium dieses diskussionswürdigen kulturhistorischen Paradigmas.
1.
Literarische Reaktionen auf die (Kirchen-)Reformen von 1215 lassen sich insbesondere in den geistlichen und didaktischen Erzähltraditionen, etwa in den Predigten, Exempeln oder bîspeln, feststellen.39 Eine deutliche Übernahme der jährlichen Osterbeichte findet sich in den Predigten Bertholds von Regensburg : Diu eine êre ist die man im ze dem minnesten eins bieten sol in dem jâre, daz in ze ôstern ein ieglich kristen mensche ze rehte enpfâhen sol mit wârer riuwe sîner schulde unde mit lûterr bîhte unde mit ganzem willen, die buoze ze leisten die man im gît.40 Beginnen möchte ich aber mit 37 Jussen (Anm. 2), S. 43. Ganz grundlegend wird in der Studie danach gefragt, ob sich »semantische Figurationen als Epochenindikatoren« nutzen lassen. Ebd., S. 28. Vgl. auch den Hinweis bei Münkler (Anm. 24), S. 148 mit Anm. 43. 38 Jussen (Anm. 2), S. 45. 39 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Hammer in diesem Band, S. 255–285. Vgl. zu den spezifischen Beichtexempeln Dietz-Rüdiger Moser : Art. ›Buße, Bußaufgaben‹. In : Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung 2 (1979), Sp. 1057– 1075. Vgl. ebd., Sp. 1062, zu Erzählungen über die »Suche nach dem zuständigen Beichtiger«. 40 Zitiert nach Berthold von Regensburg : Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen und Wörterbuch. Bd. 1. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Wien 1862, S. 339–356 u. S. 455–456. Vgl. zu dem Hinweis und der impliziten Weitergabe des Kanons 21 Stephen L. Wailes : Studien zur Kleindichtung des Stricker. Berlin 1981 (Philologische Studien und Quellen 104), S. 121 mit Anm. 33. Vgl. auch
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kurzen Hinweisen auf die geistliche Reimpaardichtung des Strickers, der vereinzelt als »Propagandist für die Reformen des Papstes Innocenz III.«41 bezeichnet wurde. Strickers Kenntnisse einzelner Dekrete des Konzils wurden in der Forschung immer wieder angenommen.42 In seinen geistigen bîspeln, insbesondere in Die Geistlichen, bestätigt er ex negativo tatsächlich einige Punkte aus den Dekreten : sei es das »Verbot der Priesterehe, des Kleiderluxus der Geistlichen [oder] der Ämterkumulation«.43 Für eine gewisse Vertrautheit spricht zudem, dass auch Innocentius namentlich genannt wird (V. 154).44 Im Unterschied aber zu den detailgetreuen Übernahmen der Kanones 14, 26 und 29 geht er »auf die kirchengesetzlichen Aspekte der einundzwanzigsten Konstitution« nicht im engeren Sinne ein : Zu wichtigen Punkten des Dekrets, sei es der feste Termin der Beichte, die Strafe bei Missachtung des Gebotes oder auch die geregelte Kommunionspflicht, schweigt er, so Stephen Wailes.45 So lässt sich der Stricker allgemeiner als ein Schreibender »augustinisch-franziskanischer Prägung«46 verstehen, dessen Bußlehre einen breiten Raum in seiner Dichtung einnimmt.47 Beständig wird das Bußsakrament in seinen geistlichen Texten als Schlüssel zur Heilsfindung propagiert,48 der Stricker kennt die theologischen Diskussionen
Ertl (Anm. 2), S. 276, der auf die »rhetorisch geschickte Weise« Bertholds verweist, die »Sündenlehre des IV. Lateranums […] zu popularisieren«. 41 Ute Schwab : Die bisher unveröffentlichten geistlichen Bispelreden des Strickers. Überlieferung – Arrogate – Exegetischer und literaturhistorischer Kommentar. Göttingen 1959, S. 265. Seine Beichtvorstellungen waren im »Sinne der Reform des Papstes Innozenz IIII.« Ebd., S. 242. 42 Vgl. dazu Wailes (Anm. 40), S. 119, S. 231 u. S. 250 ; Schwab (Anm. 41) ; Christa Ortmann/ Hedda Ragotzky : significatio laicalis. Zur Autorrolle in den geistlichen Bispeln des Strickers. In : Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium, Roscrea 1994. Hrsg. von Timothy R. Jackson u.a. Tübingen 1996, S. 237–253, hier S. 237 ; zuletzt John Margetts : ich han den mut und den sit/ den mich min herze leret. Eigen-Sinn beim Stricker ? In : Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme. Hrsg. von Emilio González/Victor Millet. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 199), S. 117–133, hier S. 120 f. 43 Schwab (Anm. 41), S. 265. Ortmann/Ragotzky (Anm. 42), S. 252, verstehen das bîspel als eine »bitterböse Abrechnung mit denen, die sich den Lateranbeschlüssen von 1215 entziehen oder ihnen zuwiderhandeln«. Vgl. auch Margetts (Anm. 42), S. 122. 44 Hier und im Folgenden zitiert nach Schwab (Anm. 41). Zu dem Hinweis siehe Wailes (Anm. 40), S. 119 u. S. 102. 45 Wailes (Anm. 40), S. 121. »[S]eine Beichtlehre […] verdankt dem Laterankonzil des Innozenz III. so gut wie nichts.« 46 Ortmann/Ragotzky (Anm. 42), hier S. 237, unter Hinweis auf Schwab (Anm. 41). Vgl. auch Wailes (Anm. 40), S. 102 u. S. 107. 47 Vgl. Wailes (Anm. 40), S. 121 u. S. 101. 48 Vgl. zu zahlreichen Belegen der Formel riuwe, bîhte und buoze Schwab (Anm. 41), S. 245. Vgl. etwa auch Der Stricker : Die Buße des Sünders oder Des Königs alte Kleider.
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der Frühscholastik und entwirft eine recht »konventionelle, kirchliche Bußlehre«.49 Allein in zwei geistlichen Erzählungen wird eine außerkirchliche Laienbeichte parodiert,50 ansonsten betont er die Autorität der Priester in ihrer Funktion als Stellvertreter Gottes : got hat uns alle pfaffen an siner stat geschaffen […] Swer gote wil sin gehorsam, der sol sinem bihtigaer sin alsam : er sol in an gotes stat suochen, so er die sele wil beruochen mit der geistlichen triuwe. (Die Messe, V. 509–519)51
Zudem finden sich in seinen rund zwanzig geistlichen Erzählungen zahlreiche Reflexionen über die »Priorität des freien Willens« im Kontext von Reue und Beichte.52 Im gleichen Sinne formuliert auch Wailes, dass die reflexiven Verben sich bekeren oder sich niuwe machen »die Verantwortung des Sünders für das eigene Wohl eindeutig« ausdrücken : Im Gesamteindruck ist von »eigener Initiative« oder auch von »totaler Verantwortung des Sünders selbst für die eigene Rettung« die Rede.53 Um nur ein Beispiel zu geben, sei auf die Darstellung eines Zweiflers verwiesen, dem der Heilige Geist erscheint : 49 Wailes (Anm. 40), S. 89 u. S. 118, zu zahlreichen Hinweisen auf die Beichte in den Texten des Strickers, u.a. zum Beichtvater. 50 In der Erzählung Der durstige Einsiedel, die Hanns Fischer : Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983, S. 100, zu den »Zechergeschichten« zählt, wird ein Trunkenbold vorübergehend zu einem Einsiedler und ›Beichtvater‹, der unter anderem einer Frau die Beichte abnimmt, bevor er ihr gegen die Gabe von Wein die Zukunft voraussagt. Vgl. zu einer weiteren Erzählung, Der Sünder und der Einsiedel, die Hinweise bei Wailes (Anm. 40), S. 89. Zur literarischen Verbreitung der Laienbeichte, die nur in Ausnahmefällen erlaubt war, vgl. Haubrichs (Anm. 24), S. 145. 51 Zitiert nach Schwab (Anm. 41). Bereits zuvor heißt es : swer kristenliche welle leben / und gote liebez opfer geben, / der sol sich machen niuwe. / er sol mit rehter triuwe / sinem bihtegaere künden / alle die namen siner sünden – / ob im diu zal ist unbekant, / so sag er doch, wie si sin benant – / und neme die buoze da zuo, / daz er sich der sünden abe tuo / die groz sint unde houbethaft, / so hat sin riuwe solhe kraft / und diu bihte, die er hat getan, / wil er den antheiz staete han, / daz got in sinem herzen huset / und sich so dar inne bekluset (V. 429–444). Vgl. auch Wailes (Anm. 40), S. 84 : In den geistlichen Erzählungen beruhen die »Anschauungen [des Strickers] auf den stellvertretenden Kräften der geweihten Priester«. 52 Ortmann/Ragotzky (Anm. 42), S. 237. 53 Wailes (Anm. 40), S. 108. »So versteht man seine Betonung des Wollens als dogmatisch gerechtfertige Taktik« (S. 109). Vgl. auch ebd., S. 110 u. S. 117.
