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German Pages [365] Year 2014
https://doi.org/10.5771/9783495860267 .
Diana Aurenque Ethosdenken
ALBER THESEN
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Dieses Buch beschäftigt sich mit dem viel besprochenen, aber weiterhin unklaren Verhältnis zwischen Heideggers Philosophie und Ethik. Es wird die These vertreten, dass sich Heideggers gesamtes Denken als ein Ethosdenken interpretieren lässt. Dieses darf aber weder als ein ethisches System noch als eine heideggersche Ethiklehre missverstanden werden. Ethos ist nicht moralisch zu verstehen, sondern es meint den Aufenthalt, in dem der Mensch seinem eigenen Wesen und dem Wesen aller Dinge gerecht wird. Heideggers Ethosdenken will dem Menschen keinen Schutz geben, sondern allen Phänomenen in ihrem jeweiligen Sichzeigen und Sichentziehen gerecht werden. Dieses ethische Denken versucht eine Offenheit für das Andere, für das Mögliche und Unbekannte, zu schaffen. Heideggers Ethosdenken liegt unmissverständlich das Ideal des philosophischen Lebens zugrunde. Ob das philosophische Ethos als ein einsames Ethos zu verstehen ist, wird im Buch systematisch geklärt. Zugleich wird Heideggers Ethosdenken im Hinblick auf sein Verständnis des Politischen gedeutet. Das philosophische Wesen des Menschen, das im eigentlichen Ethos erscheint, ist gerade, was Heidegger durch seine entpolitisierte Politik hervorzuheben versucht.
Die Autorin: Diana Aurenque wurde am 29. 08. 1981 in Santiago de Chile geboren. Sie studierte Philosophie mit anschließendem Staatsexamen an der Universidad de Santiago de Chile. 2010 promovierte sie an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. 2006–2010 war sie Promotionsstipendiatin der chilenischen Regierung »Beca Presidente de la República«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie und Hermeneutik, Lebensphilosophie, Ethik und Bioethik. Sie ist Mitglied der Heidegger-Gesellschaft, der Sociedad Iberoamericana de Estudios Heideggerianos und des redaktionellen Beirates des Bulletin heideggerien. Derzeit übt sie Lehraufträge an den Universitäten Freiburg und Stuttgart aus.
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Diana Aurenque
Ethosdenken Auf der Spur einer ethischen Fragestellung in der Philosophie Martin Heideggers
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Alber-Reihe Thesen Band 44
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48472-2 (Print)
ISBN 978-3-495-86026-7 (E-Book)
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Für Markus, Sonia und Amadeo
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Schwierigkeiten der Forschung . . . . . . . . . . Ethos und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heideggers Kritik an der traditionellen Ethik . . . . . . Worauf weist das Ethische in Heideggers Philosophie hin? Gliederung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
13 15 19 23 27 30
. . . . . . . . . . . . . . .
33
Einführung 1. 2. 3. 4. 5.
Erster Teil: Der Aufenthalt im Handeln Kapitel I: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Der ethische Grundzug der Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Faktische, das Sinnhafte und das Eigene . . Die Zugänge zur Faktizität . . . . . . . . . . . Der echte, philosophische Aufenthalt . . . . . Die Hermeneutik als Klärung der Faktizität . . Das Sokratische der Hermeneutik der Faktizität Das Wachsein des Daseins und die Jeweiligkeit
Kapitel II: 1. 2.
11
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
Die Herausarbeitung des Ethos am Modell der aristotelischen Phronesis . . . . .
Warum interessiert sich Heidegger für die Phronesis? . . . Zu Heideggers Kritik an der traditionellen Metaphysik . .
34 35 39 43 48 50 54
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Inhalt
3. 4.
Der Vorrang der Phronesis . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aufdeckung des genuinen Ethos: Zwischen Phronesis und Kairos . . . . . . . . . . . . . .
67
Kapitel III: Das rechte Ethos in Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . .
84 85 88 93 97 100 109
. . . . . . . .
113
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Räumlichkeit des Ethos . . . . . . . . . . . Die Erweckung aus dem uneigentlichen Ethos . . Die Wiederentdeckung der Wahrheit der Existenz Das »faktische Ideal« . . . . . . . . . . . . . . . Augenblick und Aufenthalt . . . . . . . . . . . Das Ethos in Sein und Zeit als Überrest . . . . .
Zweiter Teil: Das Ethos und die Wahrheit des Seins
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
74
Kapitel IV: Die Ausarbeitung der Philosophie als Haltung: Heideggers Denken zwischen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre . . . . . . . . . . 114 1. 2. 3. 4. 5.
Die »Metaphysik des Daseins« und die Metontologie Die Erweckung und die Philosophie . . . . . . . . . Die Welt als Spiel und die Haltlosigkeit des Daseins . Unheimlichkeit, Langeweile und Augenblick . . . . Ist das Sichhalten in der Nichtigkeit als Nihilismus zu bezeichnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel V: 1. 2. 3. 4. 8
. . . .
. . . .
115 120 123 128
. . .
135
Von der Wahrheit im Handeln hin zum Geschehen der Wahrheit: Ethos in der Wahrheit des Seins . 139
Der Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit: Das Verweilen beim Handeln . . . . . . . . . . Das Verständnis der Wahrheit nach Sein und Zeit Die Erweiterung des Ethosdenkens . . . . . . . . Heideggers Auslegung des Höhlengleichnisses .
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139 146 153 156
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Inhalt
Kapitel VI: Zwischen Seinsgeschichte und Ereignisdenken: Heideggers Ethosdenken im Zeitalter der Heimatlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 164 1. 2. 3. 4. 5.
Übersicht über das Ereignisdenken . . . . . . . . . Das Ereignis und die Inständigkeit im Da-sein: Aufenthalt im Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ethos im Zeitalter der »totalen Machenschaft« Die Gefahr und die Rettung . . . . . . . . . . . . Ethische Erziehung bei Heidegger . . . . . . . . .
. . . .
166
. . . .
171 177 184 193
. . . .
. . . .
. . . .
Kapitel VII: Die Thematisierung des Ethosdenkens: Das dichterische Wohnen und das Wohnen im Geviert . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Der künstlerische Seinsentwurf . . . . . . . . . . . . . Die Rettung in dürftiger Zeit . . . . . . . . . . . . . . . Wo wohnt der Mensch? Heimat als Ort des Aufenthaltes Das Wohnen im Geviert . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dichterische Wohnen als Aufforderung zur Offenheit Das Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dichterische Sprechen und sein Wohnen . . . . . . .
Dritter Teil: Ist das philosophische Ethos ein entpolitisiertes, einsames Ethos? Heideggers Philosophie, die Anderen und die Gemeinschaft . . . . . . . .
. . . . . . .
204 209 211 216 225 229 233
. .
237
Kapitel VIII: Die Polis, der Dichter und der Philosoph (1933–1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1. 2. 3. 4.
Heideggers »entpolitisiertes« Verständnis der Polis . . . Der Dichter als »Souverän«? . . . . . . . . . . . . . . . Der Philosoph als der Befreier . . . . . . . . . . . . . . Heideggers entpolitisiertes Verständnis der Gerechtigkeit
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240 249 258 263 A
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Inhalt
Kapitel IX: Heideggers Verständnis des Mitseins und Lévinas’ Kritik daran . . . . . . . . . . . . . . . 272 1. 2. 3.
Heideggers Verständnis des Mitseins . . . . . . . . . . . Zu Lévinas’ Kritik an Heidegger . . . . . . . . . . . . . . Kritischer Kommentar: Die vorspringend-befreiende Fürsorge als Liebe und die Offenheit für das Andere . . . .
Kapitel X:
1. 2. 3. 4.
275 286 295
Kann nur noch die Einsamkeit uns retten? Heideggers Kritik an der Öffentlichkeit und die Möglichkeit einer echten Gemeinschaft . . . . . 304
Heideggers Auffassung der Öffentlichkeit . . . . . . . . . Die Möglichkeit der echten Öffentlichkeit: Das philosophische Ethos in der geistigen Gemeinschaft . . Die Sprache der echten Öffentlichkeit: Das Schweigen und das Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstsein in ursprünglicher Gemeinschaft . . . . . . . . .
306 313 322 332
Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 1. 2. 3.
Auf der Suche nach Wahrheit und Freiheit . . . . . . . . . Die ursprüngliche Ethik als das Ethos in der Entsprechung zum Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen antiker Ethik und entpolitisiertem Ethos . . . .
336
. . . . . . . . . . . . . . Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften Martin Heidegger . . . . . . . . Verzeichnis der anderen zitierten Schriften
348 348 348 351
Literaturverzeichnis 1. 2. 3.
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
338 342
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
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Vorwort
Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2009 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen wurde. Zuallererst möchste ich mich herzlich bei meinem Doktorvater Günter Figal bedanken, der mich von Anfang an unterstützt und der den Gang meiner Gedanken anhand kritischer und erkenntnisreicher Bemerkungen begleitet und erweitert hat. Ohne seine fruchtbare Art Heideggers Denken zu interpretieren, wäre diese Arbeit nicht zu dem geworden, was sie heute ist. Ebenfalls herzlich danken möchte ich den weiteren Gutachtern Andreas Urs Sommer und Bernhard Zimmermann für ihre hilfreichen Kommentare und Anregungen. Besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle meinem akademischen Lehrer in Santiago de Chile, Raúl Velozo zukommen lassen, der in mir früh genug die Liebe zur deutschen Philosophie erweckte. All diejenigen Menschen beim Namen zu nennen, die in unterschiedlichen Weisen zur Entfaltung dieser Arbeit beigetragen haben, würde leider die Grenzen dieses Vorwortes bei Weitem überschreiten und so möchte ich hiermit auch allen Freunden und Kommilitonen von Herzen danken, die mich während den drei Jahren der Promotion akademisch und menschlich unterstützt haben. Lucia Castro, Eveline Cioflec, Maxime Dyon, Mihalis Pantoulias und Virginie Palette gilt meine Dankbarkeit für anregende Diskussionen und lebendige Freundschaft. Martin de la Ravanal und Tamara Villarroel möchte ich für ihre – trotz geographischer Entfernung – stets spürbare Nähe danken. Meiner deutschen Familie – Annemarie, Ottmar und Stefan Schüller – möchte ich für ihre grenzenlose Unterstützung und Liebe mit allem Nachdruck danken. Ganz besonders danke ich Christian Sommer, der durch seine breiten und nuancenreichen Heidegger-Kenntnisse, mir die Komplexität dieses Denkens unter einer neuen, kritischen Perspektive beleuchtete. A
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Vorwort
Ebenfalls möchte ich Peter Trawny meine Dankbarkeit ausdrücken. Ihm danke ich für zahlreiche Bemerkungen und kritische Gespräche, die die Entwicklung der hier vorliegenden Interpretation Heideggers entscheidend geprägt haben. Für letzte sprachliche Korrekturen, sowie auch für wichtige Kommentare und Anregungen danke ich Melanie El Mouaaouy, Tobias Keiling und Udo Richter. Ohne ihre Hilfe klänge diese nicht in meiner Muttersprache geschriebene Arbeit wohl ganz anders. Berta van Schoor, Johannes Müller und Willem van Reijen sei auch für ihr Korrigieren und Kommentieren des Textes herzlich gedankt. Der chilenischen Regierung danke ich für die Unterstützung durch die Graduiertenförderung Beca Presidente de la República. Vor allem möchte ich meinem Mann und meinen Eltern danken. Meine Dankbarkeit ihnen gegenüber in wenige Worte fassen zu wollen, scheint mir jedoch fast unmöglich. Aber vielleicht lässt sich in der schweigsamen, einfachen Geste einer Widmung meine tiefste und liebevolle Dankbarkeit erkennen. Stuttgart, im Januar 2011
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Einführung
Das Thema »Heidegger und die Ethik« ist in der Heidegger-Forschung bis heute umstritten. Fraglich ist dabei vor allem die Konjunktion in dieser Wendung – Heidegger und die Ethik. Es ist durchaus möglich, über Heidegger zu sprechen, ohne die Ethik überhaupt zu erwähnen; und umgekehrt ist es genauso sinnvoll, über Ethik zu sprechen, ohne Heidegger zu erwähnen. Und doch ist die umfangreiche Literatur, die sich um die Frage nach dem Verhältnis zwischen einer ethischen Fragestellung und der Philosophie Heideggers dreht, nicht nur ein Beweis dafür, dass diese Problematik auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann, sondern auch dafür, dass das Thema in der Forschung noch unentschieden ist. 1 Vgl. Burkhardt Biella, Eine Spur ins Wohnen legen. Entwurf einer Philosophie des Wohnens mit Heidegger und über Heidegger hinaus, Düsseldorf/Bonn 1998; R. Philip Buckley, Martin Heidegger: The »End« of Ethics, in: J. J. Drummond [Hrsg.], Phenomenological Approaches to Moral Philosophy, Dordrecht/Boston/London 2002, 197–228; Branka Brujic´, Das Ethos des anderen Anfangs, in: D. Barbaric´ [Hrsg.], Das Spätwerk Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert, Würzburg 2007, 19–27; Pedro Cerezo, De la existencia etica a la existencia originaria, in: F. Duque [Hrsg.], Heidegger: La voz de tiempos sombríos, Barcelona 1991, 11–79; Françoise Dastur, The Call of Conscience. The Most Intimate Alterity, in: F. Raffoul and D. Pettigrew, Heidegger and the Practical Philosophy, New York 2002, 87–97; Adriano Fabris, Das ethos des Wohnens im Denken Martin Heideggers, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 6 (2007), 181–195; Douglas Kellner, Authenticity and Heidegger’s Challenge to Ethical Theory, in: C. Macann [Hrsg.], Martin Heidegger: Critical Assessments, Band 4, London 1992, 198–212; Hans-Georg Gadamer, Gibt es auf Erden ein Maß? (W. Marx), in: Neuere Philosophie. Hegel-Husserl-Heidegger, Gesammelte Werk (im Folgenden: GW), Band 3, Tübingen 1999, 333–349; Hans-Georg Gadamer, Ethos und Ethik (MacIntyre u. a.), in: Neuere Philosophie. Hegel-Husserl-Heidegger, GW 3, Tübingen 1999, 350–374; Jean Greisch, The »Play of Transcendence« and the Question of Ethics, In: F. Raffoul and D. Pettigrew [Hrsg.], Heidegger and the Practical Philosophy, New York 2002, 99–116; Emil Kettering, NÄHE. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987; Nobuyuki Kobayashi, Vereinzeltheit, Zwischenmenschlichkeit und Ort. Aus den »ethischen« Überlegungen 1
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Einführung
Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die Frage nach dem »und« in der Wendung »Heidegger und die Ethik«. Diese Fragestellung erfordert nicht nur, dass wir darüber einig sind, was jeweils gemeint ist, wenn wir über Heidegger und über die Ethik sprechen; sie fragt vor allem nach dem, was beide in einem gemeinsamen »und« verbindet. von Heidegger, Watsuji und Nishida, in: R. Elberfeld und G. Wohlfart [Hrsg.], Komparative Ethik. Das gute Leben zwischen den Kulturen, Köln 2002, 195–209; Dietmar Köhler, Metaphysische Anfangsgründe der Ethik im Ausgang von Heidegger, in: A. Großmann und C. Jamme [Hrsg.], Metaphysik der praktischen Welt. Perspektiven im Anschluß an Hegel und Heidegger, Amsterdam/Atlanta 2000, 176–187; Michael Lewis, Heidegger and the place of ethics: being-with in the crossing of Heidegger’s thought, London 2005; Andreas Luckner, Heidegger ethische Differenz, in: B. Waldenfels und I. Därmann [Hrsg.], Der Anspruch des Anderen: Perspektiven phänomenologischer Ethik, München 1998, 65–86; William McNeill, The Time of Life. Heidegger and Ethos, New York 2006; Werner Marx, Gibt es auf Erden ein Maß? Grundbestimmungen einer nichtmetaphysischen Ethik, Hamburg 1983; Barbara Merker, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserl, Frankfurt a. M. 1988; Jean-Luc Nancy, Heidegger’s »Originary Ethics«, in: F. Raffoul and D. Pettigrew [Hrsg.], Heidegger and the Practical Philosophy, State University of New York, New York 2002, 65–85; Gerold Prauss, Heidegger und die praktische Philosophie, in: A. Gethmann-Siefert und O. Pöggeler [Hrsg.], Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1988, 177–190; R. Raj Singh, Ethics, Ontology and Technology: Heidegger and Gandhi, in: R. Elberfeld und G. Wohlfart [Hrsg.], Komparative Ethik. Das gute Leben zwischen den Kulturen, Köln 2002, 293–301; Manfred Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt a. M., 1990; Manfred Riedel, Aufenthaltsdeutung. Heideggers Feldweg-Gespräche im geschichtlichen Zusammenhang seines Denkwegs, in: Heidegger Studies 19 (2003), Berlin 2003, 95–108; Anna Pia Ruoppo, Von Hegel zu Aristoteles. Phronesis, ethos, Ethik im frühen Denken Martin Heideggers, in: Heidegger-Jahrbuch 3 (2007), 237–254; Luis Cesar Santiesteban, Die Ethik des »anderen Anfangs«: Zu einer Problemstellung von Heideggers Seinsdenken, Würzburg 2000; Wolfgang Schirmacher, Technik und Gelassenheit. Zeitkritik nach Heidegger, Freiburg i. Br./München 1983; Martin Seel, Heidegger und die Ethik des Spiels, in: Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten, hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1989, 244–272; Beat Sitter, Dasein und Ethik. Zu einer ethischen Theorie der Existenz, Freiburg i. Br./München 1975; Christian Sommer, L’éthique de l’ontologie: Remarque sur Sein und Zeit (§ 63) de Heidegger, in: Éthique et phénoménologie, Revue de phénomenologie 13 (2005), 119–134; Rainer Thurnher, Heideggers Denken als »Fundamentalethik«, in: R. Margreiter und K. Leidlmar [Hrsg.], Heidegger. Technik – Ethik – Politik, Würzburg 1991, 133–141; Peter Trawny, Die unscheinbare Differenz. Heideggers Grundlegung einer Ethik der Sprache, in: E. Escoubas und B. Waldenfels [Hrsg.], Deutsche und französische Phänomenologie, Paris/Offenburg 2000, 65–102; Ch. von Wolzogen, Die eigentliche metaphysische Störung. Zu den Quellen der Ethik bei Heidegger und Levinas, in: M. Endreß [Hrsg.], Zur Grundlegung einer integrativen Ethik. Für Hans Krämer, Frankfurt a. M. 1995, 131– 154; u. a.
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Einige Schwierigkeiten der Forschung
Damit wird aber weder eine »Heideggerianisierung« der Ethik noch eine »Ethisierung« Heideggers versucht. Es geht vielmehr darum, Heideggers Denkweg in seiner Entwicklung zu verfolgen, um so zu verstehen, worin die Möglichkeit einer ethischen Dimension im Denken Heideggers liegt, die von so vielen Interpreten gesehen wurde. Das Verhältnis zwischen Heidegger und der Ethik wird in concreto anhand von zwei Leitfragen untersucht, die den ersten Anstoß für diese Fragestellung gegeben haben. Diese Fragen lauten: »Warum gibt es in der heutigen Heideggerforschung noch keine Klarheit in Bezug auf die Möglichkeit einer ethischen Dimension in Sein und Zeit?« und zweitens: »Gibt es ethische Phänomene in Heideggers Werk, die den verschiedenen ›Heideggern‹ entsprechen, oder ist das Ethische in seiner Philosophie ein einheitliches Phänomen, das im Verlauf seines Denkweges immer wieder auftaucht, und zwar in vielfältiger Weise und trotz aller Differenzierungen?« Mit einer solchen Fragestellung zeigt sich einerseits, dass es nicht die Absicht der vorliegenden Arbeit ist, eine »heideggersche Ethik« zu begründen. Vielmehr kommt es darauf an, die Frage nach dem Ethischen in Heideggers Philosophie als eine berechtigte Problematik zu erweisen und die Berechtigung des »und« in der Wendung »Heidegger und die Ethik« zu bedenken. Andererseits soll diese Fragestellung deutlich werden lassen, dass in dieser Untersuchung der Versuch gemacht wird, die allgemeinen Züge von Heideggers Philosophie aufzuklären, um so die Frage nach dem ethischen Charakter der jeweiligen Phasen in seinem Denken angemessen stellen zu können. Dies erfordert es, Heideggers bewegtem und doch zugleich kontinuierlichem Denkweg zu folgen.
1.
Einige Schwierigkeiten der Forschung
Wenn man nach der Möglichkeit einer Ethik oder des Ethischen in der Philosophie Heideggers fragt, besteht das erste Problem darin, dass Heidegger selbst sich nur gelegentlich und dann meist negativ über Auf eine umfassende Darstellung der gesamten für die Problematik »Heidegger und die Ethik« einschlägigen Literatur muss hier verzichtet werden: Schon aufgrund ihres Umfangs würde eine solche Bemühung eine eigene Arbeit erfordern. Da diese Untersuchung jedoch nicht alleine steht, sondern nur – wie alle anderen auch – ein Versuch ist, die Problematik des Ethischen bei Heidegger aufzuklären, steht sie zu diesen Untersuchungen in einer systematischen Kontinuität. A
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Einführung
Ethik geäußert hat. 2 Ein zweites Problem ist, dass Heidegger kein systematisches Werk über Ethik geschrieben hat. Überraschenderweise findet man aber eine Reihe verschiedener Interpretationen seines Denkens, in denen jeweils ein eigenes Verständnis der ethischen Dimension der heideggerschen Philosophie ans Licht gebracht wird. Entweder leiden alle diese Interpreten unter einer »ethischen Halluzination« (welche dann allerdings zu erklären wäre), oder es gibt tatsächlich etwas Ethisches in Heideggers Philosophie zu entdecken. Diese beiden Probleme sind nicht zuletzt deshalb kein Argument, eine ethische Untersuchung seiner Philosophie zu unterlassen, weil es mehr als bloß zufällig ist, dass mehrere Schüler Heideggers und andere von ihm beeinflusste Autoren – wie etwa Hannah Arendt, Hans Jonas, Hans-Georg Gadamer, Emmanuel Lévinas, Joachim Ritter – sich intensiv mit Fragen der Ethik beschäftigt haben, obwohl ihr akademischer Lehrer kein ausdrückliches Interesse hierfür zeigte. Dennoch muss man zugeben, dass es besonders schwierig erscheint, anzunehmen, dass Heideggers Philosophie einen entscheidenden Anstoß für die Untersuchung des Ethischen bedeuten könnte. Dieser Eindruck basiert auf folgenden Gründen: Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit wird als ein Projekt konzipiert, bei dem es im Kern nicht um den Menschen als Menschen geht, sondern um die »Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt« 3 . Deshalb wird der Mensch als Dasein betrachtet, das heißt als dasjenige Seiende, das in einem ausgezeichneten Verhältnis zum Sein steht. Allein der Mensch als Dasein ist ein seinsverstehendes Seiendes, das einzige Seiende, das über ein Verstehen des Seins verfügt. Seinsverständnis macht also die eigentümliche und wesentliche Seinsweise des Menschen aus. Aus diesem Grund ist erst eine Analytik des Daseins und mit ihr eine Ausarbeitung der Grundstrukturen des Daseins erforderlich, um die Frage nach dem Sinn von Sein, auf die Sein und Zeit hinauswill, überhaupt angemessen stellen zu können. Die Frage nach der Aufklärung des Daseins ist also nur als ein Mittel zu betrachten, um das eigentliche Hauptthema – die Seinsfrage überhaupt – zu erreichen. 4 Aus diesem Gedanken entspringt eine weitere, sehr wichtige Kritik, mit der jede Untersuchung bezüglich des Ethischen in Heideggers 2 3 4
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Siehe den 3. Absatz dieser Einführung. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 17. Siehe das III. Kapitel dieser Arbeit.
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Einige Schwierigkeiten der Forschung
Philosophie in Berührung kommen muss. Sie besteht in der Meinung, dass ein ethischer Ansatz mit der von Heidegger betonten Neutralität des Daseins unvereinbar sei. Mit Lévinas’ bekannter Aussage »bei Heidegger hat das Dasein niemals Hunger« 5 wird versucht, den radikal neutralen Charakter des Daseins zu betonen, in welchem dessen moralischer Mangel gründet. 6 Diese Kritik ist zwar auf den ersten Blick zutreffend. Doch wir werden sehen, dass durch die Neutralität des Daseins nur das Moralische zurücktritt, nicht aber das Ethische. Ein weiteres Problem der Forschung besteht in der Einheit von Heideggers Denken. Eine einheitliche Ethik in Heideggers Philosophie zu entdecken würde voraussetzen, dass es eine Einheit dieses Denkens gibt. Doch Heideggers denkerischer Entwicklung ist besonders schwierig zu folgen. Zwischen dem philosophischen Projekt des jungen Heidegger – von der phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität bis zum fundamentalontologischen Projekt von Sein und Zeit –, der Periode der sogenannten »Kehre« und schließlich seinem Spätwerk kann mehr oder minder deutlich unterschieden werden. Solche Unterscheidungen innerhalb eines philosophischen Denkens sind aber stets grobe Vereinfachungen, mit denen meistens – aus philosophischer Sicht – wenig gewonnen ist. Deshalb soll die Unterscheidung zwischen einem jungen und einem späteren Heidegger hier nur in einer anzeigenden Absicht erfolgen. Eine solche Unterscheidung dient lediglich dazu, den Umgang mit Heideggers Denken sprachlich zu erleichtern. Heidegger selbst hat versucht, deutlich zu machen, dass es in seinem Denken um »Wege« und nicht um abgeschlossene »Werke« geht. 7 Der Charakter des »Unterwegsseins« gehört also wesentlich zu seinem Denken. 8 Damit taucht aber notwendigerweise die Frage nach der Möglichkeit der Einheit und Kontinuität des heideggerschen Denkens auf. Ob man seiEmmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität, Freiburg i. Br./München 2 1993, 191. 6 Auch Derrida hat die Neutralität des Daseins kritisiert. Vgl. Jacques Derrida, Geschlecht (Heidegger) Sexuelle Differenz, ontologische Differenz. Heideggers Hand (Geschlecht II), Wien 1988, 117–122. Dazu auch: Rainer Marten, Die Griechen und die Deutschen – eine unschuldige Konjunktion?, In: B. H. F. Taureck [Hrsg.], Politische Unschuld? In Sachen Martin Heidegger, München 2008, 131–140, hier 134 und 138. 7 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, 436. 8 Heidegger selbst kritisiert in einem Brief an Max Müller von 11. Dezember 1964 diese Trennung: »Das ›Unterwegs‹ ist verschwunden, schon durch die Nummerierung HI und HII« (Martin Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. von H. Zaborowski und A. Bösl, Freiburg i. Br./München 2003, 48). 5
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ne Philosophie als ein bewegliches und trotzdem einheitliches Denken oder als ein nicht kontinuierliches betrachtet, bedingt in gewissem Maße, wie das Ethische dabei zu verstehen ist. Stehen Heideggers denkerische Phasen jeweils mit einer gewissen Autonomie nebeneinander, dann bildet in entsprechender Weise das, was in diesen Phasen jeweils als das Ethische entdeckt werden könnte, nicht notwendigerweise eine Einheit. Allerdings zeigt sich beim Durchlaufen von Heideggers Denken dieses nicht nur seinem Wesen nach als ein »Unterwegsdenken«, sondern es zeigt sich auch, dass seine Kritik an der traditionellen Auffassung der Ethik stets lebendig bleibt. Das lässt vermuten, dass wir in dieser Kritik bereits einen einheitlichen Ansatz bezüglich des Ethischen finden können. Dennoch lässt sich die Frage nach der Möglichkeit eines einheitlichen Ansatzes in der Problematik der Ethik nicht so leicht beantworten. Aus der ablehnenden Haltung Heideggers gegenüber der bisherigen Ethik folgt aber weder, wie eine positive Bestimmung des Ethischen mit Heidegger zu denken ist, noch, dass dies gar nicht möglich wäre. Eine weitere Schwierigkeit, mit der diese Arbeit konfrontiert ist, zeigt sich in der Tatsache, dass Heidegger moralischen und sozialen Problematiken keine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Darüber hinaus ist es nicht die Frage nach dem konkreten Verhältnis von Mensch und Gesellschaft, die Heidegger interessiert: 9 »So wichtig die ökonomisch-sozialen, die politischen, die moralischen und sogar religiösen Fragen sein mögen, die in bezug auf das technische Hand-Werk verhandelt werden, sie alle reichen nirgends in den Kern der Sache.« 10 Auf die Frage, ob die Philosophie einen gesellschaftlichen Auftrag habe, sagt Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser aus dem Jahr 1969: »Wenn man diese Frage beantworten will, muß man zuerst fragen: ›Was ist die Gesellschaft?‹ und muß darüber nachdenken, daß die heutige Gesellschaft nur die Verabsolutierung der modernen Subjektivität ist und daß von hier aus eine Philosophie, die den Standpunkt der Subjektivität überwunden hat, überhaupt nicht mitsprechen darf.« 11 Weil Im Spiegel-Interview sagt Heidegger, dass der Grundgedanke seines Denkens darin besteht, »daß das Sein beziehungsweise die Offenbarkeit des Seins den Menschen braucht und daß umgekehrt der Mensch nur Mensch ist, sofern er in der Offenbarkeit des Seins steht« (Heidegger, Martin Heidegger im Gespräch, GA 16, 704). 10 Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 27. 11 Heidegger, Martin Heidegger im Gespräch, GA 16, 703. 9
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Heideggers Wahrheitsverständnis es gerade unternimmt, den ObjektSubjekt-Dualismus zu überwinden, der aus der neuzeitlichen Subjektphilosophie stammt, kann sein Denken die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Gesellschaft nicht beantworten. 12 Heidegger sagt offen, dass zu seiner Philosophie die Beschäftigung mit der politischen und moralischen Dimension des menschlichen Lebens nicht gehört.
2.
Ethos und Ethik
Die genannten Gründe führen dazu, dass der Titel dieser Arbeit nicht Heidegger und die Ethik lautet, sondern Ethosdenken. Einerseits wird durch das Vermeiden des Wortes »Ethik« Heideggers eigene Ablehnung der traditionellen Ethik respektiert. »Ethik« weist traditionell auf eine philosophische Disziplin hin – während Heidegger eine Unterteilung der Philosophie in Disziplinen überhaupt wenig schätzt. Mit dem Aussparen dieses Wortes, so kann man sagen, gehen wir schon mit Heidegger mit. Auch sprechen wir von Ethos und nicht von Ethik, weil Heidegger selbst diesen Ausdruck bevorzugt. Man sollte kurz daran erinnern, dass Heidegger im Humanismusbrief die ethische Problematik anerkennt: »Der Bindung durch die Ethik muß alle Sorge gewidmet sein«. 13 In diesem Brief fordert Heidegger nicht nur, über das Wesen des Handelns tiefer nachzudenken, 14 sondern auch ein Denken der Ethik in ihrem ursprünglicheren Sinne als Ethos, das heißt als das Denken des Aufenthaltes des Menschen in der Nähe des Seins. Die Ethik als Ethos wird, laut Heidegger, zu »ursprünglicher Ethik«, sofern dabei »die Wahrheit des Seins als das anfängliche Element des Menschen als eines eksistierenden« gedacht wird. 15 Wenn diese Arbeit jedoch nach der Möglichkeit einer ethischen 12 Vgl. Heidegger, Seminar in Le Thor 1969, GA 15, 359: »Das Wichtigste, wenn es darüber zur Klarheit kommen soll, ist die Einsicht, daß der Mensch kein Seiendes ist, das sich selbst macht, – ohne solche Einsicht bleibt man bei dem angeblichen politischen Gegensatz von bürgerlicher und industrieller Gesellschaft stehen und vergißt, daß der Begriff der Gesellschaft nur ein anderer Name oder ein Spiegel oder eine Erweiterung der Subjektivität ist.« 13 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 353. 14 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 313: »Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug.« 15 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 356.
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Dimension in der gesamten Philosophie Heideggers fragt und dieses Fragen als eine Untersuchung des Ethos begrifflich fixiert werden soll, stellt sich die Frage nach der Angemessenheit einer Rede von einem Ethos für die Schriften vor dem Humanismusbrief. Eine prinzipielle Schwierigkeit für das Anliegen, Heideggers Ethosdenken zu untersuchen, besteht darin, dass erst in Heideggers spätem Denken ein Denken des Ethos explizit zur Geltung kommt. Insofern scheint sich diese Arbeit an Heideggers Spätphilosophie zu orientieren und so ihrem Anspruch nicht zu genügen, dem gesamten Denkweg Heideggers gerecht zu werden. Doch Heidegger selbst sagt im Humanismusbrief, dass das »Wohnen […] das Wesen des ›In-der-Welt-seins‹ [ist]«. Damit bezieht er die in Sein und Zeit behandelte Thematik des »In-Seins« explizit auf das Wohnen, 16 das heißt auf ein Ethosdenken. Das Dasein als ein Inder-Welt-sein ist als ein wohnendes Seiendes zu verstehen. Ausgehend von Heideggers Anerkennung des Bezuges zwischen dem In-der-Welt-sein und dem Wohnen muss zweierlei geklärt werden: erstens die Möglichkeit eines Ethosdenkens bereits in seiner früheren Philosophie – der Hermeneutik der Faktizität und der Philosophie von Sein und Zeit – und zweitens der Zusammenhang, in dem die frühere Auffassung von Ethos mit dem späteren Ethosdenken steht. Wie genau die Ethik als Ethos, oder besser, wie die ursprüngliche Ethik zu verstehen ist, wird erst im Laufe dieser Untersuchung geklärt. Einleitend muss jedoch hierbei eines klar sein: Dass Ethik als Ethos zu verstehen ist, heißt, Ethik von Moral zu unterscheiden. Zwar bezieht sich die Ethik immer irgendwie auf die Moral, doch sie sind nicht unmittelbar dasselbe. Der Unterschied zwischen Moral und Ethik zeigt sich bereits, wenn man auf die Bedeutungen des Wortes »Ethos« achtet, denn dieses Wort ist äquivok. Das Bedeutungsspektrum dieses Wortes hängt jedoch nicht nur mit seinen unterschiedlichen Schreibweisen zusammen, das heißt damit, ob »Ethos« mit Epsilon (˛qo@) oder mit Eta (Æqo@) geschrieben wird. Während ˛qo@ »Gewohnheit, Gebrauch, Herkommen« 17 bedeutet, gehören zu Æqo@ drei unterschiedliche Bedeutungen. Zum einen bezieht es sich auf ˛qo@, weil Æqo@ auch
Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 358. Franz Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, umgestaltet von V. Chr. Fr. Rost, F. Palm und O. Kreussler, Band 1, zweite Abteilung, Leipzig 5 1847, Sonderausgabe 2004, 780.
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»Sitte, Gebrauch, Einrichtung« ist; 18 zu ihm gehört also auch eine sittliche Dimension. Zweitens ist Æqo@ zugleich »jeder Ausdruck der Sitten u. Charaktere durch plastische od. pantomimische Darstellung«. 19 Zuletzt bedeutet Æqo@ »Wohnung, Wohnort, gewohnter Sitz, Aufenthalt«. 20 Gerade diese letzte Bedeutung ist für Heidegger der ursprüngliche Sinn von Æqo@. Damit sieht man deutlich, dass Heidegger die sittliche, das heißt die moralische Dimension von Æqo@ beiseitelässt. 21 Das Ethische ist für ihn nicht das Sittliche, sondern das Aufenthaltmäßige, das Wohnhafte, das jedoch keine Gewöhnung ist. Die Ethik unterscheidet sich von der Moral aber nicht nur aus etymologischen Gründen. 22 In der Tradition wird Ethik im Sinne einer normativen Disziplin im Hinblick auf das menschliche Handeln verstanden, die durch die Begründung einer Moralität die richtige Führung des menschlichen Lebens zum Ziel hat. Oder anders gesagt: Während die Ethik seit Aristoteles dasjenige philosophische Denken ist, das sich um Fragen der Eudaimonia, um die Frage nach dem besten Leben also, kümmert, dient die Moralität dazu, das ethisch gesehene beste Leben durch eine festgelegte präskriptive Dimension zu erreichen. Somit gehört zur Moral das Bestimmen von Urteilen, Regeln und Handlungen im Hinblick auf einen gewissen Gegensatz – zum Beispiel den von »gut« und »böse«. 23 Doch der Unterschied zwischen Moral und Ethik muss nuanciert werden. Denn auch durch Moral und deren Moralkatalog (zum Beispiel die Gebote Gottes) wird eine ausgezeichnete Lebensweise dargestellt, so dass dieser unter diesem Aspekt zur Ethik zu zählen wäre. Die Grenze zwischen Ethik und Moral ist, trotz der jeweiligen Unterschiede, sehr fein. Mit Aristoteles beginnt die Ethik sich in den Dienst der Verwirklichung des guten Lebens des Menschen zu stellen, und zwar so, dass dieses Leben ein ihm zugrunde liegendes Ideal hat, nämlich das theoPassow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, 1333. Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, 1333. 20 Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, 780. 21 Das lateinische Wort mos, aus dem das Wort Moral entstammt, bedeutet: 1. »Wille« oder »Eigenwille«; 2. »Sitte, Gewohnheit, Herkommen, Brauch, Einrichtung, Verfahren, Mode« (Menge-Güthling, Enzyklopädisches Wörterbuch der lateinischen und deutschen Sprache, erster Teil, Berlin-Schönenberg 14 1963, 485). 22 Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993, 34–35. 23 Vgl. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 39; Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner [Hrsg.], Ethik-Handbuch, Stuttgart 2006, 2; Jürgen Habermas, Ach Europa, Frankfurt a. M. 2008, 45. 18 19
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retische Leben (bfflo@ qewrhtik@) 24 Die aristotelische Ethik ist eine Ethik der Glückseligkeit (e'daimonffla), in der es grundsätzlich um den Einzelnen geht. Dennoch ist das gute Leben stets innerhalb eines politischen Rahmens gedacht, da bei Aristoteles der Mensch nicht außerhalb der Polis die Glückseligkeit erreichen kann. Der Mensch ist für Aristoteles nicht nur von Natur aus ein Lebewesen mit Vernunft (z†on lgon ˛con), sondern auch ein politisches Lebewesen (z†on politikn). 25 Für Aristoteles strebt nicht nur der Mensch als Einzelner, sondern auch die Stadt als der Ort der Vielen von Natur aus nach dem Guten. 26 Beide streben die Verwirklichung des Gleichen an, auch wenn Aristoteles das politische Gute höher schätzt: »Mag nämlich auch das Gute dasselbe sein für den Einzelnen und den Staat, so scheint es doch größer und vollkommener zu sein, das Gute für den Staat zu ergreifen und zu bewahren.« 27 Das Ethische und das Politische stehen bei Aristoteles in einem engen Bezug, da das gute Leben sich nur im politischen Kontext realisiert. Die Ethik steht also von Anfang an in engem Bezug zur Politik. Dies zeigt sich deutlich, wenn man beachtet, dass Aristoteles die Ethik nicht nur als eine »politische Wissenschaft« 28 bezeichnet, sondern auch, dass die Nikomachische Ethik mit einer Überleitung zur Politik endet. 29 Doch indem Aristoteles letzten Endes das politische Leben an zweiter Stelle positioniert, 30 scheint dieses zugunsten des theoreti24 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1096a und 1178b. Die Nikomachische Ethik wird zitiert nach: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übersetzt von O. Gigon, neu hrsg. von R. Nickel, Düsseldorf/Zürich 2001. 25 Aristoteles, Politik, 1253a. Die Politik wird zitiert nach: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 9; übersetzt und erläutert von Eckart Schütrumpf, Darmstadt 1991. 26 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a: »Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.« Vgl. auch: Aristoteles, Politik, 1252a. 27 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094b. 28 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094b; Vgl. auch: Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095a–b. 29 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1181b. Ethik und Politik sind aber für Aristoteles nicht dasselbe: »Die politische Wissenschaft und die Klugheit sind als Verhalten dasselbe, doch ihr Sein ist nicht dasselbe. Von der Staatskunst ist der leitende Teil die Gesetzgebung; jene, die das Einzelne behandelt, hat den gemeinsamen Namen der politischen Wissenschaft« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1141b). 30 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177b –1178a.
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Heideggers Kritik an der traditionellen Ethik
schen Lebens zurückzutreten. Die Verbindung zwischen Philosophie und Ethik wird jedoch nicht preisgegeben. Denn die Philosophie mit ihrem Ideal eines theoretischen Lebens bildet zugleich eine exemplarische Lebensweise, so wie in der christlichen Religion ein Leben im Bekenntnis zu Gott und seinen Gesetzen. 31 Theoretisches Leben und exemplarische Lebensweise, das heißt Philosophie und Ethik, sind demnach nicht zu trennen. Indem Heidegger die Ethik als Ethos nur als Aufenthalt versteht, wodurch der moralische Aspekt neutralisiert wird, verliert die Ethik ihren Bezug zur Politik. Es gibt nicht mehr das, worauf die Polis und der Einzelne zusammen zustreben, das Gute fehlt. Somit beginnt man hier schon zu ahnen, dass Heideggers Ethosdenken ein entmoralisiertes und entpolitisiertes ist.
3.
Heideggers Kritik an der traditionellen Ethik
Es ist unmöglich, ein Verständnis des Ethischen in der Philosophie Heideggers zu finden, wenn man es als Moral versteht. Dies gründet nicht nur in seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Unterteilung der Philosophie in unterschiedliche Disziplinen, die zugleich eine Kritik an der Verselbstständigung der Ethik zu einer Wertphilosophie bedeutet, sondern auch in seiner stets wirksamen Kritik am Theoretischen. Diese dreifache Kritik soll im Folgenden kurz erörtert werden: 1. Gegen die Teilung der Philosophie: Häufig wird diese Kritik als Deutung von Heideggers Humanismusbrief formuliert. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass eine solche Kritik bereits andernorts anwesend ist. Bereits im SS 1920 stellt Heidegger fest, dass die »Philosophie […] keine Disziplinen [kennt]«. 32 Einige Zeit später, nämlich in der Vorlesung vom WS 1929/30, findet man ein bemerkenswertes Zitat: »Bei Platon und Aristoteles wird die Schulbildung unvermeidlich. Wie wirkt sie sich aus? Das lebendige Fragen stirbt ab.« 33 Und er fährt fort: »All das, was je aus den verschiedensten Fragen – äußerlich unver31 Vgl. Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1999, 19: »Auch andere Weltreligionen, sogar die Philosophie mit ihrem Ideal des Wissens und der vita contemplativa, verdichten die moralische Substanz ihrer Leben zu exemplarischen Lebensformen.« 32 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 172. 33 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 53.
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bunden, aber um so mehr innerlich verwurzelt – erwachsen war, wird jetzt wurzellos, zusammengetragen nach lehr- und lernbaren Gesichtspunkten in Fächern. Der wurzelhafte Zusammenhang wird ersetzt durch die Ordnung innerhalb von Fächern und Schuldisziplinen.« 34 Darüber lässt sich Verschiedenes sagen. Auf der einen Seite wird klar, dass Heideggers Philosophie sich unmissverständlich als eine Steigerung der Fraglichkeit des Menschen bzw. des Fragens nach seinem Selbst und seiner Welt verstehen soll. Deshalb geht es der Philosophie – so Heidegger – niemals darum, eine Bequemlichkeit oder Sicherung des Lebens zu erreichen. Vielmehr kommt es darauf an, die Unsicherheit und das ständige Bedürfnis nach der Wiederholung der Selbstauslegung radikal in Kauf zu nehmen. Auf der anderen Seite sind es die Disziplinen selbst, die das wahre Denken vernichten. Heidegger ist diesbezüglich besonders energisch: »Es geht überhaupt nicht um eine Verteilung in Disziplinen, vielmehr sind die Disziplinen selbst das Problem.« 35 Die Unterteilung der Philosophie in Disziplinen muss abgelehnt werden, weil sie von Grund auf metaphysisch geprägt sind, und diese Prägung bedeutet für Heidegger, dass von hier aus das wahre Denken niemals erreicht werden kann. »Auch die Namen wie ›Logik‹, ›Ethik‹, ›Physik‹ kommen erst auf, sobald das ursprüngliche Denken zu Ende geht.« 36 Das Denken geht durch Schuldisziplinen zu Ende, weil sie das Denken in einen Betrieb verwandeln, weil sie »sich als tffcnh, als Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später als Kulturbetrieb eine Geltung verschafft«. 37 In der Heraklit-Vorlesung vom SS 1943 spricht Heidegger sogar von einer »Selbstentfremdung der Philosophie«, die mit der Schulteilung geschieht. 38 2. Gegen die Wertphilosophie: Wenn die Philosophie ihre Wurzel abschneidet, ihren Ursprung verlässt und sich in Schulen und Disziplinen teilt, taucht die Problematik der Werte auf. Werte bringen eine Vergegenständlichung zur Geltung, in der eine gleichförmige Zugänglichkeit dominiert. Wir müssen uns von allen Werten befreien, so Heidegger, denn die Werte lassen das Sein nicht sein. 39 Dennoch ist dies Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 53. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 282. 36 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 316. 37 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 317. 38 Heidegger, Heraklit, GA 55, 228. 39 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 349: »Alles Werten ist, auch wo 34 35
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keine Einladung zum Nihilismus: »Das Denken gegen ›die Werte‹ behauptet nicht, daß alles, was man als ›Werte‹ erklärt – die ›Kultur‹, die ›Kunst‹, die ›Wissenschaft‹, die ›Menschenwürde‹, ›Welt‹, und ›Gott‹– wertlos sei. Vielmehr gilt es endlich einzusehen, daß eben durch die Kennzeichnung von etwas als ›Wert‹ das so Gewertete seiner Würde beraubt wird.« 40 Alle Phänomene, auch die höchsten, werden durch ihre Setzung als Wert vergegenständlicht. 41 Aber nicht nur dies, sie werden zu einer Selbstverständlichkeit gemacht, so dass die einmal höchsten und würdigsten Phänomene nun für uns zu Selbstverständlichkeiten geworden sind. Das Wertdenken ist für Heidegger also »eine Erscheinungsform der Seinsvergessenheit«. 42 3. Kritik am Primat des Theoretischen: Heidegger ist seit seinen philosophischen Anfängen überzeugt, dass der Zugang zur Faktizität und damit zu den Grundstrukturen des faktischen Lebens nicht durch ein theoretisches Erkennen möglich ist. Für den jungen Heidegger muss die Philosophie als Phänomenologie deshalb hermeneutisch vollzogen werden, weil nur so das Verborgene der Bedeutsamkeit, das aus der jeweiligen Situation des je eigenen menschlichen Daseins stammt, enthüllt werden kann. Heideggers Auffassung des faktischen Lebens in Bezug auf dessen Bewegung zeigt nicht nur den wesentlichen dynamisch-historischen Charakter der Faktizität, sondern auch die unvermeidbare Verunsicherung, die das faktische Leben in seinem Seinscharakter ist. Wenn man dies vor Augen hat, wird verständlich, dass Heidegger die Moralität nicht positiv bewerten konnte, insofern ihr normativer Charakter per se keine Fraglichkeit erlaubt. Deshalb hat Gadamer völlig recht, wenn er Heideggers Schweigen zur Ethik von
es positiv wertet, eine Subjektivierung. Es läßt das Seiende nicht: sein, sondern das Werten läßt das Seiende lediglich als das Objekt seines Tuns – gelten«. Heideggers Absage an die Werte wird auch in Sein und Zeit deutlich: »Auch die Werttheorie, mag sie formal oder material angesetzt sein, hat eine ›Metaphysik der Sitten‹, das heißt Ontologie des Daseins und der Existenz, zur unausgesprochenen ontologischen Voraussetzung. Das Dasein gilt als Seiendes, das zu besorgen ist, welches Besorgen den Sinn der ›Wertverwirklichung‹ bzw. Normerfüllung hat« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 388–389). 40 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 349. 41 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 349: »Aber das, was etwas in seinem Sein ist, erschöpft sich nicht in seiner Gegenständlichkeit, vollends dann nicht, wenn die Gegenständlichkeit den Charakter des Wertes hat.« 42 Santiesteban, Die Ethik des »anderen« Anfangs, 65. A
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einem bloßen Versäumnis zu unterscheiden versucht. Heidegger hat die Ethik nicht vernachlässigt, sondern sie aus Gründen vermieden. 43 Zweifelsohne zieht sich Heideggers kritische Einstellung gegenüber der traditionellen Ethik durch sein gesamtes Denken. Bereits in der Kriegsnotsemester-Vorlesung behauptet er, dass das »ethische […] Bewußtsein« eine »Objektivierung« sei, 44 weil sie durch den Anspruch objektiver Gesetzlichkeit geleitet wird. Heideggers Absage an jede Verallgemeinerung verbindet sich mit seiner Kritik an der Objektivierung. Durch diese wird auch der Mensch zum bloßen Gegenstand innerhalb eines erkennend-theoretischen Bereiches. Gegen diese anthropologisch-wissenschaftliche Abgrenzung des Menschen bzw. gegen die subjektivistische Tendenz, das menschliche Dasein als Gegenstand von Forschung zu konzipieren, entwickelt Heidegger seine eigene Bestimmung der Philosophie und des Menschen. Gerade gegen jede Art von Fixierung richtet sich die Einführung der »formalen Anzeige« 45 als der Methode der phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie des jungen Heidegger. Heideggers Kritik am Theoretischen wird auch in seinem Spätdenken wirksam. Hier wird sie jedoch vor allem im Zusammenhang mit der Sprache behandelt. Die metaphysische Sprache ist diejenige, die nach dem Wesen aller Seienden niemals im Lichte der Wahrheit des Seins fragt. Diese ursprüngliche Dimension, welche die Urquelle aller Wesensbestimmungen ist, bleibt im »ersten Anfang« der Philosophie verborgen. 46 Dieser kennt kein »Ereignis« und somit auch nicht dessen »Verweigerung«, 47 die aber die geschichtliche Quelle aller Wahrheit des Seienden sind. Darüber hinaus gründet die metaphysische Sprache in der Wahrheit des Seienden und nicht in der des Seins, so dass ihre Seinsvergessenheit und Seinsverlassenheit unvermeidbar ist. Die Philosophie als das sich besinnende Denken muss ihre eigene Sprache zurückerlangen, die für Heidegger mit dem Dichten ursprünglich verbunden ist. Nur durch das dichterisch sich besinnende Denken kann es also einen wahren Bezug auf die Phänomene durch das Wort geben. 48 Vgl. Gadamer, Ethos und Ethik, 367. Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 105. 45 Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 63. 46 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 185. 47 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 29. Vgl. auch: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 267. 48 Siehe das VII. Kapitel dieser Arbeit. 43 44
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Worauf weist das Ethische in Heideggers Philosophie hin?
Für den Moment ist vor allem festzuhalten, dass man sowohl in Heideggers Frühwerk als auch in seiner Spätphilosophie eine Kritik am Theoretischen findet, in der seine Absage an jede Form von Objektivität und kategorialer Bestimmung gründet. Daraus ergibt sich, dass Heidegger jegliche Normativität, jede Begrenzung des menschlichen Handelns durch eine moralische Gesetzlichkeit ebenso wie die Setzung von Werten ablehnt und die Ausbildung einer eigenen Ethik kritisiert. Sein Denken kann – so viel wird hier klar – kein Weg zu einem zu erreichenden Guten sein, sofern das Gute in herkömmlicher Weise im Sinne eines Wertes verstanden wird.
4.
Worauf weist das Ethische in Heideggers Philosophie hin?
Nun müssen wir uns darüber verständigen, was unter dem »Ethischen« in Heideggers Denken zu verstehen ist. Das damit Gemeinte geht zurück auf das »Ethos«. Ethos heißt – wie Heidegger häufig anmerkt– »das Wohnen des Menschen, sein Aufenthalt inmitten des Seienden im Ganzen«. 49 Es ist jedoch bereits hier entscheidend, im Auge zu behalten, dass Ethos, verstanden als Aufenthalt, sich immer auf eine gewisse Verbindlichkeit bezieht. Dies wird klar, wenn man beachtet, dass aufenthaltlos zu sein gerade auf den Zustand einer Entwurzelung hinweist. Ein Mensch aber, der entwurzelt, ohne Aufenthaltsort ist, ist ein Mensch, der nirgendwo steht und seine eigene Lage nicht zu verstehen vermag. Es gibt aber »kein Verstehen ohne Abstand« 50 und keinen Abstand ohne einen Stand, eine eigene Position. Jeder verständliche Zugang zu einem Sachverhalt setzt voraus, dass sich das Begegnende in ein Gegenüber bringen lässt. Das Gegenüberstehen ist Ausdruck einer Relation, eines bestimmten Verhältnisses, in dem das eine (das Begegnende) und das andere (dem das Begegnende begegnet) auftauchen. Ein solches Verhältnis wäre unmöglich ohne einen Aufenthalt, der das Bestehen eines Abstands ermöglicht. In dieser Überlegung wird deutlich, dass die Rede von einem Ethos auf eine gewisse Verbindlichkeit hinweist, durch die ein verständiger Zugang zu vielfältigen Phänomenen 49 Heidegger, Heraklit, GA 55, 214. Vgl. auch: Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 356. 50 Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, 30.
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(wie den Dingen, anderen Menschen und letztlich der Gesamtheit der Welt) möglich ist. 51 Im Laufe dieser Untersuchung wird gezeigt, dass zu Heideggers Philosophie nicht nur ein Ethosdenken, ein Nachdenken über den Aufenthalt des Menschen, wesentlich dazugehört, sondern dass dieses Ethosdenken, das nach der wahren Verbindlichkeit für den Menschen fragt, auch als eine Suche nach dem angemessenen Aufenthalt des Menschen zur Geltung kommt. Wenn es darüber hinaus eine exemplarische Weise des menschlichen Aufenthaltes, des Ethos, gibt, wie zu zeigen sein wird, dann hat dieser Gedanke eine richtunggebende Dimension, richtunggebend, weil das exemplarische Ethos etwas ist, das es zu suchen gilt. Es ist nicht so, dass wir von Natur aus das angemessene Ethos schon hätten. Ethos ist eigentlich ein Werden, das geschichtlich, existierend geschieht. Das »Wohnen« »müssen« wir, wie Heidegger häufig sagt, »erst lernen«. 52 Er betont immer wieder, dass wir uns immer schon in der Welt befinden; wir haben immer schon einen bestimmten Aufenthalt. Dennoch geht es darum, zu dem uns vertrautesten Ethos der Selbstverständlichkeit und Blindheit einen Abstand zu gewinnen, das aus den Selbstverständlichkeiten der alltäglichen Routine und dem Vergessen des Seins erwächst, damit wir uns die Welt und uns selbst eigens aneignen können. Ohne Abstand verlieren die Phänomene – Dinge, Menschen und das eigene Selbst – ihren Eigenwert. Heidegger ruft uns nicht erst in seinem Spätdenken zu einem bestimmten Aufenthalt auf. Sein Ethosdenken erscheint nicht erst als Ausdruck der Gegenbewegung gegen die herrschende Abstandslosigkeit im Zeitalter des »Ge-
Wenn Zygmunt Bauman die heutigen für ihn vorherrschenden Lebensformen des Vagabunden und des Touristen moralisch kritisiert, gründet seine Kritik gerade darin, dass sich beide – Vagabund und Tourist – jeweils auf ihre eigene Weise nicht an etwas binden können: »Was die Lebensformen von Vagabund und Tourist nicht enthalten müssen und wovon sie meistens sogar entschuldigt sind, ist die lästige, behindernde, spaßverderbende, schlafraubende moralische Verantwortung« (Zygmunt Bauman, Postmoderne Ethik, Hamburg 1995, 360–361). Den Touristen aber schätzt Zygmunt Bauman am wenigsten, da dieser – im Gegenteil zum Vagabunden – seine entwurzelte Situation selbst wählt. Das heißt, er entscheidet sich dafür, so viel wie möglich von der Welt zu sehen, bloß um exotische Erfahrungen zu sammeln, sich aber nicht um die Welt zu kümmern. In der Kompromisslosigkeit des Touristen lässt sich »eine schlechte Nachricht für die Moral« erkennen (Bauman, Postmoderne Ethik, 361). 52 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 163. 51
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Worauf weist das Ethische in Heideggers Philosophie hin?
stells«, 53 der technischen Unmittelbarkeit und beständigen Verfügbarkeit. Vielmehr zeigt sich die Anwesenheit eines Ethosdenkens bereits in seiner frühen Phase. Schon den jungen Heidegger leitet die Frage nach der Verwurzelung des Menschen. Der Mensch soll sein eigentliches Ethos wiederentdecken. In dieser Entdeckung des Eigenen, das nur aus einem wahren Wohnen kommen kann, realisiert sich das genuine, auf das Sein bezogene Ethos des Menschen. Gerade diese Einheit und Kontinuität des heideggerschen Denkens in Bezug auf das Ethische soll im Laufe der Untersuchung nachgewiesen werden, ohne die wesentlichen Wandlungen und Akzentveränderungen seines Denkwegs zu vernachlässigen. Einleitend lässt sich auch sagen, dass das exemplarische Ethos in engem Zusammenhang mit Heideggers Auffassung von Wahrheit steht. Der genuine Aufenthalt des Menschen geschieht nur in der Nähe von Wahrheit. Und da die Wahrheit für Heidegger nicht nur auf das Unverborgene, sondern zugleich auf das Verborgene hinweist, realisiert sich das genuine Ethos nur dann, wenn es in der inneren Spannung der Wahrheit selbst, auf dem Boden ihres Verständnisses als Kampf gebildet wird. Das exemplarische Ethos ist streng genommen kein Ethos, das in der Wahrheit feststeht, so als ob Wahrheit bloß Beständigkeit wäre. Ganz im Gegenteil: Da Wahrheit für Heidegger ein Kampf, das Strittige schlechthin ist, wird das exemplarische Ethos durch das »polemische« Wesen der Wahrheit selbst legitimiert. Diese Verknüpfung von Ethos und Wahrheit durchzieht Heideggers gesamtes Denken. Doch es gibt eine leichte, aber bedeutungsvolle Akzentverschiebung im Verständnis von Wahrheit in Heideggers Denken, die erhebliche Konsequenzen für das Denken des Ethos hat. Heideggers Nachdenken über das Ethos kommt im Laufe seines Denkweges in vielfältiger Weise zur Sprache. Es ist dabei nicht so, dass sein Ethosdenken allein durch seine expliziten Äußerungen über das Ethos (zum Beispiel als Aufenthalt, als Ort des Wohnens oder auch als Haltung) zu verstehen ist. Vielmehr liegt dieses Denken Heideggers Philosophie so tief zugrunde, dass es meistens unbemerkt bleibt. Diese Arbeit ist daher auf der Spur dieses Ethischen. Ethische Spuren lassen sich überall erkennen: Beispielsweise findet man ein Nachdenken über das Ethos schon in Heideggers Aufforderung zur Verwurzelung im Ur53
Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 20. A
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sprung. Während diese Verwurzelung für den jungen Heidegger durch das rechte Verweilen in der faktischen Situation (Jeweiligkeit) oder auch durch das Sichaufhalten im Augenblick geschieht, vollzieht sie sich für den späteren Heidegger in anderer Weise, etwa durch die Rückkehr in die Heimat oder auch durch die Anerkennung des Wesens der Polis. Heideggers Ethosdenken drückt sich aber auch (implizit und explizit) in der Unterscheidung zwischen uneigentlichem und eigentlichem In-der-Welt-sein, zwischen Halt und Haltung, technischem und dichterischem Wohnen sowie zwischen Gestell und Geviert aus. Der Spur von Heideggers Ethosdenken zu folgen, erfordert deshalb zunächst, sich mit seinem gesamten Denken intensiv zu beschäftigen und dessen Hauptzüge deutlich zu machen. Denn nur mit einem klaren Verständnis seiner Philosophie lassen sich die Spuren des Ethos erkennen, und zwar nicht isoliert, sondern als konstitutive Elemente des ethischen Wesens von Heideggers Denken.
5.
Gliederung der Untersuchung
Die vorhandene Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile, die jeweils aus Unterkapiteln bestehen, die nicht nur eine chronologische, sondern, wichtiger noch, auch eine systematische Einheit bilden. Der erste Teil mit dem Titel Der Aufenthalt im Handeln richtet das Augenmerk auf die Entwicklung der Philosophie des jungen Heidegger von 1919 bis Sein und Zeit. Dabei wird deutlich, dass Heidegger bereits in dieser Phase seines Denkens ein Ethosdenken auszubilden beginnt, in dem das philosophische Ethos als der exemplarische Aufenthalt des Menschen zum Vorschein kommt. Da dieses Ethosdenken, so meine Interpretation, mit seinem Verständnis der Wahrheit verknüpft ist, gehört zu dieser Ausarbeitung des Ethosgedankens ein eigener, vom späteren Ethosdenken verschiedener Ansatz, der in diesem Teil herausgearbeitet werden soll. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Faktizität und Philosophie, wie es der junge Heidegger zwischen 1919 und 1923 entwickelt. Durch die Herausstellung der zentralen Thesen der phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität kann gezeigt werden, dass sie einerseits tatsächlich ein ethisches Moment enthalten und andererseits die Hermeneutik der Faktizität in ihren zentralen Aufgaben nicht ohne das in ihr enthaltene ethische Moment angemessen konzipiert werden kann. Das zweite Ka30
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Gliederung der Untersuchung
pitel arbeitet die Konturen des Ethos im Denken des jungen Heidegger deutlicher heraus, und zwar im Blick auf seine Aneignung der praktischen Philosophie des Aristoteles. Für das Ethosdenken Heideggers spielen Begriffe wie »Phronesis« (yrnhsi@) und »Kairos« (kair@) eine entscheidende Rolle, die es zu verdeutlichen gilt. In der das dritte Kapitel leitenden Frage geht es um die Möglichkeit des Ethischen in Sein und Zeit. Es soll deutlich werden, dass das Ethische innerhalb des Projektes einer Fundamentalontologie als ein Überrest von Heideggers Hermeneutik der Faktizität zu interpretieren ist. Der zweite Teil dieser Arbeit mit dem Titel Das Ethos und die Wahrheit des Seins versucht das Ethosdenken Heideggers nach Sein und Zeit zu klären. Dass es sich hierbei nicht um einen Bruch mit seinem früheren Ethosdenken handelt, sondern um eine leichte Akzentschiebung, die in einem Bezug zu Heideggers radikalisiertem Wahrheitsverständnis steht, wird im vierten und fünften Kapitel herausgearbeitet. Das vierte Kapitel hat die Entwicklung der heideggerschen Philosophie nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit bis um 1932 zum Hauptthema. Obwohl das während dieser Zeit angestrebte Projekt einer »Metaphysik des Daseins« von Heidegger bald fallen gelassen wird, bleiben doch die dabei gestellten Fragen nach der »Haltlosigkeit« oder »Nichtigkeit« des Daseins und die Einführung der Begriffe »Weltentwurf« und »Weltbildung« von entscheidender Bedeutung für sein späteres Ethosdenken. Im fünften Kapitel wird die entscheidende Frage nach der zuvor nur angedeuteten, aber nicht ausführlich ausgearbeiteten heideggerschen Auffassung der Wahrheit vor und nach Sein und Zeit erörtert. Dabei entdecken wir, dass, gerade weil beim jungen Heidegger die Wahrheit im praktischen Umgehen mit etwas zur Geltung kommt, das exemplarische Ethos als Verweilen bei dem, was zu tun ist, geschieht. Nur der Mensch, der bei dem verweilt, was er tut, hat einen wahrhaften Zugang zu den Phänomenen. Später aber wird das Umgehen mit etwas nicht mehr als paradigmatisch für die Wahrheitserfahrung verstanden. Die ursprüngliche Wahrheit ist die »Wahrheit des Seins«, die durch den künstlerisch-dichterischen Seinsentwurf zum Ausdruck kommt. Dieses Kapitel gibt insofern einen Ausblick auf Heideggers spätere Auffassung von Ethos. Im sechsten Kapitel wird Heideggers Ereignisdenken betrachtet, um dessen ethische Dimension zu verdeutlichen. Heidegger setzt auch hier die Philosophie in Bezug zu einer Rettung und Erweckung des Menschen. Die Möglichkeit einer Überwindung der Metaphysik und ihres techA
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Einführung
nischen Ethos erfordert, dass der Mensch seinen »Aufenthalt im Sein« übernimmt. Die explizite Ausarbeitung dieses Ethos wird in der Wendung vom »dichterischen Wohnen« ausgedrückt, welches das Hauptthema des siebten Kapitels ist. Aus Heideggers Verständnis des Wesens der Kunst als Dichtung ergibt sich der dichterische Seinsentwurf oder das dichterische Wohnen als die Weise, wie der Mensch im Geviert wohnen soll. Dadurch kann sich die Überwindung der heutigen Zeit der »Heimatlosigkeit« und »Bodenlosigkeit« vorbereiten. Nur im dichterischen und besinnlichen Denken kann es die Möglichkeit einer Haltung geben, in der dem entwurzelten Menschen eine neue »Bodenständigkeit« angeboten werden kann. Der dritte und abschließende Teil mit dem Titel Ist das philosophische Ethos ein entpolitisiertes, einsames Ethos? Heideggers Philosophie, die Anderen und die Gemeinschaft soll sich dann zuletzt mit dem bisher noch nicht analysierten Verhältnis zwischen dem eigentlichen Ethos und dem anderen Menschen beschäftigen. Im achten Kapitel wird sowohl Heideggers Verständnis des Daseins als Mitsein als auch Lévinas’ Kritik daran betrachtet. Die Frage nach der Möglichkeit einer ethischen Intersubjektivität in der Struktur des Mitseins ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Kapitels. Im neunten Kapitel wird gezeigt, dass das heideggersche Ethos ein entpolitisiertes Ethos ist. Dies zeigt sich in Heideggers Denken gegen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre besonders deutlich: Denn selbst wenn sein Denken aus politischen Gründen »politisch« wird, ist diese »Politik« völlig unpolitisch. Schließlich wird im zehnten und letzten Kapitel nicht nur Heideggers Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit dargestellt, sondern auch der Frage nach der Möglichkeit einer eigentlichen Öffentlichkeit nachgegangen. Dabei wird entdeckt, dass es dem Ethosdenken Heideggers nicht nur um das philosophische Ethos des Einzelnen geht, sondern auch um dasjenige der Gemeinschaft.
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Erster Teil: Der Aufenthalt im Handeln
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Kapitel I: Der ethische Grundzug der Hermeneutik der Faktizität
Heideggers hermeneutische Phänomenologie lässt sich verstehen als eine Radikalisierung des phänomenologischen Ansatzes, »auf die ›Sachen selbst‹ zurückzugehen« 1 , eine Radikalisierung, die die grundlegenden Ideen der Phänomenologie vor einem historisch-zeitlichen Hintergrund weiterentwickelt. Somit wird die Lehre der Phänomenologie in einen geschichtlichen Rahmen gestellt. Für den jungen Heidegger ist die Philosophie weder Weltanschauung2 noch positive Wissenschaft. Denn die Philosophie kümmert sich um das ursprüngliche sinnstiftende Moment des menschlichen Lebens, oder genauer: des je eigenen Daseins. »Das faktische Dasein ist […] immer nur als das voll eigene, nicht das Überhauptdasein irgendwelcher allgemeiner Menschheit.« 3 Heidegger bezeichnet sie deshalb erst als »Urwissenschaft« 4 und »Ursprungswissenschaft vom Leben«. 5 Später wird sie als »phänomenologische Hermeneutik der Faktizität« 6 verstanden, welche sogar »prinzipielle Ontologie« 7 genannt wird. Im folgenden Kapitel geht es darum, Heideggers Auffassung der Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Husserliana 19/1, hrsg. von U. Panzer, Den Haag 1984, 10. 2 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 170: »Philosophie ist, sofern sie sich treu bleibt, nicht dazu bestimmt, die Zeit, die Welt usw. zu retten oder zu erlösen oder das Elend der Massen zu lindern oder die Menschen zu beglücken oder die Kultur zu formen und zu steigern. All dies bedeutet die Richtung einer Bekümmerung in der das, worauf es ankommt, verschwindet. Alle Weltanschauungsphilosophie verdirbt das ursprüngliche Motiv alles Philosophierens«. Vgl. auch: Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 8 und 12. 3 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 350. 4 Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 13. 5 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 1. 6 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 364. 7 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 364. 1
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Das Faktische, das Sinnhafte und das Eigene
Philosophie als hermeneutische Phänomenologie in ihrem zentralen Motiv und in ihrer Aufgabe herauszustellen, so dass ihre ethische Dimension eigens zur Sprache kommen kann. Dass bereits zum Denken des jungen Heidegger ein Ethosdenken gehört, ist die Hauptthese, die im Laufe des Kapitels erwiesen werden soll.
1.
Das Faktische, das Sinnhafte und das Eigene
Die Faktizität ist für den jungen Heidegger immer verstandene, sinnhafte Faktizität. Dieser Gedanke geht bereits auf seine allererste Vorlesung zurück. Darin stellt Heidegger fest, dass das »Erlebnis« als »Umwelterlebnis« »das Primäre« ist. 8 In seiner Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie 9 vom WS 1919/20 lässt Heidegger jedoch den phänomenologischen Begriff »Erlebnis« beiseite. An seine Stelle tritt der entscheidende Begriff des faktischen Lebens, der ins Zentrum von Heideggers Philosophieren rückt. 10 Mit dem Adjektiv »faktisch« will Heidegger aber keineswegs auf die actualitas des menschlichen Lebens hinweisen, sondern auf dessen vorprädikative Dimension. 11 Das Vorprädikative zu erhellen, wird zu einem Grundziel der Hermeneutik der Faktizität, denn in ihm ist der Ursprung des Sinnes beheimatet. In der Ontologie-Vorlesung aus dem SS 1923 lautet die Definition der Faktizität folgendermaßen: »Faktizität ist die Bezeichnung für den Seinscharakter ›unseres‹ ›eigenen‹ Daseins. Genauer bedeutet der Ausdruck: jeweilig dieses Dasein (Phänomen der ›Jeweiligkeit‹ ; vgl. Verweilen, Nichtweglaufen, Da-bei-, Da-sein), sofern es seinsmäßig in seinem Seinscharakter ›da‹ ist.« 12 Faktizität ist immer jeweilig, und deshalb gibt es so etwas wie Faktizität »als solche« nicht. »Die Jeweiligkeit besagt eine umgrenzte Lage, in der die Alltäglichkeit sich befindet, Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 73. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58. 10 Heideggers vollzieht eine Verwandlung des Terminus »Umwelterlebnis« in den des »faktischen Lebens«, das auch »faktische Lebenserfahrung« genannt und erst ab der Ontologie-Vorlesung des SS 1923 als »Dasein« – im Sinne von Sein und Zeit – begrifflich fixiert wird. Damit gewinnt das heideggersche phänomenologisch-hermeneutische Projekt allmählich an Kontur. 11 Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 68–69. 12 Heidegger, Ontologie, GA 63, 7. 8 9
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Der ethische Grundzug der Hermeneutik der Faktizität
umgrenzt durch ein jeweiliges Zunächst, das da ist in einem Verweilen bei ihm.« 13 Das Faktische ist eigentlich das Jeweilige, und damit ist die Möglichkeit ausgeschlossen, eine ewig gültige Bestimmung der Faktizität zu finden. Die Faktizität als Jeweiligkeit betrifft die geschichtliche Situation, in der das Dasein sich jeweils befindet. Ist aber die Faktizität die Jeweiligkeit, dann gehört zur Faktizität eine innere Dynamik. Die Grundbewegung, die den »Grundsinn der faktischen Lebensbewegtheit« 14 ausmacht, nennt Heidegger die Sorge (auch »Sorgen« oder »curare« genannt). Für Heidegger sind Fakten im Leben kein reines »Etwas«, keine Dinge, die »wie Pflanzen oder Steine« 15 nebeneinander liegen; »ebensowenig haben wir ein leeres Etwas überhaupt vor uns.« 16 Alle Fakten erscheinen vielmehr in einer gewissen Verständlichkeit, die aus der Faktizität des eigenen Lebens erwächst. Das Faktische »muß« nicht als bloße Gegebenheit verstanden werden, sondern eher als »Ausdruck«. 17 Heidegger charakterisiert das Leben als etwas, das sich stets irgendwie darstellt. 18 Das Leben drückt sich immer irgendwie aus, das heißt es erscheint immer schon irgendwie artikuliert. Zum Weltcharakter des Lebens gehören drei Arten, wie wir die Welt erfahren, nämlich als Um-, Mit- und Selbstwelt. 19 In dieser umfassenden Lebenswelt von Gegenständen, anderen Menschen und Selbsterfahrung leben wir: Heidegger, Ontologie, GA 63, 87. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 352. 15 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 162. 16 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 125. 17 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 257. 18 Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 49: »Das, was das Leben angeht, worin es aufgeht, stellt sich immer dar, gibt sich ›irgendwie‹.« 19 Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 33–34: »Das Vielartige also, was im Umkreis und in dem im fortströmenden Leben stets mitgehenden Umkreis von jedem von uns liegt: unsere Umwelt – Landschaften, Gegenden, Städte und Wüsten; unsere Mitwelt – Eltern, Geschwister, Bekannte, Vorgesetzte, Lehrer, Schüler, Beamte, Fremde, der Mann da mit der Krücke, die Dame drüben mit dem eleganten Hut, das kleine Mädchen hier mit der Puppe; unsere Selbstwelt – sofern das gerade mir so und so begegnet und meinem Leben gerade diese meine personale Rhythmik verleiht. In dieser Um-, Mit-, Selbst- (allgemein Um-)Welt leben wir. Unser Leben ist unsere Welt – und selten so, dass wir zusehen, sondern immer, wenn auch ganz unauffällig, versteckt, ‘dabei sind’: ‘gefesselt’, ‘abgestoßen’, ‘genießend’, ‘entsagend’. ‘Wir begegnen immer irgendwie’. Unser Leben ist die Welt, in der wir leben, in die hinein und je innerhalb welcher die Lebenstendenzen laufen. Und unser Leben ist nur als Leben, insofern es in einer Welt lebt.« 13 14
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Das Faktische, das Sinnhafte und das Eigene
»Unser faktisches Leben ist unsere Welt.« 20 In diesen Weisen begegnet der Mensch der Welt, und aus dieser Begegnung bekommt diese ihre primäre Bedeutung, in der die Wissenschaft ebenso wie jede andere Ausdruckform des Lebens gründet. Die Ausdrucksformen des Lebens ordnen sich aber der Selbstwelt des menschlichen Daseins zu, da sich in dieser das faktische Leben zentrieren lässt. 21 »Das Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung, das Selbst im Erfahren seiner selbst ist die Urwirklichkeit.« 22 Die Lebenswelt des Menschen »ist gelebt in einer Situation des Selbst«. 23 Jeder Mensch erschließt sich den Sinn der Umwelt- und Selbsterfahrung aus faktisch-historischen Situationen, das heißt Existenzmöglichkeiten. Die Bedeutsamkeit der Welt ist aber gerade ein ursprüngliches Verstehen, das primäre Erkennen von etwas als etwas. Heidegger nennt dies im Natorp-Bericht den »›Als‹-Charakter«. 24 Dieser Begriff wird durch die spätere Unterscheidung zwischen »hermeneutischem« und »apophantischem Als« präzisiert, die Heidegger in der Logik-Vorlesung aus dem WS 1925/26 vornimmt. 25 Das menschliche Dasein zeigt im Vollzug seines eigenen Lebens die Verständlichkeit und Zugänglichkeit der eigenen Welt, die in der unreflektierten Weise seiner Lebensvollzüge geschieht. Es handelt sich also um eine vorprädikative Aneignung des Sinns der Welt. Zur Bedeutsamkeit gehören aber Grade und Stufen. Im Handeln kommt der Umgangsgegenständlichkeit die vorrangige Bedeutung zu: im Hantieren mit etwas, Herstellen von etwas usw. Im Hinblick darauf gründet sich diese Bedeutsamkeit in einem praktischen Verstehen der Welt. In diesem Sinne ist einsichtig, dass Heidegger das Verstehen von vornherein nach einem pragmatischen Modell denkt. 26 Verstehen ist für ihn weder thematische Kenntnisnahme noch objektives Wissen. Vielmehr bedeutet Verstehen ein Sichauskennen mit etwas, 27 das das Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 96. Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 85. 22 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 173. 23 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 62. 24 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 378. 25 Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 143–162. 26 Daher sagt Jean Grondin mit Recht, dass Heideggers Konzeption des Verstehens auf eine Fertigkeit oder ein Können hinweist. Vgl. Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, 122. 27 Vgl. Heidegger, Prolegomena, GA 20, 286. 20 21
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Der ethische Grundzug der Hermeneutik der Faktizität
Dasein in seinen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten erweist. Im Umgang mit der Welt hat das faktische Leben den ursprünglichsten Zugang zur Welt. Oder genauer gesagt, der Zugang zur Welt ist ein Umgang. 28 Die Sorge als Sein des Menschen ist gerade ein »Umgehen«. 29 Die Sorge als Umgang zu verstehen bedeutet, sie als den Grundsinn im weltbezogenen faktischen Leben zu erkennen. Im sorgenden Umgang, den Heidegger das »Besorgen« nennt, 30 entdeckt das faktische Leben erst einen Gegenstand. In der ursprünglichen Bedeutsamkeit, die durch die Sorge ermöglicht wird, erscheint die Welt als die Gesamtheit des zu Besorgenden. Der Umgang mit der Welt zeigt sich also im jeweiligen Gebrauch der Gegenstände der Welt. Obwohl das faktische Leben aufgrund seiner Seinsweise als Sorge Weltbezogenheit ist, kommt sein Bezug zur Welt nur dann angemessen zur Geltung, wenn das faktische Leben selbst zu einer Selbstinterpretation gezwungen wird. Die Hermeneutik der Faktizität ist eigentlich als das philosophische Verfahren der Aneignung des Eigenen zu verstehen. Diese Aneignung soll aber nicht als eine bloße Besitznahme, sozusagen als ein gewalttätiges An-sich-Reißen verstanden werden. Vielmehr deutet das Wort auf das Verfahren der echten Übernahme dessen hin, was die Sache selbst ist. Es geht, wie Heidegger im NatorpBericht sagt, um eine »verstehende Aneignung des Vergangenen«. 31 Die Hermeneutik der Faktizität versucht somit eine doppelte Aneignung in Gang zu bringen: die Aneignung des Selbst des Menschen sowie auch diejenige der Quelle der Philosophie. Die Verknüpfung zwischen dem Eigenen und dem wahrhaften Verstehen taucht schon in Heideggers erster Vorlesung auf. Jedes Erlebnis wird nicht in theoretischer Distanz erlebt, sondern ist zugleich ein »Ereignis«. 32 Für Heidegger ist es so, dass im Erlebnis nicht nur etwas geschieht, sondern das Ereignis bezieht sich stets auf das Eigene meines Erlebens. »Das Er-leben geht nicht vor mir vorbei, wie eine Dazu auch: Angel Xolocotzi, Der Umgang als »Zugang«: der hermeneutisch-phänomenologische »Zugang« zum faktischen Leben in den frühen »Freiburger Vorlesungen« Martin Heideggers im Hinblick auf seine Absetzung von der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, Berlin 2002. 29 Heidegger, Ontologie, GA 63, 101–102. Vgl. auch: Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 352. 30 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 353. 31 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 347. 32 Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 75. 28
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Die Zugänge zur Faktizität
Sache, die ich hinstelle, als Objekt, sondern Ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich seinem Wesen nach.« 33 Im Ereignis findet eine eigentümliche Bewegung statt, die sich zwischen dem sich ereignenden Phänomen und seiner Reflexion in der menschlichen Selbstwelt vollzieht. Dass das Ereignis ein Er-eignen ist, heißt, dass das Ereignis nur aus dem Eigenen möglich ist. Dies ist entscheidend: Das Eigene ist für Heidegger nicht einfach etwas, das wir bereits haben, vielmehr ist das Eigene nur jeweils das, was dem je Eigenen zugeeignet wird. Deshalb geschieht das Gewinnen des Eigenen für den jungen Heidegger durch die Selbstinterpretation des faktischen Lebens. Hier ist also deutlich zu sehen, dass die Eigenheit, die Selbstheit des Menschen nichts Natürliches ist, sondern vielmehr ein gewisses Verhalten voraussetzt. Dieser Vollzug, dem Eigenen etwas und sich selbst anzueignen, erfordert aber eine bestimmte Weise, in der der Mensch der Welt und sich selbst gegenübersteht: ein bestimmtes Ethos.
2.
Die Zugänge zur Faktizität
Im Denken des jungen Heidegger sind vor allem drei Modi zu finden, die jeweils einen unterschiedlichen Zugang zur Faktizität ermöglichen: der wissenschaftlich-theoretische, der sichverdeckende und der philosophische Zugang. Jede Zugangsweise ist dabei zugleich Ausdruck eines Ethos. Eine ausgesprochen kritische Haltung gegenüber der »Vorherrschaft des Theoretischen« 34 und der »Hartnäckigkeit der Theorien« 35 prägt Heideggers Verständnis des wissenschaftlich-theoretischen Ethos. Aufgrund der Beweglichkeit und Kontingenz des faktischen Lebens können Verallgemeinerung und Verfestigung der Faktizität nur zu kurz greifen. Deshalb ist Heideggers Hermeneutik der Faktizität wesentlich mit einer Kritik am Theoretischen verbunden. Bereits mit der Gleichsetzung von Erlebnis und Ereignis beginnt Heidegger diese Kritik zu entwickeln. Das Ereignis ist das primäre Verhältnis des Menschen zu den Phänomenen, eine Aneignung, die nur historisch – im Vollzug des Lebens – möglich ist. Das ursprüngliche Sinnhafte des Lebens steht 33 34 35
Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 75. Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 59. Heidegger, Ontologie, GA 63, 96. A
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Der ethische Grundzug der Hermeneutik der Faktizität
bereits hier im Zusammenhang mit einer bestimmten Weise der Zeiterfahrung, und zwar mit der jeweiligen Zeiterfahrung des jeweiligen Menschen. Während die erste Bedeutsamkeit der Welt das Ereignis ist, wird das sinnhafte Umwelterlebnis durch das Theoretische »ent-lebt« und das historische Ich daher »ent-geschichtlicht«. 36 Das Theoretische »ent-geschichtlicht« das historische Ich, weil das Ich als Gegenstand behandelt wird. In dieser Perspektive erscheint die Wissenschaft als eine »Zerstörung des Umwelterlebnisses«. 37 Diese »Zerstörung« besagt nichts anderes als die Verfestigung und Vergegenständlichung der Umwelterfahrung, in der die Menschen im historischen Bedeutungszusammenhang die Welt erfahren können. Die Philosophie darf daher die Phänomene niemals unter einem sie verfestigenden Blick behandeln, da sie ihrem Wesen nach nur innerhalb eines geschichtlichen, fließenden Erlebnis- und Zeitzusammenhangs zu finden sind. Auch später wird das faktische Leben als eine besondere Rhythmik verstanden und so die Wissenschaft ein weiteres Mal dem Leben selbst untergeordnet, weil sie eine »Verfestigung« 38 , ja eine »Entlebung« 39 des fließenden Lebens darstellt. 40 Daraus folgt zunächst, dass die wissenschaftlich-theoretische Haltung niemals dem menschlichen Leben gerecht werden kann. Sie verfehlt nicht nur die wesenhafte Dynamik, die dem menschlichen Leben stets zu eigen ist, sondern lässt auch zugleich den unzertrennlichen Zusammenhang zwischen dem Erfahrenen und dem Erfahrenden außer Betracht. Der sichverdeckende Zugang betrifft eine aus der Grundbewegung der Sorge entspringende Tendenz, nämlich die Verfallenheit (auch Ruinanz genannt). Mit den Begriffen »Ruinanz« und »Verfallenheit« bezeichnet Heidegger die unvermeidbare Tendenz des faktischen Lebens, aus sich selbst wegzugehen. 41 Diese Bewegung wird als konstitutiv für die Faktizität verstanden, was zunächst heißt, dass es keinen endgültigen Ausweg aus der Verfallenheit gibt. Faktisch leben heißt zugleich Verfallensein. Auch in der Verfallenheit »ereignet« sich das Leben zu seinem eigenen Seinscharakter, aber unaufmerksam gegenüber sich selbst. Verfallendes Leben ist ein uneigentliches, das sich in der Sphäre 36 37 38 39 40 41
40
Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 89. Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 85. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 118. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 78. Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 77 und 85. Vgl. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 155.
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des Man bewegt. Dieses »Man« wird in der Hermeneutik der Faktizität ähnlich wie in Sein und Zeit charakterisiert: »Das ›Man‹ ist das ›Niemand‹, dem das alltägliche Dasein von ihm selbst her sich ausliefert.« 42 »Man« ist der Oberbegriff für alle Verhaltensweisen und Meinungen, die das menschliche Dasein in seinem Leben unmittelbar leiten und dessen Realität darstellen. Im »Man« zu sein bedeutet, in einer nicht zugeeigneten Welt- und Selbsterfahrung zu existieren. Es heißt, ein Leben zu führen das nicht im Eigenen, sondern in einer allgemeinen und undifferenzierten Stimme gründet. Das »Man« kann in jeder Art von Öffentlichkeit gefunden werden. Gerade die Durchschnittlichkeit ist die Seinsweise des »Man«. 43 Das »Man« ist so etwas »wie ein Gespenst«, 44 das das Dasein umgibt. Sofern das »Man« ein unpersönliches und nie identifizierbares Subjekt ist, das das alltägliche Miteinandersein und Miteinandersprechen regelt, gehört zum »Man« die bestimmte Weise des Sprechens als Gerede. Die alltägliche Rede des Miteinanderseins, das »Gerede«, »bewegt sich in der entwurzelten Uneigentlichkeit«, es ist eine »entwurzelte Weise« des Sprechens. 45 Diese Entwurzelung des Geredes bedeutet aber zugleich einen entwurzelten Aufenthalt, denn »das ›Man‹ hat im Gerede – als einer bestimmten Seinsart der Sprache im Alltag – seinen nächsten und eigentlichsten Aufenthalt«. 46 Im vorzeigenden Wesen der »Man«-Welt, die a priori die menschliche Existenz reguliert, beruht der uneigentliche Aufenthalt des Menschen. Das Gerede »zeichnet das ›was sich für einen gehört‹, ›wie man sich benimmt‹, ›wie man sich in den jeweiligen Lagen zu benehmen hat‹ vor«. 47 Das Jeweilige in der Situation des menschlichen Daseins, die Jeweiligkeit selbst, geht im »Man« verloren. Der in dieser Welt vollzogene Aufenthalt ist derjenige eines nivellierten Daseins; es ist der Aufenthalt »der besorgenden Sorglosigkeit, in dem die Welt als Selbstverständlichkeit begegnet«. 48 In diesem Aufenthalt »schläft die Sorge«. 49 Im Rückgang auf die faktische Lebenserfahrung kann die abfallen42 43 44 45 46 47 48 49
Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 27. Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 31. Heidegger, Ontologie, GA 63, 32. Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 29. Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 29. Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 35. Heidegger, Ontologie, GA 63, 103. Heidegger, Ontologie, GA 63, 103. A
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de Tendenz des Lebens, das heißt die Beruhigung des Lebens als seine Tendenz zur Sicherheit und damit als Negation des Historischen, umgekehrt werden. Eben dies ist der philosophische Zugang zur Faktizität: »Eine gegenruinante Bewegtheit ist die des philosophischen Interpretationsvollzugs, und zwar so, daß sie sich vollzieht in der angeeigneten Zugangsweise der Fraglichkeit.« 50 Denn die hermeneutisch-phänomenologische Philosophie des jungen Heidegger ist »das explizite Ergreifen einer Grundbewegtheit des faktischen Lebens selbst, das in der Weise ist, daß es in der konkreten Zeitigung seines Seins um sein Sein besorgt ist, und das auch dort, wo es sich selbst aus dem Wege geht«. 51 Dies kann aber die Philosophie nur sein, insofern zur Faktizität nicht nur die Bewegung der Verfallenheit gehört. Neben der Tendenz der Selbstverdeckung steht auch ihre »Gegenbewegung«: die »Bekümmerung«. 52 Sie ist die Sorge um die Existenz, das heißt diejenige Möglichkeit der Existenz, in der die Artikulation ihrer konkreten Faktizität in ihrer eigenen Zeitlichkeit vollzogen wird. 53 Das Bekümmertsein wird als Grundcharakter des faktischen Lebens bezeichnet. Eben an diesem Punkt kann man an Heideggers Verständnis des »Daseins« – wie Heidegger ab 1923 das faktische Leben bezeichnet – als ein Möglichsein anknüpfen. Die Prozessualität und Dynamik des Lebens des menschlichen Daseins wird vor allem dadurch akzentuiert, dass das Sein dieses Seienden selbst ein eigentümlicher Prozess ist. Dasein kommt zu sich selbst nur durch den geschichtlichen Vollzug seines Seins. 54 Die Auffassung des Daseins als Möglichsein wird in der Ontologie-Vorlesung als ein »Unterwegs seiner selbst zu ihm« bezeichnet. 55 Da das Dasein der »Gegenstand« der Hermeneutik ist, 56 darf diese es als ein Möglichsein nicht verfehlen. So erklärt sich, dass Heidegger sogar das »Man«, den uneigentlichen Modus der Existenz des Daseins, als etwas Positives versteht, sofern das »Man« eben eine mögliche Weise des Existierens des Daseins ist, wenn auch nicht dessen eigentliche. 57 Dieser philoso-
50 51 52 53 54 55 56 57
42
Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 153. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 349. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 357. Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 357–361. Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 360. Heidegger, Ontologie, GA 63, 17. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 348. Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 17.
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Der echte, philosophische Aufenthalt
phische Zugang zur Faktizität ist aber, wie Heidegger explizit sagt, der eigentliche Aufenthalt, das eigentliche Ethos des Menschen.
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Zur faktischen Lebenserfahrung gehört also eine wesentliche Tendenz zur Selbstverdeckung: »Die faktische Lebenserfahrung verdeckt immer wieder selbst eine etwa auftauchende philosophische Tendenz durch ihre Indifferenz und Selbstgenügsamkeit.« 58 Das Verhältnis zwischen Philosophie und Faktizität kann als ein »Kampf« beschrieben werden. 59 Dass die Philosophie eine erhellende Funktion hat, ist ein Gedanke, den Heidegger auf verschiedenen Wegen zu erläutern versucht. Einzig und allein die Philosophie ist für die Freilegung der verborgenen Faktizität verantwortlich. Sie richtet sich gegen den natürlichen Verlauf des faktischen Lebens, so dass die Möglichkeit der Entdeckung der eigenen Faktizität eröffnet wird. Dieser Gedanke wird leichter verständlich, wenn man auf den Begriff der »Selbstgenügsamkeit« zurückkommt. Diesen hat Heidegger im WS 1919/20 besonders deutlich formuliert. »Selbstgenügsamkeit« ist »die Weise der eigenen Richtung des Lebens, die es gerade auch da nimmt, wo es sich erfüllen und vergnügen will«. 60 Gerade die Philosophie ist in Bezug auf das faktische Leben ungenügsam. Sie verkörpert eine Gegenbewegung zum gewöhnlichen Fluss der Faktizität. Doch diese Gegenbewegung fordert, so Heidegger, einen bestimmten Aufenthalt: »Im Aufenthalt ist die Bewegung sichtbar, und damit von ihm her als echtem Aufenthalt die Möglichkeit der Gegenbewegung.« 61 Im Hinblick darauf entdeckt Heidegger, dass die Gegenbewegung gegen die selbstverdeckende Tendenz des genügsamen Lebens nicht nur eine philosophische Gegenbewegung sein soll, sondern zugleich der »echte Aufenthalt«: »›Aufhalten bei‹, eine Vollzugsund Zeitigungsweise. Philosophie, und philosophische Forschung gar, nur ein bestimmtes Aufhalten bei –, radikalste Fraglichkeit; diese auslegungsmäßig faktisch konkret im jeweiligen Lebenszusammenhang.« 62 Der »echte Aufenthalt« und die Philosophie stehen also be58 59 60 61 62
Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 15. Heidegger, Ontologie, GA 63, 15. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 31. Heidegger, Ontologie, GA 63, 109. Heidegger, Ontologie, GA 63, 108. A
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reits für den jungen Heidegger in einem engen Zusammenhang, da das faktische Leben der Erhellung durch die Philosophie bedarf. Das faktische Leben ist »Etwas, was uns so nahe liegt, daß wir uns meist gar nicht ausdrücklich darum kümmern; Etwas, zu dem wir so gar keine Distanz haben, um es selbst in seinem ›überhaupt‹ zu sehen; und die Distanz zu ihm fehlt, weil wir es selbst sind, und wir uns selbst nur vom Leben aus selbst, das wir sind, das uns (accusativ) ist, in seinen eigenen Richtungen sehen.« 63 Weil ein Sachverhalt, das Leben, nur aus einer Distanz überhaupt erst gesehen werden kann, muss die philosophische Gegenbewegung gerade in einem bestimmten Aufenthalt, der die Entfernung bewahrt, durchgeführt werden. Heidegger beginnt bereits in dieser Phase ein Ethosdenken auszubilden, das heißt ein Denken, das sich um den echten Aufenthalt des Menschen kümmert. 64 Aus der vorangegangenen Analyse ergibt sich nicht nur, dass unsere faktischen Lebenssituationen von uns als bedeutsam erfahren werden, sondern auch, dass sie nur durch die formale Anzeige erkannt werden können. Es gilt demzufolge an dieser Stelle einerseits festzuhalten, dass es einen Vorrang des Lebensvollzugs vor jeder statischen Begrifflichkeit gibt, und andererseits, dass die Selbstwelt nur aus dem faktischen, konkreten, lebendigen Ich und niemals aus theoretischen und allgemeinen Konstruktionen aufgeklärt werden kann. Von hier aus zeigt sich noch einmal deutlich, worin Heideggers Ablehnung jeglicher Art der Regulierung des faktischen Lebens gründet – geschehe sie durch moralische Normen oder erhabene Werte. Die Philosophie ist ein »forschend-verstehendes Führen in die Lebensgestalten selbst«, das aber »nicht mit Anweisungen und Regeln« zu tun hat. 65 Vielmehr ist sie ein »Führen, das das lebendige Verstehen in entscheidenden Stellen und überhaupt sich selbst und der Echtheit seines Ursprungsverstehens überläßt, aus dem ihm für seine, seiner Generation und der Menschheit zufallenden (Aufgaben) Bestimmungen echte Motive erwachsen.« 66 Die Philosophie führt den Menschen dazu, sein Leben verstehend zu leben. Philosophieren ist »der radikale Vollzug des Historischen der Faktizität des Lebens«. 67 Die Philosophie versucht sich das Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 29. Dazu auch: Manfred Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1990, 237–238 und 272–273. 65 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 150. 66 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 150. 67 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 111. 63 64
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Leben in seinem historischen Charakter anzueignen, und zwar als ein historisches Erkennen des faktischen Lebens. Denn gerade der historische Charakter der Faktizität ist diejenige Bewegtheit, die man durch die Sicherheit von Typisierungen der Lebensformen zur Ruhe bringen möchte. Gegen die eigene Unruhe, die das Historische darstellt, richtet sich das faktische Leben. Weil das Historische »beunruhigend« ist, wird es als eine »Last« erfahren. 68 In Anbetracht dessen wird verständlich, weshalb Heidegger für eine kurze Zeit dachte, 69 dass die urchristliche Lebenserfahrung ein paradigmatischer Modus des faktischen Lebens sei. 70 Denn diese Lebenserfahrung lebe »die Zeitlichkeit als solche«. 71 Heidegger achtet auf die faktische religiöse Lebenserfahrung des Urchristentums, weil hier in besonderer Weise der Vorrang des Vollzugs und darin eine Lebendigkeit des Lebens gefunden werden könne. Mit Paulus als maßgeblichem Beispiel zeigt Heidegger, dass die Zeitlichkeit des Frühchristentums eine eigentliche Zeiterfahrung ist, die nichts mit einer berechenbaren Zeit zu tun hat. Gerade dieses Zeiterleben beschreibt, wie Heidegger meint, die eigentliche Zeitlichkeit des faktischen Lebens. Christ geworden zu sein, bedeutet, dass der Christ ein Wissen seines Bekenntnisses zum Christentum hat, sich dieses Wissen aber nur »aus dem Situationszusammenhang der christlichen Lebenserfahrung« ergibt. 72 Christ zu sein heißt, die Verkündigung angenommen zu haben. Diese Annahme erfüllt sich aber nur im Vollzug, das heißt in der ständigen Anerkennung der Berufung durch Gott, die das gesamte Leben eines Christen durchziehen soll. Dieses wird im Blick auf die Parusie gelebt. Die Erwartung der Wiederkunft Jesu bestimmt die Vergegenwärtigung des Gewordenseins des Christen. Das urchristliche Leben wird kairologisch gelebt. Die Zeitlichkeit in Erwartung der Parusie ist in der Er-
Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 37. Die urchristliche Religiosität erweist sich jedoch als letztlich unerreichbare Lebenserfahrung. »Es ist fast hoffnungslos, in einen solchen Vollzugszusammenhang hineinzukommen« (Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 121). 70 Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 61: »Das tiefste historische Paradigma für den merkwürdigen Prozeß der Verlegung des Schwerpunktes des faktischen Lebens und der Lebenswelt in die Selbstwelt und die Welt der inneren Erfahrungen gibt sich uns in der Entstehung des Christentums. Die Selbstwelt als solche tritt ins Leben und wird als solche gelebt.« 71 Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 80. 72 Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 94. 68 69
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füllung des Kairos zu leben, in dem bestimmten Augenblick, der von der gelebten Zeitlichkeit gefühlt wird. Der Kairos ist dann der entscheidende Augenblick, in dem die Situation als Ganzes in ihren zeitlichen Momenten erfahren wird und in dem der Christ die Entscheidung für sein Handeln als Christ trifft. Wenn die Zeit von den Christen als kairologisch, als Zeit der Parusie, erfahren wird, findet das Leben des Christen in einer unvermeidbaren Unsicherheit statt, denn das »Wann« der Parusie ist kein messbares »Wann«. Diese »ständige Unsicherheit« aber »ist nicht zufällig, sondern notwendig«. 73 Daraus folgt Paulus’ Appell, »wach« und »nüchtern« zu sein: Schließlich weiß man nie genau, wann der Moment der Parusie sein wird, und daher muss sich der Christ stets auf sie vorbereiten. 74 In der Annahme von Gottes Ruf durch die Christen realisiert sich zugleich eine Bereitschaft zum Kairos, das heißt die Bereitschaft, die Unsicherheit zu übernehmen. Eben diese ständige Unsicherheit, die das Leben des Christen kennzeichnet, kennzeichnet auch Heideggers Verständnis des faktischen Lebens in Bezug auf dessen innere Bewegung. Näher betrachtet wird die im Kairos liegende unmittelbare Beziehung auf die jeweilige und individuelle Zeiterfahrung deutlich. Der Kairos ist der entscheidende Augenblick, in dem die Situation als ganze in ihren zeitlichen Momenten erfahren wird. Das Paradigmatische der urchristlichen Lebenserfahrung besteht eben darin, dass sie ein lebendiges Erleben der Zeitlichkeit als solcher ist. Heideggers Paradigma des faktischen Lebens ist also nicht ohne ein bestimmtes Erleben von dessen Zeitlichkeit zu fassen. Das Leben im Vollzug zu halten, heißt dementsprechend, die Faktizität in ihrer ständigen Unsicherheit und Beweglichkeit zu übernehmen. Diese Übernahme realisiert sich aber nur durch eine bestimmte Haltung, die dem Menschen keine naive Sicherheit anbietet. Nur in einem bestimmten Aufenthalt (Ethos), in dem die radikale Unsicherheit des faktischen Lebens bewahrt wird, kann der Mensch die eigentliche Zeitlichkeit erleben. Das erfordert aber auch, dass das faktische Leben, das menschliche Dasein, sich der Unsicherheit
Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 105. Vgl. Karl Lehmann, Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger, in: O. Pöggeler [Hrsg.], Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Weinheim 3 1994, 143.
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des Lebens bewusst ist. Das menschliche Dasein muss gegenüber seiner eigenen – und normalerweise unbemerkten – verdeckenden Seinsweise wach werden. Die Last der Existenz gründet also in ihrem historischen Charakter, der der Existenz die Möglichkeit einer Ruhe nimmt, eines festen Bodens, von dem aus die Existenz sichergestellt werden kann. Diese Last wird im Natorp-Bericht als das Schwer-zu-tragen der Existenz verstanden, 75 die die Existenz sich durch Gewöhnung leicht zu machen versucht.76 »Das Habituelle ist selbstweltlich bedeutsam, aber nicht existenzausmachend.« 77 »Existenzausmachend« ist aber, wie wir oben gesehen haben, der philosophische Aufenthalt, der nichts mit der Gewöhnung und dem Habituellen, mit der Sitte oder sonst noch anderen Lebensverfestigungen zu tun hat. Im Leben und nicht im Sterben »liegt die Schwere des Daseins«. 78 Die Schwere des wahrhaften Lebens ist eine der ältesten Intuitionen Heideggers. 79 Sowohl die »Leichtigkeit« wie auch das »Schwere« »sind spezifisch selbstweltliche Daseinsbegriffe«. 80 Die Philosophie aber richtet sich gegen die Tendenz zur Erleichterung der Existenz, die die Faktizität leitet, und versucht so, die Faktizität in ihrem Schwersein zu halten, das die eigentliche Weise der Existenz ist. Die »philosophische Forschung« ist ja nur »an diese Pflicht« gebunden. 81 Die schwermachende Natur der Philosophie als »das Unsicher-Machen des eigenen Daseins« 82 ist damit die ausgezeichnete Möglichkeit, gegen das eigene Sichverfehlen zu agieren. Die Philosophie hat daher die doppelte Aufgabe, »die Faktizität des Lebens zu erhalten und die Faktizität des Daseins zu stärken.« 83
Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 349. Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 357. 77 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 84. 78 Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 56. 79 Vgl. Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 15. 06. 1918, in: M. Heidegger/ E. Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, hrsg. von J. W. Storck, Marbach a. N. 1989, 7. 80 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 142. 81 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 349. 82 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 171. 83 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 174. 75 76
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4.