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der bringet im solche riuwe, der er sich machet niuwe mit bihte und mit der buoze und mit kristenlicher unmuoze. (Vom heiligen Geist, V. 25–28)
Der Stricker zielt in diesem und in anderen Kontexten auf den eigenen, inneren und aufrichtigen Willen ; er betont die Aspekte der Freiwilligkeit und die wahre Intention, die hinter Ritualen und sprachlichen Zeichen stehen.54 Auch in Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Scheinbuße und Schattenstrafe oder der Absurdität von Gottesurteilen zur Wahrheitsfindung distanziert sich der Stricker von der Macht des symbolisch Performativen. In seiner Erzählung Das Heiße Eisen offenbart sich etwa anhand des manipulierten Gottesurteils ein Zweifel an rituellen Verhaltensmustern, ein Zweifel, der sich vielleicht auch auf das Verhältnis von Sprache in ritualisierten Beichtakten übertragen lässt.55 In der »Wahrheitstechnologie der Beichte«56 soll gerade die Sprache aufrichtig und ernst gemeint sein, um zu wirken. Die Beichte ist als ein Sprechakt zu verstehen, dessen Wahrheitsgehalt umfassend und unbezweifelbar sein muss, basiert er doch auf einer vorausgehenden inneren Einsicht und Reue.57 Im weiteren Sinne aber handelt es sich auch um einen Bestandteil einer rituellen Sprachhandlung mit symbolischem Gehalt, da die Reue letztlich nicht ›ersichtlich‹ oder überprüfbar ist und immer auch die Paradoxie greifbar ist, dass die innere Gewissensanalyse mit einer ritualisierten Vergebung einhergeht.58 An diesen Gedanken anschließend lässt sich fragen, ob die Beichte in der Fiktion als eine Art performativer Sprechakt vorgeführt wird,59 54 Vgl. Wailes (Anm. 40), S. 107–109 u. S. 117. Vgl. zum »laikale[n] Autor-Ich« des Strickers Nicole Eichenberger : Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters. Berlin u.a. 2015 (Hermaea 136), S. 178 ; sowie Ortmann/Ragotzky (Anm. 42), S. 238. 55 Vgl. Christiane Witthöft : Ritual und Text. Formen symbolischer Kommunikation in der Historiographie und Literatur des Spätmittelalters. Darmstadt 2004 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), S. 267–309. Zu Gottesurteilen siehe auch den Beitrag von Tobias Bulang in diesem Band, S. 237–253. 56 Rasmussen (Anm. 28), S. 272 : »als eine kulturelle Technik, die das Verhältnis von Wissen und Realität organisiert und die eine entscheidende Rolle in der Entwicklung westeuropäischer Diskurse über Individualität, Subjektivität und Sexualität gespielt haben soll.« 57 Vgl. etwa die Ausführungen zum »Gebot der Wahrhaftigkeit« in der Beichtsumme des Alanus ab Insulis Ohst (Anm. 2), S. 81 f. 58 Hahn (Anm. 6), S. 416, spricht von einer »gleichsam magischen Gewalt des Priesters, dem reuigen Sünder seine Schuld zu vergeben«. 59 »Die Absolution als Lossprechung von Sünden ist im Sinne der Sprechakttheorie zweifellos ein performativer Sprechakt.« Die Kirche versuchte, »die Legitimität dieses Sprechakts auf von ihr bestellte Funktionsträger, nämlich die Priester, zu beschränken.« Münkler (Anm. 24), S. 148 mit Anm. 44. Deutlich wird dies etwa in den Beichtmirakeln, in denen die Sündenregister der Menschen in dem Moment gelöscht sind, in dem der Priester die Absolution erteilt, noch vor der Bußleistung. Vgl. zu
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bei dem die bloße Äußerung, das Bekenntnis mit dem Mund, innere Veränderungen bewirkt, Schuld tilgt und Erlösung verspricht. Wie steht es um das Verhältnis von Intention und Sprache, von innerer Einstellung und bloßem Wortlaut ? Derartige Überlegungen zur Wirksamkeit der Sprache dominieren einen Erzählduktus, in dem die mögliche Differenz zwischen Sprechakt und dem inneren Willen zum Thema wird. Denn mit der Erzählung Der Richter und der Teufel greift der Stricker einen Erzählstoff auf,60 in dem unreflektierte Sprachhandlungen eine wesentliche Rolle spielen und sich allein der Teufel an die Intention der ausgesprochenen Worte gebunden fühlt. Deutlich wird eine »juristische[] Hermeneutik« vorgeführt, die sich auch als eine religiöse Hermeneutik verstehen lässt, indem nicht »der bloße Wortlaut […] für eine rechtsverbindliche Aussage entscheidend [ist], sondern die eigentliche Intention der Botschaft«, so Hartmut Bleumer.61 Für die Beichtthematik ist daher ein Text des Strickers von Interesse, den Hanns Fischer zu den ›Teufelserzählungen‹ zählt62 und der in mindestens einer Handschrift, der Münchener Handschrift Q (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 273), im Überlieferungsverbund mit seiner geistlichen Dichtung steht.63 Obgleich in Der Richter und der Teufel das Erzählmotiv der Beichte nicht thematisiert wird, lässt die histoire ein grundlegendes Erzählinteresse an listig intendierten und inszenierten Sprachhandlungen erkennen. Damit ist die Macht der Worte gemeint, die Sprachgewalt, auf die zuletzt Bleumer aufmerksam gemacht hat.64 Die »performative Macht des sprachlidem Hinweis Ertl (Anm. 2), S. 275. »In christl. Tradition wird unter B. das Sündenbekenntnis im Vollzug des christl. Bußsakraments mit priesterlicher Lossprechung (Absolution) von Sündenschuld […] verstanden.« Tubach (Anm. 11), Sp. 45. 60 Vgl. zur umfassenden Stoffgeschichte und zur Überlieferungsgeschichte, etwa in Rechtshandschriften und geistlicher Literatur, Franz-Josef Holznagel : Von diabolischen Rechtsbrechern und gesetzestreuen Teufeln. Drei Ausgestaltungen eines Erzählstoffes und ihre Kontextualisierungen bei Cäsarius von Heisterbach, Chaucer und dem Stricker. In : Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel u. a. Tübingen 2003, S. 159–173, bes. S. 159 f. u. S. 171 f. 61 Hartmut Bleumer : Vom guten Recht des Teufels. Kasus, Tropus und die Macht der Sprache beim Stricker und im Erzählmotiv ›The Devil and the Lawyer‹ (AT 1186 ; Mot M 215). In : LiLi 163 (2011), S. 149–173, hier S. 157. So lässt sich in Anlehnung an Bleumer (S. 158) fragen, der den Teufelspakt als »mündlich performative[] Absprache« versteht (S. 148), ob der Beichte aufgrund der zahlreich vorgeführten Manipulationen eine persuasive Macht zugeschrieben wird. 62 Vgl. Fischer (Anm. 50), S. 49 f. 63 Vgl. dazu Holznagel (Anm. 60), S. 172. Zur Verbindung von Bibelversen und bîspeln in dieser Handschrift vgl. auch Schwab (Anm. 41), S. 240. 64 »Gerade in den Texten des Strickers ist das list-Handeln immer auch kalkuliertes Sprachhandeln.« Bleumer (Anm. 61), S. 156. Zu weiteren Ansätzen, diesen Text zu interpretieren, vgl. die Hinweise bei Alwine Slenczka : Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle. Münster 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 5), S. 112 f.
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chen Aktes«,65 die auch einen entscheidenden Reflexionskern in den Beichtmären darstellt, steht in dieser konkreten Erzählung im Kontext der Rechtshandlung einer Teufelspakterzählung und im Kontext der Sprachhandlung des Fluches, der in »heiligem Ernst gesprochen werden« muss, um wirksam zu sein.66 Ich fasse den Inhalt kurz zusammen : Ein durchtriebener, mächtiger und sündiger Richter trifft auf den Teufel und befiehlt diesem, seine Person vorzustellen und seine Absichten darzulegen. Der Teufel erwidert, er würde auf den Markt gehen, um dort all das zu nehmen, ›swaz man mir ernstlichen git‹ (V. 50).67 Der Richter wird nun aus eigenem Wunsch zum Augenzeugen dieses Geschehens – ›swaz dir hiute wirt gigeben / mit willen ane wider streben, / daz wil ich dich sehen nemen‹ (V. 103–105) –, ohne zu wissen, dass er in sein eigenes Verderben läuft. Das Schwankschema ist ganz einfach :68 Dreifach werden der Teufel und der Richter zum Ohrenzeugen, wie drei Frauen nacheinander zwei störrische Tiere und schließlich ein kleines Kind zum Teufel wünschen. Während der Richter die Sprache für bare Münze nimmt und den Teufel auffordert, das Verfluchte oder Verwünschte zu nehmen, weist ihn der Teufel zurecht : Er könne den Fluch einer Frau, die ein störrisches Schwein zum Teufel wünscht, nicht ernst nehmen. Er belehrt den Richter mit den Worten : ›ezn ist ir ernst leider niht,‹ sprach der tivel wider in. ›ich furt ez willechlichen hin, gæbe si mirz mit der warheit. næme ich irz, ez wære ir leit‹ (V. 136–140).
Diese Szene wiederholt sich mit einem Rind, welches ohne tiefere Reflexion von einer dümmlichen Frau verflucht wird (›ez irret ein vil charger list‹, V. 150). Schließlich wird ein Kind von seiner Mutter gemahnt, dass es der Teufel holen werde, wenn es nicht gehorche : ›dune wil niht tun durch mich. / der ubel tivel neme dich‹ (V. 159 f.). Erneut aber erklärt der Teufel dem Richter, dass er keinen Anspruch auf das Kind 65 Bleumer (Anm. 61), S. 158. 66 Ebd. Vgl. zum Aspekt des »Wortzaubers« in archaischen Formen des Bekenntnisses Alois Hahn : Schuld und Fehltritt, Geheimhaltung und Diskretion. In : Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hrsg. von Peter von Moos. Köln u.a. 2001 (Norm und Struktur 15), S. 177–202, hier S. 190. 67 Hier und im Folgenden zitiert nach Der Stricker : Der Richter und der Teufel. In : Die Kleindichtung des Strickers. 5 Bde. Hrsg. von Wolfgang Wilfried Moelleken u.a. Göppingen 1973–1978 (GAG 107,I–V), Nr. 126. 68 Nach Holznagel (Anm. 60), S. 160 mit Anm. 6, beruht die »Minimalstruktur […] auf der Opposition zwischen einem uneigentlichen und einem eigentlichen Fluch« – so etwa bei Hans Sachs.
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habe, weil die Worte – diesmal ist es ein Sprichwort – nicht ernst gemeint seien : ›ichn han da rehtes niht an‹ (V. 162). Als aber abschließend eine alte Frau den Richter sieht, der ihr grundlos ihren Lebensunterhalt zerstört hat, bittet sie bei Gott, dass ihn der Teufel holen möge. Dies ist nun keine Floskel, sondern eine intendierte Bitte aus tiefstem Herzen, die zugleich »in einer symbolisch wirksamen Form vorgetragen wird« : Zuerst schildert sie den Fall, dann spricht sie ein »Verdammungsurteil als Richterspruch inklusive Urteilsbegründung« und bittet Gott um Vollstreckung.69 Sofort reagiert der Teufel, ›der rede ist ernst. nu nim war‹ (V. 203), indem er den Richter an den Haaren in die Lüfte zieht (V. 217).70 In dieser Erzählung offenbart also gerade der Teufel ein richtiges Urteilsvermögen, indem er die Macht des intendierten Sprechaktes von nichtssagenden Floskeln unterscheidet.71 Für ihn sind der Wille und die Absicht der Worte ausschlaggebend, um ein Urteil zu fällen, während der Richter dem bloßen Wortlaut aufgesessen ist.72 Kurzum : Die rituellen, aber unreflektierten Sprachhandlungen haben in diesem Erzählstoff keine bzw. eine enorme Wirksamkeit – je nach Lesart des Textes. Die Figur des Teufels, hier als Bewahrer des aufrichtigen Wollens inszeniert, taucht beständig in den Erzählkonstellationen der geistlichen Dichtung des Strickers auf, um auf die Leistungsfähigkeit der Beichte zu verweisen, die im Ermessen eines jeden Gläubigen steht. So heißt es in Der steinige Acker, dass jeder selbst für die ›Reinigung‹ des eigenen Ackers von den Steinen der Sünde zuständig sei, denn : der tivel ist gar schuldic niht, daz uns so dicke misseschiht : ez si daz wip, ez si der man, ez enmac der tivel noch enkan der sünden niht betwingen, wir müezen si vol bringen mit unserm boesen muote. (V. 113–119)73
69 Bleumer (Anm. 61), S. 159. 70 »Zur sprachlich-performative[n] Qualität« dieser Szene s. Bleumer (Anm. 61), S. 160 : »Im Moment des Ausspruches ist nämlich die Strafe schon gegenwärtig.« 71 Zur Parodie, dass gerade der Teufel und nicht der Richter sich an die Gesetze hält und Mitleid zeigt bzw. eine Angemessenheit wahrt, vgl. Holznagel (Anm. 60), S. 170 ; sowie Eichenberger (Anm. 54), S. 181 f. 72 Reziprok folgten auch seine eigenen richterlichen Sprüche allein dem »bloßen Wortlaut«, waren aber »niemals billig«. Bleumer (Anm. 61), S. 161. 73 Zitiert nach Schwab (Anm. 41), Nr. 149, S. 213–215. Vgl. zu dem Hinweis auch Ortmann/Ragotzky (Anm. 42), S. 238–240.
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In vergleichbarer Weise klagt auch Berthold von Regensburg in seiner Predigt Von der bîhte über Versuche des Teufels, die Beichte zu stören und den Menschen zu verführen. Ganz besonders aber beschuldigt Berthold diejenigen, die ihre Verfehlungen und Sünden – noch in der Beichtsituation – dem Wirken und Ratschlägen des Teufels zuschieben. Diesen ›Ausflüchten‹ widersetzt er sich vehement, denn jeder wahrhaft Gläubige könne dem teuflischen Willen widerstehen : Ez ist dehein mensche sô armez noch sô krankez, daz erz ihtes betwingen möhte, wan als vil als er im verhenget über sich selber.74 Weiterhin formuliert Berthold in seinem fingierten Dialog, dass sich ein jeder zu seinem eigenen ›bösen Willen‹ bekennen soll : Herre, mir geriet ez mîn bœser wille, des gib ich mich iu unde dem almehtigen gote schuldic unde bit iuch durch got, daz ir mir buoze dar für gebet, dâ mite ich kume in die gemeinde der heiligen kristenheit.75 Dieses Sündenverständnis, welches auf einer individuellen Intentionalität aufbaut, wird zur Grundlage der Praxis des Beichtens und Bekennens76 auch in Verbindung mit ganz unterschiedlichen Figurendarstellungen der Mären. In den Erzählungen wird deutlich, dass die »Ausdrücke [bekanntnisse und bekennen] […] sowohl den kognitiven Akt des Einsicht-Erlangens (nhd. erkennen) [bezeichnen] als auch den kommunikativen Akt des Mitteilens (nhd. bekennen), wobei sich ersteres auf den Sprecher bezieht, letzteres auf den Adressaten« – so Hildegard Keller, die die bîhte als eine »kontextbedingte Spezifizierung« des Bekennens versteht.77 Hier schließen sich nun meine Überlegungen zur Beichtthematik an.78 Denn gerade in den Beichtmären, also in den Texten, in denen ein Sprachritual als Technik oder Ort der Wahrheitsproduktion zu verstehen ist, wird das gesprochene Wort manipuliert und werden bestenfalls Halbwahrheiten offenbart. Das Ideal, dass das Bekenntnis mit dem Mund die Einsicht des Herzens wiedergibt, wird ständig unterlaufen. Derart wird pointiert, dass in zahlreichen Mären die ausgesprochene Wahrheit im Ritual von Konstellationen der Macht abhängig ist, gemäß der foucaultschen Prämisse, dass die Wahrheitsproduktion »von Machtbeziehungen durchzogen« sei.79
74 Berthold von Regensburg : Predigten (Anm. 40), S. 342, Z. 28–30. 75 Berthold von Regensburg : Predigten (Anm. 40), S. 346, Z. 36–39. Vgl. dazu auch Ertl (Anm. 2), S. 276. 76 Vgl. Angenendt (Anm. 2), S. 614–625 u. S. 628–658. 77 Hildegard Elisabeth Keller : Vom beredten Bekenntnis Verstummender. Kommunikationstheoretische und sprachtheoretische Reflexionen zu menschlicher Sprachnot in deutschsprachiger Literatur. In : LiLi 126 (2002), S. 48–78, hier S. 51. 78 Zu zahlreichen Variationen in den Beichtschwänken vgl. Elfriede Moser-Rath : Art. ›Beichtschwänke‹. In : Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung 2 (1979), Sp. 49–55 ; sowie zu zahlreichen Spielarten auch Tanner (Anm. 28), S. 555–562. 79 Foucault (Anm. 8), S. 1073.
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Ich gebe ein Beispiel : In der Stofftradition von der Beichte der Ehefrau (AaTH 1410) verdächtigt ein »eifersüchtiger Ehemann […] seine Ehefrau des Ehebruchs und will ihr, um sich Gewißheit zu verschaffen, als Priester verkleidet die Beichte abnehmen. Sie durchschaut ihn und bekennt, mit einem Diener, einem Ritter, einem Narren und einem Pfaffen geschlafen zu haben. Als der Mann sich wütend zu erkennen gibt, erklärt sie, in jedem Fall nur ihn selbst gemeint zu haben : Erst habe er ihr gedient, dann sei er in den Krieg gezogen, ein Narr sei er in seiner Eifersucht und als Priester habe er ihre Beichte gehört.«80
Deutlich wird, wie zum einen das Machtverhältnis verkehrt wird, sollte doch die Macht im Beichtdiskurs bei dem Priester liegen, der fragt, »lauscht und schweigt ; nicht mehr bei dem, der weiß und antwortet«.81 Dieses Verhältnis wird nun in den Schwankmären parodierend ins Gegenteilige verkehrt.82 Es sind vor allem die sehr willensstarken Frauen, die mittels ihrer Wortgewalt und Sprachmächtigkeit in den Szenen des Bekennens eher ihren Willen durchsetzen als die Wahrheit offenbaren. Zugleich wird auch die Beichte als wahrheitsschaffendes Medium vorgeführt, da sie auf ihren Kern verzichten muss : den (eindeutigen) Wahrheitsgehalt des gesprochenen Wortes bzw. den inneren Willen und die wahre Reue des Beichtenden. Die Sprache als Wahrheitsgenerator wird vorgeführt, wenn der Wille des Sprechenden auf Manipulation und Verkehrung aus ist. 80 Elfriede Moser-Rath : Art. ›Beichte der Ehefrau‹. In : Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung 2 (1979), Sp. 48–49, hier Sp. 48. Vgl. zu Missverständnissen, Verkehrungen und Doppeldeutigem im Kontext der Beichten Moser-Rath (Anm. 78), Sp. 49 f. u. Sp. 52. 81 Foucault (Anm. 8), S. 1075 f.: »Nun ist das Geständnis ein Diskursritual, in dem das sprechende Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt, und zugleich ist es ein Ritual, das sich innerhalb eines Machtverhältnisses entfaltet, denn niemand leistet sein Geständnis ohne die wenigstens virtuelle Gegenwart eines Partners, der nicht einfach Gesprächspartner, sondern Instanz ist, die das Geständnis fordert, erzwingt, abschätzt und die einschreitet, um zu richten, zu strafen, zu vergeben, zu trösten oder zu versöhnen ; ein Ritual, in dem die Wahrheit sich an den Hindernissen und Widerständen bewährt, die sie überwinden mußte, um zutage zu treten ; ein Ritual schließlich, wo die bloße Äußerung schon – unabhängig von ihren äußeren Konsequenzen – bei dem, der sie macht, innere Veränderungen bewirkt : sie tilgt seine Schuld, kauft ihn frei, reinigt ihn, erlöst ihn von seinen Verfehlungen, befreit ihn und verspricht ihm das Heil. […] Umgekehrt liegt die Herrschaft nicht mehr bei dem, der spricht (dieser ist der Gezwungene), sondern bei dem der lauscht und schweigt ; nicht mehr bei dem, der weiß und antwortet, sondern bei dem, der fragt und nicht als Wissender gilt. Und schließlich erzielt dieser Wahrheitsdiskurs seine Wirkung nicht bei dem, der ihn empfängt, sondern bei dem, dem man ihn entreißt.« 82 »Die realiter dominierende Rolle des Beichtvaters wird im Schwank in Frage gestellt, der Effekt der Beichte ad absurdum geführt.« Moser-Rath (Anm. 78), Sp. 50.