Die Hermeneutik als Klärung der Faktizität
Weil die faktische Lebenserfahrung einerseits nichts Theoretisches darstellt und als das Zeitliche im Sinne einer unmittelbaren Lebendigkeit verstanden werden soll, stellt sich die Frage nach dem richtigen Zugang zu dieser Erfahrung. Heidegger stellt fest, dass sie nicht nur in phänomenologischer Analyse herausgehoben werden soll, sondern auch durch eine Hermeneutik. 84 Die Philosophie als Hermeneutik der Faktizität hat eine doppelte Aufgabe: Einerseits untersucht sie die Selbstauslegung des Menschen – des Daseins. Andererseits aber führt sie das Dasein zu seiner radikalen und entscheidenden Möglichkeit. 85 Die Fragen nach Legitimität und Gewissheit des Verstehens des eigenen faktischen Lebens erweitern die Fragestellung der Philosophie derart, dass die Philosophie zur hervorgehobenen Interpretation der Faktizität wird, in der der Zugang zum faktischen Leben lebendig, das heißt im Vollzug gehalten wird. 86 Wenn die Philosophie der Weg zur Erhellung der Faktizität ist, hat sie die Aufgabe der Klärung der hermeneutischen Situation. Die Hermeneutik versucht die jeweilige Situation, die faktisch und historisch ist, zu verstehen, aus der das menschliche Dasein die Bedeutsamkeit der Welt und seiner selbst erfährt. Da das Faktische nie als solches wirkt und also immer auslegungsbedürftig ist, gehört zur Hermeneutik ein unreduzierbares Element, das nur durch die In-
Dazu zählt auch die Einführung der formalen Anzeige. Diese stellt Heideggers Versuch dar, eine Methode zu finden, die keine leere Verallgemeinerung und Fixierung des faktischen Lebens und seines Vollzugssinns ist. In der formalen Anzeige liegt »eine ganz bestimmte Bindung; es wird in ihr gesagt, daß ich an der und einer ganz bestimmten Ansatzrichtung stehe« (Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 33). Die formal-anzeigende Methode dient der Philosophie in ihrer Aufgabe »des aufmerksam machenden Ursprungverstehens«, das »aus dem Konkreten und Faktischen echt motiviert ist, nicht als das dem Faktischen Gemeinsame, sondern als nicht präjudizierende, aber auch nicht entscheidend leistende, vorzeichnende Antastung des Faktischen« (Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 85). Die formale Anzeige gibt die Richtung des Denkens vor. Die formal angezeigte Bestimmung eines Gegenstandes wird nicht als ewig gültig betrachtet. Denn sie muss »aus der Weise, wie der Gegenstand ursprünglich zugänglich wird«, geschöpft sein (Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 20). Mit der formalen Anzeige wird eine Erfahrung derart zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht innerhalb des Ausdrucks verhaftet bleibt, nicht vergegenständlicht wird. 85 Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 362–363. 86 Vgl. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 152. 84
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terpretation des Faktischen fassbar ist. Das Hermeneutische erscheint immer »als etwas«, und nur so kann es erfasst werden. Diese »Als-etwas«-Struktur wird nur durch einen philosophischen Weg entdeckt und hervorgehoben. Nach Heidegger ist diese Struktur letztlich nur durch ein »philosophisches Wachsein« zu erhellen, ein »Wachsein, in dem das Dasein ihm selbst begegnet«. 87 Die Philosophie stammt aus dieser ursprünglichen Selbstauslegung, dem »Wachsein des Daseins« in der Begegnung mit seinem Seinscharakter. Sie wird als die »entscheidende Möglichkeit und Weise der Selbstbegegnung des Daseins«, in der die Faktizität durchsichtig wird, bezeichnet. 88 Heideggers Aufforderung zur Aufklärung der hermeneutischen Situation der Philosophie 89 ist der Versuch, die eigentliche Zeitlichkeit zu ergreifen. Deshalb geht es der Hermeneutik der Faktizität darum, »interpretativ vorzudringen zu einer Bewegung, die eine eigentliche Bewegtheit des Lebens ausmacht, in der es und durch die es ist, von der auch demnach das Leben nach dem Seinssinn so oder so bestimmbar wird.« 90 Heideggers Hermeneutik soll auf die eigentliche Zeitlichkeit aufmerksam machen. Bereits im Natorp-Bericht denkt Heidegger – wie später auch in Sein und Zeit –, dass nur im Bevorstehen des des je eigenen Todes die Möglichkeit eines eigentlichen Lebens gegeben ist. Im Bevorstehen des Todes wird »der Weg zur Flucht in die Verantwortungslosigkeit des ›Niemand‹ abgebrochen«. 91 Im Angesicht des Todes kehrt das menschliche Dasein zu sich selbst um und erhält damit seinen konstitutiven zeithaften Charakter. Sofern das menschliche Dasein sein Geschichtlich- und Dynamischsein entdeckt, vermag es hiermit erst sein eigentliches Sein als ein zunächst und zumeist uneigentliches zu erkennen. Das Zeitliche des faktischen Lebens zeigt sich in der endlichen Weise, in der wir selbst Zugang zur Welt haben können. Aus der Endlichkeit unseres Seins ergibt sich die Grenze menschlichen Verstehens. Für Heidegger geht es deshalb darum, den Raum für das Mögliche offen zu lassen. Das Dasein soll darauf aufmerksam werden, wie die Dinge sich jeweils im Umgang mit ihnen zeigen. Hält man die Erfahrung eines Dinges in seinem jeweiligen Situationszusammenhang
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Heidegger, Ontologie, GA 63, 18. Heidegger, Ontologie, GA 63, 18. Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 345–347. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 117. Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 53. A
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fest, dann hält zugleich das Dasein sich selbst in seiner eigentlichen Zeitlichkeit fest, nämlich in seiner eigenen Endlichkeit. Die Aufgabe der Hermeneutik ist es also, das faktische Dasein zu einer eigenen Auslegung seiner Welt und seines Selbst zu bringen. Die Hermeneutik ist der angemessene Zugang zum Sein des Daseins, sofern dieses Seiende auslegungsfähig und -bedürftig ist. »Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen.« 92 In der Hermeneutik kann das Dasein für sich selbst verstehend werden und verstehend sein. Dass das Verstehen kein erkennendes Verhalten ist, sondern das Erkennen des Seins des eigenen Daseins als »das Wachsein des Daseins für sich selbst«, 93 ist eine Grundposition, die Heidegger hier entwickelt und nicht aufgibt. Dabei fragt sich die Hermeneutik, wann eine Auslegung dessen, worin man unbewusst und unmittelbar lebt, angebracht ist. »Thema der hermeneutischen Untersuchung ist je eigenes Dasein, und zwar als hermeneutisch befragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszubilden.« 94 Hier taucht die Rede von einer »Verwurzelung« auf, die es dem verfallenden Dasein anzubieten gilt. Dabei geht es natürlich nicht darum, im Zeitalter der Heimatlosigkeit eine Verwurzelung des Wesens des Daseins in der Zugehörigkeit zum Ereignis auszubilden, wie Heidegger dies in seinem Spätdenken versucht. Doch man sieht bereits hier ein ähnliches Programm. Hierbei kommt es an auf die »Ausbildung« einer »wurzelhaften Wachheit« gegenüber der Entfremdung der entwurzelten Uneigentlichkeit – eine Ausbildung, die hier, wie auch in Heideggers Spätphilosophie, nichts anderes ist als Ausbildung des Ethos.
5.
Das Sokratische der Hermeneutik der Faktizität
Zur Hermeneutik der Faktizität gehört ein sokratisches Moment. Die Bezeichnung »sokratisch« mag problematisch scheinen, da eine feste Auffassung der sokratischen Philosophie aufgrund ihrer ausschließlich 92 93 94
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Das Sokratische der Hermeneutik der Faktizität
mündlichen Mitteilung schwierig zu entwickeln ist. Jedoch ist die sokratische Philosophie, sowohl in Platons Darstellung als auch in den Schriften Xenophons, eindeutig eine Moralphilosophie. Im Unterschied zu den Vorsokratikern, für die das Welterkennen das Hauptproblem darstellt, kommt es für Sokrates darauf an, den Menschen ins Zentrum der Diskussion zu rücken. Obwohl Sokrates dieses Interesse nicht aus denselben Gründen verfolgt wie Heidegger in seiner Hermeneutik der Faktizität, steht in beiden Fällen das Interesse am menschlichen Leben im Vordergrund. Dieses Interesse beruht bei Sokrates auf Gründen, die viel leichter als ethische zu erkennen sind. Sokrates versucht die Frage zu beantworten, wie das menschliche Dasein sein Leben führen soll. Dies fragt sich Heidegger nicht – zumindest nicht, wenn damit nach einer Moral gefragt ist. Die sokratische Philosophie ist aber zugleich ein Appell zur Selbsterkenntnis, so dass sich eine Parallele zur Aufgabe der Hermeneutik der Faktizität als »Wachsein« des Daseins ziehen lässt. Das Erkennen des Fremden, des anderen Menschen und der Welt überhaupt ist – so Sokrates – unmöglich, solange man sich selbst nicht kennt. »Denn wer sich selbst kennt, der weiß, was für ihn nützlich ist, und vermag zu unterscheiden, was er kann und was nicht. Wer das betreibt, was er versteht, der erwirbt sich, was er benötigt, und es geht ihm gut; andererseits hält er sich von dem fern, was er nicht versteht, und so begeht er keine Fehler und bleibt vor Unheil bewahrt.« 95 Die Bedeutung der Inschrift am Tempel von Delphi »Erkenne dich selbst« prägt Sokrates’ Denken durchweg, denn seine Philosophie ist dem Gott aus Delphi verpflichtet. »Über meine Weisheit nämlich, ob sie wohl eine ist und was für eine, will ich euch zum Zeugen stellen den Gott in Delphi.« 96 Sokrates ruft die Bürger der Polis dazu auf, sich selbst zu erkennen, um dadurch besser zu werden. »Wer aber seine eigenen Fähigkeiten nicht kennt und sich darüber täuscht, dem ergeht es mit den anderen Menschen und den sonstigen menschlichen Angelegenheiten in ähnlicher Weise.« 97 Der sokratische Aufruf zur Selbsterkenntnis des Menschen 95 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, IV 2, 26, 261. Die Erinnerungen an Sokrates wird zitiert nach: Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, hrsg. von P. Jaerisch, München 1962. 96 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 20e. Des Sokrates Verteidigung wird zitiert nach: Platon, Des Sokrates Verteidigung, Band 2, hrsg. von G. Eigler, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1973, 13. 97 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, IV 2, 27, 261.
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entspricht Heideggers Forderung nach der Klärung der hermeneutischen Situation des je eigenen menschlichen Daseins. 98 Sokrates und ebenso der junge Heidegger denken über die praktische Philosophie nach, denn beide Philosophen stellen – auf ihre jeweils eigene Weise – die Frage nach dem menschlichen Leben in seinem Vollzug. 99 Heideggers Hermeneutik der Faktizität ist mit dem sie führenden Anspruch ein richtunggebendes Denken. Sokrates versucht den Menschen zu einem guten Leben zu führen, Heidegger zu einem durchsichtigen. Der Unterschied zwischen beiden Philosophen besteht in der Haltung zur Moralität. Sie hat in Heideggers Denken keinen Platz, wohl aber ein Ethos. Die Hermeneutik der Faktizität ist keine Lehre, keine Disziplin, keine Sammlung von Regeln – und dennoch ist sie ein Weg zur Selbsterkenntnis und damit zur Wahrheit. Es geht hierbei darum, eine Hinführung des menschlichen Lebens zu seinem eigentlichen Sein zu ermöglichen und damit darum, zur Durchsichtigkeit, zur Wahrheit über sich selbst und die Dinge zu gelangen. Zwischen Heidegger und der sokratischen Philosophie gibt es eine weitere Übereinstimmung. Beide versuchen das Wahre zu erreichen. Heidegger versteht Wahrheit als Unverborgenheit und damit nicht im Sinne des Sokrates. Trotzdem entspricht die Suche nach dem Ursprung, die Heideggers Philosophie kennzeichnet, Sokrates’ Suche. Die Hermeneutik der Faktizität versucht die Faktizität des Menschen in seiner Jeweiligkeit zu verorten und damit in seiner eigentlichen Zeitlichkeit zu zeigen, die letztlich in der Erkenntnis des spezifisch historischen Charakters der Faktizität besteht. In diesem Sinne zeigt die Hermeneutik der Faktizität die genuine Seinsweise, in der das menschliche Dasein steht, also wir selbst. Bereits im Kriegsnotsemester hat Heidegger die Phänomenologie als Urwissenschaft bezeichnet, denn zu dieser gehört die hermeneutische Intuition. Dies bedeutet, dass Heidegger nicht aus dem reinen Was übrigens sogar als ein Imperativ sich zu fassen ist: »Das Wie des Seins öffnet und umgrenzt das jeweils mögliche ›da‹. Sein – transitiv: das faktische Leben sein!« (Heidegger, Ontologie, GA 63, 7). 99 Vgl. Gander, Selbstverständnis und Lebenswelt, 362: »Als in diesem Sinne selbst eine Lebenserfahrung, in der sie Möglichkeiten der ›Selbstbegegnung des Daseins‹ eröffnet, formuliert diese Hermeneutik als ›Weise des Erkennens, in dem das faktische Dasein sich […] unnachsichtlich auf sich selbst stellt‹, damit zugleich als Haltung den von der Antike an immer wieder vertretenen Anspruch, Philosophie als Lebensform zu begreifen.« 98
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Das Sokratische der Hermeneutik der Faktizität
Denken oder aus der reinen Anschauung ein Verständnis des damals so genannten Umwelterlebnisses gewinnt. Die Philosophie als Phänomenologie muss vielmehr hermeneutisch entwickelt werden, da nur so das Verborgene der Bedeutsamkeit, das aus der jeweiligen Situation des je eigenen menschlichen Daseins stammt, enthüllt werden kann. Sofern die Bedeutsamkeit, die die Sorge ermöglicht, aus jeweiligen Situationen, jeweiligen Begegnungen, jeweiligen Existenzmöglichkeiten stammt, ist sie in die Bewegtheit des Lebens einbezogen, und damit ist jede Form von Fixierungen dieser Bedeutsamkeit, sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch als auch in den Institutionalisierungen, die Werte und Normen darstellen, »verfallen«. Heideggers Auffassung des faktischen Lebens zeigt nicht nur den wesentlich dynamisch-historischen Charakter der Faktizität, sondern auch die unvermeidbare Verunsicherung, die dem faktischen Leben in seinem Seinscharakter zu eigen ist. Diese Unsicherheit hat Heidegger nicht nur aus seiner Analyse der urchristlichen Religiosität gewonnen, sondern auch aus seiner Umdeutung der Phänomenologie: Heidegger ist überzeugt, dass der Zugang zur Faktizität und damit zu den Grundstrukturen des faktischen Lebens nicht durch einen theoretisch erkennenden Zugang möglich ist. Heidegger konnte keine positive Bewertung der Ethik in einem normativen Sinne haben, weil jede Form von Normativität, die aus einer Definition gewonnen wird, keine Fraglichkeit erlaubt und damit für ihn verfallen ist. Heidegger behauptet in seiner ersten Vorlesung auch – wie in der Einführung dieser Arbeit bereits erörtert wurde –, dass das ethische Bewusstsein eine »Objektivierung« sei, weil sie »den Anspruch auf objektive Gesetzlichkeit« habe. 100 In diesem Sinne wird klar, dass Heideggers Ablehnung jeder Form von Allgemeinheit in seiner kritischen Haltung gegenüber jeder Objektivierung, in der der Mensch und sein Leben innerhalb einer erkennenden Forschung bleiben und damit als Gegenstand betrachtet werden, gründet. Unter diesem Prinzip, das menschliche Dasein nicht als Gegenstand zu betrachten, versucht Heidegger seine Bestimmung der Philosophie zu formulieren. Er versucht, über das Leben zu sprechen, ohne es damit zu verfestigen. Aus demselben Grund betont Heidegger ebenfalls immer wieder, dass der Weg zum Eigenen der des Fragenden ist. Im Gegensatz zum Aufenthalt in der »Man«-Welt, in dem das Dasein durch 100
Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 105. A
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Der ethische Grundzug der Hermeneutik der Faktizität
die »Sicherheit und Unfragwürdigkeit seines Seins« 101 charakterisiert ist, soll der Mensch einen anderen Aufenthalt ausbilden, in dem er eine offene Frage werden kann, um sich selbst wieder finden zu können. Wenn man Heideggers Grundanliegen so formuliert, liegt das Sokratische darin auf der Hand.
6.
Das Wachsein des Daseins und die Jeweiligkeit
Die Aufforderung zur Wachheit ist etwas, was man nicht ohne sein Verhältnis mit der Jeweiligkeit des Daseins richtig auffassen kann. Aufs Ganze gesehen, ist die Jeweiligkeit zunächst Faktizität, das heißt das Verweilen des Daseins in einer, nämlich seiner bestimmen Lage. 102 »Wachsein« heißt nichts anderes als das wache Verweilen in dieser jeweiligen Lage. »Dieses Verweilen bei – hat seine Weile, das Aufenthaltsmäßige der Zeitlichkeit der Alltäglichkeit, ein Verweilen bei – in einem Sichhinziehen der Zeitlichkeit. Ein solches Verweilen ist zunächst und zumeist kein nur noch betrachtendes, sondern ein gerade Beschäftigtsein mit etwas.« 103 Diese Unterscheidung weist auf ein rechtes Verweilen hin, das heißt auf einen »echten« oder »genuinen« Aufenthalt, wie Heidegger dies nennt. 104 Der echte Aufenthalt ist das »Enthalten von ruinanter Bewegtheit, d. h. die Schwierigkeit ernst nehmen, die damit wache Erschwerung vollziehen, verwahren«. 105 Es ist ein Aufenthalt als das »Aufhalten beim Leben selbst, seinem Gegenstands- und Seinssinn: Faktizität«. 106 Dieser Aufenthalt unterscheidet sich radikal vom theoretischen, »hinsehenden« Aufenthalt. Denn das jeweilige Da-sein, das zeitliche Da-bei-sein in einer Lage ist der Seinssinn des faktischen Lebens schlechthin. 107 Mit dem Wort »Dasein«
Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 41. Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 7. 103 Heidegger, Ontologie, GA 63, 87. 104 Heidegger, Ontologie, GA 63, 109. 105 Heidegger, Ontologie, GA 63, 109. 106 Heidegger, Ontologie, GA 63, 109. 107 Vgl. Günter Figal, Martin Heidegger zur Einführung, Hamburg 4 2003, 37: »Heidegger assoziiert mit ›Dasein‹ vielmehr ›Verweilen‹, ›Nichtweglaufen‹ und ebenso die eigentümliche Prägung ›Da-bei-sein‹. ›Dasein‹ heißt ›Präsentsein‹, ›Nichtabwesendsein‹ in dem Sinne, daß damit Aufmerksamkeit im Gegensatz zur Unaufmerksamkeit bezeichnet ist.« 101 102
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Das Wachsein des Daseins und die Jeweiligkeit
wird auf »eine Präsenz eigener Art« hingewiesen. 108 Das Dasein ist deshalb Jeweiligkeit. Heideggers Verständnis der Philosophie wird von Anfang an vom Motiv der Erweckung des Menschen aus seinem blinden Normalzustand geleitet. Nur durch diese Erweckung beginnt der Mensch den Weg zu Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung. Dieser Gedanke, der Heidegger bereits im Jahr 1918 leitet, wird auch durch einen Brief an Elisabeth Blochmann dokumentiert: »Wo der Glaube an den Selbstwert der eigenen Bestimmung wahrhaft lebt, da wird alles Unwertige einer zufälligen Umgebung von innen heraus u. für immer überwunden.« 109 Die Suche nach der Wahrheit des Selbst lässt sich unmissverständlich als eine ethische Suche deuten, insofern sie die eigenste und wahrhafte Weise des Lebens bedeutet. Der Erweckungsimpuls in Heideggers Hermeneutik der Faktizität, sein Anspruch auf eine Ernüchterung des Daseins zielt darauf, einen in der Jeweiligkeit oder der Faktizität wachen Aufenthalt des Menschen zu erreichen. Denn der »Aufenthalt« ist für Heidegger »ein Charakter der Sorgensbewegtheit in der Begegnung […], und zwar ein solcher, in dem sich die Sorgensbewegtheit in eigener Weise steigert.« 110 Der Aufenthalt bildet gerade das, was »für das Leben die Lage, in der es sich im strengsten Sinne befindet, so daß es an ihm selbst von dem her, was es ist, selbst da ist«, ausmacht 111 Die »höchste Aufgabe« besteht in nichts anderem, als »den echten und nicht beliebigen Aufenthalt zu gewinnen«. 112 Weil die Jeweiligkeit des Daseins eigentlich ein zeitliches Verweilen des Daseins in seiner Situation ist, lässt sich Heideggers Hermeneutik der Faktizität als ein Nachdenken über das rechte Ethos, den exemplarischen Aufenthalt des Menschen interpretieren. Das Ethos, das die Hermeneutik der Faktizität beansprucht, steht jedoch, wie wir im Laufe des Kapitels gesehen haben, in einem wesentlichen Zusammenhang mit der Philosophie. Die entscheidende Voraussetzung von Heideggers phänomenologiFigal, Martin Heidegger zur Einführung, 42. Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 15. 06. 1918, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 7. 110 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles, GA 62, 95. 111 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles, GA 62, 97. 112 Heidegger, Ontologie, GA 63, 109. Dazu auch: Riedel, Hören auf die Sprache, 272– 273. 108 109
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Der ethische Grundzug der Hermeneutik der Faktizität
scher Hermeneutik der Faktizität besteht in dem Gedanken, dass die Faktizität klärungsbedürftig ist. Sie soll eine Transparenz des menschlichen Daseins in seinem eigenen Sein und seiner Welt erreichen, gerade weil die Faktizität nicht von Anfang an transparent ist. Heidegger ist überzeugt, dass das einfach Zugängliche und Öffentliche aus einem verborgenen Ursprünglichen stammt. Deshalb wird Heideggers Hermeneutik der Faktizität als ein paradigmatischer Rückgang auf das Verborgene verstanden. 113 Durch Heideggers Hermeneutik wird das menschliche Dasein weder in ein gutes Leben noch in die aristotelische Glückseligkeit geführt. Vielmehr führt sie uns in die Klärung und Erkenntnis des eigenen Seins und damit in unsere wahrhaftige Seinsverfassung. Diese Seinsverfasssung ist die radikale Unbestimmtheit unseres Seins. Die radikale Unsicherheit des menschlichen Lebens zu erkennen, ist jedoch kein Mittel, um ein glückliches Leben zu erreichen, sondern ist vielmehr ein Mittel, das Leben transparent zu machen und somit die genuine Weise, in der wir sind. Wenn Heidegger auf der Suche nach dem Eigentlichen des menschlichen Lebens ist, zeigt dies, dass das Eigentliche die Stelle des anzustrebenden Guten im aristotelischen Sinne einnimmt. 114 Das Zeitliche und das ausgezeichnete Ethos verbinden sich nun im Begriff der Jeweiligkeit. Dies ist für die Interpretation des Ethischen in der Philosophie Heideggers von zentraler Bedeutung. Insofern die Jeweiligkeit ein Verweilen ist, steht die Jeweiligkeit zugleich im Bezug zum Aufenthalt, noch genauer gesagt: zu einem zeitlichen Aufenthalt – was nichts anderes als der Ausdruck eines Ethos ist. Die Interpretation erlaubt es nun, folgende zwei Punkte festzuhalten: Wir wissen einerseits bereits, dass es in Heideggers früher Hermeneutik das Ethische gibt, und andererseits, dass dieses Ethische in einem Bezug zum Zeitlichen steht. Bisher ist jedoch noch nicht klar, wie das Zeitliche in der Hermeneutik der Faktizität interpretiert wurde. Dass Heidegger auf der Suche nach dem richtigen Sichaufhalten des individuellen, konkreten Menschen in seiner Jeweiligkeit ist, lässt sich klar an dem Vorrang erkennen, den Heidegger der Phronesis und Praxis vor der Theorie einräumt. Heidegger entwickelt seine Hermeneutik der Faktizität vor dem 113 Vgl. Jean Grondin, Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, 59–70. 114 Dies wird im II. Kapitel erörtert.
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Das Wachsein des Daseins und die Jeweiligkeit
Hintergrund dieser aristotelischen Begriffe. Der Unterschied zwischen Phronesis und Sophia ist, wie wir sehen werden, ein aufenthaltsmäßiger. Gerade der phronetische Aufenthalt – und nicht der der Sophia – erweist sich als der rechte Aufenthalt des Menschen.
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Kapitel II: Die Herausarbeitung des Ethos am Modell der aristotelischen Phronesis
Im vorangehenden Kapitel wurde darauf aufmerksam gemacht, dass zur Hermeneutik der Faktizität eine ethische Dimension gehört. Dabei wurde ihre befreiende Funktion als eine ethische hervorgehoben, sofern sie durch die Erweckung des menschlichen Daseins dessen Eigentlichkeit beabsichtigt. Die folgenden Überlegungen haben nun die Absicht, meine Interpretation der Hermeneutik der Faktizität als einer Ausarbeitung des Ethos des Menschen tiefer zu begründen. Hierbei soll ersichtlich werden, dass Heidegger ein bestimmtes Ideal des Ethos vor Augen hatte, das in einem inneren Zusammenhang mit seinem Verständnis von Zeit und Wahrheit steht. Zum Verhältnis zwischen dem Zeitlichen und der Hermeneutik der Faktizität wurde im vorigen Kapitel schon einiges gesagt. Aus Heideggers produktiver Beschäftigung mit der urchristlichen Religiosität stammt seine kairologische Auffassung der Zeit. Die Wichtigkeit dieser Beschäftigung wird erst dann verständlich, wenn man sich im Klaren darüber ist, dass gerade das kairologische Zeitverständnis nicht nur das Frühwerk Heideggers radikal prägt, sondern auch seine Spätphilosophie. 1 Da die urchristliche Lebenserfahrung sich letztlich als unzureichend erweist, 2 ist Heidegger weiterhin auf der Suche nach einem angemessenen Paradigma des faktischen Lebens, in dem die Zeitlichkeit als solche gelebt wird. Bei dieser Suche wendet er sich Aristoteles zu. 3 In der praktischen Philosophie des Aristoteles, mit der er sich seit 1921 und auch noch in seinen Marburger Vorlesungen verstärkt auseinandersetzt, findet nun die phänomenologische Analyse des faktischen Lebens einen soliden Hintergrund: Heidegger gewinnt den Begriff der Vgl. Sandro Gorgone, Il tempo che viene. Martin Heidegger: dal kairós all’Ereignis, Napoli 2005. 2 Siehe das I. Kapitel dieser Arbeit. 3 Vgl. Figal, Heidegger als Aristoteliker, 58–59. 1
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Die Herausarbeitung des Ethos am Modell der aristotelischen Phronesis
Phronesis, und zwar aus seiner Untersuchung des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik. Betrachtet man Heideggers Verständnis dieses Begriffes näher, so erkennt man, dass das Entscheidende der Phronesis für Heidegger in ihrer kairologischen Zeitlichkeit liegt. Tatsächlich findet Heidegger in der Phronesis genau dieselbe zeitliche Struktur, die er zuvor schon in der urchristlichen Religiosität gefunden hatte. Zur Phronesis gehört also auch die eigentliche Zeitlichkeit. Heidegger distanziert sich mit seiner Auslegung der aristotelischen Philosophie von deren theoretischer Prägung und gewinnt so den Ausgangspunkt, aus dem er die Seinsfrage erst als die Frage nach dem Sinn von Sein präzisieren kann. Während seiner Arbeit als Privatdozent in Freiburg und fast seiner gesamten Marburger Zeit versucht Heidegger einen Abbau der aristotelischen Philosophie. 4 Bereits in der Programmschrift von 1922, dem sogenannten Natorp-Bericht, werden die Analysen der Phronesis, des Seins als Hergestelltsein, der Kinesis (kfflnhsi@) und der Aletheia (⁄lffiqeia) vorbereitet, die in den Marburger Vorlesungen den Hintergrund bilden und in der folgenden Zeit weiter entfaltet werden. Zwischen 1921 bis 1925 entdeckt Heidegger Aristoteles nicht nur als einen Phänomenologen des faktischen Lebens, sondern sieht seine Schriften vor allem als die größte Darstellung des griechischen Denkens, das die philosophisch-theologische Tradition bis heute in entscheidender Weise prägt. Heideggers eigene Äußerungen über Aristoteles sind Zeugen großer Verehrung. 5 Vor allem konzentriert sich Heidegger aber auf die Fortführung seiner Kritik an der Ousiologie des Aristoteles als derjenigen (mit Derrida gesagt) »Metaphysik der Präsenz«, 6 die wesentlich in einem technischen Modell gründet. 7 Heidegger erläutert nicht nur den Vorrang der Ousiologie Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 76: »Abbau, das heißt hier: Rückgang zur griechischen Philosophie, zu Aristoteles, um zu sehen, wie ein bestimmtes Ursprüngliches zu Abfall und Verdeckung kommt, und zu sehen, daß wir in diesem Abfall stehen.« 5 Beispielsweise sei auf eine Passage Heideggers hingewiesen, in der die aristotelische Physik als »das verborgene und deshalb nie zureichend durchdachte Grundbuch der abendländischen Philosophie« bezeichnet wird (Heidegger, Vom Wesen und Begriff der FÐsi@, GA 9, 242). Aristoteles ist für ihn nicht weniger als »das Vorbild eines nüchternen Forschers« (Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 83). 6 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974, 41. 7 Heidegger berichtet im Natorp-Bericht, dass die »›Grundkategorie‹ der pofflhsi@« diejenige ist, »die die aristotelische Ontologie durchherrscht, d. h. aber, sie erwächst in der Explikation eines bestimmten Ansprechens von bestimmt gesehener Bewegtheit«. Und er fährt fort: »Charakteristischerweise hat in der auf die kfflnhsi@ gerichteten Problema4
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in der klassischen Ontologie, sondern er versucht zugleich, diese durch sein praktisches Modell zu ersetzen. Wichtig ist für ihn, das der Ousiologie zugrunde liegende zeitliche Moment herauszuheben, um damit das Verhältnis von Sein und Zeit zu klären. 8 Die Überzeugung, die in Heideggers Rede von der Sorge sowohl im Natorp-Bericht als auch in Sein und Zeit zum Ausdruck kommt, ist gerade, dass das Theoretische und ebenso das Praktische als bloß sekundäre Abstraktionen des Vollzugs des Lebens aufzufassen sind. Im Vollzug (Existieren) sind wir immer als Bezugssinn (Sorge) auf den Gehaltsinn (Welt) gerichtet. In der Grundstruktur der Sorge, so Heidegger, gründen alle unsere Handlungen, denn sie ist für das Erscheinen der Welt im Charakter der Bedeutsamkeit verantwortlich. Dennoch ist die Sorge für Heidegger kein blinder Umgang mit der Welt, sie hat eine bestimmte Sicht: die Umsicht. 9 »Die Sicht des besorgenden Umgangs hält als Umsicht dem Insein seine nächste Welt erschlossen.«10 In dieser Weise gewinnen die Gegenstände des Umgangs erst eine Bedeutung. Von hier aus sieht man nicht nur eine eindeutige Priorität der Praxis, die die Priorität des Umgangs darstellt, sondern zugleich, wie Günter Figal betont, eine »Belastung« 11 der praktischen Philosophie durch das Theoretische: Wenn Heidegger im Natorp-Bericht feststellt, dass das Sorgen als die Grundbewegtheit des faktischen Lebens den Charakter des Umgangs dieses Lebens mit seiner Welt besitzt, dann wird damit die Praxis zwar als das Entscheidende des faktischen Lebens bezeichnet. Doch zugleich Heidegger belastet »die praktische Philosophie mit Aufgaben des Theoretischen«. 12 Der Umgang mit den Dingen ist keine undifferenzierte Praxis, sondern enttik das ›Werden der Bildsäule aus Erz‹ (in der Umgangsbewegtheit der Herstellung) die Rolle des führenden Exempels« (Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 394–395). 8 Dass das Zeitliche ein entscheidendes Problem für ihn ist, berichtet Heidegger selbst am 21. März 1925 in einem Brief an Hannah Arendt: »Mir liegt gerade daran, den Unterscheid von Weltanschauungsbildung und wissenschaftlich-philosophischer Forschung klar zu machen und zwar an der konkreten Frage nach Wesen und Sinn der Geschichte« (Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 21. 03. 1925, in: H. Arendt/M. Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hrsg. von U. Ludz, Frankfurt a. M. 1998, 17–18). 9 Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 353. 10 Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 36. 11 Figal, Gegenständlichkeit, 24. 12 Figal, Gegenständlichkeit, 24.
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hält eine epistemologische Qualifizierung, die eigentlich zum Theoretischen gehört, nämlich die des umsichtigen Umgangs, der Phronesis. 13 In der Weise des Hinsehens, die auf das theoretische Verhalten hinweist, vollzieht sich die Sorge so, dass sie dabei der Welt hinsichtlich ihres »Aussehens«14 begegnet. Dieses Hinsehen ist die leitende Sicht der wissenschaftlich-theoretischen Einstellung. Sowohl Hinsicht als auch Umsicht sind wesentliche Modi der Sorge, das heißt Weisen des Umgangs. Jedoch besitzt der umsichtige Umgang, den Heidegger in seiner Deutung der Phronesis mit dieser identifiziert, einen Vorrang vor dem hinsichtigen Umgang. 15 Mit dem Vorrang des umsichtigen Umgangs nimmt Heidegger eine eigenartige Umdeutung vor, die erläuterungsbedürftig ist: Einerseits zeigt sich eine Verabsolutierung des Praktischen. Zum anderen aber wird das Praktische zugleich theoretisiert. Praxis und Theorie stehen also in einem merkwürdigen Zusammenhang, in dem beide einerseits als ineinander verflochten und andererseits als voneinander getrennt erscheinen. Das Entscheidende ist dabei, dass, selbst wenn die Praxis ein theoretisches Moment in sich trägt, das Umgehen, das Handeln, die ursprüngliche Weise bleibt, in der der Mensch seinen primären Zugang zur Welt, ja zu den Dingen hat. 16 Zentral ist deshalb auch, dass Heidegger eine radikale Deformierung der praktischen Philosophie vollzieht, die für das Denken des Ethischen von großer Tragweite ist. Aristoteles hatte die Ethik definiert als eine praktische Disziplin, das heißt als ein bestimmtes philosophisches »Stück« innerhalb einer bereits gegliederten Philosophie. Dieses beschränkte Verständnis der Ethik ist aber nur sinnvoll, wenn man von der Legitimität der dabei zugrunde liegenden Einteilung der philosophischen Welt in eine praktische und eine theoretische Dimension ausgeht. Stellt man diese Einteilung in Frage, dann geht zugleich die Selbstverständlichkeit, mit der die Ethik der praktischen Disziplin zugeordnet wird, verloren. Gerade Heidegger vertritt, wie gesagt, die These, dass das Theoretische und das
13 Heidegger bezeichnet die Phronesis auch als »fürsorgende Umsicht« (vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 376) und als »fürsorgliches Sichumsehen (Umsicht)« (vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 376–377). 14 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 373. 15 Vgl. Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 37. 16 Vgl. Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 41.
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Praktische lediglich als Abstraktionen zu sehen sind, die im sorgenden Vollzug des menschlichen Lebens gründen. Ich möchte zunächst kurz auf eine für diese Arbeit besonders bedeutsame Beschreibung der Phronesis durch Heidegger aufmerksam machen. Heidegger zeigt darin nämlich den Vorrang der Phronesis vor der Sophia dadurch auf, dass er ihren eigentümlichen Aufenthaltscharakter hervorhebt. Im Unterschied zur Phronesis, die dem Menschen einen bestimmten Aufenthalt anbietet, in dem das menschliche Dasein in der Bewerkstelligung bleibt, ist der Aufenthalt des »hinsichtigen Umgangs«, also des Theoretischen, ein »Sichaufhalten« beim Gegenständlichen im »Sichenthalten von Bewerkstelligung«. 17 Das bedeutet, dass das Dasein im theoretischen Aufenthalt nicht beim Handeln und das heißt bei den Dingen in ihrer durch das Handeln vollzogenen Enthüllung bleibt. Vielmehr kommen dabei nicht die Dinge, wie sie sich jeweils zeigen, sondern nur bloße Gegenstände zum Vorschein. Der vergegenständlichend-theoretische Aufenthalt ist weder der einzige noch der primäre Modus des genuinen Aufenthaltes des Menschen. Der sekundäre Status des theoretisch-erkennenden Umgangs mit der Welt im Vergleich zum hinsichtigen Umgang kommt auch in Sein und Zeit dadurch zum Ausdruck, dass er dort als ein defizienter Modus des Besorgens beschrieben wird. 18 Den primären Aufenthalt sieht Heidegger immer im Tun und Handeln.
1.
Warum interessiert sich Heidegger für die Phronesis?
Die allgemeine Frage nach dem Grund für Heideggers Aufmerksamkeit für die aristotelische Philosophie kann hier nicht näher behandelt werden. 19 Ich beschränke mich darauf, darzulegen, was Heideggers Aufmerksamkeit auf die Phronesis gelenkt hat. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 354. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 82–84. 19 Diese Hinwendung zu Aristoteles bedeutet eine radikale Wendung auf Heideggers Denkweg. Gelegentlich erscheint Aristoteles im Kontext der Analyse der urchristlichen Lebenserfahrung in den Vorlesungen über die Religion, vor allem als Luthers »Feind«. Dennoch fehlt eine grundlegende Analyse der aristotelischen Philosophie. Gewiss kannte Heidegger die Philosophie von Aristoteles mindestens seit 1909 durch sein Studium der Theologie in Freiburg, welches damals von einer neuscholastischen Tradition geprägt war. Eindeutig ist Heideggers autobiographische Bemerkung, nach der er schon 17 18
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Warum interessiert sich Heidegger für die Phronesis?
In der praktischen Philosophie des Aristoteles, vor allem in den Überlegungen, die im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik entwickelt werden, findet Heidegger eine neue Art der Vernunft, die sich deutlich von der theoretischen Vernunft unterscheidet. Im Natorp-Bericht werden zwei Grundphänomene der aristotelischen Philosophie erwähnt, denen Heidegger besondere Aufmerksamkeit schenkt, nämlich die praktische Vernunft (Phronesis) und das Phänomen der Bewegung (Kinesis). Aber bevor wir uns mit diesen Phänomenen beschäftigen können, sollten wir zuerst ein klares Bild davon haben, was Heidegger durch seinen Rückbezug auf Aristoteles überhaupt zu erreichen versucht. Bei seiner Interpretation der erwähnten aristotelischen Schriften zielt Heidegger darauf ab, die Voraussetzungen herauszustellen, in denen die aristotelische Bestimmung dessen gründet, was Heidegger als Sein des menschlichen Daseins versteht. Diese Voraussetzungen werden in Bezug auf die behandelte Faktizitätsproblematik konzipiert. Nur durch die Destruktion, den Abbau der heutigen philosophischen Tradiab 1907 Brentanos Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles gelesen habe, ein Zeugnis dafür, dass er Aristoteles kannte (vgl. Martin Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, GA 14, 93). Dennoch bleibt seine Kenntnis des Aristoteles bis 1921 sozusagen verborgen. Was Heidegger zu Aristoteles geführt hat, ist schwer präzise zu bestimmen. Dennoch scheint es kein Zufall zu sein, dass diese Hinwendung direkt nach seiner Vorlesung über die Religion geschieht. Einerseits geht es um den Einfluss auf Luther und andererseits um das Bedürfnis nach einem festen Modell, an dem sich die Seinsweise des faktischen Lebens in seinem historischen Charakter erklären lässt. Unter dem Einfluss des Reformators ist es, wie Theodore Kisiel sagt, erst möglich zu denken, dass Heidegger der Tendenz Luthers zur »Destruktion« der scholastischen Theologie und damit auch des Aristoteles selbst zu folgen versucht (vgl. Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley, Los Angeles, London 1993, 228). Darüber hinaus ist auch wahrscheinlich, wie van Buren sagt, dass Heidegger die positive Aneignung des Aristoteles durch Luther und Kierkegaard gekannt hat (vgl. van Buren, The young Heidegger, 223). Daher ist dieses abbauende »Zurück zu Aristoteles« eine Weise, sich die Philosophie des Aristoteles selbst anzueignen. Vgl. auch: Grossmans, Heidegger und Luther, in: C. Esposito und P. Porro [Hrsg.], Heidegger et i medievali (Quaestio 1), Turnhout 2001, 193–209, hier 204: »Der durch Luther geschärfte Blick auf die Faktizität des Lebens und seine unhintergehbare Endlichkeit bestimmt wiederum seine spezifische ›Blickrichtung auf Aristoteles‹.« Dazu siehe auch: Christian Sommer, Heidegger, Aristote, Luther. Les sources aristotéliciennes et néo-testamentaires d’Être et Temps. Paris: Presses Universitaires de France, coll. »Epiméthée«, 2005; Christian Sommer, »Mut zur Angst vor dem Tode. Aristoteles und Luther in Heideggers Sein und Zeit«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, 6 (2007), 221–237. A
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tion, kann die Philosophie, die sich noch uneigentlich in der griechischen Begrifflichkeit bewegt, einen Rückgang zu ihren ursprünglichen Quellen gewinnen. 20 Heidegger hat in Aristoteles einen Philosophen gefunden, der in der Bestimmung des menschlichen Lebens mit ihm eine ähnliche Auffassung der ursprünglichen Faktizität teilt. Heidegger und Aristoteles haben das menschliche Leben ins Zentrum der philosophischen Debatte gerückt. Aber nicht nur das: Beide Philosophen haben das Leben dynamisch, oder genauer gesagt: kinetisch aufgefasst. Das heißt allerdings nicht, dass beide Philosophen das Phänomen des Lebens gleich verstanden hätten. 21 Doch tatsächlich entspricht Aristoteles’ Verständnis des Lebens im Sinne einer Bewegung Heideggers eigenem Verständnis der Faktizität selbst. Nicht von ungefähr bezeichnet Heidegger die »Problematik der Faktizität« als ein »kfflnhsi@-Problem«. 22 Deswegen betrachtet Heidegger das »Bewegtsein« 23 als das grundlegende Konzept der aristotelischen Philosophie, aus dem er seinen hermeneutischen Sinn zu gewinnen beabsichtigt. Die Physik des Aristoteles erhält daher insofern eine zentrale Bedeutung, als sich Aristoteles in dieser Arbeit, so Heidegger, mit dem »Seienden im Wie seines Bewegtseins« 24 beschäftigt. Das heißt für Heidegger, dass Aristoteles das »Bewegtsein« von der Problematik der Faktizität her konzipiert. Aristoteles habe also die Faktizität als die ursprüngliche Seinserfahrung gedacht.
2.
Zu Heideggers Kritik an der traditionellen Metaphysik
Bereits in der Freiburger Vorlesung aus dem SS 1920 sagt Heidegger ausdrücklich: »Es besteht die Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christlichen Existenz durch sie.« 25 Seine Interpretation und Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 368. Mehr über Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Heidegger und Aristoteles: Vgl. Friederike Rese, Handlungsbestimmung vs. Seinsverständnis. Zur Verschiedenheit von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik und Heideggers Sein und Zeit, in: HeideggerJahrbuch 3 (2007), 170–198. 22 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 117. 23 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 371. 24 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 371. 25 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 91. 20 21
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Zu Heideggers Kritik an der traditionellen Metaphysik
Aneignung der aristotelischen Phronesis wird nur verständlich aus seiner Kritik dessen, was man eine »Metaphysik der Anwesenheit« nennen kann. Bekanntlich ist der Begriff Ousia (o'sffla) für Heidegger der »Grundbegriff schlechthin der aristotelischen Philosophie«. 26 Ousia bedeutet das substanzielle Anwesendsein, dem nicht nur das griechische Verständnis des Seins entspricht, sondern auch das Seinsverständnis der gesamten abendländischen Philosophie. Ousia ist als die verfügbare Anwesenheit zugleich als Vorhandensein aufzufassen, 27 das heißt als die bestimmte Weise, in der eine Sache für uns da ist – ohne unser jeweiliges Zu-tun-Haben mit der entsprechenden Sache. Es ist wahrscheinlich eine der größten Interpretationsleistungen Heideggers, dass in der Bestimmung des Seins als Ousia bei den Griechen dieses sowohl »Gegenwärtigkeit« als auch »Fertigkeit« heißt. 28 Daher wird das Sein auf der Basis eines Herstellungsmodells konzipiert: »Diese Weise der Seinsverwahrung ist die tffcnh.« 29 Dieses bei Heidegger herausgehobene Seinsverständnis als Fertigsein am Ende eines Herstellungsvorgangs (pofflhsi@) zeigt unmittelbar die wesentliche Bezogenheit dieser Seinsauffassung auf eine leitende und ihr zugrunde liegende Interpretation der Zeit, in der der Vorrang der Gegenwart vor der Zukunft und der Vergangenheit zum Ausdruck kommt. Da Heidegger eben diese Metaphysik der Gegenwart und damit der Anwesenheit zu überwinden versucht, ersetzt er das poietische Modell durch ein praktisches. So sichert er die Dimension des Anderssein-könnens, die zum praktischen Modell wesentlich gehört. 30 Dies zeigt zunächst, dass Heidegger durch seine intensive Zuwendung zur Problematik der Zeitlichkeit nicht nur die Beziehung zwischen Sein und Zeit weiter untersuchen möchte, sondern vor allem beabsichtigt, eine Erweiterung der Seinsforschung zu vollziehen, die, wenngleich sie zeitlich bleiben muss, nicht innerhalb eines Vorrangs der Gegenwart gedacht werden soll. Die Notwendigkeit eines neuen Seinsdenkens wird aus Heideggers Interpretation des griechischen Seinsverständnisses deutlich: Die griechische Seinsforschung orientiert sich am Modell der Poiesis, 31 26 27 28 29 30 31
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 22. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 33–34. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 35. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 375. Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 375. Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 373. A
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denn der Sinn von Sein wird bei den Griechen als eine beständige Anwesenheit gedacht. Die beständige Anwesenheit ist das Fertig-vor-Augen-sein, der Anblick des Fertigen, das keine Veränderung in sich trägt und dementsprechend auch keine Veränderung mehr ermöglicht. Dieses Seinsverständnis entspricht aber nicht der kinetischen Seinsweise des menschlichen Lebens, die für die Hermeneutik der Faktizität so wichtig ist. Aus diesem Grund ist das Verständnis des Seins als Fertigsein und Anwesenheit gegenüber der Seinsweise der Faktizität unzureichend. Heidegger geht davon aus, dass es eine andere Auffassung des Seins geben muss, die in einer Affinität zur Kontingenz des Lebens stehen kann. So beginnt Heidegger eine Umkehrung: Der Logos (lgo@) wird nicht als das Ganze der Sprache, sondern als Akt des Sprechens identifiziert und damit als eine Weise des Besorgens verstanden. 32 Damit versucht Heidegger den Vorrang der Praxis vor der Sophia zu zeigen. Um die untergeordnete Stellung des Logos gegenüber der Praxis verständlich zu machen, stellt Heidegger die ihm zugrunde liegende Beweglichkeit heraus. Der Logos wird in einem Kausalschema konzipiert, das heißt im Hinblick auf ein äußeres Ende, das zur Erfüllung gebracht wird. Die Praxis ist jedoch anders strukturiert: »Pr”xi@ ist ›Besorgen‹ und heißt als solches hier nichts anderes als Etwas-zu-seinem-EndeBringen. Darin liegt, daß das Besorgen in sich selbst ein Ende hat, und zwar das Ende hat als dasjenige, worauf zu das Besorgen als Besorgen geht.« 33 Die Praxis steht sogar an höherer Stelle als die Poiesis. Während bei der Poiesis die Führung der Bewegung und deren Endziel außerhalb ihrer liegen, nämlich im Eidos, trägt die Praxis in sich selbst das sie führende Ende. »Das Entscheidende bei der yrnhsi@ ist der pr”xi@. Die pr”xi@ ist in der yrnhsi@ ⁄rcffi und tfflo@. Im Vorblick auf eine bestimmte Handlung wird die yrnhsi@ vollzogen, und sie kommt zu ihrem Ende in der Handlung selbst.« 34 Die Relevanz dieser Argumentation ergibt sich im Zusammenhang von Heideggers Verständnis des Lebendigen, das wiederum der aristotelischen Bestimmung des Lebens in seiner Prozessualität entspricht. Dass das Leben als Physis (yÐsi@) von sich selbst aus ein Prinzip der Bewegung hat,
32 33 34
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Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 19–20. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 58. Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 139.
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Der Vorrang der Phronesis
ist die Grundannahme des Aristoteles, die Heideggers praktisches Modell leiten soll. Die in der Hermeneutik der Faktizität ausgearbeitete Beweglichkeit des faktischen Lebens steht mit einer Beweglichkeit des menschlichen Zugangs zum Sein im Einklang. Die Art und Weise, in der das menschliche Dasein lebt, das heißt ist, bestimmt dessen Zugang zum Sein. Heidegger findet gerade in der Phronesis ein Modell, das die eigentliche Öffnung des Menschen für das Sein ermöglicht.
3.
Der Vorrang der Phronesis
Die Phronesis als die praktische Vernünftigkeit stellt für Heidegger den direkten Zugang dar, den das menschliche Leben zu sich und seiner Welt hat. Sie ist keine Reflexion, sondern eine unmittelbare Verständlichkeit, die dem Menschen im Handeln zu eigen ist. 35 Dieser Verständlichkeit, die die Phronesis ausmacht, räumt Heidegger einen grundlegenden Vorrang gegenüber der Sophia ein, was offenbar über die aristotelische Auffassung dieses Begriffes hinausgeht. Die Umdeutung des Aristoteles, die Heidegger unternimmt, zeigt sich hier besonders klar: Einerseits behauptet er, dass die Praxis einen Vorrang vor der Theorie hat, die Phronesis vor der Sophia steht. 36 Andererseits aber wird die moralische Bedeutung der Phronesis außer Kraft gesetzt. Die Phronesis bezieht sich nicht mehr wie bei Aristoteles auf das gute Leben und die Glückseligkeit des menschlichen Lebens und verliert so ihre unmittelbare Relevanz für die aristotelische Ethik. Heidegger kehrt also die aristotelische Rangordnung um. Während die Sophia als das »hinsehende Verstehen« sekundär ist, wird die Phronesis als »fürsorgende Umsicht« primär. 37 Heidegger denkt, dass, insofern beide Umgangsweisen von Aristoteles als Ermöglichungen 35 Vgl. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 58: »Die Phronesis ist selbst ein ›Seinsverständnis‹. Das ist sie als ein Verstehen des menschlichen Lebens, dem die einzelnen Überlegungen und Entscheidungen des Handelns letztlich gelten.« 36 Dazu auch: Franco Volpi, Der Rückgang auf die Griechen in den zwanziger Jahren. Eine hermeneutische Perspektive auf Aristoteles, Platon und die Vorsokratiker im Dienst der Seinsfrage, in: D. Thomä [Hrsg.], Heidegger Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 26–37; Franco Volpi, Heidegger und der Neoaristotelismus, in: Heidegger-Jahrbuch 3 (2007), 221–236. 37 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 376.
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Die Herausarbeitung des Ethos am Modell der aristotelischen Phronesis
der Aneignung und der Verwahrung eines Seienden verstanden werden, beide – unter anderen 38 – das Seiende als »unverhülltes« (⁄lhqeÐein) entdecken lassen. 39 Dennoch ist die Weise des Unverhülltseins jeweils anders. Während die Entdeckung bei der Sophia von der Art ist, dass das Seiende notwendig in einer bestimmten Weise unverhüllt ist, entdeckt die Phronesis ihrerseits das Seiende als etwas, das auch anders sein kann: »Das reine hinsehende Verstehen [Sophia, D. A.] bringt das Seiende, dessen ›Von-Wo-Aus‹ und das selbst ist in der Weise, daß es notwendig und immer ist, was es ist, in Verwahrung; das fürsorgendbesprechende Sichumsehen [Phronesis, D. A.] dagegen ein solches Seiendes, das an ihm selbst und dessen ›Von-Wo-Aus‹ anders sein kann.« 40 Nur die Phronesis als Umsicht bringt ein unverhülltes Seiendes »in der genuinen Verwahrung« zum Vorschein.41 Daraus ist ersichtlich, dass Heidegger sich mit der Phronesis aufgrund ihres Bezuges zur Wahrheit beschäftigt. 42 Durch den Begriff der Phronesis findet Heidegger dementsprechend eine bestimmte Form von Wahrheit, die nichts mit dem traditionellen Verständnis zu tun hat. Die Wahrheit ist weder die Korrespondenz des Denkens mit seinem Gegenstand, noch ist ihr Ort im Urteil. Vielmehr bringt sie eine praktische Wahrheit zur Geltung, mit der nun Heideggers seit 1919 gegen die »Vorherrschaft des Theoretischen« 43 gerichtetes phänomenologisch-hermeneutisches Projekt einen festen Boden findet. In der aristotelischen Bestimmung der Phronesis kommt ein eigentümliches Verständnis der Wahrheit zum Vorschein, das übereinstimmt mit Heideggers eigener Auffassung der Bedeutsamkeit als eines Urphänomens, das aus dem Vollzug des menschlichen Lebens stammt. Wenn das Wahre als Sinn- und Seinsbezug verstanden wird, stellt sich die Phronesis eben als der paradigmatische Sinn- und Seinsbezug dar, als ursprüngliche Wahrheit. Die Wahrheit ist für Heidegger nicht nur die erste Begegnung mit dem Seienden »als etwas«, sondern Wahrheit heißt auch, diese Begegnung als eine nuancenreiche zu verstehen. Weiß man, dass das in einer Weise unverhüllte Seiende immer auch anders enthüllt werden kann, dann besagt dies für Heidegger, dass das Seiende in seiner Wahrheit bewahrt 38 39 40 41 42 43
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Vgl. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 376–377. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 378. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 382. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 384. Vgl. Figal, Heidegger als Aristoteliker, 60–61. Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 59.
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wird. Im Urverständnis des Seienden, das die Phronesis enthüllt, gründet nicht nur die Möglichkeit der Falschheit, sondern auch jede andere sekundäre Bestimmung des Unverhüllten. Es liegt an der eigentümlichen Enthüllungsweise der Phronesis, dass sie das Seiende nicht als etwas Bestimmtes, nicht im Hinblick auf eine bestimmte und vorhandene Eigenschaft des Seienden festlegt. Vielmehr bringt sie das Seiende im Zusammenhang einer konkreten Handlungssituation ans Licht. So kann Heidegger von dem durch die Phronesis enthüllten Seienden sagen: »Als ›noch nicht das und das‹, und zwar als Worauf eines Besorgens, ist es zugleich schon das und das als das Worauf einer konkreten Umgangsbereitschaft«. 44 In diesem Sinne wird das Seiende durch seine Entdeckung in der Phronesis offen gelassen, und das heißt: Das Seiende wird im Bereich des Möglichen gehalten. Heidegger versteht die aristotelische Phronesis also als eine »Offenheit des Lebens«. 45 Entscheidend ist nun, dass die Phronesis ständig in Verbindung mit der Selbstwelt des Handelnden steht. Als praktische Wahrheit ist sie »als der jeweils unverhüllte volle Augenblick des faktischen Lebens im Wie der entscheidenden Umgangsbereitschaft mit ihm selbst, und das innerhalb eines faktischen Besorgensbezuges zur gerade begegnenden Welt« aufzufassen. 46 Sie ist, wie Heidegger in der Sophistes-Vorlesung sagt, »Aufgedecktsein des Daseins selbst sowie des Seienden, auf das sich das Handeln bezieht«. 47 Dies ist für Heidegger von Belang, da er nicht nur auf das Womit des Umgangs achtet, sondern vor allem auf das sich daraus ergebende Sinnhafte im menschlichen Leben. So gesehen weist das phronetische Wissen auf eine besondere Art der Lebensorientierung hin. Diese »macht die Lage des Handelnden zugänglich«. 48 Durch die Durchsichtigkeit des ganzen Zusammenhangs der Handlung, die die Leistung der Phronesis ist, lichtet diese das wesentliche Worumwillen des Daseins. 49 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 383. Figal, Heidegger als Aristoteliker, 60. 46 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 384. 47 Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 39. 48 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 383. 49 Es ist dabei anzumerken, dass zur Phronesis ein, wie Anna Pia Ruoppo dies nennt, »transformatives Moment« gehört. Vgl. Ruoppo, Von Hegel zu Aristoteles, 251: »Eine an der Frnhsi@ orientierte Wissensform ist nicht eine einfache Betrachtung der uns gegenüberstehenden Welt. Sie ist eine Weise der Entfaltung, welche die Faktizität betrifft, indem sie durch das Verständnis dasjenige, was ist, vollzieht. Das Verstandene ist nicht einfach anwesend, sondern es wird in dem Moment des Verstehens vollzogen.« 44 45
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Wenn Heidegger das aristotelische Verständnis von Sein als Fertigsein kritisiert, zeigt sich die Phronesis als angemessene Weise, in der das Sein anders als ein Fertigsein erscheinen kann. Seine Kritik an dieser Auffassung des Seins besteht darin, dass das Sein als »Hergestelltsein« 50 einen Sinn hat, und zwar einen ganz bestimmten. Der Sinn des Seins, verstanden im Modell der Herstellung, kann niemals ein undifferenzierter sein, wie derjenige, den die Phronesis als »Umgangserhellung« 51 zur Geltung bringt. Wenn der Sinn des Seins im Sinne eines »Hergestelltseins« zu denken ist, wird das Seiende, das »originär nur […] für den herstellenden Umgang« ist, nicht mehr im gebrauchenden Umgang gehalten. 52 Das Seiende wird als der fertige »Gegenstand in verschiedenen nicht mehr ursprünglichen Sorgenshinsichten« betrachtet. 53 Unter dieser Perspektive denkt Heidegger, dass Aristoteles mit seinem Seinsverständnis die ursprüngliche Erhellung, die die Phronesis im faktischen Leben bringt, wieder verliert. Aus dem Einspruch gegen das Vergessen der Phronesis bei Aristoteles gewinnt Heideggers Philosophie ihre Richtung. Worin aber das Ethische der Phronesis nach der Interpretation Heideggers eigentlich liegt, lässt sich anhand einer Stelle aus der Sophistes-Vorlesung zeigen: das Dasein als ihm selbst Verborgenes »bedarf […] immer wieder der Rettung der yrnhsi@«. 54 Zur Phronesis gehört also ein »rettender« Charakter. Für Heidegger geschieht eine Rettung durch die Phronesis, da das Dasein in ihr gegen seine gleichursprüngliche Selbstverdeckungstendenz kämpft, die im Dasein immer zu finden ist. Die Phronesis selbst ist ja als »Kampf gegen die im Dasein liegende Verdeckungstendenz seiner selbst« zu verstehen. 55 Die Transparenz der Handlung, die sich in der Phronesis ergibt, wird als eine Durchsichtigkeit des Seins des menschlichen Daseins verstanden. Diese führt zur Erhellung der Praxis, und gerade »darin liegt das menschliche
Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 373. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 383. 52 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 398. 53 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 398. 54 Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 51. 55 Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 51. Vgl. auch: Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 52 50 51
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Dasein«. 56 Die phronetische Durchsichtigkeit der Handlung soll zu einer Durchsichtigkeit des Seins des Daseins führen, so Heideggers Anspruch. Seine Interpretation der Erhellung der Phronesis als einer Seinserhellung des Daseins stützt sich auf zweierlei: 1. Die Analyse der Parallele zwischen einem Handwerker als einem Handelnden (Dasein) und der Welt als Werkwelt macht verständlich, weshalb die Klärung der Phronesis als eine Klärung der Seinsweise des Daseins verstanden werden kann. Das Sichaufhalten bei etwas als Phronesis heißt, im Bewerkstelligen und im Gebrauch zu bleiben. Kein theoretischer Abstand kann die Stelle des primären Umgehens mit der Welt übernehmen, weil das Sein des Daseins die Sorge ist. Gebrauch und Dienlichkeit als Modi des Besorgens sind die ursprünglichen und unersetzbaren Quellen des Verstehens. Die heideggersche Konzeption der Welt als »Werkwelt« 57 entspricht also der Auffassung des Daseins als eines handelnden. Ein Ding, ein »Zeug«, wie es in Sein und Zeit heißt, 58 ist »Zeug-zu«, und damit umwillen des handelnden Daseins. Die Welt als die Gesamtheit der Dinge, die nichts anderes als einen Zeugzusammenhang darstellen, ist der Bereich des »Wozu« des Zeugs und des »Umzu« des Daseins. Die Welt zeughafter Verweise ist die primäre Welt, da sie »sowohl das immer schon Vorhandene wie auch das für das jeweilige Besorgen zunächst Zuhandene« gegenwärtig werden lässt. 59 Der praktischen Auffassung des Verstehens bei Heidegger liegt der Vergleich der Welt mit der Werkwelt und jedes Daseins mit dem Dasein des Handwerkers zugrunde. Das primäre Verstehen des Daseins geschieht nur aus seinem Umgang mit der Welt, der durch die Phronesis geleitet wird. Insofern also das Dasein wach in der Enthüllung der Phronesis bleibt, hat es die Möglichkeit, ein wahres Verstehen des Seienden, nämlich als jeweils soundso Enthülltes, auszubilden. 60 2. Heideggers Umdeutung der aristotelischen Philosophie bezüglich des Vorrangs der Phronesis vor der Sophia beruht vor allem auf der Vorstellung der Endlichkeit des Menschen. Denn während die Sophia auf das Immersosein des Seienden beschränkt ist, beschäftigt sich die Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 146. Heidegger, Prolegomena, GA 20, 258. 58 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 92. 59 Heidegger, Prolegomena, GA 20, 271. 60 Um Heideggers Verständnis von Poiesis und Praxis besser zu verstehen, siehe: Volpi, Heidegger und die Neoaristotelismus, 224–232, besonders 229–230. 56 57
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Phronesis mit dem, was auch anders sein kann. Da das Dasein selbst ein Seiendes in der Zeit ist, und zwar so, dass es durch die Grenze seines endlichen Zeitlichseins bestimmt wird, erweist sich ein eigentlicher, im Leben vollziehbarer Zugang zum Immersosein des Seienden als eine im Leben unerreichbare Aufgabe. Aus diesem Grund zeigt sich die Phronesis als das Wissen des Sterblichen. Dieses Wissen kann nur im Augenblick erfolgen. »Während das Seiende der pr”xi@ je anders sein kann und jeweils einen Entschluß im Augenblick verlangt, verharrt das reine Betrachten des Immerseienden gleichsam in einem dauernden Jetzt.« 61 Die Sophia ist das Wissen der Götter, denn nur das Göttliche ist ein Immerseiendes und kann sich als ein solches mit dem Immersosein beschäftigen. Die Phronesis als seine grundlegende Orientierungsweise ermöglicht es dem Dasein, sich das Leben »zu eigen« zu machen. 62 Sie verkörpert die Möglichkeit, dass »die praktische Erhellung des eigenen Lebens« erreicht werden kann. 63 Da das Dasein bzw. der Mensch prinzipiell als Handelnder betrachtet wird, bedeutet eine Aufklärung seines Handelns zugleich eine Erhellung seiner eigenen Seinsweise. Zur Phronesis gehört, soweit ich sehen kann, beides: das allgemeine Verstehen als das Sichauskennen des Daseins in seiner Welt und das Sich-selbst-Kennen. Das Durchsichtigwerden einer Handlung in der Phronesis bedarf der ständigen Aufdeckung der konkreten, einzelnen Existenzmöglichkeit des Daseins, das heißt, es verlangt das, was Heidegger die Umsicht nennt: die Sicht auf die jeweilige existenzielle Situation des je eigenen Daseins in ihrer Ganzheit. Nur als Umsicht kann die Phronesis die jeweilige Handlungssituation erhellen. Die einzelne Situation als ganze zu erhellen heißt aber, das Dasein in seiner Jeweiligkeit erkennen zu können. 64 Aus diesem Grund versucht Heidegger immer wieder, die der Phronesis zugehörige Zeitlichkeit hervorzuheben. Im Natorp-Bericht nennt er ihre Zeitlichkeit »Kairos« (kair@), auch »Augenblick«. In den Marburger Vorlesungen wird die Zeitlichkeit der Phronesis jedoch nicht als »kairologisch«, sondern vor allem als »augenblicklich« bezeichnet. Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 174. Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 129. 63 Gadamer, Heideggers »theologische« Jugendschrift, 81. Vgl. auch: Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 174. 64 Siehe das I. Kapitel dieser Arbeit. 61 62
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Die Phronesis ist, »was sie ist, immer nur in der konkreten Bezogenheit auf den Augenblick, sie ist da, im Gesehen- und Ergriffensein, in diesem und für diesen«. 65 Obwohl das verfügbare Unverhüllte der Phronesis noch nicht etwas Bestimmtes darstellt, ist es doch zugleich schon als Unbestimmtes eines möglichen Umgangs konzipiert. Das Kairologische der Phronesis weist also darauf hin, dass der Handelnde sich stets im Hinblick auf den jeweiligen Augenblick in der entsprechenden Situation orientiert, wobei ein holistischer Blick auf die ganze Situation des Handelns zustande kommt. In der Sophistes-Vorlesung findet man hierzu das entscheidende Zitat: »Die yrnhsi@ ist das Erblicken des Diesmaligen, der konkreten Diesmaligkeit der augenblicklichen Lage. Sie ist als a—sqhsi@ der Blick des Auges, der Augen-blick auf das jeweils Konkrete, das als solches immer anders sein kann.« 66 Weil die Phronesis sich im Augenblick vollzieht – und das heißt, sie bleibt wesentlich auf eine bestimmte Handlungssituation bezogen –, kommt die Jeweiligkeit des Daseins zum Vorschein. Dass die Phronesis sich augenblicklich realisiert, heißt aber auch, dass sie ständig den Bereich des Möglichen offen lässt. 67 Die bisher geleistete Analyse ist für diese Arbeit von großem Belang, denn mit ihr wird das Zeitlichkeitsverständnis Heideggers zugänglich und darin ihr ethischer Anklang. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Heidegger die Phronesis als eigentlichen Aufenthalt des menschlichen Daseins interpretiert, da sie sich allein auf die praktische Wahrheit bezieht. Sie betrifft »das Verhalten zum eigentlich Seienden in seinem Sein, den Aufenthalt bei diesem«. 68 Dass die Analyse der Phronesis eine Untersuchung des Aufenthaltes des menschlichen Daseins darstellt, in der ein bestimmtes Denken bezüglich des menschlichen Ethos zu Wort kommt, sagt Heidegger auch ausdrücklich. Nur soweit die eigentliche Rolle von Sophia und Phronesis aufgeklärt wird, werde zugleich klar, »in welchem Sinn es hinsichtlich des menschlichen Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 384. Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 163–164. 67 Deshalb schreibt William McNeill zu Recht: »The Glance of the eye inherent in Phronesis must see not only the presencing of the current situation that can be otherwise at any moment, but the intrinsic stability of presence in which it itself is already held and ›is‹, in such a way as to be open to otherness, to the presencing of alterity« (William McNeill, The Glance of the Eye: Heidegger, Aristotle, and the Ends of Theory, New York 1999, 51). 68 Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 133. 65 66
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Lebens so etwas wie eine Wissenschaft […] wie die Ethik [geben kann], sofern die Ethik sich mit dem Æqo@, dem Sein des Menschen, beschäftigt.« 69 Diese genuine Ethik beschäftigt sich prinzipiell mit dem Ethos des Menschen, mit »dem Sein des Menschen«. Dieses Sein bleibt zwar normalerweise verdeckt, doch soll es sich gerade durch Heideggers Philosophie wieder zeigen. Sein Denken ist ethisch, denn in ihm geschieht das Bekanntmachen des Daseins mit seiner eigenen Seinsverfassung. Heideggers Philosophieren ist die Aufdeckung des eigentlichen Ethos des Menschen. Dieses genuine Ethos wird nur durch den Aufenthalt der Phronesis erreicht, sofern der Mensch sich dabei in der Wahrheit hält.
4.
Die Aufdeckung des genuinen Ethos: Zwischen Phronesis und Kairos
Es ist mehr als bloß zufällig, dass in der heideggerschen Interpretation der aristotelischen Phronesis diese in Bezug auf einen Aufenthalt beschrieben wird, und zwar auf denjenigen, in dem das Seiende enthüllt wird. Im Anschluss an die vorherige Analyse wurde deutlich gemacht, dass Heidegger sich für die Phronesis interessiert, weil sie als das die Praxis des Menschen Führende die entscheidende Gelegenheit für das Geschehen von Wahrheit darstellt. Primär im Hantieren und Bewerkstelligen enthüllt sich das Seiende für uns. Phänomenologisch gesehen sind wir beim Handeln ganz im Tun, das heißt, der Aufenthalt des Besorgens ist ein rechtes Verweilen bei dem, was es zu tun gibt. Dieses »Verweilen bei …« im Tun ist der Aufenthalt der Phronesis. Dieser Aufenthalt vollzieht sich für Heidegger als das »Gegenwärtighaben des Seienden an ihm selbst«. 70 Das »Gegenwärtighaben« weist hierbei auf eine echte Aneignung des Verstehens der Welt und des eigenen Selbst hin, das das Dasein meistens hat, aber noch nicht eigentlich besitzt. Diese Inbesitznahme seines Selbst deutet auf die »Vergegenwärtigung« der Gesamtheit von Auslegungen und des Verständnisses hin, welches das Dasein unmittelbar von seiner Umwelt und seiner Selbstwelt hat. Im Hinblick darauf wird deutlich, dass die Phronesis als das
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Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 130–131. Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 133.
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Durchsichtigmachen des Seins des Daseins die Aufgabe der Hermeneutik der Faktizität verwirklichen soll. 71 Um das Verhältnis zwischen Phronesis und Ethos zu bestimmen, lohnt es sich, zunächst einen Blick auf Heideggers Äußerungen bezüglich des Ethos während seiner Marburger Schaffenszeit zu werfen. Dabei zeigt Heidegger ein entmoralisiertes Verständnis des Ethos. So wie in seiner Interpretation die moralische Dimension der aristotelischen Phronesis außer Kraft gesetzt wird, geschieht dies hier mit dem Wort »Ethos«. Ethos ist auch nicht im üblichen Sinn als »Gewöhnung« und »Sitte« zu verstehen. Vielmehr bedeutet Ethos, wie vorher zitiert wurde, »das Sein des Menschen« oder, wie Heidegger in der Grundbegriffe-Vorlesung formuliert: »Die ›Haltung‹ des Menschen, wie der Mensch da ist, wie er als Mensch sich gibt, wie er sich ausnimmt im Miteinandersein, wie ein Redner spricht, Haltung hat in all dem, wie er zu den Sachen, über die er spricht, steht.« 72 Die Verbindung von Ethik und Ontologie betont Heidegger sowohl in der Grundbegriffe-, als auch in der Sophistes-Vorlesung. Hermeneutisch gesehen, so sagt Heidegger in seiner Interpretation des Logos, heißt die bekannte aristotelische Definition des Menschen als vernünftiges Lebewesen (z†on lgon ˛con) lediglich, dass »das in-der-Welt-Sein des Menschen […] im Grunde durch das Sprechen« bestimmt ist. 73 Dabei wird klar, dass der Begriff »Logos«, weder als Vernunft noch als ratio verstanden wird, sondern in Bezug auf die Rede und das Sprechen. Logos werde, so Heidegger, im ursprünglichen Sinn bei Aristoteles und in der gesamten griechischen Philosophie apophantisch verstanden, das heißt als »aufzeigende Rede«. 74 Heidegger geht es jedoch darum, den Logos anders zu interpretieren. Der Logos als Sprechen hat primär weder mit dem Urteil noch mit anderen sprachlich fixierten Weisen des Urteilens zu tun. Vielmehr versucht Heidegger einerseits die zum Logos gehörige mitteilende Funktion aufzudecken, die im Anschluss an das »Offenbarmachen« dargelegt wird. 75 Andererseits aber zeigt der »offenbar71 Aus seiner Interpretation der aristotelischen Rhetorik als »Auslegung des konkreten Daseins«, oder genauer als »die Hermeneutik des Daseins selbst« heraus wird Heidegger dann sein Verständnis der aristotelischen Ausbildung des Ethos entwickeln. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 110. 72 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 106. 73 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 18. 74 Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 19. 75 Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 286.
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machende« Logos gerade die Zugehörigkeit des Logos zur Praxis. Als Offenbarmachen ist der Logos das »Eine-Sache-zum-Sehen-bringen« 76 oder »Eine-Sache-zum-Sichzeigen-Bringen«. 77 Wird der Mensch als ein Seiendes durch solches Sprechen bestimmt, wobei das Sprechen selbst – und dies ist die entscheidende Voraussetzung der heideggerschen Argumentation – als eine Weise des Besorgens des Daseins in der Welt verstanden wird, dann ist der Logos wesentlich auf die Praxis bezogen. Der Logos als Sprechen ist »die Vollzugsweise eines Besorgens«. 78 Dass wir in der Weise des Logos in der Welt sind, besagt deshalb nichts anderes, als dass wir als Sprechende in der Welt sind. Darüber hinaus ist das Sprechen auch für die Möglichkeit des Miteinanderseins verantwortlich. 79 Durch diese Umdeutung des Logos in einen Modus des Besorgens zeigt sich, wie Heidegger das theoretische Leben (bfflo@ qewrhtik@) des Logos an das politische Leben (bfflo@ politik@) der Praxis bindet. Ethos als die Haltung des Sprechenden weist auf die Haltung des Menschen selbst hin, auf sein Sein, da der Mensch als ein Sprechender in der Welt in seinem Wesen betrachtet wird. Diese Überlegungen als Ausbildung eines Ethosdenkens zu bezeichnen, wird beispielsweise durch folgendes Zitat aus der Grundbegriffe-Vorlesung gerechtfertigt: »Dieses Sichausnehmen des Menschen, dieses ›Sichhalten‹ in der Welt, diese ›Haltung‹ ist t Æqo@. Also die Politik als die Auskenntnis über das Sein des Menschen in seiner Eigentlichkeit […] ist Ethik.« 80 Die Ethik als Ethos kümmert sich um das eigentliche Sein des menschlichen Daseins. Es geht darum, mehr als eine bloße »Ansicht« des Lebens zu haben: »Wer einer Ansicht ist, ist durch dieses Eine-bestimmte-Ansicht-Haben in seinem Æqo@ nicht anders bestimmt, dieses Eine-Ansicht-Haben über eine bestimmte Sache ist keine ›ethische‹ Bestimmung, betrifft nicht die eigentliche seinsmäßige Haltung des Menschen zu anderen.« 81 Das Ethos ist keine bloße »Ansicht« einer Sache, sondern eine »seinsmäßige«, also ontologische Haltung des Menschen – und zwar zu seinen Mitmenschen. Indem Heidegger das Ethos als eine ontologische HalHeidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 17. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 19. 78 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 66. Dazu auch: Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 22. 79 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 47. 80 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 68. 81 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 147. 76 77
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tung versteht, liegt bereits die Besonderheit dieses Ethos auf der Hand. In der oben zitierten Passage stellt Heidegger die Eigentlichkeit in einen direkten Bezug zur Ethik. Die Eigentlichkeit stellt die ausgezeichnete Weise der Existenz des Menschen dar, in der die eigentliche Weise des Menschen zur Geltung kommen kann. 82 Die Eigentlichkeit ist, so sagt Heidegger in seiner Übersetzung des Aristoteles, das, was das Agathon (⁄gaqn) und die Eudaimonia (e'daimonffla) ausmacht. 83 Im Hinblick darauf wird noch einmal klar, dass Heidegger mit der hier intendierten Aufdeckung des Ethos des Menschen seine »eigentliche« Seinsweise zum Vorschein bringen will. Die Möglichkeit der Eigentlichkeit wird also in Bezug auf ein Ethos verstanden, das sich von der alltäglichen Haltung des Menschen in der Welt – der Doxa (dxa) – radikal unterscheidet. Die Doxa zeigt ständig eine gewisse Seinsgleichgültigkeit. 84 Ist das Ethos aber als das genuine Sein des Menschen zu verstehen, erweist sich die Indifferenz der Doxa, der undifferenzierten und uneigentlichen Meinungen als eine ethische Indifferenz – genauso wie die in der Alltäglichkeit uns vertrauten Gegenstände »nicht eigentlich da [sind]«, denn »sie sind viel zu alltäglich« geworden, so dass sie verschwinden.85 Zur Alltäglichkeit gehört, wie Heidegger bereits in seiner Ontologie-Vorlesung festhält, die Durchschnittlichkeit des Daseins als das »Man, worin die Eigenheit und mögliche Eigentlichkeit des Daseins sich verdeckt hält«. 86 Es muss also eine Störung, ein außerordentliches Ereignis geschehen, damit die in der Alltäglichkeit verschwundenen Dinge wieder erscheinen können. In der Doxa verschwindet gerade die Jeweiligkeit: »Das Jeweilige wird gerade nicht unmittelbar und direkt gesehen, es wird erst zugänglich, wenn ich einen gewissen Abstand von ihm nehme und es mir so, in diesem Abstand, präsentiere.« 87 Auch hier zeigt sich Heideggers Überzeugung, dass das Unmittelbare nicht das Eigentliche sein kann. Das Eigene muss erst als das Eigentliche zugeeignet werden. Einen Ausgang aus der Indifferenz der Doxa kann man jedoch nur durch ein Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 99. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 75. Ferner siehe auch: Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 77. 84 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 147–148. 85 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 32. 86 Heidegger, Ontologie, GA 63, 85. 87 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 32. 82 83
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bewusst gewähltes, ergriffenes Ethos finden: »Wie ich mich entschließe, das, wozu ich mich entschließe, was in der proafflresi@ steht, [ist] entscheidend für mein Sein, für die Art und Weise, wie ich bin, für mein Æqo@.« 88 Das bewusst gewählte Ethos weist auf das eigentümliche Entschlossensein des Menschen hin, die Orientierung für die jeweilige Handlungssituation allein aus dem entsprechenden Augenblick zu gewinnen. In der Alltäglichkeit verschwindet die augenblickliche Ausrichtung auf das Jeweilige in der Situation; sie erwächst nicht aus der Situation selbst, sondern aus dem Gewohnten und Vertrauten. Dabei verschwindet das Jeweilige, das heißt die jeweilige Weise, wie sich die Dinge im Umgang mit ihnen zeigen. Sich die Dinge in einem Abstand vorzustellen, fordert die Entschiedenheit des Menschen, eine gewisse Ferne zu den Dingen zu behalten. Diese Ferne zu behalten, macht das eigentliche, ergriffene Ethos aus. An diesem Punkt können wir an das Verhältnis von Ethos, Kairos und Phronesis anknüpfen. Denn der Kairos, der Augenblick, ist immer etwas Plötzliches, und das Plötzliche gehört niemals zum Bereich der Alltäglichkeit und der Gewöhnung. Dass die Phronesis sich augenblicklich realisiert, macht ihren umsichtigen Charakter aus. Das zum Augenblick gehörende holistische Moment der Phronesis ermöglicht es, die gesamte Situation im Handeln selbst durchsichtig zu haben. Diese Durchsichtigkeit im Augenblick ist einerseits diejenige, die ohne eine theoretische Erhellung geschieht. Sie ist keine spekulative Überlegung, 89 aber dennoch gehört zu ihr das aufklärende Moment der Umsicht. Andererseits erlebt man in der augenblicklichen Phronesis ein eigentümliches Ganzes, in dem die Zeit nicht linear verläuft, sondern vielmehr als zeitliche Einheit empfunden wird. Somit erfährt das menschliche Dasein aufgrund der Phronesis eine absolute Transparenz seines jeweiligen Handelns im Augenblick. 90 In seiner Interpretation der Nikomachischen Ethik, in der Heidegger ausführt, wie die Ethik im Sinne des Ethos ursprünglich zu verstehen ist, hebt er die Beziehung der Phronesis zum Kairos explizit hervor. Die Ethik des ArisHeidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 147. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 146. 90 Vgl. McNeill, The Time of Life, 101: »The Augenblick is not itself something that is decided by the human being’s power of thought or decision alone, nor indeed in the first instance. For even in the situation of human action guided by phronesis, human judgment can only respond to what already presents itself in the situation, that is, to the Augenblick itself.« 88 89
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toteles sei »alles andere als die Ethik einer mittelmäßigen Durchschnittlichkeit und der Konvention«, »keine sogenannte ›bürgerliche Moral‹, kein Prinzip von ›Wertrangordnungen‹, sondern Grundbeziehung auf die xi@, damit auf das Dasein des Menschen, die pr”xi@, damit auf den kair@.« 91 Ein genuines Ethos gibt es nur aufgrund der »augenblicklichen« Phronesis. Doch ist dieses Ethos vor allem ein mögliches und niemals ein notwendiges. »Die Art und Weise, wie die Verfassung ist, in der wir stehen, macht auch aus, wie wir zu den Sachen stehen, wie wir sie sehen, wie weit und in welchen Hinsichten.« 92 Wie wir selbst in unserem Sein stehen, bestimmt die Art und Weise, wie wir mit den anderen und mit der Welt umgehen können. Entweder stehen wir in der Haltung des »Man«, in der Selbstverständlichkeit des Vertrauten, oder in der Unheimlichkeit des Eigenen, in der radikalen Unsicherheit des Lebens. Dieser Wechsel fordert die ständige Wiederholung der eigenen Auslegung. Handeln versteht Heidegger deshalb als Wiederholen: »Wiederholung besagt nicht: Ins-Spiel-Bringen einer festsitzenden Fertigkeit, sondern in jedem Augenblick neu aus dem entsprechenden Entschluß heraus Handeln.« 93 So wie der Augenblick niemals Routine ist, 94 muss in jeder Handlung stets ein jeweiliges Sichentschließen liegen. Es geht darum, »für jeden Augenblick gefaßt zu sein«. 95 Heidegger fährt fort: »Es kommt an auf das jeweilige Entschlossensein und Aneignen des Augenblicks.« 96 Jede Handlung bedarf des eigenen Entschlossenseins, das nur aus der jeweiligen Situation stammt und nur in dieser gilt. Dabei leitet ein eigentliches Sehen des Jeweiligen in der Situation, und zwar so, als ob alles, was kommt, uns fremd wäre. Die Wendung »für den Augenblick gefaßt sein« heißt demzufolge, gegenüber dem Versagen aller etablierten Normen und theoretischen Regelungen der menschlichen Handlungssituation die Leitung der Phronesis anzunehmen. Gerade weil wir immer in der Welt sind und uns zunächst und zumeist in einer durchschnittlichen Weise darin aufhalten, können wir zugleich als Verfallene beschrieben werden. Aber darüber hinaus 91 92 93 94 95 96
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 180. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 170. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 189. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 190. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 190. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 191. A
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gibt Heidegger immer wieder Hinweise auf eine »eigentliche Verfassung«, 97 wobei er mit der Verwendung des Adjektivs »eigentlich« die Vorstellung eines »Guten« zu vermeiden versucht. Laut Heidegger ist die eigentliche Verfassung »nichts anderes als das rechte In-der-WeltSein als Verfügen über sie«. 98 Hier zeigt sich wiederum, dass das Inder-Welt-sein nicht zugleich bedeutet, in der rechten Verfassung zu sein. Infolgedessen ist eine Differenzierung zwischen dem Sichaufhalten des Daseins in der Welt und dem eigentlichen Aufenthalt des Daseins erforderlich. Das In-der-Welt-sein als das Besorgen der Welt stellt die primäre Orientierung des Daseins dar, die das Dasein gegen die Durchschnittlichkeit des Man und die Abstraktion des Theoretischen wiederentdecken soll. 99 In dieser Analyse des Daseins als In-der-Welt-sein wird die Welt als der gewöhnlich bewohnte Ort des Menschen verstanden. Dies wird besonders bei der Analyse des Begriffs »In-Sein« in der Vorlesung aus dem SS 1925 deutlich. Dabei verweist Heidegger zum ersten Mal auf das Wort »in« in seiner ursprünglichen Bedeutung »innan«, und damit auf das Wohnen. Das »Ich bin« wird als ein »Ich wohne« interpretiert, und unter diesem Wohnen versteht Heidegger ein »Vertraut-seinmit«. 100 Da wir bei unserem Umgehen mit der Welt eine bestimmte Vertrautheit mit den Dingen zeigen, in der das Jeweilige nicht mehr zum Vorschein kommt, erscheint die Welt als der Ort des alltäglichen Sichaufhaltens. Jedoch bedeutet dieses Vertrautsein nicht die einzige Möglichkeit des Aufenthaltes des Menschen in der Welt. Ganz im Gegenteil ist es nur eine Möglichkeit, nämlich eine uneigentliche. Die Welt als der Ort der Vertrautheit zeigt sich für das Dasein als ein Ort der Ruhe und der Sicherheit, doch ein solcher kann das faktische Leben des Daseins nicht und nie sein. Dass wir uns immer in einem bestimmten Aufenthalt – eigentlich oder uneigentlich – befinden, gehört zur Seinsverfassung des menschlichen Lebens, sofern es sich immer schon in der Welt aufHeidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 171. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 171. 99 Vgl. Heidegger, Prolegomena, GA 20, 320: »Nur aus der Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-sein wird verständlich, warum das Besorgen sich ständig orientieren kann, d. h. sich in seiner Orientation je so und so verhalten kann, sich vom Wobei des besorgenden Aufenthalts her bestimmt.« 100 Vgl. Heidegger, Prolegomena, GA 20, 213: »Ich wohne, halte mich auf bei der Welt als dem Vertrauten.« 97 98
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hält. Die Welt ist zunächst der durchschnittliche Ort des Aufenthaltes, den das Dasein normalerweise hat; eigentlich wird dieser Aufenthalt jedoch erst durch seinen Bezug zur Jeweiligkeit des Daseins: »Dieses In-sein, das wir jetzt nicht und nie in einem primär örtlichen und räumlichen Sinn zu verstehen haben, ist vielmehr als Sein-bei durch die Jeweiligkeit bestimmt, es ist je meines und je dieses.« 101 Die Jeweiligkeit wird also als das Bestimmende des menschlichen Aufenthaltes verstanden. Aus der hier dargelegten Möglichkeit des Aufenthaltes des in-derWelt-seienden Daseins als eines im Normalfall uneigentlichen wird Heideggers Interpretation des aristotelischen Begriffs der »Mitte« als der eigentlichen Verfassung des Daseins verständlich: »Wie die Welt selbst zu uns steht bzw. wie wir in ihr sind, d. h. die Mitte halten können im Sichentschließen, Gegenwärtig-Dahaben des entscheidenden Augenblicks«. 102 Die Mitte zu halten bedeutet, »die rechte Verteilung, rechte Ergreifung des Augenblicks«. 103 Im Augenblick, im Kairos erfährt man jedoch vor allem einen Moment der Offenheit. Das Richtige des Augenblicks ist nicht das, was traditionellerweise als das Gute verstanden werden kann, das heißt weder ideale Werte mit Ansprüchen auf ewige Wahrheit noch eine gesellschaftlich-funktionale Vereinbarung von Normen und Gesetzen. Das »Rechte« hat nichts mit der moralisierenden Bedeutung des Guten zu tun, sondern vor allem mit einer bestimmten, aus dem Umgang sich ergebenden Erschließung der Dinge, und zwar in ihrer jeweiligen Weise des Sichzeigens. Der Augenblick als die eigentliche Zeit der Handlung ist zugleich die Zeit des eigentlichen Verweilens bei den Dingen, in dem eine Erschließung von Wahrheit geschieht. 104 Da diese Erschließung im Kairos ausgemacht wird und der Kairos immer etwas Plötzliches ist, stellt das, was im Kairos geschieht, einen Bruch mit den gewöhnlichen und vertrauten BeHeidegger, Prolegomena, GA 20, 213. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 192. 103 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 187. 104 Der Bezug zwischen Augenblick und Eigentlichkeit zeigt sich als eine Intuition Heideggers, die bereits im Jahr 1919 anwesend ist. In einem Brief Heideggers an Elisabeth Blochmann vom 1. Mai 1919 sagt er: »Wir müssen warten können auf hochgespannte Intensitäten sinnvollen Lebens – u. wir müssen mit diesen Augenblicken in Kontinuität bleiben – sie nicht so sehr genießen – als vielmehr ins Leben eingestalten – im Fortgehen des Lebens sie mitnehmen u. einbeziehen in die Rhythmik alles kommenden Lebens« (Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 01. 05. 1919, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 14). 101 102
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zügen der Welt dar, einen Bruch, der dem Dasein einen erhellenden Abstand zu dieser Welt ermöglicht und mit dem das Dasein erst eine neue wache und echte Bindung mit der Welt eingehen kann. In diesem Sinne wird der Kairos für Heidegger vor allem deshalb zum Thema, weil in ihm eine Erschließung von Wahrheit stattfindet, die die Phronesis im Handeln ermöglicht. Aufgrund der Jeweiligkeit kann keine Norm für die Seinsweise des Daseins gegeben werden, denn »der Umkreis der faktischen Verständlichkeit ist nicht im vornhinein und nie auszurechnen«. 105 Daraus folgt, dass keine traditionelle Ethik im Sinne eines Wertekatalogs gerettet werden kann. »Für unser Sein, charakterisiert durch die Jeweiligkeit, läßt sich keine einmalige und absolute Norm geben. Es kommt darauf an, das Sein des Menschen so auszubilden, daß es in die Eignung versetzt wird, die Mitte zu halten. Das besagt aber nichts anderes als den Augenblick zu ergreifen.« 106 Heideggers Ethosdenken ist kein Versuch, Kriterien für konkretes Handeln oder für die Bewertung bestehender Normen oder Argumente zu entwickeln. Damit verneint Heidegger nicht jede Art von Ethik, sondern nur diejenige, die in der Tradition herrscht. Mithilfe seiner Umdeutung von Begriffen wie Phronesis und Kairos bietet Heidegger das Rückgrat einer nicht traditionellen Ethik, die durch die Aufforderung zum rechten Aufenthalt, zum rechten Ethos die Möglichkeit einer Erweckung des Menschen aus dem selbstverständlichen Verlauf seines schlafenden Lebens realisiert. Für das schlafende Dasein bleibt seine Jeweiligkeit verborgen. Es sieht sein faktisches Existieren nicht als ein mögliches. Da sich diese Möglichkeitserfahrung nicht stabilisieren lässt, muss das Dasein seine Selbstauslegung ständig wiederholen. Nur indem er anerkennt, dass das Verständnis seines Selbst und der Welt immer wieder wiederholt werden muss, beginnt der Mensch den entscheidenden Weg zu verfolgen, um sein Leben als Möglichkeit zu erfassen. Wie Heidegger selbst sagt, kommt es gerade darauf an, das eigentliche Sein des Menschen »auszubilden«. Diese Ausbildung ist eine radikale Ausbildung zur Wahrheit, zum rechten Ethos. Nur das sich freihaltende Dasein befindet sich im Augenblick wach gegenüber dem jeweiligen Sichzeigen der Dinge. Die Einheit zwischen dem Zeitlichen und dem Ethischen im Begriff »Kairos« hat aber zwei Seiten. Im Kairos als »dem rechten Augen105 106
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Heidegger, Ontologie, GA 63, 17. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 186.
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blick« zeigt sich die perfekte Verbindung der beiden zentralen Themen von Heideggers Überlegungen bezüglich des Ethischen: Auf der einen Seite geht es darum, das genuine Ethos des Menschen, das heißt sein genuines Sein, aufzudecken, ohne dieses Ethos dogmatisch, theologisch oder moralisch zu begründen; auf der anderen Seite kommt es darauf an, die heterogene Zeitlichkeit des faktischen Lebens zu verdeutlichen. Es geht also nicht um so etwas wie »eine apriorische Ethik«, denn »jeder muß je für sich selbst den Blick gerichtet haben auf das, was im Augenblick ist und ihn angeht«. 107 Sofern der Mensch im eigentlichen Ethos steht, orientiert er sich augenblicklich in seiner eigenen Existenz. Er übernimmt die Unmöglichkeit, seiner Existenz etwas vorzuschreiben, und damit die faktische Unsicherheit seines Lebens. Der Mensch gewinnt damit keine Glückseligkeit, sondern die Möglichkeit, ein waches und eigentliches Leben zu führen. Dem Ethosdenken Heideggers liegt ein bestimmtes Ideal des Lebens zugrunde, nämlich das Ideal des philosophischen Lebens. Denn das in der Situation augenblicklich verweilende Ethos ist diejenige Haltung, in der die Wahrheit als Enthüllung bewahrt wird. In der Wahrheit zu sein ist jedoch nichts, das jeder Mensch unbedingt sucht, sondern nach Wahrheit strebt allein der philosophierende Mensch.
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Kapitel III: Das rechte Ethos in Sein und Zeit
Das Ziel dieses Kapitels ist es, die ethische Dimension von Heideggers Hauptwerk herauszuarbeiten. Das Ethische kommt hierbei prinzipiell zur Geltung durch die Analyse der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins, die aber nicht außerhalb des Verhältnisses von eigentlicher und uneigentlicher Existenz analysiert werden kann. Der Gedanke, dass das Ethische in diesem Werk in Bezug auf das Verhältnis von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit zu denken ist, bedeutet allerdings nicht, dass hier das ethische Motiv zu einer »Ethik der Eigentlichkeit« hochstilisiert werden soll. Dies wäre ein gefährlicher Schritt, mit dem Heideggers philosophische Absicht missdeutet würde. Mit der Rede von einer Ethik der Eigentlichkeit kann man, soweit ich sehe, einen doppelten Irrtum begehen: Einerseits wird damit die innere Aufgabe der Analytik des Daseins in ihrer die Seinsfrage vorbereitenden Rolle außer Acht gelassen, so dass sich die Analytik des Daseins und die darin enthaltene Rede von der Eigentlichkeit verselbstständigen, und von einer solchen Interpretation ist es nur ein kleiner Schritt hin zu einer Anthropologisierung der Daseinsanalytik. Andererseits verfehlt die Rede von einer Ethik der Eigentlichkeit die Bedeutung des heideggerschen Verständnisses dieses Begriffes selbst. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind die zwei Modi der Existenz, wie das Dasein ständig existiert. Mehr noch: die Uneigentlichkeit des Daseins ist phänomenal und ontisch vorrangig. Beide bilden ein Gegensatzpaar, in dem das Dasein lebt. Selbst wenn in Sein und Zeit von der eigentlichen Existenz des Daseins die Rede sein mag, kann das Dasein – streng genommen – nie ganz eigentlich existieren, weil ihm als einem endlichen Seienden die Vollendung versagt bleibt. Das Dasein ist derart, dass es selbst stets ein Prozess ist, der sich zeitlich realisiert. 1 Dies hat Michael Lewis mit besonderer Klarheit formuliert: »There is clearly an extremely important difference between the absorbed status of everyday Dasein and Da-
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Die Räumlichkeit des Ethos
Im Weiteren kommt es darauf an, den eigentlichen Modus der Existenz im Hinblick auf die Möglichkeit der Freiheit des Menschen verständlich zu machen. Die zu erhellende Freiheit des Menschen qua Dasein ist keineswegs im Sinne der »›Gleichgültigkeit der Willkür‹« 2 zu verstehen und daher weit von jeder Art von Dezisionismus entfernt. »Das Dasein ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit. Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.« 3 So gesehen wird Freiheit als das eigenste Seinkönnen verstanden, das seinerseits auf die Möglichkeit der eigentlichen Existenz hinweist. Durch die Freilegung der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins ist zugleich dessen Befreiung zu seinem eigensten Seinkönnen intendiert. Die hier gemeinte Befreiung steht in einem Bezug zu der ständigen Anerkennung dessen, was Heidegger die »Wahrheit der Existenz« 4 nennt. Dieser Begriff steht im Zentrum des Ethosdenkens, das sich in Sein und Zeit findet. Dass aber die Rede vom »Ethos« in Sein und Zeit legitim ist, muss erst gezeigt werden.
1.
Die Räumlichkeit des Ethos
Aufgrund des deutlichen Vorrangs der Zeitproblematik vor der Räumlichkeitsproblematik in Heideggers Hauptwerk kann man den Eindruck gewinnen, dass eine Herausstellung des Stellenwerts der Räumlichkeit im Rahmen des Ethosdenkens nicht unbedingt eine sinnvolle Aufgabe sei. Nicht nur das Verständnis der Zeit als Sinn von Sein spricht für den Vorrang der Zeit vor dem Raum, sondern auch der Gedanke, dass »nur auf dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit […] der Einbruch des Daseins in den Raum möglich [ist]«. 5 Dass aber in Sein und Zeit ein deutlicher Primat der Zeit vor dem Raum besteht, bedeutet
sein in its ›proper‹ state, but it is crucial to understand that the fault-line of this difference does not run between inauthenticity and authenticity but rather between indifference and difference, between a state that does not recognize its own absorption and a state that does, thereby – as far as possible – escaping it.« Vgl. Lewis, Heidegger and the Place of Ethics, 21. 2 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 191. 3 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 191. 4 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 293. 5 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 488. A
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Das rechte Ethos in Sein und Zeit
nicht, dass in diesem Werk keine Auffassung des Ethos, des Aufenthaltes, zu finden wäre. Das Ethos als den Aufenthalt des Menschen zu verstehen, weist nicht auf eine vom Menschen besetzte Stelle im Raum, nicht auf einen bloßen Platz hin, sondern auf ein komplexes Phänomen, zu dem freilich auch eine räumliche Dimension gehört. Das Ethos als Aufenthalt ist zwar räumlich, aber nicht vornehmlich im Raum. Denn das Ethos bezieht sich vor allem auf die Haltung, auf die Existenzweise des Menschen in der Welt. Die Räumlichkeit des Ethos darf weder mit Materialität noch mit Ausdehnung verwechselt werden. Zum Ethos gehört eine spezifische räumliche Bedeutung, die im Grunde genauso eigentümlich ist wie die Räumlichkeit des Daseins. In Sein und Zeit stellt Heidegger fest, dass das Dasein »selbst ein eigenes ›Im-Raum-sein‹ [hat], das aber seinerseits nur möglich ist auf dem Grunde des In-derWelt-seins überhaupt.« 6 Das Verhältnis zwischen »In-der-Welt-sein« und Raum darf aber auch nicht im Rahmen des Stoff-Form-Schemas gedacht werden: Das In-der-Welt-sein als die Ermöglichung der Raumerfahrung des Daseins heißt nicht, dass »der Mensch […] zunächst ein geistiges Ding [wäre, D. A.], das dann nachträglich ›in‹ einen Raum versetzt wird«. 7 Die spezifische Räumlichkeit des Daseins nennt Heidegger das »Einräumen«, das sich vom räumlichen Charakter der Dinge als der »Inwendigkeit« 8 unterscheidet. Dieses Einräumen ist die wesentliche Fähigkeit des Daseins, »ein ›Raum-geben‹« für das »Begegnenlassen des innerweltlich Seienden« 9 . Somit bedeutet seine Räumlichkeit die Eröffnung eines Spielraums, in dem »das Freigeben des Zuhandenen« 10 geschehen kann. Dabei zeigt sich aber, dass die so verstandene Räumlichkeit von der Auffassung des Seins des Daseins als Sorge nicht zu trennen ist. Denn das räumliche Wesen des Daseins liegt für Heidegger darin, dass es den Raum für das Auftreten des Seienden frei macht. »Das Dasein ist räumlich in der Weise der umsichtigen Raumentdeckung, so zwar, daß es sich zu dem so räumlich begegnenden Seienden ständig entfernend verhält.« 11 So wie das Dasein sich nicht zeitlich verorten kann, ist entsprechend auch seine räumliche Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 75. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 76. 8 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 75. 9 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 76. 10 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 148. 11 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 144. 6 7
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Die Räumlichkeit des Ethos
Verortung nicht möglich. Für Heidegger ist das Dasein »in einem ursprünglichen Sinn räumlich«. 12 Existierend räumt das Dasein ein, das heißt es eröffnet den Raum. Das Dasein kann aber nur einräumen, weil es bereits erschlossen ist, denn die Räumlichkeit des Daseins gründet in seiner Erschlossenheit.13 Dieses Räumlichkeitsverständnis zeichnet sich also dadurch aus, dass der Raum nicht metrisch, sondern phänomenologisch-hermeneutisch erfasst wird. Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass der räumliche Charakter der Faktizität des Daseins nur entdeckt wird, wenn er nicht statisch konzipiert wird. So wie zur Faktizität eine wesentlich dynamische Dimension gehört, soll auch ihr räumlicher Charakter ebenso dynamisch verstanden werden. »Mit Rücksicht auf diesen ekstatisch eingenommenen Raum bedeutet das Hier der jeweiligen faktischen Lage bzw. Situation nie eine Raumstelle, sondern den in Ausrichtung und Ent-fernung geöffneten Spielraum des Umkreises des nächstbesorgten Zeugganzen.« 14 In diesem Zitat wird einerseits gesagt, dass »Ausrichtung« und »Ent-fernung« zwei Tätigkeiten sind, die das Dasein im Laufe seines Existierens immer wieder übt. Jeder Spielraum, in dem sich das Seiende in seiner »Bewandtnis« freigibt, ist nur ein bestimmter, einer unter anderen, den das Dasein aus dem jeweiligen Zwang des Seienden – und nicht aus Willkür – öffnet. Das Einräumen des Daseins erweist sich somit als eine dynamische Aufgabe, die es ständig vollzieht. Andererseits ist dieses Zitat ein Beleg dafür, dass sich die Räumlichkeit des Daseins auf »die jeweilige faktische Lage bzw. Situation« bezieht, die eben mit einer messbaren Lagebestimmung nicht das Geringste zu tun hat. Der räumliche Charakter der faktischen Situation ist auf den jeweiligen und konkreten Gegenstand des praktischen Umgangs bezogen. Bereits das Wort »Dasein« trägt eine räumliche Bedeutung in sich, insofern im »Da« bzw. in der Faktizität des Daseins die »Situation« enthalten ist und, wie Heidegger sagt, »in dem Terminus Situation (Lage – ›in der Lage sein‹) eine räumliche Bedeutung mit[schwingt]«. 15 Die Situation kommt aber für Heidegger, wie wir zeigen werden, nur durch die Entschlossenheit zur Geltung. Sie ist »das je in der Entschlossenheit erschlossene Da, als welches das existierende Sei12 13 14 15
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 144. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 397. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 488. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 397. A
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Das rechte Ethos in Sein und Zeit
ende da ist«. 16 In der Situation hält sich das Dasein also nur, wenn es sie zuerst durch die Entschlossenheit entdeckt hat. Während »dem Man […] die Situation wesenhaft verschlossen [ist]« 17 , erscheint sie erst in der Entschlossenheit des Daseins. Gewiss hat Heideggers Auffassung der Räumlichkeit in Sein und Zeit ihre Grenzen. 18 Heidegger selbst erkennt dies: »Der Versuch in ›Sein und Zeit‹ § 70, die Räumlichkeit des Daseins auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, läßt sich nicht halten.« 19 Doch abgesehen davon ist es für unsere Zwecke entscheidend zu erkennen, dass das Ethos der Eigentlichkeit und der wache Aufenthalt in der faktischen Situation dieselbe räumliche Bedeutung teilen: In beiden geht es darum, die Offenheit, die das Dasein selbst ist, offen zu halten und sie so zu intensivieren. Diese Offenheit, in der der Mensch sich aufhält, wird nicht als ein ausgedehnter Raum, sondern als ein offener Ort von Möglichkeiten, als ein Spielraum von Alternativen verstanden. Die Bedeutung des Ethos als jene Offenheit muss nun in Bezug auf die Wahrheit der Existenz weiterverfolgt werden.
2.