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Ähnliches findet sich in dem Märendialog zwischen Pfaffe und Ehebrecherin, der seit dem dreizehnten Jahrhundert überliefert ist und der die Mehrdeutigkeit der Bekenntnisrede zum intellektuellen Spiel werden lässt.83 In der anonym überlieferten Version A verlangt ein Pfaffe von einer Ehebrecherin, entweder Buße zu leisten oder aber sich von der Kirche fernzuhalten (V. 1–5). Da die Angesprochene keinen Fürsprecher findet,84 bittet sie den Pfaffen um die Erlaubnis, selbst für sich zu sprechen, sodass ein verbaler Schlagabtausch beginnen kann. Als ihr der Pfaffe etwa vorwirft, die Ehe gebrochen zu haben – ›ir hat iur e zebrochen‹ (V. 32)85 –, verweist sie auf ihren Ehemann, der ja wohl noch sehr heil bei ihr stünde : ›diʃer ist min eman. den ʃeht ir alle wol hie ʃtan geʃunt und ʃtarc bi mir hie. den han ich zebrochen nie an liden noch an libe‹. (V. 39–43) Der Pfarrer versteht das Spiel mit der doppelten Wortbedeutung nicht und offenbart derart seine Untauglichkeit für ein Urteil. Er wirft ihr weiterhin vor, dass sie sich von fremden Männern minnen ließe (V. 47). Sie aber kontert : ›ich gewan nie man, ich enkant in wol‹ (V. 51). Bevor sich dieses Wortspiel das dritte Mal in Anklage und Reaktion äußert, zeigt der Pfaffe erste Anzeichen von Zorn (uz zorneclichem muot er ʃprach, V. 56), das Kirchenvolk beginnt schließlich zu lachen und ermahnt den Pfarrer, seine aneʃprache zu mazen (V. 70). Die Frau hat das Rededuell gewonnen und von einer Buße kann keine Rede mehr sein, vielmehr muss der Pfarrer die Kirche verlassen. Das Epimythion formuliert dann, dass der Sprachmächtige bleibt, wo immer man ihn auch vertreiben will : wer noch wol geredet ʃi, / daz der dicke mac beliben, / ʃo man in wil vertriben (V. 78–80). Die kirchliche Beichte wird zum Ort eines Kräftemessens, eines Rededuells, welches der Pfaffe gemäß des Schwankschemas natürlich nicht gewinnt. Die »Schlüssel83 Vgl. auch Fischer (Anm. 50), S. 499 f.; sowie Tanner (Anm. 28), S. 478–483. 84 do enkunde ʃi deheinen / vürʃprechen vinden / der ʃich wolt underwinden / daz er ir wort ʃprechen wolte. (V. 18–21). Zitiert nach Neues Gesamtabenteuer, das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts in neuer Auswahl. Hrsg. von Werner Simon. Mit den Lesarten besorgt von Max Boeters und Kurt Schacks. Bd. 1 (2. Aufl.). Dublin, Zürich 1967, Nr. 5, S. 47–48. 85 Bei Hans Folz, Pfaffe und Ehebrecherin, liest man : ›Mein ee, das pin ich und mein man : / Die secht ir peyd gesunt hie stan ; / Keyn glyd an uns zubrochen ist.‹ (V. 35–37). Hier und im Folgenden zitiert nach Hans Folz : Die Reimpaarsprüche. Hrsg. von Hanns Fischer. München 1961 (MTU 1), Nr. 19, S. 140–145.
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gewalt des Priesters« bzw. die »disziplinierende Einflussnahme des Geistlichen auf die Laien« wird in den Mären immer verkehrt.86 Sieger sind der Laie und die Macht der Rede, der Doppelsinn der Sprache, Wortwitz und Schlagfertigkeit. Die Sprache darf im Beichtkontext der Mären gar nicht aufrichtig und ernst gemeint sein, um zu wirken. Derart wird die Beichte als Wahrheitstechnologie regelrecht vorgeführt. Im fünfzehnten Jahrhundert erfährt diese Stofftradition dann weitere Implikationen, indem der gleiche Erzählstoff bei Hans Folz’ Pfaffe und Ehebrecherin ein anderes Epimythion findet : Pey dysem pfarrer, weyb und man Drey mercklich ding sein zu verstan : Gedechtnuß, wil und die vernunfft, Die dan regirn die menschlich zunfft. (V. 91–94)
In einer allegorischen Darlegung, die sich zu Beginn der langen abschließenden Betrachtungen findet, verkörpert der Pfaffe die vernunfft (V. 95), der Ehemann gedecht nuß (V. 103) und die Ehefrau den eygen willn (V. 109).87 Und es ist natürlich gerade der starke, innere Willen, der die Beichte zu einer Farce werden lässt : Der Wille vermag das Gedächtnis und die Vernunft zu besiegen.
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Bei Hans Folz findet sich eine weitere kritische Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsgehalt des gesprochenen Wortes in einem Sündenbekenntnis. In der Missver ständlichen Beichte wird der Ich-Erzähler Zeuge einer Beichte, in der ein Mann zunächst sexuelle Vergehen mit Tieren offenbart : ›Ich hab mich gar gröblich verschult / Mit unczal sünden, groß und schwer. / Die erst : ich nam eim hund sein er […]‹ (V. 4–6). Nach einer längeren, katalogartigen Aufzählung zahlreicher Tiere ergänzt er dann noch inzestuöse Verfehlungen mit der Mutter – ›Mein muter schwengert ich ein nacht‹ (V. 17) –, der Schwester und der eigenen Tochter. Wegen dieser Vergehen fragt er seinen Beichtvater um einen Rat (V. 22), der ihn nach Androhung roher Gewalt nur nach Rom verweist : ›Darum heb dich neur hin gen Ram, / Doselbst vorm babst du dich verscham‹ (V. 29 f.). Ein herzliches Lachen ist die Reaktion des Beichtenden, der dem Beichtvater umgehend anempfiehlt, selbst nach Rom zu reisen und ihm vorwirft, zu 86 So Dinzelbacher (Anm. 3), S. 50, über die »Konsequenzen der Durchsetzung des Kanons ›omnis utriusque‹«. 87 Vgl. dazu Fischer (Anm. 50), S. 459.
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schnell zu urteilen : ›her, ir seit zü gswint‹ (V. 46), schließlich sei alles nur ein Missverständnis.88 So folgt ein längerer Monolog, in dem der Beichtende seine Sünden und Verfehlungen erneut selbst dar- und zugleich auslegt, unterbrochen von provozierenden, auffordernden Sprechakten : ›Secht, mein her, das ging also zu‹ (V. 68), ›Secht, herr, also müst irs versten‹ (V. 102). Er erläutert die wahren Begebenheiten hinter seinen Worten, die auf Doppeldeutigkeiten beruhen, etwa dass er die Ehre des Hundes genommen habe, indem er diesen in die Küche eingesperrt habe und ihn eines Fleischdiebstahls beschuldigte, den er selbst begangen habe. Die Schwangerschaft seiner Mutter wiederum meinte er so, dass er selbst ja in ihrem schwangeren Leibe war : ›Mit meiner muter welt verstan, Die ich fürwar geschwengert han : Ich mein, do sie mich drug in ir, War sie geschwengert gnug mit mir‹. (V. 95–98)
Der Geistliche reagiert empört über diese verspätete Darlegung der Wahrheit, aber der Beichtende belehrt ihn und betont erneut, dass der Rat des Beichtvaters zu schnell, ja vorschnell und im Zorn getroffen worden sei : ›her, ir seit zu gech. E einr halp endet sein gesprech, So hept ir an ein sülchs verwundern Mit hageln, pliczen, schaurn und dundern Und welt vor zorn hintenaus varn. Künt ir darmit vil sel bewarn, Bedunckt mich glauplich nümer mer.‹ (V. 125–131)
Ganz konkret legt der Ich-Erzähler dann offen, dass er diese Beichte gedichtet habe, um den Beichtvater zu unterrichten : ›Wan ich dis peicht drum hab gedicht, / Auff das ich euch recht unterricht‹ (V. 133 f.). Die missverständliche Beichte soll also dazu dienen, den Beichtvater zu erproben und ihm wegen seines mangelnden Urteilsvermögens eine Lehre zu erteilen. So folgt ein langes Epimythion darüber, »[w]ie sich ein guter Beichtiger verhalten soll«.89 Dieser soll zuerst wahrnehmen, in welcher seeli88 Vgl. zu diesem Märe auch Tanner (Anm. 28), S. 460–466. Zu dem Motiv des Missverstehens vgl. Moser-Rath (Anm. 78), Sp. 52. 89 Vgl. auch Fischer (Anm. 50), S. 454. Beim Stricker finden sich wiederum Reflexionen darüber, dass die Absolution durch einen dummen Priester nicht zähle (Dem König und seinem Feind). Vgl. dazu Wailes (Anm. 40), S. 132.
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schen Verfassung der Beichtende ist. Denn wenn dieser vorchtsam und erschrocken sei (V. 146), muss der Priester in der Lage sein, ihm die Furcht zu nehmen und mit zahlreichen Ausführungen Mut zuzusprechen (V. 145–184) : ›Dan sprech im aber gütlich zu, / Das er sein peicht fürderlich thu‹ (V. 185 f.). Nur so könne der Beichtende wahre Reue empfinden und seine Sündentaten ergründen, um diese umfassend zu beichten : Also der sünder wirtt gesunt (V. 218). Mit Muße und (biblischen) Argumenten soll für die richtige Reue geworben und der Beichtende motiviert werden, das Beichtgeschehen auch zu verstehen. Erklärungen und Hilfestellungen werden verlangt, keine ›erkauften‹ Beichten (V. 220) ;90 die Gewissenserforschung soll nicht rein systematisch erfolgen, sondern die individuellen Eigenarten des Beichtenden mitberücksichtigen.91 In der volkssprachigen Reflexion des Spätmittelalters wird also vermehrt auf das Verstehen des Beichtvorgangs Wert gelegt. Von den Beichtvätern wird zunehmend ein individuelles Erkennen in der Buße eingefordert, je nach Bildungsgrad, Sprachvermögen oder auch Charaktereigenschaften des Beichtenden.92 Auch dies lässt sich als ein Bestandteil der langen Entwicklungsgeschichte der Beichtkultur verstehen, die mit dem 21. Kanon des Laterankonzils eine weitere Wendung genommen hat. Zunehmend werden das Sündenverständnis individualisiert und der Wille und die Intention des einzelnen, sündigen Menschen aufgewertet.93 Zugleich müssen die Priester den wahren Kern des Gesprochenen erkennen und die Sünder richtig unterweisen. Das bedeutet letztlich auch, dass die Beichte ihren Wert erst durch die richtige Autorität eines klugen, rechtgläubigen Priesters bekommt, der sich wahrlich als Stellvertreter Gottes auszeichnet, indem er den Wahrheitsgehalt der Sprache erkennen kann.94 Der Beichtkanon steht daher auch in Verbindung mit den Konstitutionen, die eine zunehmende Seelsorge und »Fortbildung der Kleriker« fordern.95 90 Zu ähnlichen Klagen über Beichtiger aus historischen Quellen vgl. Dinzelbacher : Wenn Frauen beichten (Anm. 31). S. 457–460. 91 Vgl. Zimmermann (Anm. 3), S. 348 f. 92 Vgl. dazu Feistner (Anm. 3), S. 13 f.; sowie Moser (Anm. 39), Sp. 1069. 93 Feistner (Anm. 3), S. 11 f. u. S. 14. Vgl. auch Dinzelbacher (Anm. 31), S. 43 ; sowie Ertl (Anm. 2), S. 41. 94 Die Beichtschriften verlegten zunehmend »das Hauptgewicht von der Natur der Sünde auf das Gewissen des Sünders. […] Die Beichtväter wurden angewiesen herauszufinden, ob der Sünder willentlich oder mit Einsicht handelte oder ob er beabsichtigte zu sündigen, ohne seine Absicht tatsächlich auszuführen«. Zimmermann (Anm. 3), S. 350. Zur »Verwendung des doppeldeutigen, humorbeladenen Sprachgebrauchs« im Kontext der Beichtmotivik s. Tanner (Anm. 28), S. 467. 95 Karl Stürmer : Konzilien und ökumenische Kirchenversammlungen. Abriß ihrer Geschichte. Göttingen 1962, S. 119. Vgl. zu den zahlreichen »Mißstände[n] bei den Klerikern«, gegen die die Dekrete des Laterankonzils vorgehen, ebd., S. 117 f. Vgl. auch Ohst (Anm. 2), S. 46 ; Frank (Anm. 17), S. 41 ; sowie ausführlich Tanner (Anm. 28), S. 91–98 u. S. 151–155. Vgl. auch den Beitrag von Jörg Oberste in diesem Band.