Die Erweckung aus dem uneigentlichen Ethos
Zur Eigentlichkeit der Existenz, an die Heidegger mit dem Gedanken der »Wahrheit der Existenz« anknüpft, gelangt das Dasein nur durch eine ursprüngliche Zeiterfahrung. Diese bedarf aber zuerst der Vereinzelung des Daseins. Da das alltägliche Dasein in einer Indifferenz und Gleichgültigkeit gegenüber seinem eigenen Sein bleibt und so auf der »Flucht« 20 vor ihm selbst ist, muss das Dasein vor sich selbst gebracht werden. Nur durch eine radikale Selbstkonfrontation des Daseins, die sich für Heidegger als Vereinzelung realisiert, kann die Möglichkeit der Selbstheit erreicht werden. Dasein hat laut Heidegger »eine eigentümliche Selbigkeit mit sich selbst im Sinne der Selbstheit. Es ist so, daß es in irgendeiner Weise sich zu eigen ist, es hat sich selbst, und nur deshalb kann es sich verlieren.« 21 Gegenüber den uneigentlichen 16 17 18 19 20 21
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Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 397. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 397. Vgl. Figal, Gegenständlichkeit, 160–164. Heidegger, Zeit und Sein, GA 14, 29. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 245. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 242. Vgl. auch: Heideg-
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Die Erweckung aus dem uneigentlichen Ethos
Modi der Erschlossenheit des Daseins – als Gerede, Neugier und Zweideutigkeit – hebt Heidegger ihre eigentlichen Modi – Vorlaufen zum Tode, Angst und Ruf des Gewissens – hervor, insofern diese Phänomene eine vereinzelnde Funktion haben: Sie sind die eigentliche und vereinzelte Befindlichkeit, das vereinzelte Verstehen und die vereinzelte Rede. Diese vereinzelnden Erfahrungen sind für Heidegger die notwendigen Schritte, die das Dasein zu seiner Entschlossenheit hinführen. Da diese Erfahrungen in der Heidegger-Literatur schon oft behandelt wurden, geht es hier nicht darum, diese weiter und immanent zu beschreiben. Vielmehr genügt es, auf einige entscheidende Merkmale dieser Phänomene zu achten, die zur Klärung von Heideggers Ethosdenken in Sein und Zeit dienen können. Vorlaufen zum Tode, Angst und Ruf des Gewissens teilen ein einziges gemeinsames Ziel: das Dasein aus seiner schlafenden Existenz zu erwecken. Erweckung setzt jedoch für Heidegger immer das Vorhandensein einer Krise voraus. Eine Krise kann zum Beispiel in der Form einer Störung auftreten, die den normalen Verlauf eines Vorgehens plötzlich unterbricht. Dies lässt sich anhand von Heideggers Überlegungen zur »Störung der Verweisung« 22 klären. Fehlt ein Zeug, das für die Herstellung von etwas gebraucht wird, dann wird die Tätigkeit unterbrochen und die Aufmerksamkeit auf das fehlende Zeug gelenkt. Daran lässt sich erkennen, dass dem Zeug der »Charakter der unauffälligen Vertrautheit« 23 wesentlich zukommt, und deshalb wird es erst auffällig, wenn es nicht zur Hand ist. »Imgleichen ist das Fehlen eines Zuhandenen, dessen alltägliches Zugegensein so selbstverständlich war, daß wir von ihm gar nicht erst Notiz nahmen, ein Bruch der in der Umsicht entdeckten Verweisungszusammenhänge.« 24 Da, wo das Seiende selbstverständlich verfügbar und gewöhnlich ist, gerät es ins Dunkel. Die selbstverständliche und vertraute Sache muss uns dementsprechend gegenübergestellt werden und in einer gewissen Distanz zu uns gehalten werden, damit sie eigens erscheint. Erst nachdem die gewöhnliche Nähe zu einer Sache unterbrochen wird, schenken wir dieser unsere volle und wache Aufmerksamkeit. ger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 408: »Vereinzelung besagt nicht, sich auf seine Privatwünsche versteifen, sondern frei sein für die faktischen Möglichkeiten der jeweiligen Existenz.« 22 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 100. 23 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 139. 24 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 100. A
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Das rechte Ethos in Sein und Zeit
Insofern jede Erweckung nur im Bezug zu einer gewissen Störung zustande kommt, gehört zum Vorlaufen zum Tode, zur Angst und zum Ruf des Gewissens ein entscheidender Störungscharakter. Im Fall des Vorlaufens zeigt sich dies besonders deutlich. Weil das entfremdete, verfallende Verständnis des Todes, in dem das radikale Ende für das Dasein unauffällig bleibt, den Tod als ursprüngliche »Daseinsgewißheit« 25 verdeckt, bringt diese Entfremdung des Todes dem Dasein eine Beruhigung gegenüber dem eigenen Sterben. Somit wird das entscheidende Erkennen des Todes als unvermeidbares Ende des Lebens verhindert. 26 Gerade die Unauffälligkeit, die das Phänomen des Todes in der Alltäglichkeit charakterisiert, entfällt durch das Verlaufen. Wenn der Tod »als Möglichkeit ausgebildet und im Verhalten zur ihr als Möglichkeit ausgehalten« 27 wird, das heißt wenn es ein Vorlaufen in den Tod gibt, dann geschieht ein Bruch mit jeder »Versteifung auf die je erreichte Existenz« 28 , die der Existenz des Daseins eine gewisse Sicherheit gibt. Eine ähnliche Unterbrechung geschieht auch durch die Grundstimmung der Angst. Die Angst enthüllt nichts Geringeres als das Phänomen der Unheimlichkeit. Diese Unheimlichkeit des Daseins drückt sich darin aus, dass »die Welt […] den Charakter völliger Unbedeutsamkeit [hat]«. 29 Dass die Welt und alle ihre Dinge aufgrund der Stimmung der Angst belanglos werden können, bedeutet, dass der alltägliche Verlauf unseres Lebens, in dem wir eine deutliche »Vertrautheit mit Welt« 30 erfahren, in den Hintergrund tritt. Verschwindet aber die Vertrautheit der alltäglichen Welt, dann fühlen wir uns dabei nicht zu Hause. Die schweigende Stimme des Gewissens ermöglicht auf eine andere Weise die Erfahrung der Unheimlichkeit der Welt. Durch den Ruf des Gewissens wird der Lärm des Man, das Gerede also, auf das wir stets hinhören, unterbrochen. Die Alltäglichkeit, in der das Dasein normalerweise ist, pausiert für einen Augenblick. Dabei geht es um einen Augenblick, in dem das menschliche Dasein sich selbst und seinen Bezügen zur Welt fremd wird. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 341. Hier ist zu erwähnen, dass Heideggers Verständnis des Todes als eines »je meinigen« bei Lévinas stark kritisiert wird. Vgl. Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br./München 2 1998, 258. 27 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 347. 28 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 350. 29 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 247. 30 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 116. 25 26
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Die Erweckung aus dem uneigentlichen Ethos
Gerade das, was das alltägliche Ethos genannt werden kann, versuchen das Vorlaufen zum Tode, die Angst und der Ruf des Gewissens zu unterbrechen. In der vertrauten Welt findet das Dasein eine Art Sicherheit, die seine faktische Existenz eigentlich niemals sein kann. 31 Dieses vertraute, alltägliche Ethos stellt den sicheren Aufenthalt des Menschen in der Welt dar. Von hier aus fällt es nicht schwer nachzuweisen, dass Heidegger bereits in Sein und Zeit den »Aufenthalt« des Daseins zum Thema macht. Das Dasein als ein Seiendes, das in der Welt existiert, ist ein in der Welt wohnendes Dasein. Heidegger nennt auch explizit eine Möglichkeit dieses Wohnens in der Welt als »Aufenthalt«: »Solches Hinsehen kommt selbst in den Modus eines eigenständigen Sichaufhaltens bei dem innerweltlichen Seienden. In sogeartetem ›Aufenthalt‹ – als dem Sichenthalten von jeglicher Hantierung und Nutzung – vollzieht sich das Vernehmen des Vorhandenen.« 32 Dieser beschriebenen Art von Aufenthalt entspricht die theoretische Haltung, in der das Dasein sich auf Dinge lediglich in einer betrachtenden Weise bezieht. Damit das Dasein ein Ding als »Vorhandenes« betrachtet, muss dieses Ding erst außerhalb seines praktischoperativen Handelns stehen. »Damit Erkennen als betrachtendes Bestimmen des Vorhandenen möglich sei, bedarf es vorgängig einer Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens mit der Welt. Im Sichenthalten von allem Herstellen, Hantieren u. dgl. legt sich das Besorgen in den jetzt noch einzig verbleibenden Modus des In-Seins, in das Nurnoch-verweilen bei …« 33 Nun lässt sich das Wort »Aufenthalt« aber keineswegs auf die theoretische Haltung des Menschen reduzieren. Denn auch die alltägliche, vorphilosophische Existenzmöglichkeit des Daseins weist ebenfalls auf ein bestimmtes Ethos hin. Diese Existenzmöglichkeit ist, wie Heidegger sagt, zwar »nicht eine bestimmte, ausgezeichnete Existenzmöglichkeit des Daseins«, sondern die »unauffällige, durchschnittliche Weise des Existierens«, die »Alltäglichkeit« genannt wird. 34 Im alltäglich-verfallenen Ethos nimmt das Dasein eine neugierige, dem Gerede entspringende, zweideutige Haltung ein. Entscheidend ist es dabei, zu bemerken, dass dieser uneigentlichen Haltung eine tiefe Entwurzelung innewohnt. Die »Bodenlosigkeit des Ge31 32 33 34
Siehe das I. Kapitel dieser Arbeit. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 83. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 82. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 489. A
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redes« 35 , das »Unverweilen« 36 der Neugier und »die Möglichkeit des unverbindlichen Nur-mit-ahnens« 37 der Zweideutigkeit machen das Wesen des alltäglichen, zu überwindenden Ethos aus. Diesem Ethos entspricht ein Aufenthalt des »entwurzelten Überall-und-nirgends«, des »bodenlosen Schwebens«. 38 Das entwurzelte, uneigentliche Ethos ist »das selbstverständliche ›Zuhause-sein‹«, 39 das heißt der durchschnittlich-alltägliche Aufenthalt des Daseins in der Welt, in dem ihm nichts auffällt und nichts stört. Dabei scheint alles, wie Heidegger nicht ohne Ironie und doch völlig zutreffend sagt, »in bester Ordnung«40 zu sein. Da das »In-Sein« zugleich auf »wohnen, habitare, sich aufhalten« hinweist, 41 erweist sich der uneigentliche Modus des »In-Seins« als ein uneigentlicher Aufenthalt. Der vertraute Aufenthalt verdeckt, so Heidegger, das eigene Sein des Daseins. Da er dieses Sein als »primär Möglichsein« versteht, 42 bedeutet für ihn das uneigentliche Ethos die Maskierung des Möglichkeitscharakters der Existenz. In der Bequemlichkeit des uneigentlichen Aufenthaltes wird die Täuschung verstärkt, dass die vertraute Welt das »Zuhause« des Daseins sei, wobei die ursprüngliche Unbestimmtheit seines Seins vergessen wird. In der Sicherheit der Welt versteht sich das Dasein niemals aus sich selbst bzw. aus der eigenen Nichtigkeit, die sein Möglichsein bedeutet. Denn in der Nivellierung des Man geschieht eine »Abblendung des Möglichen als solchen«. 43 Im Hinblick darauf wird aber auch verständlich, dass das Wort »Unheimlichkeit« auf die eigentliche Seinsweise des Daseins hinweist, da es im Gegensatz zu jeder Vertrautheit steht. »Die verfallende Flucht in das Zuhause der Öffentlichkeit ist Flucht vor dem Unzuhause, das heißt der Unheimlichkeit, die im Dasein als geworfen, ihm selbst in seinem Sein überantworten In-der-Welt-sein liegt.« 44 Demzufolge geht es in den Erfahrungen des Vorlaufens in den Tod, der Angst und 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 224. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 229. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 231. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 235. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 250–251. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 236. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 73. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 191. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 258. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 251.
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des Gewissensrufs prinzipiell darum, dass das Dasein endlich »das Unzuhause […] als das ursprünglichere Phänomen« begreifen kann. 45 So sieht man deutlich, dass Heidegger das Unheimliche als das Eigenste, Innerste des Daseins versteht, wobei das Vertrauliche dementsprechend das Öffentliche und Äußere darstellt. Die Umkehrung der Stimme des gesunden Menschenverstands ist hierbei deutlich: Das Eigene ist nicht das Heim, sondern vielmehr das Nichtige. 46 Aufgrund der Enthüllung der Unheimlichkeit als des Nichts der Welt, der Bedeutungslosigkeit der Welt in Anbetracht der Möglichkeit des eigenen Sterbens, ergibt sich die Möglichkeit einer Erweckung des Daseins aus seinem schlafenden, uneigentlichen Aufenthalt. »In der Unheimlichkeit steht das Dasein ursprünglich mit sich selbst zusammen. Sie bringt dieses Seiende vor seine unverstellte Nichtigkeit, die zur Möglichkeit seines eigensten Seinkönnens gehört.« 47 Diese Erweckung bringt ein wesentliches Wissen über die bislang nicht eigens übernommene Existenz mit sich. Gewinnt aber das Dasein einen durchsichtigen Zugang zu sich selbst, weiß es um sein endliches und eigens zu entwerfendes Wesen, dann kann das Dasein seine Existenz erst eigentlich übernehmen. Diese bewusste Übernahme des eigenen Wesens ist der entscheidende Schritt zum eigentlichen Aufenthalt.
3.
Die Wiederentdeckung der Wahrheit der Existenz
Aufgrund des erwähnten Störungscharakters, der das Vorlaufen, die Angst und den Gewissensruf kennzeichnet, können sie ihre vereinzelnde Funktion erfüllen. Nur weil all diese Phänomene einen Bruch mit dem Gewöhnlichen und Vertrauten ermöglichen, der wiederum eine Rückkehr des Daseins zu sich selbst stiftet, kann das Dasein durch eine radikale Vereinzelung seiner eigenen Unheimlichkeit bzw. der nackten Unbestimmtheit seines Seins gegenübergestellt werden. Die Wiederentdeckung der eigenen Endlichkeit nennt Heidegger die Übernahme des »Schuldigseins«. 48 Die Schuld ist weder moralisch (höchstens als Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 252. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 377: »Der eigene geworfene Grund zu sein, ist das Seinkönnen, darum es der Sorge geht.« 47 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 380. 48 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 358. 45 46
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Bedingung der Möglichkeit für alle Moralität 49 ) noch als Resultat menschlichen Handelns zu verstehen. »Das Dasein ist als solches schuldig.« 50 Das »Schuldigsein« bestimmt Heidegger als das »Grundsein einer Nichtigkeit«. 51 Damit ist gemeint, dass das Dasein (als die »Sorge« um sein eigenes Sein) nur durch sein eigenes Existieren der Grund seiner selbst sein kann. Dass das Dasein schuldig ist, heißt, dass das Dasein, kategorial gesehen, grundlos ist. 52 Mit Begriffen wie »Schuld«, »Nichtigkeit«, »Endlichkeit« und »Möglichkeit« versucht Heidegger den Grundgedanken des Entwurfscharakters der menschlichen Existenz, des Seinkönnens des Daseins also, weiter zu entfalten. Schuldigsein bedeutet aber auch, erkennen zu müssen, dass der freie Entwurf keine subjektivistische Selbstbehauptung ist, sondern dass er immer nur ein durch die Grenze der Faktizität bedingter Entwurf ist. 53 Unsere Freiheit kann niemals unbedingte Freiheit sein: Wir sind in der Welt als Geworfene. Wir entwerfen existierend unser geworfenes Sein. Dies geschieht so oder so, mit unserem oder ohne unser Wissen. Deshalb kommt es für Heidegger darauf an, dass sich jeder von uns als »geworfenen Entwurf« erkennt, 54 um so nicht weiter bloß blind und gleichgültig gegenüber dem eigenen gewordenen Entwurf bzw. Leben zu existieren. Die Erweckung des Daseins als Wesenswissen ermöglicht aber auch seine Befreiung. Denn nur wenn das Dasein den Ruf des Gewissens übernimmt, wenn es sein nichtiges Wesen erkennt, kann das Dasein das »Freisein für das eigenste Schuldigsein« sein. 55 Diese Übernahme nennt Heidegger »Gewissen-haben-wollen«. 56 Damit soll das Feld vorbereitet werden, um auf das entscheidende Phänomen der Entschlossenheit zurückkommen zu können: »das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein – nennen wir die Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 380: »Dieses wesenhafte Schuldigsein ist gleichursprünglich die existenziale Bedingung der Möglichkeit für das ›moralisch‹ Gute und Böse, das heißt für die Moralität überhaupt und deren faktisch mögliche Ausformungen. Durch die Moralität kann das ursprüngliche Schuldigsein nicht bestimmt werden, weil sie es für sich selbst schon voraussetzt.« 50 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 378–379. 51 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 376. 52 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 377. 53 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 378. 54 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 295. 55 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 382. 56 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 382. 49
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Entschlossenheit.« 57 Mit der Entschlossenheit ist »die ursprünglichste, weil eigentliche Wahrheit des Daseins gewonnen«. 58 Sie ermöglicht es dem Dasein, gegenüber seiner Existenz »mächtig zu werden«. 59 Dieses Mächtigsein bedeutet, dass in der Existenz des Daseins nicht die »flüchtige Selbstverdeckung« 60 unbeachtet weiter regiert. Nun liegt die Wichtigkeit der Entschlossenheit aber darin, dass sie »das Selbst gerade in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem [bringt]« und »es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen [stößt]«. 61 Die Möglichkeit der eigentlichen Existenz kann also nicht ohne das Zurückkehren des Daseins in seine Handlungsdimension verstanden werden. 62 Gerade das Zurückkehren ins Handeln erweist sich als der Kernpunkt in Heideggers Auffassung der Eigentlichkeit. Da das Dasein cura sui ist, zeigt es sich als ein Seiendes, das nur um seiner selbst willen existiert. Das Dasein kümmert sich um sich selbst, aber nur in der Welt. Das heißt, dass zur Sorge wesentlich eine praktische Dimension gehört. Die Sorge kommt somit nicht nur im Entwurf der Existenz des Daseins, sondern auch als Besorgen des in der Welt zu findenden Seienden und als Fürsorge für das menschliche Seiende zur Geltung. Während die Fürsorge sich auf die weltliche Begegnung mit anderem Dasein beschränkt, bezieht sich das Besorgen auf das Umgehen des eigenen Daseins mit der Welt. Beide – Besorgen und Fürsorge – haben jeweils ihren eigentlichen und uneigentlichen Modus. Das uneigentliche Besorgen ist für Heidegger gerade nicht das umsichtig entdeckende Besorgen, das im jeweiligen Handeln mit dem Seienden geschehen kann. Analog erkennt die uneigentliche Fürsorge als »einspringend-beherrschende« das daseinsmäßige Seiende nicht als ein solches. 63 Nur im Entdecken des innerweltlichen Seienden und im rechten Erschließen des daseinsmäßigen Seienden hält sich das Dasein in seiner »eigentlichen Erschlossenheit«64 , und das heißt: in der »Wahrheit der Existenz«. 65 57 58 59 60 61 62 63 64 65
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 393. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 394. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 410. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 410. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 395. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 395. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 164. Dazu siehe das IX. Kapitel dieser Arbeit. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 394. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 293. A
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Das entschlossene Dasein entdeckt das in der Welt zu findende Seiende und lässt das menschliche Seiende nicht mehr ausschließlich aus dem Bereich des »Man« begegnen, sondern aus seiner faktischen Situation. Damit kehrt das Dasein in die Dimension des Handelns zurück. »Den Ruf eigentlich hören bedeutet, sich in das faktische Handeln bringen.« 66 Dass Gewissensruf und Handeln in einen Zusammenhang gebracht werden, mag auf den ersten Blick befremden. Da der Gewissensruf nichts erzählt, sondern nur den Lärm des Geredes unterbricht, bedeutet das eigentliche Hören des Rufes, die Aufmerksamkeit dem in der eigenen Existenz selbst erfahrenen Seienden zu schenken – und nicht mehr bloß auf dessen Deutung im »öffentlichen Gewissen« 67 zu achten. Das entschlossene Dasein ist somit ein im Handeln wach verweilendes Dasein. Das Dasein wird so aus seiner jeweiligen ausweichenden Handlungssituation durch die Entschlossenheit zurückgeholt. Die Entschlossenheit »birgt das eigentliche Sein zum Tode in sich als die mögliche existenzielle Modalität ihrer eigenen Eigentlichkeit« 68 und macht so die Möglichkeit der Eigentlichkeit der Existenz aus. Entschlossenheit gibt es nur, indem sie als die eigentliche Form der Erschlossenheit bewusst wird. Nur so kommt die Anerkennung der »Wahrheit der Existenz« zur Geltung, 69 so dass das Dasein erst frei wird. 70 In der existenziellen Situation, in der es sich befindet, wird das Dasein frei zu handeln und damit frei für sich selbst. 71 Hier muss nun Heideggers Interpretation der aristotelischen Phronesis ins Spiel gebracht werden. 72 Die Hervorhebung der Phronesis ist Heideggers Versuch, diese die Welt und die Dinge eröffnende Sicht für seine Philosophie zu gewinnen. In Sein und Zeit wird aber nicht mehr von Phronesis
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 390. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 370. 68 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 405. 69 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 407: »Mit dem Phänomen der Entschlossenheit wurden wir vor die ursprüngliche Wahrheit der Existenz geführt.« 70 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 395: »Aus dem Worumwillen des selbstgewählten Seinkönnens gibt sich das entschlossene Dasein frei für seine Welt.« 71 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 397: »Die Situation ist das je in der Entschlossenheit erschlossene Da, als welches das existierende Seiende da ist.« 72 Mit Günter Figal gesagt: »Die Analyse des alltäglichen Daseins ist bei Heidegger aus der aristotelischen Analyse der Phronesis entwickelt worden, und Phronesis war die Form des Wissens, die im Handeln selbst wirksam ist« (Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 84). 66 67
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die Rede sein, sondern von der Erschlossenheit: 73 »Weil zum Wesen des Daseins diese Erschlossenheit seiner selbst und in eins damit die Entdecktheit von innerweltlichem Seienden gehört, können wir sagen: Das Dasein existiert in der Wahrheit, d. h. in der Enthülltheit seiner selbst und des Seienden, wozu es sich verhält. Nur weil es existierend wesenhaft schon in der Wahrheit ist, kann es als solches irren und gibt es Verdeckung, Verstellung und Verschlossenheit des Seienden.« 74 Weil wir also immer schon in der Wahrheit sind – und das bedeutet für Heidegger: zugleich in der Unwahrheit –, können wir uns verfehlen. Darüber hinaus geht es nicht bloß darum, in der Wahrheit stehen zu bleiben, sondern darum, uns dort wach aufzuhalten. Entscheidend ist nicht, dass wir sowieso in der Wahrheit stehen, sondern dass das Dasein diese Wahrheit als die »ursprünglichste Wahrheit« seiner Existenz anerkennt, das heißt, dass es seine Existenz übernimmt, und zwar so, wie sie ist, als eine, die sich in der Schwebe von Wahrheit und Unwahrheit realisiert: »Erschlossen in seinem ›Da‹, hält es [das Dasein, D. A.] sich gleichursprünglich in der Wahrheit und Unwahrheit. Das gilt ›eigentlich‹ gerade von der Entschlossenheit als der eigentlichen Wahrheit.« 75 Aufgrund der Erschlossenheit, sagt Heidegger, kann das Dasein überhaupt existieren, das heißt, transzendieren. Nur indem diese Wachheit gelebt wird, gibt es die Möglichkeit der eigentlichen Existenz. Erst so kommt die Notwendigkeit einer ständigen Zueignung des Eigenen, das durch das Sich-offen-Halten für das Jeweilige der Existenz geschieht, zum Vorschein: Bleibt das Dasein offen für das Jeweilige, dann verweilt es wach in einer Handlungssituation.
4.
Das »faktische Ideal«
In Anbetracht des bislang Gesagten kann man legitimerweise die These vertreten, dass der eigentliche Aufenthalt des Daseins nur in einem Ethos bestehen kann, in dem das Dasein sowohl in seinem Möglich-
73 Der Gedanke, dass die »Erschlossenheit« in Sein und Zeit auf diejenige »Offenheit des Lebens«, die zuvor die Phronesis darstellte, zurückweist ist, entspricht Günter Figals Interpretation. Vgl. Figal, Gegenständlichkeit, 26; Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, 261–265. 74 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 308. 75 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 396.
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keitscharakter als auch in der faktischen Situation seines Handelns gehalten wird. Das eigentlich existierende Dasein weiß ganz genau, dass es einen sicheren und beruhigten Zustand nicht geben kann, und deshalb erkennt es seine Existenz in ihrer eigenen Wahrheit, nämlich als ein ständiges Schweben zwischen dem Sichverfehlen und dem Sichzurückgewinnen. Dies ist der Aufenthalt, das Ethos der eigentlichen Existenz. Nicht umsonst spricht Heidegger in seinem Hauptwerk von einem faktischen Ideal: »Aber liegt der durchgeführten ontologischen Interpretationen der Existenz des Daseins nicht eine bestimmte ontische Auffassung von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal des Daseins zugrunde? Das ist in der Tat so.« 76 Diese Stelle ist nicht leicht zu deuten. Denn einerseits bemüht sich Heidegger darum zu zeigen, dass das, was das Gewissen durch seinen Ruf zu verstehen gibt, keinen bestimmten Inhalt darstellt. »Der Ruf gibt kein ideales, allgemeines Seinkönnen zu verstehen; er erschließt es als das jeweilig vereinzelte des jeweiligen Daseins.« 77 Oder noch klarer: »Vermißt wird ein ›positiver‹ Gehalt im Gerufenen aus der Erwartung einer jeweilig brauchbaren Angabe verfügbarer und berechenbarer sicherer Möglichkeiten des ›Handelns‹.« 78 Dass aber der Gewissensruf tatsächlich keine konkrete Existenzmöglichkeit präskriptiv zu geben versucht, scheint durch die folgende Passage in Frage gestellt zu werden: »Daraus wird vollends deutlich, daß der Gewissensruf, wenn er zum Seinkönnen aufruft, kein leeres Existenzideal vorhält, sondern in die Situation vorruft.« 79 Wir werden nun sehen, dass die erwähnten Zitate sich nicht wiedersprechen, sondern vielmehr einander ergänzen. Dass der Ruf keinen »›positiven‹ Gehalt« mit sich bringt und somit kein konkret zu erfüllendes »Ideal« bedeutet, soll lediglich klarmachen, dass das Gewissen dem Menschen keine normative Handlungsregeln zu geben hat. Der Gewissensruf – als der Ruf, eigentlich zu werden – wird jedoch durch ein leitendes »Existenzideal« geführt, das gerade nicht »leer« ist. Heidegger versteht – am Rande des Wider-
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 411: »Erschlossenheit ist […] die Grundart des Daseins, gemäß der es sein Da ist.« 77 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 372. 78 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 390. 79 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 398. Vgl. auch: Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 415: »Die angesetzte Existenzidee ist die existenziell unverbindliche Vorzeichnung der formalen Struktur des Daseinsverständnisses überhaupt.« 76
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spruchs – die »Existenzidee« als eine »formale und existenziell unverbindliche«, die dennoch einen bestimmten »Gehalt« in sich birgt. 80 Hierbei geht es jedoch keineswegs um eine Normierung von Existenz. 81 Vielmehr nimmt diese Passage Bezug auf die bereits analysierte Hermeneutik der Faktizität, und zwar besonders auf den Gedanken der formalen Anzeige (Heidegger selbst bezieht seine »Existenzidee« auf die »formale Anzeige«. 82 ) So wie die formale Anzeige einen Lebensvollzug anzeigt, ihn aber in der Beschreibung nicht vorschreiben oder fixieren will, ist auch der Gewissensruf als die Möglichkeit der eigentlichen Existenz nur anzeigend. Entscheidend ist es aber nun, auf den Gedanken zu achten, dass der Gewissensruf »in die Situation vorruft«. Das faktische Ideal der Existenz, das im fundamentalontologischen Projekt liegt, soll nicht im Sinne einer existenziell bestimmbaren und regelbaren Existenz verstanden werden, sondern als dasjenige Ideal eines bestimmten Aufenthaltes, in dem der Mensch sich wach in seiner faktischen Situation hält und so aufmerksam auf das bleibt, was sich im Handeln jeweils offenbart. Das faktische Ideal führt somit zu einer intensivierten Existenzweise, in der der Mensch anhand seines eigenen und jeweiligen Umgangs mit den Dingen Erkenntnisse erwirbt. Diesen durch das faktische Ideal geführten Modus der Existenz möchte ich als das rechte Ethos in Sein und Zeit bezeichnen. Wichtig ist dabei, darauf zu achten, dass im rechten Ethos eine fundamentale Intensivierung von Sinn ermöglicht wird. Denn sein Ziel besteht einerseits darin, sich eine Offenheit für das Seiende, sich selbst und die Ganzheit der Welt in allen ihren möglichen Erscheinungsformen zu erhalten; andererseits wird im Gedanken des faktischen Ideals zugleich der Anspruch erhoben, die Selbstheit des Daseins zurückzugewinnen. Die »Selbstheit« des Daseins ist aber für Heidegger »existenzial nur abzulesen am eigentlichen Selbstseinkönnen, das heißt an der Eigentlichkeit des Seins des Daseins als Sorge«. 83 Damit ist gesagt: Selbst wenn das Dasein einen uneigentlichen Aufenthalt hat, gehört zu diesem zwar auch die Sorge, jedoch in einem schlafenden Modus. 84 In ihrer vollen Ausprägung erscheint die Sorge erst
80 81 82 83 84
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 416. Vgl. McNeill, The Time of Life, 66. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 415. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 427. Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 103. A
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dann, wenn sich das Dasein im rechten Ethos befindet, das heißt wenn es sein eigenes Sein als Sorge übernimmt. Diese Art von Aufenthalt unterscheidet sich sowohl von der theoretisch-wissenschaftlichen Haltung als auch von dem alltäglich-undifferenzierten Aufenthalt des Daseins radikal. Zwar sagt Heidegger, dass die Quelle der Philosophie das alltägliche, vorphilosophische Dasein ist. 85 Doch, wie Günter Figal formuliert: »Sobald sie [die Philosophie, D. A.] einmal entsprungen ist, bleibt sie von ihrem Ursprung dadurch radikal getrennt, daß sie wesentlich nicht der Handlungsperspektive des alltäglichen Daseins unterliegt, sondern diese in ihrer Bewegtheit begreift.« 86 Das intendierte Ethos ist weder das Ethos eines vernünftigen Lebewesens noch das eines politischen, sondern vor allem das rechte Ethos des philosophischen Lebewesens.
5.
Augenblick und Aufenthalt
In den Zustand der Wachheit gelangt das Dasein einzig und allein durch die Annahme seiner endlichen Zeitlichkeit. Die nie zu verfestigende Möglichkeit der Eigentlichkeit gibt es nur, wenn das Dasein gegenüber seiner eigenen Endlichkeit Position bezieht. Wäre das Wesen des Daseins dem des unendlichen Gottes nachgebildet, dann wäre es in der Lage, über alles, was ist, durch einen allumfassenden und unfehlbaren Blick wissend zu verfügen. Aus der Endlichkeit des Daseins lässt sich somit sein begrenztes Erkenntnisvermögen verstehen, das die Notwendigkeit der ständigen Zueignung des Erschlossenen – des bereits interpretierten Seienden also, bei dem das Dasein immer schon verweilt – mit sich bringt. Diese Zueignung geschieht aber nur durch einen entschlossenen Aufenthalt in der jeweiligen Existenzsituation, in der Vergangenheit der Faktizität, die immer wieder die »eigentliche Entschlossenheit zur Wiederholung ihrer selbst« verlangt. 87 Merkwürdigerweise ist das Halten in diesem Aufenthalt weder besitzergreifend noch verfestigend. Heidegger sagt explizit, dass der Erschließungssinn »frei und offen gehalten werden muß«, und zwar »für die jeweilige
85 86 87
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Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 51, 68 und 89. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 86. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 408.
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faktische Möglichkeit«. 88 Ist dieses Halten des Daseins ein »Sichfreihalten für« die »Zurücknahme« des Entschlusses, 89 dann kann dieser Aufenthalt als ein Bewahren des Offenen verstanden werden. Dieses merkwürdige Halten ist in zeitlicher Hinsicht die eigentliche Gegenwart, der Augenblick. Weil das Dasein prinzipiell ein Möglichsein ist, steht sich seine eigentliche Zeitlichkeit unter der Herrschaft der Zukunft. 90 Der Vorrang der Zukunft realisiert sich aber im Augenblick: »Entschlossen hat sich das Dasein gerade zurückgeholt aus dem Verfallen, um desto eigentlicher im ›Augenblick‹ auf die erschlossene Situation ›da‹ zu sein.« 91 Dass Heidegger in dem Wort »Augenblick« die Komponente »blick« kursiv schreibt, akzentuiert nicht so sehr das holistisch-zeitliche Moment des Augenblicks selbst, sondern vor allem das eigentümliche Wissen, das einem Augenblick innewohnt:92 »Der Augenblick ist dasjenige, was als der Entschlossenheit entspringend allererst und einzig den Blick für das hat, was die Situation des Handelns ausmacht. Er ist der Modus des entschlossenen Existierens, in dem das Dasein als In-der-Welt-sein seine Welt im Blick hält und behält.« 93 Das im Augenblick entschlossene Dasein kann das dynamische Wesen der Zeit »im Blick« haben. Dies heißt, dass das ergriffene Dasein, das gegenüber dem uneigentlichen ein durch den Gewissensruf gewecktes Daseins ist, aus seiner durchschnittlichen Indifferenz herausgehoben und aufmerksam darauf wird, dass seine jeweilige Handlungssituation zeitlich ist. Das Dasein wird in der augenblicklichen Zeitlichkeit des Handelns verstehend gehalten. Die Harmonie von Verstehen, Handeln und Zeitlichkeit kommt so zur Geltung. Das Verstehen ist der eigentliche und wahHeidegger, Sein und Zeit, GA 2, 407. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 407–408. 90 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 436: »Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft.« 91 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 434. 92 Deshalb interpretiert William McNeill der Augenblick so, dass er vor allem die zweiseitige Dimension des Augenblickes hervorhebt: Der Augenblick »carries both a visual and a temporal sense« (McNeill, The Glance of the Eye, ix). Vgl. auch: McNeill, The Time of Life, 93: »Rather, ethical virtue in its very unfolding is a propensity toward the mean that itself sees the mean, contributes to bringing about the correct Augenblick, the appropriate glance of the eye that culminates in the kairos. As such seeing, it is all the While an openness, a holding oneself open and free for the ever new appropriation that the time of life itself call for.« 93 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 407–408. 88 89
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re Sinn des Handelns. 94 In der Situation orientiert sich das Dasein umsichtig, mit der Sicht, die die Praxis führt. »Die Umsicht gibt allem Beibringen, Verrichten die Bahn des Vorgehens, die Mittel der Ausführung, die rechte Gelegenheit, den geeigneten Augenblick.« 95 Wir wissen aus der Analyse der Marburger Vorlesungen, dass für Heidegger diese Umsicht die Phronesis ist. Der Blick im Wort Augenblick weist so auf das Verhältnis von Verstehen und kairologischer Zeit. Mit dem Ausdruck »Augenblick« ist auch hier – wie in der Sophistes-Vorlesung – das »Erblicken des Diesmaligen« gemeint, das heißt das jeweilige, aus dem Handeln entstammende Verstehen in seiner jeweiligen Zeit. 96 Da für Heidegger das Verstehen »sich entwerfen auf eine Möglichkeit, im Entwurf sich je in einer Möglichkeit halten« bedeutet, 97 heißt dies zunächst, dass das Verstehen als Entwurf die Möglichkeit als Möglichkeit zu bewahren vermag. Dies kann das Verstehen nur, weil es in einem Bezug zum Handeln und damit zu der im Augenblick erlebten Zeitlichkeit steht. Die Ständigkeit des Augenblicks ist deshalb keineswegs als eine Anwesenheit zu deuten. Vielmehr ist sie, wie Karl Lehmann zutreffend erklärt, »stets Offenheit in die horizontal-ekstatische Einheit der Zeitlichkeitsekstasen hinein, um in diesem Sicheinlassen der darin erscheinenden Wahrheit des Seins entsprechen zu können«. 98 Die Offenheit, die im Augenblick zur Sprache kommt, stellt die außerordentliche Gelegenheit dar, in der das Dasein sein Handeln im Blick auf die Situation orientiert. Steht aber das Dasein in der eigentümlichen Offenheit des Augenblicks, dann wird damit die Erschlossenheit von Welt erfahren, die durch das Umgehen mit der Welt geschieht. Der Augenblick ist die offene Haltung des Daseins, eigentliche Erschlossenheit: »Das eigenste Seinkönnen selbst sein, es übernehmen und sich in der Möglichkeit halten, sich selbst in der faktischen Freiheit seiner selbst verstehen, d. h. das sich selbst Verstehen im Sein des eigensten Seinkönnens, ist der ursprüngliche existenziale Begriff des Verstehens.« 99 Dass die Entschlossenheit eine Rückkehr ins Handeln des Daseins Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 393. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 228. 96 Siehe das II. Kapitel dieser Arbeit. 97 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 392. 98 Karl Lehmann, Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers, Band 2, Mainz 2003, 703. 99 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 391. 94 95
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Augenblick und Aufenthalt
impliziert, wird noch klarer, wenn man auf die Zeitlichkeit des Handelns selbst achtet. Denn »die vorlaufende Entschlossenheit erschließt die jeweilige Situation des Da so, daß die Existenz handelnd das faktisch umweltlich Zuhandene umsichtig besorgt«. 100 Damit kann die Entschlossenheit »sein, was sie ist«, nämlich »das unverstellte Begegnenlassen dessen, was sie handelnd ergreift«. 101 Die Entschlossenheit bringt das Dasein, wie der junge Heidegger sagen könnte, lebendig in die Situation hinein. Die Umsicht erhellt das Handeln, so dass sich ein besonderes Verweilen ergibt: »Der ›praktische‹ Umgang hat seine eigenen Weisen des Verweilens.« 102 Die augenblickliche Zeitlichkeit im Handeln ist das zeitlich-räumliche Sichaufhalten bei einem jeweiligen Tun, das der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins und somit seinem eigentlichen Aufenthalt entspricht. Mit der Analyse der Zeitlichkeit weist Heidegger also explizit auf den Augenblick und damit indirekt auf den Aufenthalt (Ethos) hin. Für Heidegger heißt Verstehen »entwerfend-sein zu einem Seinkönnen, worumwillen je das Dasein existiert«. 103 Das Wissen des Verstehens ergibt sich aus der Immanenz. Es geschieht sozusagen beim Innestehen in der existenziellen Situation, in einer jeweiligen Existenzmöglichkeit, auch wenn sich aufgrund der Verfallenheit wieder ein uneigentliches Verstehen ausbilden wird. Das Dasein flieht und wird unaufmerksam gegenüber der jeweiligen Situation. Unaufmerksam zu bleiben heißt, die Führung für die eigene Existenz aus einer anderen Quelle als aus der Situation selbst zu gewinnen, in der das Dasein sich jeweils befindet. Das »uneigentliche Verstehen« »meint ein solches Verstehen, worin das existierende Dasein primär sich nicht aus der eigensten selbstergriffenen Möglichkeit versteht«. 104 Das eigentliche Verstehen des im rechten Ethos sich aufhaltenden Daseins bleibt stets auf das Jeweilige bezogen. 105 Deshalb gehört zum eigentlichen Verstehen ein besonderer Modus des Verweilens, nämlich der Augenblick. Der Augenblick ist die Zeit der faktischen Situation, die Zeit des Handelns: »Zum Vorlaufen der Entschlossenheit gehört eine Gegenwart, gemäß Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 431. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 431. 102 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 473. 103 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 445. 104 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 395. 105 Hierzu vgl. Romulo Perrota, Heideggers Jeweiligkeit: Versuch einer Analyse der Seinsfrage anhand der veröffentlichten Texte, Wien 1999, 80. 100 101
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der ein Entschluß die Situation erschließt. In der Entschlossenheit ist die Gegenwart aus der Zerstreuung in das nächst Besorgte nicht nur zurückgeholt, sondern wird in der Zukunft und Gewesenheit gehalten. Die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene, mithin eigentliche Gegenwart nennen wir den Augenblick.« 106 Im Augenblick als »eigentlicher Gegenwart« erlebt das Dasein die eigentliche Zeitlichkeit, »denn die Zeitlichkeit der Entschlossenheit hat bezüglich ihrer Gegenwart den Charakter des Augenblicks. Dessen eigentliches Gegenwärtigen der Situation hat selbst nicht die Führung, sondern ist in der gewesenden Zukunft gehalten.« 107 In diesem Sinne ist die eigentliche Gegenwart keineswegs eine Variante des in der philosophischen Tradition vertretenen Vorrangs der Gegenwart, sondern ein Halten des Vergangenen, das durch die Priorität der Zukunft geleitet wird. Dies will sagen, dass im Augenblick eine ständige Vergegenwärtigung des Sinnes dessen, was als sinnhaft erscheint, vollzogen wird. Die eigentliche Gegenwart ist zunächst die Gegenwart der Angst, wobei die Angst das ist, was den Augenblick, »als welcher sie selbst und nur sie möglich ist, auf dem Sprung« hält. 108 Der Augenblick ist auch deshalb kein aktueller Moment, kein chronologisches Jetzt. 109 Vielmehr geht es um das Moment des Möglichen, um die Möglichkeit, einen besonderen Blick auf die Zukunft zu werfen. In der Gegenwart der Entschlossenheit wird die eigentliche Zukunft als Vorlaufen und die eigentliche Gewesenheit als Wiederholung gehalten. 110 Deshalb soll der Augenblick als Ekstase verstanden werHeidegger, Sein und Zeit, GA 2, 447. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 542. 108 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 455. 109 Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 409: »Der Augenblick ist ein Urphänomen der ursprünglichen Zeitlichkeit, während das Jetzt nur ein Phänomen der abkünftigen Zeit ist. Schon Aristoteles hat das Phänomen des Augenblicks, den kair@, gesehen und im IV. Buch seiner ›Nikomachischen Ethik‹ umgrenzt, aber wiederum so, daß es ihm nicht gelang, den spezifischen Zeitcharakter des kair@ mit dem in Zusammenhang zu bringen, was er sonst als Zeit (n‰n) kennt.« Vgl. auch: Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 447: »Das Phänomen des Augenblicks kann grundsätzlich nicht aus dem Jetzt aufgeklärt werden.« 110 Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 407: »Der Augenblick ist ein Gegenwärtigen von Anwesendem, das zum Entschluß gehörig die Situation erschließt, in die hinein die Entschlossenheit sich entschlossen hat.« Oder in William McNeills ausgezeichneter Formulierung gesagt: »Dasein’s authentic understanding of itself as originary praxis, by contrast, would consist in its retrieval of its ownmost being, 106 107
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Augenblick und Aufenthalt
den. »Im Augenblick als einer Ekstase ist das existierende Dasein als entschlossenes entrückt in die jeweilig faktisch bestimmten Möglichkeiten, Umstände, Zufälle der Situation seines Handelns.« 111 Daraus sieht man deutlich, dass im Augenblick zweierlei zur Geltung kommt: Einerseits wird das Dasein im Augenblick gehalten, andererseits ist dieses Gehaltensein so, dass das Dasein sich auf das, was ihm in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten begegnet, einlässt. Es geht also nicht um eine lineare Zeit, sondern um das holistische Moment, aus dem das Dasein offen für die begegnende Situation gehalten wird. »›Im Augenblick‹ kann nichts vorkommen, sondern als eigentliche Gegenwart läßt er erst begegnen, was als Zuhandenes oder Vorhandenes ›in einer Zeit‹ sein kann.« 112 Das Sichaufhalten im Augenblick weist somit auf den Aufenthalt in der faktischen Situation hin. Wenn das Dasein im Augenblick existiert, hält es sich nicht im Sicheren, sondern jede Führung und Maßgabe in der Handlungssituation erwächst aus dieser jeweiligen Situation. Das heißt wiederum, dass das eigentliche Dasein kein Maß, das es zuvor schon gehabt hätte, in die Situation hineinbringt. Somit kann man deutlich sehen, dass die intendierte Haltung, das gesuchte Ethos im Augenblick eine Haltung im Offenen ist. 113 Dass die eigentliche Gegenwart ein im Augenblick zu vollziehender Aufenthalt ist, wird letzten Endes klar, wenn wir auf Heideggers Beschreibung der Neugier achten. Sie ist ein »Unverweilen« bei den begegneten Sachen: »Die beiden für die Neugier konstitutiven Momente des Unverweilens in der besorgten Umwelt und der Zerstreuung in neue Möglichkeiten fundieren den dritten Wesenscharakter dieses Phänomens, den wir die Aufenthaltslosigkeit nennen.« 114 Bereits 1924 betont Heidegger: »Dieses aufenthaltslose Verweilen in der Welt charakterisiert die Zerstreuung als Seinsart des Daseins.« 115 Gegen das Aufenthaltslose setzt Heidegger also die Verbindlichkeit des Augen-
in its seeing, in the ›glance of the eye‹ or Augenblick, the singular and momentary character of its own presence as Dasein« (McNeill, The Glance of the Eye, 96). 111 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 407. 112 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 447. 113 Auch Karl Lehmann sieht den Zusammenhang zwischen Ethos und Augenblick: »Der Augenblick ist der rechte Aufenthalt: das rechte ethos« (Lehmann, Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers, 704). 114 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 229. 115 Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 38. A
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blicks. 116 Heidegger bezeichnet diese »Aufenthaltslosigkeit« ausdrücklich als das »Gegenphänomen zum Augenblick«. 117 Der Zusammenhang von Augenblick (Kairos) und Aufenthalt (Ethos), zwischen dem Zeitlichem und dem Ethischen ist somit in Sein und Zeit deutlich zu erkennen. Gegenüber dem Aufenthalt im Man, in dem die Situation verschlossen ist, 118 betont Heidegger den Aufenthalt im Augenblick, in dem die jeweilige Situation erschlossen ist. Der Augenblick »bringt die Existenz in die Situation und erschließt das eigentliche ›Da‹«. 119 Aus diesem Grund kann man den Augenblick als ein Ereignis sehen, in dem, um mit Karl Lehmann zu sprechen, »die entscheidende Wahrheit offenkundig« wird. 120 Der Augenblick wird aber stets als eine plötzliche Möglichkeit begriffen. Niemand kann ständig im Augenblick sein, und daher stellt der Augenblick als eigentliche Gegenwart keineswegs eine endgültige Rettung aus der Uneigentlichkeit des Daseins dar. »Die Existenz kann aber auch im Augenblick und freilich oft auch nur ›für den Augenblick‹ den Alltag meistern, obzwar nie auslöschen.« 121 Dies bestätigt noch einmal, dass die Rede von einer »Ethik der Eigentlichkeit« das Entscheidende im Zustand der Eigentlichkeit verfehlt. Eigentlich zu sein ist das nie vollständig zu erreichende faktische Ideal, das es als ein solches zu bewahren gilt. 122 Die Verbindlichkeit des Augenblicks ist deshalb die des Rufs, der uns rät, wach im Augenblick zu sein. Sind wir ganz dabei im Tun, verweilen wir wach bei der jeweiligen Situation, dann kommt der Augenblick zur Geltung. Vgl. auch: Seel, Heidegger und die Ethik des Spiels, 245. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 459. 118 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 397. 119 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 459. 120 Lehmann, Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger, 143. 121 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 491. 122 Nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit betont Heidegger in der Vorlesung vom SS 1927 ein weiteres Mal die Unauflösbarkeit der Uneigentlichkeit folgendermaßen: »Die Uneigentlichkeit gehört zum Wesen des faktischen Daseins. Eigentlichkeit ist nur eine Modifikation und keine totale Ausstreichung der Uneigentlichkeit. Wir betonen ferner, daß das alltägliche Sichverstehen des Daseins sich in der Uneigentlichkeit hält, und zwar so, daß das Dasein dabei um sich weiß ohne ausdrückliche Reflexion im Sinne einer auf sich zurückgebogenen inneren Wahrnehmung, sondern in der Weise des Sichfindens in den Dingen« (Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 243). 116 117
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Der Augenblick als die eigentliche Gegenwart ist die Zeit der Eigentlichkeit. Die Rede von der Eigentlichkeit ist nicht moralisch, sondern ethisch, weil sie die Befreiung des Daseins von seinem alltäglichen, die Eigentlichkeit verdeckenden Ethos, in dem das »Man« dem Dasein seine Verantwortlichkeit abnimmt, 123 ermöglicht. Nur in der Eigentlichkeit kann das Dasein ins eigene Wesen zurückkommen: »Das Dasein wird ›wesentlich‹ in der eigentlichen Existenz, die sich als vorlaufende Entschlossenheit konstituiert.« 124 In dieser Befreiung kommt es für Heidegger darauf an, dass das Dasein seine eigene Endlichkeit übernimmt und so für sich verantwortlich wird. Gerade wenn das Dasein sein unüberwindbares Ende lebendig im Vollzug seiner Existenz hält, wenn es also im Augenblick existiert, übernimmt das Dasein die eigene Unbestimmtheit seines Seins, und das heißt das Überantwortetsein seines eigenen Seins. 125 Gerade darauf zielt Heideggers Rede von der Eigentlichkeit. Diese soll dem Dasein nicht etwas Konkretes vorschreiben, sondern es lediglich auf die Aufgabe der eigenen Übernahme der Existenz und seine alltägliche Selbstverdeckung aufmerksam machen. Freilich spricht Heidegger in Sein und Zeit über etwas, das von außen weder zu erfahren noch zu beschreiben ist. Nur aus der tiefsten Vereinzelung heraus gibt es die Möglichkeit des Selbstseins. »Das Dasein ist eigentlich selbst in der ursprünglichen Vereinzelung der verschwiegenen, sich Angst zumutenden Entschlossenheit.« 126 Darüber hinaus könnte Sein und Zeit dem Menschen auch weder eine konkrete Auffassung noch eine moralische Auslegung der Existenz anbieten. Es ist höchstens ein Aufmerksammachen auf das rechte Ethos des Menschen. Das Charakteristische der menschlichen Existenz besteht gerade in ihrer Unbestimmtheit, und das heißt in der Unmöglichkeit eines homogenisierenden Blicks auf die Existenz. Im eigentlichen Ethos gibt es keine verdeckende Sicherheit durch Werte oder Kultur, keinen Verlust der Überantwortung an sich selbst, die die Existenz des Daseins bedeutet, sondern eine radikale Übernahme des »Lastcharakters des Daseins«, 127 um in diesem sich frei zu wählen und darin wach zu bleiben. Diese Überlegungen sind insofern ethisch, als sie dem
123 124 125 126 127
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 170. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 428. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 56. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 427. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 179. A
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Das rechte Ethos in Sein und Zeit
Menschen die Wahrheit seiner Existenz zu erschließen versuchen. Derjenige, der sich dafür entscheidet, auf diese »Wahrheit der Existenz« Rücksicht zu nehmen, muss in der Situation seines jeweiligen Handelns aufmerksam bleiben. Kurzum: Es wird ein bestimmter Aufenthalt erforderlich, um diese Wahrheit zu bewahren. Der intendierte eigentliche Aufenthalt als das augenblickliche Sichhalten in der Welt ist deshalb nichts anderes als Heideggers Darstellung eines philosophischen Ethos. Das Dasein im Modus der eigentlichen Existenz ist nicht das vorphilosophische Dasein. Vielmehr hat sich das Dasein, das im Augenblick existiert, bereits als ein Seiendes erkannt, das gegenüber der Offenheit des Seins und seiner Erschlossenheit immer schon verpflichtet, diesem überantwortet ist. In Sein und Zeit wird nach der ontologischen Verfassung des Daseins gefragt, so dass sich ein allmählicher Übergang vom alltäglich-vorphilosophischen Dasein zum philosophischen Dasein vollzieht. Der Gedanke, dass das philosophische Leben, das philosophische Ethos – selbst wenn es nicht auf das theoretische Leben hinweisen muss – die höchste Möglichkeit der menschlichen Existenz darstellt, ist ein klassisches Motiv, das in Heideggers Denken nicht nur in seinem Frühwerk (der Hermeneutik der Faktizität und in Sein und Zeit) erscheint, sondern – wie wir sehen werden – seinen gesamten Denkweg durchzieht. 128
128 Dass es Heidegger um ein philosophisches Ethos geht, wird durch einige Interpreten, zu denen auch Lévinas zählt, implizit vertreten: »Der Gang von Heideggers uneigentlicher Existenz zur eigentlichen Existenz – der nichts anderes ist als die philosophische Erhebung, das eigentliche Geschehen der Philosophie – wird von der uneigentlichen Existenz selbst vollzogen; und die Rückkehr zum eigentlichen Dasein bewahrt alle Möglichkeiten des Verfalls, die unverändert auch die Erhebung kennzeichnen« (Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, hrsg. von W. N. Krewani, Freiburg i. Br./München 3 1999, 60). Aber nicht nur Lévinas, auch Thomas Rentsch versteht Sein und Zeit als eine »monologische Bestimmung des guten Lebens, der ›eigentlichen Existenz‹« (Thomas Rentsch, Interexistentialität. Zur Destruktion der existenzialen Analytik, in: R. Margreiter und K. Leidlmair [Hrsg.] Heidegger. Technik – Ethik – Politik, Würzburg 1991, 143–152, hier 147). Und wenn Rainer Marten behauptet, dass »menschliches Dasein in seiner Eigentlichkeit […] als philosophischer Entwurf [ist], der die Gegenwart in ihrer Alltäglichkeit kritisiert, ein Entwurf philosophischer Existenz«, dann trifft er auch etwas an der Sache (Rainer Marten, »Der Begriff der Zeit«. Eine Philosophie in der Nußschale, in: D. Thomä [Hrsg.], Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 22–26, hier 23).
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Das Ethos in Sein und Zeit als Überrest
6.
Das Ethos in Sein und Zeit als Überrest
Mit der Hervorhebung der eigentlichen Existenz und ihrer eigentlichen Zeitlichkeit geht es Heidegger jedoch nicht nur darum, dass der Mensch das Verhältnis zwischen seiner eigenen Entschlossenheit und der Erschlossenheit des Seins erkennt, sondern vor allem darum, dass die menschliche Entschlossenheit – als Erschlossenheit des Daseins – in gewisser Weise eine Entsprechung der Erschlossenheit des Seins ist. Anders gewendet: Das eigentlich existierende Dasein weißt, dass das Sinnhafte nichts vom Menschen Gemachtes ist und durch das menschliche Handeln lediglich entdeckt wird. Diese Entdeckung geschieht aber nur aufgrund der Erschlossenheit des Daseins, die sich jedoch mit der Erschlossenheit von Sein überhaupt verbindet. 129 Darüber hinaus bildet die ethische Dimension in Sein und Zeit einen Überrest der ethischen Grundzüge der Hermeneutik der Faktizität. Beide philosophischen Programme teilen die Auffassung, dass es eine ausgezeichnete Möglichkeit des Existierens gibt, auf die das Dasein aufmerksam gemacht werden soll. Und obwohl das faktische Ideal der Faktizität in der Hermeneutik der Faktizität und dasjenige von Sein und Zeit als die Suche nach dem rechten Aufenthalt des Menschen im Wesentlichen dasselbe sind, dürfen sie nicht als vollkommen identisch behandelt werden. Denn dieses selbe Ideal ordnet sich jeweils verschiedenen Ansprüchen unter. In beiden programmatischen Epochen von Heideggers Denken ist zwar ein Appell zu finden, bei dem es um den richtigen Aufenthalt des menschlichen Daseins geht. Jedoch kommt dieser nur in der Hermeneutik der Faktizität als existenzielle Analyse des menschlichen Daseins zum Tragen. Dabei besteht das Ziel darin, das Dasein selbst zur Durchsichtigkeit seines Seins zu bringen, und nicht darin, das Sein überhaupt zu thematisieren. Im Hinblick auf das bislang Erörterte kann man nun die Frage beantworten, warum es heute noch keine Einigkeit unter den HeideggerInterpreten darüber gibt, ob die Rede von der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins als eine Form von Ethik verstanden werden 129 Diese Tatsache hat William McNeill auch gesehen: »The Augenblick is not itself something that is decided by the human being’s power of thought or decision alone, nor indeed in the first instance. For even in the situation of human action guided by phrone¯sis, human judgment can only respond to what already presents itself in the situation, that is, to the Augenblick itself« (McNeill, The Time of Life, 101).
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darf oder nicht. Das liegt zum einen an der Unvollständigkeit des Werkes. Sein und Zeit ist unvollendet geblieben, so dass die Fundamentalanalytik des Daseins eher Existenzphilosophie als Ontologie zu sein scheint. 130 Dementsprechend wird leicht vergessen, dass die eigentliche Rolle und Stelle der Analytik des Daseins innerhalb von Heideggers Projekt eine vorbereitende ist. 131 Sie ist die Zugangsweise, in der die Fundamentalontologie erreicht und entfaltet werden kann. 132 Somit ordnet Heidegger die Daseinsanalytik der Seinsfrage unter: »In der Idee einer solchen Seinsverfassung liegt aber schon die Idee von Sein überhaupt. Und so hängt auch die Möglichkeit einer Durchführung der Analytik des Daseins an der vorgängigen Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt.« 133 Erst in Sein und Zeit versucht Heidegger durch die Daseinsanalytik die Erschlossenheit des Seins des Daseins deutlich zu machen, um sie ausgehend vom Dasein als einen Reflex der Erschlossenheit von Sein überhaupt ins Auge zu fassen. Der bedeutsamste Unterschied zwischen der »prinzipiellen Ontologie« 134 und der Fundamentalontologie besteht deshalb darin, dass Heidegger in seinem Frühwerk keine spezifische Differenzierung des Seinssinns vorgenommen hat. Dieser wird mit der Faktizität gleichgesetzt, soweit diese in Bezug auf das Zeitliche und damit auf die Existenzmöglichkeiten des Daseins verstanden wird. Weil die Faktizität den Seinssinn darstellt, kann man sagen, dass sie in Sein und Zeit in ihrer sinngebenden Funktion durch das Sein im Horizont der Zeit ersetzt wird. 135 Deswegen gründet die Differenz zwischen prinzipieller Ontologie und Fundamentalontologie in der Thematisierung der Zeitlichkeit und ihrer Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, 47. Auch in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 wird diese vorbereitende Rolle noch einmal betont: »Vorbereitend ist sie deshalb, weil sie zur Aufhellung des Sinnes von Sein und des Horizontes des Seinsverständnisses erst hinleitet. Sie kann nur vorbereitend sein, weil sie erst das Fundament für eine radikale Ontologie gewinnen will« (Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 319). 132 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 18: »Daher muß die Fundamentalontologie, aus der alle andern erst entspringen können, in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden.« 133 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 17. 134 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 364. 135 Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 389: »Die Zeitlichkeit ist die Bedingung der Möglichkeit von Seinsverständnis überhaupt; Sein wird aus der Zeit verstanden und begriffen. Wenn die Zeitlichkeit als eine solche Bedingung fungiert, nennen wir sie Temporalität.« 130 131
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Verknüpfung mit der Seinsfrage. Obwohl beide »Ontologien« in der Auffassung des Seins als Seinsverständnis übereinstimmen, wird Sein in der Fundamentalontologie als Zeitlichkeit konzipiert und weist damit auf ein Allgemeines hin, das nun die Funktion der Individuation übernimmt, die früher die Faktizität als Jeweiligkeit hatte. In wenigen Worten formuliert: Während Heidegger in seiner Hermeneutik der Faktizität eine Ontologie des jeweiligen Daseins realisiert, wird in Sein und Zeit versucht, eine Ontologie des Sinns von Sein überhaupt zu vollziehen. 136 Im Gegensatz zur Fundamentalontologie kommt es in der Hermeneutik der Faktizität einmal darauf an, das menschliche Dasein und nicht die Seinsfrage zum zentralen Thema zu machen; dies zeigt aber auf der anderen Seite, dass hierbei das Einzelne (die Jeweiligkeit) den Vorrang vor dem Allgemeinen (der Seinsfrage) hat. Wenn man die Hermeneutik der Faktizität in ihren Grundmotiven und Aufgaben betrachtet, kann man sagen, dass sie vor allem auf einer – in Heideggers Termini gesagt – »existenziellen« und nicht auf einer »existenzialen« Ebene vollzogen wird. 137 Die Hermeneutik der Faktizität ist der Versuch, die konkrete Existenz des jeweiligen Daseins zu erhellen, und stellt sich als Kampf des Daseins gegen die eigene Selbstentfremdung dar. Die Analytik des Daseins ist dagegen eine ontologische Analytik. Ihr geht es weniger darum, das Dasein für sich selbst zu nehmen und zu verstehen, sondern vor allem darum, dessen Strukturen im Hinblick auf ihre Relevanz für die Ontologie herauszuarbeiten. Während in der Hermeneutik der Faktizität das Hauptthema eindeutig das Dasein in seiner Jeweiligkeit ist 138 – wodurch sie zeigt, dass in ihr der Akzent ausgesprochen auf dem Existenziellen liegt –, versucht die Hermeneutik von Sein und Zeit das Dasein durch den allgemeinen Blick auf das »Existenziale« zu erhellen. 139 Dass das Ethische in Heideggers Hauptwerk problematisch ist, gründet aber vor allem in der strukturellen Ambivalenz des Werkes. 140 Siehe dazu: Gander, Selbstverständnis und Lebenswelt, 227–229. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 17. 138 Siehe das I. Kapitel dieser Arbeit. 139 Das ist jedenfalls die Meinung von Jean Grondin. Vgl. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer, 88; Jean Grondin, Hermeneutik. Selbstauslegung und Seinsverstehen, in: D. Thomä [Hrsg.], Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 47– 51, hier 49. 140 Auf diese Ambivalenz haben bereits Günter Figal und Rainer Thurnher hingewiesen. Vgl. Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, 215; Rainer Thurnher, 136 137
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Das rechte Ethos in Sein und Zeit
Diese Ambivalenz ist konstitutiv: Auf der einen Seite steht der transzendentale Anspruch der Frage nach dem Sein überhaupt, auf der anderen Seite die Wiederaufnahme der Hermeneutik der Faktizität und ihrer ethisch-befreienden Aufgabe. Insofern die Daseinsanalytik »ontisch verwurzelt« ist, 141 ist Sein und Zeit damit von einer unüberwindbaren Spannung zwischen seinem ontologischen Anspruch und dem ontischen Fundament des Ontologischen durchzogen. In Heideggers Auffassung des Seins als Seinsverständnis zeigt sich ein hermeneutische Prinzip in der Ontologie, insofern das Dasein dasjenige Seiende ist, das einen privilegierten und bestimmten Bezug auf das Sein hat. Das Dasein als ontisches Fundament wird somit zur »Bedingung der Möglichkeit aller Ontologien«. 142 Hieraus ergibt sich ein wichtiges Problem. Denn in Heideggers fundamentalontologischem Projekt soll – durch die Einbeziehung der Zeitproblematik – das »Rätsel des Seins« 143 und nicht die Möglichkeit einer eigentlichen Existenz erhellt werden. Heidegger selbst bemerkt die Ambivalenz seines Werkes, wenn er die Fundamentalontologie als einen »Zwischenzusstand [sic!]« bezeichnet. 144 Im fundamentalontologischen Programm bleibt die ontologische Differenz unvollständig ausgearbeitet, da die Transzendenz des Daseins, die diese Differenz ist, nicht genügend bearbeitet wurde. Die zuvor benannte strukturelle Ambivalenz von Sein und Zeit ergibt sich aus der unentschiedenen Position gegenüber der Differenz zwischen dem Ontischen und dem Ontologischen. Nach dem »produktiven Scheitern« 145 von Sein und Zeit versucht Heidegger einen Weg aus der damit aufgeworfenen Problematik zu finden. Die Seinsfrage muss anders gestellt werden, und das hat für unsere Untersuchung erhebliche Konsequenzen.
Wandlungen der Seinsfrage: zur Krisis im Denken Heideggers nach »Sein und Zeit«, Tübingen 1997, 14–16. 141 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 18. 142 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 18. Vgl. auch: Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 323. 143 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 517. 144 Heidegger, Die metaphysische Grundstellungen des abendländischen Denkens, 24. 145 Roberto Rubio, Zur Möglichkeit einer Philosophie des Verstehens. Das produktive Scheitern Heideggers, Tübingen 2006.
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Zweiter Teil: Das Ethos und die Wahrheit des Seins
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Kapitel IV: Die Ausarbeitung der Philosophie als Haltung: Heideggers Denken zwischen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre
Nach Sein und Zeit beginnt Heidegger eine neue und fruchtbare Phase seines philosophischen Denkwegs. Er beschäftigt sich nicht nur intensiv mit neuen Themen (wie etwa der Kunst und dem Kunstwerk), sondern auch mit Seiendem anderer Art (etwa den Tieren), die innerhalb der Daseinsanalytik belanglos gewesen waren. Doch gleichzeitig lässt sich Heideggers Denken nach 1927 in gewissem Maße als eine Radikalisierung des transzendentalen Ansatzes von Sein und Zeit interpretieren. Die Problematik der Nichtigkeit und des Grundes, der Freiheit und der Wahrheit, die bereits in Sein und Zeit enthalten sind, werden tiefer als zuvor behandelt. Gerade darin liegt das Problem einer angemessenen Deutung der sogenannten »Kehre«. Den in der Diskussion um eine mögliche »Kehre« in Heideggers Denken entscheidenden Punkt bringt Dieter Thomä ans Licht: »Wenn es hier denn ein Problem gibt, dann betrifft es das Verhältnis zwischen Sein und Zeit und dem späten Denken Heideggers.« 1 Selbst wenn Heidegger im Brief über den »Humanismus« sagt, dass der Übergang zu Zeit und Sein – dem unveröffentlichen dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit – eine »Umkehrung« des Ganzen sei, wobei dies andererseits keine »Änderung des Standpunktes von Sein und Zeit« bedeute, 2 ist damit noch nicht entschieden, wie die »Kehre« genau zu verstehen ist. Doch Heidegger radikalisiert nicht nur seinen Ansatz, sondern revidiert ihn auch. Nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit vollzieht Heidegger eine grundsätzliche Revision dieses Werks. Dies hat damit zu tun, dass dieses Werk als eine Art existenzielle Anthropologie missverstanden wurde. Die Missdeutung des fundamentalontologiDieter Thomä, Kehre. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe?, in: D. Thomä [Hrsg.], Heidegger Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 134–140, 135. 2 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 328. 1
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Die »Metaphysik des Daseins« und die Metontologie
schen Projektes als Existenzialismus gründet sowohl in einer inneren Ambivalenz dieses Werks als auch in der Unvollständigkeit des Buches. 3 Dass diese Fehldeutung seines Werks als Anthropologie Heidegger tief irritiert hat, zeigt sich deutlich darin, dass er sowohl in seinen Vorlesungen als auch in seinen damaligen Schriften und Vorträgen die eigentliche Aufgabe von Sein und Zeit klarzustellen versucht.4
1.
Die »Metaphysik des Daseins« und die Metontologie
Für die Erforschung der ethischen Dimension in Heideggers Philosophieren sind die Vorlesungen, die Heidegger nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit und bis Anfang der dreißiger Jahre gehalten hat, von eminenter Bedeutung. Während dieser Zeit zielt Heidegger darauf ab, das Verhältnis von Sein und Zeit aufzuklären, das in seinem Hauptwerk letztlich noch offengeblieben ist. Dies bedeutet aber zugleich, sich mit der Frage nach der Möglichkeit und der Grenze der Unterscheidung zwischen dem Ontischen und dem Ontologischen zu beschäftigen. Diese Differenz steht zwar im Hintergrund von Sein und Zeit, ist jedoch nicht thematisch. 5 In seinem Hauptwerk geht Heidegger davon Siehe das III. Kapitel dieser Arbeit. Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 202: »Das im Vortrag versuchte Denken erfüllt sich in der wesentlichen Erfahrung, daß erst aus dem Da-sein, in das der Mensch eingehen kann, eine Nähe zur Wahrheit des Seins für den geschichtlichen Menschen sich vorbereitet. Jede Art von Anthropologie und alle Subjektivität des Menschen als Subjekt ist nicht nur, wie schon in ›Sein und Zeit‹, verlassen und die Wahrheit des Seins als Grund einer gewandelten geschichtlichen Grundstellung aufgesucht, sondern der Gang des Vortrags schickt sich an, aus diesem anderen Grund (dem Da-sein) her zu denken.« In einem Brief an Elisabeth Blochmann vom 20. Dezember 1935 sagt Heidegger: »Langsam verstehe ich dieses Buch [Sein und Zeit, D. A.], dessen Frage ich jetzt deutlicher begreife; ich sehe die große Unvorsichtigkeit, die in dem Buche steckt, aber vielleicht muß man solche ›Sprünge‹ machen, um überh[au]pt zum Sprung zu kommen. Es gilt nur, dieselbe Frage noch einmal zu stellen, viel ursprünglicher u. viel freier von allem Zeitgenössischen u. Gelernten und Gelehrten« (Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 20. 12. 1935, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 88). Vgl. auch: Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 171–202; Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 243, 283 und 302. 5 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 8: »Das Sein des Seienden ›ist‹ nicht selbst ein Seiendes.« Vgl. auch: Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 49, 266 und 267. Erst in seiner Vorlesung vom SS 1927 wird die Problematik der Differenz von Sein überhaupt und 3 4
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aus, dass es einen bisher in der philosophischen Tradition nicht als solchen beachteten Unterschied zwischen Sein und Seiendem gibt. Diese Differenz versucht Heidegger unter anderem dadurch zu verdeutlichen, dass er die Zeitlichkeitsproblematik einbezieht: Das Sein ist kein Seiendes, das heißt etwas, das bloß in der Zeit ist, sondern das Zeithafte gehört in ursprünglicher Weise zum Sein. In dieser Trias von Sein, Seiendem und Zeit lokalisiert Heidegger den Begriff des Verstehens: Das Dasein ist dasjenige Seiende, das sich existierend, und das heißt im Horizont der Zeit, als ein seinsverstehendes Seiendes zeigt. Versteht man das Sein – wie die traditionelle Metaphysik – nicht im Unterschied zum Seienden, dann bleibt sowohl das Sein selbst als auch die ursprüngliche Seinsverfassung des Menschen verborgen. Daher ist die Herausstellung der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins der erste Schritt, um diese Differenz zu klären. Da der dritte Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit nicht veröffentlicht wurde, bleibt die Erörterung der ontologischen Differenz unvollständig. Man sollte nicht vergessen, dass der veröffentlichte Teil von Sein und Zeit mit der Frage endet, ob »sich die Zeit selbst als Horizont des Seins« offenbare. 6 Aus diesem Grund versucht Heidegger unmittelbar nach Sein und Zeit eine Lösung des Rätsels der ontologischen Differenz und ihres Bezugs zur Zeitproblematik zu finden. Heidegger will das ursprüngliche Verhältnis von Sein und Zeit – oder, anders gesagt, die Berechtigung des »und« in der Formel »Sein und Zeit« – tiefer begründen. 7 Hierbei stehen die Transzendenz- und die Zeitproblematik, die anhand der Fragen nach dem Wesen der Wahrheit, des Grundes und der Freiheit analysiert werden, im Zentrum der Diskussion. In diesem Rahmen steht auch Heideggers Projekt einer »Metaphysik des Daseins«, das ihn zwischen 1928 und 1932 besonders beschäftigt. Diese »Metaphysik des Daseins« führt aber, wie Jean Greisch meint, zu einer »Verwandlung des Verständnisses der ontologischen Differenz und des Umschlags der Fundamentalontologie in eine erst noch zu erarbeitende Metaphysik«. 8 Dies sagt Heidegger explizit: »Die Seiendem explizit eingeführt, und zwar als ein Problem, das »an erster Stelle« steht (Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 322). 6 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 577. 7 Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 242. 8 Jean Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–1932. Von der Fun-
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Die »Metaphysik des Daseins« und die Metontologie
Fundamentalontologie ist die zur Ermöglichung der Metaphysik notwendig geforderte Metaphysik des menschlichen Daseins.« 9 Die Metaphysik des Daseins übernimmt die »für eine Grundlegung der Metaphysik notwendige Frage, was der Mensch sei«. 10 Im Mittelpunkt dieser nun auszubildenden Metaphysik steht die Metontologie, die die erste explizite Anerkennung einer ethischen Problematik darstellt. 11 Heidegger spricht in der Vorlesung des SS 1928 von der Notwendigkeit, die Fundamentalontologie auf ihr ontisches Fundament zurückzuführen: »Dieses Ganze der Grundlegung und Ausarbeitung der Ontologie ist die Fundamentalontologie; sie ist 1. Analytik des Daseins und 2. Analytik der Temporalität des Seins. Diese temporale Analytik ist aber zugleich die Kehre, in der die Ontologie selbst in die metaphysische Ontik, in der sie unausdrücklich immer steht, ausdrücklich zurückläuft. […] Da vollzieht sich das Kehren, und es kommt zum Umschlag in die Metontologie.« 12 Die sogenannte »Metontologie« ist für die Frage nach einer ethischen Dimension in Heideggers Denken von besonderem Interesse, denn der »Bezirk des metontologisch-existenziellen Fragens [ist] auch der Bezirk der Metaphysik der Existenz«. Heidegger fügt hinzu: »[…] hier erst läßt sich die Frage der Ethik stellen.« 13 Die ethische Dimension, die in der Rede von einer Metontologie zum Vorschein kommt, wird also erst erreicht, »wenn eine metaphysische Ontik die Situationen berücksichtigt, in denen der Mensch steht (z. B. auch mit seiner Stellung im Kosmos)«. 14 Als »der Bezirk der Metaphysik der Existenz« ist die Metontologie das Gebiet des Existenziellen, in dem gerade die ethischen Fragestellungen gestellt werden können. Die Medamentalontologie zur Metaphysik des Daseins, in: D. Thomä [Hrsg.], Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 115–127, hier 116. 9 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 1. 10 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 231. 11 Otto Pöggeler macht darauf aufmerksam: »Mit dem Begriff der Metontologie schließt Heidegger offensichtlich an Max Scheler an, der von den Ontologien durch ›Metaszientien‹ zu einer Metaphysik des Weltgrundes überleitete. Die Ethik, die nach Scheler mit der Anthropologie verbunden ist, wird bei Heidegger jedoch anders gefasst« (Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, 276–277). 12 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 201. 13 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 199. 14 Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, 277. A
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tontologie wird angekündigt, weil Heidegger der Überzeugung ist, dass eine anthropologisch-existenzielle Analyse der Existenz notwendig ist. Diese Überzeugung hat ihren Ursprung, wie wir gesehen haben, in der Hermeneutik der Faktizität und ist auch in Sein und Zeit wiederzufinden. Die Spannung zwischen einer subjektivistisch-anthropologischen Tendenz und dem Anspruch, das Sein überhaupt freizulegen, durchzieht Heideggers Hauptwerk, da es in der Analytik des Daseins weder um »Anthropologie« noch um »Ethik« geht, 15 sondern um die Ausarbeitung der Daseinsanalyse mit Blick auf die Seinsfrage. Doch die Fundamentalontologie, die über den Weg der Daseinsanalyse entfaltet wird, ist immer ontisch verwurzelt. 16 Weil aber die existenzielle Ebene in Sein und Zeit nicht hinreichend entfaltet wird, muss nun die Metontologie die Daseinsanalyse ergänzen. Deshalb führt Heidegger hier die »ethische« Problematik – die zum Bereich des Ontischen gehört – ein. Die Fundamentalontologie muss sich dementsprechend in die Metontologie »umkehren« und in den Bereich des Ontischen zurückkehren, da erst so die Metaphysik in ihrer Einheit ausgearbeitet werden kann. 17 Die Rehabilitierung des ontisch-existenziellen Bereichs der Existenz ist damit eigentlich eine Rehabilitierung des Begriffs der Metaphysik. Zweifellos wollte Heidegger für eine kurze Zeit eine »Metaphysik des Daseins« begründen. Dies zeigt sich bereits an dem Projekt einer fundamentalontologischen Destruktion der Geschichte der Metaphysik, das mit der Herausstellung von deren verborgenen Quellen eine ursprünglichere Begründung und Erneuerung der Metaphysik beabsichtigte. Deshalb scheint es mir zutreffend, Heideggers Denken zwischen den Jahren 1928 und 1932 als das eigenständige Projekt einer »Metaphysik des Daseins« zu verstehen. 18 Heidegger vertritt nicht nur selbst den Standpunkt, dass die Analytik des Daseins die »Metaphysik des Daseins« vorbereite, sondern auch – und das ist mit seinem späteHeidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 171. 16 Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 200: »Metontologie ist nur auf dem Grunde und in der Perspektive der radikalen ontologischen Problematik und einig mit dieser möglich; gerade die Radikalisierung der Fundamentalontologie treibt den genannten Umschlag der Ontologie aus dieser selbst hervor.« 17 Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 202: »Fundamentalontologie und Metontologie in ihrer Einheit bilden den Begriff der Metaphysik.« 18 Dazu: Jean Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–1932. 15
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Die »Metaphysik des Daseins« und die Metontologie
ren Denken unvereinbar –, dass die Metaphysik nichts weniger als »das Grundgeschehen im Dasein« sei, und zwar deshalb, weil sie »das Dasein selbst« sei. 19 Heidegger spricht zwar nur in der Vorlesung vom SS 1928 explizit über Metontologie. Dennoch entwickelt er in seinen Vorlesungen gegen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre eine entscheidende Überlegung hinsichtlich des Ethischen, und zwar in zweifachem Sinne: Zum einen lohnt es sich, diese Phase seines Philosophierens zu analysieren, da Heidegger in ihr die Frage nach der Möglichkeit der Philosophie als einer »Haltung« ausarbeitet. Die Auffassung des Ursprungs des Philosophierens aus dem »Heimweh« 20 oder die Auffassung des Seinsverständnisses als eines »Spiels« der »Transzendenz« 21 sind einige der Themen, die hierbei von besonderem Belang sind. Zum anderen kann in der Beschäftigung mit dieser Phase auch eine Interpretationslinie für Heideggers späteres Ethosdenken gewonnen werden, weil sie als eine Art Übergang von der Frage nach dem Sinn von Sein (und mithin dem fundamentalontologischen Wahrheitsverständnis) zu der Frage nach der Wahrheit des Seins verstanden werden kann. 22 Zwei Punkte möchte ich nun besonders hervorheben: Erstens muss Heideggers Verständnis der Philosophie in der Phase der »Metaphysik des Daseins« in ihrer ethischen Dimension deutlich gemacht werden. Dabei bleibt die »erweckende« Funktion der Philosophie, die Heideggers Frühwerk entscheidend prägt, unangetastet; sie wird sogar radikalisiert. Die Metaphysik des Daseins, die sich nach Heidegger »in der Fundamentalontologie zur Ausbildung bringen soll«, ist keine Disziplin, »sondern in ihr bekundet sich der Wille zur Erweckung der Einsicht, daß das Philosophieren als ausdrückliche Tendenz des Daseins geschieht«. 23 Zwar wird dieses metaphysische Projekt nicht weiter entfaltet, doch zeigen sich bereits hier einige entscheidende Gedanken, die 19 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 122. Diese positive Einschätzung der Metaphysik, nämlich den Gedanken, dass sie zur Natur des Menschen gehöre, hat Heidegger aller Wahrscheinlichkeit nach aus seiner intensiven Beschäftigung mit Kant gewonnen. Vgl. auch: Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 231; Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 274. 20 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 7. 21 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 312. 22 Vgl. Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–1932, 124. 23 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 242.
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sich in Heideggers späterer Auffassung des Ethos wiederfinden. Zweitens ergibt sich aus der Erweiterung der Wahrheitsauffassung, die ich hier nur allgemein erläutern werde, 24 zugleich eine Erweiterung des Weltbegriffes. Dies zeigt sich in der Einführung der Begriffe »Weltbildung« und »Weltentwurf«, mit denen Heidegger sich den systematischen Raum für seine späteren Überlegungen zur Kunst eröffnet. Hier liegt auch der Ausgangspunkt für die spätere Ausrichtung seines Ethosdenkens an einer künstlich-dichterischen Haltung, nämlich dem »dichterischen Wohnen«.
2.
Die Erweckung und die Philosophie
Nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit radikalisiert Heidegger sein Verständnis der Philosophie. Nun geht es nicht mehr wie in Sein und Zeit darum, aus dem alltäglichen, vorphilosophischen Dasein heraus eine philosophische Offenlegung von dessen Strukturen zu vollziehen. Vielmehr wird das Menschlichste im Menschen mit dem Philosophieren selbst identifiziert. »Das menschliche Dasein als solches philosophiert; Existieren heißt Philosophieren. Dasein philosophiert, weil es transzendiert.« 25 Wenn bereits das Existieren selbst als Philosophieren aufgefasst wird, zeigt sich darin implizit, dass Heideggers Verständnis der menschlichen Existenz, des menschlichen Lebens, ein ganz bestimmtes Verständnis der Existenz nahelegt: Das menschliche Leben ist nicht durch die Vernunft, wie in der neuzeitlichen Philosophie, und genausowenig durch andere menschliche Eigenschaften ausgezeichnet. Das Höchste des Menschseins ist vielmehr die Offenheit der Existenz durch das seinsverstehende Existieren. Damit ist gesagt, dass »Dasein […] nicht mehr als Alltägliches von der Philosophie verschieden [ist], sondern in sich wesentlich philosophisch«. 26 Der Gedanke, dass das Philosophieren die »Urhandlung« 27 ist (später auch »Grundart des menschlichen Seins« 28 genannt), entspricht dem klassischen Verständnis der Philosophie als der höchsten Seinsweise des Menschen. Wenn
24 25 26 27 28
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Heideggers Verständnis von Wahrheit wird im V. Kapitel dieser Arbeit erörtert. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 214. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 93. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 221. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 182.
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Die Erweckung und die Philosophie
zum Wesen des menschlichen Daseins das Philosophieren gehört, dann ergibt sich daraus, wie Heidegger Elisabeth Blochmann schreibt, dass deshalb »nun die Befreiung der eigentlichen u. ausdrücklichen Philosophie so schwierig« ist. 29 Wenn Heidegger also das Philosophieren als »Urhandlung« des Menschen bezeichnet, ist damit die Verwirklichung seines Seins, das von vornherein ein entwerfendes Sein ist, gemeint. Nur als entwerfendes kann das menschliche Dasein Sein verstehen. Die Identifikation von Menschsein und Philosophieren ist aber keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Daher muss Heidegger dieses Verhältnis zwischen Philosophie und Menschenwesen näher erläutern. Obwohl das Menschlichste im Menschen das Philosophieren ist, sagt Heidegger, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise ihr philosophisches Wesen übernehmen. »Weil nun aber das Menschsein verschiedene Möglichkeiten, mannigfache Stufen und Grade der Wachheit hat, kann der Mensch in verschiedener Weise in der Philosophie stehen.« 30 Deshalb geht es für Heidegger darum, dass der Mensch sich selbst als ein philosophierend-existierendes Seiendes erkennen kann. Heidegger unternimmt auch diesmal den Versuch, der Philosophie eine Bestimmung zu geben, die in der Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Weltanschauungen Kontur gewinnt. Heidegger versucht, die eigentümliche Haltung solchen Wissens in Gegenüberstellung zur Haltung der Philosophie zu verdeutlichen. Sowohl Wissenschaft als auch Weltanschauung und Philosophie sind Modi, in denen sich die Welt für das menschliche Dasein manifestiert. Heidegger hebt dabei die Forderung nach einer Durchsichtigkeit des Daseins in einer geradezu sokratischen Weise hervor. Ihm geht es dabei nicht um eine moralische Deutung der Subjektivität, sondern darum, »daß man das Problem des Subjekts, d. h. die Frage nach der Subjektivität des Subjekts wirklich und radikal stellt«. 31 Diese Fragestellung aber bezieht 29 Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 08. 08. 1928, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 25. 30 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 3. Im Jahr 1933 sagt Heidegger: »Der Mensch ist versetzt in die verschiedenen Grade der Wahrheit. Die Wahrheit ist nicht über oder in den Menschen, sondern der Mensch ist in der Wahrheit. In der Wahrheit ist der Mensch, sofern sie ist dieses Geschehen der Unverborgenheit der Dinge auf Grund des schöpferischen Entwurfs, das nicht jeder einzelne bewußt vollzieht, sondern er schon in eine Gemeinschaft hineingeboren ist; er wächst schon auf in einer ganz bestimmten Wahrheit, mit der er sich mehr oder minder auseinandersetzt« (Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 176). 31 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 11.
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Heidegger ausdrücklich auf den sokratischen Anspruch auf Selbsterkenntnis: »Erkenne Dich selbst, d. h. erkenne, was du bist, und sei, als was du dich erkannt hast. Diese Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Menschheit im Menschen […] ist Philosophie und so fern von Psychologie, Psychoanalyse und Moral wie nur möglich.« 32 Auch im SS 1933 betont Heidegger die Bedeutung der Selbsterkenntnis als Ermöglichung des Menschlichen: »Wir sind, indem wir fordernd-haderndverehrend uns suchen. Wir suchen uns, indem wir fragen, wer wir sind.« 33 Die radikale Selbsterkenntnis, von der hier die Rede ist, ist ermöglicht durch die dem Dasein zugrunde liegende, »totale Nichtigkeit«, 34 die das Sein des Daseins wesenhaft konstituiert. Diese Nichtigkeit des Daseins wird mit der Beschreibung der Welt als »Spiel« paradigmatisch zum Ausdruck gebracht. 35 In der Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik aus dem WS 1929/30 betont Heidegger die erweckende Aufgabe der Philosophie als Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit. Das Eigentümliche der Philosophie verdeutlicht er dabei ausgehend von Novalis’ Verständnis der Philosophie als »Heimweh«, als »ein Trieb überall zu Hause zu sein«. 36 Gerade weil das menschliche Dasein philosophiert – also existiert –, ist dieses Seiende von vornherein nicht zu Hause. Mit dem Ausdruck »zu Hause sein« weist Novalis, so Heidegger, auf den Versuch des Daseins hin, ganz, das heißt eigentlich zu sein. Betrachtet man die erwähnten Vorlesungen (Einleitung in die Philosophie vom WS 1928/29 und Grundbegriffe der Metaphysik vom WS 1929/30) noch genauer, so zeigt sich, dass in beiden ständig betont wird, dass die Erweckung des Philosophierens nur durch die Erfahrung der Nichtigkeit und der Unheimlichkeit des menschlichen Daseins möglich ist. Dennoch sind ihre Ausgangspunkte jeweils verschieden. Während im SS 1929 der Ausgangspunkt für die Analyse der NichtigHeidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 11–12. Heidegger, Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, 4. 34 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 12. 35 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 336: »Diese Nichtigkeit im Wesen de Daseins bekundet also, daß das Dasein ständig ein Wägen und Wagen, Fallen und Steigen, Nehmen und Geben ist – all das nicht als Resultat und Produkt des Zusammenstoßes von Seiendem mit Seiendem, sondern als Seinsart des Daseins selbst, d. h. als Spiel, auf das der Mensch gesetzt ist. Dieses Spiel ist das Wesentliche dessen, was wir Welt nennen, die als Welt nur weltet im und als In-der-Welt-sein.« 36 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 7. 32 33
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Die Welt als Spiel und die Haltlosigkeit des Daseins
keit im Schlüsselbegriff der Welt als »Spiel« liegt, kommt Heidegger 1929/30 von der Grundstimmung der Langeweile her zu dieser Erfahrung. Im Folgenden werden beide Ansätze analysiert, um die Erfahrung der Unheimlichkeit besser zu verstehen und ihre ethische Relevanz herauszuarbeiten.
3.
Die Welt als Spiel und die Haltlosigkeit des Daseins
Die Einführung des Begriffes »Spiel« als Welt ist offenbar klärungsbedürftig. Heidegger ist derart fasziniert von Kants Beschreibung der Welt als »Spiel des Lebens«, dass er sich diesen Ausdruck aneignet. Für ihn besteht das Spielerischsein der Welt in Bezug auf die Gabe der Welt für den Menschen in »einer bunten Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit, Zufälligkeit«. 37 Gerade dass das Dasein das Chaos der Welt durch sein Verstehen organisieren kann, zeigt unmittelbar den spielerischen Charakter der Welt. »Die Welt hat den Charakter des Spiels.« 38 Unter »Spiel« versteht Heidegger etwas, das nicht nur durch Spieler und Spielregeln charakterisiert wird. Vielmehr ist ein Spiel »von vornherein etwas Ursprünglicheres«. 39 Im Spiel findet man eine merkwürdige Verknüpfung: Einerseits ist das Spiel frei, aber andererseits ist es auch regelgebunden. Die Regeln bilden sich jedoch erst beim Spielen selbst. Sie sind keine feste Normen, sondern flexibel und wandelbar. Lapidar sagt Heidegger: »›Welt‹ ist der Titel für das Spiel, das die Transzendenz spielt. Das In-der-Welt-sein ist dieses ursprüngliche Spielen des Spiels, auf das ein jedes faktische Dasein sich einspielen muß, um sich abspielen zu können, derart, daß ihm faktisch so oder so mitgespielt wird in der Dauer seiner Existenz.« 40 Was Heidegger am Spiel interessiert, ist vor allem das, was durch das Spiel ermöglicht wird. »Aber gerade dann, wenn die Transzendenz ein Spiel sein soll, gerät doch alles ins Wanken.« 41 Im Existieren des Daseins gibt es niemals einen sicheren Weg, dem das menschliche Dasein folgen kann. Der Mensch selbst muss sich einen Weg schaffen, um zu existieren.
37 38 39 40 41
Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 310. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 310. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 311. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 312. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 313. A
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Das Spiel als Transzendenz ist daher nichts Geringeres als »das Sein spielen, erspielen, in diesem Spiele erbilden«. 42 Dieses Verständnis der spielerischen Transzendenz weist darauf hin, dass der Mensch »auf das Spiel des Daseins gesetzt« wird, das heißt »auf das Spiel des Seinsverständnisses«. 43 Mit der Metaphorik des Spiels kommt also erneut das Verständnis der menschlichen Existenz als ständige Unsicherheit und damit als Bewegtheit zur Sprache, das Heideggers Hermeneutik der Faktizität so entscheidend prägt. Für Heidegger »gilt es, das spezifische Geschehen und seine Bewegtheit zu fassen, die wir mit Spielen überhaupt meinen«. 44 Nur aus dem Seinsverständnis ist es möglich, dass sich das Dasein zu anderen Seienden verstehend verhalten kann. Daher begreift Heidegger das Dasein als ein Seiendes, das »ins Spiel gebracht« wurde, und zwar um seiner selbst willen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Mensch für Heidegger ein homo ludens. 45 Wenn man auf die das Spiel stiftende Seinsweise der Transzendenz achtet, stößt man auf den Ursprung des Begriffs Weltbildung. »In-der-Welt-sein als Transzendenz, als transzendentales Spiel ist immer Weltbildung.« 46 Jedoch erst in der Freiburger Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik beginnt Heidegger mit der Ausarbeitung dieses Begriffs. Die Auffassung des Menschen als eines weltbildenden Seienden verkündet den Zugang des Menschen zur Welt, seinen »Welteingang«. 47 Der Mensch ist weltbildend, weil er im Unterschied zu anderem Seienden – wie zum Beispiel einem Tier oder einem Stein – einen Zugang zum Seienden als Seiendem hat. In diesem Sinne bedeutet die Welt nicht bloß das Ganze des Seienden, sondern, präziser formuliert, einen Zugang zu diesem Ganzen. »Welt als Ganzheit ›ist‹ kein Seiendes, sondern das, aus dem her das Dasein sich zu bedeuten gibt, zu welchem Seienden und wie es sich dazu verhalten kann.« 48 Damit ist die Welt »die jeweilige Ganzheit des Umwillen eines Daseins durch
Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 315. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 323. 44 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 315. 45 Im Hinblick auf Heideggers Metaphorik des Spiels hat Martin Seel versucht, Heideggers Denken als eine »Ethik des Spiels« zu erläutern (Vgl. Seel, Heidegger und die Ethik des Spiels, 244–272). 46 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 314. 47 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 159. 48 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 157. 42 43
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dieses selbst vor es selbst gebracht«. 49 Weltbildung wird als Welteingang und damit als Zugänglichkeit des Seienden konzipiert. Der Welteingang gründet für Heidegger im enthüllenden Entwerfen von Sein, welches »die Urhandlung menschlicher Existenz, in der alles Existieren inmitten des Seienden gewurzelt sein muß«, ist. 50 Die Transzendenz als Urhandlung des Menschen macht den »Weltentwurf« aus. 51 Dieser »Entwurf« weist darauf hin, dass durch ihn erst ein freier Spielraum von Möglichkeiten erschlossen wird: »Das Dasein als freies ist Weltenentwurf.« 52 Im Entwurf geschieht ein freies Entbergen des Seienden, das den Unterschied von Sein und Seiendem nicht voraussetzt, sondern erst ermöglicht. »Das Entwerfen als dieses Entbergen der Ermöglichung ist das eigentliche Geschehen jenes Unterschiedes von Sein und Seiendem. Der Entwurf ist der Einbruch in dieses ›Zwischen‹ des Unterschiedes.« 53 So gesehen soll die Weltbildung im Sinne eines Entwerfens von Möglichkeiten verstanden werden. 54 Obwohl wir nur einige und nicht alle Möglichkeiten wählen können, ist dies grundsätzlich ein Zeichen der Freiheit, die dem Dasein selbst gehört. 55 Das Dasein bildet existierend, also transzendierend, aus dem Freien eine Welt, die zugleich seine Bindung an das Mögliche oder, genauer gesagt, an die Ermöglichung des Möglichen darstellt. 56 Mit »dieser freien Bindung, in der alles Ermöglichende sich dem möglichen Wirklichen vorhält, liegt zugleich immer eine eigene Bestimmtheit des Möglichen selbst«. 57 Es ist von entscheidender Bedeutung, dass mit dem Verständnis der Welt als Spiel die Transzendenz des Daseins als dessen »Halt-losigkeit« bekundet wird. 58 Dieser Begriff erinnert an den Terminus der »Unheimlichkeit« aus Sein und Zeit. Unter beiden Begriffen beschreibt Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 158. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 160. 51 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 166. 52 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 247. 53 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 529. 54 Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 167: »Im stiftenden Gründen als dem Entwurf von Möglichkeit seiner selbst liegt nun aber, daß sich das Dasein darin jeweilig überschwingt.« 55 Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 175: »Das Wesen der Endlichkeit des Daseins enthüllt sich aber in der Transzendenz als der Freiheit zum Grunde.« 56 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 529. 57 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 528. 58 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 337. 49 50
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Heidegger einen ähnlichen Sachverhalt: Einen Halt zu haben bedeutet so viel wie »zu Hause zu sein«. Der Mensch, der daheim ist, hält sich im Sicheren auf. Ein Halt weist damit auf diejenige Stellung hin, in der und mit der das jeweilige Dasein seine Welt versteht und lebt. Mit dem Ausdruck »Haltlosigkeit« wird jedoch nicht die Möglichkeit eines menschlichen Sichhaltens in der Welt negiert, sondern im Gegenteil die notwendige und ständige Suche des Menschen nach einem solchen Halt zur Sprache gebracht. 59 Dass das Dasein aufs Spiel gesetzt ist, ist nichts anderes als der Ausdruck seines In-der-Welt-seins, das »in sich selbst Halt-losigkeit [ist], d. h. das Existieren des Daseins muß sich Halt beschaffen«. 60 Die Welt ist das, worin sich das Dasein als ein In-derWelt-sein hält. Der Halt ist jedoch nur eine der möglichen Aufenthaltsweisen in der Welt, nämlich diejenige Stellung in der Welt, die Heidegger als Weltanschauung identifiziert. 61 Gegenüber dem Determinismus der Geworfenheit taucht die Möglichkeit der Transzendenz auf, sofern die Transzendenz in der Freiheit gründet. Die Freiheit des Daseins besteht offenbar nicht in dessen Willkür, sondern im stiftenden Charakter als weltbildendes Dasein. Das Dasein steht immer in jeweiligen Situationen, die es nicht selbst gewählt hat. Deswegen besteht seine Freiheit darin, dass es die Geworfenheit seines Seins eigens übernimmt und daraus sein eigenes Existieren als einen offenen Spielraum von Möglichkeiten versteht. »Daß es der Möglichkeit nach ein Selbst und dieses faktisch je entsprechend seiner Freiheit ist, daß die Transzendenz als Urgeschehen sich zeitigt, steht nicht in der Macht dieser Freiheit selbst.« 62 Kurz gesagt: Der Weltentwurf ist, wie in Sein und Zeit, immer ein geworfener Weltenturf. Von hier aus gesehen wird deutlich, dass die Haltlosigkeit nur im Bezug auf die Transzendenz des Daseins zu verstehen ist. Die Haltlosigkeit des Daseins ist aber nicht zufällig, sondern sie gehört ursprünglich zu seiner Seinsverfassung. »Halt-losigkeit ist nicht eine bloße Leere, sondern das Fehlen ist, weil es konstitutiv ist für das Seiende, dessen Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 337: »Wenn wir dem Dasein diese Haltlosigkeit zusprechen, so ist das keine faktische Aussage in dem Sinne, daß kein Dasein je einen Halt gewinnen könne, sondern es ist eine Wesensaussage, die gerade in sich schließt, daß jedes faktische Dasein, sofern es existiert, je schon so oder so einen Halt gewonnen haben muß.« 60 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 337. 61 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 337. 62 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 175. 59
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Die Welt als Spiel und die Haltlosigkeit des Daseins
Sein Seinkönnen heißt, Anweisung auf Möglichkeiten der Erfüllung.« 63 Die Haltlosigkeit in der Seinsverfassung des Daseins gründet in dessen Wesen als Möglichsein. 64 Nur weil das Dasein ein Möglichsein bzw. eine gewisse Nichtigkeit ist, kann es keine feste Haltung haben, da es selbst eine Haltung einnehmen, das heißt seine Stellung in der Welt ständig schaffen muss. Aus dem Verhältnis von Philosophie und Weltanschauung entwickelt Heidegger sein Verständnis der Philosophie. Im Vergleich zu seiner früheren Position fasst Heidegger die Weltanschauung nun jedoch äußerst positiv auf, denn auch die Philosophie bildet eine bestimmte Weltanschauung aus. »Also ist Philosophieren das Ausbilden der Weltanschauung als Haltung, Haltung die philosophische Weltanschauung.«65 Wie das Dasein die Weltanschauung herausbildet, hängt davon ab, ob und wie die Haltlosigkeit des Daseins offenbar geworden ist, das heißt sie steht im direkten Zusammenhang mit der Auslegung der Haltlosigkeit durch das Dasein. 66 Das immanente Problem der Weltanschauung beruht darin, dass sie ein Halt wird, der zur bloßen Routine verkommt. Dabei werden sowohl die Verborgenheit als auch die Unverborgenheit des Halts vergessen. Nur durch das wache Annehmen der Haltlosigkeit des Daseins kann dieses Seiende eine wache Haltung einnehmen. »Aus der Offenbarkeit der Halt-losigkeit als Haltungslosigkeit entspringt eine neue Möglichkeit des Haltnehmens, d. h. des Sichhaltens im In-der-Welt-sein. Halt ist jetzt offenbar als Haltung.« 67 In der hier eingeführten Haltung steht also das Dasein in einer Stellung, in der seine Nichtigkeit als Haltlosigkeit erfahren wird. Dieses eigentümliche Erkennen der eigenen Nichtigkeit kann niemals durch einen weltanschaulichen Halt erfahren werden, sondern nur durch eine offene Stellung zum Ganzen der Welt. Es ist aber eben die Aufgabe der Philosophie, die Weltanschauung als eine solche offene Haltung auszubilden. Diese philosophische Haltung bringt Heidegger erneut mit dem griechischem Ethos in Verbindung: »Philosophie ist Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 342. Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 341–342: »Auch der, der Haltung hat, hat sie nur und kann sie nur haben, nicht weil er faktisch, sondern wesensmäßig metaphysisch halt-los ist, angewiesen darauf und frei dafür, sich Haltung zu geben.« 65 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 376. 66 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 356. 67 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 366. 63 64
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Weltanschauung als Haltung und das in einem ausgezeichneten Sinne. Die Griechen haben für Haltung den Ausdruck Æqo@ – gerade deshalb ist sie aber nicht Verkündigung einer Ethik.« 68 Die philosophische Haltung ist also im Sinne eines Ethos zu verstehen, das nichts mit dem traditionellen Verständnis von »Ethik« zu tun hat. 69 Die Philosophie wird von Heidegger als die »Grundhaltung des Daseins« bezeichnet, in der das Dasein seine »Urhandlung« vollzieht. Das bedeutet aber, dass die paradigmatische Weise, in der die Existenz des Menschen eigentlich geschieht, darin gründet, dass das Dasein sein philosophisches Ethos übernimmt. »Das Philosophieren als ausdrückliches Transzendieren ist ein Geschehenlassen der Transzendenz des Daseins aus ihrem Grunde, d. h. im Philosophieren geschieht die ursprünglichste mögliche Haltung.« 70 Die Philosophie als Grundhaltung darf keinen Halt für das Dasein in der Weise ausbilden, als ob dieser selbst maßgeblich oder maßstäblich würde. Vielmehr geht es der philosophischen Haltung darum, das Geschehenlassen der Transzendenz einfach bestehen zu lassen. Die philosophische Haltung, die hier dem Ethos entspricht und die wesentlich mit einem »Lassen« zu tun hat, zeigt sich demzufolge als die eigenste Weise, in der das menschliche Existieren sich realisieren kann. Damit sieht Heidegger ein weiteres Mal das Eigenste des menschlichen Lebens prinzipiell im Lichte seiner inneren Bezogenheit auf die Philosophie. Das eigentliche Menschsein, das wahre Ethos ist das Philosophischsein.
4.
Unheimlichkeit, Langeweile und Augenblick
Die Philosophie als die Grundhaltung des Daseins meint für Heidegger nichts anderes, als sich in der Unheimlichkeit zu halten. Heidegger entwickelt das Verhältnis zwischen Philosophie und Unheimlichkeit durch die Analyse der philosophischen Grundstimmung. So wie in Sein und Zeit denkt Heidegger auch in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik, dass jede »Ergriffenheit« aus einer Stimmung kommt Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 379. Vgl. Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–1932, 120: »In Wahrheit hat die ›Metaphysik des Daseins‹ von vornherein die Möglichkeitsbedingung der Ethik im Blick, auch wenn es sich nicht um eine Begründung der Moral im üblichen Sinn handelt.« 70 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 396. 68 69
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und »in einer Stimmung« bleibt. 71 Die Philosophie geschieht stets in einer Grundstimmung, die als das Medium zu verstehen ist, worin unser Denken, Tun und Lassen erst geschehen kann. Die »Grundstimmung des Philosophierens« bezeichnet Heidegger mit Novalis als »Heimweh«. 72 Die Philosophie, die im aktiven Sinne – als Philosophieren – zu begreifen ist, verkörpert eine nur dem Menschen wesentliche Beschäftigung: »Denn Gott philosophiert nicht, wenn anders, wie es schon der Name sagt, Philosophie, diese Liebe zu … als Heimweh nach … in der Nichtigkeit, in der Endlichkeit sich halten muß.« 73 Die Philosophie als das Sichhalten in der Endlichkeit, in der Nichtigkeit des Daseins ist der Gegenbegriff zu aller Beruhigung und »Versicherung« des Lebens schlechthin. In der Philosophie geht es prinzipiell um mehr als bloß darum, einen Halt zu erzeugen, sondern eher um das Erkennen der Machtlosigkeit des menschlichen Daseins gegenüber seiner eigenen Existenz. Für Heidegger muss sich das gegenwärtige Dasein nicht seiner Lage versichern. Es kommt vielmehr darauf an, eine Stimmung zu finden, in der dieses Dasein sich seiner selbst bewusst werden kann. Heideggers Absicht kommt in der folgenden Frage deutlich zum Ausdruck: »Oder sollen wir uns so finden, daß wir uns dabei selbst zurückgegeben werden, und zwar uns zurückgegeben, so daß wir uns selbst aufgegeben werden, aufgegeben, das zu werden, was wir sind?« 74 Dieses Zitat erinnert sogleich an die Aufforderung Pindars: »Werde, was du bist!«, die auf Heideggers Denkweg immer wieder auftaucht. 75 Da die Philosophie als Philosophieren die entscheidende Wachheit des Daseins ermöglichen kann, besteht bei Heidegger das Bedürfnis nach einer Aufklärung der Grundstimmung, um das Philosophieren zu wecken. Die Möglichkeit eines lebendigen Philosophierens setzt also eine bestimmte Stimmung voraus, die es dem Dasein erst ermöglicht, eine Wachheit für seine Existenz zu erlangen. Diesmal behandelt Heidegger jedoch nicht die Angst, sondern die Grundstimmung der Langeweile, da in dieser – ähnlich wie in der Angst – die Nichtigkeit und die Unheimlichkeit der Existenz offenbar werden. Bereits in seiner be71 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 9. Vgl. auch: Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 101. 72 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 12. 73 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 28. 74 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 116. 75 Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 413; Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 194; Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 108; u. a.
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rühmten Antrittsvorlesung vom 24. Juli 1929 mit dem Titel Was ist Metaphysik? führt Heidegger die Grundstimmung der Langeweile ein, 76 aber sie wird erst in der Vorlesung des WS 1929/30 grundsätzlicher ausgearbeitet. Heideggers Interesse für die Langeweile gründet hauptsächlich in ihrem Zeitcharakter. Die Langeweile ist eine Stimmung, die stets im Verhältnis zur Zeit steht. In der Langeweile erfährt das menschliche Dasein eine eigentümliche Unheimlichkeit. Sie ist etwas, »wogegen wir im Grunde und von Hause aus sind«. 77 Aus diesem Grunde findet das Dasein im »Zeitvertreib« eine Art Rettung vor der Langeweile. Es handelt sich dabei um »ein Zeit antreibendes Wegtreiben der Langeweile«. 78 Der Mensch soll aber mit der Langeweile anders umgehen. Zugegebenermaßen widerspricht Heideggers Interpretation der Langeweile dem gesunden Menschenverstand. Das menschliche Dasein soll vor der Stimmung der Langeweile nicht fliehen, wie es das normalerweise tut, sondern sie annehmen und in ihrer eigentümlichen Rolle erkennen. Die Analyse der »tiefen Langeweile« soll zeigen, dass allein diese die Grundstimmung des Philosophierens ist. 79 In der Analyse der tiefen Langeweile geht es nicht um etwas, das langweilt, sondern vielmehr darum, dass »es einem langweilig« ist. Im Grunde genommen handelt es sich bei dieser Langeweile »um eine Weile, ein Verweilen, um ein eigentümliches Bleiben, Dauern«. 80 Wenn es einem langweilig ist, kommt es darauf an, die Zeit derart zu vertreiben, dass sie »schneller« geht. Es geht also darum, die Zeit »herumzubringen«. 81 Doch für Heidegger ist das Auflösen der Langeweile ein verdeckender Vorgang. Gerade der Aufenthalt des Daseins in der Langeweile ist erforderlich, um nichts Geringeres als das Wesen der Zeit erkunden zu können. Das Langweilige ist für Heidegger ein Verweilen, das das Dasein bedrängt. Die Suche nach einer Beschäftigung, nach irgendeinem ZeitVgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 110. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 136. 78 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 140. 79 Heideggers Verknüpfung zwischen der Philosophie und der Grundstimmung der Langeweile gründet in seiner Auslegung der Langeweile als ein Heimweh. Sofern die Philosophie selbst als Heimweh konzipiert wurde, folgt daraus, dass die »Langeweile – eine Grundstimmung des Philosophierens« ist (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 120). 80 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 145. 81 Deswegen nennt Heidegger der Zeitvertrieb ein »Herumbringenwollen des Zauderns der Zeit« (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 148). 76 77
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vertreib bringt den Wunsch zum Ausdruck, sich irgendwo anders aufhalten zu können. Bedeutsam ist für Heidegger die Tatsache, dass in der Langeweile die Dinge in eine Gleichgültigkeit geraten, das heißt, sie werden für uns belanglos. Gerade in dieser Gleichgültigkeit der Dinge wird das gelangweilte Dasein hingehalten und damit in eine Art Unheimlichkeit gebracht, aufgrund deren die eigene Seinsweise des Daseins wiederentdeckt werden kann. Die Langeweile ist tief in der Seinsweise des Daseins selbst verwurzelt. 82 Sie ist die »bannende Zeit«, die die Freiheit des Daseins ermöglicht, »denn diese Freiheit des Daseins ist nur im Sichbefreien des Daseins«. 83 Das »Sichbefreien« geschieht aber nur, indem man sich »zu sich selbst entschließt, d. h. für sich als das Da-sein sich erschließt«. 84 Dieses Sichentschließen wird mit dem Augenblick identifiziert. 85 So wie Heidegger in Sein und Zeit die Entschlossenheit des Daseins im Zusammenhang mit dem Augenblick versteht, bringt er auch hier die innere Bezogenheit des Entschlossenseins auf den Augenblick zur Sprache. 86 Auf die Frage, warum das Sichentschließen sich im Augenblick vollziehen muss, antwortet Heidegger mit dem Hinweis auf die holistisch-zeitliche Dimension, in der sich die jeweilige Situation dem Seienden im Ganzen öffnet und in der sich das Dasein entschließt. 87 Der Augenblick ist damit der »Blick der Entschlossenheit«, 88 das heißt das eigentümliche Wissen im Handeln selbst, mit dem die ganze Situation eines jeweiligen Handelns eröffnet und offengehalten wird. Heidegger bezeichnet den Augenblick sogar als »die Grundmöglichkeit der eigentlichen Existenz des Daseins«. 89 Sowohl die Langeweile als auch der Augenblick sind beide in der Zeit. In ihrer jeweiligen Weise, eine Zeiterfahrung zu sein, gründet Heideggers Aufmerksamkeit auf diese Phänomene. Die Langeweile ist 82 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 213: »Je näher wir dem Wesen der Langeweile kommen, um so aufdringlicher wird ihre Verwurzelung in der Zeit, was uns in der Überzeugung bestärken mußte, daß die Langeweile nur aus der ursprünglichen Zeitlichkeit begriffen werden kann.« 83 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 223. 84 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 223. 85 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 223–224. 86 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 224. 87 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 224: »Nur im sich Entschließen des Daseins zu sich selbst, im Augenblick, macht es von dem Gebrauch, was es eigentlich ermöglicht, nämlich der Zeit als dem Augenblick selbst.« 88 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 224. 89 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 224.
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wörtlich als die lange Weile zu verstehen. Diese Weile des Daseins stellt seine eigene – meistens verborgene – Zeit dar. Hierbei geht es um die eigentliche und also nicht berechenbare Zeit, die lang wird. »Dieses Langwerden der Weile offenbart die Weile des Daseins in ihrer nie schlechthin bestimmbaren Unbestimmtheit.« 90 Durch die Weile, die lang wird, erfährt also das Dasein die eigene Unbestimmtheit seines Seins. Im Langwerden der Weile geschieht ein »Weitwerden des Zeithorizonts«, in dem das Dasein keinesfalls entlastet, sondern vielmehr »bedrängt« wird. 91 Dabei geschieht ein »Entschwinden der Schärfe und Spitze eines je bestimmten Augenblickes der Handlung und des Existierens«. 92 Wenn es einem langweilig ist, ereignet sich ein merkwürdiges Vergessen des Augenblicks, in dem das Dasein – paradoxerweise – in diesen Augenblick als die eigentliche Möglichkeit seiner Existenz zurückfindet. In der Grundstimmung der tiefen Langeweile kommt es zu einer scheinbar widersprüchlichen Bewegung zwischen dem Verschwinden und der Steigerung des Augenblicks. Dieses Paradox gründet jedoch nur im widersprüchlichen Charakter der Zeit. 93 Die Zeit ist sowohl das Versagende als auch das Ermöglichende, und deshalb muss die Unterbrechung des »es ist einem langweilig« selbst zeitlich sein. Diese verwirklicht sich im Augenblick. Nur insofern der Zeitbann unterbrochen wird, wird das Seiende im Ganzen sich nicht mehr versagen. Obwohl es in den dargestellten Überlegungen tatsächlich um eine erweckende Befreiung geht, besagt sie eigentlich eine »Befreiung des Daseins im Menschen«. 94 Es wäre also Vorsicht angebracht, wenn man Heideggers Überlegungen in einem ethischen Imperativ bündeln wollte. Es geht Heidegger nicht um ein normatives Ideal des Menschen, sondern eher um eine eigentümliche Befreiung, »die jeder nur je für sich aus dem Grunde seines Wesens vollziehen kann«. 95 Bereits in Kant und das Problem der Metaphysik hatte Heidegger die Rede vom
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 229. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 229. 92 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 229. 93 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 226: »Das eigentlich Versagende ist nicht das Seiende, sondern die Zeit, die selbst die Offenbarkeit dieses Seienden im Ganzen ermöglicht.« 94 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 255. 95 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 255. 90 91
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Dasein im Menschen eingeführt. 96 Dabei geht es nicht bloß um den Menschen, sondern um sein Wesen als das »Da-sein«, das heißt als der Ort, in dem das Sein erspielt und gespielt wird. 97 Interessanterweise bringt Heidegger hier explizit das Verhältnis zwischen der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit der Existenz des Daseins mit dem Augenblick und der Augenblicklosigkeit in Verbindung: »Der ganze Zusammenhang zwischen eigentlicher und uneigentlicher Existenz, Augenblick und Augenblickslosigkeit, ist nicht ein Vorhandenes, was im Menschen passiert, sondern ein solcher des Daseins.« 98 Somit zeigt sich hier noch einmal deutlich, dass die Aufforderung zum augenblicklichen Verweilen auch in Sein und Zeit nichts anderes ist als eine Aufforderung an den Menschen, sich sein Wesen als Dasein zuzueignen. Heidegger will damit sowohl die Unmöglichkeit einer allgemeinen Normierung des konkreten Daseins klar herausstellen als auch die eigene und immer selbstbezogene Verantwortlichkeit, die die eigene Existenz ist, zur Geltung bringen. Darin zeigt sich, dass für Heidegger die Aufgabe der Philosophie »nicht« darin besteht, »das Bewußtsein des Menschen zu beschreiben, sondern das Dasein im Menschen zu beschwören«. 99 Dieses Beschwören geschieht durch ein lebendiges Philosophieren, durch die »Nüchternheit eines begrifflichen Fragens, eines Fragens freilich […], das im Fragen allererst sich den Frageraum bilden muß und im Fragen allein ihn offenzuhalten vermag«. 100 Wenn Heidegger sagt, dass die »Verwandlung« vom schlafenden zum wachem Dasein, welche durch die Erweckung des Da-seins im Menschen geschieht, »nicht als nachträgliche sogenannte ethische Anwendung« zu verstehen ist, 101 meint dabei das Wort »ethisch« ausschließlich das moralische Vorschreiben der Existenz. Insofern diese Verwandlung als 96 Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 230: »Das Problem der Grundlegung der Metaphysik findet seine Wurzel in der Frage nach dem Dasein im Menschen, d. h. nach dessen innerstem Grunde, nach dem Seinsverständnis als der wesenhaft existenten Endlichkeit.« 97 Darüber hinaus sagt Roberto Rubio zutreffend: »Das Dasein wird nicht mehr als eine Seinsstruktur gedacht, die philosophisch aus dem heutigen Menschen herauszustellen ist. ›Dasein‹ ist der Name eines möglichen Geschehens« (Roberto Rubio, Zur Möglichkeit einer Philosophie des Verstehens. Das produktive Scheiterns Heideggers, Tübingen 2006, 181). 98 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 428. 99 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 258. 100 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 258. 101 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 428.
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eine des Wesens des Menschen verstanden wird, fordert sie jedoch eine bestimmte Haltung, ein eigentümliches Ethos, in dem sie überhaupt zustande kommen kann. Nur wenn der Mensch sich selbst für eine offene Frage hält, wenn sein Ethos ein fragendes ist, kann er sein Dasein eigentlich erschließen. Heideggers Hervorhebung des Augenblicks zielt also nicht nur in Sein und Zeit, sondern auch in der Vorlesung von 1929/30 auf die Eigentlichkeit des Daseins. Der Augenblick ist die eigentliche Zeit als die Zeit des Handelns: »Die Entschlossenheit ist aber als solche, was sie ist, immer nur als Augenblick, als Augenblick des wirklichen Handelns.« 102 Aufgrund des Augenblicks als des »Blicks der Entschlossenheit zum Handeln« befindet sich das Dasein in seiner jeweiligen Lage. Der Augenblick wird wie in Sein und Zeit verstanden als das zeitlich einheitliche Moment, in dem das Dasein sich entschlossen in einer Handlungssituation befindet. Die Entschlossenheit trägt sich im Augenblick zu, so dass Heidegger den Augenblick sogar als »die innerste Notwendigkeit der Freiheit des Daseins« bezeichnen kann. 103 Das Wesen des Augenblicks »[beruht] in seiner Seltenheit, gesehen auf das Ganze der Zeit eines Daseins«. 104 Der Augenblick ist eine »ekstatische Weite«, 105 ein Moment der zeitlichen Einheit von Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft. In der Uneigentlichkeit der Existenz zu bleiben bedeutet daher nichts anderes als das Verschwinden des Augenblicks – und damit das Verschwinden der eigentlichen Zeitlichkeit. Sowohl aus Heideggers Verständnis der Welt als Spiel als auch aus der Erweckung der Grundstimmung der Langeweile ergibt sich die wesentliche »Haltlosigkeit« der Existenz als ein Aufenthalt in der Unheimlichkeit und in der Fraglichkeit. Dass diese Betonung der Haltung der Philosophie als eines Sichhaltens in der Nichtigkeit jedoch keinen Nihilismus meint, muss nun anschließend erläutert werden.
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Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 427. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 247. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 427–428. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 428.
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Ist das Sichhalten in der Nichtigkeit als Nihilismus zu bezeichnen?
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Ist das Sichhalten in der Nichtigkeit als Nihilismus zu bezeichnen?
Wenn Nihilismus eine Denkweise bezeichnet, die weder einen höheren Wert noch einen Sinn als verpflichtend anerkennt, mag Heideggers Philosophie auf dem ersten Blick als nihilistisch erscheinen. Es geht ihm jedoch um etwas anderes. Heidegger versucht mehrmals, sein Denken von einem Nihilismus abzugrenzen. 106 Der Zusammenhang zwischen Nichtigkeit und Philosophie gründet keinesfalls in einem einfachen pessimistischen Verständnis des menschlichen Lebens, sondern in Heideggers Auffassung des endlichen Wesens des menschlichen Daseins. »Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts.« 107 Aus der wesenhaften Endlichkeit des Daseins wird die Art und Weise seines Zugangs zur Wahrheit bestimmt. Da der Mensch ein endliches Seiendes und kein Gott ist, bleibt das Absolute ihm versagt. Nur von der das menschliche Dasein bestimmenden Endlichkeit her kann die Möglichkeit einer Wahrheit für den Menschen konzipiert werden. Nur in ihrem geschichtlichen Auftreten kann also der Mensch Zugang zur Wahrheit haben. Auch Heideggers Ablehnung von Werten folgt keinem bloßen Nihilismus. 108 Der verstehende Zugang des Daseins zum Seienden realisiert sich durch das Umgehen mit dem Seienden. Unter dieser Perspektive wird deutlich, dass Heideggers negative Einschätzung eines absoluten Sinnes oder eines absoluten Wertes in seiner hermeneutischen Interpretation der Wahrheit gründet. Seine Absage an absolute Werte jeglicher Art und die Zurückweisung der Vorstellung einer ewigen Wahrheit ist kein allgemeiner Nihilismus. Die Auffassung, dass es im menschlichen Leben kein sicheres Maß gebe, beruht auf Heideggers
106 In einer Fußnote zu seiner Freiburger Antrittsvorlesung stellt Heidegger in Bezug auf seine Analyse der Nichtigkeit fest, dass daraus nicht zu folgern ist, dass »alles Nichts [ist], sondern umgekehrt: Übernehmen und Vernehmung des Seienden, Sein und Endlichkeit« (Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 115). 107 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 115. 108 Im Humanismusbrief sagt deshalb Heidegger: »Gegen die Werte denken, heißt daher nicht, für die Wertlosigkeit und Nichtigkeit des Seienden die Trommel rühren, sondern bedeutet: gegen die Subjektivierung des Seienden zum bloßen Objekt die Lichtung der Wahrheit des Seins vor das Denken bringen« (vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 349).
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Heideggers Denken zwischen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre
Interpretation des menschlichen Existierens als eines endlichen Lebens in Möglichkeiten. In seiner Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? macht Heidegger die Relevanz der Nichtigkeit für das Dasein klar. Das Nichts ist für ihn das Nichtseiende schlechthin und deshalb streng genommen weder ein Seiendes noch ein Gegenstand. Vielmehr bezeichnet das Nichts das radikal Unbestimmte. Zu diesem Unbestimmten kann die theoretische Betrachtung keinen Zugang haben, sondern dieser Zugang ist nur aus einer Stimmung zu gewinnen. Obwohl Heidegger die Grundstimmung der Langeweile als die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen einführt, wird die Angst als die Grundstimmung für die Offenbarkeit des Nichts gewählt. »Dieses Geschehen ist möglich und auch wirklich – wenngleich selten genug – nur für Augenblicke in der Grundstimmung der Angst.« 109 Es ist bemerkenswert, dass in der Analyse der Grundstimmungen der Angst und der Langeweile ihr augenblicklicher – also kairologischer Charakter – immer wieder eine entscheidende Rolle spielt. Zum Geschehen der Offenbarkeit des Nichts gehören eine unüberwindbare und wesentliche Plötzlichkeit und Seltenheit, die die »wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit« offenbaren. 110 So wie der Tod kann auch die »ursprüngliche Angst […] jeden Augenblick im Dasein erwachen«. 111 In der Grundstimmung der Angst kommt die Unheimlichkeit, die Offenbarkeit des Nichts zum Vorschein, in der das Dasein keinen Halt mehr hat. Das Dasein entdeckt nun sein ursprüngliches Haltlossein. Die Unheimlichkeit wird dabei als diejenige Dimension der Offenheit verstanden, in der das Seiende als das erscheint, was es jeweils ist. Wie Heidegger sagt: »In der hellen Nacht des Nichts der Angst ersteht erst die ursprüngliche Offenheit des Seienden als eines solchen: daß es Seiendes ist – und nicht Nichts.« 112 Mit dieser Überlegung wird deutlich, Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 111. Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 111. 111 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 118. 112 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 114. Auch im Nachwort zu seiner Antrittsvorlesung betont Heidegger den Zusammenhang der Angst mit der Problematik der Nichtigkeit, um sich damit von einer nihilistischen Interpretation abzusetzen. Vgl. Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik«?, GA 9, 307: »Die Bereitschaft zur Angst ist das Ja zur Inständigkeit, den höchsten Anspruch zu erfüllen, von dem allein das Wesen des Menschen getroffen ist. Einzig der Mensch unter allem Seienden erfährt, angerufen von der Stimme des Seins, das Wunder aller Wunder: daß Seiendes ist.« 109 110
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Ist das Sichhalten in der Nichtigkeit als Nihilismus zu bezeichnen?
was Heidegger mit dem Sichhalten in der Nichtigkeit hervorheben will: die Philosophie – die Metaphysik – in ihrem Ursprung zu erhellen. Dies ist zugleich eine Wesensaufklärung des Menschen, denn Menschsein besagt wesentlich Philosophieren. Die Haltung der Philosophie unterscheidet sich von allen anderen Haltungen, da sie ihre Führung nicht aus dem Seienden nimmt, sondern aus dem Nichts, also aus dem Unbestimmten. Der bekannte Satz Heideggers, dass der Mensch »der Platzhalter des Nichts« 113 ist, bedeutet, dass »der Mensch […] dem ganz Anderen zum Seienden den Ort frei[hält], so daß es in dessen Offenheit dergleichen wie An-wesen (Sein) geben kann«. 114 Sich im Nichts aufhalten kann aber nichts anderes heißen, als eine Haltung einzunehmen, die stets als provisorisch und offen verstanden wird. Eine solche Haltung lässt keinen Raum für Fanatismus, für intolerante Ideologien oder für moralische Behauptungen mit Ewigkeitsanspruch. Mit der Aufklärung des Nichts und seiner wesenhaften Bezogenheit auf das menschliche Dasein versucht Heidegger, die Möglichkeit der Freiheit und der Selbstheit des Daseins ins Zentrum zu rücken: »Ohne ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein Selbstsein und keine Freiheit.« 115 Das Nichts als Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden weist darüber hinaus auf die Möglichkeit der Erscheinung des Seienden in seiner Wahrheit hin. Heideggers Interpretation des Nichts ist nur im Anschluss an seine Interpretation der Wahrheit als geschichtlich geschehende Enthüllung des Seins zu verstehen. Diese gründet ihrerseits in der Seinsweise des Seins selbst, »weil das Sein selbst im Wesen endlich ist und sich nur in der Transzendenz des in das Nichts hinausgehaltenen Daseins offenbart«. 116 Darüber hinaus wird im Humanismusbrief das Wesen des Seins als ein »geschichtliches« verstanden. Heideggers Aussage, dass das Wesen des Seins sich jeweils geschichtlich konstituiert, widerspricht dem traditionellen Verständnis des Seins als des einzigen Bleibenden im wechselhaften Hin und Her der Erfahrung. 117 Die Philosophie als das
Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 118. Heidegger, Zur Seinsfrage, GA 9, 419. Heidegger sagt einige Zeit später, dass es dasselbe bedeutet, wenn der Mensch als »Platzhalter des Nichts« und als »Hirt« des Seins bezeichnet wird. Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 348. 115 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 115. 116 Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 120. 117 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 316. 113 114
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Sichhalten im Nichts ermöglicht das »Freiwerden von den Götzen« 118 , das heißt die radikale Anerkennung und Annahme der Geschichtlichkeit und damit der Wandelbarkeit der Wahrheit. Durch dieses Erkennen der wandelbaren Wahrheit wird dem Dasein bewusst, dass eine Wiederholung seiner Selbstinterpretation und seines Verständnisses des Seienden immer wieder notwendig ist. Dieses Sichhalten im Nichts, das die Philosophie ermöglicht, wird Heidegger später als eine Haltung, ein Ethos in der Wahrheit des Seins präzisieren. Dass Heideggers Gedanke in diese Richtung geht, wird bereits in der Vorlesung vom SS 1929 angekündigt: »Halt-losigkeit, die in der Transzendenz liegt, ist demnach immer Anweisung auf Möglichkeiten des Sichhaltens in der Wahrheit.« 119 Das Nichts weist auf eine immer vorausgesetzte Dimension der Offenbarkeit des Seienden hin, und damit wird es als ursprünglicher als diese ontische Offenbarkeit betrachtet. Offenbar zeigt sich hierbei das eigentümliche Verhältnis von Sein und Nichts, das als das Andere des Seienden dessen Offenbarkeit garantieren kann. Das Dasein wird seinem Wesen gerecht, wenn es eine eigentümliche Haltung einnimmt, in der das Nichtige ausgehalten und bewahrt wird. Diese Haltung ist, wie wir gesehen haben, eine philosophische Haltung und damit ein Ethos, in dem das wahre Menschliche, das Transzendieren, zum Ausdruck kommt. Hält der Mensch an seinem Wesen fest, dann erkennt er sich und die Welt als wandelbar und radikal haltlos. Mit offenen Augen in der Schwebe zu bleiben, sich im Abgründigen einen Aufenthalt zu verschaffen, bedeutet demzufolge nichts anderes, als sich im rechten Ethos aufzuhalten. Dieses Ethos entspricht aber nicht mehr, wie in Sein und Zeit, dem Ethos des Bewerkstelligen und Tuns.
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Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 122. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 342.
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Kapitel V: Von der Wahrheit im Handeln hin zum Geschehen der Wahrheit: Ethos in der Wahrheit des Seins
Zweifelsohne lässt sich Heideggers Denken nach Sein und Zeit als eine Radikalisierung einer Tendenz verstehen, die in Sein und Zeit angelegt ist. Diese Radikalisierung zeigt sich im Wandel von Heideggers Verständnis der Wahrheit – um die Jahre nach Sein und Zeit und bis 1932 – besonders deutlich. Die während dieser Zeit ausgearbeitete Auffassung der Wahrheit, vorbereitet in der Konzeption der »Transzendenz als Spiel« und der Nichtigkeit als »Haltlosigkeit«, hat erhebliche Konsequenzen für Heideggers Ethosdenken. Der exemplarische Aufenthalt, so ließ sich an Sein und Zeit zeigen, unterscheidet sich von dem alltäglich-vorphilosophischen Aufenthalt des Daseins in der Welt. Dem Alltäglichen fehlt die »Wahrheit der Existenz«, die im philosophischen Aufenthalt zur Geltung kommt. Nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit verändert sich Heideggers Wahrheitsdenken leicht, aber bedeutsam. Aus der Erweiterung des Wahrheitsbegriffes entfaltet sich Heideggers Ethosdenken, aus dem sich ergibt, warum später Begriffe wie Ethos, Aufenthalt und Wohnen zentral für sein Denken werden. Um dies zu zeigen, soll im Folgenden die Auffassung der Wahrheit in Sein und Zeit beleuchtet werden, um vor diesem Hintergrund das Denken an die Wahrheit des Seins um 1930 zu verdeutlichen.
1.
Der Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit: Das Verweilen beim Handeln
In Sein und Zeit wird, ausgehend vom traditionellen Begriff der Wahrheit, nach dessen ontologischem Fundament gefragt, um so das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit freilegen zu können. Dabei übt Heidegger Kritik am Wahrheitsverständnis der philosophischen Tradition. Dass die ursprüngliche Wahrheit weder ihren Ort in der Aussage A
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hat noch ihr Wesen die Übereinstimmung ist, stellt einen Grundgedanken Heideggers dar, der sein ganzes Denken durchzieht. 1 Vielmehr bringt die ursprüngliche Wahrheit die Möglichkeit der Übereinstimmung und des Wahrseins einer Aussage überhaupt erst hervor. Heidegger kommt zu diesem Ergebnis, indem er sich auf das herkömmliche Verständnis der Wahrheit als adaequatio bezieht und stellt die Frage, inwiefern überhaupt eine Beziehung zwischen idealem Seienden und realem Vorhandenen plausibel gemacht werden kann. Oder anders formuliert: Es wird nach der Möglichkeit der Selbigkeit zwischen dem in der Aussage gemeinten Gegenstand und dem realen Gegenstand selbst gefragt. Heidegger findet eine Lösung des Problems, indem er Wahrheit als Entdeckung versteht. Im Anschluss an den Relationscharakter des Wahrheitsbegriffes als Übereinstimmung hebt Heidegger den Relationscharakter der Wahrheit selbst im ursprünglicheren Sinn hervor. In der »So-Wie«-Struktur der Wahrheit kommt eine Identifizierung des Seienden als das Seiende, das es ist, zum Vorschein: »Das gemeinte Seiende selbst zeigt sich so, wie es an ihm selbst ist, das heißt, daß es in Selbigkeit so ist, als wie seiend es in der Aussage aufgezeigt, entdeckt wird.« 2 Heideggers Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit kann also nicht ohne die Bestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein angemessen verstanden werden: Denn dass es ein Entdecken überhaupt geben kann, setzt immer die Möglichkeit einer Begegnung mit dem Seienden voraus. Dies besagt wiederum, dass die Welt als Verweisungszusammenhang zu verstehen ist, der die Bedingung der Möglichkeit für das Begegnen des Seienden ist. Gerade aufgrund seines Zugangs zur Welt, der sich im praktischen Vollzug seines Existierens als Umgehen mit der Welt zeigt, entdeckt das Dasein das Seiende. Wahrheit besteht also darin, dass die Begegnung mit dem Seienden dieses »als etwas« vorstellt. Das Entscheidende an der Wahrheit ist für Heidegger »nicht wie sie erschließt, sondern dass sie überhaupt erschließt«. 3 Daher wird Heidegger fasst das traditionelle Verständnis der Wahrheit in Sein und Zeit folgendermaßen zusammen: »1. Der ›Ort‹ der Wahrheit ist die Aussage (das Urteil) 2. Das Wesen der Wahrheit liegt in der ›Übereinstimmung‹ des Urteils mit seinem Gegenstand. 3. Aristoteles, der Vater der Logik, hat sowohl die Wahrheit dem Urteil als ihrem ursprünglichen Ort zugewiesen, er hat auch die Definition der Wahrheit als ›Übereinstimmung‹ in Gang gebracht« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 284). 2 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 288–289. 3 Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1970, 350. 1
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die Wahrheit als Entdecktheit als die ursprüngliche Wahrheit bezeichnet. Die Wahrheit der Aussage, die eine abgeleitete und sekundäre ist, besteht ihrerseits gerade darin, dass sie die Weise der Entdecktheit des Seienden zum Ausdruck bringt. Die Wahrheit zeigt sich deshalb ihrem Wesen nach im Lichte des Zusammenhanges zwischen Entdecktheit und Entdeckendsein. Das Dasein als In-der-Welt-sein wird als das entdeckende Seiende par excellence bezeichnet und damit als ursprünglicher betrachtet als das Entdeckte. »Die existenzial-ontologischen Fundamente des Entdeckens selbst zeigen erst das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit.« 4 Die im Dasein realisierte »Entdeckung« – Wahrheit – des Seienden ist als ein »Raub« zu verstehen: 5 Das Seiende wird sozusagen seiner Verborgenheit entrissen. Nur eine solche Interpretation der Wahrheit entspricht für Heidegger dem rechten Verständnis des griechischen Wortes für Wahrheit: ⁄lffiqeia. »Wahrheit« bedeute für die Griechen, wie Heidegger in der Vorlesung aus dem SS 1927 sagt, »aus der Verborgenheit herausnehmen, Entdecken, Enthüllen«. 6 Sofern das Dasein wegen seiner Handlungen, seines Umgehens mit und in der Welt, eine Entdeckung des innerweltlichen Seienden vollzieht, bedeutet dies für Heidegger, dass das Dasein das Erschlossensein der Welt voraussetzen muss. »Die Entdecktheit des Zuhandenen und Vorhandenen gründet in der Erschlossenheit der Welt; denn die Freigabe der jeweiligen Bewandtnisganzheit des Zuhandenen verlangt ein Vorverstehen der Bedeutsamkeit.« 7 Das Wort »Entdecktheit« ist also auf das innerweltliche Seiende zu beziehen, und die Wahrheit ist als Entdecktheit nur aus dem Zusammenhang von »Erschlossenheit« und »Lichtung« zu verstehen. 8 Die Welt ist nur gelichtet, weil sie irgendwie bereits erschlossen ist, das heißt die Erschlossenheit des Daseins, die aufgrund der Erschlossenheit des Seins überhaupt geschieht, ermöglicht einen Begegnungsraum (den Zeit-Horizont), in dem ein Seiendes sich zeigen kann. Dies meint Heidegger, wenn er sagt, dass »mit der Zugänglichkeit von innerweltlichem Zuhandenen für das umsichtige Besorgen […] je schon Welt vorerschlossen [ist]«. 9 Die Wahr4 5 6 7 8 9
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 291. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 294. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 307. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 394. Zur Erschlossenheit siehe das III. Kapitel dieser Arbeit. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 102. A
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heit als Entdecktheit ist nur aus dem Grund der vorgängigen Erschlossenheit der Welt zu erfassen. Das Dasein ist selbst seine Erschlossenheit, und nur deswegen kann es Seiendes erschließen und entdecken. Wenn Heidegger sagt, dass das Dasein seine Erschlossenheit sei, 10 besagt dies nichts anderes, als dass es stets erschlossen und erschließend ist. Aufgrund der Erschlossenheit als der Seinsweise des Daseins wird es als ein Seiendes bestimmt, das »in der Wahrheit« ist. 11 Da die Geworfenheit eine Grundverfassung des Seins des Daseins ist, ist nicht jedes Erschlossensein zugleich eigentliches Erschlossensein. Inwiefern das Dasein eigentlich erschließt, hängt zugleich davon ab, ob es sich selbst im eigensten und als eigenstes Seinkönnen erschließt. Wie wir bereits wissen, ist die eigentliche Erschlossenheit die »Wahrheit der Existenz«. 12 Die eigentliche Erschlossenheit, das heißt diejenige, die im Modus der Eigentlichkeit geschieht, wird als die »ursprünglichste Wahrheit« bezeichnet. Diese ist zugleich die »Wahrheit der Existenz«. Zur Faktizität des Daseins gehören wesentlich »Verschlossenheit und Verdecktheit«, 13 die mit seinem Streben nach Sicherheit und Erleichterung zusammenhängt. Das Dasein ist nicht nur erschlossen, sondern zumeist auch verfallen. »Das Dasein ist, weil wesenhaft verfallend, seiner Seinsverfassung nach in der ›Unwahrheit‹.« 14 Das Verfallensein des Daseins ist aber der faktische Ausdruck seines ontologischen Geworfenseins. Weil das Dasein »geworfener Entwurf« ist, 15 vollzieht sich seine Existenz im Einklang des Wechselspiels zwischen Entdeckung und Verdeckung. Die Bequemlichkeit des Existierens gehört zur Welt des »Man«. In der »Man«-Welt ist das Seiende zwar »nicht völlig verborgen, sondern gerade entdeckt, aber zugleich verstellt; es zeigt sich – aber im Modus des Scheins.« 16 Im »Man« zu verweilen heißt nichts Geringeres als die Verstellung der je einzigartigen Handlungssituation des Daseins. In der »Man«-Welt wird also nicht Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 177. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 292. 12 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 293. Vgl. auch: Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 394: »Die ontologische Klärung des Satzes: ›Dasein ist in der Wahrheit‹ hat die ursprüngliche Erschlossenheit dieses Seienden als Wahrheit der Existenz angezeigt und für deren Umgrenzung auf die Analyse der Eigentlichkeit des Daseins verwiesen.« 13 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 294. 14 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 294. 15 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 295. 16 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 293–294. 10 11
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nur die Wahrheit als Entdecktheit ignoriert, sondern ebenso die Seinsweise des Daseins als »Umwillen« seiner selbst. 17 In allem Seienden, das in der Welt des »Man« begegnet, ist wie Heidegger sagt, »das Sein zum Seienden […] nicht ausgelöscht, aber entwurzelt«. 18 Der Ausdruck »Wahrheit der Existenz« zeigt an, dass Heidegger den faktischen Vollzugscharakter der Existenz in Erinnerung rufen möchte. Denn in der faktischen Existenz gründet jede Entdeckung (Wahrheit), um des Daseins willen. Daraus folgt der Vorrang der Zuhandenheitswelt, in der die Dinge im Bezug des Handelns vom Dasein eigens als das Dienliche erfahren werden. Auch seine eigene Seinsweise wird dem Dasein erst so durchsichtig. Weder der betrachtende Umgang mit den Dingen noch ihr Verständnis aus dem »Man-selbst« lassen das Seiende in seiner Wahrheit begegnen. Die »Wahrheit der Existenz« kommt zur Geltung, wenn das Dasein sich in der faktischen Situation seines Handelns bewusst aufhält, weil so die primäre Entdecktheit des Seienden geschieht. Das Dasein erkennt sich in seiner Rolle als Entdecker, was aber gerade heißt, dass es sich bewusst ist, nicht Herr über die Dinge zu sein. Das Dasein schafft das Sinnhafte nicht durch sein Handeln, sondern entdeckt es bloß im Handeln. Mit der Modifikation, die durch die eigentliche Erschlossenheit als die Wahrheit der Existenz geschieht, erkennt sich das Dasein gleichursprünglich als »Sein-bei …« innerweltlichem Seiendem und »Sein-mit …« anderem daseinsmäßigem Seiendem. So ändert sich nicht der Gehalt der Welt des Zuhandenen oder der Mitwelt, sondern »das verstehende besorgende Sein zum Zuhandenen und das fürsorgende Mitsein mit den Anderen [ist] jetzt aus deren eigenstem Selbstseinkönnen heraus bestimmt«. 19 Weil das Dasein wesenhaft zugleich in der Wahrheit und in der Unwahrheit ist, ist nicht nur die Wahrheit selbst endlich und vorläufig, sondern wird auch die ständige Wiederholung der Erfahrung erforderlich. »Daher muß das Dasein wesenhaft das auch schon Entdeckte gegen den Schein und die Verstellung sich ausdrücklich zueignen und sich der Entdecktheit immer wieder versichern.«20 Das Dasein befindet sich als ein geworfenes immer in einer Schwebe, zwischen dem eigenen Entdecken des Seienden und der bloßen Hinnahme des von der 17 18 19 20
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 113. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 293. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 394–395. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 294. A
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»Man«-Welt sozusagen angebotenen Seienden. Die »Wahrheit der Existenz« sich zu eigen zu machen heißt damit, das ständige Verhältnis zwischen Entdecken und Verbergen, das wesentlich zur Wahrheit gehört, aber auch zur Seinsweise der daseinsmäßigen Existenz selbst, eigens zu übernehmen. Heideggers Aufmerksamkeit auf die Wahrheitsproblematik ist durch eine zweifache Hinsicht geführt. Auf der einen Seite geht es darum, die Wahrheit im Rahmen ihres Verhältnisses zum innerweltlichen Seienden zu erörtern. Andererseits aber kommt es darauf an, die Wahrheit in Zusammenhang mit der Seinsfrage zu setzen. 21 Sein Wahrheitsbegriff ist darin hermeneutisch, dass Heidegger die Wahrheit als Wahrheit des Verstehens interpretiert. Doch wenn Sein zugleich Seinsverständnis bedeutet, dann wird die Wechselbeziehung zwischen Wahrheit und Seinsverständnis einsichtig. Aus diesem Grund sagt Heidegger, dass das »zunächst herrschende und noch heute nicht grundsätzlich und ausdrücklich überwundene Seinsverständnis des Daseins […] selbst das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit [verdeckt]«. 22 Die Seinsfrage stellt also zugleich die vorbereitende Eröffnung der Wahrheitsfrage dar. Die Gleichursprünglichkeit von Sein und Wahrheit kommt allein durch das Dasein – als ein seinsverstehendes Seiendes – und im Dasein – nämlich in der »eigentlichen Wahrheit« des Daseins – zur Geltung. »Das Sein der Wahrheit steht in ursprünglichem Zusammenhang mit dem Dasein. Und nur weil Dasein ist als konstituiert durch Erschlossenheit, das heißt Verstehen, kann überhaupt so etwas wie Sein verstanden werden, ist Seinsverständnis möglich.« 23 Heideggers Hervorhebung des Verhältnisses von Dasein und Wahrheit lädt dazu ein, seinen Wahrheitsbegriff als einen anthropologischen misszuverstehen. Heideggers Aussagen klingen manchmal so radikal, dass sich die Legitimität einer Betrachtung der Wahrheit als Wechselspiel von Entdecken und Verdecken in Frage stellen lässt. Die Wahrheit oder, dass es Wahrheit gibt, ist nur möglich, »sofern und solange Dasein ist«. 24 »Seiendes ist nur dann entdeckt und nur solange Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 283: »Wenn Wahrheit aber mit Recht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit Sein steht, dann rückt das Wahrheitsphänomen in den Umkreis der fundamentalontologischen Problematik.« 22 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 298. 23 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 304. 24 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 299. 21
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erschlossen, als überhaupt Dasein ist.« 25 Offensichtlich ist das, was Heidegger damit meint, keineswegs eine Trivialisierung der Wahrheit im Sinne der Beliebigkeit des Menschen. Ganz im Gegenteil betont Heidegger, »daß das Dasein Seiendes an ihm selbst entdecken und freigeben kann«. 26 Dieses Sichfreigeben eines Seienden geschieht in der Bewandtnis: »Bewandtnis ist das Sein des innerweltlichen Seienden, darauf es je schon zunächst freigegeben ist.« 27 Die Bewandtnis ist »nicht das, was etwas ist, sondern als was es ist. ›Entdeckt‹ wird etwas in seiner Bewandtnis also gerade nicht, indem man sich auf es bezieht, sondern indem man von ihm absieht. ›Als etwas‹ lässt es sich nur auslegen, wenn man es ›sein lässt‹, so dass der Vollzug der Auslegung immer nur zusammen mit einem Lassen gedacht werden kann.« 28 Heideggers Begriff der Freigabe des Seienden weist auf die Möglichkeit eines Zugangs zum Seienden in der Bewandtnis hin. Es geht Heidegger also um ein hermeneutisches Prinzip. Dass es die Wahrheit nicht ohne das Dasein gibt, bedeutet nicht, dass das Dasein Herr über die Wahrheit ist. Vielmehr beabsichtigt Heidegger mit der Hervorhebung des Verhältnisses zwischen Dasein und Wahrheit ein Zweifaches: Auf der einen Seite geht es darum, den endlichen Charakter der Wahrheit selbst zu betonen, um so die Illusion einer absoluten Wahrheit zu bekämpfen. 29 Die Endlichkeit der Wahrheit entspricht der Endlichkeit der menschlichen Existenz selbst. »Alle Wahrheit ist gemäß deren wesenhaften daseinsmäßigen Seinsart relativ auf das Sein des Daseins.« 30 Andererseits aber folgt aus der Auffassung der Freigabe, dass das Dasein sich auf das Seiende einlassen muss, um dieses als das, was es ist, nicht zu verfehlen.
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 299. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 300–301. 27 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 112. 28 Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, 85. 29 Vgl. Figal, Gegenständlichkeit, 200: »Die Freigabe ist ja kein Tun, sondern ein Lassen, und insofern kann sie nur im Sinne einer Offenheit des Daseins für die Offenheit des Seienden verstanden werden.« 30 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 300. 25 26
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2.
Das Verständnis der Wahrheit nach Sein und Zeit
Vom Ende der zwanziger bis zum Anfang der dreißiger Jahre fragt Heidegger nach dem Wesen von Freiheit, Grund und Wahrheit. Diese Fragestellungen waren schon in Heideggers Hauptwerk gegenwärtig, aber mit jeweils anderer Gewichtung. Nach Sein und Zeit verschiebt sich die Fragestellung im Hinblick auf die Wahrheitsproblematik deutlich. Heidegger fragt nun viel radikaler als zuvor nach dem Grund der Offenbarkeit alles Seienden. Er untersucht nun das Zeithafte nicht mehr wie in Sein und Zeit im Ausgang vom Dasein, das sozusagen als die Verbindung von Mensch und Sein dient, sondern die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Zeit wird zur Frage nach dem Wesen der Wahrheit. Mit dieser Frage sucht Heidegger nach der Bedingung der Möglichkeit der in Sein und Zeit genannten »ursprünglichsten Wahrheit«, also der Erschlossenheit des Daseins – aber nun ohne die Erschlossenheit des Seins als den Horizont der Zeit vorauszusetzen. Das ist der Beginn seines Fragens nach der Wahrheit des Seins, das sich nun als der angemessene Zugang zu der in Sein und Zeit gestellten Seinsfrage interpretieren lässt. Die Frage nach dem Sinn von Sein wird also zur Frage nach der Wahrheit des Seins. Diese radikalisierte Fragestellung kommt in Vom Wesen des Grundes in der Unterscheidung von ontologischer und ontischer Wahrheit zum Tragen. Die ontische Wahrheit wird mit der Wahrheit als Entdecktheit identifiziert, also mit der Offenbarkeit des Seienden. Die »ontologische Wahrheit« wird als die die Offenbarkeit des Seienden ermöglichende »Enthülltheit des Seins« verstanden, 31 die das Dasein in der ontologischen Differenz erfährt. In der ontologischen Differenz gehören aber ontische und ontologische Wahrheit zusammen. 32 Das Existieren des Daseins wird – wie implizit auch in Sein und Zeit – durch den Vollzug der ontologischen Differenz ermöglicht. Für Heidegger kommt das ontisch-ontologische Unterscheidenkönnen des Daseins als Transzendenz zum Vorschein. »Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert, die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als In-der-Welt-sein.« 33 Das Dasein transzendiert sein Dasein auf die Welt hin, weil es nicht nur inmitten des Seienden steht, sondern 31 32 33
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Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 131. Vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 134. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 139.
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Das Verständnis der Wahrheit nach Sein und Zeit
sich seinsverstehend – aufgrund der ontisch-ontologischen Differenz – zum Seienden und zu sich selbst verhält. In Sein und Zeit wurde die Wahrheit als Entdecktheit begriffen, wobei der innere Bezug von Dasein und Welt, die Erschlossenheit des Daseins, vorausgesetzt wird. Dass die Erschlossenheit die Ermöglichung von Wahrheit ist, bedeutet zugleich, dass sie die Bedingung der Möglichkeit des Offenseins des Daseins für die Welt ist. Das erschlossene Dasein ist seinerseits dasjenige Seiende, das um seiner selbst willen handelt. Die Entdeckung des Seienden geschieht deshalb nur in der jeweiligen Handlungssituation des Daseins und in Bezug auf das dieser Handlung entsprechende Seiende, das in der Handlungssituation selbst als dieses oder jenes entdeckt wird: Die Wahrheit als Entdecktheit ist nichts anderes als die Wahrheit im Handeln. Die Offenbarkeit von Seiendem vollzieht sich, so Heidegger, nur im eigenen und jeweiligen Verweilen bei dem, was es zu tun gibt, bei der Handlung. Damit ist gesagt, dass die Möglichkeit von Wahrheit aus der Handlungssituation heraus interpretiert wird. Heideggers Radikalisierung der Wahrheitsproblematik steht in engem Zusammenhang mit der Problematik der Freiheit und des Grundes. In Vom Wesen des Grundes stellt Heidegger fest, dass der Begriff »Grund« nicht wie in der philosophischen Tradition zu fassen ist, nämlich als letztes und statisches Fundament des Seienden. Vielmehr trägt der Grund »sein Un-wesen« in sich. 34 Dieser Gedanke wird verständlich, wenn man beachtet, dass für Heidegger die Freiheit als Transzendenz nichts anderes als »Ursprung von Grund« oder, deutlicher noch, »Freiheit zum Grunde« ist. 35 Diese Freiheit als Transzendenz, dieser »Grund des Grundes« 36 , wird auch als »Sichbilden des Einbruchspielraums für das jeweilige faktische Sichhalten des faktischen Daseins inmitten des Seienden im Ganzen« umschrieben. 37 Diese Freiheit ist also der »Ab–grund des Daseins« 38 , aus dem ein Spielraum gebildet wird, innerhalb der Grenze seiner Geworfenheit. Damit zeigt sich die Freiheit, als Freiheit des endlichen Daseins, als eine endliche Freiheit. Nur aus der Endlichkeit der Freiheit wird das Zusammengehören des Grundes mit seinem Unwesen verständlich. Das Wesen des Grundes gehört 34 35 36 37 38
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 174. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 165. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 174. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 170. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 174. A
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aber zum Wesen der Wahrheit, so dass die Freiheit zugleich als der Ursprung des Wesens der Wahrheit (der Enthülltheit von Sein) konzipiert wird. Gerade dieser Ansatz wird in Vom Wesen der Wahrheit ausführlicher entwickelt. 39 Um die Frage nach der inneren Möglichkeit des Verständnisses der Wahrheit als Übereinstimmung zu beantworten, versucht Heidegger, die Wahrheit als ein Verhalten zu interpretieren. »Alles Verhalten […] hat seine Auszeichnung darin, daß es, im Offenen stehend, je an ein Offenbares als ein solches sich hält.« 40 Das zugrunde liegende Halten der Wahrheit ist also kein fixierendes Halten, sondern ein eigentümliches Bewahren, das seinem Wesen nach offen bleibt. In diesem schwingenden Halten, das die Wahrheit als Verhalten darstellt, gründet die Offenbarkeit des Seienden. In der Auffassung der Wahrheit als Übereinstimmung ist das Offenbare zugleich das Anwesende. Dass aber das Seiende als ein Anwesendes konzipiert wird, weist auf eine primäre Dimension zurück, die die Offenbarkeit alles Seienden erst ermöglicht. Die »Offenständigkeit des Verhaltens« zu beachten heißt demgegenüber, 41 in diesem Offenbaren ein Richtmaß finden zu können. 42 In Vom Wesen der Wahrheit geht es deshalb auch um das Verhältnis von Maß und Wahrheit. Heidegger bezeichnet gerade die Freiheit als das Maß, da für ihn »das Wesen der Wahrheit […] die Freiheit« 43 ist. Jede Vergegenständlichung – sei es als Normativität oder als Wert – stellt stets eine Fixierung dar, die das Geschichtlichsein der Wahrheit verdeckt. Die Freiheit als Maß dagegen enthält diese Dynamik der Wahrheit in sich. Heidegger kann deshalb die Freiheit als Maß bezeichnen. Entscheidend ist es zunächst, zu beachten, dass Heideggers VerDa er selbst im Humanismusbrief sagt, dass es in diesem Vortrag »einen gewissen Einblick in das Denken der Kehre von ›Sein und Zeit‹ zu ›Zeit und Sein‹« gibt (Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 328), kommt der Analyse dieses Vortrags für ein angemessenes Verständnis von Heideggers Verständnis der Wahrheit eine entscheidende Bedeutung zu. Dennoch ist aber angesichts der Tatsache, dass Heidegger für die Veröffentlichung im Rahmen der Gesamtausgabe einige Veränderungen an dem Vortrag vorgenommen hat, die Platon-Vorlesung vom WS 1931/32 mit dem Titel Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet ebenso heranzuziehen, wenn es darum geht, Heideggers Denken in dieser Phase zu analysieren. (So empfiehlt es auch Günter Figal; vgl. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 95.) 40 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 184. 41 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 185. 42 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 185. 43 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 186. 39
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ständnis von Freiheit in Vom Wesen des Grundes so entwickelt wird, dass die Freiheit dabei als eine gewisse »Gelassenheit«, als Seinlassen verstanden wird. Freiheit als »Freiheit für das Offenbare eines Offenen« 44 ist dasjenige, das das Seiende seinem Wesen nach sein lässt. Nur in der Freiheit wird ein Seiendes, das sich für eine Bindung freigibt, als ein »Freisein zum Offenbaren eines Offenen« und so in seiner Wahrheit erfahren. Bereits in der ersten Freiburger Vorlesung vom WS 1928/29 mit dem Titel Einleitung in die Philosophie betont Heidegger die Wichtigkeit des Seinlassens im Wahrheitsverhalten, und zwar viel deutlicher als je zuvor. Das »Seinlassen des Seienden« wird nun als die »Urhandlung« des Daseins bezeichnet. 45 Zu dieser im ontologischen Entwurf sich vollziehenden Urhandlung gehört »eine eigentümliche Gelassenheit, in der das Seiende an ihm selbst zu Wort kommt«. 46 Diese Gelassenheit ist jedoch nicht als Passivität zu verstehen: »Diese Gelassenheit aber muß einem ursprünglichen Handeln entspringen, sie ist nichts anderes. Handeln ist aber Freisein.« 47 Dieses ursprüngliche Handeln entspricht gerade nicht mehr der in Sein und Zeit pragmatisch-technisch geprägten Auffassung des Handelns, sondern dem, was Heidegger später das Denken an die Wahrheit des Seins nennt. Im ersten Satz des Humanismusbriefes heißt es lapidar: »Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug.« 48 Mit der Bestimmung des Wesens des Handelns als ein »Vollbringen« versucht Heidegger das Handeln nicht aus einem pragmatischkausalistischen Zusammenhang heraus zu denken. Handeln als Vollbringen heißt »etwas in die Fülle seines Wesens entfalten«. 49 Im Wesen des Handelns geht es nicht darum, eine Sache entstehen zu lassen, sondern darum, sich ihr Wesen entfalten zu lassen. Das Handeln setzt aber stets das Sein voraus. 50 Heidegger versucht zu einem eigentümlichen Denken aufzurufen, das selbst als ein Handeln zu ver-
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 187. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 183–184. 46 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 214. 47 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 214. 48 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 313. 49 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 313. 50 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 313 »Vollbringbar ist deshalb eigentlich nur das, was schon ist. Was jedoch vor allem ›ist‹, ist das Sein.« 44 45
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stehen ist. Ein solches Verständnis des Denkens und des Handelns erscheint auf den ersten Blick befremdlich. Aus der traditionellen Trennung zwischen dem Theoretischen und dem Praktischen, der Ersten und der Zweiten Philosophie, ergibt sich der Gegensatz von Handeln und Denken. Bei Heidegger gibt es jedoch eine solche Trennung nicht. Das Denken ist für ihn das »höchste« Handeln, 51 denn im Denken kommt gerade das wesentliche Verhältnis von Mensch und Sein zur Geltung. 52 Das Vollbringen des Denkens ist von eigener Art. Solches Denken hat weder Wirkung noch Ergebnis, denn »das Denken ist das eigentliche Handeln, wenn Handeln heißt: dem Wesen des Seins an die Hand gehen«. 53 Damit will Heidegger einen erweiterten Begriff des Handelns einführen, der der von jeder Offenbarkeit des Seienden vorausgesetzten Gelassenheit gerecht wird. Das Denken als Handeln zu konzipieren bedeutet im Grunde, den antwortenden Charakter der faktischen Situation des Menschen zu intensivieren. »Das Denken […] läßt sich vom Sein in den Anspruch nehmen, um die Wahrheit des Seins zu sagen.« 54 Während im Fall des Aufenthaltes im Handeln der Mensch seine Umgebung durch sein eigenes Handeln entdeckt und ihm damit eine die Welt erschließende Rolle zugesprochen wird, geht es im Verständnis des Denkens als Handeln darum, einen Aufenthalt in der Offenheit, genauer: in der Wahrheit des Seins zu gewinnen, in dem der Mensch seine Existenz als eine auf die Situation antwortende erkennt. Die Dimension der »ursprünglichen Gelassenheit des Daseins« zu betonen, ist nun für Heidegger entscheidend, denn »hieraus allein erwächst die echte Kraft der Zuwendung zum Seienden, die alle Haltung als Auseinandersetzung mit dem Seienden innerlich fordert«. 55 Nun geht es Heidegger also weniger darum, die Freiheit auf das eigenste Seinkönnen des Daseins zu beziehen, sondern auf ein ursprüngliches Lassen, das als die Offenheit für das Erscheinen des Seienden verstanden werden kann. Aufgrund der Gelassenheit ist der ontologische Ent-
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Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 313. Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 313. Heidegger, Die Kehre, GA 79, 71. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 313. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 401.
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wurf als »eine freie Handlung« möglich. 56 Darüber hinaus ermöglicht die Freiheit, dass das Seiende, so wie es ist, zugänglich wird, nämlich als das jeweilige Seiende einer jeweiligen Situation. Das Seinlassen des Seienden weist auf ein Wahrheitsgeschehen hin. Das Wesen der Wahrheit als Freiheit lässt sich also als eine Rücksicht auf das Seiende verstehen: Sie bestimmt nicht das Seiende in seinem faktischen Sichfreigeben als etwas Absolutes, sondern sie bewahrt dessen Freigabe innerhalb seiner eigenen Grenzen. »Freiheit enthüllt sich jetzt als das Seinlassen von Seiendem.« 57 Ist das Wesen der Wahrheit Freiheit, dann kann »der geschichtliche Mensch im Seinlassen des Seienden das Seiende auch nicht das Seiende sein lassen, das es ist und wie es ist.« 58 Wenn das Seiende derart nicht in dem, was es ist, gelassen wird, wird es verdeckt: »Der Schein kommt zur Macht.« 59 Dieser Schein stellt eine Unwahrheit dar, die nicht außerhalb des Wesens der Wahrheit steht, sondern ursprünglich zu ihm gehört. 60 Dies folgt aus dem bereits erwähnten Verständnis der Freiheit als »Ab-grund«. Das »Abgründige«, die »Unwahrheit« gehört also ursprünglich zum Wesen der Wahrheit. »Die Un-Wahrheit ist das Sichzurückhalten der Wahrheit: Wahrheit öffnet sich nur als Un-Verborgenheit, indem sie sich als Verborgenheit zurückhält.« 61 Damit wird zunächst deutlich, dass das Wesen der Wahrheit nur angemessen verstanden wird, wenn sie nicht nur als das Wechselspiel von Unverborgenheit und Verborgenheit erfasst wird, sondern wenn zugleich der Vorrang der Verborgenheit vor der Unverborgenheit als ein unauflösbares »Geheimnis« konzipiert wird: »Das eigentliche Un-wesen der Wahrheit ist das Geheimnis.« 62 Heidegger 56 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 74: »Das Aufmerken auf die Dinge, scheinbar eine Tätigkeit von unserer Seite, ein scheinbares Tun, oder mit Kant zu sprechen, eine scheinbare Spontaneität unserer selbst, ist aber ihrem eigentlichen Wesen nach gerade ein Begegnen-lassen, eine eigentümliche Passivität, eine eigentümliche Receptivität.« 57 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 188. 58 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 191. 59 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 191. 60 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 191: »Nur weil Wahrheit und Unwahrheit im Wesen sich nicht gleichgültig sind, sondern zusammengehören, kann überhaupt ein wahrer Satz in die Schärfe des Gegenteils zum entsprechend unwahren Satz treten.« 61 Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 3 1990, 97. 62 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 194.
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versteht Unwahrheit als diejenige Verbergung, die »älter als jede Offenbarkeit von diesem und jenem Seienden«, »älter auch als das Seinlassen selbst« ist. 63 Das Unverborgene ist nur aus der Verborgenheit, aus dem Geheimnisvollen her möglich. Heideggers Auffassung der Wahrheit – sowohl in ihrer früheren Auffassung als auch in seinem Denken nach dem Jahr 1927 – setzt ein Verborgenes voraus, das enthüllt oder entborgen wird. Mit dem Vortrag Vom Wesen des Grundes wird der Vorrang dieses Verborgenen radikalisiert. Weil die Verborgenheit des Seienden im Ganzen, »das Geheimnis«, zum Wesen der Wahrheit gehört, fordert jede Bewahrung der Wahrheit zugleich die Bewahrung des Geheimnisses ihres Verhältnisses. Nur wenn die Wahrheit in dieser Weise bewahrt wird, treten wir in den Bereich der Wahrheit des Seins (und nicht des Seienden). 64 Die Bewahrung der Wahrheit kann nur geschehen, wenn der Mensch sich im Spiel von Wahrheit und Unwahrheit aufhält. Das Dasein existiert je schon in diesem einen Geheimnis. Doch je schon wird auch das Geheimnis vergessen. Wenn aber das Geheimnis als Unwahrheit vergessen wird – was zu seinem Wesen gehört –, beginnt auch die Indifferenz des Daseins gegenüber seiner eigenen Existenz. 65 Das Dasein darf nicht einfach in der Welt stehen bleiben, da die Seinsweise des Daseins eine ekstatische Inständigkeit ist. Das Stehen der Menschen in der Welt soll kein selbstverständliches Maßnehmen aus der Welt her sein, so dass die Existenz des Daseins unter dem derart genommenen Maß stünde. Vielmehr kommt es darauf an, dass das Dasein als Möglichsein die radikale Unbestimmbarkeit seines Seins und damit dessen unüberwindbare Abgründigkeit als Grund erfahren und als Grund dafür verstehen kann, dass es ständig auf der Suche nach einem Maß ist. Das Geheimnis zu vergessen heißt, stets neue Maße zu schaffen, »ohne noch den Grund der Maß-nahme selbst und das Wesen der Maßgabe zu bedenken«. 66 Hier kann Heideggers Erörterung der Verfallenstendenz des Daseins als einer Art »Insistenz« des Existierens anknüpfen. Die insistierende Weise, in der das Dasein exisHeidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 193–194. Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 194. 65 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 195: »Indem das Geheimnis sich in der Vergessenheit und für sie versagt, läßt es den geschichtlichen Menschen in seinem Gangbaren bei seinen Gemächten stehen.« 66 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 195. 63 64
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tiert, zeigt eine Tendenz auf Beständigkeit. Doch sofern das menschliche Dasein innerhalb eines Maßnehmens bleibt, ist »das Menschentum weggewendet vom Geheimnis« 67 , und das heißt: von seinem eigenen Wesen.
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Die Erweiterung des Ethosdenkens
Heideggers Reformulierung der Wahrheitsproblematik führt in ein verändertes Ethosdenken. Heidegger eröffnet den Spielraum für andere Möglichkeiten des Aufenthaltes in der Wahrheit, die von anderer Art als der Aufenthalt beim Handeln sein können. Heidegger gelangt zu der Überzeugung, dass das Handeln einer Dimension bedarf, die ursprünglicher als die Wahrheit als Entdecktheit ist. Gewiss ist diese Überzeugung schon in Sein und Zeit zu finden, insofern die Erschlossenheit des Daseins als die Voraussetzung für die Wahrheit als Entdecktheit des Seienden konzipiert wird. Nun aber konzentriert sich Heidegger entschieden darauf, diese höhere, nicht pragmatische Ebene der Wahrheit zu verdeutlichen, die als Bedingung der Möglichkeit für die Wahrheit als Entdecktheit dient. »Wir müssen zuvor schon Teilhaber an den Dingen sein, um sie uns im und für den Gebrauch zu überlassen; allem Gebrauchen aber z. B. liegt schon zugrunde ein Seinlassen der Dinge.« 68 Als das Wesen der Wahrheit wird deshalb das Seinlassen bezeichnet, denn das Lassen ist für Heidegger gegenüber dem Gebrauchen vorrangig. Diese »Lässigkeit« versteht Heidegger aber nicht als ein »Unterlassen«, sondern als höchstes Tun. 69 »Wir lassen die Dinge sein, wie sie sind, überlassen sie ihnen selbst, auch dann und gerade dann, wenn wir uns so intensiv wie immer beschäftigen. Ja, gerade in dem und für den Gebrauch muß ich das Ding sein lassen, was es ist.« 70 Wird Wahrheit nicht mehr im Zusammenhang mit Entdecktheit und Erschlossenheit verstanden, verliert das Verweilen beim Tun, der Aufenthalt im Umgehen-mit den exemplarischen Charakter, den es zuvor hatte. Der eigentliche Aufenthalt wird zum Aufenthalt in der Wahrheit des Seins, das heißt beim handelnden Denken, nicht aber 67 68 69 70
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 196. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 103. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 102. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 102. A
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beim Handeln als Gebrauchen. Weil nun das Wesen der Wahrheit als abgründige Freiheit verstanden wird, die sich ursprünglich auf das Geheimnis der Unverborgenheit bezieht, stellt sich die Frage nach der Erfahrbarkeit einer solchen Wahrheit. Wäre Heideggers Verständnis rein formal, ließe sich diese gelassene Wahrheitserfahrung nicht beschreiben. Heidegger ist überzeugt, dass das Seiende stets aus einem Bewandtniszusammenhang offenbar, also unverborgen wird. 71 Doch muss dieser Zusammenhang nicht unbedingt ein pragmatischer Handlungszusammenhang sein. »Es stellt sich aber heraus, daß wir schon ohne daß wir von etwas Gebrauch machen, Seiendes, Vorhandenes, Vorliegendes in gewisser Weise gemeinsam vor uns haben.« 72 Der Umgang mit dem Zuhandenen ist nicht mehr die paradigmatische Weise, in der allein das Seiende offenbar werden kann. »Beschäftigung mit den Dingen ist also nur ein ganz bestimmter Modus innerhalb des Aufenthaltes bei ihnen.« 73 Für Heidegger ist das Seinlassen des Seienden die Urhandlung des Daseins. Das Seinlassen als Urhandlung des Daseins ist aber ein Transzendieren. 74 Diese Urhandlung ist nichts anderes als »das betrachtende Verweilen bei den Dingen«, das »kein Müßiggang [ist]; wohl aber bedarf es der Muße, um eine Aktivität im höchsten Sinne zu entwickeln.« 75 In diesem Sinne bedeutet dieses Verweilen kein passives Verhalten zum Seienden. 76 Dass das Seiende bereits je schon vorliegt, weist auf das vorthematische Seinsverständnis des menschlichen Daseins hin. Das Verstehen des Seins beweist seinen Vorrang vor jedem möglichen sekundären Begreifen des Seienden. So wie in Sein und Zeit von einer Freigabe in der Bewandtnis die Rede war, spricht Heidegger in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie vom Seinlassen: »Im Gebrauchen ebenso wie im Nichtgebrauchen Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 77: »Das Seiende ist für uns nur dadurch offenbar, daß uns schon ein Bewandtniszusammenhang enthüllt ist. So sprechen wir von einer Offenbarkeit des Seienden in seinen Zusammenhängen.« 72 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 108. 73 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 74. 74 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 183: »Allein dadurch, daß wir mit einer Hantierung lediglich aussetzen, offenbart sich das Seiende, mit dem wir umgehen, nicht schon in der gekennzeichneten Weise an ihm selbst. Im Gegenteil, das Nichtstun als Aussetzen in einer Beschäftigung offenbart vielleicht die Dinge gerade um so eindringlicher in der Hinsicht, nach der sie erledigt sein wollen, d. h. als solche Gegenstände, die eine Bearbeitung fordern.« 75 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 183. 76 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 184. 71
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liegt dieses Seinlassen der Dinge, und zwar liegt es allem gebrauchenden Umgang mit den Dingen zugrunde. Aber nicht nur im gebrauchenden Verhalten, auch in ganz andersartigem Verhalten zu ganz andersartigem Seienden, etwa im ästhetischen Verhalten liegt ein ganz bestimmtes Seinlassen eines Gemäldes z. B. oder einer Plastik, und zwar abgesehen davon, ob das betreffende Kunstwerk mir einen besonderen Eindruck macht oder nicht.« 77 Das Seinlassen ist also nicht nur ursprünglicher als das pragmatische Handeln, sondern es geschieht auch ohne dieses. Heideggers Ansatz aus Der Ursprung des Kunstwerks ist bereits Ende der zwanziger Jahre präsent, nämlich darin, dass eine gelassene Wahrheitserfahrung in der Kunst geschieht. Wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, hängt die Möglichkeit, die Wahrheit des Seins zu enthüllen, vom Entwurf ab, von der jeweilige Weltbildung, die den Entwurf zur Geltung bringt. Der Seinsentwurf in der Kunst, wie er von Heidegger in der Platon-Vorlesung aus dem WS 1931/32 behandelt wird, wird als die höchste Weise des Entwurfs bezeichnet. Der Künstler bringt mit seinem »Wesensblick für das Mögliche […] die verborgenen Möglichkeiten des Seienden zum Werk«. 78 Die Kunsterfahrung und nicht das pragmatische Handeln entdeckt Heidegger als die paradigmatische Weise, in der die Wahrheit geschieht. »Das Wesentliche der Entdeckung des Wirklichen geschah und geschieht nicht durch die Wissenschaften, sondern durch ursprüngliche Philosophie und durch die große Dichtung und deren Entwürfe (Homer, Virgil, Dante, Shakespeare, Goethe). Dichtung macht das Seiende seiender.« 79 Dass aber Wahrheit geschieht, heißt zugleich, dass sie ihrem unzugänglichen Charakter gerecht wird. 80 Somit hält das Kunstwerk »die Welt für Erfahrungen von Unverfügbarem offen […]; im Unterschied gerade zu den alltäglichen Praxen und technischen Routinen, die diese Offenheit verschwinden lässt.« 81 Dieser Gedanke ist die Keimzelle von Heideggers späterer Auffassung, dass das dichterische Wohnen der eigentliche Aufenthalt des Sterblichen auf der Erde ist.
77 78 79 80 81
Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 102. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 64. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 64. Siehe das VII. Kapitel dieser Arbeit. Andreas Luckner, Heidegger und das Denken der Technik, Bielefeld 2008, 116. A
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Heideggers Auslegung des Höhlengleichnisses
Heidegger ist sich des befreienden Zugs in seinem Denken durchaus bewusst. Deshalb bringt er sein Denken oft mit Platons Höhlengleichnis in Verbindung. Bereits in der Vorlesung vom SS 1927 sagt Heidegger: »Auch wir wollen mit der scheinbar so abstrakten Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Seinsverständnisses nichts anderes, als uns aus der Höhle ans Licht zu bringen.« 82 Aus der Höhle zu gehen, heißt für Heidegger, die Zeit als den Horizont des Seinsverständnisses zu verstehen. Dabei vollzieht sich keine endgültige Befreiung des Daseins aus der »Man«-Welt, sondern sie realisiert sich im Zurückholen des Daseins aus seiner undifferenzierten Existenz. 83 Mit Platon gesagt, hat das ergriffene Dasein bereits das Licht der Sonne gesehen, so dass es zwischen den wahren Dingen und deren Schein unterscheiden kann. Darüber hinaus ist hier deutlich zu erkennen, dass die gemeinte Befreiung nur als Erweckung des Daseins im Hinblick auf seine wesenhafte Seinskonstitution geschehen kann. Unter diesem Gesichtspunkt liegt es nahe, dieses Verständnis des Zusammenhangs zwischen Wahrheit und Freiheit, das auf Heideggers Denkweg immer wieder auftaucht, in Verbindung mit dem Johannesevangelium zu deuten: »Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« (Joh 8, 32). Heideggers Philosophie bleibt – beabsichtigt oder nicht – dieser Passage treu. 84 Der Gedanke aus dem Höhlengleichnis beruht auf einer Dualität zwischen Wahrem und Schein, einem Motiv, das für Heidegger von großem Belang ist. Das Wahre und der Schein werden jedoch anders als bei Platon bestimmt: Während das Wahre nichts Festes ist, sondern Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 404. Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 465: »Die Befreiung der gefesselten Höhlenbewohner aus der Höhle und die Umwendung zum Licht ist nichts anderes als das Sichzurückholen aus der Vergessenheit in die Erinnerung an das Frühere, darin die Ermöglichung des Verständnisses des Seins selbst beschlossen liegt.« Bereits in dem Vortrag über den Begriff der Zeit aus dem Jahr 1924 sagt Heidegger dies deutlich: »Das eigentliche Sein des Daseins ist, was es ist, nur so, daß es das uneigentliche eigentlich ist, d. h. in sich ›aufhebt‹« (Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 81). 84 Heidegger selbst bemerkt in seinem Seminar mit dem Titel Einübung in das philosophische Denken den Zusammenhang zwischen seinem Denken und der erwähnten Stelle aus dem Johannesevangelium: »Die Wahrheit wird euch frei machen (aber anders verstanden als die Bibel)« (vgl. Heidegger, Einübung in das philosophische Denken, GA 88, 198). 82 83
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Heideggers Auslegung des Höhlengleichnisses
Wahrheit als Anwesenheit und Unwahrheit als Abwesenheit in einem verkörpert, ist für Heidegger der Schein gerade das Vergessen der Wahrheit bzw. Unwahrheit selbst. Dieses Vergessen in Erinnerung zu rufen, macht die Wahrheit der Existenz aus. Im Hinblick hierauf überrascht es nicht, dass Heidegger in der Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit aus dem WS 1931/32 das Höhlengleichnis Platons so erörtert, dass es als Geschichte der Befreiung und Erweckung des Menschen verstanden wird. Dabei lässt sich Heideggers Deutung des Gleichnisses als Aufforderung zu einer Rückkehr ins Geheimnis interpretieren: »Die Wahrheit ist nicht ruhender Besitz, in dessen Genuß wir uns an irgendeinem Standort zur Ruhe setzen, um von da den übrigen Menschen vorzudozieren, sondern die Unverborgenheit geschieht nur in der Geschichte der ständigen Befreiung.« 85 Dass die Wahrheit keinen »ruhenden Besitz« bedeuten kann, fügt sich dabei nahtlos in das bislang Dargelegte ein. Heideggers Wahrheitsverständnis in der Platon-Vorlesung verknüpft den Gedanken von Wahrheit als Unverborgenheit mit dem Menschsein. Nur aus der Erfahrung des Wesens der Unverborgenheit kann auch ein ausgezeichneter Zugang zum Wesen des Menschen gefunden werden. Diese Beschreibung des Verhältnisses wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Mensch und Wahrheit weist auf die Behandlung dieses Themas in Heideggers Spätwerk voraus. Bereits in Heideggers Verständnis der Unverborgenheit kann daher ein ethischer Widerhall gehört werden. Die Auslegung des Höhlengleichnisses ist für Heidegger wichtig, denn das Gleichnis erzählt »die Geschichte, in der der Mensch zu sich selbst kommt als einem inmitten des Seienden existierenden Wesen«. 86 Die Höhle, in der die Gefesselten nur die Schatten der Dinge sehen, stellt für Heidegger ein Bild der alltäglichen Lage des Menschen dar. So wie die Gefesselten in der Höhle nicht wissen, dass das Gesehene nur Schatten und nicht die Dinge sind, so leben die Menschen in der Alltäglichkeit. Beiden begegnet das Unverborgene in ihrer Alltäglichkeit nicht als das Unverborgene, das heißt, als etwas, das aus einem ursprünglichen Verborgenen stammt, sondern bloß als ein festes Offenbares. Die Unverborgenheit hat deshalb Grade und Stufen, die in
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Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 91. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 75. A
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einem Bezug zur jeweiligen Nähe oder Ferne eines Seienden stehen. Der Mensch ist also derjenige, der sich in unterschiedlicher Weise zu Unverborgenem verhält. 87 Die Angemessenheit des Sehens des Seienden »gründet in der jeweiligen Weise der Zuwendung und Nähe zum Seienden, d. h. in der Art, wie jeweils das Seiende unverborgen ist«. 88 In der Zuwendung zu den Dingen beginnt also die Lösung der Fesseln. Sie stellt aber nur den ersten Schritt der Befreiung dar. Die echte Befreiung erfolgt nur durch die Umsicht in die Welt und die Einsicht in sich selbst, die das menschliche Dasein vollzieht. Sie realisiert sich durch »die Zuwendung zum Licht«, 89 die eine plötzliche und gewaltsame Tat ist. Das Licht, das für Heidegger die Helle ist, ist das Durchsichtige und Durchlassende bzw. das, »wohindurch wir sehen«. 90 Um zu sehen, ist nicht nur der Betrachter und das Gesehene erforderlich, sondern auch der Raum der Sichtbarkeit, der durch die Metapher des Lichtes zur Sprache gebracht wird. Die Helle wird als der eröffnende Raum verstanden und damit als eine Bedingung der Möglichkeit für die Sichtbarkeit des Seienden überhaupt. 91 Die implizite Aufforderung zu einer bestimmten Stellungnahme gegenüber dem Seienden, die aus Heideggers Interpretation des Gleichnisses zu erkennen ist, wird verständlich, wenn man bedenkt, dass »je nach Lage und Stellung des Menschen […] das Wahre (das Unverborgene) ein anderes« ist. 92 Nur durch die Stellung im Licht erhält der Mensch einen Blick auf die Dinge. Erst wenn der von seinen Fesseln befreite Mensch mit der gewaltigen Helle der Sonne vertraut geworden ist, kann er im Licht stehen und eigentlich sehen. Heideggers Verständnis des Lichtes ist als Zeitverständnis zu deuten. Dies wird deutlich, wenn Heidegger sagt, dass »das Licht selbst und zuletzt die Sonne als das Licht-gebende, – als das, was die Zeit gibt, von der alles Seiende ist, als das, was alles verwaltet und durchwaltet, was sogar Grund ist des in der Höhle Sichtbaren, der dortigen Schatten und des Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 25. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 34. 89 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 35. 90 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 55. 91 Aus dieser Interpretation der Helle und des Lichtes heraus behauptet Heidegger, dass gerade die Ideen bei Platon, sofern sie das Sein des Seienden bedeuten, als das Licht konzipiert wurden. »Das Sein, die Idee, ist das Durchlassende: das Licht« (Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 57). 92 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 42. 87 88
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dortigen Lichtes und Feuers« ist. 93 In der Helle zu bleiben heißt auch, in der eigentlichen Zeit und ihrer Gabe zu stehen. Heidegger geht es um eine Stellung, in der das Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit bewahrt wird. Die Befreiung des Gefesselten im Höhlengleichnis gibt jedoch nicht nur die negative Bestimmung der Freiheit als Ungebundenheit. Der von seinen Fesseln Befreite hat zwar nun »in sich keinen Stand und Halt«; »der Ungebundene wird unsicher, verwirrt, hilflos, findet sich nicht zurecht«. 94 In dieser Haltungslosigkeit ist aber auch die positive Seite der Freiheit deutlich zu erkennen, nämlich dass Freiheit nicht nur Freisein-von bedeutet, sondern vielmehr Freisein-für: 95 »Eigentliches Frei-werden ist ein entwerfendes Sich-binden, – kein bloßes Zulassen einer Fesselung, sondern das Sich-selbst-für-sich-selbst-eineBindung-geben, und zwar eine solche, die von vornherein im voraus verbindlich bleibt, so daß jedes nachkommende Verhalten im einzelnen dadurch erst ein freies werden und sein kann.« 96 Das eigentliche Freisein kann nur durch den Prozess des Freiwerdens erreicht werden. Das Freisein ist allererst zu gewinnen. Das Freisein im Modus des Freiseinsfür stellt die höchste Weise der Freiheit dar. Dieses eigentliche Freisein heißt demgemäß gerade nicht, bindungslos, ungebunden zu sein, sondern das Gegenteil: Nur aus dem eigentlichen Freisein heraus kann der Mensch eine eigentliche Bindung ausbilden, eine gewisse Verbindlichkeit, die für den Menschen nicht bloß äußerlich oder nebensächlich ist, sondern aus der Mitte seines Daseins kommt. Eine solche Bindung mit etwas – sei es mit Dingen oder mit anderen Menschen – bindet eigentlich nur, weil sie nicht von »außen« angenommen wurde, sondern aus dem eigenen Freisein stammt. Schon in der Vorlesung vom WS 1929/30 hat Heidegger dies gesehen: »So ist der Entwurf in sich das Geschehen, das Verbindlichkeit als solche entspringen läßt, sofern dieses immer eine Ermöglichung voraussetzt.« 97 Freiheit heißt demzufolge eine eigentlich bindende Bindung: »Dieses Sichbinden ist höchstes Verhältnis zur Freiheit, ist das Freisein Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 43. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 58. 95 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 58. 96 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 59. Vgl. auch: Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 159: »Freisein ist jetzt nicht: abgelöst werden von etwas, sondern hingeführt werden zu etwas. Nicht frei sein von, sondern frei werden für etwas.« 97 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 528. 93 94
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selbst.« 98 Ist das Dasein wahrhaft frei, unterhält es eine lebendige Bindung mit der Welt, mit den anderen und mit sich selbst. Wäre Heideggers Philosophie Nihilismus, gäbe es diesen Gedanken nicht. Dieses Sichbinden, das das »höchste Verhältnis zur Freiheit« ist, kann aber nur ein Sichbinden an das »Durchlässige« sein, 99 das heißt ein Sichbinden an die Lichtung. Diese Lichtung ist hier in einem ähnlichen Sinne zu verstehen wie die »Waldlichtung«, also »eine Stelle, die frei ist von Bäumen und frei-gibt den Durchgang, den Durchblick. Lichten heißt also freigeben, freimachen.« 100 Nur wenn die Bindung sich an das bindet, was sich freigibt, kann sie eine eigentliche Bindung sein. 101 Da das Licht das Freigebende ist, die Freigabe aber nur eine in der Zeit ist, lässt sich die eigentliche Bindung an nichts anderes als an die Zeit binden. Die eigentliche Bindung ist das »Freiwerden für das Seiende, das Ins-Licht-sehen«, und das heißt zugleich, »den Seinsentwurf« 102 zu vollziehen, ein Verhältnis zur eigentlichen Zeit zu gewinnen. Aus diesen Überlegungen folgt, dass Freiheit die entscheidende Vorausetzung für einen eigentlichen Seinsentwurf ist. 103 Der Zusammenhang von Freiheit, Licht und Seiendem bringt gerade das Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit zur Geltung. Der Mensch, der sich an die Lichtung bindet, bezieht sich in ausgezeichneter Weise auf die Wahrheit. Dieses Stehen in der Wahrheit wird Heidegger dann später vorsichtiger als das Wohnen in der Nähe der Wahrheit des Seins wieder aufgreifen. Heidegger erzählt also die Geschichte des Höhlengleichnisses als eine Geschichte der Befreiung des Menschen. Im Höhlengleichnis geht es für ihn um »die Befreiung und Erweckung der innersten Macht des Wesens des Menschen«. 104 Das heißt aber: Es geht um das Bewusstmachen des wechselseitigen Verhältnisses von Mensch und Wahrheit. Das Gleichnis Platons zeigt sich so als eine Aufforderung zur eigentlichen Verbindlichkeit, als Ruf nach dem eigentlichen Ethos. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 160. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 160. 100 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 59. 101 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 59: »Das Licht lichtet; also ins Licht sehen meint: im voraus zu dem sich verhalten, was frei-gibt.« 102 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 61. 103 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 64: »Freiheit als das Sich-binden an das im vorgreifenden Entwurf vorgebildete Sein.« 104 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 112. 98 99
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Dies wird in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik, die Heidegger einige Semester später hält, explizit. Heidegger identifiziert das, »was auf Bindung aus Freiheit und auf Zuweisung aus Überlieferung beruht; was freie Verhaltung und Haltung, was Gestaltung des geschichtlichen Seins des Menschen betrifft«, mit dem Ethos. Das Ethos ist aber nicht mit seinem moralischen Verständnis – mit dem, was »unter dem Einfluß der Moral zum Ethischen herabgesetzt wurde« 105 – zu verwechseln. Es geht um ein Ethos, das sich als die Bewahrung des Geheimnisses, als das Sichhalten des Menschen im unauflösbaren Wechselspiel von Wahrheit und Unwahrheit vollzieht. Offenbar versucht Heidegger sowohl in Sein und Zeit als auch in seinen späteren Texten dem menschlichen Dasein ein eigentliches Wahrheitsverständnis anzubieten. Die Aufklärung der Seinsweise der Wahrheit wird zu einer Erweckung des Daseins für die Wahrheit. Die jeweils unterschiedliche Akzentuierung der Wahrheitsproblematik entspricht den Unterschieden in dem, was es jeweils zu erwecken gilt: In Sein und Zeit kommt es darauf an, die eigentliche Wahrheit als »Wahrheit der Existenz« zu zeigen, die das Dasein selbst übernehmen muss. Diese Übernahme der Wahrheit der Existenz fordert, dass das Dasein entschlossen ins Handeln zurückkehrt und augenblicklich darin verweilt. Im Handeln wach zu verweilen heißt gerade, sich dort aufzuhalten, wo die Wahrheit als Entdecktheit geschieht, nämlich im Augenblick. 106 Im Unterschied zu diesem eigentlichen Modus des Aufenthaltes in der Fundamentalontologie wird der Aufenthalt, den es als eigentlichen Aufenthalt des menschlichen Daseins freizusetzen gilt, in Heideggers Denken nach Sein und Zeit konsequent aus der Wahrheitsproblematik aufgefasst, die nun nicht mehr auf die Dimension des Handelns beschränkt ist. Das Sichaufhalten im pragmatischen Handeln besagt eine Möglichkeit der Erfahrung der Offenbarkeit des Seienden unter anderen. Entscheidend ist nun, dass die Offenbarkeit des Seienden in einer gegenüber dem Handeln ursprünglicheren Dimension gründet, in der Enthüllung von Sein. Weil die Wahrheit beim jungen Heidegger vor allem als die WahrHeidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 18. Vgl. McNeill, The Time of Life, 97: »The situation of action can be seen only in the moment of action itself, in the moment in which one finds oneself faced with having to act, that is, to participate in disclosing the truth of one’s worldly Being as best one can, and to act accordingly.« 105 106
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heit im Handeln verstanden wird, versteht man seine Hervorhebung des Augenblicks. Denn der Augenblick ist die Zeit der Situation. Existiert das Dasein augenblicklich, hält es sich im Augenblick auf, dann existiert es im Modus der eigentlichen Existenz. Nur wenn das Dasein die Zeit auf diese Weise erfährt, erfährt es zugleich, dass das ursprüngliche Verstehen von etwas ständig einer Wiederholung bedarf. Sinn gibt es nicht ein für alle Mal, sondern Sinn ist zeithaft und daher begrenzt. Auch beim späteren Heidegger lässt sich der Sinn von Sein, dessen Wahrheit also, nur augenblicklich erfahren. Aber jetzt ist es nicht mehr so, dass das Dasein im Augenblick bleiben soll, um sich auf das Sein eigentlich zu beziehen, sondern zum Sein selbst gehört der Augenblick. Oder anders ausgedrückt: Während in seinem Frühwerk der eigentliche Zugang zum Sein nur durch die eigentliche Zeitlichkeit des Daseins und die eigentliche Gegenwart des Augenblicks möglich ist, trägt in Heideggers Spätphilosophie das Sein die augenblickliche Zeit in sich. Das »Wohnen in der Nähe des Seins« oder der »Aufenthalt im Sein« können, wie sich zeigen wird, nicht ohne eine augenblickliche Zeit verstanden werden. Im Frühwerk Heideggers wird ein eigentümlicher Aufenthalt in der Wahrheit angestrebt, nämlich derjenige in der Wahrheit der Phronesis, im Handeln. 107 In der Ausarbeitung dieser Haltung spielen Begriffe wie »Jeweiligkeit« und »Kairos« (Augenblick) eine entscheidende Rolle. Nach Sein und Zeit geht es nun nicht mehr um diesen Aufenthalt beim Handeln, sondern um einen Aufenthalt an einem anderen, noch radikaleren und intensiveren Ort: in der Wahrheit des Seins. Wichtig ist, für den Moment festzuhalten, dass Heidegger, obwohl beide Aufenthaltsmodi verschieden sind, seiner Grundüberzeugung treu bleibt: Es kann keinen eigentlichen Aufenthalt des Menschen ohne die Dimension der Wahrheit geben. Das Sokratische in der Philosophie Heideggers bleibt somit unberührt. Aus Heideggers radikalisierter Wahrheitsauffassung ergibt sich sowohl seine kommende Auseinandersetzung mit der Metaphysik als auch das Denken der Seinsgeschichte. Die Geschichte des Seins beschreibt dasjenige Seinsverständnis, das mit der Metaphysik beginnt 107 Vgl. McNeill, The Time of Life, 97: »Phrone ¯ sis is concerned with the disclosure and accomplishment of the truth of Being – for Aristotle, of one’s own finite and temporally determined Being in the situation of action – and not with the discovery or knowledge of an already existing truth.«
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Heideggers Auslegung des Höhlengleichnisses
und bis in das moderne Zeitalter der Technik hinein prägend ist. Das Seinsverständnis versteht das Sein aus dem Seienden und nicht aus der ursprünglicheren Frage nach der Wahrheit des Seins. Am Ende zeigt sich die Metaphysik als in ihrer Frage nach dem letzten Fundament des Seienden blind gegenüber dem Geheimnis, das die Wahrheit des Seins eigentlich ist. Die Metaphysik bleibt in ihrem Anspruch auf eine Bestimmung des Seins so nahe am Seienden, dass sie das Sein selbst, das sie eigentlich sucht, verfehlt. Somit wird die Metaphysik von Anfang an von einer radikalen Seinsvergessenheit durchgezogen, und gerade gegen dieses Vergessen richtet sich Heideggers Denken. Doch die Seinsvergessenheit ist nicht bloß Resultat einer menschlichen Unachtsamkeit, sondern sie gründet in der Wahrheit des Seins selbst. Die Geschichte des Seins ist nicht allein die einer menschlichen Wahl. Die Wahrheit des Seins ist das Spiel von Unverborgenheit und Verborgenheit derart, dass es zur Wahrheit ursprünglich gehört, zu irren. Die Wahrheit verbirgt sich, und das heißt: Sie ermöglicht ihr eigenes Vergessen. Somit zeigt sich die Seinsgeschichte als die Geschichte eines Irrtums, der in der Vergessenheit des Seins beruht.
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Kapitel VI: Zwischen Seinsgeschichte und Ereignisdenken: Heideggers Ethosdenken im Zeitalter der Heimatlosigkeit
In der Philosophie Heideggers nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit ist eine leichte, aber bedeutsame Verschiebung im Verhältnis von Sein und Dasein zu bemerken. Das erschwert, wenn man mit Heideggers Frühwerk vertraut ist, die Beschäftigung mit seinem späteren Denken. Sein Neuansatz im Zeichen des seinsgeschichtlichen Denkens unterscheidet sich erheblich vom fundamentalontologischen Projekt der Frühphilosophie. Selbst wenn in Sein und Zeit die Problematik der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit bereits eingeführt wurde, entspricht sie nicht ohne Weiteres Heideggers späterer seinsgeschichtlicher Fragestellung. Nur wenn Heideggers Spätdenken in seinen inneren Strukturen und allgemeinen Zügen aufgeklärt wird, lässt sich fragen, ob in diesem Denken die Frage nach der Möglichkeit eines exemplarischen Aufenthaltes des Menschen noch eine zentrale Rolle spielt. Erst dann wird man in der Lage sein zu entscheiden, wie dieses Denken sich auf sein früheres Philosophieren und auf die Suche nach dem genuinen Ethos des Menschen bezieht. Aber nicht nur das. Da Heidegger im Humanismusbrief auf die »ursprüngliche Ethik«, das heißt auf ein Denken, das »die Wahrheit des Seins als das anfängliche Element des Menschen als eines eksistierenden« denkt, hinweist 1 und gerade die Wahrheit des Seins dasjenige ist, das im Vordergrund des seinsgeschichtlichen bzw. des Ereignisdenkens steht, dann ergibt sich daraus, dass mit der Aufklärung dieses Denkens zugleich der Zugang zum Verständnis der ursprünglichen Ethik gewonnen wird. Eine solche Aufklärung wird umso dringender, wenn man sieht, dass die bei Heidegger angekündigte Überwindung der Metaphysik sich mit der Hervorhebung eines bestimmten Aufenthaltes des Menschen verbindet. In der Heraklit-Vorlesung aus dem SS 1944 sagt Heidegger, dass das Wissen der »Ethik« – als das Wissen des Aufenthaltes des Men1
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schen inmitten des Seienden – zu verdeutlichen versucht, »wie der Mensch in diesem Aufenthalt sich an das Seiende hält und so sich selbst behält und hält«. 2 Der Mensch steht »im Æqo@« 3 und bezieht sich durch dieses auf das Seiende im Ganzen. Das Ethos ist somit ursprünglicher als der Logos, denn der »lgo@ ist […] nur ein Sonderfall unter den übrigen möglichen menschlichen Verhaltungsweisen«. 4 Das spezifische Verhalten, das der Logos ist, setzt den Aufenthalt des Menschen, das Ethos, voraus, in dem alle Verhaltensweisen enthalten sind. Der Logos als ein spezifisches, nämlich »aussagendes« Verhalten gehört somit zum Ethos. 5 Die Ethik als »das Wissen vom menschlichen haltungsmäßigen Verhalten« zeigt sich als »das umfassendere Wissen, das die Logik einschließt«. 6 Heidegger bezeichnet deshalb die Logik als eine »besondere Ethik«. 7 Zur »Ethik des aussagenden Verhaltens«, 8 also zu der besonderen Ethik, die die Logik ist, gehört jedoch nicht das Wissen um den Wesensaufenthalt des Menschen. Dieser eigentümliche Aufenthalt ist ein »ungewöhnlicher Standort«, ein Ort, den der Mensch erst suchen muss. Der Mensch »muß« erst nach dem Ort fragen, »an dem [er, D. A.] seinem Wesen nach den Aufenthalt hat.« 9 Gerade dieser Aufenthalt steht in einem wesentlichen Bezug zum Hören: Im »zwiespältig zwiefältigen Aufenthalt« kennt der Mensch die »Not«, »auf den Lgo@ zu hören.« 10 Aber auch umgekehrt findet der Mensch seinen Wesensaufenthalt nur, wenn der Logos selbst vernehmlich geworden ist. »Das eine gehört mit dem anderen zusammen.« 11 Die Auszeichnung des Menschen ist deshalb für Heidegger das Ethos. 12 Doch gerade hier zeigt sich bereits die Metaphysik als Verfall: Vgl. Heidegger, Heraklit, GA 55, 214. Heidegger, Heraklit, GA 55, 216. 4 Heidegger, Heraklit, GA 55, 216. 5 Heidegger, Heraklit, GA 55, 216. 6 Heidegger, Heraklit, GA 55, 216. Vgl. auch Heidegger, Heraklit, GA 55, 216–217: »Sofern der Mensch in seinen universalen Bezügen und Verhaltungsweisen zum Seienden im Ganzen gesehen und in diesem Sinne aus dem Ganzen gedacht wird, ist er durch das Æqo@ bestimmt.« 7 Heidegger, Heraklit, GA 55, 216. 8 Heidegger, Heraklit, GA 55, 223. 9 Heidegger, Heraklit, GA 55, 325. Vgl. auch Heidegger, Heraklit, GA 55, 344. 10 Heidegger, Heraklit, GA 55, 325. 11 Heidegger, Heraklit, GA 55, 325. 12 Vgl. Heidegger, Heraklit, GA 55, 217. 2 3
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Obwohl das Ethos gegenüber dem Logos vorrangig ist, lautet die Definition des Menschen bereits am Anfang der Geschichte der Philosophie nicht »˝nqrwpo@ z†on Æqo@ ˛con«, das heißt, »der Mensch ist dasjenige Lebewesen, dessen Eigenstes und Auszeichnendes das Æqo@ ist«, sondern »das Wesen des abendländischen Menschen« nimmt »das Gepräge des z†on lgon ˛con« an. 13 Die Geschichte des Seins ist dementsprechend nicht nur die Geschichte der Seinsvergessenheit, sondern zugleich der Ethosvergessenheit.
1.
Übersicht über das Ereignisdenken
Die Möglichkeit der Erschließung des Seins hängt in Heideggers Spätwerk nicht mehr wie in Sein und Zeit von der ontischen Daseinsweise und dem ontologischen Entschlossensein des je eigenen Daseins ab, 14 sondern davon, wie sich das Sein selbst gibt. 15 Das Moment der Negativität, des Entzugs, wird nicht mehr aus dem Dasein und seinem endlichen Transzendenzbezug konzipiert, sondern gehört zum Sein selbst: Während in Sein und Zeit die Sorge selbst als Grundzug des menschlichen Daseins »in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt [ist]«, 16 wird das Nichtige später als konstitutives Moment des Seins selbst verstanden, nicht als Moment der das Sein erschließenden Sorge. Nun es ist für Heidegger so, dass das Sein selbst sich zeigt und sich entzieht. 17 Das Sein wird geschichtlich, es wird zum Ereignis. Das Denken des Ereignisses – dieses Wort ist seit 1936, wie Heidegger berichtet, das »Leitwort« seines Denkens geworden 18 – löst die in Sein und Zeit offengebliebene Frage nach dem Zeitcharakter des Verhältnisses von Dasein und Sein. 19 Das Ereignis ist für Heidegger »Wesung des Heidegger, Heraklit, GA 55, 217. Siehe das III. Kapitel dieser Arbeit. 15 Vgl. Karl Löwith, Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, Stuttgart 1984, 29: »Worauf es vor allem ankommt ist aber nicht mehr, wie in ›Sein und Zeit‹, das subjekthafte, daseinsmäßige Fundament der Wahrheit, sondern das Sein selbst, das in seinem An- und Abwesen die Wahrheit selbst ist, sie gibt und gewährt oder entzieht und versagt, wogegen das Dasein herab-, beziehungsweise heraufgesetzt wird zur ›Ortschaft‹ der Wahrheit des Seins.« 16 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 378. 17 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 335. 18 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 316. 19 Erst mit dem Ereignisdenken wird die ontologische Differenz angemessen ausgear13 14
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Seyns«.20 Mit dem Wort »Wesung« versucht Heidegger auf den dynamischen Charakter des Ereignisses aufmerksam zu machen. 21 Dasselbe gilt für das Wort »Seyn«. Die altdeutsche Schreibweise »Seyn«, die Heidegger in seinem Spätwerk verwendet, soll zeigen, dass das Sein nicht bloß metaphysisch zu verstehen ist. Das metaphysisch verstandene »Sein« weist auf eine Anwesenheit hin, in der die Beweglichkeit bzw. die Geschichtlichkeit des »Seyns« verstellt ist. Das Ereignis als Wesung des »Seyns« »ist« streng genommen nicht, sondern es »west«. 22 Das Sein wird nicht mehr durch die endliche Existenz des Daseins jeweils erschlossen bzw. bleibt dem Dasein verschlossen, sondern diese Unzugänglichkeit gehört zum »Seyn« als dessen Sichverschließen und Sichabschließen selbst. »Das Seyn ist Sichverbergen.« 23 Das zuvor nötige ontische Fundament (das Dasein) spielt daher eine andere Rolle als in Sein und Zeit – die freilich keine sekundäre ist. Im Unterschied zu Sein und Zeit wird die Geschichte nicht als Geschichte des Daseins verstanden, 24 sondern als Seinsgeschichte. Heidegger identifiziert die menschliche Geschichte mit der der abendländischen Philosophie: »Der Satz: die Philosophie ist in ihrem Wesen griechisch, sagt nichts anderes als: das Abendland und Europa, und nur sie, sind in ihrem innersten Geschichtsgang ursprünglich ›philosophisch‹.« 25 Die Philosophie ist nicht nur das, »was erstmals die Existenz des Griechentums bestimmt«, sondern sie bestimmt zugleich »den innersten Grundzug unserer abendländisch-europäischen Geschichte«. 26 Dass »Philosophie selbst das Grundgeschehen unserer Daseinsgeschichte« sein soll, 27 macht noch einmal deutlich, dass der Mensch beitet. Mit Heideggers Ereignis-Denken wird verständlich, dass die ontologische Differenz nichts ist, das das Dasein hervorbringt, sondern etwas, was dem Dasein geschieht, und zwar durch den Sprung. 20 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 7. 21 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 66: »Das Wesen ist nicht das Allgemeine, sondern die Wesung gerade der jeweiligen Einzigkeit und des Ranges des Seienden.« 22 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 30. 23 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 174. Vgl. auch Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 360. 24 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 513: »Geschehen der Geschichte ist Geschehen des In-der-Welt-seins.« 25 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, GA 11, 10. 26 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, GA 11, 9. 27 Heidegger, Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, 17. A
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bei Heidegger grundsätzlich als ein »Homo philosophicus« betrachtet wird, 28 wenn auch in einem anderen Sinn, als es bisher entwickelt wurde. Sofern die Philosophie »in sich die Grundart [ist], wie der Mensch inmitten des Seienden zu diesem sich verhält«, 29 zeigt sich die Geschichte der Philosophie und die abendländische Geschichte als ein einziges Phänomen. Die Geschichte der Menschheit ist somit nichts anderes als die »Geschichte des Seyns«, 30 die Geschichte desjenigen, das die Metaphysik als Sein versteht. Da die Metaphysik das Sein nur noch als Anwesenheit konzipiert und die Wesung des »Seyns« als Ereignis unbeachtet bleibt, zeigt sich die Geschichte des Seins in Wirklichkeit als die Geschichte der »Seinsvergessenheit«. 31 Wie das menschliche Dasein zum Sein steht, wählt es nicht selbst, sondern dies geschieht im Rahmen der Seinsgeschichte. Die Seinsgeschichte ist aber nichts anderes als die geschichtliche Entwicklung des metaphysischen Seinsverständnisses, das sich seit den Griechen und bis heute in vielfältiger Weise entfaltet hat. Heidegger denkt aber zugleich, dass das Seinsverständnis, das die jeweilige Weise unseres Bezuges zur Welt und zu uns selbst erst ermöglicht, dem epochalen Wesen der Wahrheit entspricht. Das Seinsverständnis ist epochal zu verstehen, das heißt als eine geschichtliche »Schickung« 32 des Sinnes von »Seyn«, die dem Dasein zugeschickt wird. Im Spätwerk Heideggers meint Dasein aber zugleich eine Gemeinschaft von Menschen, so dass die verschiedenen Epochen der Menschheit nichts Geringeres als Manifestationen der geschichtlichen Schickung des »Seyns« oder, genauer gesagt, von dessen Wahrheit sind. Wir wissen, dass Heidegger die Begriffe von »Gemeinschaft« und »Volk« bereits in Sein und Zeit einführt. Doch erst seit der letzten Marburger Vorlesung vom SS 1928 gewinnt sein Verständnis des Daseins als einer Pluralität Konturen. Dabei setzt Heidegger das Dasein in Bezug auf »die innere Möglichkeit eines jeden konkreten faktischen Menschentums«, 33 auf die Möglichkeit für das »gattungshafte Zusammenstreben und die gattungshafte
Vgl. Marten, Die Griechen und die Deutschen, 132. Heidegger, Parmenides, GA 54, 179. 30 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, GA 69, 93. 31 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 21. 32 Heidegger, Zeit und Sein, GA 14, 13. 33 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 172. 28 29
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Einigung«. 34 In der Auffassung des Daseins als Gemeinschaft wird nun auch die Zeit im Anschluss an den Entwurf des Seins verstanden. 35 Das auf die Zeit entworfene Sein geschieht »als Geschichte eines Volkes«. 36 Dieser Seinsentwurf geht vom Sein aus und bedeutet den Entwurf einer Welt aus dem Sein in der Zeit. Der Weltentwurf hat mit einer Zeit zu tun, die zugleich eine Gemeinschaft betrifft. 37 Dies ist entscheidend, denn, wie Manfred Riedel interpretiert: »Sein ›west‹ nicht für sich, sondern im geschichtlichen Aufenthalt eines Menschentums an: als Anwesendes. Anwesen währt nur, indem es den Menschen an-geht, an-spricht, an-blickt usf.« 38 Das Ereignis braucht den geschichtlichen Aufenthalt einer Gemeinschaft, um überhaupt erscheinen zu können. Die Seinsgeschichte versteht Heidegger als ein »Geschick des Seins«. 39 Mit diesem »Geschick« wird dem Menschen ein bestimmtes, epochales Seinsverständnis »zugeworfen«, das sich geschichtlich erfahren lässt und das im Hintergrund der Geschichte steht. »Die 3Alffiqeia ist das Geschick des Seins, als welches Geschick sich die Fülle der Seinsgeschichte in ihre Epochen fügt.« 40 Im Abendland zeigt sich das Seinsgeschick in mannigfaltiger Weise, nämlich in Gestalt von verschiedenen Welten. Die Geschichte des Menschen ist aber nur durch das eine Geschick des Seins bestimmt. Wie Heidegger im Vortrag Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ sagt: »In jeder Phase der Metaphysik wird jeweils ein Stück eines Weges sichtbar, den das Geschick des Seins in jähen Epochen der Wahrheit über das Seiende sich bahnt.« 41 Somit wird der Verfall der abendländischen Metaphysik im Lichte der Seinsgeschichte, das heißt in der epochalen Auffassung der Wahrheit des Seins, gedeu34 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 175. 35 Vgl. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 109. Günter Figal kann deshalb sagen: »Indem Heidegger nun ›Dasein‹ gerade nicht mehr als ›je meines‹ versteht, verschafft er sich die Möglichkeit, Gemeinschaft auch als etwas zu denken, was sich mit der in einem Seinsentwurf zur Sprache kommenden Welt erst bildet.« 36 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 145. 37 Vgl. McNeill, The Time of the Life, 120: »Yet Dasein’s past is never simply its own, individual past, but is also and before of this the historically determined past of a particular historical community and historical world, a past destined to it in advance and onto which it is thrown: a past that approaches Dasein in its very facticity.« 38 Vgl. Riedel, Aufenthaltsdeutung, 105. 39 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 335. 40 Heidegger, Die Gefahr, GA 79, 49. 41 Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, GA 5, 210.
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tet. »Aus der Epoche des Seins« geschieht die »Weltgeschichte«, denn »jedesmal, wenn das Sein in seinem Geschick an sich hält, ereignet sich jäh und unversehens Welt.« 42 Die Geschichte der Metaphysik, so der spätere Heidegger, ist durch und durch von der Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit durchgezogen. 43 Zugleich mit dem im alten Griechentum vollzogenen Anfang der Metaphysik beginnt sie auch schon zu verfallen. 44 Obwohl in jeder geschichtlichen Epoche – Griechentum, Mittelalter und Neuzeit – eine neue Welt eröffnet wird, in der jedes Mal ein unterschiedlicher Seinsentwurf gebildet wird, bleibt eine Spur, die die Einheit der abendländischen Geschichte ausmacht: Seit dem griechischen Anfang der Metaphysik herrscht ein Denken, das – im Unterschied zu Heideggers Philosophie – die eigentliche und einzige Sache des Denkens, die Wahrheit des »Seyns«, nicht zu denken vermocht habe. Dieses Denken ist ein bestimmendes, das durch das vergegenständlichende Vorstellen und das kategoriale Sicherstellen von Erkenntnis charakterisiert wird. Dieses metaphysische Denken prägt die Geschichte der Metaphysik, und zwar in einer doppelten Bewegung: einerseits als ein technisches Denken und andererseits als ein »onto-theo-logisches Denken«. 45 Gegen beide Richtungen des metaphysischen Denkens richtet sich Heideggers seinsgeschichtliches Denken. Die herrschende Verdeckung des Seinsverständnisses im Sinne des seinsgeschichtlichen Denkens ist kein willkürliches Unglück, sonHeidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 338. Vgl. Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, GA 5, 263: »Die Geschichte des Seins beginnt und zwar notwendig mit der Vergessenheit des Seins.« 44 In der Einleitung zu Was ist Metaphysik? aus dem Jahr 1949 sagt Heidegger dies deutlich: »Inzwischen bleibt der Metaphysik während ihrer Geschichte von Anaximander bis zu Nietzsche die Wahrheit des Seins verborgen« (Heidegger, Einleitung zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 369). Mit Platons »Joch der Ideen« und mit Aristoteles’ Verständnis des »Seins als Anwesenheit« beginnt die Metaphysik einen Weg, der durch die Verdeckung und das Vergessen des Seins geprägt wird. Nietzsches »Umwertung aller Werte« vollendet diese Geschichte der Metaphysik und überwindet sie nicht. Die Metaphysik als die Geschichte der Wahrheit des Seienden ist für Heidegger vielmehr ihrem Wesen nach Nihilismus. Die Geschichte des Nihilismus beginnt mit der Geschichte des Seins, jedoch nicht von ungefähr, sondern aufgrund der Seinsweise des Seins selbst. Das geschichtliche Sein, so Heidegger, entzieht sich, und deshalb zeigt sich die Geschichte der Metaphysik als Geschichte der Seinsvergessenheit. 45 Heidegger, Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, GA 11, 63: »Die Metaphysik ist Onto-Theo-Logie«. Vgl. auch Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), GA 42, 87. 42 43
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dern »das böse Geschick des Seins«. 46 Die Seinsvergessenheit ist für Heidegger »freilich als Ereignis zu denken, nicht als ein Fehler«, 47 denn das Moment des Entzugs, des Nichthaften, ist im Ereignis wesentlich. 48 Mit dem Anfang der Metaphysik ist daher ihr Verfall schon im Gange. Die Geschichte dieses Verfalls beginnt mit dem ersten metaphysischen Anfang, der nach der Wahrheit des Seienden fragt. Dem ersten Anfang der Philosophie, der weder das Sein als solches noch den Unterschied zwischen Sein und Seiendem denkt, 49 soll ein anderer Anfang folgen: »Im anderen Anfang wird die Wahrheit erkannt und gegründet als Wahrheit des Seyns und das Seyn selbst als Seyn der Wahrheit, d. h. als das in sich kehrige Ereignis, zu dem die innere Ausfälligkeit der Zerklüftung und somit der Ab-grund gehört.« 50 Weil aber »unsere Stunde […] das Zeitalter des Untergangs [ist]«, 51 wird das Denken Heideggers zur Vorbereitung und Bereitschaft für den anderen Anfang, in dem die Zugehörigkeit zum Ereignis als das entscheindende Moment gedacht wird.