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Hier liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Priester die »Umstände des Sünders und der Sünde« mit Sorgfalt erforschen sollen, wie es im Beichtkanon formuliert ist, der auch auf die grundlegende ›Beschaffenheit‹ der beichthörenden Priester eingeht : ›Der Priester, der die Beichte hört, ist besonnen und vorsichtig und gießt so nach Art eines erfahrenen Arztes Wein und Öl auf die Wunden des Verletzten (Lk 10,34) ; er erforscht mit Sorgfalt die Umstände des Sünders und der Sünde. Daraus erkennt er mit Klugheit, welchen Rat er dem Beichtenden geben und welches Heilmittel er anwenden soll, wobei er sich zur Heilung des Kranken zahlreicher Heilmethoden bediene.‹96
Auch im zehnten Kanon, Von der Einsetzung von Predigern, wird auf »geeignete Männer, mächtig in Tat und Wort« verwiesen,97 schließlich müssen sie die Intention, den inneren Willen des individuell Beichtenden berücksichtigen.98 Weiterführen möchte ich meine Überlegungen daher mit einem Textbeispiel aus der Stofftradition der Zwei Beichten (Von dem man der beicht der frawen), die ebenfalls im fünfzehnten Jahrhundert produktiv wurde.99 In den Texten wird sehr deutlich, inwiefern die Intention einer Tat für die Beichte von Relevanz ist, da nicht die ausgeführte Handlung, sondern die Absicht über die Sündenbeurteilung entscheidet.100 Erzählt wird im Kontext eines Eheschwanks, der die performativen Akte der Beichte in ein häusliches, bäuerliches Umfeld verlagert und die Autorität des Priesters ausspart. Dieses Fehlen wird umgehend kausal begründet, da ein Schneetreiben verhindert, dass das Ehepaar am Palmsonntag zur Jahresbeichte in die Kirche kann. Kurzentschlossen vereinbaren die beiden Eheleute, unter Wahrung des Beichtge 96 Dekrete (Anm. 1), S. 45 : Sacerdos autem sit discretus et cautus, ut more periti medici superinfundat vinum et oleum vulneribus sauciati, diligenter inquirens et peccatoris circumstantias et peccati, per quas prudenter intelligat, quale illi consilium debeat exhibere et cuiusmodi remedium adhibere, diversis expe rimentis utendo ad sanandum aegrotum. Vgl. zu dem Hinweis auch Stürmer (Anm. 95), S. 120. 97 Dekrete (Anm. 1), S. 239 : potentes in opere et sermone. 98 Bei Bernhard von Clairvaux findet sich der Gedanke ausformuliert : »Es gehört nämlich zur Güte der göttlichen Anordnung, dass Menschen die Sünden der Menschen vergeben, beurteilen und abwägen, die aus der Erfahrung der gemeinsamen Schwäche unmöglich kein Mitleid haben können, die nicht davor zurückschrecken sich herabzuneigen und Erbarmen zu üben.« Jussen (Anm. 2), S. 40 f. 99 Zitiert nach Codex Karlsruhe 408. Bearbeitet von Ursula Schmid. Bern, München 1974 (Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelalters, Bibliotheca Germanica 16), S. 548–551. Vgl. auch Werner Schröder : Niewöhners Text des Bîhtmære und seine überlieferten Fassungen (Zur 2. Auflage des ›Neuen Gesamtabenteuers‹, Bd. 1). In : PBB 91 (1969), S. 260–301. Vgl. zur Stofftradition auch Rasmussen (Anm. 28) : »Alle vier Fassungen offenbaren, wenn auch in komischer Form, philosophische und theologische Diskussionen über das Verhältnis von Handeln und Denken sowie von Konsens und Gewalt.« Ebd., S. 285. 100 Vgl. Feistner (Anm. 3), S. 11.
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heimnisses (V. 37 f.),101 daheim zu beichten. Zuerst kniet die Frau vor ihrem Mann nieder und beichtet, dass sie drei Männern zu Willen sein musste : ihrem jungen Herren, seinem Amtsmann und dem Landrichter. Sie beteuert sogleich ihre Unschuld, da diese Übergriffe von einem (ökonomischen) Nutzen für die eheliche Gemeinschaft waren. Zudem seien die Taten ohne ihren Willen geschehen, sie sei daher unschuldig : ›On meyn danck mynnet er mich ; / Do was ich vnschuldig an‹ (V. 60 f.). Ganz deutlich wird hier zwischen der Tat des Ehebruchs und der Absicht desselben differenziert. Der Mann erkennt diese Argumentation an und handelt als Beichtvater sehr gnädig, obgleich noch weitere ›Männer‹ gebeichtet werden : Er rät ihr, bei Gott um Vergebung zu bitten, es folgen drei Schläge und als buß (V. 91), dass sie es zukünftig nicht mehr tun soll. Nun aber schlüpft die Frau in die Rolle des Beichtvaters und hört, dass sich ihr Mann der Magd Adelheit im Schlaf genähert habe – allein wegen ihrer Schönheit. Aufgrund des fehlenden Nutzens dieser Sünde reagiert die Ehefrau äußerst wütend, schleift den Mann an den Haaren vor das Haus und verprügelt ihn.102 Im Epimythion wird dann in den klagenden Worten des Mannes zusammengefasst, jeder möge sich gut überlegen, ob er die Wahrheit tatsächlich hören möchte : ›Das jm vil liber wer, / Seyn weyp beicht dem pfarrer‹ (V. 133 f.). In den spätmittelalterlichen Mären wird also die grundlegende Frage, ob der bloße Wortlaut des gesprochenen Bekenntnisses für die Sündentilgung entscheidend ist oder aber die Intention der Worte und die der Taten,103 immer wieder neu ausgehandelt. Die Forderung, dass auch der Wille als Handlungsmotivation berücksichtigt werden soll, wird deutlich reflektiert.104 In einer »Reihe von Fallbeispielen«, die sich im fünfzehnten Jahrhundert in der Hymelstrasz Stephans von Landskron finden, wird dann ganz deutlich, »wie ein und dieselbe Handlung je nach der Intention desjenigen, der sie vollführt, keine Sünde, eine läßliche Sünde oder eine Todsünde sein kann«.105 Der Aspekt der Doppeldeutigkeit der Sprache in der Kommunikationssituation der Beichte wiederum spielt gerade mit dem Kern des Beichtinstituts : mit der »Synthesis zwischen Selbstentblößung und Selbstverdeckung«, »der Kombination von Enthüllung und Verhüllung der religiösen Dramatisierung von Schuld und Bekenntnis«.106 101 »Die eigentliche Pointe des Beichtgeheimnisses besteht eben darin, daß auf den ersten Blick einander ausschließende Techniken, nämlich Verhüllung und Enthüllung auf intime Weise miteinander verbunden sind.« Hahn (Anm. 66), S. 191. 102 Zu Gender- und Machtkonstellationen in dem Märentypus vgl. Rasmussen (Anm. 28). 103 Bleumer (Anm. 61), S. 157. »Nicht der bloße Wortlaut ist für eine rechtsverbindliche Aussage entscheidend, sondern die eigentliche Intention der Botschaft.« 104 Vgl. dazu Zimmermann (Anm. 3), S. 349, zur Frage »quis«, aus der sich eine »primitive Psychologie entwickelt«. 105 Feistner (Anm. 3), S. 11. 106 Hahn (Anm. 66), S. 193.
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In einer anderen Textversion, Die zwei Beichten B, wird der Aspekt der Intentionalität noch deutlicher pointiert.107 Der zeitliche Rahmen des Palmsonntages fällt weg, allein die Beichte wird zwischen zwei Eheleuten vereinbart. Das Schwankschema ›Beichte und Gegenbeichte‹ (so wil ich werlich peichten dir, / das du wider peichtest mir, V. 9 f.) bleibt bestehen. Da die Frau aber für jeden der ›gebeichteten‹ Männer auf die Frage nach dem ›Warum‹ (›warumb hast du das getan‹, V. 22 ; so auch V. 48 u. V. 60) eine gute Intention vorweisen kann – Erlassen von Zinsen durch den Hirten (V. 23–26), Gewährung von Schutz durch den Boten des Herrn (V. 37 f.), göttliche Gebete durch den Pfaffen (V. 49 f.) oder aber Befreiung von Strafe durch den Richter (V. 68 f.) –, erlässt ihr der Mann die Taten der Untreue : ›so pin ich dir nit gehaß‹ (V. 28) ; ›so muß ich dich unverdacht lan‹ (V. 42) ; ›so muß ich dirs aber übersehen‹ (V. 52) ; ›so mag ichs dir verdenken nicht‹ (V. 73). Die Ehefrau vermittelt also ihrem Mann glaubhaft, in dessen Interesse zu handeln : ›umb den willn dein‹ (V. 76), ›sich, das tet ich zu hilfe dir‹ (V. 111). Als der Mann ihr nach vier zugestandenen Männern die Buße festlegen will, reagiert sie harsch : ›wie pistu ain kalp ! / ich hab kaum ge peichtet halp‹ (V. 79 f.). Nach der daran anschließenden Aufzählung eines Kellners und eines Kochs folgt noch ein ganzer Reigen weiterer Männer : die peicht wirt schir ain end han / wann wer sein sünd wil leichten, / der muß sein sünd ie gar peichten (V. 88–90). Abschließend aber bittet die Frau um Nachsicht, was ihr auch angesichts ihres frumen (V. 140) gewährt wird.108 Kurzum : Während die Frau zwölf Fehltritte mit den besten Absichten beichtet und ohne rechte Buße bleibt, wird dem Mann die lässliche Sünde, einer Magd an die Hand gefasst zu haben, zum Verhängnis. Da er dieses Vergehen ja nicht umb unsern frumen getan (V. 160), also mit guter Absicht begangen habe, kennt die Frau als peichtiger keine Gnade und fordert das Abschlagen der sündigenden Hand. Auf ihre empörte Frage nach dem ›warumb‹ vermag er nur konternd zu beichten : ›ich tets on allen argen list, / wann du mir sust laider gram pist.‹ (V. 171 f.). Daraufhin legt ihm die Ehefrau eine Bußfahrt nach Rom auf, eine Buße, die dann aber noch in Schläge abgewandelt wird. Der Mann fügt sich seinem Schicksal und verweist in Analogie auf den Opfertod Christi.109 Die Ehefrau lässt schließlich Gnade walten und vergibt in Gottes Namen. 107 Zitiert nach : Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hanns Fischer. München 1966 (MTU 12), S. 268–273. 108 ›setz mir darfür di puß nu / nach genad, des pit ich dich. / mit fasten nicht peschwer mich, / mit peten und auch nit mit wachen / noch sust mit andern sachen, / wann ich pin ain krankes weip / und hab einen schweren leip‹/ er sprach : ›mein liebs liep, das sol sein, / wann du pedenkst den frumen mein.‹ / er sprach : ›nach genad setz ich dir / (das scholtu fürwar glauben mir, / dir sei nu ain urkünd), / das du fürpaß nimer tust sünd. / von gots gewalt sei dir vergeben ; / nu pehalt die puß gar eben‹ (V. 132–146). 109 ›auf genad knie ich für dich, / und schlach und rauf und mörde mich, / seit es nit anders mag gesein. / es laid Jhesus auch für di sünde mein‹ (V. 193–196).