2.
Das Ereignis und die Inständigkeit im Da-sein: Aufenthalt im Sein
Durch das andere, also das Ereignisdenken versucht Heidegger nicht nur eine neue Verwurzelung der Philosophie in der Welt zu erreichen, sondern zugleich die Möglichkeit einer neuen Bodenständigkeit für den Menschen zu denken. Es geht darum, »dem geschichtlichen Dasein eine Bodenständigkeit zurückzugewinnen«. 52 Das seinsgeschichtliche Denken bringt somit auch ein Ethosdenken zur Sprache. In der Einleitung zu Was ist Metaphysik? nimmt Heidegger das Bild Descartes’ auf, der die Metaphysik mit einem Baum vergleicht und fragt: »In welchem
Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 353. Heidegger, Einleitung zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 370. 48 Dieser Gedanke kommt bei Heidegger oft zur Sprache: Vgl. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 7, 134: »Entzug ist hier Vorenthalt und ist als solcher – Ereignis.« Siehe auch: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 29, 267 und 342. 49 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 322. 50 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 185. 51 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 397. 52 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 43. 46 47
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Boden finden die Wurzeln des Baumes der Philosophie ihren Halt?« 53 Diese Frage soll zeigen, dass allein die Wahrheit des Seins (und nicht metaphysische Bestimmungen) dem Menschen und der Philosophie einen Boden gibt. 54 Durch das wesentliche, nicht metaphysische Denken wird sich der Mensch erst seines eigentlichen Wohnens bewusst. Der Mensch wohnt seinem Wesen nach in der Nähe zum Sein, jedoch »ohne daß er es heute schon vermag, dieses Wohnen eigens zu erfahren und zu übernehmen.« 55 Bei Heideggers seinsgeschichtlichem Denken handelt es sich deshalb um einen Abstieg in die Nähe des Seienden. 56 Das Seiende als das Offenbare ist das uns Bekannte und Gewöhnliche. »Was uns zunächst begegnet, ist nie das Nahe, sondern immer nur das Gewöhnliche. Ihm eignet die unheimliche Macht, daß es uns des Wohnens im Wesenhaften entwöhnt, oft so entschieden, daß es uns nie in das Wohnen gelangen läßt.« 57 Das Ziel ist es also, durch das andere Denken das eigentliche Wohnen zu übernehmen. Heidegger versucht, ein Denken vorzubereiten, in dem »der Spielraum« gelichtet wird, in dem »das Sein selbst den Menschen hinsichtlich seines Wesens wieder in einen anfänglichen Bezug nehmen könnte«. 58 Wieder geht es Heidegger hier darum, eine Bodenständigkeit, einen bestimmten Aufenthalt zu gewinnen, in dem der Mensch sich auf die echte Verbindlichkeit der Wahrheit des Seins einlassen kann. Mit seinem Ereignisdenken zielt Heidegger vor allem darauf ab, die Zugehörigkeit des Wesens des Menschen, des »Da-seins«, zum Ereignis klar zu machen. Durch den Bindestrich im Wort »Da-sein« bringt Heidegger das wesentliche Bezogensein des Menschen auf das Sein zur Geltung. Das »Da« des Daseins ist das Moment der Anwesenheit des Seins, die es immer wieder neu zu gründen gilt. Seit dem Vortrag Vom Wesen des Grundes denkt Heidegger den Grund anders als die metaphysische Tradition. Deren Verständnis von Grund als Sein des Seienden führt zur Auffassung des Seins als beständige Anwesenheit. Gegen dieses Seinsverständnis entwickelt Heidegger sein Ereignisdenken, welches das Verständnis des Grundes – das er in Vom We53 54 55 56 57 58
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Heidegger, Einleitung zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 365. Vgl. Heidegger, Einleitung zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 366. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 337. Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 352. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 134. Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, GA 5, 210.
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sen des Grundes in die Formel von der »Freiheit zum Grunde« 59 gefasst hatte – tiefer artikuliert. Das Ereignis ist weder Grund noch beständig. Das Denken des Ereignisses ist das geschichtliche, nicht mehr metaphysische Seinsverständnis, zu dem die Negativität wesentlich gehört. Es geht bei Heidegger eigentlich darum, den Grund dynamisch zu verstehen, als Gründung. 60 Die Gründung des »Da-seins« ist für Heidegger erforderlich, denn einzig im »Da-sein« eröffnet sich das Ereignis: »Das Da-sein ist die Gründung der Wahrheit des Seyns.« 61 Daraus ergibt sich, dass »Dasein« in Bezug auf einen eigentümlichen Zeit-Raum verstanden wird, in dem sich die Wahrheit des »Seyns« zeigt. 62 Das »Da-sein« wird als »das Innehalten des Augenblicks und der Stätte der ersten Entscheidung« bezeichnet, 63 das heißt als das Innehalten der Entscheidung, die zwischen Seiendem und Nichts unterscheidet. Gerade dieses Unterscheidenkönnen des Daseins ist sein Aufenthalt: »Wir haben unseren Aufenthalt in der Unterscheidung des Seienden und des Seins.« 64 In dieser (wie Heidegger in den Beiträgen sagt) »Augenblicksstätte«, die das »Da-sein« ist, wird die für das »Seyn« erforderliche Offenheit zum Ausdruck gebracht. 65 Der Aufenthalt des Menschen in der Unterscheidung des Seienden und des Seins bleibt aber meist unbemerkt. »Wir entsprechen dieser Unterscheidung, ohne daß wir von ihr eigens wissen oder gar ihr Wesen und ihren Wesensgrund im Begriff haben.« 66 Wir merken es nicht, weil das Sein »das ist, worin wir versetzt sind«. 67 Und Heidegger fragt: »›Wo‹ sind wir denn ›da‹, wenn wir also in einen solchen Aufenthalt versetzt sind?« 68 Heidegger antwortet, dass dieser Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 165. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 77. 61 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 170. Vgl. auch Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 29. 62 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 308. 63 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 24. 64 Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 47. 65 Die Rede von der »Augenblicks-Stätte« in den Beiträgen weist für Otto Pöggeler darauf hin, dass »Sein und Nichts […] in eine Konstellation zusammen[gehören], in der das Nichts als ein Entzug jeweils nur eine begrenzte Offenheit von Sein zulässt, so auch die Spur zum Heiligen und Göttlichen ist und damit die Völker und Epochen in ihre jeweilige ›Einzigkeit‹ bringt« (Otto Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, 282). 66 Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 44. 67 Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 102. 68 Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 89. 59 60
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Aufenthalt ein Aufenthalt im Sein ist. Wenn dieser »Aufenthalt im Sein dasjenige [wäre, D. A.], worin sich erst jedesmal und woraus sich jeweils verschieden die Wesensart, der Wesensrang und die Wesensursprünglichkeit unseres geschichtlichen Menschenwesens entscheiden können«, »dann blieben wir der Wesensentscheidung über uns selbst überhaupt solange fern, als wir diesen Aufenthalt im Sein verleugnen.« 69 Deshalb sagt Heidegger, dass das »Da-sein« seinen Aufenthalt im Sein erst eigens erkennen muss: »Also auch nicht erst eine Versetzung in das Sein gilt es, sondern dies, daß wir unseres wesenhaften Aufenthaltes im Sein und so zuvor und eigentlich des Seins innewerden.« 70 Der Mensch als Dasein muss also verstehen, dass das Ereignis sein »Da-sein« braucht: »Das Seyn braucht den Menschen, damit es wese, und der Mensch gehört dem Seyn, auf daß er seine äußerste Bestimmung als Da-sein vollbringe.« 71 Es geht darum, zu erkennen, dass wir diejenige Offenheit sind, in der sich das geschichtliche Sichzeigen bzw. Sichverbergen des Seienden abspielt. Der Mensch als »Da-sein« ist der Ort, an dem das Innehalten der Wahrheit in ihrer eigenen Seinsweise, nämlich als »lichtende Verbergung«, geschieht. 72 Vergisst der Mensch, dass er »Da-sein« ist, wird das Ereignis zwar nicht unterbrochen, aber verdeckt. In diesem Sinne geht es in Heideggers Ereignisdenken darum, diese Inständigkeit im Da-sein zu fördern: »Das Selbstsein ist Wesung des Da-seins, und das Selbstsein des Menschen vollzieht sich erst aus der Inständigkeit im Da-sein.« 73 Die »Inständigkeit« als das Innestehen des Menschen in seinem Wesen als Dasein verkörpert die Möglichkeit seiner Selbstheit. Sie ist sogar ein Imperativ: »Sei inständig im Sein!
Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 89. Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 93. 71 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 251. Vgl. auch Heidegger, Die Kehre, GA 79, 70: »Das große Wesen des Menschen beruht darin, daß es dem Wesen des Seins zugehört, von diesem gebraucht ist, das Wesen des Seins in seiner Wahrheit zu wahren.« 72 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 308. 73 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 319. Vgl. auch Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 245: »Der Mensch ahnt das Seyn, ist der Ahnende des Seyns, weil das Seyn ihn sich er-eignet, und zwar so, daß die Er-eignung erst ein Sich-eigenes braucht, ein Selbst, welche Selbstheit der Mensch zu bestehen hat in der Inständigkeit, die innestehend im Da-sein den Menschen zu jenem Seienden werden läßt, das nur erst in der Wer-frage getroffen wird.« 69 70
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Das Ereignis und die Inständigkeit im Da-sein: Aufenthalt im Sein
Innestehen im Sein!« 74 Der Mensch ist demzufolge er selbst, wenn er sich an sein Wesen hält. Die Selbstheit des Menschen ist »Bahn und Reich der Zu-eignung und des Ursprungs des ›Zu‹ und ›Sich‹«, das heißt »der Grund für die Zugehörigkeit zum Seyn, die in sich schließt die Über-eignung (inständliche)«. 75 Diese »Über-eignung« gibt es aber nur, »wo zuvor und ständig Zu-eignung; beides aber aus der Er-eignung des Ereignisses« stattfindet. 76 Damit ist gesagt, dass das Ereignis zugleich »Er-eignung« ist und somit Ermöglichung der Selbstheit des Daseins. 77 Weil Besinnung das Fragen »nach der Wahrheit des Seyns« ist 78 und diese Wahrheit einen ihr entsprechenden Ort ihres Auftretens benötigt, führt jede Besinnung zur Selbstbesinnung. Hier zeigt sich Heideggers früherer Ansatz erneut: das Verhältnis wechselseitiger Bezogenheit von Selbstheit des Menschen, Aneignung des Eigenen und Verbindlichkeit. Diese Verbindlichkeit bezieht sich jedoch nicht mehr wie in Sein und Zeit auf den »Augenblick«, sondern auf das Ereignis. Der Mensch ist er selbst, indem er sich an seinem Wesen orientiert, so dass sich sein Wesen mit dem Ereignis verbindet. Heideggers Aufforderung zur »Inständigkeit im Da-sein« ist dementsprechend der Anspruch auf einen Aufenthalt des Menschen in der Zugehörigkeit zum Ereignis, auf seinen Wesensaufenthalt. Weil wir stets in das Sein »versetzt« sind, das heißt, in das Unterscheidenkönnen zwischen Seiendem und Sein, ohne dass wir diese »Versetzung« eigens erkennen können, zeigt sich die Zugehörigkeit zum Ereignis als eine Befreiung des Menschen. »Die Versetzung aber in diese Auseinandersetzung des Seins und des Seienden ist die Befreiung in die Zugehörigkeit zum Sein […] Die Versetzung in das Sein ist die Befreiung in die Freiheit. Diese Befreiung allein ist das Wesen der Freiheit.« 79 Dieser befreiende Aufenthalt des Menschen wird jedoch nicht um des Menschen willen gedacht, sondern einzig um das Ereignis freizulegen. Nur weil das Ereignis in einem inneren und wesentlichen Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen steht, stellt sich die Frage nach dem Wesen des Menschen. In der Einleitung zu Was ist Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 102. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 317. 76 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 317. 77 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 489. 78 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 43. 79 Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 68. Vgl. auch Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), GA 42, 15. 74 75
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Metaphysik? wird dies deutlich: »Im Dienst der Frage nach der Wahrheit des Seins« »wird eine Besinnung auf das Wesen des Menschen nötig«. 80 Es gelte, »die Humanitas zu diensten der Wahrheit des Seins, aber ohne den Humanismus im metaphysischen Sinne« 81 zu denken. Das Denken, das Heidegger in Anspruch nimmt, steht also vor allem im Dienste der Wahrheit des Seins. 82 Heideggers Aufforderung zu einem anderen Denken wird nur angemessen verstanden im Blick auf seine Kritik an der Metaphysik, ihrem bestimmenden, vorstellenden Denken und der modernen Technik, die sie hervorbringt. Das technische Zeitalter der Moderne bewegt sich zwischen der »völligen Fraglosigkeit« und der höchsten Not, der »Not der Notlosigkeit«. 83 Das berechnende Denken, das die Moderne leitet, bedeutet zugleich den Gipfel des metaphysischen Denkens und seines wenn auch verfallenen, so doch noch lebendigen Anfangs im Griechentum. Die moderne Technik bringt als »Machenschaft« 84 das zugreifende und kategoriale Vorstellen in seiner radikalsten Ausprägung zur Geltung. Dennoch soll in ihr eine Rettung zu finden sein, nämlich in der Anerkennung des eigentlichen Wesens der modernen Technik. 85
Heidegger, Einleitung zu »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 372. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 352. 82 Diese These wird noch deutlicher, wenn man die Beiträge hinzunimmt. Dabei stellt Heidegger den Vorrang der Seinsfrage vor der Frage nach dem Menschen sehr deutlich heraus: »Aber nicht jeder braucht dieses Seyn zum Tode zu vollziehen und in dieser Eigentlichkeit das Selbst des Da-seins zu übernehmen, sondern dieser Vollzug ist nur notwendig im Umkreis der Aufgabe der Grund-legung der Frage nach dem Seyn, eine Aufgabe, die allerdings nicht auf die Philosophie beschränkt bleibt« (Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 285). Aber auch in der Vorlesung vom SS 1935 stellt Heidegger fest: »Die Frage nach dem Menschsein ist jetzt in ihrer Richtung und Reichweite einzig aus der Frage nach dem Sein bestimmt« (Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 214). 83 Zur »Not der Notlosigkeit« vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 107, 113, 119, 234, 237 und zur »völligen Fraglosigkeit« Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 11, 108, 110. 84 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, GA 7, 89. 85 Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 53: »Daher ist das Fragen nach dem Seienden als solchem im Ganzen, das Fragen der Seinsfrage, eine der wesentlichen Grundbedingungen für eine Erweckung des Geistes und damit für eine ursprüngliche Welt geschichtlichen Daseins und damit für eine Bändigung der Gefahr der Weltverdüsterung und damit für ein Übernehmen der geschichtlichen Sendung unseres Volkes der abendländischen Mitte.« 80 81
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Das Ethos im Zeitalter der »totalen Machenschaft«
Das Ethos im Zeitalter der modernen Technik lässt sich zunächst an Heideggers Auffassung der Technik deutlich machen. Dieses Verständnis ist nicht auf den instrumental-anthropologischen Aspekt der Technik zu reduzieren, bei dem die Technik mit den vom Menschen hergestellten Apparaturen oder Prozessen identifiziert wird. Das Revolutionäre von Heideggers Ansatz liegt darin, dass das Wesen der Technik nichts in diesem Sinne Technisches ist: 86 »Die moderne Technik ist, was sie ist, nicht durch die Maschine, sondern die Maschine ist nur, was sie ist und wie sie ist, aus dem Wesen der Technik.« 87 Heideggers Kritik der Technik geht viel weiter als eine bloße Kulturkritik. Die vorschnelle Umformung seines Denken über die Technik in eine »Ethik der technischen Welt« bewertet Heidegger selbst als kontraproduktiv, denn »in dieser Vorstellung befangen, meint man, die Technik sei nur die Sache des Menschen, in ihr spreche kein Anspruch des Seins«. 88 Heidegger will die Technik in ihrer wesensmäßigen Zugehörigkeit zur Wahrheitsproblematik verständlich machen und sie keineswegs in einen Gegenstand moralischer Kritik umwandeln. Die Technik ist für Heidegger eine Möglichkeit des Entbergens, das heißt die Ermöglichung einer Wahrheitserfahrung. Das »Hervor-
Vgl. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 34; Heidegger, Die Gefahr, GA 79, 60. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 33. 88 Heidegger, Grundsätze des Denkens (III. Vortrag), GA 79, 123. Vgl. auch Heidegger, Grundsätze des Denkens (III. Vortrag), GA 79, 128: »Solange die heutige Besinnung auf die Welt der Atomenergie bei allem Ernst der Verantwortung nur dahin drängt, aber auch sich beruhigt, die friedliche Nutzung der Energien zu betrieben, bleibt das Nachdenken auf halbem Wege stehen. So wird die technische Welt durch den Menschen in ihrer metaphysischen Vorherrschaft weiterhin und erst recht gesichert.« Deshalb interpretiert Emil Kettering mit Recht: »Aus Heideggers Analysen von Technik und Wissenschaft folgt: Jeder Versuch, die durch die Technik und Wissenschaft hervorgerufenen Lebens- und Überlebensprobleme mit rein technischen und wissenschaftlichen Mitteln zu lösen, kann keine entscheidende Verbesserung erbringen, denn er verkennt von vornherein das Wesen der Technik und Wissenschaft« (Emil Kettering, NÄHE. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987, 245). Und er fährt fort: »Ebenso greifen alle ideologiekritischen Interpretationen von Wissenschaft und Technik zu kurz, wie sie durch den Marxismus und die Frankfurter Schule weltweite Verbreitung erfahren haben, denn sie bleiben im Soziologischen und Politischen stecken, anstatt zu den tieferliegenden metaphysischen Wurzeln der neuzeitlichen wissenschaftlich-technischen Weltauslegung vorzudringen« (Kettering, NÄHE, 245). 86 87
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bringen« 89 ist das ursprüngliche Wesen der Technik als die griechische Techne (tffcnh), die poietische Bewegung also, die für die Offenbarkeit des Seienden verantwortlich ist. Das Entscheidende im Wesen der Technik liegt somit keineswegs im Machen oder Hantieren, sondern in ihrem poietisch-entbergenden Wesen. Heidegger unterstreicht aber, dass die neuzeitliche Technik sich von der antiken Techne unterscheidet. Sie ist kein Hervorbringen, sondern nur noch ein »Herausfordern«. 90 Die Natur wird in der modernen Physik als »berechenbare Kräftezusammenhänge« und so als mögliche »Energiequelle« 91 entdeckt. Die Gewinnung, Speicherung und Nutzung von Energie ist das Wesentliche der neuzeitlichen und modernen Naturbetrachtung. In der Technik verfügen Menschen über die Natur als eine gespeicherte Energie, die nur gespeichert worden ist, um dann »bestellt« zu werden. Die Verfügbarkeit und »Bestellbarkeit« von Ressourcen verwandelt die Technik aus einem Hervorbringen in ein Herausfordern. Das Wesen der Technik, das »Ge-stell« 92 , versteht Heidegger als »eine geschickhafte Weise des Entbergens, nämlich das herausfordernde«. 93 Die »Gestellung« 94 der Natur als der Grundzug der Technik geschieht zwar durch den Menschen, aber einzig und allein aus dem Geschick des Seins. Dass die moderne Technik ein Geschick ist, bedeutet, dass das technische Seinsverständnis kein von Menschen Gemachtes ist, 95 sondern ein bestimmtes, auf unser modernes Zeitalter bezogenes Verstehen des Seienden, in und aus dem wir alle Wirklichkeit erfahren. Das Zeitalter des Gestells stellt für Heidegger die äußerste Darstellung des subjektivistisch-nihilistischen Seinsverständnisses dar, in dem jede Möglichkeit eines anderen Seinsverständnisses ausgeschlossen ist. Die moderne Technik ist eigentlich ein bestimmtes Seinsverständnis, in dem der Mensch das Seiende im Voraus als bestellbar, manipulierbar und verfügbar versteht: »Im Ge-Stell wird das Anwesen alles Anwesenden zum Bestand.« 96 Nichts bleibt dem Menschen fremd, fern
89 90 91 92 93 94 95 96
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Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 35. Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 15. Heidegger, Gelassenheit, GA 16, 523. Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 20. Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 30. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 27. Vgl. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 39. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 32.
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oder unantastbar. 97 Der Mensch lebt in der Einsicht, dass die Welt und ihre Dinge sich in beständiger Weise zeigen. In der modernen Technik wird das Seiende als ein sicheres, gespeichertes und zu verfügendes Seiendes »gestellt«. »Der Bestand besteht. Er besteht im Bestellen.« 98 Ähnlich wie Nietzsche denkt auch Heidegger, dass mit der modernen Technik eine »Verwüstung« der »Heimaterde« geschieht. 99 »Verwüstung« heißt, »daß alles, die Welt, der Mensch, die Erde in eine Wüste verwandelt wird.« 100 Die Wüste versteht Heidegger als »die Öde; die verlassene Weite der Verlassenheit von allem Leben«. 101 Diese Verwüstung der Erde ist nicht nur eine »Vernichtung des Menschenwesens«, sondern zugleich auch »das Böse selbst« 102 . Heidegger versucht auch hier seine Kritik an der Technik von einer moralischen Kritik abzugrenzen. 103 Das Böse wird als »das Bösartige«, als »das Aufrührerische, das im Grimmigen beruht«, charakterisiert. 104 Das »Wesen des Bösen« soll als »der Ingrimm des Aufruhrs« gedacht werden, »der nie ganz ausbricht, und der, wenn er ausbricht, sich noch verstellt und in seinem versteckten Drohen oft ist, als sei er nicht«. 105 Damit will Heidgeger sagen, dass die Verwüstung der Erde als das Böse selbst nichts anderes bedeutet als die vollständige Vergessenheit der Wahrheit als Unverborgenheit. Wenn alle Wirklichkeit sich in eine Wüste verwandelt, scheint die vielfältige Rhythmik des Lebendigen angehalten zu sein; der offene Spielraum für die Kontingenz scheint so wie ausgetrocknet. Die Bösartigkeit der Verwüstung kommt aber zum Äußersten, wenn der Schein auftaucht, dass es »einen gesicherten Weltzustand« 106 geben könne. »Was den Menschen in seinem Wesen bedroht, ist die Willensmeinung, durch eine friedliche Entbindung, Umformung, Speicherung und Lenkung der Naturenergien könne der Mensch das Menschsein für alle erträglich und im ganzen glücklich 97 Vgl. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 44: »Das Ge-Stell ist in seinem Stellen universal.« 98 Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 29. 99 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 206. 100 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 211. 101 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 212. 102 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 207. Vgl. auch Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 209. 103 Vgl. Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 207. 104 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 207. 105 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 208. 106 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 214.
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machen.« 107 Gerade diese Illusion wird durch die Moral erweckt. Deshalb hält Heidegger es für möglich, »daß sogar die Moral […] und mit ihr all die sonderbaren Versuche, durch sie den Völkern eine Weltordnung in die Aussicht und eine Weltsicherheit in die Gewißheit zu stellen, auch nur eine Ausgeburt des Bösen wären«. 108 Das, was die moderne Technik und die Metaphysik verbindet, ist das berechnende Denken. In der Vorlesung Einführung in die Metaphysik stellt Heidegger fest, dass »das so berechenbare und in die Rechnung gestellte Sein […] das Seiende zum Beherrschbaren in der modernen mathematisch gefügten Technik« macht. 109 Durch das rechnende Denken wird das Seiende zum Gegenstand, es wird auf seine »Gegenständigkeit« reduziert. 110 Die Wahrheit wird in der Neuzeit als die Gewissheit des Vorstellens aufgefasst, so dass das Seiende als Objekt für dieses selbstgewisse Vorstellen verstanden wird. 111 Das die neuzeitliche Wissenschaft Leitende ist das Messen, Zählen und Rechnen. Die Wissenschaft kann nur aufgrund ihres vorstellend-rechnenden Wesens mathematisch und experimentell sein. Weil Heidegger in seinem Frühwerk bereits mehrmals sein Misstrauen gegenüber jeder Art von berechnendem Maß – sei als moralische Norm oder als eine chronologische Auffassung der Zeit – zum Ausdruck gebracht hat, überrascht es nicht, dass er sich hinsichtlich der berechnenden Methode der Wissenschaft skeptisch zeigt. Das wesentliche Denken bleibt der wissenschaftlichen Forschung mit ihrer experimentellen Methode und ihrer Spezialisierung verborgen. Heidegger geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er in dem Vortrag Was heißt Denken? sagt, dass die Wissenschaft nicht denkt. 112 Diesem Satz entspricht die andere Aussage, dass die Wissenschaft in der Form des Betriebs ausgeübt wird. Es ist ein HeiHeidegger, Wozu Dichter?, GA 5, 294. Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 209. 109 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 202. Auch in dem Vortrag Überwindung der Metaphysik stellt Heidegger einige Beispiele des heutigen metaphysischen Denkens deutlich ins Licht, welche die zugrunde liegende Auffassung des Seins als Gegenständigkeit zeigen. In der heutigen Zeit wird das Sein durch »die vergegenständlichte Natur, die betriebene Kultur, die gemachte Politik und die übergebauten Ideale« verstanden (Heidegger, Überwindung der Metaphysik, GA 7, 78). 110 Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, GA 7, 50. 111 Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, GA 5, 87: »Die gesamte neuzeitliche Metaphysik, Nietzsche miteingeschlossen, hält sich in der von Descartes angebahnten Auslegung des Seienden und der Wahrheit.« 112 Vgl. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 7, 133. 107 108
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deggers Denken leitendes Motiv, dass das Eigentliche und Ursprüngliche nur in einer ständigen Aneignung zugänglich wird. Dies setzt aber voraus, dass das Eigentliche nur in einem gewissen Abstand zu den Dingen geschehen kann. Der Betrieb aber ist per se abstandlos. »Heute ist alles Anwesende gleich nah und gleich fern. Das Abstandlose herrscht.«113 Das andere Denken dringt nicht in die Dinge ein und erobert die Welt, sondern hält einen Abstand zu diesen wach. In dem Vortrag Die Zeit des Weltbildes bringt Heidegger die Gefahr des Betriebs ans Licht: »Der Betrieb wird zum bloßen Betrieb, wenn er sich im Verfahren nicht mehr aus dem ständig neuen Vollzug des Entwurfs offen hält […]« 114 Im Zeitalter der Herrschaft des Gestells ist jedes Verständnis des Seienden von vornherein entschieden und bleibt damit verschlossen. Im Betrieb gibt es keine Störung, keine weckende Unterbrechung, die das Betriebene und Beständige in Frage stellen könnte: »Was ohne Abstand anwest, ist jedoch weder ohne Angang noch ohne Stand. Das Abstandlose hat vielmehr seinen eigenen Stand. Seine Ständigkeit geht um im unheimlichen Angang des überall Gleich-Giltigen.« 115 Der »heutige Mensch« bewegt sich also »gleichsam ohne Aufenthalt seiner Betriebsamkeit«. 116 Vehement stellt Heidegger fest: »Die moderne Technik und mit ihr die wissenschaftliche Industrialisierung der Welt schicken sich an durch ihr Unaufhaltsames, jede Möglichkeit von Aufenthalten auszulöschen«. 117 Erneut zeigt sich Heideggers Denken vom Gedanken eines Aufrufs zum Eigentlichen geleitet. Anders als in Sein und Zeit geht es nun darum, den Menschen in seinem technischen, aufenthaltslosen Wohnen in der Welt für die Wahrheit des Seins empfänglich zu machen. In beiden Fällen aber kommt es Heideggers Philosophieren auf ein Herausreißen des Menschen aus seinem undifferenzierten Ethos zugunsten eines kritischen an. In der technischen Zeit gerät alles in eine Gleichgültigkeit, es steht im »Gleich-Giltigen« 118 , und dieses ist »die Herrschaft des Abstandlosen« 119 , in der »Nähe und Ferne des An-
113 114 115 116 117 118 119
Heidegger, Das Ding, GA 79, 16. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, GA 5, 97. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 25. Heidegger, Der Lehrer trifft den Türmer, GA 77, 194. Heidegger, Griechenlandreisen, GA 75, 244. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 44. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 25. A
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wesenden […] aus[bleiben]«. 120 Die Gefahr der modernen Technik, die aus ihrem betriebsamen Wesen hervorgeht, besteht in ihrem homogenisierenden, unduldsamen und gleichgültigen Blick. Ihre Intoleranz zeigt sich in ihrem Seinsentwurf, der Seiendes nur in einem umgrenzten Gegenstandsbezirk – nämlich als berechenbare und meßbare Gegenstände – zulässt. Gleichwohl ist es kein Zufall, dass Heidegger das Wesentliche des rechnenden Denkens im Anschluss an Nietzsches Willen zur Macht deutet. Dieser Wille verkörpert die herrschende geistige Welt der Moderne und zugleich die Vollendung des metaphysischen Denkens, die durch Heideggers »anderes Denken« bewusst gemacht werden soll. Mit dem Wort »Gott ist tot« versuche Nietzsche, so Heidegger, zu zeigen, dass »die übersinnliche Welt […] ohne wirkende Kraft« sei. 121 Weil aber Nietzsches Philosophieren sich als eine Gegenbewegung gegen die Metaphysik vollzieht, bleibt seine Philosophie der Metaphysik verhaftet. Für Heidegger zielt die Formel »Gott ist tot« auf die »Besinnung, die dem nachdenkt, was mit der Wahrheit der übersinnlichen Welt und mit ihrem Verhältnis zum Wesen des Menschen schon geschehen ist.« 122 Diese Besinnung soll an die »Ortschaft« des Wesens des Menschen denken, die in der Wahrheit des Seins erfahren wird. 123 Doch gerade der neuzeitliche Anspruch auf Gewissheit, der mit Descartes beginnt, herrscht auch in Nietzsches Willen zur Macht als Wille zur Bestandssicherung. In dem Vortrag Wozu Dichter? kommt Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 45. Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, GA 5, 217. 122 Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, GA 5, 219. 123 Mit Nietzsches Diagnose der Entwertung der bisherigen höchsten Werte wird eine neue Wertsetzung gefordert. »Das Nein gegenüber den bisherigen Werten kommt aus dem Ja zur neuen Wertsetzung« (Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, GA 5, 223– 224). Dabei geht es aber nicht um eine bloße Ersetzung alter durch neue Werte, sondern prinzipiell um eine Umwertung aller bisherigen Werte. Nicht mehr die übersinnlichmetaphysische Welt kann die Werte bestimmen, sondern dies ist einzig und allein die Aufgabe des Willens zur Macht. So sieht Nietzsche die Möglichkeit einer Überwindung der Metaphysik und des ihr innewohnenden Nihilismus. Das aber, was Nietzsche nach Heidegger nicht sieht, besteht gerade darin, dass die beanspruchte Überwindung durch sein Festhalten an der Idee des Wertes überhaupt scheitern muss. Mit Nietzsches Philosophie ist nun »das Sein […] zum Wert geworden« (Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, GA 5, 258). Heideggers stellt das Problematische an Nietzsches Umwertung der Werte deutlich ins Licht: »Wenn jedoch der Wert das Sein nicht das Sein sein läßt, was es als das Sein selbst ist, dann ist die vermeintliche Überwindung allererst die Vollendung des Nihilismus« (Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, GA 5, 259). 120 121
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dieser Gedanke folgendermaßen zum Ausdruck: »Im vielfältigen Herstellen wird die Welt zum Stehen und in den Stand gebracht.« 124 Es gilt also nur das vergegenständlichte Seiende. Die Welt wird durch den Willen hergestellt: »Die Erde und ihre Atmosphäre wird zum Rohstoff. Der Mensch wird zum Menschenmaterial, das auf die vorgesetzten Ziele angesetzt wird.« 125 Der Gedanke: »Alles ›wird gemacht‹ und ›läßt sich machen‹, wenn man nur den ›Willen‹ dazu aufbringt«, 126 stellt das Prinzip dessen dar, was Heidegger die »Machenschaft« nennt. In diesem Sinne heißt es in den Beiträgen: »Die Behexung durch die Technik und ihre sich ständig überholenden Fortschritte ist nur ein Zeichnen dieser Verzauberung, der zufolge alles auf Berechnung, Nutzung, Züchtung, Handlichkeit und Regelung drängt.« 127 Mit der Rede von einer »Verzauberung« im Zeitalter der modernen Technik versucht Heidegger auf ein Phänomen aufmerksam zu machen, das »aus der schrankenlosen Herrschaft der Machenschaft« 128 entspringt. Diese verlangt, die Welt, das Seiende im Ganzen, so zu verstehen, als ob dieses dazu da wäre, um vom Menschen berechnet und benutzt zu werden. Selbst die »Regelung« ist ein Zeichen der »Behexung« durch die Technik, weil jede Regel per definitionem eine bestimmte Beschränkung darstellt, durch die der Mensch einen festen Hintergrund für sein Handeln findet. Die Regelung zeigt sich somit auch als eine technisch-metaphysische Angelegenheit, da der Mensch sie ohne Berücksichtigung dessen anwendet, was die bestimmte Situation selbst fordert. Mit der Ablehnung des berechnend-metaphysischen Denkens schließt Heidegger jede Möglichkeit aus, eine Moralität aus menschlichen Maßstäben zu begründen. Gibt es aber die Möglichkeit eines Denkens des Ethischen – oder auch des Maßes –, müssen diese im Lichte der Wahrheit des Seins stehen. Dies meint Heidegger, wenn er im Humanismusbrief sagt: »Nur sofern der Mensch, in die Wahrheit des Seins ek-sistierend, diesem gehört, kann aus dem Sein selbst die Zuweisung derjenigen Weisungen kommen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden müssen.« 129 Gerade ein solches Verständnis des Maßes soll in der »ursprünglichen Ethik« zur Geltung kommen. 124 125 126 127 128 129
Heidegger, Wozu Dichter?, GA 5, 288. Heidegger, Wozu Dichter?, GA 5, 289. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 108. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 124. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 124. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 360–361. A
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Die Gefahr und die Rettung
Die moderne Technik ist für Heidegger aber nicht nur ein notwendiges Moment der Seinsgeschichte, sondern auch das entscheidende. Denn »das Wesen der Technik« ist als »das Seyn selbst« eine Gefahr: »Das Wesende der Gefahr ist das Seyn selbst, insofern es der Wahrheit seines Wesens mit der Vergessenheit dieses Wesens nachstellt.« 130 Wenn das »Seyn« sich in der Weise des Gestells ereignet, dann bleibt jedes Seinsverständnis im Rahmen einer subjektiven Vergegenständlichung reduziert und prädeterminiert. Die technische Sichtweise ist aber nur eine unter anderen. In ihr kommt zugleich ein bestimmtes »Weltbild« zum Ausdruck. 131 Das Seiende ist nicht nur das Beständige – »dies Wort nennt nicht nur das Wirkliche und dieses gar nur als das Vorhandene und dieses nur noch als Gegenstand der Erkenntnis, nicht nur das Wirkliche jeglicher Art, sondern zugleich das Mögliche, das Notwendige, das Zufällige, alles was in irgend einer Weise im Seyn steht, sogar das Nichtige und das Nichts«. 132 Das Problematische des technischen Seinsverständnisses liegt vor allem darin, dass dieses »eine schon entschiedene Art der Weltauslegung, die nicht nur die Verkehrsmittel und die Nahrungsmittelversorgung und den Vergnügungsbetrieb, sondern jede Haltung des Menschen in ihren Möglichkeiten bestimmt, das heißt, auf ihre Rüstungsfähigkeit hin vorprägt«. 133 Die eigentliche Gefahr im »Atomzeitalter« 134 ist demnach die totalitäre Dominanz eines technischen-berechenbaren Denkens, das »als das einzige« gilt. 135 Für Heidegger ist das Gestell die gefährlichste Epoche des Seins. »Die Gefahr ist die Epoche des Seins, wesend als das Gestell.« 136 Wenn das »Geschick« in der Weise des »Gestells« zum Ausdruck kommt, ist es »die höchste Gefahr«. 137 Weil in der modernen Technik alles Unverborgene, alles Seiende also, zum »Bestand« wird, wächst entsprechend Heidegger, Die Gefahr, GA 79, 62. Vgl. dazu: Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, GA 5, 75–113. 132 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 74. 133 Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 17. 134 Für Heidegger heißt »Atomzeitalter«: »Die durch die Wissenschaften entdeckte und freigesetzte Atomenergie wird als diejenige Macht vorgestellt, die den Geschichtsgang bestimmen soll« (Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, GA 11, 10). Vgl. auch Heidegger, Gelassenheit, GA 16, 522. 135 Heidegger, Gelassenheit, GA 16, 528. 136 Heidegger, Die Kehre, GA 11, 119. 137 Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 27. 130 131
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Die Gefahr und die Rettung
die Gefahr, dass der Mensch sich als »der Herr der Erde« 138 versteht. Diese Gefahr ist eine Gefahr für das Wesen des Menschen, denn wenn der Mensch sich so begreift, begegnet er sich »niemals« in seinem eigenen Wesen. 139 Die Herrschaft der Technik gefährdet den Menschen durch die Möglichkeit des Wesensverlusts. Aber nicht nur das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu allem, was ist, bleibt im Gestell verborgen. Sofern das Gestell eine radikale Homogenisierung ist, die jede Möglichkeit der Offenbarkeit des Seienden im Voraus bestimmt, besteht eine weitere Gefahr darin, dass alles Seiende als Beständiges und Sicheres konzipiert wird. Somit verschwindet aber das Ding: »Im Wesen des Ge-Stells ereignet sich die Verwahrlosung des Dinges als Ding.« 140 Die Dinge, die sich eigentlich immer jeweils anders zeigen können, werden ihren Wesen nach verfehlt, sie werden nur festgestellt. Das »Gestell« als höchste Gefahr »verbirgt das Entbergen als solches und mit ihm Jenes, worin sich Unverborgenheit, d. h. Wahrheit ereignet.« 141 Die Reduktion der Wahrheit des Seins auf nur eine Weise, die mit der Antike einsetzt und bis in unsere heutigen Welt hinein herrscht, schließt die Möglichkeit der Wahrheit des Seins aus, 142 und das will sagen: Die Möglichkeit, den Spielraum offen zu halten, in dem das Seiende sich freigeben kann, wird ausgeschlossen. Heideggers Kritik an der im Zeitalter der modernen Technik leitenden Herrschaft des Gestells enthält ein entscheidendes ethisches Moment. Dieses kommt zur Geltung, wenn man bedenkt, dass Heideggers Technikkritik sich als eine Kritik der Nivellierung interpretieren lässt: »Das Beständige der Bestandstücke ist durch das Gleichförmige ausgezeichnet. Alles ist im Ge-Stell auf die ständige Ersetzbarkeit des Gleichen durch Gleiches gestellt.« 143 Die »planetarische Totalität« und Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 28. Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 28. 140 Heidegger, Die Gefahr, GA 79, 47. 141 Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 28. 142 Vgl. Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 29: »Die Herrschaft des Ge-stells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprünglicheres Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren.« Vgl. Kettering, NÄHE, 246: »Das Gefährliche am Ge-stell ist seine Tendenz, nicht nur vormalige Weisen des Entbergens von Menschen und Seiendem zu verbergen, sondern das Entbergen als solches und somit das Scheinen der Wahrheit selbst zu verstellen, die ja in verborgener und defizienter Weise noch in Technik und Wissenschaft waltet.« 143 Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 44. 138 139
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der »Kampf um die Erdherrschaft«, zu der hin sich die abendländischeuropäische Geschichte entwickelt hat, 144 haben ihren Grund im metaphysisch-bestimmenden Denken des Abendlands. Dieses Denken hat einen totalitären Zug, weil es die Weise und das Objekt allen Denkens bereits bestimmt hat, wobei der Bereich des Möglichen und des Andersseins der Dinge verschlossen bleibt. Das berechnende und berechenbare Denken ist nicht wie die Kunst und ihr dichterisches Wesen, das nah am Fremden und Jeweiligen bleibt, sondern färbt durch ihren homogenisierenden und nivellierenden Blick die Welt eintönig. So kann auch Heideggers umstrittener Vergleich der motorisierten Landwirtschaft mit dem Holocaust verstanden werden: »Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.« 145 Dieser Vergleich gründet in Heideggers Kritik an der Nivellierung aller Möglichkeiten des Erscheinens. Dies belegt ein weiteres Zitat: »Hunderttausende sterben in Massen. Sterben sie? Sie kommen um. Sie werden umgelegt. Sie werden Bestandstücke eines Bestandes der Fabrikation von Leichen. Sterben sie? Sie werden in Vernichtungslagern unauffällig liquidiert.« 146 Das Gemeinsame der Massenproduktion und des Massenmords besteht gerade in ihrer undifferenzierten Vorgehensweise, die das eigentümliche Wesen des Betroffenen – des Produzierten und des Ermordeten – unauffällig bleiben lässt. In einem Brief an seine Frau Elfride sagt Heidegger, dass in der »unbedingten Technisierung des Krieges […] der Einzelne […] als Individuum verschwindet.«147 Das, was in der Masse, im Betrieb durchgeführt wird, bleibt unbemerkt. Sogar der Tod, der für Heidegger das Individuationsphänomen par excellence ist, wird durch das Wesen der Technik als Gestell entfremdet. 148 144 Vgl. Heidegger, Die Gefahr, GA 79, 51: »Der Wink dahin, daß solche Verweigerung sich ereignet, verbirgt sich im Geschick des Seins, welches Geschick sich in die Epochen der Seinsvergessenheit fügt, so zwar, daß diese Epochen gerade als diejenigen der Entbergung des Seienden in seiner Seiendheit die abendländisch-europäische Geschichte bestimmen bis in ihre heutige Entfaltung zur planetarischen Totalität.« 145 Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 27. 146 Heidegger, Die Gefahr, GA 79, 56. 147 Heidegger, Brief an Elfride Heidegger, 18. 05. 1940, in: M. Heidegger, Mein liebes Seelchen! Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915–1970, hrsg. von G. Heidegger, München 2005, 212. 148 Im Hinblick auf das bislang Gesagte sieht auch Peter Trawny im Heideggers Tech-
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Gegen den alles herrschend homogenisierenden Blick des Gestells zu agieren, heißt, sich davon zu befreien. Die Befreiung als das »Freimachen« des Wesens ist für Heidegger die Rettung. In der Herrschaft des technischen Zeitalters wird der Mensch zum »Funktionär der Technik« und nicht zum »Wächter der Wahrheit des Seins«. Im Zeitalter der »Boden- und Heimatlosigkeit« 149 verabschiedet sich der Mensch vom Offenen. Diese Heimatlosigkeit beruht in der Seinsvergessenheit, die zugleich ein Zeichen der Seinsverlassenheit des Seienden darstellt. Auf die Möglichkeit einer Gegenbewegung zur heutigen Herrschaft des Menschen als »Subjekt« weist Heideggers Herausstellung des Wesens der modernen Technik hin, denn »schon dieses, daß der Mensch zum Subjekt und die Welt zum Objekt wird, ist eine Folge des sich einrichtenden Wesens der Technik, nicht umgekehrt«. 150 Das Seiende im Ganzen wird durch den vorstellend-herstellenden Menschen zur Geltung gebracht. 151 Gerade gegen die »Herrschaft der Subjektivität und der Historie« 152 entwickelt Heidegger sein seinsgeschichtliches Denken. Die Heimatlosigkeit, die ein Weltgeschick ist, kann sich in der Dichtung ankündigen. 153 Heidegger denkt mit Hölderlin, dass die
nik-Kritik eine ethisch zu entwickelnde Dimension: »Mir scheint Heideggers Hinweis auf die entsetzlichen Geschehnisse in den ›Vernichtungslagern‹ eine mögliche Antwort zu enthalten. Nach dieser muss jeder normativ-moralischen Kriteriologie eine aufmerksame Analyse der Totalisierungen, die sich in den totalitären Herrschaftsgebilden des 20. Jahrhunderts offen gezeigt haben, die aber keineswegs auf diese zu beschränken sind, vorangehen. Eine zeitgemäße Ethik müsste aus dieser Analyse unkorrumpierbare Schlüssel ziehen. In dieser Hinsicht scheint mir weniger die formalistisch bleibende ›Diskursethik‹ von Jürgen Habermas aus dieser Analyse gelernt zu haben als die nichtnormative Ethik des Emmanuel Lévinas, die auch dann einer inneren Motivation von Heideggers Denken treu bleibt, wenn sie dieses zuweilen erbittert bekämpft« (Peter Trawny, Martin Heidegger, Frankfurt a. M./New York 2003, 169). 149 Heidegger, Die Gefahr, GA 79, 66. 150 Heidegger, Wozu Dichter?, GA 5, 290. 151 Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, GA 5, 88: »Der Mensch wird zu jenem Seienden, auf das sich alles Seiende in der Art seines Seins und seiner Wahrheit gründet.« 152 Heidegger, Grundsätze des Denkens (II. Vortrag), GA 79, 101. 153 Es ist interessant, dass Heidegger bereits im Jahr 1927 der Dichtung eine wichtige Rolle gibt. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 216; Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 246–247: »Der Dichter vermag diese ursprüngliche, obzwar unbedachte und gar nicht theoretisch erfundene Welt nicht nur sehen, sondern Rilke versteht auch das Philosophische des Lebensbegriffes, den Dilthey schon ahnte und den wir mit dem Begriff der Existenz als In-der-Welt-sein faßten.« A
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Technik als Gefahr zugleich die Rettung darstellt. »Wo aber die Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch«. 154 Heidegger gewinnt diese doppelseitige Wesensbestimmung der Technik aus ihrem gemeinsamen Ursprung mit der Kunst. Das zweideutige Wesen der Technik, das Heidegger aus der Doppelbedeutung des griechischen Wortes Techne (tffcnh) gewinnt, verkörpert eben diese zweifache Möglichkeit als Gefahr und Rettung. Somit kann der Mensch durch die Anerkennung des Wesens der Technik »in die höchste Würde seines Wesens schauen und einkehren«. 155 Mit der Rückkehr in das Wesen des Menschen wird dessen Aufgabe zur Geltung gebracht, die Wahrheit des Seins zu hüten. Die hier gemeinte Würde beruht darin, »die Unverborgenheit und mit ihr je zuvor die Verborgenheit alles Wesens auf dieser Erde zu hüten«. 156 Es ist interessant zu beobachten, dass Heidegger über die »Würde« des Menschen spricht. »Würde« meint hier offensichtlich nicht das, was in der philosophisch-theologischen Tradition als eine moralische Kategorie gedeutet wird. Es geht nicht um eine »kategorialethische Bestimmung der menschlichen Natur«. 157 Die Würde als die eigentümliche Auszeichnung des Menschen weist nicht auf die moralische Fähigkeit des Menschen (wie etwa bei Kant, der die Würde des Menschen als einen Zweck an sich betrachtet 158 ) oder auf seine Gottesebenbildlichkeit hin. Der Mensch hat nicht von vornherein eine Würde, es gibt keinen Apriorismus der Würde wie bei Kant, sondern der Mensch gewinnt seine Würde erst durch die Anerkennung seiner Zugehörigkeit zum Ereignis. Auch im Humanismusbrief betont Heidegger, dass der Mensch, indem er sein Wesen als Hirt des Seins anerkennt, »die wesenhafte Armut des Hirten [gewinnt], dessen Würde darin beruht, vom Sein selbst in die Wahrnis seiner Wahrheit gerufen zu sein«. 159 Der Mensch erlangt also erst seine Würde, wenn er sich in den Anspruch des Seins nehmen lässt, zum Hirten des Seins wird, an154 Friedrich Hölderlin, Gedichte 1800–1806, Sämtliche Werke (im Folgenden: SW), Band 4, hrsg. von N. von Hellingrath, Berlin 3 1943, 199. 155 Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 33. 156 Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 33. 157 Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner [Hrsg.], Ethik-Handbuch, Stuttgart 2006, 559. 158 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Gesammelte Schriften (im Folgenden: GS), Band 4, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1911, 434–436. 159 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 342.
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deres zu »würdigen« versteht. Die »einzige Würde« des Menschen ist, »das Wahrende der Wahrheit des Seyns zu werden«. 160 Das Sein ist das »Frag-würdigste«, und ihm »gilt die vorspringende und einzige Würdigung, d. h. es selbst wird als Herrschaft eröffnet und so als das nicht und nie Zubewältigende ins Offene gehoben«. 161 Die Würdigung des Seins geschieht aber durch das Andenken des »Denkwürdigen«, durch das Denken dessen, »was das Denken herausfordert, das, was das Denken in seinen Dienst stellt und dem Denken so erst Rang und Würde verleiht«. 162 Durch diese Würdigung des Seins kommt die Herrschaft des Seins zur Geltung, die aber derart ist, dass sie gar keine zugreifende Beherrschung darstellt. Die Herrschaft des Seins ist vielmehr die nie zu bewältigende Kraft des Möglichen. Das Sein in seiner Abgründigkeit bestehen zu lassen, ist die höchste Würdigung des Seins, die in nichts anderem besteht, als den Raum für das Mögliche, Fremde und Einzigartige offen zu lassen, um es zu würdigen und ihm so gerecht zu werden. 163 Das technische Ethos zeigt sich als ein Würdeverlust des Menschen. Nicht der Verzicht auf Technik kann gegen diesen Verlust schützen, sondern allein das Erkennen der Technik in ihrer Doppeldeutigkeit als Gefahr und Rettung. Es geht dementsprechend gerade darum, die Wahrheit des Seins zu hüten. »Das Ge-Stell läßt in seinem Stellen das Ding ohne die Hut – ohne die Wahr seines Dingwesens.« 164 Heidegger betont immer wieder, dass Halten zugleich Hüten bedeutet. Deshalb geht es bei der Wesensbestimmung der Technik als Gestell darum, dem Menschen die Technik als ein gleichgültiges Nichthüten der Dinge und der Welt zu zeigen. Nur wenn die Gleichgültigkeit des modernen Menschen unterbrochen worden ist, kann der Mensch wieder »würdig« sein. Und nur indem der Mensch würdig ist, also etwas zu würdigen versteht, können die Dinge als Dinge wahrhaft erscheinen. 165 Heidegger, Heraklit, GA 55, 387. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 76. 162 Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 19. 163 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 76–77: »Das Seyn als der Grund, in dem alles Seiende erst als solches zu seiner Wahrheit (Bergung und Einrichtung und Gegenständlichkeit) kommt; der Grund, in dem das Seiende versinkt (Abgrund), der Grund, in dem es auch sich seine Gleichgültigkeit und Selbstverständlichkeit anmaßt (Ungrund). Daß das Seyn in seiner Wesung in dieser Weise grundig west, zeigt seine Einzigkeit und Herrschaft an.« 164 Heidegger, Die Gefahr, GA 79, 46. 165 Vgl. Heidegger, Das Ding, GA 79, 20: »Wann und wie kommen Dinge als Dinge? Sie 160 161
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Obwohl der Mensch das Geschick des Seins weder meistern noch kontrollieren kann, steht ihm die Möglichkeit offen, »vordenkend [zu] bedenken, daß das Subjektsein des Menschentums weder die einzige Möglichkeit des anfangenden Wesens des geschichtlichen Menschen je gewesen, noch je sein wird«. 166 Nur mittels eines solchen Denkens eröffnet sich die Möglichkeit einer »Verwindung des Ge-Stells« 167 und seines seinsvergessenen Ethos. Und obwohl die Technik sich nicht durch den Menschen überwinden lässt, ist das Menschenwesen für den Wandel des »Geschicks« der modernen Technik erforderlich, ja sogar entscheidend. 168 Diese Relevanz des Menschen besteht in seinem wesenhaften Bezogenseins auf die Wahrheit des Seins. Um dieses Bezogensein zu leben, muss der Mensch das Wesen des Seins fragwürdig machen, so dass es denkwürdig wird in der »Besinnung«, die »die Gelassenheit zum Fragwürdigen« ist. 169 Das menschliche Tun kann dieser Gefahr niemals unmittelbar begegnen. Nur durch die Besinnung wird die Gefahr bedenkend als solche erkannt. So gesehen ist diese Besinnung eine »künstlerische Besinnung«, die die Konstellation der Wahrheit nicht verschließt, sondern sie bewahrt. 170 Solche Besinnung ist dann die Bedingung der Möglichkeit für einen genuinen Aufenthalt des Menschen, und dies sagt Heidegger explizit: »Die Besinnung bringt uns […] erst auf den Weg zu dem Ort unseres Aufenthalts.« 171 Gegenüber der Haltung der Machenschaft wird also eine Haltung der Gelassenheit herausgestellt. Es geht nicht darum, die Technik zu leugnen: »Es wäre kurzsichtig, die technische Welt als Teufelswerk verdammen zu wollen. Wir sind auf die technischen Gegenstände ange-
kommen nicht durch die Machenschaft des Menschen. Sie kommen aber auch nicht ohne die Wachsamkeit der Sterblichen. Der erste Schritt zu solcher Wachsamkeit ist der Schritt zurück aus dem nur vorstellenden, d. h. erklärenden Denken in das andenkende Denken.« 166 Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, GA 5, 111. 167 Heidegger, Die Kehre, GA 79, 69. 168 Vgl. Heidegger, Die Kehre, GA 79, 70: »Zur Verwindung des Wesens der Technik wird allerdings der Mensch gebraucht; aber der Mensch wird hier gebraucht in seinem dieser Verwindung entsprechenden Wesen.« 169 Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, GA 7, 63. 170 Im Vortrag Die Zeit des Weltbildes vom Jahr 1938 sagt Heidegger: »Besinnung ist der Mut, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen« (Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, GA 5, 75). 171 Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, GA 7, 64.
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wiesen.« 172 Vielmehr geht es um die Übernahme des heutigen metaphysisch-technischen Zeitalters durch eine gelassene Haltung. In einer solchen Haltung, die Heidegger »die Gelassenheit zu den Dingen« 173 nennt, flieht der Mensch nicht vor den Apparaturen und technischen Dingen, sondern er übernimmt diese als eine Möglichkeit der Dinge unter anderen. Die Dinge als technische Dinge zu sehen ermöglicht ihren Nutzen und Gebrauch. Dieses, wie Heidegger sagt, verkörpert das »Ja«-Sagen zu der technischen Welt. 174 Somit steht der gelassene Mensch in einer Zwischenstellung zwischen der Annahme des Technischen und der Zurückhaltung ihm gegenüber. Der Mensch kann zu den technischen Dingen auch »nein« sagen. 175 Eben diese Zwischenstellung ist die Haltung der Gelassenheit. Wir kommen aber nicht durch unseren Willen zur Gelassenheit, »weil wir die Gelassenheit nicht von uns aus bei uns erwecken«. 176 Die Gelassenheit ist eigentlich ein »Warten« 177 , denn »im Warten lassen wir das, worauf wir warten, offen«. 178 Wenn wir lernen, dass »im Lassenkönnen« und »nicht im Anordnen und Beherrschen […] die Freiheit [beruht]«, 179 dann lernen wir das Warten. Wie der Weise in Heideggers erdachtem Gespräch sagt: »Was ich bei unserer Besinnung auf das Denken eigentlich will, ist das Nicht-Wollen.« 180 Müssen wir, wie Heidegger sagt, »das Warten lernen« 181 , dann müssen wir den echten Aufenthalt lernen. Das Warten heißt für Heidegger »auf das Offene der Gegnet sich einlassen«. 182 Mit dem Wort »Gegnet« (einem älteren Wort für »Gegend«) bezeichnet Heidegger denjenigen sinnhaften Horizont, der durch die jeweilige Freigabe der Dinge gestaltet wird und in dem der Mensch sich in eigentlicher Weise zu den Dingen verhält. »Die Gegnet ist die verweilende Weite, die, alles versammelnd, sich öffnet, so daß in ihr das Offene gehalten und angeHeidegger, Gelassenheit, GA 16, 526. Heidegger, Gelassenheit, GA 16, 527. 174 Vgl. Heidegger, Gelassenheit, GA 16, 527. 175 Heidegger, Gelassenheit, GA 16, 527. 176 Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 108. Vgl. dazu: Bret Davis, Heidegger and the Will: On the Way to Gelassenheit, Northwestern University Press 2007. 177 Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 120. 178 Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 116. 179 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 230. 180 Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 51. 181 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 239. 182 Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 121. 172 173
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halten ist, Jegliches aufgehen zu lassen in seinem Beruhen.« 183 Das Sicheinlassen auf das Offene muss der Mensch aber erst übernehmen, denn »wir sind der Gegnet geeignet; wir erfahren sie aber noch nicht als die Gegnet«. 184 Deshalb müssen wir das Warten lernen. »Wartend lassen wir die Dinge vielmehr eben dorthin ein, wohin wir selbst als die Wartenden uns einlassen, nämlich dorthin, wohin wir gehören.« 185 Wir sind in der »Gegnet«, in der Offenheit der Dinge, und wir sind es nicht. Das Warten als Gelassenheit ist gerade »der Aufenthalt in diesem Zwischen«. 186 Im wartenden Aufenthalt »übereilen« wir das Ding nicht, sondern dabei geschieht die »Gelassenheit zur Gegnet«, in der »das Ding in seiner Weile verweilt«. 187 Die Dinge werden nicht bestimmt oder beherrscht, wohl aber frei für sich gelassen. Diese »Gelassenheit zur Gegnet« ist damit eigentlich eine Gelassenheit zu den Dingen, denn das Warten ist ein »Hüten und Pflegen« 188 der Dinge. In Heideggers erdachtem Gespräch zwischen einem Lehrer und einem Türmer sagt er, dass der Mensch seinen wahrhaften Aufenthalt »im Anblick des Anwesenden« hat. 189 Mit der Wendung »im Anblick des Anwesenden« versucht Heidegger zu verdeutlichen, »daß das Anwesende uns anblickt, so daß wir uns in diesem Anblick aufhalten, so zwar, daß er uns zugleich enthält, bei sich verwahrt, uns, die wir uns in diesem Enthalt und zu dem, was er uns aufbehält, verhalten: Aufent-Halt.« 190 Das Wort »Aufenthalt« heißt: »Sich aufhalten im Enthalt, als welches das Anwesen unser Vor- und Herstellen anwest – anfängt in sein Wesen.« 191 Der Aufenthalt kann also nur der »eigentliche Aufenthalt« 192 sein, wenn der Mensch sich in demjenigen Verhalten zu den Dingen aufhält, in dem er selbst die Dinge erfährt. Die Gelassenheit macht also das Wesen des Denkens aus. 193 Durch das Denken kommt erst »die Entschlossenheit zur Wesung der Wahrheit« zur Geltung, die zugleich die »Inständigkeit in der Gelassenheit 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193
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Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 114. Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 124. Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 229. Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 123. Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 133. Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 217. Heidegger, Der Lehrer trifft den Türmer, GA 77, 182. Heidegger, Der Lehrer trifft den Türmer, GA 77, 182. Heidegger, Der Lehrer trifft den Türmer, GA 77, 192. Heidegger, Der Lehrer trifft den Türmer, GA 77, 185. Vgl. Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 142.
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zur Gegnet« heißt. 194 Diese »Inständigkeit« ist der wartende, gelassene Aufenthalt des Menschen, in dem die Freiheit für die Dinge zum Vorschein kommt. In diesem wartenden Aufenthalt erscheinen die Dinge frei von der sie dominierenden »kunstfertigen« Betrachtung. Sie können technisch, aber auch anders sein. Dabei wird der Raum für das Mögliche, der Raum für das rätselhafte Sichzeigen und Sichentziehen der Dinge offengehalten. Im Hinblick darauf versteht Heidegger die Haltung der Gelassenheit im Zusammenhang mit derjenigen Haltung, in der das Geheimnis als Geheimnis offen bewahrt wird. Diese Haltung der »Offenheit für das Geheimnis« – und das heißt: für die Wahrheit – hängt zusammen mit der Gelassenheit zu den Dingen und »gibt uns den Ausblick auf eine neue Bodenständigkeit«. 195 Weil im technischen Zeitalter alle menschlichen Werke entwurzelt sind, gibt es durch beide Haltungen die Möglichkeit, dem Menschen eine neue Bodenständigkeit anzubieten. 196 Diese Haltungen aber fallen nicht vom Himmel und dem Menschen in den Schoß. Sie sind weder gegeben noch erfunden. Nur durch ein sich besinnendes Denken können sie überhaupt erweckt werden. »Darum gilt es, dieses Wesen des Menschen zu retten. Darum gilt es, das Nachdenken wach zu halten.« 197
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Die Lage des Menschen im technischen Zeitalter, in einer Epoche von Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit, ist heimat- und bodenlos. »Die Bodenständigkeit des heutigen Menschen ist im Innersten bedroht.« 198 Dagegen kündigt Heidegger eine Möglichkeit an, durch die der Mensch einen eigentlichen Boden wiederfinden und eine wahrhafte Verwurzelung ausbilden kann. Denn nur so ist sich der Mensch der Wandelbarkeit und der Kontingenz des Sinnhaften bewusst. Ein solcher Aufenthalt führt zur Gelassenheit gegenüber den technischen ApHeidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 144. Heidegger, Gelassenheit, GA 16, 528. 196 Vgl. Kettering, NÄHE, 252: »Heideggers Gelassenheit verwandelt unser Denken und unser Handeln, führt uns zu einer Verwindung der vorherrschenden rein technischwissenschaftlichen Weltsicht, unsers Subjektstandpunktes sowie letztlich der gesamten Metaphysik.« 197 Heidegger, Gelassenheit, GA 16, 529. 198 Heidegger, Gelassenheit, GA 16, 522. 194 195
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paraturen, so dass es möglich wird, wieder in der Nähe des Seins zu wohnen, und dadurch wird das wahrhafte und würdigste Wohnen des Menschen möglich. Es geht Heidegger darum, das Wohnen des Menschen zu erwecken, zum eigentlichen Wohnen zu erziehen. In den Beiträgen sagt Heidegger deutlich, dass es ihm um eine »Erziehung zum wesentlichen Denken« gehe. 199 Das wesentliche Denken ist aber – mit dem Humanismusbrief – als das höchste Handeln aufzufassen. Die Erziehung zum Denken ist demzufolge eine Erziehung zum eigentlichen Handeln. Schon aus dieser Bestimmung ergibt sich eine Pflicht: »Wir Jetzigen aber haben nur die eine Pflicht, jenen Denker vorzubereiten durch die weit vorgreifende Gründung einer sicheren Bereitschaft für das Frag-würdigste.« 200 Das Denken der Beiträge ist eine Vorbereitung für das künftige Denken, das wiederum eine »Pflicht« ist für die »Wenigen« und die »Seltenen«. 201 Diese Wenigen und Seltenen sind diejenigen, die aus der Zugehörigkeit zur Wahrheit des »Seyns« denkend existieren. Das Denken an die Wahrheit des Seins kündigt die Möglichkeit der Überwindung der Metaphysik an. Weder das berechnende noch das onto-theologische Denken können die Wahrheit des Seins denken, weil »das Wesen des Seyns nie endgültig sagbar ist«. 202 Das Ereignis ist nicht als Prinzip bestimmbar, denn es »bleibt das Befremdlichste«. 203 Wir können das Sein als Ereignis niemals unmittelbar sagen, da es »nie offen am Tag [liegt] wie ein Seiendes, Anwesendes«; 204 das Ereignis bleibt immer rätselhaft. Die Philosophie als Metaphysik ist auf der Suche nach dem Universalen, Bleibenden und Sicheren im Sein und kann daher dieses Rätsel nie lösen, gerade weil sie es als lösbar annimmt. Die wesentliche Geschichtlichkeit des Seins geht verloren. Es muss ein bestimmtes Denken geben, das die Wesung des »Seyns« nicht verfehlt. Nicht in jedem Seinsentwurf wird das Sein in seiner Wahrheit gehalten oder, wie Heidegger sagt, gehütet. Der Seinsentwurf des begreifenden Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 19. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 11. 201 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 11. 202 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 460. 203 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 27. Auch in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik ist dieser Gedanke leitend: »Aber das Sein bleibt unauffindbar, fast so wie das Nichts oder am Ende ganz so« (Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 39). 204 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 342. 199 200
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und vorstellenden Denkens ist ein uneigentlicher Entwurf. 205 Eine Alternative zu diesem sieht Heidegger im Denken und Dichten: »Nur dem dichterisch-denkenden Entwurf eröffnet sich solches Sein.« 206 Dabei zeigt sich, dass die Dichotomie von Gestell und Geviert das Schema von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit in sich trägt. Das technische Ethos als der seinsvergessene Aufenthalt im Gestell und das dichterische Ethos als das dichterische Wohnen im Geviert stehen einander gegenüber. 207 Wenn Heidegger im Humanismusbrief feststellt, dass das Wesen des Menschen gerade darin besteht, dass »er mehr […] als der bloße Mensch [ist]« 208 , so ist dieses »Mehrsein« die wesentliche Nähe des Menschen zum Sein. Trotz des privilegierten Verhältnisses zwischen Mensch und Sein bedeutet dies nicht, dass der Mensch »der Herr des Seienden« wäre. 209 Einerseits ordnet Heideggers spätes Denken den Menschen in seinem Denken klar dem Sein, dem Seinsgeschick und der Seinsgeschichte unter: »Das Wesen und die Weise des Menschenseins kann sich dann aber nur aus dem Wesen des Seins bestimmen.« 210 Andererseits gibt es immer noch ein ausgezeichnetes Verhältnis des Menschen zum Sein, so dass allein er die Bewahrung der Wahrheit des Seins vermag. Der Mensch als ein »Ek-sistierender« wohnt in der Nähe des Seins, ist »Nachbar« und »Hirt« des Seins. 211 Die Nähe zum Sein ist aber nichts, was der Mensch hat, sondern etwas, in dem er stets wohnt, ein Aufenthalt, ein Ethos. Diese Nähe bleibt in ihrer Selbstverständlichkeit aber unbeachtet. Die Nähe zum Sein muss dem Menschen bewusst werden, muss angeeignet und übernommen werden. Gerade wenn dies geschieht, wenn der Mensch seinen eigentlichen Aufenthalt als einen Aufenthalt in der Nähe des Seins erfasst und übernimmt, erkennt und gewinnt er sein eigenes Wesen.
205 Vgl. Figal, Einführung zur Heidegger 146: »Heidegger [kann] nicht mehr jeden Seinsentwurf als Befreiung verstehen, sondern muss zwischen ›eigentlichen‹ und ›uneigentlichen‹ Seinsentwürfen unterscheiden.« 206 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 158. 207 Vgl. Dietmar Koch, »Das erbringende Eignen«. Zu Heideggers Konzeption des Eigenwesens im »Ereignis-Denken«, in: D. Barbaric´ [Hrsg.], Das Spätwerk Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert, Würzburg 2007, 95–107, hier 103. 208 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 342. 209 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 342. 210 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 148. 211 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 342.
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Wegen der eigentümlichen Nähe des Menschen zum Sein muss der Mensch die Aufgabe einer Wächterschaft der Wahrheit des Seins übernehmen. So deutet Heidegger den Gedanken der Sorge um: »Sucher, Wahrer, Wächter sein – das meint die Sorge als Grundzug des Daseins.« 212 Die Sorge ist nicht mehr wie in Sein und Zeit um das eigenste Seinkönnen besorgt, sondern sie ist die Sorge um das Sein. Die Sorge ist, wie Heidegger in den Beiträgen deutlich sagt, »einzig ›umwillen des Seyns‹, nicht des Seyns des Menschen, sondern des Seyns des Seienden im Ganzen.« 213 Gerade diese Verschiebung in der Sorgekonzeption Heideggers, der Vorrang des Seins vor dem Dasein, prägt sein ganzes spätes Denken. Deshalb kann Heidegger auch von einer »Herrschaft« des Seins sprechen. 214 Die Herrschaft des Seins wird so tatsächlich einerseits verabsolutiert. In Der Spruch des Anaximander spricht Heidegger sogar über eine »Eschatologie des Seins«. 215 Die hermeneutische Situation sowohl des Menschen als Individuum als auch einer Gruppe als Volk wird vom Sein und dessen Schickung her bestimmt. 216 Andererseits weist die Neubestimmung der Sorge darauf hin, dass der Mensch die Wächterschaft des Seins selbst übernehmen muss, um sich für »die Nüchternheit der Leidenskraft des Schaffenden, hier des Entwerfers der Wahrheit des Seyns« entscheiden zu können. 217 In der Übernahme seiner wesentlichen Aufgabe »verwandelt« sich der Mensch in das, was er ist. 218 Nur durch die Anerkennung des eigenen Wesens als »Wächter« des Seins vermag der Mensch in sein Wesen zurückzukehren. Das Wesen des Menschen nicht aus dem Gedächtnis loszulassen, 219 macht die bereits erwähnte Rettung des Wesens des Menschen aus.
212 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 17. Auch in Humanismusbrief sagt Heidegger, dass »das ek-statische Wohnen in der Nähe des Seins« nichts anderes als »die Wächterschaft, das heißt die Sorge für das Sein« ist (Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 343). 213 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 16. 214 Vgl. Löwith, Heidegger, 13. 215 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 327. 216 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 314. 217 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 23. 218 Heidegger spricht im WS 1937/38 explizit um eine »Verwandlung des Menschsein«, mit der der Mensch erst eigentlich »Gründer und Wahrer der Wahrheit des Seyns« werden kann (Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 214). 219 Vgl. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 7, 129.
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Die »Wächterschaft« ist eigentlich »Wachsamkeit«. 220 Heidegger formuliert mit seinem Verständnis des Menschen als Hirt, Wächter, Sucher und Wahrer der Wahrheit des Seins ein weiteres Mal ein Leitbild für die menschliche Existenz. 221 Wie in Heideggers Frühwerk die sokratische Suche nach Wachheit und Wahrheit des Selbst als das »faktische Ideal« des menschlichen Lebens erscheint, gibt Heidegger auch hier keine konkrete Vorschrift, sondern formuliert lediglich ein Ideal: Der Mensch hat die Aufgabe, die Wahrheit des Seins zu hüten. Dieses Hüten lässt dann den beweglichen Spielraum des Seins in dessen geschichtlichem Auftreten offen. Gegen die Macht des technisch-metaphysischen Denkens soll das Seinlassen als ein Hüten abgehoben werden. »Das Wissen von der stetigen Bedachtsamkeit des Seltenen gehört zur Wächterschaft für das Seyn.« 222 Das Dasein als Wächter hält sich in der Welt wach für das Seltene und Fremde, für alles andere, für das, was noch nicht der Fall ist. Heidegger gibt den indirekten Hinweis, dass das Sein in seiner Domäne und seiner Kraft sich diskret anzeige. Es ist eine subtile Kraft, die mit einer lautlosen Stimme zu dem Denker und dem Dichter spricht. Die Stimme des Seins ist eine lautlose, weil sie nichts nennt. »Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren.« 223 Sich im Namenlosen aufzuhalten heißt, im Bereich des Seins und seines Rufes zu bleiben. Dieser namenlose Bereich ist der Bezirk des Möglichen, der Wahrheit des Seins. »Das Sein als das Element ist die ›stille Kraft‹ des mögenden Vermögens, das heißt des Möglichen.« 224 Der Mensch hütet das Sein, und damit hält er sich in seinem Wesen. Das Sichhalten im Wesen geschieht aber für Heidegger nur, wenn der Mensch vom Sein angesprochen wird: »Nur aus diesem Anspruch ›hat‹ er das gefunden, worin sein Wesen wohnt. Nur aus diesem WohHeidegger, Das Ding, GA 7, 186. Eindeutig sagt Heidegger, dass der Mensch das Da-sein werden soll, dass es also darum geht, »Gründer und Wahrer der Wahrheit des Seyns zu werden, das Da zu sein als der vom Wesen des Seyn selbst gebrauchte Grund« (Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 16). 222 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 95. 223 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 319. 224 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 316. Vgl. auch Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 475: »Im Seyn allein west als seine tiefste Klüftung das Mögliche, so daß in der Gestalt des Möglichen zuerst das Seyn gedacht werden muß im Denken des anderen Anfangs«. 220 221
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nen ›hat‹ er ›Sprache‹ als die Behausung, die seinem Wesen das Ekstatische wahrt.« 225 Der Gedanke, dass der Mensch als Wächter und Hirt des Seins auf die Stimme des Seins hört, hören soll, zeigt Heideggers Gedanken der ethischen Erziehung am deutlichsten: »Der Mensch lernt, indem er sein Tun und Lassen zu dem in die Entsprechung bringt, was ihm jeweils an Wesenhaftem zugesprochen wird. Das Denken lernen wir, indem wir auf das achten, was es zu bedenken gibt.« 226 »Entsprechung« meint die bewusst gemachte Zugehörigkeit des Menschen zum Ereignis. 227 Dem Ereignis bewusst zuzugehören heißt für Heidegger, auf den Zuspruch des Seins zu hören, auf ihn zu antworten. »Das deutsche Wort ›antworten‹ bedeutet eigentlich soviel wie ent-sprechen.« 228 In diesem Sinne ist die Antwort als »Ent-sprechung« gerade diejenige, »die dem Sein des Seienden entspricht«. 229 Die Entsprechung geschieht als der in der Sprache gebildete Entwurf des Wesens des Seinenden, den der Mensch als seine Antwort auf den »Zuruf« 230 des Seins entwirft. Damit ist gemeint, dass der Entwurf nur aus der »Fügsamkeit« zum Sein entspringt und in der Grundstimmung der Verhaltenheit geschieht. Wenn die Verhaltenheit »zum Wort kommt, ist das Gesagte immer das Ereignis«. 231 Für Heidegger gilt es also, »das Wesen der Sprache aus der Entsprechung zum Sein, und zwar als diese Entsprechung, das ist als Behausung des Menschenwesens zu denken.« 232 In Anbetracht dessen wird klar, dass die Sprache als »Haus des Seins« 233 mit dem Wesen des Menschen als »Wächter« des Seins ursprünglich verbunden ist. Die Sprache steht im Dienste der Bewahrung einer Zugehörigkeit des Menschen zum Wesenhaften alles Seienden und seiner Zugehörigkeit zum Ereignis. Die Sprache entwirft den »Ent-
Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 323. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 7, 130. 227 Vgl. Heidegger, Der Satz der Identität, GA 11, 39: »Im Menschen waltet ein Gehören zum Sein, welches Gehören auf das Sein hört, weil es diesen übereignet ist.« Vgl. auch Heidegger, Der Satz der Identität, GA 11, 47: »Das Ereignis vereignet Menschen und Sein in ihr wesenhaftes Zusammen.« 228 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, GA 11, 19. 229 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, GA 11, 19. 230 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 31. 231 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 80. 232 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 333. 233 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 333. 225 226
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wurf« des Seins. 234 Wenn der Entwurf als der »Ent-wurf« des Seins zu verstehen ist, dann zeigt sich, dass der Mensch sich darum bemühen soll, seinen eigenen Entwurf in eine Entsprechung zum Sein zu bringen. Der durch die Sprache gebildete Entwurf hält sich, wie oben erwähnt, in der Grundstimmung der »Verhaltenheit«. Die Verhaltenheit ist »die erinnernde Erwartung des Ereignisses«, 235 das heißt, sie ist diejenige Grundstimmung, in der sich der Mensch offen für das hält, was sich immer anders geben kann. Das Wort, das aus dieser Grundstimmung kommt, ist das dem Ereignis entsprechende Wort. »Das Wesen der Sprache« gilt es für Heidegger, wie gesagt, als Entsprechung zum Sein zu denken. In der »Burg des Seyns« gründet nämlich »die Behausung […] für das Wohnen«. 236 Weil die Sprache dasjenige ist, das das Seiende als ein Seiendes allererst ans Licht bringt, kommt es für Heidegger darauf an, nicht in einem kategorialen Verständnis der Sprache zu bleiben. Allein wenn der Mensch sich als Gespräch erkennt, dann wohnt er in der Sprache derart, dass in deren Behausung das Seiende nicht zum »Bestand« wird, sondern frei für seine jeweilige Erscheinung. 237 Wir Menschen sind unserem Wesen nach immer schon in einer solchen Entsprechung zum Sein des Seienden, die den Grundzug unseres Wesens ausmacht. 238 Doch wir sehen es nicht. Deshalb müssen wir das Denken erst lernen, das heißt lernen, dass das ursprüngliche Denken kein berechnendes und objektivierendes ist, sondern nur dasjenige, das im Ereignis, im Spiel der Verbergung und Entbergung vom Sein geschieht: »Die Entsprechung zum Sein des Seienden bleibt zwar stets unser Aufenthalt. Doch nur zuzeiten wird sie zu einem von uns eigens übernommenen und sich entfaltenden Verhalten. Erst wenn dies geschieht, entsprechen wir erst eigentlich dem, was die Philosophie angeht, die zum Sein des Seienden unterwegs ist.« 239 Es gibt also eine 234 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 451: »Das Seyn soll in seinem Wesen entworfen werden, und der Entwurf selbst ist doch das ›Wesen‹ des Seyns, der Ent-wurf als Er-eignung.« 235 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 69. 236 Heidegger, Die Dichtung. Filosoyffla-Pofflhsi@. Das Gespräch, in: Heidegger Studies 19 (2003), 13–28, 13. 237 Siehe das X. Kapitel dieser Arbeit. 238 Kategorisch sagt Heidegger in Der Satz der Identität, GA 11, 39: »Der Mensch ist eigentlich dieser Bezug der Entsprechung, und er ist nur dies.« 239 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, GA 11, 20–21.
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»eigentliche« Weise, in der die Entsprechung geschieht, die sich aber von dem auf den Zuspruch des Seins nicht hörenden Aufenthalt unterscheidet. Die eigentliche Entsprechung als das »von uns eigens übernommene und sich entfaltende Verhalten« ist derjenige Aufenthalt, in dem die Philosophie zur Geltung kommt: »Das Entsprechen zum Sein des Seienden ist die Philosophie.« 240 Daraus folgt, dass das Entsprechen nicht nur ein philosophisches ist, das nie vorrangig vorgeschrieben werden kann, 241 sondern dass diese philosophische Entsprechung zugleich im Sinne eines exemplarischen Aufenthaltes, der sich von dem gewohnten Aufenthalt unterscheidet, gedacht wird. »Denkend lernen wir erst das Wohnen in dem Bereich, in dem sich die Verbindung des Seinsgeschickes, die Verbindung des Ge-Stells, ereignet.« 242 Der Mensch, insofern er seinem Wesen nach Entsprechung zum Sein des Seienden ist, zeigt so einerseits die Überantwortung des Seins an den Menschen und andererseits die Verantwortung des Menschen für das Sein. 243 So kann man auch von einer »Ethik der Antwort und der Entsprechung« sprechen. 244 Heidegger selbst hebt das Wohnen in der Zugehörigkeit zum Ereignis immer wieder als das exemplarische Wohnen, das exemplarische Ethos hervor. Sein Verständnis der Dynamik zwischen Antwort und Verantwortung ist ethisch zu deuten. Dieses Ethos der Überantwortung des Menschen an die »Wächterschaft des Seyns« ist deutlicher als zuvor im Sinne eines philosophischen Ethos gedacht. Denn gerade die Philosophie, das Denken, das sich nicht metaphysisch vollzieht, ist die einzige Möglichkeit, den Zuspruch des Seins angemessen zu hören. »Die Philosophie entspringt, wenn sie entspringt, einem Grundgesetz des Seyns selbst.« 245 Dieses philosophische Ethos ist das Ethos der in HumanisHeidegger, Was ist das – die Philosophie?, GA 11, 21. Vgl. Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, GA 11, 21: »Dieses Entsprechen geschieht auf verschiedene Weise, je nachdem der Zuspruch des Seins spricht, je nachdem er gehört oder überhört wird, je nachdem das Gehörte gesagt oder geschwiegen wird.« 242 Heidegger, Die Kehre, GA 79, 71. 243 Vgl. Heidegger, Der Satz der Identität, GA 11, 40. 244 Trawny, Martin Heidegger, 98: »Das ›Dasein‹ lässt sich handelnd auf etwas ein, das zugleich sein Handeln selbst ermöglicht, über das es demnach nicht verfügt und das es dennoch erst handelnd zur Erscheinung verhilft. In einer solchen Ethik der Antwort und der Entsprechung muss folglich stets berücksichtigt werden, dass der Handelnde sich keineswegs einfach aufgibt, sondern von dem, was das ›Dasein‹ ›braucht‹, selbst ›gebraucht‹ wird, damit das, was durch das Handeln hervorkommen soll, erscheinen kann.« 245 Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), GA 42, 100. 240 241
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musbrief angekündigten ursprünglichen Ethik. Die Philosophie, so Heidegger, »gehört und wohnt – in der Freyheit des Ereignisses«, sie »ist dieses ›Wohnen‹ – Bauen der Freyheit«. 246 Nun wird verständlich, dass Heidegger im Humanismusbrief unsere ethische Fragestellung entschlossen rechtfertigt: »Der Wunsch nach einer Ethik drängt umso eifriger nach Erfüllung, als die offenkundige Ratlosigkeit des Menschen nicht weniger als die verhehlte sich ins Unmeßbare steigert. Der Bindung durch die Ethik muß alle Sorge gewidmet sein, wo der in das Massenwesen ausgelieferte Mensch der Technik nur durch eine der Technik entsprechende Sammlung und Ordnung seines Planens und Handelns im ganzen noch zu einer verläßlichen Beständigkeit gebracht werden kann.« 247 Die einzige und eigentliche Weise, in der über Ethik gesprochen werden kann, besteht darin, »die Wahrheit des Seins als das anfängliche Element des Menschen als eines eksistierenden« zu denken. 248 Die Wahrheit des Seins als dieses »anfängliche Element« der ursprünglichen Ethik zu benennen, weist auf ein Ethos hin, das in der Offenheit für das Andere und Mögliche verweilt. Weil zum »Ereignis« die Zwiespältigkeit des Sichzeigens und Sichentziehens gehört, ist der eigentliche »Aufenthalt im Sein« ein zwiespältiger. Heidegger selbst spricht vom »zwiefältigen Charakter« 249 des Aufenthaltes. Wir müssen, wie Heidegger betont, bewusst erfahren, »daß wir […] in einen einzigartigen Aufenthalt versetzt sind, aus dem es keinen Ausweg gibt«. 250 Ein Aufenthalt, ein Ethos des »Ausweglosen« bedeutet für Heidegger keine alltägliche und gewohnte Lage, sondern »einen noch verborgenen Aufenthalt, dem das Wesen unserer Geschichte seinen Ursprung verdankt«. 251 Dieser »verborgene Aufenthalt« ist aber gerade »derjenige, der unser Wesen angeht«. 252 Zusammenfassend gesagt, geht es also darum, »in einem vom Sein selbst ausgebreiteten Aufenthalt zu stehen«. 253 »Die Erfahrung dieses Aufenthaltes [enthält] eine Zumutung«, welche »einem An246 247 248 249 250 251 252 253
Heidegger, Die Dichtung. Filosoyffla-Pofflhsi@, Heidegger Studies 19, 15. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 353. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 356. Heidegger, Der Lehrer trifft den Türmer, GA 77, 192. Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 81. Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 83. Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 83. Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 85. A
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spruch des Seins selbst [entspringt], in dem der Bestand dieses Menschen (selbst) verankert liegt«. 254 In diesem Sinne ist ein solches Denken, wie Heidegger sagt, »weder Ethik noch Ontologie«, denn die metaphysische Prägung von Ethik und Ontologie verhindert ein Denken, »das nach der Wahrheit des Seins fragt und dabei den Wesensaufenthalt des Menschen vom Sein her auf dieses hin bestimmt«. 255 Die Wahrheit des Seins als das »anfängliche Element des Menschen« zu verstehen heißt, seinen eigentlichen Wesenszug zu erkennen. 256 Damit übernimmt er seine Überantwortung an das Sein, er eignet sich sein eigenes Wesen als »Hirt« und »Wächter« des Seins zu. Wenn der Mensch sich in seinem Wesen hält, bleibt er auch wach für seine eigentliche Sorge: seine eigene Existenz in die Entsprechung zum Sein zu bringen, das heißt, sein philosophisches Ethos als ein solches zu übernehmen und zu entfalten. In der Suche nach dieser Entsprechung geschieht nicht nur die Würdigung des Seins als die Anerkennung der Zugehörigkeit zum Ereignis, sondern es eröffnet sich auch die Möglichkeit einer Rettung, die sich in zweifacher Art realisiert: Es gilt, sowohl die Erde als auch das eigene Wesen des Menschen zu retten.
Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 85. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 357. 256 Vgl. Cerezo, De la existencia etica a la existencia originaria, 42: »›Existir éticamente‹ solo puede significar, tras la Kehre, elegir-se en cuanto lugar (da) del ser (sein); sentirse requerido y necesitado (Brauch) por y para su verdad, comprometerse con y confiar-se al ser, como medio de su des-ocultación. O dicho inversamente, existir en el lugar (ethos) que el ser se depara en su advenir presencia.« 254 255
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Kapitel VII: Die Thematisierung des Ethosdenkens: Das dichterische Wohnen und das Wohnen im Geviert
Die Räumlichkeit, die die Sprache Heideggers in seinem späten Denken prägt, gehört wesentlich zu diesem Denken. Dabei geht es darum, den »Zeit-Spiel-Raum«, den Ort der Wahrheit des »Seyns« zu gründen. 1 Es handelt sich, wie Heidegger selbst sagt, um eine »Topologie des Seyns«.2 Der Mensch als »Da-sein« ist die Ortschaft der Wahrheit des Seins: »Da-sein ist ›räumlich‹, sofern es überhaupt die ›Räume‹ einräumt, dieses, daß Raum sich öffnet und verschließt.« 3 Erst nach der »Gründung« des Daseins kann die Eröffnung des Seins geschehen. Von daher ergibt sich, dass die »Topologie des Seyns« mit der Topologie des Menschenwesens wesentlich verbunden ist. 4 Das aber bedeutet, dass in der Seynstopologie »die Frage nach dem derzeitigen Ort von Sein und Menschenwesen, d. h. nach der gegenwärtigen Konstellation ihres Zusammengehörens« entscheidend ist. 5 Im Hinblick darauf kann man verstehen, weshalb erst in Heideggers spätem Denken die Problematik des Aufenthaltes des Menschen eine explizite Ausarbeitung fordert. Worte wie »Wohnen«, »Aufenthalt« und »Ethos« stehen nun im Vordergrund seines seinsgeschichtVgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 69: »Es gilt, im voraus den Bezug von Sein und Wahrheit zu erblicken und zu verfolgen, wie von hier aus Zeit und Raum in ihrer ursprünglichen Zugehörigkeit bei aller Fremdheit gegründet sind.« 2 Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, GA 13, 84. Während Ernst Jünger für Heidegger eine »Topographie des Nihilismus« in seinem Schrift Über die Linie vorstellt, betont Heidegger die Notwendigkeit einer »Topologie des Seins«, das heißt »die Erörterung desjenigen Ortes, der Sein und Nichts in ihr Wesen versammelt, das Wesen des Nihilismus bestimmt und so die Wege erkennen läßt, auf denen sich die Weisen einer möglichen Überwindung des Nihilismus abzeichnen« (Heidegger, Zur Seinsfrage, GA 9, 412). 3 Heidegger, Die metaphysische Grundstellungen des abendländischen Denkens, GA 88, 18. 4 Vgl. Kettering, NÄHE, 223. 5 Kettering, NÄHE, 224. 1
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lichen Denkens. Zwar taucht in Heideggers Philosophieren immer wieder ein bestimmtes Ethosdenken auf. Jedoch erst im Rahmen seiner »Topologie des Seyns« beginnt Heidegger, über den Aufenthalt des Menschen explizit nachzudenken. Wir wissen, dass es nun bei Heidegger nicht mehr um das eigentliche oder uneigentliche Existieren des Daseins geht, sondern um einen eigentlichen oder uneigentlichen Seinsentwurf. Diese Dualität kommt durch die paradigmatischen Modi von Geviert und Gestell zum Ausdruck. 6 In einem Brief aus dem Jahre 1963 an Takehiko Kojima sagt Heidegger, dass die »Macht des Stellens […] das Versprechen in sich [birgt], daß der Mensch in das Eigene seiner Bestimmung gelangen kann, wenn er sich für einen langmütigen Aufenthalt in der fragwürdigsten aller Fragen bereit hält«. 7 Das eigentlich-dichterische Wohnen im Geviert ist, wie wir sehen werden, die Verwindung des uneigentlichen Seinsentwurfs im Gestell.
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Der künstlerische Seinsentwurf
In dem Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes wird klar, dass Heideggers Aufmerksamkeit für die Kunst in deren Bezug zur Wahrheit gründet. »Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt.« 8 Im Kunstwerk tritt, so Heidegger, ein Seiendes in die Unverborgenheit seines Seins hervor. Das Kunstwerk ist von daher weder ein Abbild des Seienden noch ein Kulturwert, sondern vielmehr das Auftreten des allgemeinen Wesens der Dinge selbst. Dies ist so, weil im Werk eine »Eröffnung des Seienden in seinem Sein: das Geschehnis der Wahrheit« geschieht. 9 Im Kunstwerk eröffnet sich das Seiende so, dass die Wahrheit dieses Seienden gerade als die Entbergung von Sein zur Geltung kommt. 10 Zum Kunstwerk gehören deshalb zwei Wesenszüge: die AufstelDies ist ein Gedanke, den auch Pedro Cerezo vertritt: »Así pues, inautenticidad y autenticidad corresponden respectivamente, en cuanto ›caída‹ y ›resolución‹, a dos constelaciones históricas del ser: el mundo científico/técnico (Ge-stell) y el mundo poético o reencantado del Ge-viert« (Cerezo, De la existencia etica a la existencia originaria, 42). 7 Heidegger, Brief an Takehiko Kojima, GA 11, 160. 8 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 21. 9 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 24. 10 Auch in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik vom SS 1935 sagt Heidegger 6
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lung einer Welt und die Herstellung der Erde. Heideggers Auffassung von Welt ist hier nach wie vor diejenige, die im Zusammenhang mit der Weltbildung analysiert wurde: »Welt« bedeutet einen bestimmten sinnhaften Zusammenhang, der aus dem Seinsentwurf entspringt. Entsprechend gibt es nicht die »eine« Welt, sondern Welten, denn aus der jeweiligen Weise des Seinsentwurfs wird jeweils eine diesem Seinsentwurf entsprechende Welt geschichtlich gebildet. Welt meint einen Möglichkeitsraum, eine bedeutungsgeladene Offenheit, die durch das Kunstwerk geschieht: In diesem Sinne ist das Werk eine »Aufstellung« von Welt. Da das Kunstwerk eine Welt offen ausstellt, bringt es die »Erde« zur Geltung. 11 Der Begriff »Erde«, den Heidegger wohl von Hölderlin übernommen hat, 12 wird als »das Sichverschließende« bezeichnet. 13 Die Erde stellt eine sich dem Sinn entziehende Möglichkeit dar, die außerhalb unserer Macht steht. Während die Welt das Seiende als Zugängliches und Sinnhaftes ins Offene stellt, weist die Erde auf all das, was dem menschlichen Verstehen entgeht. Anders formuliert: Die Welt stellt das Offenbare offen, und die Erde ist das, was in Vom Wesen der Wahrheit als das »Geheimnis« verstanden wird. Hans-Georg Gadamer bringt das auf den Punkt: »Erde ist insofern ein Gegenbegriff zu Welt, als sie im Gegensatz zu dem Sich-Öffnen das In-sich-Bergen und Verschließen auszeichnet. Beide sind offenbar im Kunstwerk da, das Sich-Öffnen ebenso wie das Sich-Verschließen.« 14 Die Erde als »das Sichverschließende« wird im Kunstwerk im wörtlichen Sinne des Wortes »hergestellt«, das heißt: Die Erde wird ins Werk gestellt, und zwar so, dass dieses Stellen kein Auflösen ihres geheimnisvollen Wesens beansprucht. Geschieht das Wesen der Wahrheit in unterschiedlichen Weisen, so stellt das Kunstwerk eine ausgezeichnete Möglichkeit dieses Geschehens dar. Denn das Werk bringt das Geschehen der Wahrheit »als dies deutlich: »Kunst ist Eröffnung des Seins des Seienden« (Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 140). 11 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 50: »Indem aber eine Welt sich öffnet, kommt die Erde zum Ragen.« 12 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Zur Einführung, in: M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 2005, 93–114, hier 99: »Offenkundig war es die Dichtung Hölderlins, der sich damals Heidegger mit leidenschaftlicher Intensität zugewandet hatte, aus der er den Begriff der Erde in sein eigenes Philosophieren übertrug.« 13 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 33. 14 Gadamer, Zur Einführung, 105. A
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Das dichterische Wohnen und das Wohnen im Geviert
Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde« 15 zum Ausdruck. Dieser Streit gründet aber im ursprünglichen Streit, dem Urstreit als dem Wesen der Wahrheit selbst, dem Wechselspiel von Lichtung und Verbergung. So wie in der Platon-Vorlesung vom WS 1931/32 wird auch in diesem Vortrag die Lichtung im Sinne einer offenen Stelle gedacht, aus und in welcher das Seiende als Seiendes erscheinen kann. 16 Weil aber der Mensch sich alltäglich in der Nähe zum Seienden befindet, in einem Vertrautsein mit und Heimischsein beim Seienden, geht diese Alltäglichkeit doch an der Wahrheit als Unverborgenheit vorbei. »Aus dem Vorhandenen und Gewöhnlichen wird die Wahrheit niemals abgelesen. Vielmehr geschieht die Eröffnung des Offenen und die Lichtung des Seienden nur, indem die in der Geworfenheit ankommende Offenheit entworfen wird.« 17 Im Hinblick darauf wird die entscheidende Aufgabe des Kunstwerks verständlich. Das, was durch das Kunstwerk eröffnet wird, ist für Heidegger nur aus dem eigentümlichen Zusammenhang des Kunstwerks selbst zu verstehen. 18 Kein Kunstwerk ist aus der gewohnten Fügung der Welt zu erfassen, sondern nur aus und im Rahmen des Werkes selbst. Das im Kunstwerk eröffnete Seiende und dessen Wahrheit kann daher nicht ohne Weiteres in andere Bereiche übertragen werden. »Wohin gehört ein Werk? Das Werk gehört als Werk einzig in den Bereich, der durch es selbst eröffnet wird.« 19 Damit ist gemeint, dass das Kunstwerk erst eine Welt als Welt, als diejenige Welt, die eigentlich und jeweils ist, eröffnen kann. Dieser Eröffnung folgen heißt: »die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten, um in der im Werk geschehenden Wahrheit zu verweilen«. 20 Dieses Verweilen ist das Sichaufhalten in der im Werk geschehenden Offenheit des Seienden. 21 Wenn die »Verhaltenheit dieses Verweilens«
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 36. Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 40. 17 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 59. 18 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 21: »In der Nähe des Werkes sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen.« 19 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 27. 20 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 54. 21 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 42–43: »Das Seiende im Ganzen wird in die Unverborgenheit gebracht und in ihr gehalten.« 15 16
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Der künstlerische Seinsentwurf
geschieht, dann vollzieht sich die »Bewahrung des Werkes«. 22 Diese Bewahrung realisiert sich aber nur durch die »Ent-schlossenheit« des Menschen für die »Inständigkeit der Bewahrung«, und das heißt: für das »Sicheinlassen […] in die Unverborgenheit des Seins«. 23 Die dazu nötige »Ent-schlossenheit« bezeichnet Heidegger als eine »nüchterne« 24 , denn hier wird wiederum eine bestimmte Achtsamkeit und Wachheit des menschlichen Daseins gefordert. Das menschliche Dasein soll sich dafür entscheiden, mit sich im Streit zu bleiben, das heißt einen Aufenthalt in der Spannung zwischen dem Sichzeigen und dem Sichentziehen der Phänomene zu haben, im Streit von Welt und Erde. Wenn man das Verhältnis von Kunst und Wahrheit näher betrachtet, wird der Vorrang der Dichtung vor anderen künstlerischen Formen verständlich. »Die Achtsamkeit achtet einzig auf das sagende Wort der Dichtung.« 25 Die Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden ist für Heidegger ein Geschehen, das nur in der Erdichtung der Wahrheit geschieht. 26 Dieser Gedanke verbindet sich mit Heideggers Beschreibung des Künstlers in der Platon-Vorlesung. Der Künstler hat den »Wesensblick für das Mögliche« und kann so aus dem gewohnten Gefüge der Welt hinaustreten und die Welt anders bilden als sonst. Gerade diese Fähigkeit des Künstlers zeigt sich auch im Kunstwerksaufsatz in Bezug auf die Eröffnung des Möglichkeitscharakters der Welt: »Aus dem dichtenden Wesen der Kunst geschieht es, daß sie inmitten des Seienden eine offene Stelle aufschlägt, in deren Offenheit alles anders ist als sonst.« 27 Dass das Wesen der Kunst »das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit« ist, 28 heißt beides: Zum einen sieht man, dass die Wahrheit im Kunstwerk eine Gestalt annimmt, und im Werk aus der Verborgenheit herausgestellt wird; zum anderen wird im Kunstwerk das Geschehen der Wahrheit in Gang gebracht. 29 Die Setzung der Wahrheit im Werk, die Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 54. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 54–55. 24 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 55. 25 Heidegger, Aufsätze und Dialog, GA 75, 41. 26 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 59: »Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung.« 27 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 59. 28 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 59. 29 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 59: »Also ist die Kunst: die 22 23
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die Kunst mit ihrem dichterischen Entwurf vollzieht, wird »einem geschichtlichen Menschentum zugeworfen«. 30 Der dichtende Entwurf der Dichtung schafft eine Eröffnung der Welt, in der das menschliche Dasein sein geschichtliches Geworfensein so übernimmt, dass damit die Erde (das Sichverschließende) in der Welt sichtbar gehalten wird. Die Kunst ist somit nicht nur eine Stiftung des Streites der Wahrheit und damit eine Eröffnung der Erde, sondern sie ist zugleich Stiftung einer geschichtlichen Gemeinschaft. 31 Die unterschiedlichen Welten (etwa die griechische, die mittelalterliche oder die neuzeitliche) eröffnen sich aus einem bestimmten Erscheinen des Seienden, aus der jeweiligen Eröffnung der Wahrheit. 32 Das Verhältnis von Kunst und Geschichte zeigt sich in der jeweiligen Weise des Seinsentwurfs. Geschieht Kunst, dann geschieht zugleich ein Anfang, mit dem ein entscheidender Stoß in der Geschichte zustande kommt. An die Kunst und ihr dichtendes Wesen zu denken heißt aber, sich mit der Sprache zu beschäftigen. Es ist bekannt, dass Heidegger die Sprache nicht als bloße Kommunikation versteht, sondern die Sprache ist selbst Dichtung im wesentlichen Sinne. Sie ist die Weise par excellence, in der das Seiende als das Seiende zum Vorschein kommt. 33 Die Kunst ist dichterisch, weil die Dichtung diejenige Sprache ist, die nichts mit feststellenden Aussagen zu tun hat. Der Dichter nennt die Welt. So sagt er die Welt, ohne sie zu vergegenständlichen. Das, was die Dichtung sagt, ist das »entwerfende Sagen«, das heißt, »die Sage der Welt und der Erde, die Sage vom Spielraum ihres Streites und damit von der Stätte aller Nähe und Ferne der Götter«. 34 Das Wesen der Dichtung ist die Stiftung der Wahrheit, die Stiftung eines offenen Raumes, in dem das Sein als ein geschichtliches frei gelassen wird. Dieser Raum ist aber die Offenheit des Seins selbst, in der der Mensch – als Kunstschaffender, als Bewahrender, als Stiftender – seinen Aufenthalt haben soll. schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk. Dann ist die Kunst ein Werden und Geschehen der Wahrheit.« 30 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 63. 31 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 65: »Die Kunst ist Geschichte in dem wesentlichen Sinne, daß sie Geschichte gründet.« 32 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 65: »Jedesmal brach eine neue und wesentliche Welt auf. Jedesmal mußte die Offenheit des Seienden durch die Feststellung der Wahrheit in die Gestalt, in das Seiende selbst eingerichtet werden«. 33 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 61: »Die Sprache bringt das Seiende als ein Seiendes allererst ins Offene.« 34 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 61.
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In Anbetracht der bisherigen Aufklärung seines Verständnisses der Kunst wird zunächst sichtbar, weshalb Heidegger in der Kunst die Möglichkeit eines Auswegs aus dem homogenisierenden und alles beherrschenden Blick der modernen Technik sieht und inwiefern die Kunst (als Dichtung) die Rettung darstellen soll. »Rettung« meint hier »lösen, freimachen, freien, schonen, bergen, in die Hut nehmen, wahren«. 35 Solche Rettung kann nicht durch eine moralische Haltung erreicht werden, sondern nur durch die Dichtung. Diese Dichtung ist aber zuvörderst Hölderlins Dichtung, denn Hölderlin ist »der Dichter des Dichters«. 36 Heidegger nennt mit Hölderlin unser heutiges Zeitalter eine dürftige Zeit. Die Zeit ist dürftig, weil der Mensch ohne Gott geblieben ist – und dennoch von dieser Gottlosigkeit gerade nicht bewusst betroffen ist. In seinem Vortrag Die Zeit des Weltbildes bezeichnet Heidegger diese Entgötterung im Zeitalter der modernen Technik »als die Entscheidungslosigkeit über den Gott und die Götter«. 37 Das Fehlen Gottes heißt, »daß kein Gott mehr sichtbar und eindeutig die Menschen und die Dinge auf sich versammelt und aus solcher Versammlung die Weltgeschichte und den menschlichen Aufenthalt in ihr fügt«. 38 Wir befinden uns in einem Aufenthalt, der eigentlich eine Zwischenstelle ist. Dieser Aufenthalt ist ein »dürftiger«, weil darin »die Zeit der entflohe-
35 Heidegger, Die Kehre, GA 11, 119. Vgl. auch Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 15. 02. 1950, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 81: »›Retten‹ heißt und ist nicht erst nur: einer Gefahr gerade noch entreißen, sondern im vorhinein freimachen ins Wesen. Diese unendliche Absicht ist die Endlichkeit des Menschen […] Lange schon sinne ich darüber, weil dazu eine nur moralische Haltung nicht genügt, gleichwenig wie freischwebende Erziehung.« 36 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 34. Im Spiegel-Gespräch sagt Heidegger: »Mein Denken steht in einem unumgänglichen Bezug zur Dichtung Hölderlins. Aber ich halte Hölderlin nicht für irgendeinen Dichter, dessen Werk die Literaturhistoriker neben vielen anderen auch zum Thema machen. Hölderlin ist für mich der Dichter, der in die Zukunft weist, der den Gott erwartet und der somit nicht nur ein Gegenstand der Hölderlin-Forschung in den literarhistorischen Vorstellungen bleiben darf« (Heidegger, Spiegel-Gespräch, GA 16, 678). 37 Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, GA 5, 76. Vgl. auch Heidegger, Wozu Dichter?, GA 5, 269: »Das Weltalter ist durch das Wegbleiben des Gottes, durch den ›Fehl Gottes‹ bestimmt.« 38 Heidegger, Wozu Dichter?, GA 5, 269.
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nen Götter und des kommenden Gottes« zu erfahren ist. 39 Die dürftige Zeit ist das Zwischen, das sich »im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden« abspielt. 40 Die befremdliche Rede von »Gott« und »Göttern« drückt den Versuch aus, die Wahrheit als Unverborgenheit und ihr geschichtliches Auftreten zu explizieren. Einen Gott zu nennen, bedeutet so etwas wie ein Wort für den Grund der Zusammengehörigkeit aller Dinge zu finden. Mit Berufung auf Gott werden alle Dinge, das heißt die ganze Welt, auf einem Grund versammelt und so erst sinnvoll. Diesen versammelnden Grund bezeichnet Heidegger mit Hölderlin als »Gott«. Der Gott als die sinngebende Versammlung aller Dinge ist jedoch kein einzigartiges Maß, sondern muss in dem Offenen, das er selbst ausmacht, erscheinen. Der Gott muss frei gelassen und im Lichte seiner Gottheit verstanden werden. 41 Es geht darum, das Fehlen Gottes anzunehmen, damit die Zeit nicht noch dürftiger werde. Nur so kann der Mensch dieses Fehlen in den Griff bekommen. Der Dichter ist für Heidegger gerade derjenige, der wach und mutig gegenüber dem Fehlen Gottes bleibt. 42 Fliehen die Götter, gerät alles ins Wanken. Von hier aus wird auch verständlich, dass Heidegger seine Hölderlin-Interpretation auf Heraklit bezieht. Heraklits Spruch vom »Krieg« (plemo@) als »aller Dinge Vater, aller Dinge König« 43 bedeutet für Heidegger: »[…] auf keiner Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 47. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 47. 41 Mithilfe eines Zitates wird dies noch einmal deutlich: »Das Verzichten auf das Rufen der alten Götter ist die Entschiedendheit des Entbehrenwollens« (Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 82). Die alten Götter stellen diejenige Wahrheit dar, die trotzt ihr leerer Sinn immer noch in der Gewöhnung und im Alltag herrscht und als herrschende bekannt werden will. Darauf zu verzichten heißt, dass der Mensch nicht nur ihr Leersein zu erkennen vermag, sondern er auch sich für ihr Leersein entscheiden kann. Das Verzichten wird deshalb als das »Einrücken und rein Sichhalten im Raum möglicher Neubegegnung der Götter« bezeichnet (Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 97). Nur durch die Anerkennung der heutigen Götterlosigkeit kann das geschichtliche Dasein erfahren werden. 42 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 28: »Darum gilt für die Sorge des Dichters nur das eine: ohne Furcht vor dem Schein der Gottlosigkeit dem Fehl Gottes nahe zu bleiben und in der bereiteten Nähe zum Fehl so lange zu harren, bis aus der Nähe zum fehlenden Gott das anfängliche Wort gewährt wird, das den Hohen nennt.« 43 Heraklit, VS 22 B 53; die Fragmente Heraklits werden zitiert nach: Hermann Diels/ Walther Kranz [Hrsg.], Die Fragmente der Vorsokratiker, Band 1, Berlin 8 1956. 39 40
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Seite allein als dieser kannst du dich festsetzen, sondern du wirst durch den Streit als Widerstreit auf die Gegenseite getragen, und erst im Hin und Her der Bewegung des Kampfes hat das Seiende sein Sein.« 44 Heideggers Verständnis des faktischen Lebens und seiner inneren Bewegtheit taucht hier ein weiteres Mal auf. Das Seiende – alles Offenbare – kann nie einseitig begriffen werden. Gerade die »freie Schenkung« der Dinge zu sein, die eine Stiftung der Welt bedeutet, ist das Wesen der Dichtung.45
3.
Wo wohnt der Mensch? Heimat als Ort des Aufenthaltes
Heideggers Interpretation der Heimat weist diese als den ursprünglichen Ort des eigentlichen Wohnens aus. Deshalb kann man mit Recht behaupten, dass Heideggers philosophischer Blick auf das Vaterland »Deutschland« weit über den politischen Kontext hinausgeht. Mit dem Begriff der »Heimat« entwickelt er seine Konzeption einer ausgezeichneten Möglichkeit des menschlichen Aufenthaltes weiter. Hölderlins Dichtung als Sorge um die Heimkunft ist, wie Heidegger im Jahr 1970 sagt, »die Sorge um die Stiftung der Ortschaft des dichterischen Wohnens des Menschen, das Erharren der Rettung in diesem irdischen Aufenthalt«. 46 Heideggers Rede von der »Heimat« ist also kein Patriotismus. 47 Es geht nicht darum, die »Heimat« politisch und geographisch zu umgrenzen. Vielmehr muss sie so konzipiert werden, wie der Dichter (Hölderlin) sie versteht. Der Dichter sieht das Vaterland als das geschichtliche Dasein eines Volkes, »aus dem die Grundstellung zum Seienden im Ganzen erwächst und ihr Gefüge gewinnt«. 48 Heimat wird als das geschichtliche Wohnen des Menschen in der Nähe zum Sein gefasst, da nur »aus dem Sein die Überwindung der
Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 127. Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 41: »Weil aber Sein und Wesen der Dinge nie errechnet und aus dem Vorhandenen abgeleitet werden können, müssen sie frei geschaffen, gesetzt und geschenkt werden. Solche freie Schenkung ist Stiftung.« 46 Heidegger, Das Wohnen des Menschen, GA 13, 219. 47 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 338. 48 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 122. 44 45
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Heimatlosigkeit [beginnt], in der nicht nur die Menschen, sondern das Wesen des Menschen umherirrt«. 49 Das Ausgezeichnete der durch den Dichter gestifteten Heimat besteht für Heidegger gerade darin, dass diese in der Nähe zum Ursprung bleibt. »Das Eigenste und das Beste der Heimat ruht darin, einzig diese Nähe zum Ursprung zu sein, – und nichts anderes außerdem.« 50 Nur weil in der Heimat eine besondere Nähe erfahren wird, nimmt die Heimat bei Heidegger eine zentrale Position ein. Obwohl sein Verständnis von »Nähe« nicht leicht zu erörtern ist, kann man deutlich zwischen zwei Formen der Nähe unterscheiden, die jedoch für Heidegger nur zusammen das volle Phänomen der Nähe ausmachen: Zum einen wird »Nähe« sozusagen im dynamischen Sinne verstanden, das heißt als das doppelte Geschehen von Nähe und Ferne (Ereignis); und zum anderen heißt ebenfalls »Nähe« das einseitige Phänomen des Nahseins zu etwas, des Nächsten. 51 In der Alltäglichkeit gibt es »Nähe« nur als dieses »Nächste«, das heißt, die geschehende Nähe von Nähe und Ferne verschwindet. Somit aber vollzieht sich eine Wandlung: Die »Nähe«, die im alltäglichen Nächsten zur Geltung kommt, wird zur Ferne. Dieses Spiel von Nähe und Ferne gründet aber gerade in der geschehenden Nähe, im Ereignis. In Sein und Zeit versteht Heidegger diesen Wechsel von Nähe und Ferne noch nicht als Ereignis, sondern anhand der Dualität von Ontologischem und Ontischem: Das Sein ist für den Menschen ontologisch das Nächste, doch faktisch bleibt es das Fernste. 52 Das Sein ist dem Dasein so nah, dass das Dasein es nicht mehr zu erkennen vermag. Darüber hinaus geht es Heidegger bereits in Sein und Zeit darum, den Menschen auf die ontologische Nähe und die faktische Ferne zum Sein aufmerksam zu machen. Diese zeigende und erweckende Geste nimmt in Heideggers Spätphilosophie die Gestalt der Aufforderung zur Zugehörigkeit zum Ereignis an oder, wie es im Humanismusbrief heißt, zum »Aufenthalt in der Wahrheit des Seins«. 53 Dieser Aufenthalt ist so, dass dabei die Nähe als ein Geschehen von Nähe und Ferne bewahrt wird. Denn »Nähe nähert das Ferne und zwar
Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 339. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 23. 51 Dazu siehe Kettering, NÄHE. 52 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 331: »Das Sein ist das Nächste. Doch die Nähe bleibt dem Menschen am fernsten.« 53 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 361. 49 50
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als das Ferne. Nähe wahrt die Ferne.« 54 Mit dem Gedanken der »Wahrheit des Seins« radikalisiert Heidegger den Bezug zwischen Nähe und Aufenthalt. Anstelle eines Aufenthaltes in der »Nähe des Seins«, diesem eigentlich Nächsten, hält sich der Mensch zunächst und zumeist an das Seiende, an das bereits in einer vorgegebenen Weise Offenbare und Feste. Das vertraute Nächste wird zum Selbstverständlichen. 55 Während das vertraute Nächste das Seiende ist, ist das eigentliche Nächste das Sein. In der Nähe des Seins wohnt der Mensch, jedoch ohne dieses Wohnen eigens zu erfahren und zu übernehmen. Das Wohnen des Menschen ist derart, dass der Mensch sich selbst zu übernehmen hat. Das Wohnen trägt damit ein unüberwindbares Paradoxon in sich: Wir wohnen zwar immer schon beim Ursprünglichen; gerade aufgrund dieses Immer-schon bleibt dieses Ursprüngliche aber zugleich verdeckt: »Im Eigenen zu wohnen ist dann aber jenes, was zuletzt kommt und selten glückt und stets am schwersten bleibt.« 56 Deshalb muss das Wohnen als Wohnen dem Menschen erst zugeeignet werden, damit er wahrhaft sein kann, was er bereits ist: ihm selbst »unheimlich«. »Das Unheimlichste des Unheimlichen ist der Mensch.« 57 Gerade in der eigenen Unheimlichkeit beruht das Wesen des Menschen, auch wenn er selbst das nicht eigens zu sehen vermag. Weil der Mensch in seinem alltäglichen Leben weit vom Ursprung entfernt wohnt, muss er in die Nähe des Seins, des eigentlichen Nächsten, zurückkehren. Deshalb geht es in Heideggers Erörterung der Heimat darum, diese als ein Zurückkehren in die Nähe des Ursprungs zu verstehen, aus dem jedes menschliche Erfassen und Erscheinenlassen der Dinge überhaupt erst stammt: »Heimkunft ist die Rückkehr in die Nähe zum Ursprung.« 58 Dem Ursprung treu zu bleiben deutet auf denjenigen menschlichen Aufenthalt hin, in dem der Mensch im doppelten Geschehen von Nähe und Ferne, in der Spannung von Lichtung und Sichverbergen, in diesem eigentümlichen Zwischen, das das Sein aus-
Heidegger, Das Ding, GA 79, 17. Vgl. Heidegger, Parmenides, GA 54, 201: »Weil das Nächste das Vertrauteste ist, bedarf es keiner besonderen Aneignung. Wir bedenken es nicht. So bleibt es das am wenigsten Denkwürdige.« 56 Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 24. Vgl. auch Heidegger, Parmenides, GA 54, 201: »Das Allernächste zu erfahren ist das Allerschwerste.« 57 Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 83. 58 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 23. 54 55
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macht, wach und entschlossen steht. Das Dichten ist das erste Heimischwerden in diesem Ursprung. Entscheidend ist es dabei, zunächst zu beachten, dass gerade in der Heimat der Mensch einen Abstand halten muss, so dass die »Nähe zum Ursprung« als ein Geheimnis gewahrt bleibt. 59 Der Gedanke, dass das Geheimnis gerade als Geheimnis gehütet werden muss, dass das Fremde als Fremdes fremd gehalten werden muss, deutet darauf hin, dass der Weg zum Eigenen den Durchgang durch das Fremde fordert. Genau dieser Durchgang geschieht im Gedicht: »Dies ist das Gesetz des dichtenden Heimischwerdens im Eigenen aus der dichtenden Durchfahrt des Unheimischseins im Fremden.« 60 Die Notwendigkeit des Abstands, der das Fremde fremd hält, gründet darin, dass in der vertrauten Welt alles ständige Wirklichkeit zu sein scheint. Dabei geht der Raum des Möglichen und der »stillen Kraft« des Seins inmitten der Dinge verloren. In die Heimat zurückzukehren heißt also nicht nur, in der Zugehörigkeit zum Sein das eigene menschliche Wesen zu erkennen, sondern auch, dieses Sein als Möglichsein zu verstehen. 61 Den Bezirk des Ungewöhnlichen – und das heißt auch den Bezirk des Möglichen – zu bewahren bedeutet demnach, die Wahrheit des Seins in ihrem geschichtlichen Auftreten zu erkennen und die Dinge für ihr eigenes Sichzeigen frei zu lassen. Das Zulassen der Dinge heißt aber, diese nicht mehr als Festes oder Erreichtes zu betrachten. Hierin versucht Heidegger eine Alternative zum technischen »Bestellen« und »Herausfordern« der Welt anzubieten. Im Gegensatz zum Aufenthalt inmitten einer vertrauten Welt sollen die Dinge der Welt wieder fremd werden. In dem Vortrag Das Ding sagt er, dass im Zeitalter der moder-
Darüber hinaus sagt Burkhardt Biella zutreffend: »Ohne das Fremde und ohne die Fremde bleibt Heimat ohnehin undenkbar« (Biella, Eine Spur ins Wohnen legen, 157). 60 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 87. Vgl. auch Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 60: »Das Heimischwerden ist so ein Durchgang durch das Fremde.«; Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 69: »So geheimnisvoll ist das Wesen des Eigenen, daß es nur aus der überlegenen Anerkennung des Fremden seinen eigensten Wesensreichtum entfaltet. Dieses Geheimnis des Heimischwerdens des geschichtlichen Menschen ist die dichterische Sorge des Dichters der Stromhymnen.« 61 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 150: »Das Sein ist nichts Wirkliches, sondern das, was das Seinkönnen des Wirklichen bestimmt und zumal das Seinkönnen des Menschen; jenes Seinkönnen, in dem sich das Menschsein erfüllt: das Unheimischsein im Heimischwerden. Dies ist die Zugehörigkeit zum Sein selbst.« 59
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nen Technik eine Abstandslosigkeit herrsche. 62 Dagegen weist die Heimat auf den eigentümlichen Ort »der sparenden Nähe zum Ursprung« hin. 63 In der Nähe zum Ursprung, in der Heimat, verweilt der Mensch so, dass die Dinge und die Welt nicht fixiert werden. Ihnen wird kein Ort zugewiesen, sondern die Heimat ist der Ort, an dem auch jedes Ding nahe dem Ursprung ist, in dessen Nähe sich das Dasein hält. Der Dichter ist derjenige, der die Dinge als solche in ihrem Fremdsein, auf Abstand, im Auge behält. »Das Ungewöhnliche öffnet sich und öffnet das Offene nur im Dichten.« 64 So lässt sich die Notwendigkeit eines Bruches mit der Alltäglichkeit verstehen: Nur in ihm tritt das Ungewöhnliche im Kontrast zum Gewöhnlichen in Erscheinung. »Die Gewöhnlichkeit des Gewöhnlichsten bricht erst aus in dem Augenblick, da das Gewöhnlichste zum Ungewöhnlichsten wird.« 65 Fest- und Feiertage sind die Beispiele, an denen Heidegger diesen Gedanken erläutert: »Feier ist ein Freiwerden für das Ungewöhnliche des Tages.« 66 In der Vorlesung aus dem WS 1941/ 42 sagt Heidegger, dass das Feiern ein »Frei- und Ledigwerden vom Gewöhnlichen« ist, wobei das Gewöhnliche auf das Alltägliche hinweist, das »uns so allzu leicht zum Un-eigentlichen« wird. 67 Das Uneigentliche der nicht zugeeigneten Welt »bestätigt, stützt und steigert solche Gewöhnlichkeit«; dabei taucht die Sorge bloß »als geschäftliche Bemühung und als Unruhe der Machenschaften« auf, statt dass sie als das, was sie ist, erkannt würde, »nämlich der Gehorsam der Bewahrung einer Zugehörigkeit zum Wesenhaften alles Seienden – d. h. zum Eigentlichen, das immer das Ungewöhnliche ist«. 68 Der Dichter ist derjenige, der ständig im Fest wohnt. 62 Vgl. Heidegger, Das Ding, GA 7, 179. Vgl. auch Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 102–103: »Nur das Ungewöhnliche kann das Offene lichten, sofern das Ungewöhnliche sein verborgenes Maß in der Seltenheit des Einfachen hat, worin sich die Wirklichkeit des gewöhnten Wirklichen verbirgt. Das Ungewöhnliche läßt sich im Gewöhnlichen unmittelbar nicht antreffen und aufgreifen.« 63 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 26. 64 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 103. 65 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 168. 66 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 103. Vgl. auch Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 64: »Das Feiern als solches Innehalten bringt uns so schon an die Schwelle der Besinnung und damit in die Nachbarschaft des Fragwürdigen und damit noch einmal an eine Grenzscheide.« 67 Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 65. 68 Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 65.
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Somit ist klar, dass Heimat für den Menschen nicht von vornherein gegeben ist. Es geht um ein Werden von Heimat. 69 Die Heimat muss als Heimat übereignet werden, so dass eine Rückkehr ins Heimische gelingt. Im Zurückkommen in die Heimat kommt »die Erde voll ins eigentliche Spiel […], d. h. die Geschichte und die geschichtliche Zeit«. 70 In diesem irdischen Aufenthalt zu bleiben, der die Heimat ist, »macht sich keineswegs von selbst«. 71 Das Bleiben ist deshalb nur als Heimkehr möglich, und diese ist wiederum die Aufgabe des Dichters, sofern der »Beruf des Dichters […] die Heimkunft« ist. 72
4.
Das Wohnen im Geviert
Nach Heideggers kurzem politischem Engagement kann eine sprachliche Veränderung in seinem Nachdenken über das Wohnen beobachtet werden. Das Wort »Heimat« verschwindet ebenso plötzlich, wie es aufgetreten war. Lebendig bleibt sein Ethosdenken aber darin, dass einige der wichtigsten Beschreibungen der Heimat in Heideggers Beschreibung des Gevierts übergegangen sind. In Bauen Wohnen Denken wird klar, dass das Wohnen nicht bloß als »Innehaben einer Unterkunft« zu verstehen ist. Vielmehr ist das Wohnen »der Grundzug des menschlichen Daseins«. 73 Einerseits ist die menschliche Existenz aus dem Wohnen heraus zu denken; andererseits soll das Wesen des Dichtens als Bauen bestimmt werden. Das Wohnen muss also in einem inneren Zusammenhang mit Bauen und Denken thematisiert werden. So wie das Wohnen nur durch ein Bauen erreicht werden kann, vollzieht sich das Bauen nur zugunsten des Wohnens. Heidegger weist noch einmal auf den etymologischen Zusammenhang des »Ich bin« mit dem Wort »Bauen« hin. Das »Ich bin«, das zum Wort »Bauen« gehört, bedeute eigentlich »Ich wohne«: »Die
Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 14: »Das Eigenste der Heimat ist bereits das Geschick einer Schickung, oder wie wir jetzt dies Wort sagen: Geschichte. Doch in der Schickung ist das Eigene gleichwohl noch nicht übereignet.« 70 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 105. 71 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 117. 72 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 28. 73 Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, GA 7, 193. Vgl. auch Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 163. 69
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Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen.« 74 Aber auch das Dichten und das Wohnen sind ursprünglich aufeinander bezogen: Das Dichten ist ein »Wohnenlassen«, 75 ja sogar »das eigentliche Wohnenlassen«. 76 Das wesentliche und eigentliche Wohnen bezeichnet Heidegger als den Aufenthalt im Geviert. Das Geviert ist die »Versammlung« der »Gegenden« von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen. 77 Diese Versammlung erscheint als das »Weltspiel« 78 , das heißt, sie ist als das Eigentümliche, als das und in dem sich die Existenz der Menschen inmitten der Dinge realisiert. Im Geviert kommt deshalb die Wahrheit des Seins zur Geltung: »Die Wahrheit des Seins dachten wir im Welten von Welt als das Spiegel-Spiel des Gevierts von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen.« 79 Im Geviert wohnen die Menschen als die Sterblichen auf der Erde. Mit dem Gedanken des Menschen als des Sterblichen bringt Heidegger das Motiv der Anerkennung des eigenen menschlichen Seins als eines Seins zum Tode zum Ausdruck. »Die Sterblichen sind jene, die den Tod als Tod erfahren können.« 80 Der Sterbliche wohnt aber nicht nur auf der Erde – und das heißt: sich seiner Endlichkeit bewusst –, sondern auch zwischen Himmel und Erde. »Dieses Zwischen ist dem Wohnen des Menschen zugemessen.« 81 Der Himmel ist für Heidegger »der Sonnengang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, die Gunst und das Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers«.82 Von »Himmel« spricht Heidegger aber auch deswegen, weil »von Anfang an der Aufblick zum Himmel Metaphern bot für das, was Sein und Zeit die Ekstasen der Zeitlichkeit nennt«. 83 Mit dem Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 149. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 162. 76 Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, GA 7, 193. 77 Heidegger, Das Wesen der Sprache, GA 12, 202. 78 Heidegger, Das Wesen der Sprache, GA 12, 202. 79 Heidegger, Die Kehre, GA 11, 121. 80 Heidegger, Das Wesen der Sprache, GA 12, 203. 81 Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, GA 7, 198. 82 Heidegger, Das Ding, GA 79, 17. 83 Karsten Harries, »Das Ding«, »Bauen Wohnen Denken«, »… dichterisch wohnet der Mensch …« und andere Texte aus dem Umfeld. Unterwegs zum Geviert, in: D. Thomä [Hrsg.], Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 290–302, hier 298. 74 75
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Wort »Himmel« wird also auf die freie und zeitliche Dimension der Existenz hingewiesen. Aus Heideggers Behauptung, dass die Sterblichen nur dann im Geviert sind, wenn sie wohnen, merkt man leicht, dass wir nicht von vornherein wohnend sind. Auf den ersten Blick scheint dies dem erwähnten Verständnis zu widersprechen, dass das Wohnen »der Grundzug des menschlichen Daseins« sei. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man daher zwischen einem wesentlichen Wohnen und einem faktischen Wohnen unterscheiden.84 Die Menschen wohnen wesentlich im Geviert, und dennoch wohnen sie im dürftigen Zeitalter der Machenschaft ohne ein Bewusstsein ihres eigenen Existierens: »Noch sind die Sterblichen nicht im Eigentum ihres Wesens.« 85 Es ist, als ob der Mensch schlafend im Geviert wohnte. Das Wohnen wird zur Gewöhnung und bleibt unbemerkt. Wenn aber das Wohnen zur Gewöhnung wird, wird das Wesen des Wohnens »vollends nie als der Grundzug des Menschseins gedacht«. 86 Daher ist das Zeitalter der technischen Herrschaft eine Zeit der »Heimatlosigkeit« und der »Bodenlosigkeit«. Der Mensch ist seinem eigenen wesentlichen Wohnen fremd geworden, und diese Entfremdung seines Wesens stellt nichts Geringeres dar als einen Wesensverlust. So wie die Heimat ein Werden ist, nämlich als Rückkehr ins Eigene durch das Fremde, verkörpert hier das Wohnen im Geviert das Moment, in dem wir uns wieder beim Ursprünglichen befinden. Darüber hinaus wird mit dem Wohnen im Geviert ein bestimmtes Wohnen bezeichnet, das sich vom alltäglichen Wohnen unter der Herrschaft der modernen Technik radikal unterscheidet. Die »eigentliche Not des Wohnens« 87 überhaupt zu erkennen, bringt uns schon auf den Weg der Rettung, auch wenn diese nur durch die Rückgewinnung des Wesensaufenthaltes, des Wohnens in der Nähe der Wahrheit des Seins, geschehen kann. Heideggers Gedanke, »daß die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, daß sie das Wohnen erst ler-
Dieser Unterscheidung ist übrigens auch bei Burkhard Biella (Biella, Eine Spur ins Wohnen legen, 102) und Julian Young zu finden (Julian Young, Heidegger’s Later Philosophy, Cambridge 2002, 74). 85 Heidegger, Wozu Dichter?, GA 5, 274. 86 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 150. 87 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 163. 84
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nen müssen« 88 , führt wieder zum Bereich der ursprünglichen Ethik bzw. des ursprünglichen Ethos hin. 89 Obwohl es zwischen Heideggers spätem Denken und seinem früheren Philosophieren deutliche Unterschiede gibt, bleibt doch das Motiv einer ausgezeichneten Möglichkeit des menschlichen Existierens, die es zu erreichen gilt, immer präsent. Diese Möglichkeit bedeutet jedoch nicht mehr das eigenste Seinkönnen des Menschen als Manifestation seiner Selbstbehauptung gegenüber dem homogenisierenden Blick des »Man« und der unentrinnbaren Ankunft des Todes. Der Auftrag des Menschen ist nicht die Wahrheit der Existenz als das Entwerfenmüssen seines eigenen Seins, sondern vielmehr sein Wesen als Schonend-Wohnender im Geviert. Das »Schonen« des Gevierts macht die Möglichkeit des wesentlichen Wohnens aus, da »schonen« »das Geviert in seinem Wesen hüten« bedeutet. 90 »Die Sterblichen wohnen in der Weise, daß sie das Geviert in sein Wesen schonen.«91 Beide, der Mensch und das Geviert, kommen im Schonen in ihr Wesen. Die Rede vom Schonen des Gevierts nimmt ebenso die Auffassung des Menschen als eines Hirten und Wächters des Seins auf und konkretisiert sie. Der Mensch hat einen eigentlichen Aufenthalt im Geviert, indem er sein Wesen als ein Hirt und Wächter des Seins erkennt. Hält der Mensch an seinem Wesen fest, kennt er zugleich seine eigene Bestimmung: Er soll das Geviert wohnend hüten. Die Sorge ist nun eigentlich die Sorge um das Geviert, die sich als ein hütendes Bewahren, als Schonen manifestiert. Schonen ist aber nicht nur eine Weise des Hütens, sondern auch des Friedens und des Freiens. 92 Das Geviert zu schonen heißt für Heidegger, das Geviert frei zu lassen. 93 Und weil Halten eigentlich Hüten heißt 94 und jedes Wohnen Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 163. Vgl. Kettering, NÄHE, 369: »Heideggers Seinsdenken impliziert weder eine Ethik nach der gewohnten Bedeutung, noch will es sich durch eine solche ergänzen lassen. Es ist in sich ›ursprüngliche Ethik‹, in deren Zentrum das Wohnen des Menschen in der Nähe des Seins steht.« 90 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 153. 91 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 152. 92 Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 150. 93 Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 151: »Wohnen, zum Frieden gebracht sein, heißt: eingefriedet bleiben in das Frye, d. h. in das Freie, das jegliches in sein Wesen schont.« 94 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 361: »›Halt‹ bedeutet in unserer Sprache die ›Hut‹.« 88 89
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ein Bleiben und damit ein Halten ist, zeigt sich das eigentliche Wohnen des Menschen als ein frei lassendes Hüten. Das menschliche Wohnen ist der Aufenthalt der Sterblichen, insofern sie ihr sterbliches, endliches, das Geviert schonendes Wesen übernehmen. Der Mensch wohnt aber nicht nur als ein Hüter des Gevierts, sondern auch als Retter der Erde. 95 Retten bedeutet, wie bereits erklärt, »etwas in sein eigenes Wesen freilassen«. 96 Retten heißt deshalb, die Erde als dieses Sichverschließende – so wie im Ursprung des Kunstwerkes beschrieben – offen zu halten. Es kommt darauf an, die Erde weder zu beherrschen noch sie zu verbrauchen, sondern sie frei zu lassen. Dies bedeutet wiederum, das Verborgene zu bewahren, aus dem alles Unverborgene kommt. Nur sofern die Erde in einer solchen Bewahrung zur Geltung kommt, bleibt unser Verstehen der Dinge, der anderen, des Selbst, in einem Wort gesagt: der Welt mit der ihnen jeweils gemäßen ursprünglichen und geschichtlichen Erfahrungsquelle verbunden. 97 Das Schonen des Gevierts als das Wohnen des Menschen ist vielfältig, genauer: »vierfältig«, denn das Wohnen geschieht zwischen Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen: »Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Schonen des Gevierts.« 98 Die Sterblichen zu geleiten heißt, nicht nur selbst ein Verhältnis zum eigenen Tod zu gewinnen, sondern auch andere in ihrem Sein zum Tode zu begleiten. Bei der Rettung der Erde geht es für Heidegger nicht nur darum, die Erde vor den modernen Herausforderungen, vor dem Verbrauchen und »Bestellen« zu retten, sondern vor allem darum, das Verborgene, das die Erde darstellt, zu bewahren. Den Himmel als den Bereich des vertrauten, aber freien Existierens des Menschen zu »empfangen« heißt, die geschichtliche Grenze des bereits als sinnhaft erfahrenen Bekannten nicht zu vergessen. Gott ist für die Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 152: »Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten.« 96 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 152. 97 Vgl. auch Harries, »Das Ding«, »Bauen Wohnen Denken« …, 297: »Die Erde als Erde bewahren heißt auch wissen, daß das hier Gemeinte unser Begreifen übersteigt, daß unserem Verstehen der Wirklichkeit Grenzen gesetzt sind, daß jeder Versuch, diese Grenzen zu überschreiten oder zu leugnen, Wirkliches mit Fiktionen zu ersetzen droht.« 98 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 153. 95
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Menschen die Darstellung einer derartigen Versammlung, die die Welt und all ihre Dinge als ein sinnvolles Ganzes ausmacht. Heidegger spricht jedoch vom »Göttlichen« und nicht von »einem« Gott. Dies ist sinnvoll, denn für Heidegger gibt es nicht so etwas wie »eine« absolute Versammlung, sondern solche Versammlung ist immer geschichtlich. Das Erwarten der Götter bedeutet eigentlich, unsere Bereitschaft für eine kommende Versammlung aufrechtzuerhalten. Das Fehlen Gottes zeigt sich jedoch weniger als reine Abwesenheit, sondern vor allem dadurch, dass der moderne Mensch zwar immer schon in einem bestimmten versammelnden Grund bleibt, aber dieser Grund mit der Quelle seiner Sinngebung in keinem Zusammenhang mehr steht. Das »Erwarten der Göttlichen« lässt sich aber zugleich auf das kairologisch-eschatologische Verständnis der Zeitlichkeit beim jungen Heidegger zurückverfolgen. Denn bei diesem Erwarten geht es auch um die Bereitschaft für das plötzliche Eintreten des Sinnhaften. Nicht von ungefähr spricht Heidegger also von der »Eschatologie des Seins«. 99 Das Fehlen Gottes meint dann eigentlich das Fehlen des Ursprungsbezogenen. Daraus wird verständlich, dass das Erwarten der Göttlichen gerade die Wachsamkeit gegenüber der Zeit des Ereignisses darstellt, das heißt gegenüber der Zeit, in der sich etwas als etwas Sinnhaftes ereignet. Daher sagt Heidegger in dem Vortrag Die Kehre, dass es das Wesen des Menschen sei, »der Wartende zu sein, der des Wesens des Seins wartet, indem er es denkend hütet«. 100 Gerade »im Warten« gerät das Dasein des Menschen »in die Achtsamkeit auf das, wohin es gehört, ohne sich doch dorthin wegzuheben und sich darin aufzulösen«. 101 Dieses wartende Sichhalten im Offenen, das als ein waches Verweilen zu deuten ist, weist auf das Wohnen im Geviert hin. Im Geviert, in dieser »Vierung« 102 , haben die Dinge eine zentrale Rolle, denn sie sind diejenigen, die »die Sterblichen [be-dingen]«. 103 Dies ist so, weil das Wohnen des Menschen stets ein Aufenthalt bei den Dingen ist. 104 Die Dinge bilden keine fünfte Dimension des Gevierts, sondern »der Aufenthalt bei den Dingen ist die einzige Weise, Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 327. Heidegger, Die Kehre, GA 11, 118. 101 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 226. 102 Heidegger, Das Ding, GA 79, 19. 103 Heidegger, Die Sprache, GA 12, 20. 104 Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 153: »Das Wohnen als Schonen verwahrt das Geviert in dem, wobei die Sterblichen sich aufhalten: in den Dingen.« 99
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wie sich der vierfältige Aufenthalt im Geviert jeweils einheitlich vollbringt«. 105 In der Mitte des Gevierts befindet sich das Ding so, dass es das Geviert bedingt. Dieser Gedanke wird durch die Erläuterung des Gevierts als »Spiegel-Spiel« 106 in dem Vortrag Das Ding deutlicher: »Wir nennen das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen die Welt.« 107 Das Geviert ist derjenige Spielraum, in dem »jedes der Vier […] in seiner Weise das Wesen der übrigen wider[spiegelt]«. 108 Die Weise aber, wie diese Vier sich widerspiegeln lassen, ist allein durch das Sichzeigen des Dings bedingt. Das Geviert nimmt gewissermaßen nur durch das Erscheinen des Dings seine eigene Anordnung ein. Weil die Dinge inmitten des Gevierts stehen, kann es eine Welt geben, die zugleich das durch die Dinge konfigurierte Geviert ist. Welt und Ding stehen für Heidegger in einer »Innigkeit«. 109 Diese »Innigkeit« ist aber keine »Verschmelzung« von beiden, sondern in ihr muss die Scheidung zwischen Welt und Ding lebendig bleiben, denn »Innigkeit waltet nur, wo das Innige, Welt und Ding, rein sich scheidet und geschieden bleibt«. 110 Das innige »Zwischen« von Welt und Ding nennt Heidegger den »Unter-Schied«. 111 »Der Unter-Schied für Welt und Ding ereignet Dinge in das Gebärden von Welt, ereignet Welt in das Gönnen von Dingen.« 112 Damit ist gesagt: Im Verhalten der Sterblichen zur Welt erscheint das Ding. Doch das Ding ist so wenig Welt, wie die Welt ein Ding ist. Die Welt ist der Ort, an dem sich das Ding abspielt, und somit ist das Ding erst wahrhaft Ding, wenn es in der Welt ist. Die »Innigkeit« von Welt und Ding kommt aber nicht aufgrund unseres Willens zustande, sondern sie ereignet sich. Vergegenständlicht man die Welt, dann verschwindet nicht nur das Ding, sondern auch das Geviert. Der wesentliche Aufenthalt bei den Dingen weist auf etwas Grundlegendes des menschlichen Existierens hin: Wir wohnen immer schon inmitten des Phänomenalen in seinem verweisenden und jewei105 106 107 108 109 110 111 112
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Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 153. Heidegger, Das Ding, GA 7, 181. Heidegger, Das Ding, GA 79, 19. Heidegger, Das Ding, GA 79, 18. Heidegger, Die Sprache, GA 12, 22. Heidegger, Die Sprache, GA 12, 22. Heidegger, Die Sprache, GA 12, 22. Heidegger, Die Sprache, GA 12, 22.
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ligen Zusammenhang. Deswegen müssen wir die Achtsamkeit lernen. »Wir lernen die Achtsamkeit, indem wir in das unscheinbare Einfache blicken, es je und je ursprünglicher aneignen und vor ihm scheuer und scheuer werden.« 113 Die Hervorhebung des Aufenthaltes bei den Dingen erfordert die ständige Achtsamkeit auf das jeweilige Sichzeigen des Phänomenalen und dessen jeweiligen Zusammenhang. Auch dies gehört zum Wesen des Gevierts: »Das Wohnen schont das Geviert, indem es dessen Wesen in die Dinge bringt.« 114 Das Geviert ist dann die Konstellation, in der die Vier – Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen – inmitten der Dinge und aus dem Ding selbst ihre eigene Fülle empfangen. Ein Ding – Heideggers Beispiele sind eine Brücke und ein Krug – hat einen versammelnden Charakter. Zum Ding als Versammlung gehört eine eigentümliche Art zu sein, denn das Ding, wie zum Beispiel die Brücke, »versammelt das Geviert in der Weise, daß sie ihm eine Stätte verstattet«. 115 Ein Ding trägt die Möglichkeit in sich, einen eigenen Zusammenhang zu eröffnen. Das Ding wird zum Ort. In diesem Sinne gibt das Ding dem Geviert überhaupt erst eine Stätte, weil es diesem einen Ort, oder besser gesagt, eine Versammlung von Orten – eine Ortschaft – gestattet: »Der Ort räumt das Geviert in einem zwiefachen Sinne ein. Der Ort läßt das Geviert zu und der Ort richtet das Geviert ein.« 116 Dabei gilt es, »Ort« nicht als leeren Raum zu verstehen, denn es gibt weder »den« Ort noch »den« Raum, sondern, so Heidegger, das »Räumen« und eine Vielzahl von Orten. Diese Orte sind ursprünglicher als der Raum. 117 »Das Ding dingt. Das Dingen versammelt. Es sammelt, das Geviert ereignend, dessen Weile in ein je Weiliges: in dieses, in jenes Ding.« 118 Im Ding kommt dasselbe, was der junge Heidegger immer wieder zu betonen versucht, zur Geltung: die Jeweiligkeit. Zum Dingsein gehört Jeweiligkeit, denn ein Ding ist jeweils dieses oder jenes, das heißt, es ist Bestimmtes nur für eine Weile. Wohnt der Mensch im Geviert bei den Dingen, dann ist dieses Wohnen wach für das je andere Sichzeigen der Dinge. Mit dem wesentlichen Wohnen des Menschen im Geviert kommt 113 114 115 116 117 118
Heidegger, Aufsätze und Dialog, GA 75, 42–43. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 153. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 156. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 160. Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 156. Heidegger, Das Ding, GA 7, 175. A
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nicht nur der Mensch in seinem Wesen als Wächter und Hirt des Seins zur Geltung, sondern zugleich vollzieht sich das Gewinnen der Welt als Welt und der Dinge als Dinge: 119 »Wann und wie kommen Dinge als Dinge? Sie kommen nicht durch die Machenschaft des Menschen. Sie kommen aber auch nicht ohne die Wachsamkeit der Sterblichen. Der erste Schritt zu solcher Wachsamkeit ist der Schritt zurück aus dem nur vorstellenden, d. h. erklärenden Denken in das andenkende Denken.« 120 Damit ist gesagt, dass im Zeitalter der Technik das Ding, die Welt und die Menschen selbst in ihrem Wesen verloren gehen. Deshalb ist das Wohnen im Geviert eine Weise des menschlichen Existierens, in der das Phänomenale selbst und kein äußeres Diktat die Sinnhaftigkeit und Ordnung der Welt leiten. »Indem der Mensch die Dinge nicht in ihrer Ruhe läßt, sondern, vernarrt in seinen Fortschritt, über sie wegschreitet, wird er zum Schrittmacher der Verwüstung, die seit langem schon das Wirrsal der Welt ist.« 121 Das Phänomenale, das sich seinerseits aber nur dem Ereignis verdankt, wird bei dem im Geviert wohnenden Menschen in seiner Wahrheit bewahrt. Kurzum: Im Geviert wohnt der Mensch offen für die Wahrheit des Seins und das heißt für die Offenheit der Welt und ihrer Dinge. Der »Schritt zurück« 122 nimmt also »seinen Aufenthalt in einem Entsprechen, das, im Weltwesen von diesem angesprochen, innerhalb seiner ihm antwortet«. 123 Dieses Entsprechen bedeutet, wie wir wissen, dem Sein zu entsprechen. 124 Erst durch den Aufenthalt im Geviert bei den Dingen realisiert sich Menschsein eigentlich. Das Wesen des Menschen kommt nur durch ein gewisses Wohnen zum Vorschein: »Das Geviert zu schonen, die Erde zu retten, den Himmel zu empfangen, die Göttlichen zu erwarten, die Sterblichen zu geleiten, dieses vierfältige Schonen ist das einfache Wesen des Wohnens.« 125 Dieses »einfache Wesen« des Wohnens bedarf der Anerkennung des Menschen. Heideggers Aufklärung 119 Vgl. Heidegger, Das Ding, GA 7, 184: »Erst die Menschen als die Sterblichen erlangen wohnend die Welt als Welt. Nur was aus Welt gering, wird einmal Ding.« 120 Heidegger, Das Ding, GA 7, 183. 121 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 229. 122 Heidegger, Das Ding, GA 7, 183. 123 Heidegger, Das Ding, GA 7, 183. 124 Vgl. Heidegger, Das Ding, GA 7, 185: »›Sein‹ denken heißt: dem Anspruch seines Wesens entsprechen. Das Entsprechen entstammt dem Anspruch und entläßt sich zu ihm. Das Entsprechen ist ein Zurücktreten vor dem Anspruch und dergestalt ein Eintreten in seine Sprache.« 125 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 161.
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des Wohnens des Menschen weist auf die eigentliche und damit höchste Weise des Wohnens hin. Genau dies steht aber in Bezug zum Ethos in Heideggers früherem Denken. Heideggers Überlegungen nehmen sich deshalb nicht in eine reine Deskription des (alltäglichen) Aufenthaltes des Menschen zurück, sondern sind Beschreibungen eines eigentümlichen Verständnisses des ursprünglichen Wohnens (und das heißt eines bereits als ursprüngliches entschiedenen Wohnens), das sich der Mensch erst zu eigen macht. 126 Ein Grundzug von Heideggers Ethosdenken ist auch hier wieder eine Geste, die eine Richtung weist. Es gibt einen verborgenen und dennoch eigentlichen und ursprünglichen Modus der Existenz, den es zu suchen gilt. Das Wohnen im Geviert muss, so wie vorher auch die Heimat, erst erreicht werden. Und dazu muss es zunächst eben als das eigentliche Wohnen des Menschen erkannt werden. 127
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Wohnt der Mensch im Geviert eigentlich, so wohnt er dichterisch. 128 Heidegger übernimmt Hölderlins Poetik des dichterischen Wohnens des Menschen. Dieses Wohnen bedeutet, wie Heidegger in der Hölderlin-Vorlesung vom WS 1934/35 sagt: »Das geschichtliche Dasein des Menschen ist von Grund aus getragen und geführt von dem Seyn, das der Dichter im voraus erfahren, erstmals ins Wort gehüllt und so in das Volk gestellt hat.« 129 Das Dichterische soll als an eine erstmalige und maßgebende Stiftung verstanden werden, 130 denn Stiften bedeutet 126 Vgl. Harries, »Das Ding«, »Bauen Wohnen Denken« …, 298: »Heidegger unterscheidet hier zwischen einem eigentlichem Wohnen und der Art und Weise, in der wir zunächst und zumeist mit Personen und Dingen umgehen, eine Vertiefung der in Sein und Zeit getroffenen Unterscheidung zwischen einem eigentlichen und einem uneigentlichen Existieren.« 127 Vgl. Cerezo, De la existencia etica a la existencia originaria, 43: »Ethos designa, pues, un rasgo esencial y originario del hombre, pero no como algo que éste tenga en su haber, sino, a la inversa, como aquello a que se debe, a lo que pertenece y por lo que es requerido como su lugar de gravitación.« 128 Vgl. Heidegger, Sprache und Heimat, GA 13, 180. 129 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 184. 130 Vgl. Heidegger, Rede auf Hebel, GA 16, 541: »Der Dichter versammelt die Welt in ein Sagen, deren Wort ein mild-verhaltenes Scheinen bleibt, worin die Welt so erscheint, als werde sie zum ersten Mal erblickt.« Vgl. auch Heidegger, Johann Peter He-
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»Gründung des bislang noch nicht Seienden«. 131 Zur Dichtung gehört »das stiftende Nennen des Seins und des Wesens aller Dinge«, 132 und eben darin liegt die Bedeutung der Dichtung. Deshalb hat sie einen höheren Rang gegenüber anderen Weisen der Offenbarkeit des Seienden. Zwar ist das Dichten – wie jede andere Art des Sprechens – ein Offenbarmachen, doch ist dieses Sprechen im Sinne eines »weisenden Offenbarmachens« zu verstehen. 133 Durch die dichterische Sprache kommt der Seinsentwurf einer Gemeinschaft zum Vorschein. Dem Wink der Götter in der Dichtung entspricht die Weise, in der das Sein dem Menschen winkt. So wie die Götter dem Menschen nur winken können, so zeigt sich das Sein niemals direkt. Der Dichter versteht das winkende Sagen der Götter und stellt dieses für eine Gemeinschaft dar. Deshalb kann Heidegger sagen, dass der »Dichter […] der Begründer des Seyns« ist. 134 Wenn er mit Hölderlin sagt, dass die Dichter »das Bleibende« stiften, bedeutet diese Stiftung gerade die »worthafte Stiftung des Seins«. 135 Die Dichtung entspricht dem Sagen des Seins selbst. In der Dichtung wird das flüchtige Sagen der Götter ausgehalten, aber nicht, um verabsolutiert zu werden, sondern ausschließlich, um es in einer verweisenden Weise zu behalten. Dass der Dichter das »Heitere im helleren Blick« hat 136 – wobei das Heitere als »das reine Lichtende, das jedem ›Raum‹ und jedem ›Zeitraum‹ erst das Offene ›einräumt‹ und d. h. hier gewährt«, zu verstehen ist 137 – heißt, dass der Dichter derjenige ist, der seinen Blick in der Lichtung des Seins hält. So gesehen, entspricht dem dichterischen Sagen der Dichtung das denkende Sagen der Philosophie. Im freien Bilden der Dichtung wird die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen neu geschaffen. Der »Traum« des Dichters »bringt die noch nicht angeeignete Fülle des Möglichen und bewahrt die verklärte Erinnerung an das Wirkliche«. 138 Diese Erinnebel, GA 16, 493–494: »Die wahre und hohe Dichtung vollbringt immer nur das Eine: sie bringt das Unscheinbare zum Scheinen.« 131 Heidegger, Aufsätze und Dialog, GA 75, 11. 132 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 43. 133 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 30. 134 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 33. 135 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 41. 136 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 20. 137 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 18. 138 Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 121.
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rung an das Wirkliche ist derart, dass »das Mögliche und zwar als das Kommende die Erwartung bindet. Dieses in einem ist dort, wo die Kunst die Geschichte stiftet, ein Traum.« 139 Diese neue Ordnung der Dinge, die Heidegger »den Traum« der Dichter nennt, ist »furchtbar, weil er die, denen er sich zeigt, aus dem sorglosen Aufenthalt beim vertrauten Wirklichen heraus- und hineinwirft in den Schrecken des Unwirklichen«. 140 Der Ausdruck »Schrecken des Unwirklichen« weist auf den unendlichen Bezirk des Möglichen hin, der sich aufgrund seiner flüchtigen Natur, die die zweckgerichtete Vernunft niemals zu fassen vermag, als ein »Schrecken« zeigt. Dieser Schrecken ist die Furcht vor dem Unbekannten und Unsicheren, dem der Mensch auf seinem Lebensweg immer wieder zu entfliehen versucht. Der Dichter bleibt nicht im »sorgenlosen Aufenthalt«, sondern bekommt die Flüchtigkeit des Existierens durch sein stiftendes Schaffen gewissermaßen in den Griff. Das dichterische Wohnen ist eigentlich das achtsame Beachten der Dinge. Dieses Wohnen ist das Stehen »in der Gegenwart der Götter« und das Betroffensein »von der Wesensnähe der Dinge«. 141 Der Dichter achtet in seinem dichterischen Wohnen auf die jeweilige Weise der Versammlung der Dinge, in der deren Verschiedenheit in die ihnen entsprechende Kohärenz gebracht wird. Dies ist nur möglich, weil der Dichter wach und nüchtern bei den Dingen verweilt. Man könnte mit Pedro Cerezo dieses Denken des dichterischen Wohnens als eine eigentümliche Ethik verstehen, die sowohl für die Kritik als auch für Kreativität ständig offen ist; sie lässt moralischem Dogmatismus oder Fanatismus keinen Raum. 142 Das Ethos im dichterischen Wohnen ist nüchtern und wachsam: »Den freien Gebrauch des eigenen Vermögens lernen, heißt, sich immer ausschließlicher fügen in das Offensein für das Zugewiesene, in die Wachsamkeit auf das Kommende, in die Nüchternheit, die […] das Einzige festhält, was die Not ist. Die nüchtern aufmerkende Offenheit für das Heilige ist zugleich die Sammlung auf das Ruhige, das dem ›Ruhen‹ entspricht, woran der Dichter denkt. Dieses Ruhen ist das Bleibenkönnen im Eigenen.« 143 Das »Lernen« des eigenen dichterischen
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Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 121. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 113. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 42. Vgl. Cerezo, De la existencia etica a la existencia originaria, 64. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 118. A
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Wesens des Menschen ist nichts anderes als das radikale und aufmerksame Sicheinlassen auf das Gefüge der Welt, das durch die Dinge der Welt entsteht. Wir müssen also Dichter werden, weil wir bereits Dichter sind. 144 Hier wird nicht nur das Pindarische der heideggerschen Philosophie wieder sichtbar, sondern zugleich der Gedanke, dass das »dichterische Wohnen« dasjenige ist, das in der Entsprechung zum Sein zu bleiben vermag. Da das eigentliche Wohnen des Menschen ein dichterisches ist, sind die Dichter diejenigen, die »erst das ›Dichterische‹ selbst zeigen und als den Grund des Wohnens gründen«. 145 Hierbei liegt die Vermutung nahe, dass der Dichter gegenüber dem Nicht-Dichter anderen Ranges ist, sogar eines höheren. Der Dichter hat für Heidegger tatsächlich eine besondere Rolle, weil er den »Wesensblick für das Mögliche« 146 und daher einen stiftenden Charakter hat. Weil aber alle Menschen ihrem Wesen nach dichterisch sind, wird der Verdacht, dass Heideggers Denken elitär sei, entkräftet. Das Dichterische muss erst »gezeigt« werden, da wir uns noch nicht in unser Wesen zurückgeholt haben. Der Mensch, der noch nicht bewusst dichterisch wohnt, steht nicht in der Innigkeit seines Wesens, hält sich noch nicht in seinem Wesen und ist also haltungslos. Durch das dichterische Wohnen realisiert sich die Rückkehr ins Eigene, das durch die Fremde ermöglicht wird: »Um freilich das Eigenste frei gebrauchen zu können, um allererst den freien Gebrauch des Eigenen lernen zu können, dazu bedarf es der Auseinandersetzung mit dem Fremden.« 147 Deshalb muss der Mensch ein »Wanderer« werden, 148 »um sich im Fremden für das Eigene bereit und stark zu machen, denn dies läßt sich nicht aneignen durch einen plötzlichen Über144 Vgl. Virginia Cutrufelli, Die Kunst des Vergessens, in: R. Margreiter und K. Leidlmair [Hrsg.], Heidegger. Technik – Ethik – Politik, Würzburg 1991, 185–191, hier 189: »Erst wenn wir Dichter werden, wenn wir als Künstler selbstverständlich geworden sind, können wir unserem menschlichen Wohnen entsprechen, können wir die Trümmer des Wohnens dichterisch neu gestalten, die Möglichkeit des Wohnens wieder lebendig werden lassen.« 145 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 89. 146 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 64. 147 Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 123. Vgl. auch Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 95: »Die Geschichtlichkeit der Geschichte hat ihr Wesen in der Rückkehr zum Eigenen, welche Rückkehr erst sein kann als Ausfahrt in das Fremde.« 148 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 23–24.
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fall auf das vermeintlich Eigene«. 149 Das Eigene muss sich der Mensch zueignen, es bedarf eines Aneignungsprozesses, der mit der Erfahrung der Fremde zusammensteht. Diese Selbstaneignung ist jedoch nicht leicht: »Das Eigene ist am schwersten zu finden und deshalb am leichtesten zu versäumen.« 150 Gerade weil das Eigene am schwersten zu finden ist, »muß am längsten gesucht werden, und solange es gesucht wird, ist es nie verloren«. 151 Dieses Suchen nach dem Eigenen nennt Heidegger ein »ständiges Zögern«, »das Zögern des lange Verweilenden, der vor- und zurückblickt, weil er sucht und im Übergang verweilt. Die Findung und Aneignung des Eigenen ist eins mit dem zögernden Übergang.« 152 Wer auf der Suche nach dem Eigenen ist, der sich als unterwegs zu sich selbst, als auf einer »Wanderung« befindlich 153 begreift, wohnt also dichterisch.
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Das Maß
Das dichterische Wohnen hat sein eigenes Maß in der Weile. »Rückkehr gründet das Bleiben des Ungleichen. Wann dieses bleibt, dann allein ist die Weile, in der das Schicksal rein verweilen kann.« 154 Diese »Weile des verweilenden Schicksals«, die Heidegger »das Maß des eigentlichen Bleibens« nennt, 155 zeigt sich als das Maß des eigentlichen dichterischen Wohnens. Diese Weile ist gerade die Zeit des Festes, das heißt die Zeit für das Ungewöhnliche und Seltene und damit der Moment, in dem eine fruchtbare Unterbrechung der gewohnten und vertrauten Bezüge zur Welt stattfindet. Die Bedeutung, sogar die Wirklichkeit des Vertrauten wird in Frage gestellt; so geschieht eine Rückkehr ins Unheimliche. Das »dichterische Wohnen« ist demnach dieses eigentümliche Verweilen an dem eigentlichen Ort, in dem vom Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 123. Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 123. 151 Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 123. 152 Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 124. Vgl. auch Kettering, NÄHE, 201: »Das Unheimischsein ist nicht bloß die nun einmal gegebene und möglichst schnell zu überwindende Ausgangsituation, die für sich kein Recht hat, vielmehr ist die Erfahrung des Unheimischseins konstitutiv für das Heimischwerden selbst. Erst die bewusste Übernahme des Unheimischseins ermöglicht das Heimischwerden.« 153 Heidegger, Rede auf Hebel, GA 16, 537. 154 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 105. 155 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 105. 149 150
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jeweiligen Ding eröffneten Geviert: »Doch Verweilen ist jetzt nicht mehr das bloße Beharren eines Vorhandenen. Verweilen ereignet. Es bringt die Vier in das Lichte ihres Eigenen.« 156 Im Gedanken des Maßes und Messens kommt dem Himmlischen besondere Bedeutung zu: »Der Mensch hat sich als Mensch immer schon an etwas und mit etwas Himmlischem gemessen.« 157 Das Himmlische wird aber nur durch ein Maß, das Göttliche, versammelt. Wenn Heidegger uns mit Hölderlin sagt, dass der Mensch sich wohnend mit der Gottheit »misst«, so heißt das vor allem, dass der existierende Mensch den versammelnden Zusammenhang, das Maß, immer wieder finden muss. Das Gewärtigen des Maßes ist nicht dessen Erfindung durch den Menschen, denn das Auftreten eines Maßes steht im Zusammenhang mit der jeweiligen Weise, wie sich ein Ding sehen lässt. Das, was Heidegger das »Messen« nennt, ist eigentlich nichts anderes als das Dichten. 158 Der Dichter gewinnt aus dem Sichzeigen der Dinge ein Maß für alle Dinge. Dieses Maß ist für Hölderlin ein unbekannter Gott, 159 ein stets Fremdes und nie Vertrautes. Die Gleichsetzung Gottes mit einem Maß, das ein unbekanntes Maß ist, ist jedoch problematisch: »Gott ist als der, der Er ist, unbekannt für Hölderlin, und als dieser Unbekannte ist er gerade das Maß für den Dichter.« 160 Dass der Gott als ein unbekannt bleibender »durch den Himmel offenbar ist« 161 , bedeutet, dass Hölderlins Gott – das Maß – im jeweiligen Zusammenhang seines Auftretens, als Himmel des Gevierts, verstanden wird. Der Gott wird durch das Wohnen im Geviert gerade als ein offenes Maß offen gehalten. Das Maß wird derart enthüllt, dass dadurch der Verborgene in seinem Sichverbergen zugleich gehütet wird. Das Maß des Dichters ist in diesem Sinne niemals ein äußeres und bereits entschiedenes Maß, sondern es wird zum Maß nach dem Anspruch der Dinge – und das heißt: des Gevierts selbst. »Aus dem Geviert übernimmt das Bauen«, das das Dichten ist, »die Maße für alles Durchmessen und jedes Ausmessen der Räume, die jeweils durch die gestifteten
156 157 158 159 160 161
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Heidegger, Das Ding, GA 7, 175. Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, GA 7, 199. Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, GA 7, 200. Vgl. Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, GA 7, 200–201. Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, GA 7, 200–201. Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, GA 7, 201.
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Das Maß
Orte eingeräumt sind.« 162 Wie Heidegger in Das Wohnen des Menschen aus dem Jahr 1970 sagt: »Die irdisch Dichtenden sind nur die Maß-Nehmenden einer himmlischen Maßgabe.« 163 Gerade weil der Dichter besser als jeder andere weiß, dass es etwas Einmaliges und für alle Zeiten Maßgebendes und Sinnhaftes nicht gibt, kann er selbst das Sein immer wieder neu stiften. So entspricht das Sagen der Dichter der Stimme des Seins. Da das Sein sich selbst als geschichtlich immer wieder anderes gibt, bedarf es immer wieder der Wiederholung, die durch seine dichterische Stiftung geschieht. Das dichterische Wohnen ist die Möglichkeit eines eigentlichen Aufenthaltes des Menschen gegenüber dem sorglosen Aufenthalt im technischen Zeitalter. In dem Vortrag Wozu Dichter? sagt Heidegger sehr deutlich, dass die Technik sozusagen ein illusorischer Aufenthalt des Menschen sei. In der Dichtung vollzieht sich eine Rückkehr in eine Offenheit, die im technischen Ethos verschlossen bleibt. Es geht also darum, den »Aufenthalt« als das »gelichtete Verweilen bei dem, was die 3Alhqeia ist«, zu verstehen. 164 »Im also gewährten Aufenthalt erscheinen die Sterblichen selbst und zwar als diejenigen, die der Unverborgenheit entsprechen, indem sie das in ihr Erscheinende eigens als das so und so Anwesende zum Vorschein bringen.« 165 Dichterisch zu wohnen bedeutet also, in der Offenheit zu bleiben, in der etwas allererst zum Vorschein kommt, sich in seiner Wahrheit enthüllt. Es geht darum, sich auf die Wahrheit der Dinge, des anderen Menschen, auf die Welt einzulassen. Sofern das Seiende in seiner jeweiligen Bestimmtheit im Zusammenhang mit ihrem jeweiligen geschichtlichen Ursprung gedacht wird, bleibt das Seiende auf das Sein hin offen, im Wohnen und Denken. »Denkend lernen wir erst das Wohnen in dem Bereich, in dem sich die Verwindung des Seinsgeschickes, die Verwindung des Ge-Stells, ereignet.« 166 Nur durch das Wohnen des Menschen im Geviert, das sich dichterisch realisiert, wird die Möglichkeit des Ethos im Zeitalter des Gestells gewonnen. Dabei ist dieses eigentliche Ethos immer schon im Gestell latent präsent. Der 162 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 161. Vgl. Cutrufelli, Die Kunst des Vergessens, 190: »Der tägliche Künstler vergisst die Regel, vergisst die Norm, vergisst den Anspruch auf dauerhafte Wahrheit, denn sie gibt es nicht.« 163 Heidegger, Das Wohnen des Menschen, GA 13, 215. 164 Heidegger, Griechenlandreisen, GA 75, 233. 165 Heidegger, Griechenlandreisen, GA 75, 233. 166 Heidegger, Die Kehre, GA 79, 71.
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Mensch kann nicht anders, als sich zum Dichterischen zu verhalten, in eigentlicher oder uneigentlicher Form dichterisch sein, denn »auch der Mensch des heutigen Zeitalters wohnt auf seine Weise dichterisch« – »dichterisch nämlich, d. h. unter dem sein Dasein nennenden Namen, undichterisch«. 167 Heidegger sagt mit Hölderlin, dass unser heutiges Wohnen ein »undichterisches« sei, 168 in dem der Mensch »für seinen Willen zur Produktion seiner selbst und der bestellbaren Bestände das Maß von dieser durch seine Machenschaft verunstalteten Erde« nimmt. 169 Es geht deshalb darum, dass wir »das Dichterische im Undichterischen« zu erfahren und zu denken vermögen, denn nur so wird endlich klar, »daß es auf dieser Erde nicht nur kein Maß gibt, sondern daß die planetarisch verrechnete Erde auch kein Maß geben kann, vielmehr ins Maßlose fortreißt«. 170 Das »undichterische« Wohnen im Gestell ist derjenige Aufenthalt, in dem der Mensch sich auf die ganze Welt (die Dinge in ihr, die anderen Menschen und sein Selbst) mit einem beherrschenden Zugriff bezieht. 171 Wenn aber das Undichterische unseres heutigen Weltaufenthaltes als ein solches gedacht wird, heißt das, »daß es auf dieser Erde nicht nur kein Maß gibt, sondern daß die planetarisch verrechnete Erde auch kein Maß geben kann, vielmehr ins Maßlose fortreißt«. 172 Das dichterische Wohnen spürt dies im »Fehlen heiliger Namen« und »dem Tod Gottes«: »Nur ein Aufenthalt in der offenen Gegend, aus der her der Fehl [heiliger Namen, D. A.] anwest, gewährt die Möglichkeit eines Einblickes in das, was heute ist, indem es fehlt.« 173 In dieser Hinsicht hebt sich die Rolle des Dichters paradigmatisch hervor, der Dichter ist Heidegger, Das Wohnen des Menschen, GA 13, 219. Vgl. Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, GA 7, 206; Heidegger, Das Wohnen des Menschen, GA 13, 218. 169 Heidegger, Das Wohnen des Menschen, GA 13, 219. Vgl. auch Heidegger, Gedachtes, GA 81, 328. 170 Heidegger, Das Wohnen des Menschen, GA 13, 220. 171 Vgl. McNeill, The Time of Life, 150: »Heidegger’s interpretations of human e ¯ thos in dialogue with Hölderlin suggest that such dwelling not only unfolds poetically, but that the measure and fitting moment of action can never be mastered by human knowledge or virtue. Virtuous action, if and when it happens, depends not only on human abilities of discernment, readiness, and experience, but also on divine good fortune; the ultimate law of human dwelling is neither simply human or divine, but poietic, unfolding as the dialogue of divine and human destiny.« 172 Heidegger, Das Wohnen des Menschen, GA 13, 220. 173 Heidegger, Der Fehl heiliger Namen, GA 13, 235. 167 168
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Vorbild, denn er blickt nicht nur, der Dichter zeigt auch, er hat den »zeigenden Blick für das Offene, in dem allein Götter erst zu Gast kommen und Menschen eine Behausung bauen können, innerhalb deren das Wahre ist, an das sie sich festzuhalten vermögen«. 174 Das stiftende Wohnen ist das ursprüngliche Wohnen des Dichters, weil dieses ein Maß des eigentlichen Wohnens des Menschen ursprünglich gründet. Der Dichter tut dies so, dass dieses Maß stets im Blick auf ein Sicheinlassen auf die immer anders sich gebende Welt gestaltet ist. Das Maß des Dichters wird, anders gesagt, immer wieder neu aus dem Zwang der Sache gebildet.
7.
Das dichterische Sprechen und sein Wohnen
Das dichterische Wohnen kommt durch das dichterische Sprechen zur Geltung. »Inwiefern wohnt der Mensch dichterisch? Er wohnt so, weil er spricht.« 175 Der Dichter übt den »freien Gebrauch des eigenen Vermögens«, 176 das heißt er benutzt die Sprache nicht, 177 sondern er nimmt die Sprache als das, was sie ursprünglich ist, nämlich als Stiftung. Seine sprachliche Stiftung steht in der Entsprechung des Seins, 178 und deshalb fügt sie sich »in das Offensein für das Zugewiesene, in die Wachsamkeit auf das Kommende«. 179 Die dichterische Stiftung des Wortes hält sich in der Offenheit für das Kommende und immer Mögliche auf. Dieses Offensein für das Fremde ist das dichterische Wohnen des Dichters, ein Wohnort, den die Götter besuchen und an dem sie »Gast« sind. 180 Der Dichter vermag erst die Offenheit dafür zu schaffen, dass die Götter auftreten können. Das Mögliche und der mögliche
Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 148. Heidegger, Erbetene Vorbemerkung zu einer Dichterlesung auf Bühlerhöhe, GA 16, 470. 176 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 118. 177 Vgl. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 132–133: »Dichten und Denken benutzen nie erst die Sprache, um sich mit ihrer Hilfe auszusprechen, sondern Denken und Dichten sind in sich das anfängliche, wesenhafte und darum zugleich letzte Sprechen, das die Sprache durch den Menschen spricht.« 178 Vgl. Heidegger, Erbetene Vorbemerkung zu einer Dichterlesung auf Bühlerhöhe, GA 16, 470. 179 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 118. 180 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 120. 174 175
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Grund aller Versammlung können nur erscheinen, wenn bereits der Raum seines Erscheinens eröffnet ist, eine sich auf dieses einlassende Offenheit. Die Götter sind deshalb Gäste in der Sprache. Das dichterische Wohnen muss erst eine Gastfreundschaft werden, die freundliche Erwartung der Götter. Ob wir den Göttern gegenüber gastfreundlich sind oder nicht, muss der Mensch erst selbst entscheiden. Wenn er sich dafür entscheidet, dann sind seine Worte Antwort auf den Anspruch der Götter. Damit entscheidet sich der Mensch für die Zugehörigkeit zum Ereignis. Die dichterische Sprache steht im Dienste der Entsprechung zu dem Ereignis, in dem die Götter sich uns erst zusprechen. 181 Das Wort, das den Anspruch der Götter nennt, ist das Wort, das dem jeweiligen und einzigen Sichzeigen der Phänomene treu bleibt. 182 Die Beschreibung eines Sachverhalts durch die dichterische Sprache ist keine sich ihrer bemächtigende Bestimmung einer Sache, sondern die »wörtliche« Widerspiegelung der Sache in der Weise, wie sie jeweils erscheint. Erst das Wort lässt ein Ding als das Ding, das es ist, erscheinen und anwesend sein. Der Mensch muss das eigentliche Wohnen als das Wohnen des Dichters erst lernen. Der Dichter wohnt freudig in der »sparenden Nähe«, 183 das heißt, er weiß, dass das, was erscheint, nicht die einzige Möglichkeit des Offenbarens ist, anders als der allein in der Öffentlichkeit stehende Mensch. Und weil allein der dichterische Mensch »den zeigenden Blick für das Offene« hat, 184 ist es seine Aufgabe, den anderen Menschen dazu zu verhelfen, eine Behausung so zu bauen, dass in ihr das Wahre ist. Die Rolle des Dichters ist aber für Heidegger »weder nur belehren, noch erziehen«, sondern er »läßt den Leser gewähren, damit dieser von sich aus in jene Zuneigung zum Wesenhaften gelange, zu dem sich der Hausfreund [der Dichter, D. A.] vorneigt, um mit
181 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 40: »Aber die Götter können nur dann ins Wort kommen, wenn sie selbst uns ansprechen und unter ihren Anspruch stellen. Das Wort, das die Götter nennt, ist immer Antwort auf solchen Anspruch. Diese Antwort entspringt jeweils aus der Verantwortung eines Schicksals.« 182 Vgl. Günter Figal, Heidegger und die Phänomenologie, in: D. Barbaric ´ [Hrsg.], Das Spätwerk Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert, Würzburg 2007, 9–18, hier 11: »Im Laufe der Jahre wird Heideggers Nachsinnen konzentrierter; er wendet sich immer entschiedener dem Wesen der Phänomene selbst zu, um von diesem aus das Schicksal der Philosophie zu verstehen.« 183 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 25. 184 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 148.
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Das dichterische Sprechen und sein Wohnen
uns zu sprechen«. 185 Die anderen kennen den Aufenthalt in der »sparenden Nähe« noch nicht, sie müssen das Wohnen noch lernen. 186 Der Dichter hilft den anderen, in die Heimat zurückzukehren. 187 Diese Heimat ist die Nähe zum Ursprung. In der Heimat erkennt sich der Mensch nicht nur als der »Lernende in allen Dingen«, sondern er weiß zugleich, dass die Dinge »im Widerstreit« stehen. 188 Nun sagt Heidegger, dass die Grundstimmung der Scheu »die Stimmung des heimgekommenen Denkens an den Ursprung« 189 ist. So wie die Grundstimmung der Verhaltenheit in den Beiträgen ist hier die Scheu »das Wissen, daß der Ursprung sich nicht unmittelbar erfahren läßt«. 190 Wenn der Mensch sich an diese Grundstimmung hält, dann weiß er, dass das Geheimnis umfassender ist als jede jeweilige Offenbarkeit des Seienden, und deshalb steht er in einer für das Mögliche offenen Haltung. Im dichterischen Wohnen weiß der Mensch, dass die Verborgenheit, das Geheimnis, das Ungesprochene und Unzeigbare sich nie völlig in das Bestimmte und Anwesende überführen lassen. Das dichterische Wohnen im Geviert erweist sich als der eigentliche Aufenthalt, das eigentliche Ethos des Menschen. Dabei bleibt der Mensch offen für das Mögliche und aufmerksam auf das jeweilige Sichzeigen der Phänomene. Betrachtet man dieses Ethos noch einmal genauer, so zeigt sich die Möglichkeit einer a priori an Regeln gebundenen Existenz mit dem hier dargelegten dichterischen Wohnen unvereinbar. Das Maß des dichterischen Wohnens kommt immer nur aus dem jeweiligen Sichaufhalten bei den Dingen und nicht aus einem bereits vorhandenen Maß. Um dichterisch zu wohnen, muss man den Bereich der Moralität, in dem über das Gute und das Böse je schon entschieden wurde, preisgeben. Durch das Dichten »wird die Gegend offen gehalten für den Aufenthalt der Sterblichen in ihr«. 191 Dennoch geschieht dieses Preisgeben des Moralischen zugunsten eines Ethos, in dem die Wahrheit der Dinge, der Welt und der anderen in ihrer jeweiligen Weise zur Geltung kommen können. Somit verbindet sich das Heidegger, Rede auf Hebel, GA 16, 541. Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 29: »›Die anderen‹ müssen erst lernen, das Geheimnis der sparenden Nähe zu bedenken.« 187 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 30–31. 188 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 36. 189 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 131. 190 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 131. 191 Heidegger, Das Wohnen des Menschen, GA 13, 215. 185 186
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dichterische Wohnen ein weiteres Mal mit dem philosophischen Ethos, denn in diesem Wohnen geht es vor allem darum, das wahrhafte Sichzeigen der Phänomene nicht zu verfehlen, oder anders gesagt: Es handelt sich darum, einen Aufenthalt zu übernehmen, in dem die Gelassenheit für die Wahrheit aller Dinge und nicht der hartnäckige Wille zur Sicherung bewahrt wird. Man kann aber zugleich sagen, dass das philosophische Ethos, das im dichterischen Wohnen zur Geltung kommt, prinzipiell ein phänomenologisches Ethos ist. Wie die Phänomene wahrhaft zu sehen sind, kann niemals von etwas Äußerem her bestimmt werden, sondern einzig und allein aus diesen Phänomenen selbst und dem durch sie bestimmten Zusammenhang, aus dem heraus sie überhaupt erst erscheinen. Die Phänomene und ihr Möglichkeitscharakter sind gerade das, was im dichterischen Wohnen und dessen dichterisch-stiftendem Sagen bewahrt wird.
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Dritter Teil: Ist das philosophische Ethos ein entpolitisiertes, einsames Ethos? Heideggers Philosophie, die Anderen und die Gemeinschaft
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Kapitel VIII: Die Polis, der Dichter und der Philosoph (1933–1943)
Die Tatsache, dass Heidegger Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre Begriffe wie »Gemeinschaft«, »Volk« und »Polis« einführt, ist alles andere als unproblematisch. Denn diese Begriffe scheinen aus politischen und nicht aus philosophischen Gründen gewählt zu sein. Weil die Rede von »Gemeinschaft« und »Volk« zu Heideggers Erörterung der Geschichtlichkeit gehört und die Behandlung dieser Thematik in Sein und Zeit die sonst übliche philosophisch-phänomenologische Strenge vermissen lässt, kann man die These vertreten, dass Heideggers Verständnis der Geschichtlichkeit mit seinem politischen Engagement in Zusammenhang stehe. Laut Karl Löwith hat Heidegger selbst der Aussage zugestimmt, dass es eine Verbindung zwischen seiner Ausarbeitung der Geschichtlichkeit und seinem politischen Engagement mit der NS-Bewegung gebe. 1 Dass Heidegger die erwähnten Begriffe – Volk und Gemeinschaft – einführt, die als die eigentliche Weise des Mitseins gelten, geschieht aller Wahrscheinlichkeit nach aus politischen Motiven. 2 Deshalb verbinden sie sich schlecht mit Heideggers Denken und laden regelrecht zu Missverständnissen ein. Auch dass Heidegger auf den Begriff der »Polis« gerade in dem Moment aufmerksam wird, als er sein kurzes politisches Engagement für den NS-Staat beginnt, kann deshalb ebenso wenig verwundern. Vor dem Jahr 1933 zeigte Heidegger kein besonderes Interesse für die Polisproblematik. 3 Soweit seine spärlichen Äußerungen zu diesem Vgl. Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, 57. Vgl. auch Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960, Göttingen 2007, 113. 2 Siehe das IX. Kapitel dieser Arbeit. 3 Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 112: »Heidegger hatte sich zuvor nie politisch exponiert, und er hatte sich mit politischer Philosophie bis 1933 nicht auseinandergesetzt; in seinen eindringlichen Interpretationen von Platon und Aristoteles spielt die 1
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Die Polis, der Dichter und der Philosoph (1933–1943)
Thema überhaupt eine Aussage erlauben, wird die Polis unter die allgemeine Struktur der Welt gefasst. Diese Tatsache dokumentiert die Aristoteles-Vorlesung aus dem SS 1924 mit besonderer Klarheit. Heidegger gibt zu verstehen, dass er die Polis als konkrete und begrenzte Manifestation des Miteinanderseins versteht, das das Sein des Daseins wesentlich konstituiert. Das Dasein ist in der Polis, weil es selbst ursprünglich Miteinandersein ist: »Dieses Seiende, das mit der Welt spricht, ist ein solches, das im Sein-mit-anderen ist.« 4 Heidegger etabliert also nicht nur eine Gleichursprünglichkeit zwischen Sprechendsein und Miteinandersein, 5 sondern benennt auch die Welt als den Ort des Miteinanderseins: »In dem Miteinanderhaben der Welt in diesen Bestimmungen gründet die bestimmte, begrenzte Möglichkeit eines ausgezeichneten Miteinanderseins, das durch die pli@ ausgedrückt ist.« 6 Nur weil das Dasein von vornherein In-der-Welt-sein ist, kann es in der Polis sein: »Der Daseinscharakter von Welt hat gerade seine Bezogenheit seines Da auf mehrere, die miteinander sind.« 7 Obwohl diese Auslegung einleuchtend sein mag, versteht Heidegger gegen Mitte der dreißiger Jahre die Polis nicht mehr bloß als eine weitere Möglichkeit des In-der-Welt-seins. In der Vorlesung vom WS 1933/34 mit dem Titel Vom Wesen der Wahrheit deutet Heidegger das aristotelische Verständnis des Menschen als eines politischen Lebewesens: »Der Mensch ist ein solches Lebewesen, das von Haus aus zugehörig ist einem Miteinander im Staat.« 8 Dieses Verständnis des Miteinanderseins als Mitsein im Staat unterscheidet sich von Heideggers vorheriger Interpretation. Der Mensch ist nun nicht mehr ein Mitsein mit anderen in der Welt, sondern »im Staat«. Auch die Sorge, der Grundzug des Daseins, wird anders gedeutet. Anders als in Sein und Zeit bedeutet sie nicht prinzipiell die Sorge um das Sein des Daseins,
Politik als ein zentrales Thema beider keine Rolle. Heidegger hatte für die Politik im einzelnen keine philosophische Begriffe; Fragen der Staatskunst, die Frage nach den verschiedenen Formen der Herrschaft, die Frage nach der Gerechtigkeit eines politischen Gemeinwesens, alles Fragen, die bei Platon und Aristoteles – und nicht nur bei ihnen – ausführlich diskutiert werden, kommen bei ihm nicht vor.« 4 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 46. 5 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 64. 6 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 49–50. 7 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 47. 8 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 158. A
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sondern die Sorge um das Sein selbst, die zugleich »die Bedingung der Möglichkeit [ist], daß der Mensch ein politisches Wesen sein kann«. 9 Obwohl die Einbeziehung der Polis einerseits mit Heideggers politischem Engagement im Einklang steht, ist sein Verständnis der Polis andererseits keineswegs »politisch«. Selbst wenn von der Polis die Rede ist, bezieht sich dieser Begriff nicht auf die soziale Ordnung eines Staates, auf ein geregeltes Miteinandersein. Vielmehr besteht für Heidegger seine Relevanz darin, dass die Polis als derjenige Ort verstanden wird, in dem die Seinsgeschichte zur Geltung kommt. Heideggers Auffassung des Dichters und des Philosophen spielen dabei eine erhebliche Rolle. Beide bekommen zwar ausdrücklich eine politische Aufgabe. Diese ist aber alles andere als »politisch« im traditionellen Sinne.
1.
Heideggers »entpolitisiertes« Verständnis der Polis: Griechenland und Deutschland
Um Heideggers Interpretation der Polis in der Mitte der dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre angemessen zu deuten, scheint es mir ratsam, zunächst einmal die negative Bestimmung der Polis wiederzugeben und dann zu fragen, was Heidegger damit im Positiven gemeint hat. Für Heidegger »läßt sich [die pli@] nicht ›politisch‹ bestimmen«. 10 Das Politische bestimmt nicht die »Gesetze« und Grundzüge der Polis, sondern die Polis bedingt als Ort einer bestimmten Gemeinschaft das Politische. 11 Entsprechend ist auch das Ethische nur aus dem Wesen des Ethos zu verstehen und das Logische aus dem Wesen des Logos. 12 Versteht man die Polis hingegen aus dem Politischen, dann denkt man die Polis im Rahmen der Herrschaft des Technischen, das heißt des metaphysischen Denkens. Ist die Polis jedoch nichts Politisches, dann stellt sie kein menschliches Konstrukt dar. Die Polis ist eigentlich, wie Heidegger in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik aus dem Jahr 1935 betont, »der Grund und Ort des Daseins des Menschen selbst«. 13 Die positive und Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 218. Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 99. 11 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 98; Heidegger, Parmenides, GA 54, 142. 12 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 98. 13 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 161. 9
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Heideggers »entpolitisiertes« Verständnis der Polis
zugleich entscheidende Bestimmung der Polis zeigt sich gerade im heideggerschen Verständnis der Polis als eines Ortes eigener Art. Der Mensch, der für Heidegger seinem Wesen nach das Unheimlichste ist, 14 lebt in seiner Unheimlichkeit nur in der Polis. Sie ist »die Stätte, das Da, worin und als welches das Da-sein als geschichtliches ist«. 15 Die Polis ist der Ort, an dem Geschichte geschieht, an dem das Dasein geschichtlich wird. 16 Dieses orthafte Wesen der Polis wird jedoch erst angemessen verständlich, wenn sie in ihrer Zugehörigkeit zur Wahrheit als Unverborgenheit verstanden wird. Um diese ursprüngliche Verbindung deutlich zu machen, beruft sich Heidegger auf den sprachlichen Bezug zwischen dem Wort »Polis« und dem Wort »Pol«. Auf die Frage »Was ist die pli@?« antwortet Heidegger, dass die Polis »der plo@, der Pol, der Ort [ist], um den sich in eigentümlicher Weise alles dreht, was an Seiendem dem Griechentum erscheint«. 17 Hier ist erstens zu sehen, dass Heideggers Auffassung der Polis in einem inneren Bezug zu seiner eigenen Interpretation der griechischen Antike steht, und zweitens, dass die Polis als Pol der Ort ist, an dem es um eine gemeinsame Sache geht. Der hier gemeinte Pol weist darauf hin, dass in der Polis das Geschehen der Wahrheit zustande kommt. 18 In der Heraklit-Vorlesung aus dem SS 1943 sagt Heidegger: »Wie, wenn, griechisch gedacht, die Sorge um die Anwesenheit der Götter die höchste Sorge um die pli@ wäre? So steht es in Wahrheit; denn die pli@ ist, immer griechisch gedacht, der Pol und die Stätte, um die sich alles Erscheinen des wesenhaft Seienden und damit auch das Unwesen alles Seienden dreht.« 19 Wenn wir also griechisch denken, zeigt sich die Polis nicht als das, was mit modernen Begriffen wie »Staat« oder »Stadt« bestimmt werden kann. Denn Polis ist eigentlich »die Ortschaft des Ortes der Geschichte des Griechentums; nicht Stadt und nicht Staat, wohl aber die Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 160. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 161. 16 Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 161: »Die pli@ ist die Geschichtsstätte, das Da, in dem, aus dem und für das Geschichte geschieht.« 17 Heidegger, Parmenides, GA 54, 132. 18 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 100: »Das Polare betrifft das Seiende in dem, worum es, das Seiende als das offenbare, sich dreht. Auf diesen Pol ist dann der Mensch in einem ausgezeichneten Sinne bezogen, sofern der Mensch, das Sein verstehend, inmitten des Seienden steht und hier notwendig jeweils einen ›status‹, einen Stand mit seinen Zuständen und Umständen hat.« Vgl. auch Heidegger, Parmenides, GA 54, 142. 19 Heidegger, Heraklit, GA 55, 11–12. 14 15
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Stätte seines Wesens«. 20 Die Griechen, die für Heidegger »das schlechthin unpolitische Volk sind«, haben die Polis gegründet, weil sie ihr Wesen als Menschentum aus dem Bezug zum Sein, das heißt »aus der ⁄lffiqeia« bestimmt haben. 21 In der ein Semester vorher gehaltenen Vorlesung über Parmenides hat Heidegger sein Nachdenken über die griechische Polis noch deutlicher ausgeführt: »Der Unterschied zwischen dem neuzeitlichen Staat, der römischen res publica und der griechischen pli@ ist gleichwesentlich wie derjenige zwischen dem neuzeitlichen Wesen der Wahrheit, der römischen rectitudo und der griechischen ⁄lffiqeia. Dieser Bezug gilt schon deshalb, weil das Wesen der griechischen pli@ im Wesen der ⁄lffiqeia gründet.« 22 Die griechische Polis unterscheidet sich also in ihrer Art vom römischen Staat. Sie findet ihren Grund nur in der Wahrheit als Unverborgenheit, und daraus entspringt ihre höchste Legitimität: Die Polis ist der Ort, an dem alles jeweilig Seiende in einem kohärenten Ganzen zum Ausdruck kommt. 23 »Der Pol ist der Ort, um den sich alles Seiende wendet, so zwar, daß im Bereich dieses Ortes sich zeigt, welche Wendung und Bewandtnis es mit dem Seienden hat.« 24 Die Polis ist einerseits das, was der junge Heidegger »Welt« nennt. »Welt« weist auf denjenigen Ort hin, an dem der Mensch sich in einer bestimmten und sinnhaften Ganzheit aufhält, die sich jeweils anders im Hinblick auf den jeweiligen eröffneten Bewandtniszusammenhang bildet. Die Polis ist der Ort, an dem die Wahrheit geschieht. Der entscheidende Unterschied zwischen der Auffassung der Welt als Ort möglicher Bewandtniszusammenhänge beim jungen Heidegger und dem späteren Verständnis der Polis als »Stätte« des geschichtlichen Menschen gründet in Heideggers seinsgeschichtlichem Denken. Die Pointe von Heideggers Überlegungen liegt darin, die Möglichkeit der Polis als »Stätte« keinesfalls im Menschen und dessen Willkür gegrünHeidegger, Parmenides, GA 54, 133. Heidegger, Parmenides, GA 54, 142. 22 Heidegger, Parmenides, GA 54, 132. 23 Vgl. Heidegger, Parmenides, GA 54, 133: »Der Pol läßt als dieser Ort das Seiende in seinem Sein jeweils im Ganzen seiner Bewandtnis erschienen.« Vgl. auch Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 102: »Das Wesen der pli@ kommt daher stets ans Licht nach der Art, wie das Seiende als solches überhaupt ins Unverborgene tritt: nach der Weite der Grenzen, zwischen denen dies geschieht, und nach der Weise, wie sich in einem mit der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen das Wesen des Menschen bestimmt.« 24 Heidegger, Parmenides, GA 54, 132–133. 20 21
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det zu sehen, sondern darin, dass diese »Stätte« aus dem epochalen Sein und dessen Schickung bestimmt ist. 25 Das Wesen der Polis liegt darin, »die offene Stätte […] der Schickung [zu sein], aus der sich alle Bezüge des Menschen zum Seienden, und d. h. immer zuerst die Bezüge des Seienden als solchen zum Menschen, bestimmen«. 26 Weder menschliche Institutionen noch geographisch-politische Begrenzungen können das Wesen der Polis bestimmen, weil die Polis eigentlich nur einen Sinn und eine Rolle hat: Die Seinsgeschichte geschichtlich erscheinen zu lassen. So wie zuvor die Welt als der allgemeine Ort der Existenz des Daseins betrachtet wurde und wie später das Geviert den Ort des dichterischen Wohnens des Menschen bezeichnen wird, sagt Heidegger zwischen 1933 und 1943, dass die Polis der Ort bzw. »die Stätte des menschlich geschichtlichen Aufenthaltes des Menschen inmitten des Seienden« ist. 27 Wichtig ist es dabei, zu sehen, dass Heideggers Suche nach dem rechten Aufenthalt des Menschen auch in seiner Polisinterpretation noch einmal zum Vorschein kommt. Sein Verständnis der Polis weist somit auf ein Ethosdenken hin. 28 Doch dieses Ethosdenken zeigt sich nun deutlicher als zuvor als ein entpolitisiertes. Die Polis als der Ort des menschlichen Aufenthaltes steht in Bezug zu einem Ort des Wohnens, einem Ethos. Doch dieser Ort des Wohnens wird nicht als ein Staat im sittlichen oder juristischen Sinne verstanden, in der eine Gemeinschaft politisch wohnt. Heideggers Aufforderung unterscheidet implizit sozusagen zwischen einem eigentlichen und einem uneigentlichen Ethos, das im Lichte des ursprünglichen oder nicht ursprünglichen Verständnisses der Polis zur Geltung kommt. Die Polis kann nur eine »Stätte« des geschichtlichen Daseins eines Volkes sein, indem sie als das, was sie ist, anerkannt wird. Versteht man die Polis als einen »Staat« – so wie etwa Hobbes oder Rousseau –, dann bleibt ihr ursprüngliches Wesen verborgen. Zwar sagt Heidegger nicht ausdrückSiehe das VI. Kapitel dieser Arbeit. Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 102. 27 Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 101. 28 Vgl. Peter Trawny, Heidegger und Hölderlin oder der europäische Morgen, Würzburg 2004, 237: »Mit diesen Ausführungen zum ›Eigenen‹ der pli@ als der ›offenen Stätte‹, dem ›Pol‹ der Polis als dem ›Ort, um den sich alles Seiende wendet‹, sind wir auf dem Schriitt, das ethische Moment dieser Bestimmung zu verstehen […] Denn Æqo@ bedeutet nach Heidegger ›Aufenthalt, Ort des Wohnens‹. Polis und Ethos gehören folglich zusammen, sind zwei Elemente desselben ›Phänomens‹.« 25 26
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lich, dass es die Möglichkeit einer »uneigentlichen« Polis gibt, doch er ruft uns auf, ihr griechisches Verständnis zurückzugewinnen. Bei den Griechen, so sagt Heidegger, wird die Gründung der Polis im Lichte der Wahrheit als Unverborgenheit gedacht. Die Polis ist der eigentliche Ort des Wohnens, sofern in ihr die Wahrheit als Unverborgenheit bewahrt, gehalten und gehütet wird. Das Motiv des gegenseitigen Bezuges von Ethos und Wahrheit, das Heideggers gesamten Denkweg begleitet, kommt mit seiner Interpretation der Polis noch ein weiteres Mal zur Sprache. Es geht hier also vor allem um ein entpolitisiertes Verständnis dieses Ortes des Wohnens, der Polis also, ein Verständnis, in dem sich der Vorrang des philosophischen, auf die Wahrheit bezogenen Ethos in Heideggers Denken deutlich zeigt. Einzig die griechische Polis erhält eine ontologische Legitimation. »Zwischen pli@ und ›Sein‹ waltet ein anfänglicher Bezug.« 29 Die Tragweite der ontologischen Legitimation der Polis und die sich daraus ergebenden Probleme kann man in der Verknüpfung des Philosophischen mit dem Politischen erkennen. Der eigentliche Denker ist der, der bei seiner Sorge um die Wesensnähe der Götter ist; er ist zugleich der eigentlich »politische« Mensch. 30 Das Denken erhält so – als seinsgeschichtliches Denken – eine politische Nebenbedeutung, aus der sich Heideggers Verständnis des »Schaffenden« ergibt (zu denen er auch den Philosophen zählt). In Heideggers Auffassung der Polis kommt den Schaffenden – den Staatsgründern, Denkern und Dichtern – eine besondere Rolle zu. 31 Diese sind diejenigen, die »das geschichtliche Dasein eines Volkes gründen und begründen«, und deshalb sind sie »die eigentlich Schaffenden«. 32 Diese Schaffenden gehören zur Polis, denn sie legen durch ihr stiftendes Handeln die Geschichte des Seins erst frei. 33 So wie der Denker an die Wahrheit des Seins denkt, das heißt Heidegger, Parmenides, GA 54, 133. Heidegger, Heraklit, GA 55, 12. 31 Vgl. Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 215: »So wird die Verrückung des Menschen [die Verwandlung des Menschen zum Gründer und Wahrer der Wahrheit des Seyns, D. A.] in seinen Grund zuerst von jenen Wenigen, Vereinzelten, Befremdlichen vollzogen werden müssen, die in verschiedener Weise als Dichter, Denker, als Bauende und Bildende, als Handelnde und Täter die Wahrheit des Seyns durch die Umgestaltung des Seienden in das Seiende selbst gründen und bergen.« Vgl. auch Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 51. 32 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 51. 33 Für Günter Figal hat Heidegger dies von Platon übernommen. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 118: »Heidegger greift mit seiner Dreiteilung auch wieder auf Pla29 30
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an ihre Ortschaft, übernimmt der Staatsgründer die Wächterschaft der Polis, die wiederum erst durch das Werk des Dichters geschichtlich gegründet wird: »Die Unverborgenheit geschieht nur, indem sie erwirkt wird durch das Werk: das Werk des Wortes als Dichtung, das Werk des Steins in Tempel und Standbild, das Werk des Wortes als Denken, das Werk der pli@ als der all dies gründenden und bewahrenden Stätte der Geschichte.« 34 Zweifellos idealisiert Heidegger das antike Griechenland. 35 Der Gedanke, dass das griechische Volk »das schlechthin unpolitische Volk« sei, wie Heidegger sagt, weil die Griechen die Polis nur aus der Wahrheit als Unverborgenheit denken, scheint nicht mehr als eine bloße Behauptung zu sein. Diese Behauptung ist aber auch nicht als historische Beschreibung, sondern als Heideggers Idealbild der Polis zu lesen. Dass auch Heideggers Bild von Deutschland ein idealisiertes ist, zeigt sich klar in seiner Rektoratsrede. Dabei geht es immer wieder um das Verständnis der Deutschen als ein »geistiges Volk«, das seinen »geistigen Auftrag« übernehmen soll, um so seine eigene »geistige Welt« zu entfalten. 36 Es liegt der Schluss nahe, dass Heidegger im Rahmen seines politischen Engagements in der Zeit zwischen 1933 und 1934 als Rektor der Universität Freiburg dieses »geistige Volk«, dieses Ideal eines Deutschtums, zu verwirklichen suchte. 37 Heidegger hebt dies klar hervor: »Und bald sollte die tiefe Unwahrheit jenes Wortes an den Tag kommen, das Napoleon in Erfurt zu Goethe gesprochen: ›Die Politik ist das Schicksal‹. Nein, der Geist ist das Schicksal und Schicksal ist Geist.« 38 Es ist »der Geist«, den Heidegger zu erwecken sucht. Wenn man Heideggers Reden aus der Zeit betrachtet, als er ein öffentliches ton zurück und übernimmt die drei Stände der im Gedankenspiel der Politeia gegründeten Polis: Handwerker, Wächter und Philosophenherrscher. Er deutet die drei Stände im Sinn seiner Freiheitskonzeption als Bindungen im Möglichkeitsraum des Staates, als Bindungen, in welchen dieser erst eröffnet und zugleich frei übernommen wird.« 34 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 200. 35 Vgl. Marten, Die Griechen und die Deutschen, 134–140. 36 Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, GA 16, 107 und 113. Vgl. auch Heidegger, Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, 3–4. 37 Heidegger schreibt an Herbert Marcuse: »Ich erwartete vom Nationalsozialismus eine geistige Erneuerung des ganzen Lebens, eine Aussöhnung sozialer Gegensätze und eine Rettung des abendländischen Daseins vor den Gefahren des Kommunismus« (Heidegger, Zu 1933–1945*, GA 16, 430). 38 Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), GA 42, 3. A
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Amt im Rahmen des NS-Staates innehatte, merkt man leicht, dass er immer wieder zwischen einem faktischen und einem »geistigen« Deutschland unterscheidet. 39 An dieser Stelle gilt es nun deutlich festzustellen, dass Heidegger keineswegs ein orthodoxer Anhänger des Nationalsozialismus war: Er teilte die offizielle Ideologie des Nationalsozialismus nicht, und er war weder mit der Rassenideologie Rosenbergs noch mit dem Biologismus Kolbenheyers einverstanden. Heidegger äußert sich auch kritisch gegenüber dem Nationalsozialismus als totalitärer Weltschauung. Denn die »Weltanschauung« kann für ihn kein »echter Kampf« sein, da »der totale politische Glaube« nur »Propaganda« und »Apologetik« betreibt. 40 Bei Heidegger geht es also nicht unmittelbar um »Blut und Boden«, die zwar »mächtig und notwendig [sind], aber nicht hinreichende Bedingung für das Dasein eines Volkes«. 41 Es bedarf vielmehr eines »Willens zu Wissen und Geist«. 42 Es ist wohl die »geistige Führung« Deutschlands, die Heidegger für sich in Anspruch nehmen wollte, und zwar nicht um den »Dilettantismus« 43 des faktischen NS-Deutschland zu verbreiten, sondern um den Aufbau eines neuen geistigen Deutschtums zu ermöglichen. 44 Die ersten Sätze der Rektoratsrede sprechen für sich: »Die Übernahme des Rektorats ist die Verpflichtung zur geistigen Führung dieser hohen Schule.« 45 Der ihnen noch eigens zuzueignende Geist der Deutschen steht hier im Mittelpunkt und nicht die in concreto zu findende Gestalt des Nationalsozialismus. 46 Nur eine Dieter Thomä drückt es folgendermaßen aus: Am »›Volk‹ wird nicht ein biologisches Privileg, sondern die Bereitschaft zur Hingabe an ein ›Geschick‹ hervorgehoben«. Dieter Thomä, Heidegger und der Nationalsozialismus. In der Dunkelkammer der Seinsgeschichte, in: D. Thomä [Hrsg.], Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, 141–162, hier 149. 40 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 41. 41 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 263. Dazu siehe auch: Heidegger, Aufsätze und Dialog, GA 75, 8. 42 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 263. 43 Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 10. 06. 1933, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 67. 44 Vgl. Trawny, Heidegger und Hölderlin, 257: »Wir dürfen Heideggers Hölderlin-Auslegungen daher als einen Rettungsversuch deuten; als die versuchte Rettung eines anderen Deutschlands, ein Deutschland, das mit seiner ›politischen‹ Wirklichkeit nicht identifiziert werden darf.« 45 Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, GA 16, 107. 46 Für eine Auseinandersetzung mit Heideggers Verständnis von Geist siehe: Jacques Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt a. M. 1988, 40. Zwar hat Hei39
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»geistige Welt« verleiht »dem Volke die Größe«. 47 Es liegt also nahe, zu vermuten, dass Heidegger sich als einen geistigen Führer eines solchen idealen Deutschlands sah. 48 Heidegger zeigte sich schon zu Beginn seiner Dozentenzeit kritisch gegenüber der Lage der deutschen Universitäten. Bereits in einem Brief an Elisabeth Blochmann vom 15. Juni 1918 beklagt er sich über die Lage der deutschen Hochschulen. 49 Auch in diesem Jahr merkt er schon an, dass eine geistige Führung des Volkes nötig sei: »Die ganze Ziellosigkeit u. Hohlheit u. Wertefremdheit beherrschten das staatliche Leben u. die Staatsauffassg. überhpt. Da helfen nur neue Menschen die eine ursprüngliche Verwandtschaft mit dem Geist u. seinen Forderungen in sich tragen u. ich erkenne selbst immer dringender die Notwendigkeit der Führer – nur der Einzelne ist schöpferisch (auch in der Führerschaft), die Masse nie – unser Volk ist heute schon viel viel mehr geistig-seelisch verarmt als es künftig materiell verarmen wird.« 50 degger vor 1933 in seinen Vorlesungen das Wort »Geist« absichtlich vermieden. Doch man muss auch beachten, dass er bereits 1918 über »geistiges Leben« spricht. In einem Brief an Elisabeth Blochmann vom 15. Juni 1918 sagt er, dass »der Geist als Leben allein wirklich ist«. Und er fährt fort: »Geistiges Leben kann nur vorgelebt u. gestaltet werden, so dass, die daran teilhaben sollen, unmittelbar, in ihrer eigensten Existenz davon ergriffen sind« (Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 15. 06. 1918, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 7). 47 Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, GA 16, 112. 48 Jaspers beschreibt zutreffend, dass Heidegger »als Philosoph eigentlich den Führer erziehen« wollte (Karl Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, hrsg. von Hans Saner, München 1978, 183). So auch Otto Pöggeler: »Ohne Zweifel aber war es für eine begrenzte Zeit Heideggers Ziel, die nationalsozialistische Revolution durch eine Revolutionierung der Universitäten erst auf ihren geistigen Grund zu stellen« (vgl. Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, 204). 49 Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 15. 06. 1918, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 7. Ein Jahr später, im SS 1919, hielt Heidegger eine Vorlesung mit dem Titel Über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums. Das Manuskript dieser Vorlesung gilt jedoch als verloren, es steht lediglich eine Nachschrift von Oskar Becker zur Verfügung (Heidegger, Über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums, GA 56/57, 205–214). Auch 1923 sagt Heidegger das Folgende: »Die Lage der Wissenschaft und der Universität ist fragwürdig geworden. Was geschieht? Nichts.« Und er fährt fort: »Es gibt heute schon eine eigene Literatur über die Frage, wie es sein müßte. Sonst geschieht nichts« (Heidegger, Ontologie, GA 63, 32– 33). Dazu auch: Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 14. 07. 1923, in: M. Heidegger/K. Jaspers, Briefwechsel, hrsg. von W. Biemel und H. Saner, Frankfurt a. M./München 1990, 42. 50 Heidegger, Brief an Elfride Heidegger, 06. 10. 1918, in: Heidegger, Mein liebes Seelchen!, 85–86. A
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Dass Heideggers politischer Irrtum sich auf die Möglichkeit einer Erneuerung der deutschen Universität bezieht, ist kaum zu leugnen. In einem Brief Heideggers aus dem Jahr 1932 an Rudolf Bultmann wird deutlich, dass ihm der Gedanke, der NSDAP beizutreten, ganz fern lag. »Ich bin nicht Mitglied dieser Partei und werde es nie sein.« 51 Um der Universität willen handelt Heidegger also politisch. Die Erkenntnis dieser Tatsache soll dazu dienen, den inzwischen so oft besprochenen »Fall Heidegger« besser zu verstehen – was aber keinesfalls apologetisch gelesen werden soll. Die nationalsozialistische Revolution brachte eine Umbruchstimmung mit sich, die Heidegger mit »einer ungewöhnlichen sammelnden Kraft« erfüllt. 52 Aus der griechischen Polis, die zusammen mit dem ersten Anfang der Geschichte und der Philosophie entsteht, soll eine deutsche Polis erwachsen, die den anderen Anfang geschichtlich konkretisiert. 53 Das gemeinsame geistige Erbe der Griechen und der Deutschen bezieht sich vor allem, wie Heidegger häufig betont, auf die Sprache. »Denn diese Sprache [die griechische Sprache] ist (auf die Möglichkeiten des Denkens gesehen) neben der deutschen die mächtigste und geistigste zugleich.« 54 Daher spricht Jacques Derrida hier von einem »Privileg des Geistes«, 55 das einzig Griechen und Deutsche miteinander teilen. Die Sprache zeigt für Heidegger immer einen jeweiligen »Bezug eines Volkes zum Sein«. 56 Wenn die Sprache »unsere« ist, dann ist diese »›unsere‹ nicht nur als die Muttersprache, sondern als die unserer Geschichte«. 57 Und »unsere Geschichte« heißt für Heidegger: »wir selbst im Augenblick unseres Bezugs zum Seyn«. 58 Wenn aber der erste ursprüngliche Bezug zum Sein bei den Griechen geschieht und Griechentum und Deutschtum ihre Wurzeln in einem gemeinsamen sprachlich-geistigen Erbe haben, Heidegger, Brief an Rudolf Bultmann, 16. 12. 1932, in: R. Bultmann/M. Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, hrsg. von A. Großmann und C. Landmesser, Frankfurt a. M./ Tübingen 2009, 191. 52 Vgl. Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 30. 03. 1933, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 60. 53 Vgl. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 136; Vgl. auch Andreas Großmann, Heidegger-Lektüren, Würzburg 2005, 51. 54 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 61. Vgl. auch Heidegger, SpiegelGespräch, GA 16, 679. 55 Derrida, Vom Geist, 86. 56 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 55. 57 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 501. 58 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 501. 51
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erhält, wie das griechische Volk die Polis im Lichte der Wahrheit des Seins gegründet hat, die deutsche Polis eine entsprechende Legitimation. Diese romantische Überzeugung Heideggers, es gebe ein gemeinsames geistiges Erbe von Griechen und Deutschen, die auch Stefan George und sein Kreis teilen, ist ein entscheidender Grund für sein politisches Engagement. Wie der George-Kreis, diese »kunstreligiöse Revolte« 59 , für den Traum von einem »geheimen Deutschland« steht – der aber nicht zwangsläufig mit dem NS-Wahn verbunden ist 60 – so steht Heidegger für seine eigene Vorstellung von einem »geistigen« Deutschland. 61
2.
Der Dichter als »Souverän«?
Wenn Heidegger von Dichtung und Dichtern spricht, bezieht er sich dabei ausdrücklich oder implizit auf Hölderlin und seine Dichtung. 62 Für Heidegger ist der Dichter – Hölderlin – nicht nur »der Begründer des Seyns,« 63 sondern auch der »Stifter des deutschen Seyns« 64 . Hölderlins Dichtung ist für Heidegger die »deutscheste aller deutschen Dichtungen«. 65 Deshalb ist diese Dichtung für ihn die »einzige Quelle […], aus der zu erfahren sein soll, was das ›Deutsche‹ ist und ›wer‹ die ›Deut59 Clemens Pornschlegel, Der literarische Souverän. Studien zur politischen Funktion der deutschen Dichtung bei Goethe, Heidegger, Kafka und im George-Kreis, Freiburg i. Br. 1994, 195. 60 Man darf nicht vergessen, dass Claus Schenk Graf von Stauffenberg als eine zentrale Figur des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus sich auf den George-Kreis bezieht. Dazu: Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln 2006. 61 Auch Otto Pöggeler ist dieser Meinung: »Der Dichter Stefan George hatte nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben, Hölderlin werde mit seinen ›Wahrsagungen‹ der ›Eckstein der nächsten deutschen Zukunft‹ und der ›Rufer‹ des ›Neuen Gottes‹. Dieser neuen Dichtung und Kunst mußte eine Politik entsprechen, die sich der Not der Zeit stellt, und so ließ Heidegger sich 1933 zu seinem verhängnisvollen politischen Engagement verleiten« (Otto Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, 306). 62 Daher steht auch der Begriff der Heroisierung Hölderlins im Raum: Vgl. Kathleen Wright, Die Erläuterung zu Hölderlins Dichtung und die drei Hölderlin-Vorlesungen (1934/1935, 1941/1942, 1942). Die Heroisierung Hölderlins, in: D. Thomä [Hrsg.], Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, 213–230, hier 214. 63 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 33. 64 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 220. 65 Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 119.