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Abschließend lässt sich noch eine Erzählung aus der Stofftradition Der beicht ende Student miteinbeziehen, die sich unter anderem im dreizehnten Jahrhundert bei Caesarius von Heisterbach und in einer Schweizer Kleinepiksammlung aus dem fünfzehnten Jahrhundert findet.110 Ein Student erkennt seine große Sündhaftigkeit und tritt vor seinen Beichtvater, vermag aber vor lauter Reue und Tränen nicht zu beichten (von rüwe er weinen began, / das er nit bichten kan, V. 19 f.). Auf die verwunderte Nachfrage des Beichtvaters, warum er nicht sprechen könne, verweist er auf seine allzu große Sündenlast – ›min sünd ist so gros, / das ich si nit kan sagen also blos‹ (V. 25 f.) –, und der Beichtvater fordert ihn auf, die Sünde aufzuschreiben : ›das sie nit ungebichtet blib‹ (V. 28). Kurz darauf überreicht er dem Beichtvater unter Tränen einen Brief, der sich mit dessen Inhalt an den obristen (V. 35) wendet, da der Beichtvater selbst keine Buße geben könne (V. 33 f.). Als der Student den Brief übergibt, ist das Sündenbekenntnis bereits getilgt (der brief was getilket gar, V. 42). Schon im dreizehnten Jahrhundert, in zeitlicher Nähe zu den Beschlüssen des Laterankonzils, findet sich im Dialog über die Wunder eine intensive Reflexion dieses Erzählstoffes.111 Dieser steht sicherlich im Kontext der im zwölften und dreizehnten Jahrhundert widerstreitenden Strömungen, ob etwa das »Aussprechen der Sünden vor einem Priester und dessen Absolution« ausschlaggebend sei und/oder die innere Reue, wie (erneut) in Abaelards Ethica formuliert : »Das nachträgliche Bekenntnis vor einem Menschen ist nach Abaelard entbehrlich, wenn auch ein zusätzliches Werk der Demut«.112 Von Moos hat für die Rezeptionsgeschichte des 21. Dekrets dargelegt, wie in zahlreichen »Predigtanekdoten« die Macht der geheimen Beichte propagiert wurde, indem diese die »Logik der öffentlichen Gerichtsbarkeit« obsolet werden ließ.113 So berichtet Caesarius von einem ›Pariser Studenten, der wegen 110 Eine Schweizer Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hanns Fischer. Tübingen 1965, S. 81–84. 111 Zu weiteren Themen vgl. Ohst (Anm. 2), S. 130 f. Zu einem möglichen Einfluss der Beschlüsse des Laterankonzils auf die Exempel des Caesarius von Heisterbach vgl. auch Dieter Kartschoke : Der Kaufmann und sein Gewissen. In : DVjs 69 (1995), S. 666–691, hier S. 667. 112 Von Moos (Anm. 3), S. 99. Angenendt (Anm. 17), S. 153 : »Abaelard argumentiert mit einem (in seiner Schule ungezählte Male wiederholten) Ezechiel-Wort : Noch in der Stunde, da der Sünder aufseufze, geschehe ihm Heil (vgl. Ez 33,12) […]. Damit war die lange Bußzeit zwischen Beichte und Rekonziliation in Frage gestellt.« Dennoch ist der Gedanke des »Ausgleichs, den jede Sünde bei Gott erforderte, weiterhin bestehen geblieben, auch bei Abaelard«. Dies, da er als »Implikat der echten, vollgültigen Reue psychologisch den Vorsatz, sich in der Beichte dem kirchlichen Bußverfahren zu unterwerfen, postuliert.« Ohst (Anm. 2), S. 58. 113 Von Moos (Anm. 3), S. 101. Auch nach 1215 war noch bei »Vertretern der hohen oder wissenschaftlichen Theologie diese verinnerlichende Konzeption gültig« – nicht zuletzt auch bei Innozenz III. Vgl. auch Schnell (Anm. 19), S. 376–379 ; Dinzelbacher (Anm. 3), S. 57 ; sowie Fuchs-Jolie (Anm. 24), S. 439. Zum Aspekt der geforderten Innerlichkeit vgl. u.a. Hahn (Anm. 6), S. 408 : »Die
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allzu großer Reue nicht beichten konnte und dessen Sünden, die er auf einen Zettel geschrieben hatte, von Gott ausgelöscht wurden‹.114 In der Darstellung richtet sich der Prior mit der geschriebenen Beichte an den Abt der Abtei St. Viktor, der das leere Briefblatt auffaltet. Es folgt die gleiche Auslegung, dass Gott die Reue gesehen und die Schuld sofort getilgt habe,115 sodass auch Abt und Prior keine Bußstrafe verhängen. In dem sich anschließenden Dialog zwischen Novize und Mönch wundert sich der Novize, ›daß seine Sünden nicht (bereits) vergeben waren, bevor er sie dem Prior zeigte‹.116 Der Mönch antwortet mit deutlichen Worten : »Damit die Beichte nicht überflüssig erscheinen sollte ; denn ohne Verlangen nach der Beichte gibt es keine Vergebung. Ferner ist die Beichte wegen der Beschämung der größte Teil der Genugtuung. Im ersten Augenblick der Reue wurde ihm die Schuld vergeben ; darauf wurde, als die Reue heftiger wurde und das Bekenntnis hinzutrat, auch die Strafe erlassen.«117
Ganz deutlich wird hier, dass der Kern der Beichte die gesprochene Beichte ist, die zur inneren Reflexion und Reaktion der Scham führt ; der Kommunikationsakt ist unersetzbar. Die Bedeutung des verbalen Bekennens im Zusammenhang mit der inneren Reflexionsleistung findet durch das biblische Wissen ›Glaube mit dem Herzen und bekenne mit dem Munde‹ (Römer 10,10) seit dem zwölften Jahrhundert
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eigentliche Verzeihung erlangt der Sünder dadurch, daß er die innere Wirklichkeit der Sünde tilgt, durch die Negation der Intention, die in der reuigen Zerknirschung des Sünders besteht. […] Die Beichte wird damit eine allzuständige Instanz, vor der das Individuum sich verantworten muß.« Vgl. auch Ertl (Anm. 2), S. 272, zur »radikale[n] Verinnerlichung des Sündenbegriffs« bei Abaelard. De scholari Parisiensi, qui ob nimiam contritionem confiteri non potuit, cuius peccata in schedula scripta divinitus sunt deleta. Caesarius von Heisterbach : Dialogus miraculorum/Dialog über die Wunder. Übers. und komm. von Nikolaus Nösges/Horst Schneider. Erster Teilband. Turnhout 2009 (Fontes Christiani 86,1), mirac. 2,10, S. 396–401, hier S. 396/397. ›Sed, ut video, misericors Deus, qui maximam iuvenis contritionem attendit, culpam iam sufficienter punitam iuste delevit. Deletio siquidem totius scripti, abolitionem signat totius delicti.‹ Dialogus miraculorum (Anm. 114), S. 398–400. Miror quare non fuerint peccata eius deleta, antequam Priori essent ostensa. Dialogus miraculorum (Anm. 114), S. 400/401. »Das Urteil des Priesters, der paradoxerweise zugleich als Richter bzw. Vater auftritt«, bannt letztlich die Gefahr des »letzten Richterspruch[s]« Gottes. Von Moos (Anm. 3), S. 101 f. Obgleich etwa Bernhard von Clairvaux, so von Moos, die »Abwertung der priesterlichen Lösegewalt 1140 für häretisch erklären« ließ, hat auch er die innere Bußleistung gepriesen. Von Moos (Anm. 3), S. 100. Ne superflua videretur confessio, sine cuius desiderio nulla fit remissio./ Ipsa etiam confessio propter erubescentiam maxima pars est satisafactionis. Nam in primo contritionis puncto dimissa fuerat ei culpa, deinde contritione inardescente et confessione accedente deleta est poena. Dialogus miraculorum (Anm. 114), S. 400/401.
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eine weite Verbreitung, im Kontext der geforderten Ohrenbeichte kommt diesem aber eine neue Bedeutung zu.118 Anstelle des äußeren Bußwerkes traten zunehmend die einer »Intentionalethik« geschuldeten Aspekte der Scham und Reue, welche für die Beichte ausschlaggebend wurden.119 Damit geht nicht nur die Ablehnung von Akten der äußeren Buße einher, sondern auch das Problem der Differenz zwischen dem Bekenntnis der Lippen und dem Glauben im Herzen. Diese Fokussierung auf die innere Anteilnahme an den eigenen Verfehlungen lässt sich als eine ›Verinnerlichung‹ verstehen,120 die mitunter in einem Spannungsverhältnis zur zunehmenden priesterlichen Bedeutung stehen kann. An späterer Stelle im Dialog, in Kapitel 27 ›Warum es nicht genügt, schriftlich zu beichten, außer im Notfall‹, wird dieser Aspekt nochmals deutlich pointiert :121 ›Es scheint nicht zu genügen (schriftlich zu beichten), denn mit dem Mund geschieht das Bekenntnis zum Heil.‹122 Hier wird die Erzählung vom Pariser Studenten als Wunder deklariert, dessen Wahrheitsgehalt auch nicht bezeugt sei, denn eigentlich sei immer das mündliche Bekenntnis Voraussetzung der Buße.123 So verwundert es nicht, dass 118 Vgl. Jussen (Anm. 2), S. 43. In der Beichtpredigt Bertholds von Regensburg (Anm. 40), S. 241, Z. 32–35, betrifft die Beichte aufgrund der Sünde drei Aspekte : Man sündet alle sünde mit drin din gen. An dem herzen sündet man mit gedenken, an dem munde mit worten und an dem lîbe mit werken, und alsô muoz man alle sünde oder eine ieglîche sünde büezen mit disen drin. »Durch Selbstzuwendung und Aussprache des Unaussprechlichen offenbart der Poenitent das Geheimnis seiner Sünden unter der Voraussetzung, daß diese durch das Beichtgeheimnis zugleich wieder in eine (nun gewissermaßen andere) Heimlichkeit zurückgestellt werden.« Lieb/Strohschneider (Anm. 23), S. 285. 119 Dinzelbacher (Anm. 3), S. 42 ; Feistner (Anm. 3), S. 6 f.; sowie Hahn (Anm. 6), S. 408 f. Vgl. auch Klär (Anm. 32), S. 180 f. »Während im altkirchlichen Bußverfahren das Bußwerk zur Vergebung der Schuld vor Gott führte, wird das heilswirkende Moment von nun an in der glaubenden Reue (contritio) gesehen.« Pratl (Anm. 17), S. 32. Vgl. auch Ohst (Anm. 2), bes. S. 55–63. Vgl. zu zahlreichen Quellen, die den Aspekt der Scham in der Beichte reflektieren, Rüdiger Brandt : ... his stupris incumbere non pertimescit publice. Heimlichkeit zum Schutz sozialer Konformität im Mittelalter. In : Schleier und Schwelle 1 : Geheimnis und Öffentlichkeit. Hrsg. von Aleida Assmann/ Jan Assmann. München 1997 (Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 5,1), S. 71–88, hier S. 80 f. 120 Dies bereits nach der Jahrtausendwende, so u.a. Seidl (Anm. 10), S. 49 f. unter Hinweis auf Bruchhold (Anm. 11), S. 20. Vgl. auch von Moos (Anm. 3), S. 100 f. Vgl. aber bereits zu den frühmittelalterlichen Quellen Haubrichs (Anm. 10), S. 300–303. 121 De eo quod non sufficiat scripto confiteri, nisi in necessitate. Dialogus miraculorum (Anm. 114), mirac. 3,27, S. 596–599, hier S. 596/597. 122 Non videtur sufficere, quia ore confessio fit ad salutem. Dialogus miraculorum (Anm. 114), S. 596/597. 123 Anschließend aber sei eine schriftliche Beichte möglich. Vgl. zu schriftlichen Beichtformen und den Diskussionen über den erlaubten bzw. verbotenen ›Medieneinsatz‹ in der Beichte Dinzelbacher (Anm. 3), S. 54 ; Rüdiger Brandt : Enklaven – Exklaven. Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter. Interpretationen, Motiv- und Terminologiestudien. München 1993 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 15), S. 244–246.
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im Kontext der Erzählung vom Pariser Studenten bei Caesarius ein kritischer Dialog folgt. Verfolgt man nun die Entwicklung der Stofftradition bis ins fünfzehnte Jahrhundert, wird in dem Text der Schweizer Kleinepiksammlung ein ganz anderer Reflexionshorizont eröffnet. Hier folgt auf die Sündentilgung der schriftlichen Beichte eine Hommage an die Macht der wahren, inneren Reue, die Gott – ungeachtet aller Beichtrituale – direkt annimmt und die Sünden vergibt.124
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Die Eigenschaften einer guten Beichte fasst ein spätmittelalterlicher Knittelvers zusammen : ›Eine gute Beichte sollte einfach sein, bescheiden, rein, zuverlässig, aufrichtig, häufig, unbeschönigt, tränenreich, geschwind, vollständig und weitläufig vorbereitet.‹125 All das trifft gerade nicht auf die literarische Darstellung in den Novellen zu. Aspekte der geforderten Gewissensprüfung wiederum, wie etwa in einer allgemeinen Sentenz in Hans Folz’ Beichtspiegel dargelegt, werden deutlich parodiert : Mit wem, wie offt, wer, wen und wo Man hat gesunt, hie, dort oder do, Worumb, an waß dagen, frei oder genot, In wort, werck, gedancken, schimpf, ernst oder gespot. (V. 463–466)126
Zum einen, so könnte man argumentieren, schafft das Bekenntnisthema ganz neue literarische Freiräume. Durch das sündhafte Selbstbekenntnis lässt sich das »Schamlose oder Tabuisierte« ganz genüsslich imaginieren : Insbesondere sexuelle Verfehlungen können so in aller Ausführlichkeit dargestellt werden ;127 der Ehebruch, der in 124 Bi diser bischaft merkt man wol, / das iederman rüw haben sol / umb sin sünd klein und gros, / ob er wel werden ein behaltner gnos / kein sünd ist so gross nit, das gloub mir, / hest du rüw, got vergit si dir (V. 51–56). 125 Sit simplex, humilis confessio, pura, fidelis, vera, frequens, nuda, lacrimabilis, accelerata, integra, et sit patere parata. (Domenico Cavalca). Zitiert nach Zimmermann (Anm. 3), S. 346. 126 Hans Folz (Anm. 85), S. 188–210. Vgl. Quis, quid, ubi, per quos, quotiens, cur, quomodo, quando, / Quilibet observet, animae medicamina dando (Passavanti). ›Wer, was, wo, durch wen, wie oft, warum, auf welche Weise, wann ? / Darauf achte, wer immer seiner Seele Arznei verabreicht.‹ Zitiert nach Zimmermann (Anm. 3), S. 348 mit Anm. 12. Die Metapher vom Priester als Arzt, die im Kontext dieser Sentenzen ebenfalls oftmals aufgegriffen wird, findet sich auch im Dekret 22 wieder und wird in einigen mittelhochdeutschen Texten aufgegriffen, etwa in einer ausführliche Bußszene des Prosa lancelot. Vgl. zum Fragenkatalog auch Dinzelbacher (Anm. 3), S. 54 ; sowie Feistner (Anm. 3), S. 7. 127 »Nun bildete seit der christlichen Buße bis heute der Sex die privilegierte Materie des Bekennens. Er
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der »etablierten Kommunikationssituation« der Beichte dargestellt wird, unterliegt dabei einer »vom Diskursmodell der Beichte institutionell garantierte[n] negative[n] Bewertung«.128 Zum anderen bietet die Gattung der Mären die Möglichkeit, die Schlüsselgewalt des Priesters, die Autorität des Beichtvaters, in einem schwankhaften Erzählumfeld kritisch zu reflektieren. So wird die Figur des triebhaften, wollüstigen Priesters stereotypisiert, der die (vorgegaukelte) Beichte zum Anlass nimmt, sich den Frauen ohne eine schützende räumliche Begrenzung, wie etwa durch die des zeitlich späteren Beichtstuhles, zu nähern (Des Weingärtners Frau und der Pfaffe ; Der vertauschte Müller).129 Zu diesem literarischen Spiel gehört auch die Absolution durch falsche Autoritäten : Neben Hellsehern, Engeln oder Ehemännern werden auch Frauen durch Travestie und Verkleidung zu Beichtvätern ;130 nicht zuletzt beflügelte auch die Laienbeichte unter Eheleuten die dichterische Phantasie.131 In Die drei Mönche zu Kolmar bietet wiederum die Schilderung der Osterbeichte einer jungen Ehefrau einen Anlass, die Verführungsversuche der Mönche ganz unterschiedlicher Orden darzulegen, die als Bußleistung jeweils sexuelle Dienste fordern.132 Für das Verständnis all dieser Mären aber sollte man nicht bei der oberflächlichen Lektüre mit Blick auf das Schwankhafte stehen bleiben.133 Es bedarf vielmehr einer ist das, was man verbirgt, heißt es. Und wenn er nun das wäre, was man in ganz besonderer Weise gesteht ? Wenn die Pflicht, ihn zu verbergen, nur ein Aspekt der Pflicht wäre, ihn zu gestehen (was dann hieße, ihn gut und sorgfältig zu verstecken, damit sein Geständnis um so wichtiger wird, ein um so strengeres Ritual erfordert und um so entscheidendere Wirkung verspricht) ?« Foucault (Anm. 8), S. 1074. Vgl. zur Literarisierung des Topos der Nacktheit bzw. »häretischer Libertinage« durch die Beichte und die daraus resultierenden Freiräume, Schamloses zu imaginieren, Niklaus Largier : Das Phantasma der Nacktheit : Sexualität, Häresie und Beichte. Eine Skizze. In : Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne. Hrsg. von Katja Gvozdeva/ Hans Rudolf Velten. Berlin 2011 (TMP 21), S. 351–362, bes. S. 358–360 (Zitat S. 353). 128 So Lieb/Strohschneider (Anm. 23), S. 279 u. S. 284, in Bezug auf eine Minnerede. 129 Vgl. zum Beichtstuhl als ein »architektonische[s] Kuriosum«, um die Verführung beider Seiten zu verhindern, Peter von Moos : Kirchliche Disziplinierung zwischen Mittelalter und Moderne. Adriano Prosperis »Tribunalia della coscienza‹« aus mediävistischer Sicht. In : Zeitschrift für Historische Forschung 27/1 (2000), S. 75–90, hier S. 82. Zu mittelalterlichen Vorläufern und Quellenhinweisen über sexuelle Übergriffe vgl. Dinzelbacher : Wenn Frauen beichten (Anm. 31), S. 458 f. Vgl. auch Rasmussen (Anm. 28), S. 273. 130 Vgl. Tubach (Anm. 11), Sp. 46 ; sowie Slenczka (Anm. 64), S. 45–65, zur Teufelsbeichte. 131 Vgl. zu einzelnen Mären und den performativen Aspekten der Beichte Rasmussen (Anm. 28), bes. S. 273. Vgl. auch die Mären zur ›Beichtsucht‹ Feistner (Anm. 3), S. 13 mit Anm. 14. 132 Vgl. dazu Michael Waltenberger : Der vierte Mönch zu Kolmar. Annäherung an die paradoxe Geltung von Kontingenz. In : Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin. Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 226–244, hier S. 234 mit Anm. 26, unter Hinweis auf Die Beichte der zwölf Frauen u.a. 133 Siehe zur gleichen Tendenz auch Tanner (Anm. 28), S. 481.