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schen‹ sind«. 66 Die Dichtung Hölderlins ist diejenige Dichtung, die das geschichtliche Dasein eines Volkes und seiner Wahrheit stiftet. 67 Damit gründet der Dichter den Ort, worin der Mensch geschichtlich existieren kann. 68 Somit scheint es plausibel, dass Heidegger mit seiner Interpretation Hölderlins darauf abzielt, die abendländische Geschichte, die ihren ersten Anfang im antiken Griechentum mit der stiftenden Dichtung des Sophokles hat, einen anderen Anfang entgegenzusetzen, der durch die Dichtung Hölderlins gestaltet wird: »Die Geschichtlichkeit ist die Auszeichnung jenes Menschentums, dessen Dichter Sophokles und Hölderlin sind – denn im Griechentum hat sich etwas Anfängliches ereignet, und Anfängliches allein gründet Geschichte.« 69 Heidegger sagt dies mit aller Klarheit: »Wir können vermuten, die Denker im ersten Anfang hätten den Homer hinter sich gehabt als den, der über sie hinweg ihnen voraus dichtete. Und so sei den künftigen Denkern des anderen Anfangs Hölderlin ›der‹ Dichter.« 70 Die Verbundenheit zwischen Deutschtum und Griechentum ist für Heidegger eine Gewißheit. Denn, wie er an Kurt Bauch schreibt: Diejenigen, die die Wandlung der Geschichte vollziehen, »können nur die Deutschen sein, weil in ihnen die anfängliche Bestimmung des Griechentums aufbewahrt und in ersten eigenen Atemzügen zur Ahnung des Geschichtlichen entfaltet und jetzt für sie zunächst auf die Nacht hinweggenommen ist.« 71 Den neuen »deutschen« Anfang sieht Heidegger aber als eine neue Gründung der Geschichte, die die Aufgabe Hölderlins sei. 72 Trawny, Heidegger und Hölderlin, 68. Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 6; Vgl. auch Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 220; Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 84. 68 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 113: »Das Sagen des Dichters ist stiftend. Unsere Dichtung stiftet und gründet einen Ort des Daseins, in dem wir noch nicht stehen, wo aber das dichterische Sagen uns hinzwingen will, wohin wir uns bringen, wenn wir das stiftend gründende Sagen, das, was jetzt gesagt wird, entsprechend verstehen, d. h. wollen, daß wir auf den Grund kommen, der im stiftenden Gründen gelegt wird.« Vgl. auch Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 42. 69 Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 69. 70 Heidegger, Über den Anfang, GA 70, 159. 71 Heidegger, Brief an Kurt Bauch, 1. 5. 1942, in: M. Heidegger/K. Bauch, Briefwechsel 1932–1975, hrsg. von A. Heidegger, Freiburg i. Br./München 2010, 78. 72 Vgl. Francesco Fistetti, Heidegger und die Utopie der Polis, Frankfurt a. M./Berlin/ Bern u. a. 1999, 7: »Von 1933 bis zur militärischen Niederlage Deutschland strebt Heidegger eine Art Utopie der Polis an: das heißt, er nährt die Illusion, dass es möglich sei, 66 67
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Die Polis als der Ort des geschichtlichen Daseins eines Volkes bekommt nicht nur eine seinsgeschichtliche Legitimation, sondern zugleich eine mythisch-religiöse. Dem Dichter kommt nach Heidegger eine besondere Rolle zu, die sich von derjenigen des Denkers unterscheidet. Sein gründendes Wirken reicht über eine ontologische Würde hinaus, denn: »Der Denker sagt das Sein. Der Dichter nennt das Heilige.« 73 Obwohl beide – Dichter und Denker – auf ihre eigene Weise dem menschlichen Dasein die eigentliche Geschichtlichkeit zurückzugeben versuchen, sind beide Versuche von eigener Art. Im Fall des Dichters hat dieser bei Heidegger zweifellos einen gewissermaßen sakralen Charakter, aus dem die eigene Würde des Dichters stammt. Der Dichter steht zwischen den Göttern und dem Volk, und »allein und zuerst in diesem Zwischen entscheidet es sich, wer der Mensch sei und wo er sein Dasein ansiedelt«. 74 Aufgrund seiner Zwischenstellung zwischen Menschen und Göttern vermag der Dichter das Winken der Götter zu verstehen und ihr flüchtiges Wort für eine Gemeinschaft, für ein Volk zu verfassen. 75 Die Dichtung ist somit eine »wahrhafte Sammlung der Einzelnen in einer ursprünglichen Gemeinschaft«. 76 Die sakrale Aura des Dichters klingt in Heideggers Werk immer wieder an, weil der Dichter in einem ausgezeichneten Bezug zum Heiligen steht. Nur weil der Dichter hört, was die anderen Menschen nicht hören, weil er die Spur der entflohenen Götter spürt, wirkt sein Werk als eine Vermittlung zwischen Menschen und Göttern. Der Dichter lässt also durch sein Werk »das Zusammengehören des Gottes und des Menschen erscheinen«. 77 Weil also »Hölderlins Wort« »das Heilige« sagt, nennt er »den einmaligen Zeit-Raum der anfänglichen Entscheidung für das Wesensgefüge der künftigen Geschichte der Götter und der Menschentümer«. 78 den griechischen ›Anfang‹, den ›Beginn‹ der abendländischen Zivilisation, nachzuahmen oder wieder zu beleben. Er ist davon überzeugt, dass der nationalsozialistische Aufbruch die Rückkehr der polis feierlich eröffnen könne.« 73 Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 312. 74 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 47. 75 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 30: »Der Dichter zwingt und bannt die Blitze des Gottes ins Wort und stellt dieses blitzgeladene Wort in die Sprache seines Volkes.« Vgl. auch Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 217. 76 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 8. 77 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 69. 78 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 77. A
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Heideggers Hölderlin-Interpretation geht zurück auf eine bestimmte Auslegung seiner Dichtung. Diese Interpretationslinie vertreten auch Norbert von Hellingrath und der George-Kreis. 79 Heideggers Bewunderung für Stefan George zeigt sich nicht nur in der Tatsache, dass er im WS 1957/58 Georges Gedicht Das Wort philosophisch interpretiert, sondern auch bereits in einer kurzen Äußerung aus dem WS 1919/20. In Bezug auf Georges Teppich des Lebens bezeichnet er George als jemanden, »der so stark unmittelbar sehen kann«. 80 Heideggers Standpunkt gegenüber dem George-Kreis wird auch darin deutHeideggers »politische« Interpretation Hölderlins lässt sich, wie Peter Trawny sagt, »am besten durch einen historischen Kontext, in dem Heideggers Hölderlin-Auslegung seinen unverkennbaren Ort hat, erläutern. Dieser Kontext ist die Hölderlin-Interpretation, wie sie von Stefan George und den ›freunden‹ des ›engern bezirks‹, wie er selbst in der Vorrede des ›Sterns des Bundes‹ schreibt, begründet wurde. Zu diesem ›engern bezirk‹, dem ›Kreis‹, gehört z. B. auch jener Norbert von Hellingrath, der die erste historisch-kritische Gesamtausgabe Hölderlins betreute und teilweise selbst edierte« (Peter Trawny, Politik und Dichtung bei Heidegger. Stefan George und das ›geheime Deutschland‹, in: Existentia – An International Journal of Philosophy 16 (2006), 11–22, hier 12). Vgl. auch Trawny, Heidegger und Hölderlin, 70: »Heideggers Hölderlin-Interpretation wird – so eigenständig sie ist – von einer Interpretationslinie der Hölderlinschen Dichtung aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorbereitet.« Auch Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, 191: »Norbert von Hellingrath hatte Hölderlin schon vor dem Ersten Weltkrieg zum ›Souverän‹ des ›geheimen Deutschland‹ erklärt, was wiederum wesentlichen Einfluss auf die Hölderlinrezeption sowohl im George-Kreis als auch bei Heidegger hatte.« Vgl. auch Clemens Pornschlegel, Der literarische Souverän, 13: »Der Wille zur Wiederholung deutscher, dichterisch-auktorialer Souveränität, die neue unerhörte Klassik, gegen jede ›verflachende‹ Moderne gilt zumal, noch vor Benn, für den Kreis um Stefan George, aber auch, wenngleich anders und nicht in diesem Maße züchtungsbeflissen, für die Dichter-und-Denker-Philosophie Martin Heideggers, die zu den Gedichten Stefan Georges und dessen Kreis ja gut nachbarliche Beziehung unterhält.« Selbst Otto Pöggeler bringt in der Form einer Frage die Möglichkeit einer Verbindung zwischen der geistigen Führung Heideggers und dem George-Kreis ins Spiel: »Wollte Heidegger die Universität umgestalten im Sinne des Kreises um Stefan George, der wieder ›Herrschaft und Dienst‹ lehrte, den Dichter als ›Führer‹ sehen ließ?« (vgl. Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, 221). 80 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 69. Anders aber zeigt sich seine Bewertung des George-Kreises. »Der Betrieb der Schülerschaften hat die Zugänge zur wirklichen Ergreifung verlegt. Der Georgekreis, Keyserling, Anthroposophie, Steiner usw. – alles läßt Phänomenologie in sich wirken.« Voller Pathos fährt er fort: »Alle derartigen Tendenzen sind Verrat an der Phänomenologie und ihrer Möglichkeit. Der Ruin ist nicht mehr aufzuhalten!« (Heidegger, Ontologie, GA 63, 74). In einem Brief an Jaspers sagt Heidegger: »Meine Meinung von den heutigen Studenten und gar Studentinnen hat allen Optimismus verloren: selbst die besseren sind entweder Schwarmgeister (Theosophen, die sich ja auch schon in der protestantischen Theologie eingenistet 79
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lich, dass er Hölderlin stets nach der Ausgabe von Norbert von Hellingrath zitiert, der ein Schüler und Freund Georges war und in dessen Arbeit eine große Bewunderung für diesen zu erkennen ist. Hier ist der Briefwechsel Heideggers mit Imma von Bodmershof, der Verlobten von Hellingraths, ein wichtiges Zeugnis. So sagt Heidegger hier im Jahr 1976: »Norberts IV. Band – Sie wissen es – liegt stets neben mir.« 81 Im WS 1941/42 weist Heidegger auf von Hellingraths Vortrag Hölderlins Wahnsinn (1915) hin. 82 Dabei zitiert er nicht nur das von Hellingrath gewidmete Gedicht Stefan Georges Norbert, 83 sondern ruft, nachdem von Hellingrath am 14. Dezember 1916 vor Verdun gefallen ist, sogar seine Schüler dazu auf, »für den stillen Glanz dieser Gestalt nicht blind zu werden«. 84 Zuletzt ist auch nicht zu vergessen, dass Heidegger seinen Hölderlin-Vortrag 1936 in Rom von Hellingrath widmete. Mit einem Blick auf von Hellingraths Vortrag Hölderlin und die Deutschen von 1915 wird die Verbindung zu Heideggers HölderlinAuslegung deutlich. Von Hellingrath nennt das deutsche Volk ein »Volk Hölderlins«, es sei nicht das »Volk Goethes«. 85 Außerdem ist haben), Georgeaner und ähnl« (Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 20. 01. 1921, in: Heidegger/Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, 18–19). 81 Heidegger, Brief an Imma von Bodmershof, 10. 02. 1976, in: M. Heidegger/I. von Bodmershof, Briefwechsel 1959–1976, hrsg. von B. Pieger, Stuttgart 2000, 143. 82 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 44. 83 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 45–46. 84 Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 45. 1966 schreibt er an Imma von Bodmershof: »In unserem Land habe ich frühzeitig einige Schüler auf den Gedenktag [von Hellingrahts, D. A.] aufmerksam gemacht« (Heidegger, Brief an Imma von Bodmershof, 10. 12. 1966, in: Heidegger/von Bodmershof, Briefwechsel 1959–1976, 84). 85 Vgl. Norbert von Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis. Forschungen und Vorträge, München 1936, 124: »Wir nennen uns ›Volk Goethes‹, weil wir ihn als Höchsterreichbares unseres Stammes, als höchstes auf unserem Stamme Gewachsenes sehen in seiner reichen, runden Menschlichkeit, welche selbst fernere, die sein Tiefstes nicht verstehen mögen, zur Achtung zwingt. Ich nenne uns ›Volk Hölderlins‹, weil es zutiefst im deutschen Wesen liegt, daß sein innerster Glutkern unendlich weit unter der Schlackenkruste, die seine Oberfläche ist, nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt.« Vgl. auch Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 339: »Das weltgeschichtliche Denken Hölderlins, das im Gedicht ›Andenken‹ zum Wort kommt, ist darum wesentlich anfänglicher und deshalb zukünftiger als das bloße Weltbürgertum Goethes. Aus demselben Grunde ist der Bezug Hölderlins zum Griechentum etwas wesentlich anderes als Humanismus. Darum haben die jungen Deutschen, die von Hölderlin wußten, angesichts des Todes Anderes gedacht und gelebt als das, was die Öffentlichkeit als deutsche Meinung ausgab.« A
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schon von Hellingrath der Auffassung, Hölderlin sei der »deutscheste Dichter«, und zwar »ganz unbeschadet dessen, dass er mit Recht als der griechischste gilt«. 86 Das Verständnis Hölderlins als »Vermittler zwischen dem Göttlichen und den Menschen« 87 geht ebenso auf von Hellingrath zurück wie die Auffassung des Dichters als »Seher«, als derjenige, der einen besonderen Blick auf die Zukunft hat. 88 Im Vordergrund von Hellingraths Hölderlin-Verständnis steht aber ein Gedanke, der auch bei Heidegger und dem George-Kreis zu finden ist: die Überzeugung, dass es ein geistiges Erbe gibt, das dem Deutschtum und dem Griechentum gemeinsam ist, »daß, wenn wir, bei allem Wissen, wie ›wohl geschieden‹ wir sind, in Hellas unsere Vorgeschichte und Vergangenheit sehen, diese Jugendheimat und die alten Götter dieser Heimat irgendwie noch unter uns lebendig sind, nach neuem Dasein und Namen drängen«. 89 Auch George war, wie Heidegger, der Überzeugung, dass das griechische Leben im deutschen Volk zurückkehren könne. 90 Und auch wenn sowohl Heidegger als auch von Hellingrath sich in ihrer Auffassung Hölderlins von derjenigen des deutschen Idealismus abzugrenzen versuchen,91 scheint es schwierig, die Tatsache zu übersehen, dass die Überzeugung von der Verwandtschaft des griechischen und des deutschen Volkes ihre Wurzeln Von Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis, 129. Von Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis, 136. 88 Von Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis, 138. 89 Von Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis, 106. 90 Vgl. Trawny, Heidegger und Hölderlin, 75: »Von Hellingrath und George haben mit ihren Ausführungen zu Hölderlin das Feld bereitet, auf dem sich Heideggers HölderlinInterpretation entfaltet hat. Von dieser Überlieferung mit ihrer Betonung des Verhältnisses von Griechenland und Deutschland, von Goethe und Hölderlin, von einem alltäglichen und einen ›geheimen Deutschland‹, von einer schlechten Vergangenheit und einer kommenden ›deutschen zukunft‹ hat sich Heideggers Auslegung anregen lassen.« 91 Heidegger sagt: »Hölderlins Bezug zum Griechentum kann überhaupt nicht als bloße ›Vorliebe‹ begriffen werden, die das Griechentum nur zum Vorbild macht. Deshalb dürfen wir Hölderlin auch nicht mitnennen, wenn von Winckelmann und Lessing, von Goethe und Schiller, von Humboldt und Hegel und ihrem Bezug zum ›klassischen Altertum‹ die Rede ist« (Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 78). Seinerseits behauptet von Hellingrath: »Dieses dem Vaterländischen Sichzuwenden darf aber nicht verwechselt werden mit einer Abwendung vom antiken Vorbild, welche den Kern der im weitesten Sinne sogenannten romantischen Bewegung ausmacht, sowenig wie das Heidentum Hölderlins verwechselt werden darf mit neuheidnischen Bestrebungen, welche wesentlich eine bloße Verleugnung unserer christlichen Vergangenheit sind« (von Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis, 105). 86 87
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in der deutschen Tradition, im »deutschen Bildungsbewusstsein« hat. 92 In einem Brief an Elisabeth Blochmann vom 22. Juni 1932 versucht Heidegger sein Verständnis des Politischen zu erklären, in dem das gemeinsame Erbe Griechenlands und Deutschlands im Vordergrund steht: »Aber eben so [als Parteipolitik, D. A.] sehe ich das Zentrum nicht – sondern ich sehe Rom – Moskau und – ja und – ich will sagen, die Griechen, von denen Nietzsche sagte, dass allein die Deutschen ihnen gewachsen seien.« 93 Heidegger, der auf seinem Denkweg die abendländische Tradition ständig überwinden will, bleibt also einer deutschen Tradition verhaftet. Heideggers Verständnis des Dichters bleibt der Auffassung eines Dichter-»Souveräns« verbunden, die George und von Hellingrath teilen. Im Gedicht Hölderlin sagt George: »So hat ER donnernd schon/ Geschaffen ein reines gesetz/Und reine laute gegründet.« 94 Wie George stellt auch Heidegger fest, dass wir »uns und die Kommenden unter das Maß des Dichters« 95 stellen sollen. Unter dem Maß des Dichters zu stehen heißt, unter seinem Diktat zu bleiben. Der Dichter übernimmt damit die Rolle des »Souveräns« des deutschen Volkes. 96 In seinem Gedicht Der Dichter in Zeiten der Wirren bringt George die politische Aufgabe des Dichters deutlich zur Sprache: »Er [der Dichter, D. A.] heftet/Das wahre sinnbild auf das völkische banner/Er führt durch sturm und grausige signale/Des frührots seiner treuen schar zum werk/Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.« 97 Doch der
92 Michael Petrow, Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im »Dritten Reich«, Marburg 1995, 113. Dazu auch: Trawny, Politik und Dichtung bei Heidegger, 17. 93 Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 22. 06. 1932, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 52. 94 Stefan George, Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen, Band 17, Stuttgart 1998, 58. 95 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 4. 96 Vgl. Pornschlegel, Der literarische Souverän, 223: »Heideggers Diktatur des Dichters ist deswegen, nicht anders als das geheime Deutschland, eine genuin kunst-religiöse, den (deutschen) Souverän noch einmal einfordernde Revolte gegen die durch keinen Gott, und hieße er ›Mensch‹, mehr legitimierte und autorisierte Norm, die – und das ist die andere und komplementäre Spitze der Heideggerschen Dichterdiktatur – schon in einer rein technischen Organisation und Administration auszugehen droht, um eben die von Heidegger seit Sein und Zeit so vehement eingeklagte offene Frage nach dem Sinn von Sein zu schließen oder zu neutralisieren oder zu vergessen.« 97 Stefan George, Das Neue Reich, Band 9, Stuttgart 2003, 30.
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Souverän, der Stifter des »Neuen Reiches«, ist nicht irgendein Dichter, sondern Hölderlin. Denn Hölderlin ist auch für Stefan George »der große Seher«, der »für sein Volk ins Licht tritt«. 98 Hölderlin ist gerade derjenige, der »mit seinen eindeutig unzerlegbaren wahrsagungen der eckstein der nächsten deutschen zukunft und der rufer des Neuen Gottes« ist. 99 Zugleich besteht aber eine weitere Gemeinsamkeit im Verständnis des Dichters beim George-Kreis und bei Heidegger darin, dass bei beiden das Religiöse und das Künstlerische in einen politischen Zweck integriert werden. 100 Hölderlin steht für George – wie auch für von Hellingrath und Heidegger – »mit göttern und mächten im bunde«. 101 Die Gründung der Polis durch den Dichter ist zwar im höchsten Grad eine politische Tat, aber derart, dass sie mit dem Politischen im traditionellen Sinn nichts zu tun hat. So wie George »um der Kultur willen politisch« ist, 102 könnte man Entsprechendes auch von Heidegger sagen. Nach dem »Mißlingen des Rektorats« 103 verliert Heidegger jedoch das Vertrauen in diesen politischen und konkret zu erreichenden Anfang. 104 Heidegger denkt nicht mehr, dass der andere Anfang durch eine philosophisch-dichterisch gegründete deutsche Polis realisiert werden könne. In einem Brief an Hannah Arendt kommt dies zum Ausdruck: »Im Unterschied zu Dir schenke ich der Politik nur ein geringes Interesse. In der Hauptsache ist die Weltlage doch klar. Die Macht des Wesens der Technik wird freilich kaum erfahren. Alles bewegt sich im Vordergründigen. Gegen die Aufsässigkeit der ›Massenmedien‹ und der Institutionen vermag der Einzelne nichts mehr – und
George, Tage und Taten, 59. George, Tage und Taten, 60. 100 Otto Pöggeler macht freilich darauf aufmerksam, dass dies etwas ist, was auf jeweils andere Weise auch in anderen Ländern zu beobachten ist: »Italien seit Dante, das elisabethanische England, Spanien im Goldenen Zeitalter, das Frankreich Ludwigs XIV., Deutschland in der Goethezeit, Irland in der irischen Renaissance und der letzten Romantik von Yeats: sie alle setzen die Kunst ein, um die religiöse Dimension des Lebens neu zu gestalten und eine politische Erneuerung zu stützen« (Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, 299). 101 George, Tage und Taten, 59–60. 102 Petrow, Der Dichter als Führer?, 114. 103 Heidegger, Brief an Karl Jaspers vom 01. 07. 1935, in: Heidegger/Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, 157. 104 Vgl. Fistetti, Heidegger und die Utopie der Polis, 7. 98 99
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schon gar nichts, wenn es sich um die Herkunft des Denkens aus dem Anfang des griechischen Denkens handelt.« 105 Die vorangehenden Überlegungen zeigen, dass sich Heideggers Hölderlin-Interpretation als eine Verschmelzung von Politik, Kunst und Religion interpretieren lässt. Aus diesem Grund wurde Heideggers Interpretation von Hölderlinals die Begründung eines »neuen Mythos« bezeichnet. 106 In dieser Linie der Heidegger-Interpretation steht die Bezeichnung Lévinas’ für das Spätdenken Heideggers als »Heidentum«. 107 Ob es angemessen ist, wenn Heideggers Interpretation Hölderlins als eine »Hölderlin-Theologie« (so Andreas Großmann 108 ), als eine »politische Theologie« (so Francesco Fistetti mit einem Ausdruck Carl Schmitts 109 ) oder als eine »neue Religion« (so Günther Anders110 ) 105 Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 14. 03. 1974, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 247–248. 106 Vgl. Großmann, Heidegger-Lektüren; Otto Pöggeler, Kultur – Kunst – Öffentlichkeit, in: A. Gethmann-Siefert und E. Wiesser-Lohmann [Hrsg.], Kultur – Kunst – Öffentlichkeit. Philosophische Perspektiven auf praktischen Probleme, München 2001, 37– 46. 107 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 202: »Die Zukunft des Elements als Unsicherheit wird konkret erlebt als mythische Gottheit des Elements. Götter ohne Antlitz, unpersönliche Götter, mit denen man nicht spricht, bezeichnen das Nichts, das bei aller Vertrautheit mit dem Element an den Egoismus des Genusses grenzt.« Heideggers Ontologie und der darin implizierte Vorrang des Seins vor dem Verhältnis zum Anderen ist gehorsam gegenüber dem »Anonymen«, das »zwangsläufig zu einer anderen Macht, zur imperialistischen Herrschaft, zur Tyrannei« führt (Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 57). Diese Tyrannei geht für Lévinas zurück auf »heidnische ›Seelenzustände‹, auf die Verwurzelung im Boden, auf die Verehrung, die geknechtete Menschen für ihre Herren haben mögen« (Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 57). Sofern der späte Heidegger sogar von verborgenen Mächten des Seins spricht, radikalisiert er die ethische Neutralität des Seins, so dass die zwischenmenschliche Beziehung und die Verantwortung, die sich aus ihr ergibt, außer Kraft gesetzt wird (vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 193–196). Die Hervorhebung des Ortes im Vergleich zur Wichtigkeit der Begegnung mit dem Anderen – und das heißt: im Vergleich zur Gerechtigkeit – zeigt sich als eine durch und durch heidnische Philosophie. Die Affinität zwischen Heideggers Denken und der Nazi-Ideologie ist für Lévinas also nicht zufällig, sondern sie gründet in der ethisch neutralen Auffassung des Seins, die die Dimension der Verantwortung gegenüber den Anderen nicht zu sehen vermag. Siehe auch: Adriaan Peperzak, Einige Thesen zur Heidegger-Kritik von Emmanuel Levinas, in: A. Gethmann-Siefert und O. Pöggeler [Hrsg.], Heidegger und die praktische Philosophie, 373–389. 108 Großmann, Heidegger-Lektüren, 70. 109 Fistetti, Heidegger und die Utopie der Polis, 29 110 Günther Anders, Über Heidegger, hrsg. von G. Oberschlick, München 2001, 357. Vgl. auch Pornschlegel, Der literarische Souverän, 226.
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bezeichnet wird, soll hier nicht diskutiert werden. 111 Heideggers Verständnis der Polis und deren Hauptdarsteller – der Dichter – ist jedenfalls nicht aus Heideggers historisch-politischem Umfeld gegen Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahren zu verstehen, sondern weicht von gewöhnlichen Bestimmungen des Politischen radikal ab. Heideggers Verhältnis zur Politik ist paradox: Zwar bezieht sich Heidegger aufgrund seines politischen Engagements auf das Politische – auf die Polis und deren »Souverän«, den Dichter –, doch er versteht diese dem eigenen Anspruch nach völlig »unpolitisch«. Selbst die »politische Aufgabe« des Philosophen ist streng genommen nicht »politisch« zu verstehen.
3.
Der Philosoph als der Befreier
Die heideggersche Bestimmung der Rolle des Philosophen entwickelt sich maßgeblich in den beiden Vorlesungen aus dem WS 1931/32 und dem WS 1933/34, in deren Zentrum das Höhlengleichnis steht. Das Gleichnis weist für Heidegger auf die Befreiung des Menschen zu sich selbst hin und damit auf die Anerkennung seines Wesens als ein Eksistierendes, das heißt als ein Sichhinausstellen »in die Unverborgenheit des Seienden«. 112 Weniger die Beschreibung des Philosophen als »Freund des Seins«, 113 bei der man sofort an die spätere Auffassung des Menschen als »Hirt« und »Nachbar« des Seins denkt, ist für die Bestimmung der Philosophie entscheidend, sondern es kommt vielmehr darauf an, den Philosophen als einen »Befreier« zu sehen. 114 Der Philosoph als Befreier ist einerseits ein Fragender, der »in der fragenden, lernenden Haltung« steht, 115 um das Wesentliche zu erblicken. Als Fragender stellt der Philosoph die alltägliche und maßgebende Gebundenheit des menschlichen Existierens in Frage und versucht dadurch, aus der eigensten Möglichkeit seines Seins die entsprechende Gebundenheit selbst zu stiften. »Wir kommen dem Menschen nur nä111 Dazu siehe: Christian Sommer, »›Rückbindung an die Götter‹. Heideggers Volksreligion (1934/35)«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 9 (2010), 283–310. 112 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 77. 113 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 82. 114 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 83; Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 181. 115 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 97.
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her als einem Wesen, das an seine eigenen Möglichkeiten gebunden ist und in der Art solcher Gebundenheit selbst erst den jeweiligen Spielraum freimacht, innerhalb dessen ihm sein eigenes Sein so oder so aufgeht.« 116 Ein weiteres Mal geht es Heidegger darum, eine echte Verbindlichkeit, eine wahre Verwurzelung zu erreichen. Der fragende Philosoph ist derjenige, der nach sich selbst fragt. »Was der Mensch sei, das zu wissen fällt keinem in den Schoß, er stelle sich denn selbst sich selbst, – als derjenige, nach dem da gefragt wird und der dabei ins Wanken kommt.« 117 Dennoch »muß« der Philosoph im Höhlengleichnis als Befreier »ein Gewalttätiger sein«. 118 Er kann nur mit Gewalt, das heißt durch das Ergreifen des Wahren und das Herausreißen aus dem Schatten befreien. 119 Der Begriff des »Gewalt-tätigen« erscheint noch deutlicher in der Vorlesung aus dem SS 1935, und zwar in Bezug auf das Wesen des Menschen: »Der Mensch aber ist das Unheimlichste, weil er nicht nur inmitten des so verstandenen Un-heimlichen sein Wesen verbringt, sondern weil er aus seinen zunächst und zumeist gewohnten, heimischen Grenzen heraustritt, ausrückt, weil er als der Gewalt-tätige die Grenze des Heimischen überschreitet, und zwar gerade in der Richtung auf das Unheimliche im Sinne des Überwältigenden.« 120 Der Philosoph, der sich am meisten seines Wesens bewusst ist, hat den Mut zur Gewalt, das heißt den Mut zur Zerstörung der Bequemlichkeit im alltäglichen Leben, um so das Unheimliche walten zu lassen. In der Vorlesung vom WS 1933/34 radikalisiert Heidegger sein Verständnis des Philosophen als Befreier, insofern dem Philosophen eine politische Aufgabe zugesprochen wird. Diese war im WS 1931/32 noch implizit geblieben: »Heute sind zwar Gift und Waffen zum Töten bereit, aber der Philosoph fehlt.« 121 Der Philosoph fehlt im Bereich des Politischen, und gegen dieses Fehlen versucht Heidegger mit seinem eigenen Denken anzugehen. Dass Heidegger sich zustimmend zu Platons Auffassung des Philosophen als König äußert, ist hier entscheidend. Der Philosoph als Führer des Staates bedeutet für Platon, so wie Heidegger ihn versteht, »daß die Menschen, die die Herrschaft des 116 117 118 119 120 121
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 76. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 76. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 81. Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 85. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 160. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 85. A
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Staates in sich tragen, philosophierende Menschen sein müssen«. 122 Diese philosophierenden Menschen sind die »Wächter«; sie »haben darüber zu wachen, daß die Herrschaft und die Herrschaftsordnung des Staates durchwaltet ist von der Philosophie; aber nicht von irgendeinem System, sondern von einem Wissen, das das tiefste und weiteste Wissen vom Menschen und menschlichen Sein ist«. 123 In diesem philosophischen Wissen gründen jeder Maßstab und jede Regel des Staates und erhalten von diesem Wissen her ihre Legitimation. 124 Auch im SS 1942 zeigt sich Heidegger zustimmend gegenüber der platonischen Bestimmung des Philosophenkönigs. Da die Polis das Fragwürdige ist, bedarf sie einer höchsten und eigentümlichen Besinnung. Deshalb müssten für Platon die Philosophen die Herrscher der Polis sein. 125 Platon wisse, so Heidegger, dass die Polis »auf die Wahrheit und das Wesen des Seins gegründet [ist], von wo aus alles Seiende bestimmt wird. Von der pli@ gilt dieser Bezug aber in erster Linie, weil sie die Stätte ist, in der alles Seiende und alles Verhalten zum Seienden sich sammelt.« 126 Somit ist die Philosophie das höchste Wissen, sie ist, wie Derrida sagt, »eine der wesentlichen Gestalten des Geistes: Sie ist ›eigenständig‹ und ›schöpferisch‹, sie ist eine der wenigen Möglichkeiten und Notwendigkeiten des menschlich-geschichtlichen Daseins«. 127 Heidegger unterscheidet noch weiter zwischen den Menschen, die eine Erkenntnis ihres eigenen Wesens gewonnen haben, und denjenigen, die dafür blind bleiben. Streng genommen gehört zu allen Menschen dasselbe unheimliche Wesen, doch nicht alle haben denselben nüchternen Zugang zu diesem. Der Mensch, der sich nicht als ein philosophischer und dichterischer erkennt, bleibt seinem eigentlichen Wesen entfremdet. Der heutige Mensch bedarf des Philosophen, um eine Befreiung zum Wahren zu vollziehen. Der Philosoph, »der Eine, der da Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 194. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 194. 124 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 194. Bezüglich dieser Sache sagt Günter Figal zutreffend: »Eine Philosophie, die sich als ›Wissendienst‹ begreift, stellt sich selbst an die Spitze des Staates. Heidegger vollzieht also eine zweideutige Identifikation: Indem er die Philosophie – als Wissendienst– von der Politik her verstehet, ordnet er die Politik der Philosophie unter« (Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 118). 125 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 105–106. 126 Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 106. 127 Derrida, Vom Geist, 53. 122 123
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befreit, [ist] nicht ein beliebiger Jemand«, 128 er ist einer der wenigen, die über eine Kenntnis verfügen, die den anderen verborgen bleibt. Gerade weil nicht alle Menschen frei sind, müssen sie lernen, frei zu werden. Der Philosoph bringt ein Wissen des Wesens, das es für die anderen Menschen zu lernen gilt. Philosoph zu sein – und das heißt: Befreier zu sein – wird so zum Imperativ: »Das eigentliche Freisein liegt nicht im ruhenden Genuß, sondern frei sein heißt: Befreier sein.« 129 Gerade Heidegger versteht sich als einen solchen Befreier. In den Beiträgen heißt es ausdrücklich, dass es um eine »Erziehung« zum wesentlichen Denken geht. 130 Auch im WS 1937/38 erklärt Heidegger, dass »die Verrückung des Menschen in seinen Grund« »von jenen Wenigen, Vereinzelten, Befremdlichen vollzogen werden müsse […], die in verschiedener Weise als Dichter, Denker, als Bauende und Bildende, als Handelnde und Täter die Wahrheit des Seyns durch die Umgestaltung des Seienden in das Seiende selbst gründen und bergen«. 131 Heidegger will mit seinem Spätwerk zu Geschichtlichkeit und Wahrheit erziehen, genauso wie er in den früheren Phasen seines Denkens beabsichtigt, ein Verständnis der Eigentlichkeit der Existenz zu vermitteln. Denn darin liegt die zuvor erwähnte politische Aufgabe des Philosophen, die eigentlich nichts Politisches im traditionellen Sinne bedeutet, sondern die Aufgabe, zum eigentlichen Existieren anzuleiten. Diese Übernahme des Eigenen und die Philosophie, die sie ermöglichen soll, sind keineswegs abstrakt, sondern selbst existenziell, sind »die Weise der Existenz des Menschen, darin er sich zueigen (eigentlich) wird, d. h. zu sich selbst kommend er selbst wird und er selbst sein kann«. 132 Das Eigentlichsein geschieht also bereits im Streben danach: »Wer sucht, der hat schon gefunden! Und das ursprüngliche Suchen ist jenes Ergreifen des schon Gefundenen, nämlich des Sichverbergenden als solchen.« 133 Die Eigentlichkeit ist das eigentümliche Streben nach Wahrheit und Freiheit, die unseren Abschied von der Gewöhnung und dem Gewöhnlichen erzwingt. »Solches Streben, qua Erstreben, wäre dann ein eigentliches Streben, in dem das strebende Selbst nicht von sich weg strebt, sondern auf sich zurück, um so strebend sich zu er-stre128 129 130 131 132 133
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 90. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 186. Siehe das VI. Kapitel dieser Arbeit. Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 215. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 213. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 80. A
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ben, d. h. im Streben sich selbst zu gewinnen.« 134 Damit kann man zu Recht behaupten, dass Heideggers Denken stets durch einen richtunggebenden Impuls geprägt ist, der für das eigene Selbstverhältnis wie für das Verhältnis zu den anderen, die auch zu ihrer eigentlichen Existenz kommen sollen, maßgeblich ist. Zwar sagt Heidegger in den Beiträgen, dass nicht jeder die Eigentlichkeit als das Selbst des Daseins zu übernehmen braucht, weil dies »nur den Denkern des anderen Anfangs eine Pflicht« ist. 135 Doch wenn Heidegger feststellt, dass das Wesen des Menschen die »Wächterschaft« des Seins ist, dann betrifft die Eigentlichkeit des Selbst als Wiedergewinnung des Eigenen, und zwar als erstrebenswerte Möglichkeit, uns alle: »In Wahrheit kann jeder Mensch, sofern er ein denkendes Wesen ist, dieses Denken vollziehen.« 136 Wenn Heidegger diesen ethischen Anspruch als Möglichkeit jedes Menschen fasst, öffnet sich seine Philosophie für jedermann, gibt aber zugleich der persönlichen Entwicklung eines jeden eine Richtung vor: »Nach dem Vorhergehenden hieße es, es müßten alle Menschen Philosophen werden, wenn sie eigentlich existieren wollen. Das ist insofern Wahrheit, als Philosophsein unter den vielen Möglichkeiten zu existieren die Grundart bedeutet, in der der Mensch zum Ganzen des Seienden und zur Geschichte des Menschen steht.« 137 Dies ist die Pointe von Heideggers philosophisch-ethischer Erziehung: Da »die Philosophie […] ihrem Wesen nach die Dinge nie leichter, sondern nur schwerer [macht]«, 138 zeigt sich der philosophische Weg als der einzige Weg zur Geschichtlichkeit, zur Wahrheit. Zugleich steht dieser Weg allen Menschen grundsätzlich offen. Im Jahr 1939 fasst Heidegger diesen Gedanken so: »Was der Philosoph schon immer wissen muß, mögen vielleicht jetzt auch andere lernen – daß das Unsichtbare seiender ist als das Sichtbare.« 139 Die Philosophie ist »die Frage nach dem Gesetz und Gefüge unseres Seins«; 140 sie ist »herrschaftliches Wissen«. 141 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 215. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 285. 136 Heidegger, Aus Gesprächen mit einem buddhistischen Mönch, GA 16, 589. 137 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 186–187. 138 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 13. 139 Heidegger, Brief an Elfride Heidegger, 26. 11. 1939, in: Heidegger, Mein liebes Seelchen!, 209. 140 Heidegger, Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, 4. 141 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 44. 134 135
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Heidegger ist mit seiner Suche nach der Wahrhaftigkeit und Wesentlichkeit des Menschen und seiner Geschichte zugleich auf der Suche nach dem eigentlichen Ethos des Menschen. Das Ethos kann nur ein angemessenes sein, wenn der Mensch in diesem Ort des Wohnens die Wahrheit als Unverborgenheit hütet. Dieses Engagement für die Wahrheit, die sein Ethosdenken prägt, ist das deutlichste Zeichnen dafür, dass Heidegger ein durchaus klassisches Philosophieverständnis hat. So wie für Aristoteles das philosophische Leben die höchste und würdigste Form des Lebens ist, so besteht für Heidegger die wahre Verwirklichung des Wesens des Menschen darin, Philosoph zu sein, Befreier zu sein und so anderen die Richtung vorzugeben. Das rechte Ethos ist also in prägnanter Weise ein philosophisches Ethos.
4.
Heideggers entpolitisiertes Verständnis der Gerechtigkeit
Heideggers entpolitisiertes Ethosdenken wird nirgends so deutlich wie in den Überlegungen zur Gerechtigkeit, die in dem Aufsatz Der Spruch des Anaximander formuliert werden. Bedenkt man, dass Gerechtigkeit etwas Gerechtes als vorbildlich beschreibt, wäre zu fragen, ob das Maß, das Heidegger als das »Maß des Dichters«142 bestimmt, und »das Gesetz«, das Heidegger als »das Ereignis« 143 bezeichnet, als etwas derart Gerechtes bestimmt werden können. In Der Spruch des Anaximander wird die griechische Dike (dfflkh) von Heidegger nicht als Gerechtigkeit, sondern als »Fuge« übersetzt. 144 In diesem Aufsatz nennt Heidegger das Anwesende das »Je-Weilige«, weil zum Anwesenden ursprünglich die »Weile« gehört. 145 Damit ist gemeint, dass das Anwesende sich nur in Bezug auf dessen situationsbezogene Erscheinungsweise bestimmen lässt. Diese Weise ist als ein Zwischen »zwischen Hervorkommen und Hinweggehen« 146 in der Unverborgenheit zu verstehen. In der Weile als einer zeitlich begrenzten Situation ist gerade das Je-Weilige gefügt. 147 Heidegger nennt dieses
142 143 144 145 146 147
Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 4. Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 248. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 354. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 355. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 355. Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 355. A
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Zwischen die Fuge: »Weile west in der Fuge.« 148 Aber das Anwesende, das in der »Weile« verweilt, steht sowohl in der Fuge wie auch in der »Un-Fuge«. 149 Damit ist gemeint, dass die Offenbarkeit des Anwesenden derart ist, dass nicht nur das jeweilige Sosein des Anwesenden zur Geltung kommt, sondern sich auch die Tendenz dieses jeweiligen Soseins zeigt, sich zu versteifen und zu verbergen. Das Anwesende, das Offene, wird dann nicht mehr als das Je-Weilige verstanden, sondern als beständige Anwesenheit. Diese Tendenz, das Anwesende zum festen Gegegenstand berechnenden Denkens zu machen, wird »Un-Fuge« genannt: »Die Un-Fuge besteht darin, daß das Je-Weilige sich auf die Weile im Sinne des nur Beständigen zu versteifen sucht.« 150 Heidegger »übersetzt« Dike (dfflkh) und Adikia (⁄dikffla) also als »Fuge« und »UnFuge« und nicht, wie traditionell, als »Recht« und »Unrecht«. Das Anwesende zur Fuge zugehören zu lassen, bedeutet demnach, das Seiende aus der Wahrheit des Seins heraus zu denken. Mit dieser Auffassung, die für Heidegger der ursprünglichen Bedeutung des Wortes »Dike« entspricht, wird ein Zweifaches deutlich: Einerseits wird die Dike aus dem Wesen der Wahrheit des »Seyns« heraus verstanden. Daher gehören Dike und Adikia wesentlich zusammen. Andererseits versucht Heidegger mit diesem Verständnis der Dike als Fuge ihre metaphysische Bedeutung, die in ihrer Übersetzung als »Gerechtigkeit« enthalten ist, zu umgehen. Denn der Begriff »Gerechtigkeit« ist für Heidegger moralisch-juristisch geprägt. »Die Organisationen im Sozialen, die Aufrüstung im Moralischen, die Schminke des Kulturbetriebes, dies alles gelangt nicht mehr bis zu dem, was ist.« 151 Die Gerechtigkeit mit ihrer Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht ist eigentlich Ausdruck eines Willens zur Macht: »Die verfänglichste Gestalt des Willens zur Macht ist die Gerechtigkeit.« 152 »Gerechtigkeit« zeigt sich, anders als die Dike, als Seinsvergessenheit, weil sie das Ereignishafte im Sein nicht beachtet: »Das Rechte hier: das dem Wirklichen, der Sache gerecht Werdende, das Sachgerechte. Wahrheit also als ›GerechtigHeidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 355. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 355. 150 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, 356. 151 Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 70. 152 Heidegger, Gedachtes, GA 81, 229. Vgl. auch Heidegger, Einübung in das philosophische Denken, GA 88, 178: »Allein ›Gerechtigkeit‹ ist hier ganz aus dem Wesensbereich dessen bestimmt, wohin die Wahrheit als Wert gehört, d. h. aus dem Willen zur Macht.« 148 149
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keit‹.« 153 Hierbei wird deutlich, dass Heidegger die Gerechtigkeit mit ihrer Rede vom »Richtigen« und vom »Rechten« auf die metaphysische Philosophie und deren Verständnis der Wahrheit als Richtigkeit bezieht. In diesem Sinne bleibt das Denken an die Wahrheit des Seins für die Gerechtigkeit unfassbar: »Unfaßlich dies den Griffen/ihres Rechts, das immer Unrecht,/weil im Richten nie das Rechte waltet,/da Verzicht auf das Gerechte/erst des Messens sich begibt,/das Unermeßliche frey einläßt/in das Freye/und dem Wahn ent-geht.« 154 Es lässt sich also erkennen, dass Heideggers Verständnis von Gerechtigkeit (als Fuge) nicht in einem Bezug auf das Miteinanderumgehen von Menschen gedacht wird, sondern rein ontologisch: »Sofern wir ›Seyn‹ überhaupt verstehen, meinen wir dabei so etwas wie Gefüge und Fügung. Schon der älteste uns überlieferte Spruch der abendländischen Philosophie, der des Anaximander, spricht von der dfflkh und ⁄dikffla, dem Fug und Unfug des Seyns, wobei wir hier alle moralischen und rechtlichen und gar christlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Unrecht fernzuhalten haben.« 155 Da sein Denken auf die »Freiheit für das Wesen« abzielt und diese »die Fessel der bloßen Richtigkeit und ihrer Herrschaft« 156 löst, kann Heidegger die Gerechtigkeit mit dem ihr zugrunde liegenden Verständnis des Richtigen nicht annehmen. Für ihn ist das Richtige niemals das Wahre. Vielmehr gibt das Wahre erst »den Grund für die Möglichkeit und das Recht und die Grenzen der Richtigkeit«. 157 Das Wahre reduziert sich nicht auf eine Richtigkeit, weil dieses Wahre »das Seltenste« ist, und das heißt »nicht jederzeit für jedermann gleichgültig«. 158 Auch die Gerechtigkeit als Richtigkeit bezieht sich für Heidegger auf die »Einhebung der Wahrheit in die Seiendheit als Machenschaft« und damit auf »die machenschaftliche Offenheit des Seienden als ›Öffentlichkeit‹«. 159 Das Wahre kann demzufolge nicht innerhalb eines öffentlichen Objektivierungszusammenhangs angemessen verstanden werden. Heideggers eigene, nicht metaphysische Auffassung von Gerechtigkeit (als Fuge) ist damit völlig unpolitisch. So wie Heidegger die 153 154 155 156 157 158 159
Heidegger, Einübung in das philosophische Denken, GA 88, 178. Heidegger, Gedachtes, GA 81, 203. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), GA 42, 86. Heidegger, Einübung in das philosophische Denken, GA 88, 198. Heidegger, Einübung in das philosophische Denken, GA 88, 198. Heidegger, Einübung in das philosophische Denken, GA 88, 201. Heidegger, Besinnung, GA 66, 318–319. A
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Polis nicht »politisch« im traditionellen Sinne versteht, so auch die Gerechtigkeit. Dass dies so ist, wird am Beispiel der Gestalt des Sokrates noch einmal deutlich: Das Sokratische in Heideggers Philosophie ist die Aufforderung zur Selbsterkenntnis. 160 Doch Sokrates ist nicht nur der paradigmatische Vertreter der Selbsterkenntnis, sondern auch ein politischer Philosoph. 161 Sokrates ist zweifellos derjenige Denker, der die Menschen auf zwei miteinander verbundene Sorgen aufmerksam machen will: diejenige um die Selbsterkenntnis und die um die Polis. 162 Die Selbsterkenntnis ist damit eigentlich nur die eine Seite des Sokratischen. Gerade der junge Heidegger betont diese Seite, die Sorge um das Sein des eigenen Daseins. Diese Auffassung des Menschen als cura sui hat zwar, wie in dieser Arbeit bereits gezeigt wurde, eine ethische Bedeutung, doch man darf nicht vergessen, dass sich das ethische Phänomen keineswegs in der Sorge um das Selbstseinkönnen erschöpft. Anhand von Kierkegaards Philosophie lässt sich dies gut illustrieren. Auch wenn er das Denken des »Selbstseinkönnens« des Menschen ethisch versteht, hat dies nur Sinn, weil das Selbstsein als das rechte Leben im Angesicht Gottes betrachtet wird. In diesem Sinne deutet auch Habermas Kierkegaard: »Erst das Heilsversprechen bildet die motivierende Verbindung zwischen einer unbedingt fordernden Moral und der Sorge um sich selbst.« 163 Bei Heidegger geht es dagegen nicht um ein Heilsversprechen, sondern um die Erweckung des Daseins aus seiner Seinsvergessenheit, die zugleich eine Rückkehr in seine jeweilige Situation ist, in der der rechte Zugang zum innerweltlichen Seienden und zu sich selbst geschehen kann. Darüber hinaus ist das eigenste Seinkönnen in Sein und Zeit mit der Rückkehr des Daseins zu seiner jeweiligen Handlungssituation eng verbunden. Die Sorge um das eigenste Seinkönnen erweist sich also nicht bloß als Selbstbestimmung des Daseins, sondern als Anerkennung seiner eigenen Ohnmacht gegenüber der Faktizität, die im Begriff »Geworfenheit« zum Ausdruck gebracht wird. Das Ethische dieses Denkens besteht demzufolge darin, dass Heidegger auf die Möglichkeit aufmerksam macht, sich im Augenblick aufzuhalten, in Siehe das I. Kapitel dieser Arbeit. Vgl. Peter Trawny, Sokrates oder die Geburt der politischen Philosophie, Würzburg 2007, 37. 162 Vgl. Platon, Des Sokrates Verteidigung, 29d. Vgl. auch Trawny, Sokrates, 9. 163 Jürgen Habermas, Ach Europa, Frankfurt a. M. 2008, 48. 160 161
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dem das Dasein offen für das Mögliche und Fremde gehalten wird. Heideggers Aufruf zur Selbsterkenntnis ist eine Aufforderung zu einem bestimmten Aufenthalt, in dem eine Offenheit für das freie Sichzeigen der Phänomene geschehen kann. Bei der (sokratischen) Selbsterkenntnis geht es – so Heidegger – darum, eine gelassene Haltung zu erreichen, die den Phänomenen Recht verschaffen kann. Das Dasein als die Sorge um seine eigenste Existenz ist also mit der Sorge um die Wahrheit der Phänomene ursprünglich verbunden. Mit Heideggers späterem Gedanken, dass sich der Mensch in der Zugehörigkeit zum Sein sein Wesen zu eigen macht und sich damit erst seinen echten Aufenthalt bauen kann, wird ein weiteres Mal eine gelassene und für die Phänomene offene Haltung betont, in der sich der Mensch für eine stets mögliche kritische Infragestellung offenhält. In der Zugehörigkeit zum Sein wohnt der Mensch derart, dass er das Maß seines Existierens nicht im Voraus bestimmt, sondern dass dieses allein aus dem Ereignis – als Ereignis von Sinn – entspringt. Das Maß aus dem Ereignis zu nehmen heißt anzuerkennen, dass es das Ereignis als solches nicht gibt, da es nur im Einzigen und Besonderen geschieht. Das ereignishafte Maß, das dem Einzigen und Besonderen gerecht wird, richtet sich also gegen das gewöhnliche Verständnis vom Maß als etwas Allgemeinem, als allgemeinem Ausdruck eines (gesetzgebenden) Willens. Gerade das Zurücktreten des bestimmenden Anspruchs des Menschen zugunsten des jeweiligen und freien Erscheinens des Seienden setzt die Gelassenheit des Menschen voraus, die sich aber auch durch das Sichhalten im Unbestimmten vollzieht. Das Ereignisdenken zwingt uns, offen für das Geheimnis zu bleiben. So ist für Heidegger nur durch »das Wohnen im Geheimnis« eine »Verwindung der Seinsvergessenheit« überhaupt denkbar. 164 Aufgrund des ontologischen Verständnisses der Dike als Fuge geht die moralische Bedeutung des Begriffes »Gerechtigkeit« eindeutig verloren. Erstaunlicherweise aber enthält auch dies eine ethische Dimension. Denn das Maß aus der Zugehörigkeit zum Sein zu denken, bringt die Möglichkeit von Pluralismus und Toleranz mit sich, weil der Mensch als »Da-sein« ganz genau weiß, dass es die Wahrheit als solche nicht gibt. Das Ereignisdenken erst zu nehmen – und das heißt, die Dike als die Fuge zum Sein selbst zu verstehen –, bedeutet also im Sinne Heideggers den Verzicht auf Orthodoxie und Fanatismus: »Das ech164
Heidegger, Seinsvergessenheit, in: Heidegger Studies 20 (2004), 9–14, 10. A
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te u. fruchtbare u. im Grunde unablässige Gespräch ist jenes, wo die Sprechenden verschiedener Art sind und diese anschauend anerkennen, weder im bloßen gleichgültigen Geltenlassen, noch nach der Maßgabe eines einzigen Maßstabes u. seiner Doktrin.« 165 Ein solches plurales, jeweiliges Maß gewinnt Heidegger durch sein Verständnis der Dike als Fuge. Somit könnte man sagen, dass das Gerechte sich für Heidegger nicht auf ein allumfassendes Maß für das gemeinsame Leben bezieht, sondern gerecht nur das ist, was in der Fuge zum Sein und dessen Schickung steht. Die Gerechtigkeit wird also nicht auf den Umgang mit anderen Menschen begrenzt, sondern sie ist eine Möglichkeit, die sich auf alles Seiende bezieht. Wenn man über so etwas wie eine Gerechtigkeit im Sinne Heideggers sprechen darf, dann zeigt sich diese als ein paradigmatisches Schützen der Phänomene. Hierin findet man den eindeutigsten Beweis dafür, dass Heideggers Ethosdenken der Ausdruck einer außergewöhnlichen Verschmelzung von Ethik, Ontologie und Phänomenologie ist. 166 Heidegger wollte nicht allein die Sorge um das Selbstsein erwecken, sondern auch die Sorge um die Phänomene, eine Achtsamkeit auf deren jeweiliges Sichzeigen und Sichentziehen. Er formuliert dies sogar als Norm: »Wir müssen in einer Zeit, da alles auf Nutzen u. Erfolg, Macht u. Geschäft abgestellt ist, stündlich daran denken, daß das ›Leben‹ eher und reiner sich erfüllt, wenn wir dem eigenen Wesen der Dinge unsere Achtsamkeit schenken. Dieses unscheinbare Behüten des Wesenhaften im stillen Andenken, im Geleiten der uns Anvertrauten, ist das Echo des Ursprungs, in den alles zurückkehrt.« 167 Den Phänomenen Recht zu verschaffen, bedeutet eben, sie in der Fuge zum Sein zu halten, also ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: »Der erste Dienst besteht hier darin, daß der Mensch das Sein des Seienden bedenkt, d. h. allererst in die Acht nimmt.« 168 Diese Auffassung der Gerechtigkeit ist freilich keineswegs diejenige des Sokrates. Sokrates, der sich für die Erweckung der mensch-
165 Heidegger, Brief an Elfride Heidegger, 12. 08. 1952, in: Heidegger, Mein liebes Seelchen!, 279. 166 Dazu siehe: Günter Figal, Zu Heidegger. Antworten und Fragen, Frankfurt a. M. 2009, 83–93. 167 Heidegger, Brief an Elfride Heidegger, 05. 12. 1943, in: Heidegger, Mein liebes Seelchen!, 221. 168 Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 238–239.
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lichen Sorge um die Polis bemüht, versteht die Gerechtigkeit politisch. Der Mensch ist für ihn zwar nicht der Bürger der Welt, kein Kosmopolit wie bei Kant, wohl aber ist der Mensch Bürger der Polis. Sokrates ruft den anderen dazu auf, gut zu sein, und zwar öffentlich, in der Volksversammlung. Die Polis ist der Ort der Gerichte und Gesetze. Diese Gesetze sind weder vom Menschen erfunden noch bekommen sie von ihm ihre Legitimität, sondern sofern sie Gesetze der Polis sind, sind sie ursprünglich mit dem Göttlichen verbunden. Es ist entscheidend, nicht aus den Augen zu verlieren, dass Sokrates das, was er tut, nur im Auftrag des Gottes tut: »Und über diesem Geschäft habe ich nicht Muße gehabt, weder in der Angelegenheiten der Stadt etwas der Rede Wertes zu leisten noch in meinen häuslichen; sondern in tausendfältiger Armut lebe ich wegen dieses dem Gotte geleiteten Dienstes.« 169 Sokrates’ Philosophieren in Athen entspricht »der Anordnung Apollons, des Gottes von Delphi, und da gilt es, weder den Tod noch anderes fürchtend, zu verharren«. 170 Nur im Lichte des Auftrags des delphischen Gottes an Sokrates soll man seine Sorge um die Polis verstehen. 171 Für Sokrates müssen die Gesetze der Polis gelten, weil ihre Bezweiflung zugleich eine Anzweiflung der Polis selbst wäre. 172 Sokrates hat die anderen Menschen nie aus dem Blick verloren. Wie Hannah Arendt sagt: Sokrates »entdeckte, dass man Umgang mit sich selbst haben kann, so gut wie mit den anderen, und dass beide Arten von Umgang irgendwie miteinander zusammenhängen«. 173 Zwar weiß Sokrates vieles nicht, doch eines ist für ihn klar: »Gesetzwidrig handeln aber und dem Besseren, Gott oder Menschen, ungehorsam sein, davon weiß ich, daß es übel und schändlich ist.« 174 Hieraus muss die folgende Konsequenz gezogen werden: Während die Philosophie des Sokrates auf eine Erziehung der Bürger für das Leben in der Polis zielt, versucht Heidegger eine Erziehung des Menschen für die Wahrheit des Seins. Oder anders ausgedrückt: Sokrates’ Erziehung ist eine politische, Heideggers Erziehung eine ontologische. So wie seine
169 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 23b–c. Vgl. auch Platon, Des Sokrates Verteidigung, 30a–d. 170 Günter Figal, Sokrates, München 1995, 28. 171 Vgl. Trawny, Sokrates, 84. 172 Vgl. Figal, Sokrates, 30. 173 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Band 1, München 1979, 187. 174 Platon, Des Sokrates Verteidigung, 29b.
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Auffassung der Polis keine traditionelle »Politik« enthält, sondern diese auf die Wahrheit bezieht, so geschieht etwas Ähnliches in seinem Verständnis von Dike: »Gleich unmöglich wie die Deutung der pli@ aus dem neuzeitlichen Staat oder aus der römischen res publica ist die Deutung der dfflkh aus der neuzeitlichen Gerechtigkeit und der römischen iustitia. Die dfflkh als der Fug, der das Menschentum in die Verhältnisse seines Verhaltens weisend fügt, hat ihr Wesen aus dem Bezug zur ⁄lffiqeia, nicht aber bestimmt sich etwa die dfflkh aus dem Bezug zur pli@ und durch diese.« 175 Sokrates ist auf der Suche nach dem Wahren, weil er davon ausgeht, dass das Wahre zugleich das Gute und das Gerechte ist. Dies ist bei Heidegger nicht so. Die Wahrheit enthält für Heidegger keine moralische Verbindlichkeit, weil sie nur als die Wahrheit des Seins zu verstehen ist, das Sein aber eine moralische Neutralität darstellt. Das »Heile« und das »Grimmige« gehören zum Sein, weil »das Sein selber das Strittige ist«. 176 Zum ursprünglichen Ethos kann keine politische Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit im moralisch-juristischen Sinne gehören, da jede Moralität einen im Voraus vorhandenen Unterschied (zum Beispiel von gut und böse, wertvoll und wertlos und dergleichen) fordert. 177 Die Grundfrage des Verhältnisses zwischen »Heidegger und der Ethik«, die in der Heidegger-Forschung ungeklärt bleibt, ist systematisch die Frage danach, inwiefern ein Ethos ohne Moral und ohne Polis plausibel gemacht werden kann. Sokrates’ Verständnis der Gerechtigkeit ist wesentlich politisch. Hingegen ist für Heidegger Gerechtigkeit als die Fuge des Seyns nicht politisch zu verstehen. Gerade darin liegt die Schwierigkeit seines Ansatzes, in dem Heidegger die Bahnen des sokratischen Denkens radikal überschreitet – und zwar auf den achtsamen Umgang mit den Dingen, der Technik, dem Geviert, dem Ereignis hin. Heideggers Ethos geht es nicht zuerst darum, andere Menschen zu schützen oder ihnen zu helfen, es geht überhaupt nicht um andere Menschen, sondern darum, die Wahrheit aller Dinge und Menschen in ihrer Besonderheit zu bewahren. Heideggers Engagement ist kein humanistisches, sondern, wie er Heidegger, Parmenides, GA 54, 142–143. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 359. 177 Vgl. Seel, Heidegger und die Ethik des Spiels, 255: »Alle Tugenden des Handelns in der Welt sind sekundär gegenüber der Tugend der Hörigkeit gegenüber den Weisungen des Seins.« 175 176
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sagt, »l’engagement durch und für die Wahrheit des Seins«. 178 Der Mensch ist nicht Hirt des Mitmenschen, sondern des Seins. Es erscheint also so, als hätte Heidegger die Mitmenschen vergessen.
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Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 314. A
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Kapitel IX: Heideggers Verständnis des Mitseins und Lévinas’ Kritik daran
Mit dem Begriff des »Mitseins« wird im Frühwerk Heideggers die – traditionell gesagt – intersubjektive Ebene eröffnet. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob diese Zwischenmenschlichkeit eine ethische Dimension in sich trägt. Zwar gehört das Mitsein in Sein und Zeit nicht zu einer moralisch-anthropologischen Interpretation des sozialen Lebens, sondern in einen fundamentalontologischen Rahmen. Deshalb sagt Heidegger in der Vorlesung vom WS 1928/29: »Nur weil jedes Dasein als solches von Hause aus […] ein Mitsein ist, d. h. Miteinander, nur deshalb ist menschliche Gemeinschaft und Gesellschaft möglich, in den verschiedenen Abwandlungen, Stufen und Graden der Echtheit und Unechtheit, Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit.« 1 Doch bleibt bis in die Gegenwart in der Heidegger-Interpretation unentschieden, inwiefern sein Verständnis des Mitseins ethische Implikationen hat. Dasein ist Mitsein, das heißt ein Seiendes, dessen Welt stets eine »Mitwelt« ist. 2 »So ursprünglich das Dasein Sein mit Anderen ist, so ursprünglich ist es Sein mit Zuhandenem und Vorhandenem.« 3 Das Problematische einer solchen Feststellung wird aber erst sichtbar, wenn man auf Heideggers Auffassung des Daseins zurückkommt. Dem Dasein geht es um sein eigenes Sein, denn sein Wesen besteht in seiner Existenz; es ist grundsätzlich Möglichsein. Weil das Dasein aber stets in einer Welt existiert, in der immer schon bestimmte Auslegungen, das heißt bereits vorhandene Möglichkeiten zu existieren, zu finden sind, steht das Dasein immer in der Gefahr, sich zu verfehlen und zu verfallen. Das Verhalten des verfallenen Daseins zu sich selbst wird nicht durch sein eigenes Erfahren der Welt, sondern durch die
1 2 3
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Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 141. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 159. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 421.
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Heideggers Verständnis des Mitseins und Lévinas’ Kritik daran
»Man«-Welt vermittelt. Erst wenn das Dasein sich in seinem eigenen Seinscharakter als Möglichsein – und das heißt: als Unbestimmtheit – erkennt, kann es für die eigene Bestimmung seiner Existenz frei sein. Meistens ist das Selbst des alltäglichen Daseins das »Man«. Das Selbst des Daseins als »Man« ist dann sein nicht »ergriffenes Selbst«, 4 das so im Modus des uneigentlichen Existierens bleibt. Das »Man« ist aber nur aus dem Grunde des Mitseins als wesenhafter Struktur des Daseins möglich. Das Mitsein als Existenzial ist die fundamentalontologische Formel, um das Verhältnis des Daseins zu Anderen zu verstehen, das Mitsein mit Anderen zu erhellen. Das Dasein als »Jemeinigkeit« 5 zu verstehen, schließt die Möglichkeit einer Pluralisierung des Daseins aus. Deshalb könnte man in Frage stellen, ob die existenziale Bestimmung des Daseins als Mitsein mit der Interpretation des Daseins im Hinblick auf seine Jemeinigkeit einen Widerspruch bildet. Heidegger bemüht sich, das Gegenteil zu zeigen, indem er die Jemeinigkeit von einem bloßen Solipsismus scharf abzugrenzen versucht, etwa wenn er das Verständnis des Daseins als ein In-der-Welt-sein beschreibt: 6 »Geworfen ist zwar das Dasein ihm selbst und seinem Seinkönnen überantwortet, aber doch als In-derWelt-sein. Geworfen ist es angewiesen auf eine ›Welt‹ und existiert faktisch mit Anderen.« 7 So wie es kein Dasein ohne Welt gibt, gibt es auch kein Dasein ohne die Anderen. 8 Auch in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz aus dem SS 1928 versucht Heidegger, die ontologische Bestimmung des Daseins als Sorge von einem bloßen Egoismus zu unterscheiden. In der Auffassung des Daseins als »Umwillen« »handelt es sich nicht um einen existenziellen, ethischen Egoismus, sondern um die ontologisch-metaphysische Kennzeichnung der Egoi-
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 172. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 57. 6 So schreibt zum Beispiel auch Friedrich-Wilhelm von Herrmann: »Durch diesen phänomenologischen Aufweis, daß mir das andere Dasein apriori in meiner selbsthaft-ekstatisch-horizontalen Erschlossenheit aufgeschlossen ist, hat Heidegger den ontologischen und transzendentalphilosophischen Solipsismus vom Ansatz her überwunden.« (von Herrmann, Subjekt und Dasein, 158). 7 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 506–507. 8 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 155: »Die Klärung des In-der-Welt-seins zeigte, daß nicht zunächst ›ist‹ und auch nie gegeben ist ein bloßes Subjekt ohne Welt. Und so ist am Ende ebensowenig zunächst ein isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen.« 4 5
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tät des Daseins überhaupt«. 9 Dasein ist für Heidegger also primär durch Egoität konstituiert, und nur deshalb »kann es faktisch für ein anderes Dasein und mit ihm als ein Du existieren. Das Du ist nicht eine ontische Dublette eines faktischen Ich; aber ebensowenig kann ein Du als solches existieren und für ein anderes Ich als Du es selbst sein, wenn es nicht überhaupt Dasein ist, d. h. in der Egoität gründet.« 10 Wie in dieser Vorlesung kritisiert Heidegger schon in Sein und Zeit die Auffassung des anderen Menschen als eine »Dublette des Selbst«, das heißt als Widerspiegelung des Ichs, womit er die sogenannte »Einfühlungstheorie« in Frage stellen will. 11 Die Anderen sind aber auch nicht als Zusammenzählung mehrerer Subjekte zu denken, die außer mir stehen. Vielmehr ist es für Heidegger so, dass das Selbst des Daseins sich kaum von den Anderen unterscheiden lässt – wie im Fall des »Man«-Selbst, das wir »zunächst und zumeist« 12 sind. Heidegger geht es nicht um eine faktische, leibliche Trennung zwischen dem Ich und den Anderen, sondern er versucht, die traditionelle Auffassung der Anderen als etwas Äußeres radikal zu verwandeln. Seine Analyse des »Man« und der durch die Grundzüge von Gerede, Neugier und Zweideutigkeit geprägten »Man«-Welt sollen zeigen, dass jeder von uns in gewissem Maße ein Anderer ist. Oder anders ausgedrückt: Jedes Dasein trägt das Fremde in sich. Gewiss wurde das Dasein niemals als ein abgekapseltes Seiendes verstanden, das fremd und blind einer Außenwelt gegenübersteht. Dennoch und obwohl Heidegger sich selbst gegen einen solchen Solipsismusverdacht verteidigt, bleiben noch einige Zweifel. 13 Dass das Dasein nur im Blick auf seinen je eigenen Tod die Möglichkeit des FreiHeidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 240–241. 10 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 241. Vgl. auch Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 157. 11 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 166: »Das Sein zu Anderen ist nicht nur ein eigenständiger, irreduktibler Seinsbezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des Daseins schon seiend.« 12 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 23. 13 Vgl. Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–1932, 92: »Bis heute ist der an Heideggers ›Analytik des Daseins‹ und ›Metaphysik des Daseins‹ gerichtete Solipsismusverdacht nicht verstummt.« Auch Jaspers ist dieser Meinung: »Daß die Kommunikation nur als das Gerede des ›Man‹, Menschen untereinander nur als Gesellschaft vorkommen, ist Symptom jener monistischen Eintönigkeit« (Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, 33). 9
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werdens für sein eigenstes Seinkönnen hat, könnte bedeuten, dass der Weg zur Eigentlichkeit der Weg des allein um seinen Tod bekümmerten Eremiten ist. 14 Niemand kann diesen Weg mit dem Dasein mitgehen; das Dasein steht ganz allein vor seinem kommenden und ihn immer schon begleitenden Tod. Heidegger selbst spricht vom »existenzialen ›Solipsismus‹«. 15 Auf der einen Seite gehört also zur Wesenskonstitution des Daseins ein Offensein für eine Welt, aber auf der anderen Seite wird die Vereinzelung des Daseins zu sich selbst betont. Dieses scheinbare Paradox wird anhand von Heideggers Verständnis der Sorge verständlich: Einerseits geht es in der Sorge um den besorgenden Umgang mit der Welt, in dem Zuhandenes entdeckt werden kann; andererseits geht es um die eigene Existenz, die in die Analyse des Todes als radikaler Vereinzelung mündet. Im dritten Kapitel dieser Arbeit wurde bereits gezeigt, dass die Sorge nicht nur den Entwurf der Existenz des Daseins bestimmt, sondern auch das Besorgen des innerweltlichen Seienden. Weil das Dasein von vornherein als In-der-Weltsein konzipiert wird, scheint Heidegger einen solipsistischen Ansatz überwunden zu haben. Jedoch tritt, wie Thomas Rentsch sagt, anstatt des cogito Descartes’ »nicht die systematische Ausarbeitung der Konstitution des gemeinsamen Lebens in der primären Welt« hervor, »sondern die Selbstsicherheit wird nur zum ganzen In-der-Welt-sein und zu dessen Todesgewissheit ausgedehnt«. 16
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Heidegger führt in Sein und Zeit den Begriff des Mitseins ein, um ein allgemeines und nun sozusagen vollständiges Bild seiner Auffassung der Welt zu zeigen. In den ersten Kapiteln von Sein und Zeit hat er sich bemüht, seine pragmatische Konzeption der Welt als »Werkstatt« und des Dings als »Zeug« deutlich zu machen. Allein die Weise der Begegnung zwischen dem Dasein und anderen Menschen bleibt unklar. Dies muss nun in der Analyse des Mitseins geklärt werden. Heidegger fragt jedoch nicht, wie die Anderen für sich begegnen. Nicht die Anderen als 14 Vgl. Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, 342: »Heideggers Redeweise zeigt immer wieder, dass ›die anderen‹ nicht zählen, wenn es um das Eigenste geht.« 15 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 250. 16 Rentsch, Interexistentialität, 148.
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Andere stellen für Heidegger das Hauptproblem dar. Vielmehr versucht er aus der Sicht des Daseins den phänomenalen Raum für die Begegnung mit dem Anderen verständlich zu machen. Dieser Raum ist nichts anderes als die Welt, genauer noch: die alltägliche Welt. Nur im Zusammenhang dieser Frage nach dem »Wer« des Daseins in der Alltäglichkeit werden Mitsein und Mitdasein zur Sprache gebracht. 17 Im Mitsein gründet der Modus des alltäglichen Selbstseins des Daseins, das als das »Man« bezeichnet wird. Dieses alltägliche Selbstsein wird in Heideggers Ausarbeitung der Struktur des Mitseins am stärksten hervorgehoben. Darüber hinaus sind in der Analyse des Mitseins prinzipiell undifferenzierte Bestimmungen des Miteinanderseins zu finden. Heideggers wenige Ansätze zur Bestimmung des Mitseins in seinem differenzierten Modus sind dagegen weder einfach zu finden noch leicht zu verstehen. Die Frage nach der Begegnung zwischen dem Dasein und den Anderen steht im Zusammenhang von Heideggers bisheriger Weltanalyse. In gewisser Weise erscheinen die Anderen so wie die Dinge: Beide begegnen in der Welt. Die Dinge und die Anderen erscheinen dem Dasein nur in der Welt, und dennoch ist die Seinsverfassung der Anderen nicht durch Kategorien, sondern durch Existenzialien bestimmt. Ontologisch gesehen gilt es demzufolge, zwischen den Dingen und dem Dasein Anderer scharf zu unterscheiden. Die komplexe Weise, in der diese Begegnung geschieht, wird im folgenden Beispiel beschrieben: »Das verankerte Boot am Strand verweist in seinem An-sich-sein auf einen Bekannten, der damit seine Fahrten unternimmt, aber auch als ›fremdes Boot‹ zeigt es Andere.« 18 Die Welt ist, wie Heidegger mit seiner Weltanalyse verständlich machen will, eine eigentümliche und sinnhafte Verweisungsganzheit. In dieser Ganzheit verweist Zuhandenes auf einen möglichen Träger oder Hersteller – die Anderen: »Im umweltlich Besorgten begegnen die Anderen als das, was sie sind; sie sind das, was sie betreiben.« 19 Diesen Verweisungszusammenhang zwischen Dingen und Anderen gibt es aber nicht ohne Dasein, denn dieser Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 152. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 157. 19 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 168. Vgl. auch Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 414: »Im Zeuggebrauch aber ist das Dasein je schon auf das Mitsein Anderer eingespielt. Das Dasein ist auch im Gebrauch eines Zeugs je schon Mitsein mit Anderen, wobei völlig gleichgültig ist, ob ein Anderer faktisch anwesend ist oder nicht.« 17 18
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Verweisungszusammenhang ist derjenige, in dem das Dasein jeweils steht. Die Welt als das Verweisungsganze der Bedeutsamkeit ist nicht nur der Ort, an welchem dem Dasein das Zuhandene innerhalb von dessen Bewandtnis als Entdecktes begegnet, sondern sie ist zugleich das, was verhindert, dass der Andere als »Subjekt« begegnet. 20 Die Welt bildet einen Verweisungskomplex, in dem Dinge und Menschen gerade als das, was sie sind, zum Vorschein kommen. In der Welt als dem Ort des sinnhaften und damit ursprünglichen Auftretens erscheinen die Dinge und die Anderen miteinander verbunden. Die Anderen »begegnen aus der Welt her, in der das besorgend-umsichtige Dasein sich wesenhaft aufhält«. 21 Es ist die Welt des freien Erscheinens der Phänomene, die Welt des besorgend-umsichtigen Daseins, in dem das Dasein den Dingen (als Zeug) und den Anderen (dem Mitdasein) begegnen kann. »Die Welt des Daseins gibt demnach Seiendes frei, das nicht nur von Zeug und Dingen überhaupt verschieden ist, sondern gemäß seiner Seinsart als Dasein selbst in der Weise des In-der-Weltseins ›in‹ der Welt ist, in der es zugleich innerweltlich begegnet.« 22 Wenn das Dasein in der Welt wach verweilt, und das heißt: aufmerksam auf sein umsichtiges Besorgen mit der Welt ist, gibt es erst die Möglichkeit des Sichfreigebens der Dinge und der Anderen. 23 Wie die Welt des Daseins das Erscheinen der Anderen genau freigibt, bleibt unklar. Man gewinnt jedoch einen Hinweis, wenn man die Gleichursprünglichkeit von In-der-Welt-sein, Mitsein und Mitdasein beachtet. 24 Diese sind gleichursprünglich, weil jedes davon die zugrunde liegende Offenheit bzw. Erschlossenheit voraussetzt. Das Dasein kann nur eine Welt haben, weil diese Welt für das Dasein bereits erschlossen ist. Dasselbe gilt bezüglich des Mitseins und des Mitdaseins. Aus dem Grund der Erschlossenheit des Daseins ist dieses ein Mitsein, 20 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 165: »In der Struktur der Weltlichkeit der Welt liegt es, daß die Anderen nicht zunächst als freischwebende Subjekte vorhanden sind neben anderen Dingen, sondern in ihrem umweltlichen besorgenden Sein in der Welt aus dem in dieser Zuhandenen her sich zeigen.« 21 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 159. 22 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 158. 23 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 164: »Die Welt gibt nicht nur das Zuhandene als innerweltlich begegnendes Seiendes frei, sondern auch Dasein, die Anderen in ihrem Mitdasein.« 24 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 152.
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das heißt immer schon ein Da mit Anderen. 25 Mit der Gleichursprünglichkeit von Dasein als Mitsein versucht Heidegger das Mitsein von einem bloß quantitativen Nebeneinandersein oder faktischen Zusammensein zu unterscheiden. Dabei ist das faktische Erscheinen der Anderen für das existenziale Mitsein nicht entscheidend. Selbst »das Alleinsein des Daseins ist Mitsein in der Welt«. 26 Mit diesem ontologischen Verständnis des Mitseins verlässt Heidegger jede möglicherweise »fragmentarische« Auffassung des Mitseins als räumlich oder zeitlich bestimmtes Mitsein. Die »inhärente Fragmentarität der Begegnungen vom Typ des Mitseins«, wie Zygmut Bauman dies nennt, ist damit in Heideggers Denken je schon überwunden – allerdings nicht, weil das Mitsein zum »Fürsein« für den Anderen wird, wie es Bauman als notwendigen Schritt für die Transzendenz als »Sprung aus der Isolation zur Einheit« versteht, 27 sondern nur so, dass das Mitsein zur Seinskonstitution des Daseins gehört. Das Dasein als Mitsein zu betrachten setzt immer seine Konstitution als In-der-Welt-sein voraus. 28 Entscheidend ist hierbei: Selbst wenn man eine Bestätigung finden könnte, dass das Dasein nicht solipsistisch, sondern immer offen für den Anderen wäre und das Dasein damit implizit sozial verstanden würde, würde aus der Offenheit seines Seins lediglich die existenziale Möglichkeit von Intersubjektivität folgen, ohne dass sich direkte ethische Implikationen ergäben. Heideggers kurze, aber dichte Beschreibung der Fürsorge 29 bietet dieser Lesart einen entscheidenden Ansatz. Die Fürsorge ist der existenziale Modus der Sorge im Mitsein. Heidegger unterscheidet aber zwischen einem uneigentlichen und einem eigentlichen Modus der Fürsorge, zwischen denen sich das Dasein hält: die »einspringend-be-
Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 426: »Die Transzendenz, das Über-hinaus des Daseins, ermöglicht es, daß es sich zu Seiendem, sei es zu Vorhandenem, zu Anderen und zu sich selbst, als Seiendem verhält.« 26 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 161. 27 Vgl. Zygmunt Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997, 88–89. 28 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 318: »Mitsein meint jedoch immer Miteinandersein in derselben Welt.« 29 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 164: »Zwischen den beiden Extremen der positiven Fürsorge – der einspringend-beherrschenden und der vorspringend-befreienden – hält sich das alltägliche Miteinandersein und zeigt mannigfache Mischformen, deren Beschreibung und Klassifikation außerhalb der Grenzen dieser Untersuchung liegen.« 25
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herrschende« und die »vorspringend-befreiende«. 30 Die einspringendbeherrschende Fürsorge zeigt sich, wenn das Dasein dem Anderen die Sorge abnimmt, wobei damit die eigene Sorge des Anderen im Sinne eines dem Dasein eigenen »Besorgens« übernommen wird. Daher nennt Heidegger sie »einspringend«: »Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen.« 31 Dabei, so sagt Heidegger, tritt der Andere zurück, »um nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu übernehmen, bzw. sich ganz davon zu entlasten«. 32 In dieser Fürsorge übernimmt also das Dasein für den Anderen das, was eigentlich der Gegenstand seiner Sorge ist. Es ist eine Entlastung des Anderen von seiner eigenen Sorge, die ihn zugleich in eine Abhängigkeit bringen, ja sogar zu einer Beherrschung des Anderen führen kann. Die vorspringend-befreiende Fürsorge für den Anderen, die sich als die eigentliche Weise der Fürsorge erweist, besteht darin, dass »sie ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die ›Sorge‹ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben«. 33 Das Dasein entlastet den Anderen nicht von seiner Sorge, wie etwa in der einspringend-beherrschenden Weise der Fürsorge, sondern der Andere wird in seinem Besorgen frei für sich gelassen. Heidegger fährt fort: »Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.« 34 Mit diesem Zitat taucht die Frage auf, wie diese »Hilfe« des Daseins genau zu verstehen ist. Heidegger äußert sich nicht direkt zu dieser Problematik. Aber die »Hilfe« kann nur in der Anerkennung des Daseins des Anderen als ein anderes Dasein liegen, im Unterschied zu einer Behandlung, wie sie ein vorhandenes Ding erführe. Die Welt des Daseins gibt den Anderen erst für das Dasein frei; das Dasein kann gegenwendig den Anderen sich zu sich befreien lassen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Dasein den Anderen an seiner statt befreite, als ob es mehrere Wege zur Eigentlichkeit gäbe. Vielmehr wird der Andere nicht mehr unter dem verdinglichenden Blick des Daseins gesehen und nicht wie ein Ding »besorgt«. Der Andere wird von
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Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 164. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 163. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 163. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 163. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 163. A
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seiner Sorge nicht entlastet, sondern das Dasein »verhilft« dem Anderen zu seiner Last. Das Freiwerden des Anderen, das durch die vorspringend-befreiende Fürsorge geschieht, ist immer aus der Perspektive des Daseins gesehen. Für das Selbstsein des Anderen ist diese Fürsorge weder notwendig noch hinreichend, aber sie ist hilfreich, da der Andere aus dem verdinglichenden, beherrschenden Umgang des Daseins frei gelassen wird in das zumindest mögliche Freisein für die eigene Sorge des Anderen. 35 Denn die Last der Existenz muss jeder selbst erfahren und übernehmen – auch der Andere. 36 Entscheidend ist es deshalb, festzuhalten, dass das, was in der vorspringend-befreienden Fürsorge geschieht, das Freilassen des Anderen ist. Das Dasein lässt den Anderen frei, das zu sein, was nicht nur das Dasein selbst, sondern auch der Andere ist: ein existierend von ihm selbst zu entwerfendes Seiendes und kein Zeug. Die Möglichkeit befreiender Fürsorge wird von Heidegger erwähnt, aber nicht näher beschrieben. Daher bleibt unklar, inwiefern der Andere für die Eigentlichkeit des Daseins relevant sein kann. Heidegger sagt explizit, dass diese Frage seine fundamentalontologische Analyse nicht betreffe, sofern eine Frage »der konkreten Anthropologie« sei. 37 So wie das Besorgen durch die Umsicht geleitet wird, hat die Fürsorge ihre eigene Sicht: die »Rücksicht« und die »Nachsicht«. Ihre defizienten und indifferenten Modi können bis zur Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit gehen. 38 Durch Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Anderen wird das Dasein selbst in seinem Mitsein verfehlt. Der Grund, den Heidegger dafür gibt, scheint der Grundbestimmung des Daseins als cura sui zu widersprechen, denn das Dasein als Mitsein wird als »wesenhaft umwillen Anderer« verstanden. 39 Dasein als Mitsein heißt immer schon, mit Anderen in der Welt zu sein: »Weil zur Grundverfassung des Daseins das In-der-Weltsein gehört, ist das existierende Dasein wesenhaft Mitsein mit Anderen Vgl. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 69. Daher sagt William McNeill: »The question of authentic existence, in conclusion, can never be a matter of telling other what the right measure is, or of positing some theoretical or regulatory ideal of ethical existence. It is a matter, rather, of the possibility of a singular response to one’s own thrownness, of an explicit affirmation of how one becomes – what one has been« (McNeill, The Time of Life, 66). 37 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 394. 38 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 164. 39 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 164. 35 36
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als Sein bei innerweltlichem Seiendem.« 40 Ob das Dasein dies ausdrücklich weiß oder nicht, ändert nichts an dieser existenzialen Bestimmung. Das Mitsein steht für Heidegger vor jeder moralischen Auffassung der zwischenmenschlichen Begegnung. 41 Das »Umwillen Anderer« weist daher auf die vom Mitsein selbst bereits vorgegebene Erschlossenheit der Anderen. 42 Die eigentümliche Erschlossenheit der Anderen, die durch das Mitsein mitkonstituiert ist, lässt das Dasein der Anderen als das der Anderen verstehen. Dies ergibt sich aus den beiden unmittelbar zusammengehörenden Aspekten: Einerseits gibt es die Möglichkeit der Bedeutsamkeit nur aufgrund des besorgenden Umgangs des Daseins mit der Welt; andererseits besorgt das Dasein die Welt nur aufgrund seines Worumwillen. Heidegger legt Wert darauf, klarzumachen, dass der Andere aufgrund des Mitseins als Mitdasein erschlossen ist. Dasein versteht sein Sein, und das heißt zugleich: Es erkennt, dass der Andere ein existierendes Seiendes ist. Aber das Dasein verhält sich nicht immer so zu den Anderen. Das Dasein kann – ebenso wie es auch den Vorrang der Zuhandenheit vor der Vorhandenheit in einer wissenschaftlichen Abstraktion verlieren kann – vergessen, dass das Miteinandersein für sein Sein konstitutiv ist. Dies gehört als Seinsweise des »Miteinanderseins« zur existenzialen Verfassung des Daseins: »Aber so wie das Sichoffenbaren, bzw. Verschließen in der jeweiligen Seinsart des Miteinanderseins gründet, ja nichts anderes als diese selbst ist, erwächst auch das ausdrückliche fürsorgende Erschließen des Anderen je nur aus dem primären Mitsein mit ihm.« 43 Wenn es also ein »ausdrückliches fürsorgendes Erschließen des Anderen« gibt, das auf die eigentliche, vorspringend-befreiende Fürsorge hinweist, folgt daraus, dass der Andere nicht immer als Anderer, also in einer angemessenen Weise erschlossen ist. Die Erschließung des Seins des Anderen vollzieht sich zunächst und Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 394. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 164: »Auch wenn das jeweilige faktische Dasein sich an Andere nicht kehrt, ihrer unbedürftig zu sein vermeint, oder aber sie entbehrt, ist es in der Weise des Mitseins.« 42 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 164–165: »Im Mitsein als dem existenzialen Umwillen Anderer sind diese in ihrem Dasein schon erschlossen. Diese mit dem Mitsein vorgängig konstituierte Erschlossenheit der Anderen macht demnach auch die Bedeutsamkeit, d. h. die Weltlichkeit mit aus, als welche sie im existenzialen Worum-willen festgemacht ist.« 43 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 165–166. 40 41
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zumeist in den defizienten oder indifferenten Modi, »in der Gleichgültigkeit des Aneinandervorbeigehens«, das ein »Sichkennenlernen« fordert. 44 Das Dasein, so kann man diesen Gedanken reformulieren, soll sich zum Mitdasein nicht wie zu den Dingen verhalten. Natürlich würde Heidegger keinesfalls Ausdrücke wie »Du sollst« oder »Du darfst nicht« gebrauchen. Jedoch hat Heideggers scharfe Kritik an der Instrumentalisierung des Anderen durch eine berechnende Vernunft ethische Implikationen. 45 Das Miteinandersein ist keine dem Dasein äußerliche Angelegenheit, sondern in seinem Sein als Mitsein begründet und gehört also wesentlich zum Selbstverständnis des Daseins. Deshalb verfehlt jede Auffassung vom Miteinandersein im Sinne einer Gruppe von Subjekten den existenzialen Charakter des Mitseins: »Das Vorfinden einer Anzahl von ›Subjekten‹ wird selbst nur dadurch möglich, daß die zunächst in ihrem Mitdasein begegnenden Anderen lediglich noch als ›Nummern‹ behandelt werden.« 46 Die derart »berechneten«, zu Nummern gemachten Anderen werden in ihrer Seinsart als Dasein verfehlt. Die Rücksichtslosigkeit gegenüber den Anderen liegt darin, den Anderen als vorhandenes Ding zu betrachten. Wenn das Selbst des Daseins das »Man-selbst« ist, 47 wird »das Sein des Seienden, das mit-da-ist, […] als Vorhandenheit begriffen«. 48 So wie das Dasein die Dinge im Horizont eines »Um-zu« 49 entdeckt, erscheint auch der Andere für das rücksichtslose bzw. gleichgültige Mitsein als ein berechenbares, nicht als ein selbst daseinsmäßiges Seiendes. Heideggers Kritik an der Instrumentalisierung der Anderen erinnert somit an das kantische Prinzip, einen Menschen als Zweck an sich selbst und niemals als bloßes Mittel zu betrachten. »Der Mensch und überhaupt jedes verHeidegger, Sein und Zeit, GA 2, 165. Vgl. auch Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 165: »Und wenn gar das Sichkennen sich verliert in die Weisen der Zurückhaltung, des Sichversteckens und Verstellens, bedarf das Miteinandersein besonderer Wege, um den Anderen nahe, bzw. ›hinter sie‹ zu kommen.« 45 Vgl. Santiesteban, Die Ethik des »anderen Anfangs«, 147: »Dass der Ansatz des Mitseins fundamental-ontologisch ist, hindert nicht daran, dass er ethische Implikationen haben kann; ein Anzeichen dafür ist, dass Heidegger das Dasein als ›Worumwillen‹ bestimmt, dessen Ziel vor einer Instrumentalisierung bewahrt werden muss, was besagt: Der Mensch darf nicht Mittel zum Zweck werden.« 46 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 167. 47 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 172. 48 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 173. 49 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 92. 44
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nünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.« 50 Diesem kantischen Gedanken hat Heidegger bereits im Sommer 1927 zugestimmt: »Es ist unbestreitbar, daß diese Bestimmung, Zweck seiner selbst zu sein, zur ontologischen Verfassung des menschlichen Daseins gehört.« 51 Heidegger nimmt diese Bestimmung auf, wenn er das Dasein als »umwillen seiner selbst« bestimmt. 52 Dennoch liegt der kantischen praktischen Philosophie der Begriff der »Person« als moralischer Person zugrunde, der in der Philosophie Heideggers fehlt: »Wir erhalten über die Seinsart des Ich aus der Interpretation des Ich als moralischer Person keinen eigentlichen Aufschluß.« 53 Das Dasein ist ebenso wenig eine Person wie jeder Andere. Heidegger zeigt, dass »das Miteinandersein […] zunächst und vielfach ausschließlich in dem, was in solchem Sein gemeinsam besorgt wird, [gründet].« 54 Diese Weise, das Gemeinsame zu haben, kommt, so Heidegger, oft als Abstand und Reserve zur Geltung. Sein pessimistischer Blick hinsichtlich menschlicher Beziehungen zeigt sich in dem folgenden Zitat noch deutlicher: »Das Miteinander derer, die bei derselben Sache angestellt sind, nährt sich oft nur von Mißtrauen.« 55 Doch Heidegger sieht auch in Sein und Zeit die Möglichkeit eines Miteinanderseins, das nicht negativ zu verstehen ist: »Umgekehrt ist das gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache aus dem je eigens ergriffenen Selbst des Daseins bestimmt. Diese eigentliche Verbundenheit ermöglicht erst die rechte Sachlichkeit, die den anderen in seiner Freiheit für ihn selbst freigibt.« 56 Wie genau »das gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache« geschieht, sagt Heidegger in Sein und Zeit nicht. Dennoch findet man in der Vorlesung Einleitung in die PhilosoKant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, GS IV, 428. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 199. 52 Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 242: »Das Dasein existiert, d. h. es ist umwillen seines eigenen In-der-Welt-seinkönnens. Hier zeigt sich das Strukturmoment, das Kant bewog, die Person ontologisch als Zweck zu bestimmen, ohne der spezifischen Struktur der Zweckhaftigkeit und der Frage ihrer ontologischen Möglichkeit nachzugehen.« 53 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 201. 54 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 163. 55 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 163. 56 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 163. 50 51
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phie einige Hinweise, um dies zu deuten: »Miteinandersein bekundet sich im Verhalten mehrerer zum Selbigen. Selbigkeit für mehrere ist Gemeinsamkeit, gemeinsam haben von etwas, Sichteilen in Unverborgenheit. Miteinandersein bei Seiendem ist Sichteilen in die Unverborgenheit (Wahrheit) des betreffenden Seienden.« 57 Das Gemeinsame des Miteinanderseins gründet also in einer zugrunde liegenden gemeinsamen Erfahrung von Wahrheit. Wird Seiendes aus seiner Wahrheit als Unverborgenheit von mehreren erfahren, dann geschieht Gemeinsamkeit. Heidegger sagt in dieser Vorlesung explizit, dass das Miteinandersein »ein Sichteilen in Wahrheit« ist. 58 Demzufolge gibt es Gemeinsamkeit nur, wenn mehrere dieselbe Wahrheit teilen. »Das Gemeinsame ist die Wahrheit des Seienden. Die Wahrheit ist das Selbige, was wir suchten, und dieses Selbige ist es auch, was als Unverborgenheit ermöglicht, daß nun das in der Unverborgenheit Offenbare sich als dieses selbst zeigt, und zwar allen zeigt, denen die Unverborgenheit gemeinsam ist.« 59 Beiläufig sei auch hier gesagt, dass sogar die Freundschaft zwischen Menschen aus dem »gemeinsamem Sicheinsetzen für dieselbe Sache« entsteht. Denn Heidegger sagt auch in der erwähnten Vorlesung, dass »echte und große Freundschaft […] in einer echten Leidenschaft für eine gemeinsame Sache [wächst und standhält], was nicht ausschließt, sondern vielleicht fordert, daß jeder je sein verschiedenes Werk hat und verschieden zu Werke geht. Es sei nur an die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller erinnert.« 60 Dies erinnert deutlich an Heideggers späteres epochales Verständnis der Wahrheit als ein Geschehen in einer Gemeinschaft, im Volk. Dieser Gedanke ist – darauf hat Jean-Luc Nancy aufmerksam gemacht – bereits in Sein und Zeit zu finden. Nancy versucht zu zeigen, dass der Begriff des »Mitseins« selbst zwischen seinen beiden Modi, dem eigentlichen und dem uneigentlichen (nämlich als »Man« und als »Volk«) in gewisser Weise versteckt bleibt. 61 Nancys Hinweis auf die Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 106. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 107. 59 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 105–106. 60 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 147. 61 Jean Luc Nancy behauptet, »that no other thinking has penetrated more deeply into the enigma of Being-with, and that during Heidegger’s time as well as today, no object of thought remains more unthought than this enigma«. Vgl. Jean Luc Nancy, The beingwith of being-there, abrufbar unter: http://www.springerlink.com/content/p4264517j0 3546t5/fulltext.pdf (21. 05. 2009). 57 58
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Ausarbeitung der eigentlichen Dimension des Mitseins als Volk gilt es zu folgen. In § 74 von Sein und Zeit, in dem es im Rahmen der eigentlichen Existenz des Daseins um das Verhältnis von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit geht, sagt Heidegger: »Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.« 62 Schicksal als das »in der Entschlossenheit liegende vorlaufende Sichüberliefern an das Da des Augenblicks« 63 meint das in der ekstatischen Situation verweilende Dasein, das da im Blick auf sein Vorlaufen in den Tod steht. Eigentlich existieren heißt nun: schicksalhaft existieren. Weil das Dasein sich schicksalhaft versteht und Dasein wesentlich Mitsein ist, nennt Heidegger nun das daraus erwachsende Miteinandersein »Gemeinschaft« und »Volk«. So gesehen gibt es in Sein und Zeit nicht nur eine abwertende Darstellung des gemeinsamen Lebens, sondern auch eine positive Bestimmung des Mitseins. Dennoch ist die eigentliche Auffassung des Mitseins schwer zu deuten. Heidegger sagt, dass in der »Mitteilung und im Kampf […] die Macht des Geschickes erst frei« werde. 64 Was genau hier »Mitteilung« bedeutet, ist nicht ohne Weiteres klar, denn Heidegger sagt darüber nichts weiter. Da hier die Rede von dem eigentlichen, weil geschichtlichen Miteinandersein ist, kann man mit Theodore Kisiel annehmen, dass die Mitteilung als Mitteilung der Geschichte und der Kampf als Kampf um deren Sinn zu verstehen sind. 65 In beiden Fällen geht es noch einmal um das Teilen von Wahrheit. Somit mündet das »gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache«, das in der Erfahrung der Wahrheit als Unverborgenheit gründet und den Boden der Gemeinschaft konstituiert, in der Mitteilung. Dass auch der Kampf eine stiftende Gelegenheit für das Entstehen der Gemeinschaft ist, erwähnt Heidegger auch in der Vorlesung aus dem WS 1934/35 voller Pathos. 66 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 508. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 510. 64 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 508. 65 Vgl. Theodore Kisiel, Der sozio-logische Komplex der Geschichtlichkeit des Daseins: Volk, Gemeinschaft, Generation, in: Die Jemeinigkeit des Mitseins, Konstanz 2001, 85– 103, hier 88. 66 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 72–73: »Die Kameradschaft der Frontsoldaten hat weder darin ihren Grund, daß man sich zusammenfinden mußte, weil andere Menschen, denen man fern war, fehlten, noch auch da62 63
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Im Kampf wird klar, dass der Tod dasjenige ist, was zuallererst »den Raum der Gemeinschaft« 67 vorbereitet. Wie aber – im Kampf und auf andere Weise – dieses gemeinsame Mitteilen der Wahrheit geschieht, bleibt in Sein und Zeit unklar.
2.
Zu Lévinas’ Kritik an Heidegger
Zu Heideggers schärfsten Kritikern gehört Emmanuel Lévinas. Heidegger ist zwar für Lévinas der bedeutendste Philosoph des 20. Jahrhunderts, dem das »Wunder der Phänomenologie«, Sein und Zeit, zu verdanken ist. 68 Dennoch bezieht sich Lévinas auf Heidegger »immer mit Leid und Schmerz«. 69 Und obwohl er die Genialität von Heideggers Hauptwerk immer wieder betont, 70 kann Lévinas doch von dem politischen Irrtum Heideggers nie absehen. Lévinas sieht das politische Engagement Heideggers in der NS-Bewegung als fatale Fortsetzung seines ontologischen Denkens. Dieses Denken bleibt laut Lévinas der philosophischen Tradition verhaftet, die die ethische Dimension der Philosophie, die Anerkennung der Moral als »erste Philosophie«, nicht kennt. 71 Darin liegt eine überraschende Gemeinsamkeit, da beide Denker – Lévinas und Heidegger – mit ihren jeweiligen philosophischen Ansätzen auf ihre eigene Weise die philosophische Tradition zu überwinden versuchen: Beide Philosophen sind von dem Versuch geleitet, der Philosophie einen neuen Boden zu bereiten – einmal von der Seinsfrage her, einmal aus der Erfahrung der Andersheit.72
rin, daß man sich auf eine gemeinsame Begeisterung erst verabredete, sondern im tiefsten und einzigen darin, daß die Nähe des Todes als eines Opfers jeden zuvor in die gleiche Nichtigkeit stellte, so daß diese die Quelle des unbedingten Zueinandergehörens wurde.« 67 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 73. 68 So berichtet Lévinas im Gespräch mit Christoph von Wolzogen (vgl. Emmanuel Lévinas, Intention, Ereignis und der Andere. Gespräch zwischen Emmanuel Lévinas und Christoph von Wolzogen am 20. Dezember 1985 in Paris, in: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 131–150, hier 131). 69 Lévinas, Intention, Ereignis und der Andere, 147. 70 Vgl. Lévinas, Intention, Ereignis und der Andere, 148; Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, hrsg. von P. Engelmann, Wien 1986, 31. 71 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 442. 72 Vgl. Peperzak, Einige Thesen zur Heidegger-Kritik von Emmanuel Lévinas, 374.
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Zu Lévinas’ Kritik an Heidegger
Die Pointe von Lévinas’ Kritik an Heideggers Philosophie gründet in dem Wesensbezug von Philosophie und Ethik, den Lévinas voraussetzt. Die Philosophie ist für ihn von Grund auf ethisch. Deshalb kritisiert Lévinas die nachrangige Rolle der Anderen im Philosophieren Heideggers. Zwar gehört – wie auch Lévinas deutlich sieht – die Struktur des Mitseins für Heidegger zur Wesenskonstitution des Daseins, so dass die Beziehung zwischen dem Dasein und den Anderen in einen ontologischen Rahmen gestellt ist. Diese Struktur »spielt […] aber keinerlei Rolle, weder im Drama des Seins noch in der existenzialen Analytik«. 73 Diese Unterordnung der Andersheit unter das Sein offenbart aber nicht bloß einen Mangel des heideggerschen Denkens, sondern gehört vielmehr zu einer langen philosophischen Tradition, die unter dem Vorrang der Ontologie steht. 74 Das Andere als Anderes nicht anzuerkennen, sondern auf das Selbe zu reduzieren, sei seit Sokrates’ Zeit bis in die Gegenwart die gemeinsame Tendenz der abendländischen Philosophie. Gegen das »anonyme Es-gibt des Seins« 75 erhebt sich Lévinas’ Nachdenken über die Andersheit, und zwar als eine Suche nach einem Ausweg aus den imperialistischen und totalitären Ansprüchen der Ontologie. In einer Philosophie, die sich dem ontologischen Modell unterordnet, hat die ethische Beziehung lediglich eine untergeordnete Stellung als Form der Praxis. 76 Aus dem Vorrang des Ontologischen ergibt sich für Lévinas die ethische Neutralität des Seins. Da die Ontologie ihre Stelle als »erste Philosophie« behält, versteht Lévinas diese Philosophie als eine »Philosophie der Macht« 77 , ja sogar »der Ungerechtigkeit«. 78 Die traditionelle Philosophie stelle so die Freiheit höher als die Gerechtigkeit. Heideggers gesamte Philosophie folgt, so Lévinas, diesem ungerechten Weg. 79 Gerade darin, dass Heidegger das Verhältnis zum Sein höher als die Beziehung zum Seienden stelle, zeige sich der Primat der Freiheit vor dem Ethischen in seinem Denken: »Das Sein vor dem Seienden, die Ontologie vor der Metaphysik – das Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 3 2003, 18. Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 51: »Die abendländische Philosophie war meistens eine Ontologie: Indem sie einen mittleren und neutralen Terminus, der das Seinsverständnis gewährleistet, einschiebt, reduziert sie das Andere auf das Selbe«. 75 Lévinas, Die Zeit und der Andere, 12. 76 Vgl. Peperzak, Einige Thesen zur Heidegger-Kritik von Emmanuel Lévinas, 374. 77 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 55. 78 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 56. 79 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 54. 73 74
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ist die Freiheit […] vor der Gerechtigkeit.« 80 Wenn die Philosophie wesentlich als Ethik zu deuten ist und die Beziehung zu den Anderen erst das Ethische eröffnet, dann muss die Philosophie in entsprechender Weise ihren Ausgang von dem eigentümlichen Verhältnis zwischen dem Selben und dem Anderen nehmen. Darum geht es Lévinas. Lévinas versucht die Transzendenz anders zu bestimmen als alle anderen Philosophen vor ihm. Sie soll derart entwickelt werden, dass sie nicht zum Ausgangspunkt zurückkehren muss. »Das Transzendieren des Raumes könnte nur dann als wirklich sichergestellt werden, wenn es auf ein Transzendieren ohne Rückkehr zum Ausgangspunkt gegründet wäre.« 81 In dieser leitenden Suche nimmt sein Nachdenken über Fremdheit ihren Ausgang. Sofern der Andere unendlich transzendent und unendlich fremd ist, zeigt er sich für Lévinas als die Schlüsselfigur, die erst eine befreiende Tür aus dem Gefängnis des Selbst öffnet. 82 Diesen Weg aus dem Solipsismus heraus hat Heidegger, so Lévinas, nicht gefunden. Gewiss wurde das Dasein bei Heidegger bereits als eine Beziehung gedacht, insofern das Dasein In-der-Welt-sein ist. Das Dasein ist in einem sowohl ein Offensein für die Welt als auch ein Draußensein in der Welt. Dennoch dominieren in der Philosophie Heideggers das Selbst und dessen Transzendenz in der Welt, aus der die zwischenmenschlichen Beziehungen erst abgeleitet werden. Darüber hinaus beurteilt Lévinas Heideggers Überlegungen zum Miteinandersein als ein identitätsbezogenes Denken, das nicht nur die Fremdheit des Anderen unberücksichtigt lässt, sondern damit auch die eigentliche Möglichkeit der Transzendenz verschließt. Eine Transzendenz, die wie im Fall des Daseins ohnehin zum Ausgangspunkt zurückkehrt, ist für Lévinas keine eigentliche Transzendenz. In ihr herrscht noch eine Identitätsbezogenheit, in der sich ein zugrunde liegender Solipsismus zeigt. Gegen den Solipsismus des Ichs und die Anonymität des Seins wendet sich das philosophische Projekt von Lévinas. Dabei ist das Verständnis des Begriffes »Selbst« entscheidend. Lévinas strebt nach einem Ausweg aus der »Einsamkeit des Existierens«, das heißt aus der inhärenten Intransivität des Ichs. 83 Die Ein80 81 82 83
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Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 57. Lévinas, Die Zeit und der Andere, 39. Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 277–283. Lévinas, Die Zeit und der Andere, 20.