Bekenntnis, Beichte und Selbstbezichtigung
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doppelten Lesart, denn unter der komischen, trivialen Oberfläche des Erzählten werden immer auch Kernthemen der Zeit referiert. In ihren Entwürfen einer gegen den ordo gerichteten amoralischen Welt werden die Mären auch zum didaktischen Medium ganz grundlegender Fragen. Im Kern geht es in der Mehrzahl der weltlichen Kurzerzählungen auch darum, wie sich Wahrheit erkennen lässt – etwa hinsichtlich einer authentischen Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung der Figuren oder aber hinsichtlich der Intention von Handlung und Sprache. So dient die Wahrheitstechnologie des Bekennens dazu, die Diskrepanz zwischen der inneren Reue und dem gesprochenen Wort vorzuführen. Oder anders formuliert : Es wird literarisch diskutiert, inwiefern das Bekennen ein ritueller Sprechakt ist, der auch ohne die eigentliche Intention wirksam ist. Vielleicht treibt der Gedanke literarische Früchte, dass die Ambiguität von »moralischer Intensivierung und kultischer Neutralisierung« dem Kanon 21 zu eigen ist : »Vertiefung des Sündenstatus« vs. »Ritualisierung in Form der Pflicht und die Privilegierung des Priesters mit der Sündenvergebung«.134 In den Mären zeigt sich, wie die in einer langen historischen Entwicklung zunehmend geforderte Selbstverantwortlichkeit im Sündenbekenntnis lebendig wird.135 Mir scheint, dass die neu entstehende volkssprachige Gattung gerade dem Bedürfnis entspricht, Fragen der Wahrheitsgenerierung ironisch gebrochen zu pointieren. Der Aspekt des authentischen Willens, der erst durch die eigenen Worte zum Bekenntnis der Reue wird, ist derart in den Beichtmären allgegenwärtig. Zugleich wird das Moment der Selbstüberwachung und Selbstreflexion im Bekenntnis, die inhärente Betonung der individuellen Alleinverantwortlichkeit für die eigenen Sünden, in der Märendichtung als ein scheiterndes Instrument der Fremdüberwachung im Machtdiskurs dargestellt. Das Thema des Selbstbekenntnisses und der Beichte ist daher seit dem dreizehnten Jahrhundert in der volkssprachigen Literatur ein äußerst produktives. Die Beichttopik wird zunehmend ausdifferenziert und zwei wesentliche Aspekte verlieren ihre Diskussionswürdigkeit nicht : Dies ist zum einen die Autorität des Priesters und zum anderen die Funktion der Sprache im Ritual der Ohrenbeichte.
134 »Der Priester rückt damit aus der Rolle eines Ratgebers in die Rolle des sakramentalen Vermittlers der Bußgnade« – die »Vergebung [wird] ritualisiert«. Dietrich Korsch : Innozenz III. und der Formwandel der Kirche. In : Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas. Hrsg. von Thomas Frenz. Stuttgart 2000, S. 157–172, hier S. 166 u. S. 167. 135 Zur historischen Entwicklung, dass der Einzelne zunehmend »vom Objekt […] zum selbstverantwortlichen Subjekt der Sündenerkenntnis« wird, siehe Feistner (Anm. 3), S. 5.
Register
Adam von Perseigne 115 Aegidius Romanus 93 Alanus ab Insulis (Alanus von Lille) 11, 14, 20, 115 Alarcos 123, 125, 130, 133, 148 Albert (Gegenpapst von Paschalis II.) 154 Albert von Jerusalem 9 Albigenser 9, 117, 212 Alexander II. 154, 155 Alexander III. 153, 159 Alfons VIII. von Kastilien 132, 133, 135, 140, 141 Alfons IX. von León 21, 130 – 133, 135, 136, 138 – 143, 145 Amalarius von Metz 212 Amiens 205 Anaklet I. 155 Anaklet II. 155 Anastasius IV. 155 Aristoteles 85 Assisi 114, 119, 275, 281 Avignon 12, 108, 122 Balduin VIII. 218 Basel 37 Berard von Palermo 102 Berenguela von Kastilien 21, 138, 139, 143, 145 Bernhard Prim 107 Bernhard von Pavia 43 Berthold von Regensburg 301 Betlehem 165, 170, 179 Bologna 15, 42, 43, 58 Bonaventura 281, 283 Bonifaz VIII. 51, 89, 93, 191 Cadalus von Parma 154 Caesarius von Heisterbach 260, 261, 269, 310, 313 Calixtus II. (Calixt II.) 21, 153 – 157 Cassiano dal Pozzo 160 Chrétien de Troyes 220, 230, 233 Ciampini, Giovanni 156, 161, 162, 164, 165, 190 Clemens III. (Wibert von Ravenna) 154
Clemens VIII. 160 Coelestin III. 20, 130, 131, 136, 139 – 141 Dadin de Hauteserre, Antoine 55 Damasus 45 Dietrich von Apolda 280 Dominikus 119, 121, 271 – 275, 279 – 284 Durandus von Huesca 107 Ebernand von Erfurt 258 Elisabeth von Thüringen 258, 317 Evesham 57, 60 Ferdinand II. von León 143 Ferdinand III. 142 Ferrara 37 Flandern 218 Florenz 37 Frankreich 12, 120, 255 Franziskus 23, 24, 271, 275 – 278, 281, 283, 284 Freidank 16 Friedrich II. 80, 102 – 104, 106, 191 Fulko von Neuilly 115 Fulko von Toulouse 121 Gelasius II. 155 Geoffroy de Villehardouin 222 Giotto 281 Gottfried von Straßburg 23, 238 – 242, 244 – 252 Granada 123 Gratian 34, 42, 74, 78, 86 Gregor I., der Große 112, 119, 155, 181, 187, 190 Gregor VII. 13, 47, 153 – 155 Gregor VIII. 9, 154 Gregor IX. 43, 191 Gregor von Sant’Angelo 130, 141 Gregor von Tours 260, 263 Haakon Haakonson 240 Halberstadt 209 – 212 Hans Folz 303, 304, 313 Hartmann von Aue 23, 244 – 247
318 Heinrich V. 154 Heinrich von Avranches 105 Heinrich von Segusio (Hostiensis) 16, 55 Honorius II. 154 Honorius III. 80, 259, 271 Hrabanus Maurus 265 Hugo von Langenstein 258 Hugo von Trimberg 16 Huguccio von Pisa 34, 35, 58, 110 Innozenz II. 154 Innozenz IV. 56,191 Jacobus de Voragine 259, 276, 277, 279 – 281, 283, 285 Jakobus ( Jakob) von Vitry 14, 115, 116, 118 – 121 Jerusalem 10, 98, 156, 163 – 165, 170, 179, 317 Joachim von Fiore 67, 70, 107 Johann Ohneland 103, 105, 181 Johannes, Evangelist 156 Johannes Scotus Eriugena 265 Johannes Teutonicus 44, 45 Julian von Speyer 277 Karl der Große 185, 219 Karl der Kahle 190 Kastilien 128 – 131, 133, 136, 139, 142, 144, 146 Katalonien-Aragón 129 Katharer 9, 111, 115, 119, 212, 241, 252, 279 Kiselewski, Joseph 56 Klara von Assisi 258 Konrad von Krosigk 210 Konrad von Montferrat 146 Konrad von Würzburg 256, 258 Konstantin I. 32, 157, 158, 165, 172, 182 Konstantinopel 11, 210 Konstantin von Orvieto (Medici) 279, 281 Konstanz 37 Lamprecht von Regensburg 275, 277, 278 Las Navas de Tolosa 9, 21, 123 – 125, 134, 137, 148 Leo I., der Große 155 Leo III. 185 Leo IX. 36, 153 León 128 – 130, 136, 139, 141, 142, 144, 146 Lothar III. 155
Register
Lucius III. 43, 108 Maginulf von S. Angelo 154 Mailand 121 Mann, Thomas 14 Maria von Brabant 144 Maria von Oignies 121 Mariotti, Agostino 161 Markward von Annweiler 135, 136 Martin von Toledo 141 Matthaeus Parisiensis (Matthew Paris) 19, 62 Maurice de Sully 14, 114, 119, 224 Mauritius von Braga 154 Milo 122 Montpellier 108, 116 Navarra 129, 130, 132, 136 Nikolaus II. 159 Nikolaus von Myra 155, 159 Nizäa 11, 32 Noah 93 Odo von Sully 63, 119, 120 Otto IV. 102, 105 Oviedo 140 Papinian 47 Paschalis II. 154, 155 Paschasius Radbertus 269 Peter II. von Aragón 132, 136, 143 Petrus Beneventanus 49 Petrus Cantor 14, 20, 58, 114 – 117, 119, 120 Petrus von Vaux-de-Cernay 110 Philipp von Schwaben 144 Pierre de Corbie 205 Pola 170 Portugal 129, 130 Radulf von Jerusalem 13, 101 Radulf von Mérencourt 101 Raimund VI. 110 Rainerius von Pomposa 59 Rainer von Ponza 126 – 130, 132, 136, 138, 140, 141 Raymund von Peñafort 43 Reims 205 Reinbot von Durne 258
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Register
Richard von San Germano 10, 66, 96, 97, 101 Robert de Boron 227, 229 – 232, 234 Robert de Clari 222 Robert de Courson (Courçon) 12, 115, 120 Roger von Hoveden 140, 141 Roger von Wendover 13, 67 Rom 12, 21, 88, 95, 105, 106, 110, 131, 140 – 142, 144, 156 – 158, 160, 169, 172, 174 – 177, 179, 188, 190, 191 Rudolf von Ems 231, 258
Teresa von Portugal 143 Theoderich von Albano 154 Thomasin von Zerklaere 16 Thomas von Aquin 47, 118, 266 Thomas von Bretagne 239, 240 Thomas von Celano 275 – 279, 281, 283 Thomas von Chobham 117, 119, 120 Toledo 11, 131 Tordehumos 130, 139 Toulouse 108, 110, 120
Saint-Denis 205 Salomo 59 – 61 Sancho VII. von Navarra 130 – 133, 136 Severinus 168 Siegfried II. von Eppstein 103 Silvester I. 155 – 157, 165, 172, 191 Silvester IV. 154 Spanien 9, 123, 125, 130, 140, 142, 219 Stephan von Landskron 308 Stephan von Tournai 43 Stephen Langton 11, 12, 115 Stricker, der 257, 295, 297, 298 Subiaco 60
Urban II. 154, 155 Valdes 107 Vienne 37 Viktor III. 154, 155 Villard de Honnecourt 205 Vincentius Hispanus 45, 69 Walther von der Vogelweide 16, 106, 255, 256 Wolfram von Eschenbach 255, 257, 291 Worcester 57, 60 Yaʻqūb al-Manṣūr 130, 133