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samkeit, diese »unauflösliche Einheit zwischen dem Seienden und seinem Sein« 84 , stellt immer eine Identität dar, die zugleich eine Rückkehr zu sich selbst ist. Deshalb besteht die solipsistische Gefahr des »Ansich-gekettet-Seins«: 85 Die Existenz ist in sich einsam, denn sie ist »das Allerprivateste«, das heißt »das einzige, das ich nicht mitteilen kann«. 86 Dennoch zeigt der Mensch, weil er nicht nur ein Ich, sondern auch ein zeitliches und sprechendes Seiendes ist, zeit seines Lebens ständig ein Verhältnis zum Anderen. In seinem frühen Werk Die Zeit und der Andere geht Lévinas davon aus, dass die Zeit als Zukunft die Möglichkeit des Bezugs zum Anderen darstellt. Die eigentliche Erfahrung der Zeit wird durch das paradigmatische Phänomen des Todes zum Ausdruck gebracht. 87 Der Tod als ein immer zukünftiges und unvorhersehbares Phänomen ist so wie die Anderen ein absolut Fremdes, ein »Geheimnis«. 88 Der Kern von Lévinas’ Überlegungen liegt in der Überzeugung, dass die Transzendenz des Menschseins, der Zugang zu Dingen und Menschen, nur dann erfahren werden kann, wenn man sich zuerst an das Fremde hält. Daher zeigt sich die Erfahrung des absolut Anderen als ein Ausgang aus der Einsamkeit. Ist der Andere der absolut Fremde, dann bleibt er für das Ich immer fern. Das meint auch Heidegger: »Das Dasein der anderen bin ich nie, obzwar ich mit ihnen sein kann.« 89 Lévinas wie Heidegger kritisieren das Verständnis des Anderen aus der Analogie zum Eigenen. Der Andere ist laut Lévinas aber für das Selbst immer rätselhaft, und dieser geheimvolle Charakter kann niemals überwunden werden. Das zwischenmenschliche Verhältnis ist weder eine »idyllische« Beziehung noch bloße »Sympathie«, sondern es »ist ein Verhältnis zu einem Geheimnis«. 90 Die intersubjektive Beziehung ist also durch eine radikale Asymmetrie gekennzeichnet, die in der Begegnung mit dem Anderen immer wieder zum Vorschein kommt. 91 Diese Asymmetrie der soziaLévinas, Die Zeit und der Andere, 29. Lévinas, Die Zeit und der Andere, 40: »Das Verhältnis der Identifikation ist die Überladung des Ich durch das Sich, die Sorge, die sich das Ich um sich macht, oder die Materialität.« 86 Lévinas, Ethik und Unendliches, 43. 87 Vgl. Lévinas, Die Zeit und der Andere, 47. 88 Lévinas, Die Zeit und der Andere, 43. 89 Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 47. 90 Lévinas, Die Zeit und der Andere, 48. 91 Vgl. Lévinas, Die Zeit und der Andere, 55: »Doch inmitten des Verhältnisses zum 84 85
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len Beziehung ist nur zu verstehen, wenn die Philosophie in ihrer ontologischen Gestalt überwunden wird. Lévinas beschreibt eine konkrete Situation, in der der Ausgang aus der Einsamkeit geschieht: in der Beziehung von Angesicht zu Angesicht (face-à-face), in der sozialen Beziehung. 92 Dabei geschieht eine »Ab-setzung der Souveränität durch das Ich«, eine »selbstlose« Beziehung zum Anderen. 93 Das Verhältnis des Menschen zum Anderen ist also nicht von einem äußeren Bezugspunkt her zu fassen. Für Heidegger dagegen ist der Ausgangspunkt ein anderer: Bei ihm ist es die Welt, die das Dasein und die Anderen zu einem gemeinsamen Wir macht. Die Grundlinie der Kritik von Lévinas zielt darauf, dass die Erfahrung des Anderen durch die Welt vermittelt sei. Heideggers Miteinandersein hat nur Sinn, wenn das Selbst (Dasein) und der Andere zusammen in einer gemeinsamen Welt gedacht werden, und das bedeutet: erst wenn die Welt als die Bedingung der Möglichkeit der Begegnung vorausgesetzt wird. Der Gedanke mag auf den ersten Blick zutreffend erscheinen. Aber Lévinas’ entscheidendes Bedenken ist, dass das Miteinandersein in unserer Präsenz in der Welt nur ein Moment unter anderen darstellt. Diese Interpretation ist angemessen, denn Heidegger selbst behauptet, dass auch »das ›direkte‹ Begegnen der anderen […] sich umweltlich« 94 vollzieht. Der Mitmensch gehört deshalb »zum In-derWelt-sein, zum Weltverstehen«. 95 Gerade wenn man »wir« sagt, ist an eine Art von Kollektivität zu denken, die um einen externen Punkt herum gebildet wird. 96 Heideggers Mitsein erweist sich für Lévinas als anderen, das unser soziales Leben charakterisiert, erscheint schon die Anderheit als eine nicht reziproke Beziehung, das heißt als der Gleichzeitigkeit zuwiderlaufend.« 92 Vgl. Lévinas, Die Zeit und der Andere, 50: »Diese Situation, in der das Ereignis einem Subjekt widerfährt, das es nicht übernimmt, einem Subjekt, das hinsichtlich dieses Ereignisses nichts können kann, in der es jedoch gleichwohl auf eine bestimmte Weise diesem Ereignis gegenübersteht, diese Situation ist das Verhältnis zu dem anderen, das Von-Angesicht-zu-Angesicht mit dem anderen, die Begegnung mit dem Antlitz, das zugleich den anderen gibt und entzieht. Das ›übernommene‹ andere – das ist der andere.« 93 Lévinas, Ethik und Unendliches, 39. 94 Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 25. 95 Lévinas, Intention, Ereignis und der Andere, 135. 96 Vgl. Lévinas, Die Zeit und der Andere, 64: »Es ist diese Kollektivität, die ›wir‹ sagt, die, der Sonne des Erkennbaren, der Wahrheit, zugewandt, den anderen nur neben sich und nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber wahrnimmt.«
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eine solche Kollektivität: »Auch das Miteinandersein bleibt die Kollektivität des Mit und es enthüllt sich in seiner authentischen Form um den Mittelpunkt der Wahrheit herum. Es ist Kollektivität um etwas Gemeinsames herum.« 97 Die Auffassung, dass die soziale Beziehung ein »Wir« gestalten kann, verfehlt für Lévinas die eigentliche Weise der Sozialität, da der Andere niemals eine Mehrzahl mit mir bilden kann. 98 Weder die Welt noch die Wahrheit ist das, was die eigentliche Begegnung zwischen dem Dasein und den Anderen ausmacht. Und Lévinas geht noch weiter: Selbst wenn das Dasein als Mitsein verstanden wird, und das heißt zugleich als ein intersubjektives Seiendes, gibt es in dieser Intersubjektivität kein Platz für das Ethische. Diese bleibt eine »neutrale Intersubjektivität« 99 , und zwar aufgrund des ontologischen Modells, das Heideggers Denken leitet: »Die Heideggersche Ontologie ordnet die Beziehung zum Anderen der Relation mit dem Neutrum, nämlich dem ›Sein‹, unter, und dadurch fährt sie fort, den Willen zur Macht, dessen Legitimität und gutes Gewissen allein der Andere erschüttern und stören kann, zu verherrlichen.« 100 Das Ethische ereignet sich für Lévinas also nicht aus der Welt heraus, sondern nur in der Beziehung des Von-Angesicht-zu-Angesicht, die das Unmittelbare schlechthin ist. Dass Lévinas die Unmittelbarkeit der sozialen Beziehung hervorheben möchte, gründet in seinem Verständnis des sozialen Verhältnisses als ursprünglicher Asymmetrie. Da jede Vermittlung die Entfernung zwischen den Vermittelten zu minimieren versucht, wird die soziale Beziehung in ihrem ethischen Wesen übersprungen. Die Begegnung des Ichs mit dem Anderen ist für Lévinas einem asymmetrischen Raum vorbehalten. 101 Da Heidegger die Welt des Daseins als Ort des Auftretens des Anderen als Mitdasein bestimmt, impliziert das Mitsein Heideggers eine symmetrische Beziehung zwischen dem Dasein und dem Anderen, die für Lévinas das wahre, asymmetrische Wesen der ethischen Beziehung außer Kraft setzen Lévinas, Die Zeit und der Andere, 64. Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 44: »Das absolut Andere ist der Andere. Er bildet keine Mehrzahl mit mir.« 99 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 91. 100 Lévinas, Die Spur des Anderen, 194. 101 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 144: »Der, der zu mir spricht und der sich mir durch die Worte hindurch anbietet, bewahrt die tiefe Fremdheit, die ihn als Anderen, der über mich urteilt, auszeichnet; unsere Beziehungen sind in keinem Augenblick umkehrbar.« 97 98
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muss. Gerade in der Distanz der interpersonalen Beziehung besteht für ihn die Möglichkeit der ethischen Beziehung überhaupt. Es geht deshalb nicht darum, die Entfernung verschwinden zu lassen, sondern sie zu intensivieren. Der Vorrang des Daseins vor dem Anderen verdeckt die Begegnung mit dem Anderen als einem Anderen, da das Dasein die einzige Hauptrolle spielt. Das Dasein wurde nicht nur seinem Wesen nach als ein »intersubjektives« Seiendes, als Mitsein konzipiert, sondern prinzipiell als Sorge um sich selbst. 102 Selbst wenn das Mitsein eine Grundstruktur des Daseins ist, wird sie nur aus dem Verständnis des Daseins als In-der-Welt-sein möglich. Deshalb bleibt das Dasein für Lévinas in einem Identitäts- und Selbstbezogenheitsdenken verhaftet, das ein Denken an die Fremdheit des Anderen verhindert. Das »Antlitz« (visage) als »Ausdruck« (expression) garantiert für Lévinas diese Fremderfahrung: »Das Antlitz drückt sich aus.« 103 Das Antlitz als Ausdruck ist nicht wie das Sein, ist kein unpersönliches Neutrum. Lévinas beschreibt das Antlitz mit einer entscheidenden Doppeldeutigkeit: Einerseits ist das Antlitz leibliches Antlitz, das aber nicht auf seine körperlichen Komponenten reduziert werden darf. Es kommt nicht darauf an, das Antlitz im Hinblick auf seine Teile zu denken; weder Augen noch Stirn machen das Antlitz aus. »Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken.« 104 Es ist jedoch der leibliche Ausdruck des Anderen, die »schutzlose Darbietung« des Anderen im Antlitz. 105 Andererseits ist das Antlitz wesenhaft mit dem Phänomen der Sprache verbunden. Das Antlitz »spricht« zu mir 106 und »fordert mich dadurch zu einer Beziehung auf, die kein gemeinsames Maß hat mit einem Vermögen, das ausgeübt wird, sei dieses Vermögen nun Genuß oder Erkenntnis«. 107 Das Antlitz sagt mir: »Du wirst keinen Mord begehen.« 108 Die Sprache des Antlitzes bezieht sich aber nicht auf bloße Aussagen, sonVgl. Lévinas, Ethik und Unendliches, 39. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 63. 104 Lévinas, Ethik und Unendliches, 63. 105 Lévinas, Ethik und Unendliches, 63. 106 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 87. Vgl. auch Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 89: »Die Augen, die unverhehlbare Sprache der Augen, brechen durch die Maske hindurch. Das Auge leuchtet nicht, es spricht.« 107 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 283. 108 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 313. 102 103
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dern auf Antworten. Damit versucht Lévinas die Dimension der Verantwortung, die das Selbst gegenüber dem Anderen hat, verständlich zu machen. Das Antlitz des Anderen ruft das Ich und fordert eine Antwort. 109 Die ursprüngliche Sprache ist für ihn eine Bitte, die jedoch zugleich ein Imperativ ist; sie macht mich von vornherein verantwortlich gegenüber dem Nächsten. 110 Sprache und Rede versteht Lévinas also von Anfang an ethisch. 111 Die Sprache ist die »metaphysische Beziehung«,112 die Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen. Das Antlitz als Ausdruck sagt das erste Wort – »Du wirst keinen Mord begehen« –, und dieses Wort ist der Ruf des Anderen zur Verantwortung. In diesem Sinne ist auch die Gleichgültigkeit oder das Verweigern des Anrufs des Anderen bereits eine Antwort: 113 »Die Verantwortung kann nicht abgewiesen werden. Das Antlitz öffnet die ursprüngliche Rede, deren erstes Wort Verpflichtung ist; keinerlei ›Innerlichkeit‹ gestattet, den Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen.« 114 Das Sprechen des Antlitzes kann mich nicht unbetroffen lassen. 115 Das Antlitz stört mich, verbietet mir, es zu töten. Man ist zwar de facto in der Lage, den Anderen, der vor mir steht, zu töten; gerade sein »schutzloses Antlitz«, das vor mir steht, ist aber dasjenige, das mir zu töten verbietet. Für Lévinas ist der Andere dem Selbst zweifach verbunden: Einerseits ist er »Waise« und »Witwe«, das heißt der, der mich zu Hilfe ruft; und gleichzeitig ist der Andere ein »Meister«, der von mir die Wandlung meiner Freiheit zur Verantwortung und Gerechtigkeit fordert. 116 Das Widerstehen des Antlitzes gegenüber mir, das ein ethisches WiderVgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 92–93. Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 9–10 (in: Vorwort zur deutschen Übersetzung). 111 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 313: »Das Wesen der Rede ist ethisch.« Vgl. auch Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 252: »Das ethische Geschehen, das an der Basis der Verallgemeinerung ist, ist die tiefe Absicht der Sprache.« 112 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 43. 113 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 105: »Den Blick des Fremden, der Witwe und des Waisen, ich kann ihn nur anerkennen, indem ich gebe oder verweigere; ich bin frei zu geben oder zu verweigern, aber der Weg führt notwendig durch die Vermittlung der Dinge.« 114 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 289. 115 Vgl. Lévinas, Ethik und Unendliches, 72: »Positiv können wir sagen, dass von dem Moment an, in dem der Andere mich anblickt, ich für ihn verantwortlich bin, ohne dass ich diese Verantwortung für ihn überhaupt übernehmen müsste; seine Verantwortung obliegt mir.« 116 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 366. 109 110
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Heideggers Verständnis des Mitseins und Lévinas’ Kritik daran
stehen ist, zeigt, so Lévinas, die Unendlichkeit des Anderen. »In dem ethischen Widerstand präsentiert sich das Unendliche als Antlitz; der ethische Widerstand lähmt meine Vermögen und erhebt sich in seiner Nacktheit und seiner Not hart und absolut vom Grunde der wehrlosen Augen.« 117 Der Befehl des Antlitzes verkörpert somit die Überwindung des conatus essendi, des natürlichen Streits um das Überleben. Lévinas will zeigen, »dass das berühmte conatus essendi nicht die Quelle allen Rechts und allen Sinns ist«. 118 Als ursprünglicher denn dieser Streit zeigt sich die Verpflichtung des Ichs gegenüber dem Anderen. Lévinas’ philosophisches Projekt will die Auffassung des Menschen als ein Seiendes, das zur Selbstbehauptung und Selbstbestimmung berufen ist, als Manifestation von Totalität und Gewalt gegenüber dem Anderen aufweisen. Deshalb geht es ihm darum, die Gerechtigkeit vor die Freiheit zu setzen, denn die Freiheit als die Identifikation des Selben, als die stolze Autarkie des Ichs ist zugleich die Bestätigung des intransitiven Wesens des Ichs. Durch das Empfangen des Anderen wird die Freiheit des Selbst in Frage gestellt, und damit kann diese sich erst von der Willkür absetzen und sich sogar rechtfertigen. 119 »Indem der Andere die Freiheit zur Verantwortung ruft, setzt er sie ein und rechtfertigt sie.« 120 Lévinas geht davon aus, dass das Ich »immer Mehr an Verantwortlichkeit als alle anderen« hat. 121 In diesem »Mehr an Verantwortlichkeit« liegt die ethische Pointe von Lévinas’ Philosophie: Ich bin zuerst für den Anderen verantwortlich. Die Begegnung mit dem Anderen ist deswegen ein »Trauma«, 122 das heißt ein Ereignis, das mich – ob ich es will oder nicht – direkt betrifft und das in jedem Fall ethische Konsequenzen mit sich bringt.
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 286. Lévinas, Ethik und Unendliches, 93. Vgl. auch Lévinas, Intention, Ereignis und der Andere, 136: »Das Sein hat immer zu sein, das Sein ist conatus essendi – im Leben ist sofort Krieg.« 119 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 115–116. 120 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 282. 121 Lévinas, Ethik und Unendliches, 74. 122 Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 274. 117 118
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Kritischer Kommentar
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Kritischer Kommentar: Die vorspringend-befreiende Fürsorge als Liebe und die Offenheit für das Andere
Lévinas’ Kritik an Heideggers Philosophie steht im Zusammenhang seiner allgemeinen Kritik an der abendländischen Philosophie. Da Heideggers Denken die Seinsfrage und nicht die Andersheit des anderen Menschen zum zentralen Thema hat, zeigt sich dieses als Ausdruck des Primats des Selbst vor dem Anderen. Dieser Vorrang des Selbst zeigt sich, so Lévinas, zum einen darin, dass Heidegger die Welt als den allgemeinen, unspezifischen Ort versteht, an dem die Begegnung mit dem Anderen vermittelt wird, und zum anderen darin, dass bei ihm vom menschlichen Dasein eine Überantwortung an das Sein und nicht an den anderen Menschen gefordert wird. Dass bei Heidegger die Welt als Ort menschlicher Begegnung verstanden wird, ist nicht zu bestreiten. Heidegger betont immer wieder, dass das Dasein dem Anderen nur weltlich begegnet. Inwiefern aber die Welt als Bedingung der Möglichkeit interpersonaler Begegnung bezeichnet werden kann, ist gesondert zu bedenken. Lévinas kritisiert die Hervorhebung der Welt bei Heidegger in der Annahme, dass die wahre intersubjektive Beziehung nur eine solche sein kann, in der die ursprüngliche Asymmetrie zwischen dem Selbst und dem Anderen – die Lévinas voraussetzt – bewahrt wird. Ob diese Asymmetrie jedoch tatsächlich dem Wesen des Miteinanderseins der Menschen entspricht, muss jeder für sich entscheiden. Dass aber Heideggers Verständnis der Welt als Ort der Begegnung nicht zwangsläufig in der Weise zu kritisieren ist, wie Lévinas das versucht, gilt es zu erörtern. In Heideggers Postion bleibt fraglich, ob die Fremdheit anderer Menschen tatsächlich von derselben Art ist wie die Fremdheit der Dinge. Wie bereits gezeigt, verweisen die zuhandenen Dinge aufeinander, und so werden die Dinge ursprünglich entdeckt, nämlich in der Ganzheit der Welt, die auf einen möglichen Träger verweist, der gerade als der andere Mensch erfasst wird. Dinge und Menschen sind in der Welt aber derart verflochten, dass der Mensch als Mitdasein gerade nicht als ein Ding, sondern als Träger oder Hersteller von etwas in einem Handlungszusammenhang erscheint und damit anders als jedes Ding. Dass Menschen und Dinge also nur weltlich zur Erscheinung kommen, bedeutet in Sein und Zeit, dass sie nur im Rahmen eines Handlungszusammenhangs erscheinen. Wenn darüber hinaus das Dasein wach bei der Welt verweilt, das heißt wach gegenüber der Fremdheit der A
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Heideggers Verständnis des Mitseins und Lévinas’ Kritik daran
Welt, können Dinge und Menschen als das, was sie sind, erscheinen. Aus dem Sichaufhalten bei der Fremdheit, die sich im Modus der Eigentlichkeit vollzieht, kommt das innerweltliche Seiende zum Vorschein. Damit ist aber gesagt, dass zur zwischenmenschlichen Begegnung keine besondere Auszeichnung gehört: Diese geschieht genauso wie die Entdeckung des innerweltlichen, nicht daseinsmäßigen Seienden. Wenn in Heideggers Denken kein moralischer Ansatz zu finden ist, wenn die Begegnung mit dem Anderen kein »Trauma« ist, das mich zur Hilfe und zur Verantwortung ruft, neigt man leicht dazu, zu vermuten, dass die Frage nach der Möglichkeit einer ethischen Verbundenheit des Daseins mit den Anderen bei ihm nicht gestellt wird. Doch dies wäre ein Irrtum, denn zu Heideggers Denken des Mitseins gehört wesentlich ein ethisches Moment. Heidegger macht in Sein und Zeit deutlich, dass »aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit […] das eigentliche Miteinander [allererst entspringt]«. 123 Das eigentlich existierende Dasein ist nicht nur frei für sich und seine Welt, sondern damit auch frei für die Anderen. Die Entschlossenheit bringt »das Selbst gerade in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen«. 124 Das ergriffene Dasein erkennt sich selbst als ein Seiendes, das gleichursprünglich beim innerweltlichen Seienden und mit dem anderen daseinsmäßigen Seienden verweilt. »Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ›sein‹ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen.« 125 Durch die vorspringend-befreiende Fürsorge als eigentliche Weise der Fürsorge erschließt das Dasein den Anderen so, dass dieser frei gelassen wird, das zu sein, was er als der Andere ist. Durch die einspringend-beherrschende Fürsorge kann das Dasein das Freisein der Anderen zwar nicht für diese bewirken, doch sie vermag die anderen Menschen zu verstehen als das, was sie sind, nämlich als Mitdasein und nicht als vorhandenes oder zuhandenes Seiendes. Diesem Freilassen des Anderen zu sich selbst wohnt ein ethisches Moment inne. Denn es geht hier nicht um eine Beherrschung des Ande123 124 125
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ren, sondern um ein eigentümliches Lassen des Anderen, ein Lassen, das als höchster Ausdruck der Freiheit für den Anderen bezeichnet werden kann. Die Fürsorge für den anderen Menschen ist zu Recht als eine Form der Liebe zu interpretieren, der eine Gelassenheit gegenüber dem Anderen zugrunde liegt. 126 Heideggers Auffassung der Liebe, die ganz deutlich im Bezug zu einem Seinlassen des Anderen steht, dokumentieren nicht nur einige seiner Briefe an Hannah Arendt und an Elisabeth Blochmann, sondern auch weitere philosophische Texte. In den erwähnten Briefen ist die Rede von der Liebe im Sinne der augustinischen Definition »Amo: volo, ut sis«. Diese heißt für ihn: »ich liebe Dich – ich will, daß Du seiest, was Du bist«. 127 Mit dieser Definition erkennt Augustinus die Liebe »als innerste Freiheit des Einen zum Anderen«. 128 Obwohl sich Arendt und nicht Heidegger ausführlich mit diesem Verständnis der Liebe beschäftigt, 129 lässt sich auch in Heideggers Denken eine solche Auffassung der Liebe erkennen. Heidegger schreibt, dass nur die Liebe »einzig das ›Du‹ wirklich zu nehmen [vermag]«. 130 Wenn man liebt, schafft man sich weder ein »Ideal« vom Anderen, noch wird man versucht sein, den Anderen »darauf hin zu erziehen oder dergleichen«, sondern es geht lediglich darum, den Anderen als Du, ganz wie dieser ist, sein zu lassen. 131 Lässt sich die Liebe als die Freiheit für den Anderen interpretieren, dann stellt die Liebe den Gegenbegriff zum Willen dar. Und gerade der Wille ist »vielleicht«, wie Heidegger sagt, »das Böse«. 132 Die Liebe ist aber eine eigentümliche Nähe, der zugleich eine be126 Vgl. Wolfgang Schirmacher, Technik und Gelassenheit. Zeitkritik nach Heidegger, Freiburg i. Br./München 1983, 200. 127 Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 13. 05. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 31. 128 Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 11. 01. 1928, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 23. 129 Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 2003. 130 Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 22. 06. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 36. Vgl. auch Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 21. 02. 1925, in: Arendt/ Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 13: »Liebe wandelt die Dankbarkeit in die Treue zu uns selbst und in den unbedingten Glauben an den Anderen.« 131 Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 22. 06. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 36. 132 Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 208. Vgl. auch Heidegger, Gedachtes, GA 81, 267.
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stimmte Ferne zum Anderen immanent ist. Der Liebende vermischt sich nicht mit dem Geliebten. »Die Nähe ist hier das Sein in der größten Ferne zum anderen – die Ferne, die nichts verschwimmen läßt – sondern das ›Du‹ in das durchsichtige – aber unbegreifliche – Nur-Da einer Offenbarung stellt.« 133 Der Andere in seiner Du-Erscheinung lässt etwas von sich selbst offenbar werden, das aber niemals eine vollständige Erscheinung seines eigenen Selbst ist. Der Andere als Du ist immer mehr als das, was ich von ihm wahrnehme. Das Seinlassen des Anderen ist keine leichte Aufgabe. Die Liebe ist für Heidegger diejenige »süße Last«, die es uns ermöglicht, uns in das, »was wir lieben«, zu wandeln »und doch wir selbst [zu] bleiben«. 134 Und er sagt auch: »Für alles sonst gibt es Wege, Hilfe, Grenzen und Verstehen – hier nur bedeutet alles: in der Liebe sein = in die eigenste Existenz gedrängt sein.« 135 Die Möglichkeit der zwischenmenschlichen Beziehung kann für Heidegger nur aus dem Grund des Daseins, aus dessen Selbstheit entspringen. »Liebe wandelt die Dankbarkeit in die Treue zu uns selbst und in den unbedingten Glauben an den Anderen.« 136 Durch das Sicheinlassen auf den Anderen kann es die Möglichkeit des Wir geben. 137 Dieses Freilassen des Anderen, das durch die Liebe geschieht, ist aber keine Permissivität, sondern die Gelassenheit für die eigene Wesensentfaltung der Anderen. »Und daß die Liebe ist, das ist das beglückende Vermächtnis an das Dasein, daß es sein kann.« 138 Mit diesem Verständnis der Liebe bietet Heidegger eine von Lévinas’ Ansatz zwar verschiedene, aber berechtigte Alternative zu dessen Konzeption des ethischen Verhältnisses. Heideggers Philosophie der Freiheit erweist sich keineswegs als eine »totalitäre« Philosophie, wie Lévi133 Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 21. 02. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 13. 134 Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 21. 02. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 12–13. 135 Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 13. 05. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 31. 136 Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 21. 02. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 13. 137 Vgl. Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 08. 05. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 29: »Und doch möchte eines dem anderen ›sagen‹ und sich eröffnen; aber wir könnten nur sagen, daß die Welt nicht mehr meine und Deine – sondern unsere geworden ist – daß, was wir tun und leisten, nicht Dir und mir sondern uns gehört.« 138 Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 22. 06. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 37.
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nas Heidegger vorwirft, denn Heideggers Denken zielt am Ende auf nichts anderes als die Freilassung dessen, was ist. Dass die in diesen Briefen vertretene Aufassung der Liebe als Seinlassen keineswegs als bloße Kasualprosa verstanden werden darf, zeigt sich zum Beispiel darin, dass Heidegger dabei einen Liebesbegriff vertritt, der in seiner Ansprache zum 80. Geburstag Ludwig von Fickers (1960) noch einmal wiederholt: »Wohl die tiefste Deutung dessen, was Liebe ist, steht bei Augustinus in dem Wort, das lautet: ›amo volo ut sis‹, ich liebe, das heißt, ich will, daß das Geliebte sei, was es ist. Liebe ist das Seinlassen in dem tieferen Sinn, demgemäß es das Wesen hervorruft.« 139 Das pindarische »Werde, was du bist«, das auf Heideggers Denkweg immer wieder auftaucht, ist ein Imperativ, der sich nicht nur auf das Selbst des Daseins und seine Existenz bezieht, sondern auch auf die Anderen, insofern Dasein immer schon Mitsein ist. Daher reflektiert das an das Selbst des Daseins adressierte »Sei, was du bist« zugleich ein »Verhalte dich, wie die Welt ist!«, wie Wolfgang Schirmacher sagt, und das heißt schlussendlich: »Sei Welt!«. 140 Dieses »Sei Welt« bedeutet hier natürlich nicht, dass das Dasein sich aus der Öffentlichkeit der Welt heraus verstehen soll, sondern vielmehr aus seinem echten und jeweiligen Verhalten zur Welt, in dem die Begegnung mit dem anderen Menschen und die Entdeckung des vor- und zuhandenen Seienden geschieht. Darüber hinaus ist das »Werde, was du bist« nichts anderes als die Aufforderung zur Offenheit für das freie Erscheinen von Menschen und Dingen gleichermaßen. Dieser Anspruch auf Offenheit gipfelt in Heideggers Spätwerk im Denken der Gelassenheit. Und deshalb überrascht es nicht, dass dort von der Liebe die Rede ist: »Das Innehalten der exzentrischen Mitte des menschlichen Seins, der selbst ›zentrische‹ und ›zentrale‹ Aufenthalt im Exzentrischen hat seine Vorstufe in der Liebe.« 141 Obwohl das Selbst des Menschen im Zentrum steht, ist seine Existenz selbst exzentrisch zu erfassen. Daher ist der Aufenthalt des Menschen so, dass das Dasein das Andere und Fremde nie zugunsten eines Selbstverhältnisses übergeht, sondern dass es stets als solches ausgewiesen bleibt. Der gelassene Aufenthalt des sterblichen Menschen hat »seine Vorstufe in der Liebe«, denn nur die Liebe ist ein Seinlassen, die Treue zur Freiheit des 139 140 141
Heidegger, Ansprache zum 80. Geburstag Ludwig von Fickers, GA 16, 563. Schirmacher, Technik und Gelassenheit, 75. Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 32–33. A
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Anderen. Die Philosophie ist für Heidegger die »Liebe zu … als Heimweh nach … in der Nichtigkeit, in der Endlichkeit sich halten muß« 142 , und deshalb gehört zur Philosophie die notwendige Offenheit für das Andere, das hic et nunc noch nicht anwesend ist. Wenn die Philosophie »seynsgeschichtlich« erfahren ist, ist sie »die Liebe des Wissens«, das heißt eine Liebe, die »die Wahr-heit des Seins [liebt]«. 143 Eine solche Liebe ist »nicht mehr metaphysisch«; weder »Eros« noch »amor intellectualis Dei« bringen das Wesen der Liebe eigentlich zur Sprache, denn die eigentliche Liebe »ist nicht mehr Wollen«, sondern Gelassenheit: »Die Liebe ist die Gelassenheit des Gehörens in den Beginn der Armut, die dem Seyn das Eigentum bereitet.« 144 Dass die Philosophie liebt, heißt, dass sie denkt, weil für Heidegger »das Wissen als die Liebe […] als Denken [liebt]«. 145 »Die Liebe des Wissens«, die die Philosophie bedeutet, »ist die Gelassenheit des Andenkens«. 146 Im Humanismusbrief ist ebenfalls von diesem Verhältnis zwischen Liebe und Denken die Rede. »Das Denken ist – dies sagt: das Sein hat sich je geschicklich seines Wesens angenommen. Sich einer ›Sache‹ oder einer ›Person‹ in ihrem Wesen annehmen, das heißt: sie lieben: sie mögen.« 147 Da das eigentliche Denken wesenhaft gelassen ist, vermag nur es Dinge und Menschen in ihrem Wesen zu empfangen, denn das eigentliche Denken will nicht herrschen oder bestimmen. Ist das Denken ein echtes, dann ist es Liebe. An einer anderen Stelle sagt Heidegger, dass die Liebe »nicht Folge« des Denkens ist, »sondern Denken [ist] in sich ein Lieben«. 148 Das Denken als Liebe bezeichnet er als ein »Mögen«, und das heißt: »das Wesen schenken«. 149 Mit dem Wort »Schenken« meint Heidegger natürlich nicht, dass der Mensch das Wesen des Anderen (Ding oder Mensch) herstellt, sondern nur, dass er das Wesen des Anderen frei für sich lässt. Das »Mögen« ermöglicht das Seinlassen des Wesens. »Das Vermögen des Mögens ist es, ›kraft‹ dessen etwas eigentlich zu sein vermag. Dieses Vermögen
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Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 28. Heidegger, Die Dichtung. Filosoyffla-Pofflhsi@. Heidegger Studies 19, 21. Heidegger, Die Dichtung. Filosoyffla-Pofflhsi@, Heidegger Studies 19, 21. Heidegger, Die Dichtung. Filosoyffla-Pofflhsi@, Heidegger Studies 19, 21. Heidegger, Das Gespräch, Heidegger Studies 19, 26. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 316. Heidegger, Griechenlandreisen, GA 75, 363. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 316.
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ist das eigentlich ›Mögliche‹.« 150 Das Denken ist Lieben, weil Heidegger die Liebe als »die Wesensliebe« versteht. 151 Von hier aus wird also verständlich, dass für Heidegger Denken, Danken, Glaube und Liebe« nicht das Gleiche, sondern »das Selbe« sind. 152 Sie alle sind nur aus der Gelassenheit für das Wesen der Dinge und Menschen möglich. Das Sicheinlassen auf den Anderen ist eine Aufforderung der Wahrheit des Seins, der es zu entsprechen gilt. Wie Heidegger in Besinnung sagt, bedeutet das Wort »Liebe« in der griechischen Auffassung der Philosophie »Liebe zur Weisheit«, »den Willen, daß das Geliebte sei, indem es zu seinem Wesen finde und in ihm wese. Solcher Wille wünscht und fordert nicht.« 153 Das Wort »Weisheit« bezeichnet für Heidegger das »Liebens-würdige«, und damit ist die Weisheit »das wesentliche Wissen, die Inständigkeit in der Wahrheit des Seyns. Jene ›Liebe‹ liebt daher in einer einzigen Vor-liebe das Seyn; dies, daß das Seyn ›sei‹, ist ihr Geliebtes; ihm, das ist, seiner Wahrheit und deren Gründung, gilt der Wille zum wesentlichen Wissen.« 154 Deshalb ist die Liebe auch »jener Wille, daß das Gewollte sei, wie es ist«. 155 Dieses Wollen, das eigentlich ein Nichtwollen bedeutet, »ist das Wesen der Liebe«. 156 Der Andere steht für Lévinas immer schon vor dem Selbst, vor mir, ohne Unterschied, ob ich dies ausdrücklich weiß oder nicht. Daher definiert sich das Ich nicht, wie man es in Sein und Zeit deuten könnte, als wache Übernahme der Existenz, als das eigenste Seinkönnen, und auch nicht, wie Heidegger in seiner Spätphilosophie sagt, aus der Übernahme der Überantwortung an das Sein, die die Verantwortung des Menschen fordert, sondern allein aus der Anerkennung der Verpflichtung, die der Andere für das Ich ist. 157 Während es in Lévinas’ Verständnis der Antwort um die Übernahme der Verantwortung des Ichs Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 316. Heidegger, Griechenlandreisen, GA 75, 363. 152 Heidegger, Griechenlandreisen, GA 75, 363. 153 Heidegger, Besinnung, GA 66, 63. 154 Heidegger, Besinnung, GA 66, 63. 155 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 97. 156 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 97. 157 Vgl. Peperzak, Einige Thesen zur Heidegger-Kritik von Emmanuel Lévinas, 382: »Die Verpflichtung, die das Hervortreten des Anderen mir bedeutet, die Verantwortung für den Anderen, die seine Existenz mir zur Gewissheit macht, offenbart mir die Wahrheit dessen, was ich im Grunde bin, die Wahrheit der Welt, von der ich lebe. Dass die Existenz des Anderen mich zur Verantwortung für ihn verpflichtet (erste Wahrheit des 150 151
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für die anderen Menschen geht, kommt es Heidegger auf die Antwort auf das Sein an, dem der Mensch überantwortet ist. Das der ursprünglichen Ethik zugehörende Ethos, also das Ethos, das sich in der Nähe der Wahrheit des Seins entfaltet – und das heißt: in der Entsprechung zum Sein –, wird von Heidegger tatsächlich ontologisch gedacht. Es ist deshalb ein philosophisches Ethos. Das philosophische Ethos ist gerade dasjenige Ethos, in dem sich der Mensch in der »Inständigkeit in der Wahrheit des Seyns« hält. 158 Weil Heidegger weder Freiheit noch Wahrheit preisgeben will, sondern es ihm um ein philosophisches Ethos geht, vermeidet seine Philosophie die von Lévinas angestrebte Verwandlung von Freiheit in Gerechtigkeit. Das aber bedeutet nicht, dass Heideggers Philosophie den Anderen missachten oder gar unterdrücken würde. Aus dem Vorrang der Freiheit folgt nicht unbedingt eine totalitäre Philosophie – ganz im Gegenteil. Heidegger selbst stellt jedes totalitäre Denken radikal in Frage. Heidegger kritisiert auch das Totalitäre der metaphysischen Philosophie: »Hat nun aber nicht auch die Philosophie und sie allen voran den Anspruch auf ›das Totale‹, vollends, wenn wir sie bestimmen als das Wissen vom Seienden als solchen im Ganzen?« 159 Und Heideggers Antwort ist klar: »In der Tat, solange wir in der Form des bisherigen Philosophie (der Metaphysik) denken und diese in ihrer christlichen Ausprägung […] nehmen«, und zwar, weil eine solche metaphysische Philosophie »schon auf dem Wege zur ›Weltanschauung‹« ist. 160 Wenn die Philosophie aber anders gedacht wird, wenn sie nicht durch ein vorstellendes und begreifendes Denken geführt wird, sondern »Gründung der Wahrheit des Seyns« ist, dann »enthüllt sich das Abgründige der Philosophie, die in das Anfängliche zurück muß, um die Zerklüftung und das Übersichhinaus, das Befremdliche und stets Ungewöhnliche ins Freie ihrer Besinnung zu bringen«. 161 Das Befremdliche und Ungewöhnliche, das Fremde und Abgründige »ins Freie« zu bringen ist gerade die Aufgabe des Denkens. Gewiss ist bei Heidegger die Hauptfrage der Philosophie die Seinsfrage und nicht wie Bewusstsein, deren Gewissheit dadurch ipso facto Gewissen ist), bedeutet, dass er sich in der Spur des unendlichen Guten befindet.« 158 Heidegger, Besinnung, GA 66, 138. 159 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 41. 160 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 41. 161 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 41.
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in Lévinas’ Denken die Frage nach der Andersheit des anderen Menschen. Doch diese Ausgangspunkte sind in Wirklichkeit nicht so unterschiedlich, wie Lévinas denkt. Es gibt eine Konvergenz zwischen Heideggers und Lévinas’ Denken, da beide Philosophien – jede auf ihre eigene Weise – ein Aufmerksammachen auf das Andere vollziehen. Heidegger geht es nicht allein um die Achtsamkeit auf den anderen Menschen, sondern auf das Andere im Sein selbst. Da das Sein als das »Strittige« schlechthin verstanden wird, 162 trägt gerade das Sein seine Andersheit in sich. Aus der Achtsamkeit auf die im Sein zu findende Andersheit ergibt sich für Heidegger die Möglichkeit einer radikalen Offenheit für Welt, Dinge und Menschen. Diese wird der Welt, den Dingen und Menschen gerecht, indem sie sie sein lässt. Heideggers Philosophie strebt also nach Wahrheit und damit zugleich nach Freiheit, weil beide für ihn nicht zu trennen sind. Im Umgang mit dem Ding und in der liebenden Fürsorge für den Anderen findet das Dasein seine Freiheit. Heideggers Philosophie wird durch den Vorrang des Selbst vor dem Anderen gerade zu diesem zurückgeführt. Das Verhältnis des Daseins zu sich selbst ist ontologisch vorrangig vor jedem anderen, ontischen Verhältnis, da nur durch die Vereinzelung auf sich selbst die Möglichkeit der Selbstheit erreicht werden kann, von der her erst ein wahrhafter Bezug zu Anderen möglich ist. 163 Heideggers Ethosdenken geht von Anfang an auf das Ethos eines Einzelnen, der sich jeweils in der allgemeinen Struktur der Welt befindet. Sein Ethosdenken ist gerade auf der Suche nach der wahren Verbindlichkeit der Welt für den Einzelnen. Es bezieht sich deshalb notwendig auf die Freiheit des menschlichen Daseins als die Ermöglichung seines Aufenthaltes, das heißt seines Sichhaltens in der Wahrheit, das zugleich als das exemplarische Ethos zu verstehen ist. In diesem Ethos übernimmt das Dasein gerade die Forderung nach Offenheit für das Fremde, für das Sicheinlassen auf das, was in der Welt jeweils erscheint. Es ist genau diese Offenheit, die das fürsorgende Dasein beim Anderen einfordert, wenn sie ihn sein lässt. Es ist der Raum für die Andersheit, das Verborgene und Fremde, den Heidegger immer wieder zu öffnen versucht. Mit Heideggers hier dargestelltem Verständnis der Liebe wird die Möglichkeit eines Ausgangs aus der Einsamkeit des Selbst gerade aufgezeigt. 162 163
Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 359. Vgl. McNeill, The Time of Life, 60. A
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Kapitel X: Kann nur noch die Einsamkeit uns retten? Heideggers Kritik an der Öffentlichkeit und die Möglichkeit einer echten Gemeinschaft
In Heideggers Philosophie scheint es um ein entpolitisiertes, einsames Ethos zu gehen, das sich gegenüber den Mitmenschen abgrenzen muss. Heidegger betont immer wieder den Vorrang der Einsamkeit vor dem öffentlichen Leben, insofern für ihn der Weg zur Selbstbefreiung als Selbsterkenntnis der Weg der Einsamkeit ist: »Der Philosoph muß einsam bleiben, weil er es seinem Wesen nach ist. Seine Einsamkeit ist nicht zu bereden. Vereinzelung ist nichts, was zu wollen wäre. Gerade deshalb muß er immer wieder in entscheidenden Augenblicken da sein und nicht weichen.« 1 Es gehört »zum Wesen des Philosophen, daß er einsam ist; es liegt in seiner Art zu sein, in der Weltstellung, die er hat«. 2 Die Einsamkeit steht nur deshalb in einem Zusammenhang mit der Selbstbefreiung des Daseins, weil Heidegger sie als einen Ausdruck der Vereinzelung versteht. Diese Tatsache zeigt sich am deutlichsten, wenn man beachtet, dass der Untertitel seiner Vorlesung vom WS 1929/30 Welt – Endlichkeit – Einsamkeit ursprünglich Welt – Endlichkeit – Vereinzelung lauten sollte. 3 Die Einsamkeit als Vereinzelung des Daseins durch seinen ihm bevorstehenden Tod ist für den jungen Heidegger die paradigmatische Darstellung der Jemeinigkeit des Daseins. Der Tod kann nur einsam gelebt werden, weil »keiner […] dem Anderen sein Sterben abnehmen [kann]«. 4 Die Vereinzelung ist das, was der Philosoph und natürlich auch jeder Andere für sich selbst durchführen soll, um zu sein, was jeder von uns eigentlich ist. In der erwähnten Vorlesung aus dem WS 1929/30 sagt Heidegger, dass die »Endlichkeit«, die »nur in der wahren Verendlichung [ist]«, sich als »eine Vereinze-
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Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, 86. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 183. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 537. Heidegger, Prolegomena, GA 20, 429.
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Heideggers Kritik an der Öffentlichkeit
lung des Menschen auf sein Dasein« vollzieht. 5 Diese Vereinzelung nennt Heidegger diejenige »Vereinsamung, in der jeder Mensch allererst in die Nähe zum Wesentlichen aller Dinge gelangt, zur Welt«. 6 Nur das vereinzelte Dasein steht vor sich selbst. Gegen die Öffentlichkeit hebt Heidegger also die Einsamkeit des Selbst hervor, da nur in der Einsamkeit ein echter Bezug zu sich und zu den Phänomenen stattfinden kann. Heideggers positive Einschätzung der Einsamkeit ist nicht nur in seinen Vorlesungen und philosophischen Schriften zu finden, sondern auch in seinen Briefen. In einem Brief an Elisabeth Blochmann schreibt er, »daß ein Zeitalter der Einsamkeit über die Welt kommen muss, wenn sie noch einmal neuen Atem holen soll zu einem Schaffen, dass den Dingen ihre Wesenskraft zurückgibt«. 7 Damit bringt Heidegger die Einsamkeit in einen Zusammenhang mit dem Zeitalter der modernen Technik: »Das Zeitalter der völligen Fraglosigkeit duldet nichts Fragwürdiges und zerstört jede Einsamkeit.« 8 Die »schöpferischen« Menschen als die Fragenden sind »einsam«. 9 Denn »einsam« bedeutet für Heidegger: »gehörig dem Einen/gelassen dem Seinen/im lassenden Hören des Andenkens«. 10 Dieses fraglose Zeitalter »kann nur überstanden werden durch ein Zeitalter der einfachen Einsamkeit, in der sich die Bereitschaft für die Wahrheit des Seyns selbst vorbereitet«. 11 Diese Vorbereitung ist nötig, denn »die Einzigkeit des Seyns begründet seine Einsamkeit, gemäß der es einzig nur das Nichts um sich wirft, dessen Nachbarschaft die echteste bleibt und die Einsamkeit am treuesHeidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 8. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 8. 7 Dies sagt Heidegger in einem Brief an Elisabeth Blochmann aus dem Jahr 1938: »Wir [treten] in ein Zeitalter […], in dem anders u. härter als sonst alles Wesentliche die Einsamkeit überstehen muss. Zwar droht nun auch schon die ›Einsamkeit‹ der Schaffenden zu einer gängigen Redensart zu werden. Aber vielleicht wird so die Einsamkeit noch einmal geschützt u. noch einsamer, weil unerreichbarer. Einsamkeit steht und besteht ja nicht im Wegbleiben des Zugehörigen, sondern – in der Ankunft einer anderen Wahrheit, im Überfall der Fülle des Nur-Befremdlichen u. Einzigen. Deshalb lässt sich die Einsamkeit auch nicht von außen ›beheben‹, noch will sie und kann sie sich entfliehen« (Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 12. 04. 1938, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 91). 8 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 110. 9 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 110. 10 Heidegger, Gedachtes, GA 81, 245. 11 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 110. 5 6
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ten behütet«. 12 Ein »Zeitalter der Einsamkeit« muss kommen, weil die Einsamkeit »die einzige Ortschaft [bleibt], an der Denkende und Dichtende nach menschlichem Vermögen dem Sein bei-stehen«. 13 Die nachfolgenden Erwägungen sollen die These stützen, dass das Primat der Einsamkeit und damit des Einzelnen vor den Anderen in engem Zusammenhang mit Heideggers Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit steht. Wegen dieses Misstrauens entpolitisiert Heidegger das griechische Ethos. Politik ist aber ihrem Wesen nacheine Angelegenheit des öffentlichen Lebens. In den frühen Freiburger und den Marburger Vorlesungen vollzieht Heidegger eine Ontologisierung mehrerer Begriffe der aristotelischen praktischen Philosophie. 14 Mit dieser Ontologisierung vollzieht sich aber in Heideggers frühem Ethosdenken zugleich eine Entpolitisierung des griechischen Ethos, das heißt eine Neutralisierung der Bedeutung der Polis. Heideggers Entpolitisierung des Ethos stellt sich jedoch nicht als eine Leugnung der sozialen Dimension dar, sondern als eine ständige Abwertung der öffentlichen Mitwelt.
1.
Heideggers Auffassung der Öffentlichkeit
Dass Heidegger die Öffentlichkeit mit der uneigentlichen Existenz in Verbindung bringt und die Vereinzelung als erste Voraussetzung für die Eigentlichkeit der Existenz hervorhebt, steht nicht von ungefähr zusammen. Für Heidegger realisiert sich das alltägliche Leben vornehmlich im Bereich der Öffentlichkeit. Die Alltäglichkeit bezeichnet eine bestimmte Weise der Existenz, »der allerdings die öffentliche Offenbarkeit zugehört«. 15 Weil das »Subjekt« der Alltäglichkeit das Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 471. Vgl. auch Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 471: »Ereignis meint immer Ereignis als Er-eignung, Ent-scheidung, Ent-gegnung, Ent-setzung, Entzug. Einfachheit, Einzigkeit, Einsamkeit.« 13 Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 22. 06. 1949, in: Heidegger/Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, 172. Dazu sei auch angemerkt, dass Heidegger selbst in der Einsamkeit zu leben versucht. Dies wird sowohl durch seine Briefe an seine Frau, als auch an Hannah Arendt belegt. Vgl. Heidegger, Brief an Elfride Heidegger, 03. 01. 1916; 17. 04. 1919; 17. 08. 1931; 11. 08. 1936, in: Heidegger, Mein liebes Seelchen!, 30–31; 94, 170, 192. Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 14. 09. 1925, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 47. 14 Siehe das II. Kapitel dieser Arbeit. 15 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 490. 12
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Heideggers Auffassung der Öffentlichkeit
»Man« ist und das »Man« in der Öffentlichkeit zum Vorschein kommt, sind Alltäglichkeit und Öffentlichkeit wesentlich verknüpft. 16 In der alltäglichen Existenz wird das Dasein von einem Verstehen geführt, das von einer öffentlichen Auslegung der Existenz gesteuert wird, die es nicht hinterfragt. Weil das Dasein Mitsein und seine Welt von Anfang an eine Welt mit anderen Menschen ist, steht es von vornherein im Bereich des »Man«. Diese »Man«-Welt, die wesentlich zur Mitwelt gehört, kritisiert Heidegger aufgrund ihrer Sprache. Die »Man«-Welt ist eine Welt, die in der Weise des An- und Besprechens gestaltet wird. Das Sprechen des »Man« gestaltet eine Welt, die »bestimmte Möglichkeiten, zu sein und zu handeln, prägt«, und damit »ist sie der Bereich der Unfreiheit: Sie ist der Bereich der Bestimmtheit, der uns zwar verschiedene Alternativen läßt, uns an diesem oder jenem bestimmten, bereits realisierten Verhalten zu orientieren, aber doch die Frage, wie wir sein wollen, niemals radikal freisetzt.« 17 Die öffentliche Ausgelegtheit weist auf diejenigen bereits vorhandenen Artikulationsformen des Lebens hin, die das Dasein als allgemeinen Besitz der Mitwelt so oder so bekommt. Wir befinden uns seit unserer Geburt in einer bestimmten Welt, das heißt in einer bestimmten Artikulationsganzheit, aus der die weltlichen Dinge und die anderen Menschen für uns immer schon als bedeutsam erscheinen. Daher entspringt das Verständnis der Gesamtheit der Welt meist aus einer bereits vorhandenen und öffentlichen Interpretation, die sozusagen auf uns zukommt und nicht erst aus dem eigenen Erfahren und Umgehen mit dem Verstandenen entsteht. Das entscheidende Problem, das Heidegger in der Öffentlichkeit sieht, liegt in der scheinbaren Unmittelbarkeit, in der die öffentlichen Ausgelegtheiten im Alltag erscheinen. Weil die erwähnte Ausdrucksund Artikulationsform des Lebens aus einer undifferenzierten Pluralität (Tradition, Kultur, Gesellschaft etc.) stammt, ergibt sich, wie Heidegger denkt, dass sie das öffentliche Leben in einer Art unsichtbarer Herrschaft regelt: »Die Öffentlichkeit regelt Ansprüche und Bedürfnisse, umgrenzt Art und Reichweite der Daseinsauslegung und die Möglichkeiten des Fragens.« 18 Aus der derart regelnden Wirkung der 16 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 170: »Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweise des Man das, was wir als ›die Öffentlichkeit‹ kennen.« 17 Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 68. 18 Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 27. Vgl. auch Heidegger, Der Begriff der Zeit,
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Heideggers Kritik an der Öffentlichkeit
Öffentlichkeit folgt aber zugleich ihr nivellierender Charakter. Die Nivellierung der Existenzmöglichkeiten des Daseins, die in der Öffentlichkeit geschieht, birgt ein gleichsam einfarbiges und uneigentliches Verständnis des menschlichen Seins in sich. Im Hinblick auf die öffentliche Ausgelegtheit ist nun festzuhalten, dass sie bei Heidegger vor allem als »Mitteilung« gedacht wird. Diese Mitteilung weist auf die sich aussprechende Rede hin, 19 das heißt sie ist eine unter anderen Weisen der Rede, wobei die Rede bei Heidegger ein Existenzial ist. 20 Dass wir überhaupt etwas mitteilen können, gründet in der Verfassung des Daseins als Mitsein, worin sich die Gleichursprünglichkeit des Miteinanderseins und des Miteinandersprechendseins zeigt. 21 Auch die Aussage wird in Sein und Zeit als Mitteilung bezeichnet, insofern sie das »Mitsehenlassen des in der Weise des Bestimmens Aufgezeigten« ist. 22 Das Ausgesagte kann aber mit Anderen »geteilt« werden, »ohne daß sie selbst das aufgezeigte und bestimmte Seiende in greif- und sichtbarer Nähe haben«. 23 Das alltägliche Miteinandersein ist so, dass es nicht Mitteilung der Grunderfahrung des Mitgeteilten ist, sondern vor allem bloßes Gerede. Das Gerede ist jedoch nicht aufzeigend. Auch in der Programmschrift aus dem Jahr 1922 macht Heidegger diesen Gedanken deutlich: »Selbst was als eigentlicher Besitz ursprünglich ausgebildet ist, verfällt an Durchschnittlichkeit und Öffentlichkeit, verliert den spezifischen Herkunftssinn aus seiner ursprünglichen Situation und kommt freischwebend in die Üblichkeit des ›man‹.« 24 Die Öffentlichkeit hat ihre Herrschaft im Gerede, weil das Dasein nicht »in der ursprünglich zugeeigneten Welt« ist. 25 GA 64, 34: »Die Öffentlichkeit regelt unsichtbar und hartnäckig die Ansprüche und Bedürfnisse des Miteinander=in=der=Welt=seins.« 19 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 223. 20 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 213. 21 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 215. 22 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 206. 23 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 206. 24 Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 366. 25 Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 36. Vgl. auch Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 223–224: »Die Mitteilung ›teilt‹ nicht den primären Seinsbezug zum beredeten Seienden, sondern das Miteinandersein bewegt sich im Miteinanderreden und Besorgen des Geredeten.« Auch in der Sophistes-Vorlesung spricht Heidegger von der »Herrschaft des Geredes« als dem, was »gerade für das Dasein das Seiende [verschließt] und […] also blind gegen das Aufgedeckte und mögliche Aufdecken [macht]« (Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 197).
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Heideggers Auffassung der Öffentlichkeit
Das Gerede hat »den primären Seinsbezug zum beredeten Seienden verloren bzw. nie gewonnen«, und deshalb »teilt es sich nicht mit in der Weise der ursprünglichen Zueignung dieses Seienden«, sondern wird zum bloßen »Weiterreden«, das heißt zu einem Reden, das »das schon anfängliche Fehlen der Bodenständigkeit zur völligen Bodenlosigkeit steigert«. 26 Die »Bodenlosigkeit des Geredes« realisiert sich in der Öffentlichkeit. 27 Das Gerede, dieses uneigentliche Verstehen, das »ohne vorgängige Zueignung der Sache« 28 geschieht, ist deshalb eigentlich »ein Verschließen« 29 . Jedes öffentliche Sprechen als Gerede ist eine entwurzelte, verschließende Rede. Heidegger übt im Verlauf seines gesamten Denkwegs immer wieder Kritik an der Öffentlichkeit. Bereits als die Aufgabe der Hermeneutik der Faktizität als »das Wachsein des Daseins« etabliert wird, sagt Heidegger deutlich, dass es hier um »ein philosophisches Wachsein« geht, »in dem das Dasein ihm selbst begegnet«, 30 das aber nicht »für ein Publikum« gilt. 31 Das »Wachsein« kann »kein Gegenstand allgemeinen Räsonnements und öffentlicher Diskussion« sein. 32 Diese kritische Meinung gegenüber dem Öffentlichen findet man auch in Heideggers Spätwerk. Paradigmatisch zeigt sich dies in den Beiträgen. Der »öffentliche Titel« (Beiträge zur Philosophie) muss, so Heidegger, »notwendig blass und gewöhnlich und nichtsagend« sein, weil die Philosophie, die im Bereich des Öffentlichen behandelt wird, »nicht anders« angekündigt werden kann, weil sich im öffentlichen Titel »die Vernutzung aller Grundworte und die Zerstörung des echten Bezugs zum Wort« zeigt. 33 Heidegger kritisiert also die Öffentlichkeit aus mehreren Gründen: wegen ihrer entwurzelten Sprache (Gerede), ihres fehlenden Bezugs zum Wesen der Phänomene, ihres nivellierenden Charakters und ihrer unsichtbaren Herrschaft.
26 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 224. Vgl. auch Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 215: »Das Mitsein wird in der Rede ›ausdrücklich‹ geteilt, das heißt es ist schon, nur ungeteilt als nicht ergriffenes und zugeeignetes.« 27 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 224. 28 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 224. 29 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 225. 30 Heidegger, Ontologie, GA 63, 18. 31 Heidegger, Ontologie, GA 63, 19. 32 Heidegger, Ontologie, GA 63, 19. 33 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 3. Vgl. auch Heidegger, Gedachtes, GA 81, 202.
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In seinem Spätwerk verbindet sich Heideggers Kritik der Öffentlichkeit mit seiner Kritik der Technik. Das erlaubt Heidegger, die Öffentlichkeitskritik in den Rahmen der Seinsgeschichte zu stellen. 34 »Funk und Film«, diese »Maschinerien«, sind für Heidegger »BestandStücke des Bestandes, der alles ins Öffentliche bringt und so die Öffentlichkeit unterschiedslos für alles und jedes bestellt«. 35 »Fernschreiber und die Funksprüche«, diese »in ihrem Mechanismus immer raffinierter werdenden Arten des auf- und zurechtgemachten Vorstellens verstellen das, was eigentlich ist«. 36 Damit geschieht eine »Einrichtung und Lenkung der Öffentlichkeit«, 37 das heißt diese Medien bilden keineswegs eine Form des gegenseitigen Lernens, sondern eine blinde Einfärbung und Homogenisierung, die eine Ablenkung des Menschen von der »Ratlosigkeit« unseres modernen Zeitalters provoziert. 38 »Alles ist auf eine Ebene eingeebnet. Man hat über alles und jedes nach der gleichen Art des Meinens eine Meinung. Jede Zeitung, jedes illustrierte Blatt, jedes Rundfunkprogramm bietet heute alles in der gleichen Weise dem einförmigen Meinen an.« 39 Man kann Heideggers Kritik an der Öffentlichkeit als soziologische Kritik an der heutigen Gesellschaft – als Massengesellschaft – mit ihrer nivellierenden Logik formulieren. 40 So kann man sein Denken in der Nähe von Hannah Arendts oder sogar Ortega y Gassets Kritik an der Massengesellschaft positionieren. 41 Dies ist völlig legitim, da Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 124–125. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 38. 36 Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 77. 37 Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 38. 38 Vgl. Heidegger, Das Ge-Stell, GA 79, 38–39. 39 Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 36. 40 Auf diese Möglichkeit weist Peter Trawny darauf hin: »Das ›Man‹ ist eine Deskriptionskategorie für Anonymisierungen, ohne die der Alltag von ›Massengesellschaften‹ nicht denkbar ist. Im Grunde bietet das ›Man‹ Anknüpfungspunkte für eine politische oder soziologische Theorie der Öffentlichkeit« (Trawny, Martin Heidegger, 58). 41 In der Tat betont Hannah Arendt den nivellierenden Charakter der Massengesellschaft: »In der Massengesellschaft hat das Gesellschaftliche nach einer jahrhundertelangen Entwicklung schließlich den Punkt erreicht, wo es jeweils alle Glieder einer Gemeinschaft gleichermaßen erfaßt und mit gleicher Macht kontrolliert« (Arendt, Vita activa, 42). Totalität und Massengesellschaft stehen für Arendt in einem engen Zusammenhang: »Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen, und die sind bis heute die einzige Organisationsform, welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäquat scheint« (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Mönchen 13 2009, 663). Ortega y Gasset sagt in seinem bekannten Werk Der Aufstand 34 35
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Heidegger sich in den Beiträgen gegen die totale Weltanschauung wendet. 42 Obwohl dieser Schritt aus Heideggers Ansatz heraus möglich ist, wäre er doch gegen seine eigene, nicht moralisierende Absicht gerichtet. Für eine Rehabilitierung der Öffentlichkeit könnte man nach Heidegger argumentieren, dass er sich bemüht, das alltäglich-öffentliche Leben als eine Möglichkeit der Existenz neutral zu beschreiben. Entscheidend ist es aber vielmehr, zu bemerken, dass Heidegger unter dem Wort »Öffentlichkeit« eine diffuse Masse oder Menschenmenge versteht. Der Durchschnittsmensch wird von ihm (wie auch von Ortega y Gasset) als Massenmensch verstanden, dem der kritische, freie und vereinzelte Mensch gegenübersteht. 43 Dieses abwertende Verständnis der Masse mag zu einem bestimmten historischen Rahmen gehören. 44 Doch Heideggers Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit gründet nicht in dieser geschichtlichen Entwicklung. Seine Kritik an der Öffentlichkeit ist vor allem philosophischer Natur. Das Öffentliche identifiziert er mit dem bereits Offenen, das heißt mit dem, was ohne unsere eigene und jeweilige Aneignung, die als eigentliche Eröffnung der Sache gilt, für uns schon offen liegt. Das Problematische ist für ihn nicht, dass in der Öffentlichkeit etwas zur Präsenz kommt, sondern dass diese Präsenz sich in der Öffentlichkeit gewissermaßen verfestigt. 45 Zur beharrlichen Präsenz wird etwas gerade durch die Sprache der Öffentlichkeit, das Gerede, da diese sich dabei verselbstständigt. Eben diese Autonomie des Öffentlichen kritisiert Heidegger. »Die Diktatur der Öffentlichkeit läßt sich innerhalb ihrer nicht brechen.« 46 Die
der Massen: »Heute wohnen wir dem Triumph einer Überdemokratie bei, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz, und dem Gemeinwesen durch das Mittel des materiellen Drucks ihre Wünsche und Geschmacksrichtungen aufzwingt« (José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1993, 12). 42 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 41. 43 Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, 72: »Im öffentlichen Leben gibt es keine Frage, in die er [der Durchschnittsmensch, D. A.] sich, taub und blind, wie er ist, nicht einmischte, seine Ansichten durchsetzend.« 44 Vgl. Peter Uwe Hohendahl, Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart 2000, 67. 45 Siehe das VI. Kapitel dieser Arbeit. 46 Heidegger, Brief an Ernst Jünger, 23. 06. 1949, in: E. Jünger/M. Heidegger, Briefe 1949–1975, hrsg. von G. Figal, Frankfurt a. M. 2008, 12. Auch dieser Gedanke an die »Diktatur der Öffentlichkeit« wird durch Heideggers Brief an Elisabeth Blochmann vom A
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Heideggers Kritik an der Öffentlichkeit
»Diktatur der Öffentlichkeit«, von der auch im Humanismusbrief die Rede ist, 47 kann also nicht von innen heraus bekämpft werden. Das, was in der Öffentlichkeit steht, besteht so, dass es den Menschen als etwas Sicheres erscheint. Damit bietet die Öffentlichkeit eine Art Schutz gegenüber der Unsicherheit und Unbeständigkeit des menschlichen Lebens: »Die Öffentlichkeit kommt einer Tendenz des Daseins entgegen: dem Leichtnehmen und Leichtmachen.« 48 Sie maskiert und verdeckt die Existenz als die Last, die sie für das Dasein ist. Mit der Sicherheit der Dinge bzw. mit ihrer bereits etablierten Bestimmung sind sie nicht mehr rätselhaft, ihre eigentliche Aneignung wird verhindert: »Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft.« 49 Die in die Öffentlichkeit gestellten Sachen werden verfügbar und gewöhnlich – und damit zu Selbstverständlichkeiten. Das Selbstverständliche ist aber für Heidegger eine gefährliche Naivität. Das Selbstverständliche verliert die produktive Fraglichkeit, die die Suche nach dem ursprünglichen Sinn der Sache ermöglicht. 50 Das Öffentliche, das man zunächst als das bereits Offene und Unmittelbare ansehen kann, wird zum Verschlossenen und Verschließenden schlechthin. Heideggers radikale Treue zum Geheimnis – »Wahrheit – ⁄lffiqeia – Entbergung und d. h. zugleich Verwahrung des Verborgenen« 51 – plädiert also für einen esoterischen Widerstand gegen die exoterische alltägliche Öffentlichkeit. 52 Das Ursprüngliche und Eigentliche liegt für Heidegger nie offen zutage, sondern bedarf immer einer ursprünglichen Aneignung. Wir selbst benötigen die Selbstaneignung, um das zu sein, was wir eigentlich sind, weil Heidegger davon ausgeht, dass wir normalerweise »Man« sind. In der »Diktatur« des »Man« steht das Dasein »als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen«. 53 Heidegger 21. März 1948 belegt (vgl. Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 21. 03. 1948, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 95). 47 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 317. 48 Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 27. 49 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 169. 50 Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 74: »Phänomenologie ist nach ihrer Möglichkeit als nicht öffentlich und selbstverständlich aufzufassen.« 51 Heidegger, Grundsätze des Denkens (II. Vortrag), GA 79, 108. 52 Vgl. Peter Trawny, Adyton. Heideggers esoterische Philosophie, Berlin 2010. 53 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 168. Vgl. auch Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 27: »Jeder ist die anderen, keiner ist er selbst.«
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Die Möglichkeit der echten Öffentlichkeit
sieht die Möglichkeit eines Ausstieges aus der »Man«-Welt (der allerdings nur episodisch und nie endgültig sein kann) nur durch eine radikale Vereinzelung. Die Einsamkeit des Selbst erhebt sich gegen die Öffentlichkeit, diesen »Markt ›des Lebens‹«. 54 Daraus ergibt sich die entscheidende Frage, die Heidegger selbst in einem anderen Brief an Hannah Arendt formuliert: »Gibt es zum Unheimlichen der ›Öffentlichkeit‹ noch eine ›Alternative‹ ? Deutlicher gesagt: gibt es vor diesem Gerede von ›Alternativen‹ noch ein Maß für die wesenhaften Dinge? Durch welche Höllen muß der Mensch noch hindurch, bis er erfährt, daß er nicht sich selbst macht?« 55 Da für Heidegger die Sprache »eine Grundweise des In=der=Welt=seins ausmacht«, drückt die Öffentlichkeit mit ihrer Sprache als Gerede »eine bestimmte Aufenthaltsart in der Welt« aus. 56 Der Aufenthalt in der Öffentlichkeit ist die uneigentliche Existenz. Somit erweist sich die Frage nach der Möglichkeit einer positiven Form der Öffentlichkeit zugleich als die Frage nach der Möglichkeit eines eigentlichen Aufenthaltes in der Öffentlichkeit.
2.
Die Möglichkeit der echten Öffentlichkeit: Das philosophische Ethos in der geistigen Gemeinschaft
Gewiss wird, wenn Heidegger die Sprache im Miteinanderleben als Gerede bezeichnet, das Vertrauen in die öffentlichen Sprache und Meinung erschüttert, das gerade in einer Demokratie bewahrt werden soll. Paradigmatisch betonen Hannah Arendt und Jürgen Habermas nicht nur die Verbindung von öffentlichem Sprechen und öffentlichem Raum, sondern zugleich dessen konstitutive Bedeutung für den politischen Diskurs und die politische Meinungsbildung. Während Arendt und Habermas die Öffentlichkeit politisch denken, das heißt als den Ort der politisch relevanten Entscheidungen innerhalb einer Demokratie, 57 denkt und kritisiert Heidegger die Öffentlichkeit ontologisch und Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 34. Heidegger, Brief an Hannah Arendt, 12. 04. 1968, in: Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, 167. 56 Heidegger, Der Begriff der Zeit, GA 64, 30. 57 Bereits bei Hannah Arendt, der Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns einiges verdankt, bedeutet politisch zu sein, »in einer Polis zu leben, das hieß, daß alle Angelegenheiten vermittels der Worte, die überzeugen können, geregelt werden und nicht durch Zwang oder Gewalt« (Arendt, Vita activa, 30). Die Polis als »der öffentliche 54 55
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Heideggers Kritik an der Öffentlichkeit
erkenntnistheoretisch. Die Umwandlung von Heideggers Kritik an der Öffentlichkeit in eine Kritik an der Demokratie ist zwar durchaus möglich, doch gewinnt man damit wenig. Diese Kritik greift nämlich gerade den Kern von Heideggers Argument nicht auf. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob sich aus Heideggers Philosophie trotz ihres MissRaum selbst« (Arendt, Vita activa, 42) ist aber für Arendt ganz und gar nicht wie bei Heidegger durch Anonymisierung oder Nivellierung charakterisiert. Die Polis im eigentlichen griechischen Sinne als »der öffentliche Raum war gerade dem Nicht-Durchschnittlichen vorbehalten, in ihm sollte ein jeder zeigen können, wodurch er über das Durchschnittliche hinausragte« (Arendt, Vita activa, 42). Die Wichtigkeit des öffentlichen Sprechens, das in der Polis zustande kommt, gründet aber in der Natur des Menschseins selbst, und zwar nicht nur weil die Menschen für Arendt sprechend und handelnd »sich aktiv voneinander [unterscheiden]«, sondern gerade weil im Sprechen und Handeln »das Menschsein selbst offenbart« wird (Arendt, Vita activa, 165). Im Handelnd- und Sprechendsein kommt »die personale Einzigartigkeit« des menschlichen Wesens zum Vorschein; die Menschen »treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren, solange nämlich als ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und der nicht weniger einmalige Klang der Stimme in Erscheinung traten« (Arendt, Vita activa, 169). Weil Handeln für Arendt primär öffentliches Handeln ist, das heißt weil es innerhalb einer Gemeinschaft geschieht und weil dem Sprechen seinerseits ein dialogischer Charakter eignet, ist die Öffentlichkeit als eine entscheidende Dimension für die Entfaltung des Menschseins zu sehen. Weil aber für Arendt in der Öffentlichkeit erst die moralische Qualität der Polis erscheint, das heißt weil die »Vortrefflichkeit, die griechische ⁄retffi, die römische virtus, […] ihren Ort immer im Bereich des Öffentlichen« hat, also dort, »wo man andere übertreffen und sich vor ihnen auszeichnen konnte« (Arendt, Vita activa, 48), deshalb kann man nicht nur sagen, dass die Rede von Arendts Denken als eine »politische Ethik« nicht grundlos ist, sondern zugleich, dass das Moralische nur in der Öffentlichkeit zur Geltung kommen kann (vgl. Otfried Höffe, Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt, in: P. Kemper [Hrsg.], Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt, Frankfurt a. M. 1993, 13–33, hier 22; Peter Trawny, Denkbarer Holocaust, Würzburg 2005, 14). So wie für Arendt der öffentliche Raum (als Polis) als ein Ort der Meinungsbildung und Meinungserweiterung gilt, so ist er dies auch für Jürgen Habermas. Die Öffentlichkeit leistet für Habermas »zur demokratischen Legitimation des staatlichen Handelns ihren Beitrag, indem sie die politisch entscheidungsrelevanten Gegenstände auswählt, zu Problemstellungen verarbeitet und zusammen mit mehr oder weniger informierten und begründeten Stellungnahmen zu konkurrierenden öffentlichen Meinungen bündelt« (Habermas, Ach Europa, 136). Somit ergibt sich aus der öffentlichen Kommunikation »eine stimulierende und zugleich orientierende Kraft«, und zwar »für die Meinungs- und Willensbildung der Bürger« (Habermas, Ach Europa, 136; vgl. auch Jürgen Habermas, Die Einbeziehung der Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1999, 61). Gerade darin besteht die entscheidende Aufgabe einer politischen Öffentlichkeit. In dem Vorwort von 1990 zu seinem berühmten Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit bezeichnet Habermas die politische Öffentlichkeit »als Inbegriff derjenigen Kommunikationsbedingungen, unter denen eine diskursive Meinungs- und Wil-
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trauens gegenüber der Öffentlichkeit eine Möglichkeit gewinnen lässt, Heideggers Auffassung des gemeinsamen Lebens auf eine positive Weise zu verstehen. Aus Heideggers Hervorhebung der Vereinzelung des Daseins als des Weges zu Eigentlichkeit und Einsamkeit wird ein Vorrang des Einzelnen in seinem Denken deutlich. Dennoch bleibt Heidegger nicht einem existenziellen Solipsismus verhaftet. Aus seiner Skepsis gegenüber der Öffentlichkeit folgt nicht, dass es bei ihm keine positive Weise gibt, das gemeinsame Leben zu denken. Zwar sieht Heidegger in Sein und Zeit eine positive Möglichkeit des Miteinanderseins als »Volk« und »Gemeinschaft«. 58 Weil aber der Begriff »Gemeinschaft« aus bestimmten politischen Gründen in Heideggers Denken Eingang findet, scheint es so zu sein, als würde das gemeinsame Leben erst dann ernsthaft behandelt und positiv gefordert, als Heidegger – mit den Vertretern der sogenannten »konservativen Revolution« seiner Zeit – es als Verwirklichung der »deutschen Polis« erwartet. Es muss nun untersucht werden, ob man in Heideggers Philosophie eine positive Möglichkeit im Hinblick auf das gemeinsame Leben finden kann, die unabhängig von seinem historischen politischen Versagen ist. Trotz seinem Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit lehrt Heidegger seine Philosophie öffentlich. Bereits im WS 1929/30 ist Heidegger der Widerspruch zwischen seiner Betonung der Einsamkeit und seinem öffentlichen Auftreten als Lehrer bewusst: »Warum, wenn er ein Philosophierender ist, verläßt er die Einsamkeit und treibt sich als öffentlicher Philosoph auf dem Markt herum?« 59 Heidegger tritt als lensbildung eines Publikums von Staatsbürgern zustande kommen kann« und als einen »Grundbegriff einer normativ angelegten Demokratietheorie«. (Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der selbstbürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, 38). In diesem Sinne erkennt man, dass sowohl für Habermas als auch bei Arendt (trotz aller jeweiligen Unterschiede) der öffentliche Raum weder Austausch von bloßem Gerede noch dessen Verbreitung verkörpert. Er ist vielmehr der Ort, an dem die Einzigartigkeit der Menschen durch das Sprechen nicht homogenisiert wird, sondern sie wird zugunsten des gegenseitigen Lernens auf die »Bühne der Welt« gestellt. 58 Vgl. Helmuth Vetter, Anmerkungen zum Begriff des Volkes bei Heidegger in: R. Margreiter und K. Leidlmair [Hrsg.], Heidegger. Technik – Ethik – Politik, Würzburg 1991, 239–248, hier 244: »Vorbereitend für die Einführung des Namens ›Volk‹ ist in Sein und Zeit die Betonung der Gemeinschaft als des eigentlichen Mitseins gegenüber der Gesellschaft.« 59 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 19. A
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ein Philosoph öffentlich auf, weil er für eine ethische Erziehung eintritt. Die Adressaten seines Werkes – die Studenten im Hörsaal oder die Leser seiner Schriften – sind diejenigen, die Heidegger immer wieder zur Wachheit ermahnt. In einem Brief an seine Frau Elfride aus dem Jahr 1917 wird deutlich, dass Heidegger mit seiner Lehrtätigkeit an der Universität eine »geistige Gemeinschaft« zu »erziehen« versucht,60 die sich von der alltäglichen Öffentlichkeit als dem Ort der Masse unterscheidet. Diese »geistige Gemeinschaft« entspricht für Heidegger der Form einer »unsichtbaren Kirche« 61 oder, wie er später an Jaspers schreibt, einer »unsichtbaren Gemeinschaft«. 62 Die echte Gemeinschaft muss für Heidegger eine »unsichtbare« sein, denn ihre Präsenz darf nicht die sichtbare Form einer Institution annehmen, wie sie in der gewöhnlichen Öffentlichkeit zu finden ist. 63 Hier finden wir also einen wichtigen Beleg dafür, dass Heidegger bereits vor seinem politischen Engagement die Bildung einer geistigen Gemeinschaft anstrebt. Das Paradigma dieser Gemeinschaft ist für Heidegger die »Erziehungsgemeinschaft«. 64 Für ihn ist »die Zusammengehörigkeit zur VorHeidegger, Brief an Elfride Heidegger, Pfingstsonntag 1917, in: Heidegger, Mein liebes Seelchen!, 58. 61 Heidegger, Brief an Elfride Heidegger, Pfingstsonntag 1917, in: Heidegger, Mein liebes Seelchen!, 58. 62 Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 14. 07. 1923, in: Heidegger/Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, 42. Auch in einem Brief an Julius Stenzel aus dem Jahr 1930 erwähnt Heidegger die »unsichtbare Gemeinschaft«. Vgl. Heidegger, Brief an Julius Stenzel, 18. 04. 1930, in: Briefe Martin Heideggers an Julius Stenzel (1928–1932), Heidegger Studies 16, (2000), 11–33, hier 21. 63 Es ist gerade aufgrund Heideggers Hervorhebung der »Unsichtbarkeit«, dass sein Denken in Verbindung mit dem »geheimen Deutschland« des George-Kreises und dem von Hellingrath gebracht worden ist. Die Ähnlichkeit ist einleuchtend: So wie Heidegger eine »echte«, »unsichtbare Gemeinschaft« erziehen will, zielt George entsprechend auf einen nicht-öffentlichen, geheimen Bund ab. Dies kommt in seiner Vorrede zum Stern des Bundes deutlich zur Sprache: »der Stern des Bundes war zuerst gedacht für die freunde des engern bezirks und nur die erwägung dass ein verborgen-halten von einmal ausgesprochenem heut kaum mehr möglich ist hat die öffentlichkeit vorgezogen als den sichersten schutz. Dann haben die sofort nach erscheinen sich überstürzenden welt-ereignisse die gemüter auch der weiteren schichten empfänglich gemacht für ein buch das noch jahrelang ein geheimbuch hätte bleiben können« (Stefan George, Der Stern des Bundes, Band 8, Stuttgart 1993, 5). Siehe auch. Trawny, Politik und Dichtung bei Heidegger. 64 Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 30. 03. 1933, in: Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, 61. 60
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lesung […] das Wesentliche, sie gründet sich auf das Mithören, auf die Eingezogenheit des einzelnen in die Hörerschaft«. 65 Im Hörsaal geschieht eine besondere Art von Gemeinschaft, in der die Teilnehmer keine undifferenzierte Mehrheit bilden, sondern jeder Einzelne sich hörend auf den Anderen bezieht. In einer solchen Gemeinschaft folgen Lehrer und Lernende demselben Ziel: Beide versuchen das Hören zu lernen. »Hören zu lernen« heißt aber nicht nur zu lernen, die Aufmerksamkeit auf das Anwesende zu richten, sondern zugleich, die Bereitschaft für das noch nicht Anwesende zu lernen. Im Hören liegt für Heidegger »das anfängliche Lernen beschlossen«. 66 Nur solange die Gemeinschaft »unsichtbar« und »hörend« bleibt, geschieht »die grundsätzliche Umbildung des Philosophierens an den Universitäten«, die nicht mit »bloßem Bücherschreiben« oder dem »Betrieb« zu tun hat. 67 In der hörenden Gemeinschaft wird nicht das Denken betrieben, sondern jeder Einzelne soll die Erfahrung des Denkens suchen und so das Denken versuchen. In einem weiteren Brief an Jaspers aus dem Jahr 1931 bringt Heidegger zum Ausdruck, was sich von der »unsichtbaren Gemeinschaft« her eröffnet, nämlich die echte Öffentlichkeit: »Möge die freudig bewegte Entspannung nach der Vollendung dieses Ganges Sie bereit machen zu dem zweiten entschiedenen Gang des ›wissenden‹ Führers und Wächters in die echte Öffentlichkeit.« 68 Nach dem ersten Gang Jaspers, dem Schreiben seines dreibändigen opus magnum mit dem Titel Philosophie, muss nun der »zweite« Gang als »wissender Führer und Wächter in die echte Öffentlichkeit« folgen. Denselben Gedanken äußert Heidegger in einem Brief an Bultmann aus demselben Jahr. In Anbetracht des »allgemeinen Verfalls der Universität« sieht Heidegger als »einzigen Weg […] die wirkliche Gründung einer freien ›aristokratiHeidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 41. Heidegger, Erbetene Vorbemerkung zu einer Dichterlesung auf Bühlerhöhe, GA 16, 471. 67 Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 14. 07. 1923, in: Heidegger/Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, 42. Vgl. auch Heidegger, Brief an Julius Stenzel, 4. 11. 1930, in: Briefe Martin Heideggers an Julius Stenzel (1928–1932), Heidegger Studies 16 (2000), 24: »Was für eine geistige Verelendung muß da sein, wenn fortgesetzt eine solche ›Philosophieliteratur‹ möglich wird, wie sie heutigentags massenweise auf den Markt kommt? Das armselige Rinnsal unseres Philosophierens darf nicht auch noch auf die große Mühle des Betriebes geleitet werden.« 68 Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 20. 12. 1931, in: Heidegger/Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, 144. 65 66
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schen‹ – geistig verstanden, wozu Bodenständigkeit gehört – vorbildlichen freien Akademie«. 69 Dass Heidegger dabei deutlich erkennbar eine antidemokratisch-konservative politische Haltung gegenüber der Universität vertritt, ist hier weder zu bestreiten noch zu rechtfertigen. Entscheidend ist es hier vielmehr, verständlich zu machen, was Heidegger mit diesem Universitätselitarismus philosophisch meint. Es ist augenfällig, dass Heidegger mit diesem Gedanken seine Philosophie des Einzelnen in radikaler Weise öffnet. Die »unsichtbare« und »geistige« Gemeinschaft bewegt sich nicht in der Sprache des Geredes und schreibt nicht bloß Bücher, sondern spricht philosophisch, das heißt: sie hört. 70 Die Teilnehmer der »geistigen Gemeinschaft« geraten nicht in die Opazität einer anonymen Masse, sondern in der »echten Öffentlichkeit« kehrt sich um, was für die alltägliche Öffentlichkeit gilt: Gegen das entwurzelte Gerede wird das Hören betont; anstatt des fehlenden Bezugs zum Wesen der Phänomene übernimmt jeder Einzelne die Aufgabe, die Phänomene selbst zu denken. Gegen den nivellierenden Charakter der Öffentlichkeit mit ihrer anonymen Herrschaft tritt der Einzelne hervor. Die »echte Öffentlichkeit« ist eine solche, die von den Philosophen, das heißt von den Menschen, die ihr philosophisches Wesen übernommen haben, getragen wird. Von hier aus wird noch einmal deutlich, weshalb Heidegger sich zustimmend zu Platons Auffassung der Philosophen als Könige äußert. 71 Denn mit seiner Philosophie will Heidegger von Anfang an eine geistige Gemeinschaft erziehen. 72 Somit wird hier klar, dass sich Heideggers politisches Engagement in der NS-Bewegung aus seiner Suche nach geistiger, echter Gemeinschaft ergibt, die ihn stets leitete. Die »echte Öffentlichkeit« ist also eine philosophische Öffentlichkeit. Diese philosophische Öffentlichkeit muss, wie Heidegger auch in den Beiträgen sagt, eine unsichtbare sein. Die echte Philosophie, die Heidegger, Brief an Rudolf Bultmann, 24. 01. 1931, in: Bultmann/Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, 151–152. 70 Zu Heideggers Verständnis der Philosophie als einer hörenden Philosophie siehe David Espinet, Phänomenologie des Hörens. Eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger, Tübingen 2009. 71 Siehe das VIII. Kapitel dieser Arbeit. 72 Wichtig ist es dabei, zu beachten (wie Günter Figal zutreffend sieht), dass Heidegger damit »die Universität an der Gemeinschaft der Philosophen und ihrer Schüler [misst], wie Platon sie im Gedankenspiel der Politeia durch Sokrates beschreiben läßt« (Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 120). 69
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kein »Philosophie-betrieb« ist, vollzieht sich als eine »Besinnung auf die Wahrheit des Seyns«, die aber zugleich »eine Wandlung« fordert. 73 Diese ist keine »moralische« Wandlung, sondern eine solche, die die Philosophie in der Richtung einer »Öffentlichkeit des Unsichtbaren und Lärmfreien« führen kann. 74 Die Philosophie bedarf einer unsichtbaren Öffentlichkeit, denn nur eine solche bleibt in der Sache des Denkens (in der Wahrheit des »Seyns«) verwurzelt. Dass Heidegger häufig im Plural spricht, ist keineswegs nebensächlich. Heidegger will eine geistige, philosophische Gemeinschaft erziehen. Wir lernen aber das Denken nur, so Heidegger, »wenn wir selber denken«. 75 Deshalb ist selbst das Lehren, das Heidegger als eigene Aufgabe unternimmt, von eigener Art. Das »Lehren« ist für ihn »noch schwieriger als das Lernen«, 76 denn »Lehren« heißt »Lernen-lassen«. 77 Es ist sogar so, dass »der eigentliche Lehrer […] nichts anderes lernen [läßt] als – das Lernen«. 78 Sowohl Lernen als auch Lehren haben aber »nur im Warten ihr Element«. 79 In der »geistigen Gemeinschaft« stehen Lehrer und Schüler nicht in einem Autoritätsverhältnis, sondern in einer gelassenen, hörenden Haltung. Heidegger ruft uns dazu auf, die Entscheidung für das Lernen zu treffen: »Bleiben wir achtlos oder lernen wir die Achtsamkeit.« 80 Der Lehrer schreibt nicht vor, was der Lernende tun soll, denn seine Erziehung ist, wie Heidegger sagt, nur ein »Raten«. 81 Und insofern das Lassen eine Form der Liebe ist, 82 kann man das gelassene Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler bei Heidegger mit den Worten Stefan Georges beschreiben: »Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe./Du musst zu innerst glühn – gleichviel für wen!/Mein rechter hörer bist du wenn du liebst.« 83 Fraglich bleibt jedoch, ob die Erziehungsgemeinschaft tatsächlich als Paradigama eines nicht autoritären Verhaltens gedacht werden kann. Denn jede Vorlesung vollzieht sich innerhalb einer hierar73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83
Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 94–95. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 95. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 5. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 17. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 18. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 17–18. Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 238. Heidegger, Aufsätze und Dialog, GA 75, 42. Heidegger, Abendgespräch, GA 77, 238. Siehe das VIII. Kapitel dieser Arbeit. George, Das Neue Reich, 87. A
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chischen Ordnung zwischen dem Redner und den Adressaten. Dass diese Hierarchie für Heidegger notwendig ist, hat seinen Grund nicht in einer Symphatie für einen totalitären Erziehungsstil, sondern in seiner Überzeugung, dass nur »der Einzelne« und »nie« »die Masse« »schöpferisch« sein kann. 84 Um den nur begrenzt hierarchischen Charakter der Erziehungsgemeinschaft zu sehen, ist es entscheidend, Heideggers Auffassung der Freundschaft (yffllia) zu betrachten. Denn die Freundschaft ist für ihn nichts Geringeres als »der verborgene Wesensgrund aller ›Erziehung‹«. 85 Die Freundschaft kann weder geplant noch gemacht werden, sondern sie ist einzig das Geschenk dessen, was Heidegger »das Zu-denkende« nennt. 86 Die Freundschaft ist für Heidegger »die Gunst, die dem anderen das Wesen gönnt, das er hat, dergestalt, daß durch dieses Gönnen das gegönnte Wesen zu seiner eigenen Freiheit erblüht«. 87 In der Freundschaft geht es weder um »Betulichkeit« noch um ein »›Einspringen‹ in Notfällen und gefährlichen Lagen« und noch weniger um »Beeinflussung«, sondern vielmehr um »das füreinander Dasein, das irgendwelcher Veranstaltungen und Beweise nicht bedarf«. 88 In der Auffassung der Freundschaft kommt erneut das zum Vorschein, was in der Analyse der »einspringend-befreienden Fürsorge« zu finden ist. Denn auch hier handelt es sich um ein Verständnis der Liebe im Sinne einer radikalen Freiheit für die Anderen und die Entfaltung ihres Wesens: »Die Gewährung des Wesens bedarf des Wissens und der Geduld, das Gönnen ist ein Wartenkönnen, bis der andere sich in die Entfaltung seines Wesens findet und seinerseits aus dieser Wesensfindung kein Aufhebens macht.« 89 Ohne Freundschaft ist weder »das Grundverhältnis, worin alle Erziehung ruht, […] nämlich die Anziehung und das Angezogenwerden vom Wesenhaften«, noch haben »aller Unterricht und jede Schulung, alle Disziplin und jede Abrichtung« ohne Freundschaft einen Sinn. 90 Weil aber »die Freundschaft für das Zu-denkende« 91 ursprüngHeidegger, Brief an Elfride Heidegger, 06. 10. 1918, in: Heidegger, Mein liebes Seelchen!, 85–86. 85 Heidegger, Heraklit, GA 55, 129. 86 Vgl. Heidegger, Heraklit, GA 55, 128–129. 87 Heidegger, Heraklit, GA 55, 128. 88 Heidegger, Heraklit, GA 55, 128–129. 89 Heidegger, Heraklit, GA 55, 129. 90 Heidegger, Heraklit, GA 55, 129. 91 Heidegger, Heraklit, GA 55, 129. 84
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lich zur Philosophie gehört, stehen Philosophie, Freundschaft und Erziehung in einem wesentlichen Bezug: »Die Erziehung selbst und ihr Wesensgrund, die Philosophie als die Freundschaft für das Zu-denkende, gründet ihrerseits noch darin, daß das Zu-denkende, was von altersher das Sein heißt, in sich selbst von einer Gunst und einem Gönnen durchwaltet ist.« 92 Das philosophische Ethos ist seinem Wesen nach ein Ethos in der philosophischen, freundschaftlichen Gemeinschaft. Wie der Dichter will auch Heidegger durch seine Erziehung erreichen, dass wir »auf etwas Unbeachtetes […] achten«. 93 Man darf jedoch nicht vergessen, dass der Ruf des Dichters eine geschichtliche Gemeinschaft zu stiften vermag. Die Dichtung ist eine »wahrhafte Sammlung der Einzelnen in einer ursprünglichen Gemeinschaft«. 94 »Ursprüngliche Gemeinschaft« kann es aber auch durch den Ruf der Philosophie geben. Indem Heidegger uns dazu aufruft, das Denken zu lernen, um das Wesen des Wohnens, des eigentlichen Aufenthaltes des Menschen zu gestalten, 95 verbindet er im Gedanken des philosophischen Rufes Denken und Wohnen. »Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, dass die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, dass sie das Wohnen erst lernen müssen.« 96 Doch diese »Not des Wohnens« sehen wir nicht. Der Ruf des Philosophen ist wichtig, denn »im Rufen ist ein Aufenthalt möglich«. 97 Heidegger selbst verkörpert eben diesen befreienden Philosophen, der uns immer wieder zur Selbstheit und damit zugleich zur echten, ja freundschaftlichen Gemeinschaft ruft. Zum eigentlichen, exemplarischen Aufenthalt, der sich im Verlauf von Heideggers Denkweg immer wieder als ein philosophisches Ethos zeigt, gehört also nicht nur wesentlich die Einsamkeit, sondern auch die Möglichkeit, im philosophischen Lehren und Hören eine echte Gemeinschaft aufzubauen.
92 93 94 95 96 97
Heidegger, Heraklit, GA 55, 129. Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, 77. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 8. Vgl. Heidegger, Die Kehre, GA 79, 71. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 163. Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 129. A
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3.
Die Sprache der echten Öffentlichkeit: Das Schweigen und das Hören
Zur »echten Öffentlichkeit«, die sich am Modell der »Erziehungsgemeinschaft« orientiert, gehört eine gelassene Haltung, die jedes einzelne ihrer Mitglieder selbst zu übernehmen hat. Die Teilnehmer des Gesprächs in der »echten Öffentlichkeit« reden weder aneinander vorbei noch bleibt ihre Sprache unter der Herrschaft des Geredes. Vielmehr teilen sie eine gemeinsame Erfahrung, die sie aneinander bindet: das Hören. Das achtsame Einanderhören kann jedoch nur geschehen, wenn der Lärm der alltäglichen Öffentlichkeit, das Gerede, schweigt. Aus Heideggers Betonung des Schweigens und des Hörens gegenüber dem öffentlichen Sprechen, dem Gerede, ergibt sich die Möglichkeit des eigentlichen zwischenmenschlichen Verhaltens, die Möglichkeit der »echten Öffentlichkeit«. Wenn man etwas für sich behält, wenn man also schweigt, gibt sich für Heidegger die Möglichkeit, dass »wir uns gegen die Öffentlichkeit abschließen«. 98 Im Sichzurückhalten aus der alltäglichen Öffentlichkeit, die durch das Schweigen zustande kommt, hält sich das Dasein in der jeweiligen Weise des Verhaltens, in dem es steht und in dem etwas zum Vorschein kommt: »Schweigen ist Sammlung und zwar des ganzen Verhaltens, so daß dieses an sich hält und dadurch in sich gestrafft und so erst recht auf das Seiende, dazu es sich verhält, ausgerichtet und ihm voll ausgesetzt bleibt.« 99 Das Schweigen als Verschwiegenheit »schlägt das ›Gerede‹ nieder«. 100 Die »Verschwiegenheit« artikuliert so auf eine ursprüngliche Weise, »daß ihr das echte Hörenkönnen und durchsichtige Miteinandersein entstammt«. 101 Und noch klarer sagt Heidegger: »Wer im Miteinanderreden schweigt, kann eigentlicher ›zu verstehen geben‹, das heißt das Verständnis ausbilden, als der, dem das Wort nicht ausgeht.« 102 Hinsichtlich des Hörens wird dieses »Hören auf …« in Sein und Zeit als »das existenziale Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen« verstanden. 103 Das Hören zeigt sich also als die Ermöglichung der Offenheit des Daseins für die anderen Menschen. Achten Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 110. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37, 111. 100 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 219. 101 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 219. 102 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 218. 103 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 217. 98 99
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Die Sprache der echten Öffentlichkeit: Das Schweigen und das Hören
wir auf eines der rätselhaftesten Zitate aus Sein und Zeit: »Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt.« 104 Was Heidegger damit meint, ist interpretationsbedürftig, denn weder erörtert Heidegger diesen Zusammenhang weiter, noch kommt die Wendung »Stimme des Freundes« an anderer Stelle noch einmal vor. In diesem Zitat wird erstens klar, dass es im Hören als der »primären und eigentlichen Offenheit des Daseins für sein eigensten Seinkönnen« um die Eigentlichkeit des Daseins geht. Denn dieses Hören weist auf das »rechte Hören« des Gewissensrufes hin. 105 Durch den Ruf des Gewissens wird das Dasein auf sich selbst vereinzelt und damit zu seiner eigensten Möglichkeit gebracht. Das Hören auf die »Stimme des Freundes« und die lautlose, schweigsame Stimme des Gewissens stehen in demselben Zusammenhang: Beide Stimmen beziehen sich auf das eigentlich existierende Dasein. Zweitens lässt sich aus dem Zitat erkennen – und das ist entscheidend –, dass das Dasein in Sein und Zeit als ein Selbstgespräch verstanden wird: Das Dasein trägt den Freund »bei sich«, dessen Stimme es zu hören gilt. Mit dem Wort »Freund« versucht Heidegger auf die Offenheit, die das Sein des Daseins ist, aufmerksam zu machen. Ist das Dasein darin aber ein Selbstgespräch, dann ist es ein dialogisches Seiendes. »Dasein« und »Freund« sind die minimalen Voraussetzungen für ein Gespräch. Das Dasein, das einen Freund bei sich trägt, trägt etwas bei sich, das es selbst nicht ist. Nur weil der Freund in gewisser Weise ein anderer ist als das Dasein, kann das Dasein auf ihn hören. In diesem Punkt tritt die Nähe zwischen der »Stimme des Freundes« und der »Stimme des Gewissens« am deutlichsten hervor. Denn auch der Gewissensruf ist ein solcher, der »aus mir und doch über mich [kommt]«. 106 Zwar ruft das Dasein »im Gewissen sich selbst«, 107 doch im Vergleich zur Vertrautheit der alltäglichen Welt erscheint der Ruf des Gewissens wie eine »fremde Stimme«. 108 Diese »fremde Stimme« des Gewissens ist die »Stimme des Freundes«. Weil das Dasein nur selten es selbst, sondern meistens »Man«-
104 105 106 107 108
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 217. Siehe das III. Kapitel dieser Arbeit. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 366. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 365. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 367. A
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selbst ist, gehört zu seiner Seinsverfassung die Erfahrung einer ursprünglichen Entfremdung. Dass Heidegger hier nicht von der »Stimme des Fremden«, sondern von der »Stimme des Freundes« spricht, ist ein wichtiger Unterschied. Der Freund ist nicht Teil der Welt des »Man«, seine Stimme ist nicht das verlautbarte Wort in der Öffentlichkeit. In der Öffentlichkeit, wie Heidegger sie beschreibt, gibt es keine Freunde; deren Teilnehmer sind so undifferenziert, dass sie Phantome bleiben. Hier wird verständlich, weshalb Heidegger behauptet, dass »der Ruf zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist«, kommt. 109 Die »Stimme des Freundes« ist nicht die Stimme eines mich nicht betreffenden Anderen. Das bloße Zusammensein in der Welt ist nicht das freundschaftliche Zusammensein. Gegenüber dem undifferenzierten Anderen in der »Man«-Welt betont Heidegger das qualifizierte Andere eines Freundes, das heißt etwas, das mich gerade als Anderes irgendwie angeht. Erst das Hören auf das Andere, auf die »Stimme des Freundes«, ermöglicht die Hörigkeit: »Als verstehendes In-der-Welt-sein mit den Anderen ist es dem Mitdasein und ihm selbst ›hörig‹ und in dieser Hörigkeit zugehörig.« 110 Im »Aufeinander-hören« bildet sich ursprünglich das »Mitsein«. 111 Auf dem Boden dieses Mitseins kann es sowohl die Möglichkeit »des Folgens, Mitgehens« als auch die der »privativen Modi des Nicht-Hörens, des Widersetzens, des Trotzens, der Abkehr« geben. 112 Die »Stimme des Freundes« unterschiedet sich radikal von der Stimme des »öffentlichen Gewissens«. 113 Das entschlossene, eigentlich existierende Dasein bezieht sich so auf die Anderen, dass es sie sogar miterschließen kann. Wenn das Dasein eigentlich existiert, kann »das entschlossene Dasein […] zum ›Gewissen‹ der Anderen werden«. 114 Das eigentliche Dasein ist das eigentlich fürsorgende Dasein. Es verhält sich zu Anderen so, dass es die Anderen frei lässt, das zu sein, was sie sind. Diese die Anderen liebende Fürsorge kann nicht »zum ›Gewissen‹ der Anderen werden«, weil das Dasein die Anderen befreit, als ob die Vereinzelung kein für die Eigentlichkeit notwendiger Schritt wäre. 109 110 111 112 113 114
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Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 366. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 217. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 217. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 217. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 370. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 395.
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Die Sprache der echten Öffentlichkeit: Das Schweigen und das Hören
Vielmehr geschieht dieses Zum-Gewissen-Werden, wenn das Dasein die Anderen zu ihrer eigenen Selbstbefreiung frei lässt. Das Zurücktreten des Willens- und Herrschaftsanspruchs, den das Dasein meist aufrechterhält, bedeutet eine Zäsur, die mit dem Gewissensruf und der Unterbrechung des Geredes in der Öffentlichkeit durch diesen vergleichbar ist. Das eigentlich existierende Dasein verdeckt die Anderen in ihrer daseinsmäßigen Seinsweise nicht mehr, es geschieht eine diese eröffnende Unterbrechung. Der Andere wird nicht beim uneigentlich existierenden Dasein weiter besorgt, sondern der Andere erlebt selbst die Last seiner eigenen Existenz. Nur so, »nicht aber aus den zweideutigen und eifersüchtigen Verabredungen und den redseligen Verbrüderungen im Man und dem, was man unternehmen will«, ist das »eigentliche Miteinander« möglich. 115 Denn im eigentlichen Miteinander leitet nicht das Wollen, sondern das Lassen. Auch in Heideggers spätem Denken werden sowohl der Vorrang des Hörens vor dem Kommunizieren als auch die das zwischenmenschliche Miteinandersein ermöglichende Rolle des Hörens noch einmal betont. »Das Hörenkönnen ist auch gar nicht die Folge des Miteinandersprechens, sondern eher umgekehrt, die Bedingung dafür.« 116 Das »Redenkönnen« und das »Hörenkönnen« bezeichnet Heidegger als »gleichursprünglich«.117 Zugleich denkt er auch, dass »die Sprache selbst […] ihren Ursprung im Schweigen [hat]«. 118 Man muss beim Lesen der erwähnten Zitate darauf achten, dass sich daraus, dass das Hören und das Schweigen als die Weisen der eigentlichen Rede verstanden werden, eine wichtige ethische Konsequenz ergibt: Das Hören und das Schweigen beziehen sich auf das Zurücktreten des Einzelnen für das Auftreten des Anderen. 119 Es geht hier also – wie auch in der vorspringend-befreienden Fürsorge120 – darum, den Raum für das freie Erscheinen des Anderen freizugeben. Die Öffentlichkeit stellt mit Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 395. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 71. Vgl. auch Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 39; Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 78. 117 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 39. 118 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 218. 119 Vgl. Figal, Martin Heidegger zur Einführung, 72: »Nur wer schweigt, kann anderen zuhören, und im – gemeinsamen – Schweigen kann sich ein Einverständnis und ein Verständnis für die Wesensart des anderen zeigen, das in der Mühle der Kommunikation gar nicht erst aufkommt.« 120 Siehe das VIII. Kapitel dieser Arbeit. 115 116
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ihren allumfassenden, vorgefassten Meinungen eine Grenze der Freiheit dar, die aber nicht nur als eine Gefährdung der eigenen Freiheit zu verstehen ist, sondern auch als das Sichfreigebenlassen des anderen Menschen. Im Hören und Schweigen geschieht gerade eine Offenheit, die für das Sichfreigeben des Anderen benötigt wird. 121 Diese Offenheit für das Andere im Hören und Schweigen ist ein Sicheinlassen auf das Andere. Dies hat unüberhörbar einen ethischen Anklang, weil damit das Andere, das auch ein anderer Mensch sein kann, nicht beherrscht, sondern nur frei gelassen wird, das zu sein, was es selbst ist. Insofern aber das Hören und Schweigen bei Heidegger mit der Rede im Zusammenhang stehen, kann man sagen, dass zur Sprache bereits in Sein und Zeit eine ethische Dimension gehört. Diese ethische Dimension zeigt sich deutlich, wenn der Imperativ, der Heideggers Aufforderung zur Offenheit für Dinge und Menschen zugrunde liegt, ausdrücklich formuliert wird: Du sollst den Anderen und die Dinge in ihrer Freiheit nicht unterdrücken; du sollst dich auf ihr jeweiliges Sichzeigen einlassen. 122 Heidegger vermeidet es, eine solche Sollensnorm zu formulieren. Doch in seiner Forderung, diese Offenheit zu lernen, lässt sich dieselbe Botschaft finden. Wenn wir in der Weise des Hörens und des Schweigens sprechen, halten wir uns nicht mehr im entwurzelten Gerede der Öffentlichkeit auf, sondern im eigentlichen hörenden Aufenthalt. In seinem Spätwerk radikalisiert Heidegger seine Aufforderung zur Offenheit für das Andere anhand seines Verständnisses der Sprache und betont damit ein weiteres Mal den Zusammenhang zwischen dem eigentlichen Aufenthalt des Menschen und der Weise seines Sprechens. Nachdenken über die Sprache heißt für Heidegger, zum »Sprechen der Sprache [zu] gelangen, daß es sich als das ereignet, was dem Wesen der Sterblichen den Aufenthalt gewährt«. 123 Ist das Wesen der Sprache mit dem Wesensaufenthalt des Menschen ursprünglich verbunden, dann zeigt sich Heideggers Nachdenken über die Sprache zugleich als ein Nachdenken über den Aufenthalt des Menschen. Zwar ist für Heidegger die Sprache das »Haus des Seins«, doch damit sie als dieses zum Vorschein kommen kann, muss der Mensch erst durch ein Vgl. Figal, Martin Heidegger – Phänomenologie der Freiheit, 146. Vgl. Radomír Rozbroj, Gespräch. Die zwischenmenschliche Problematik im Spätwerk Heideggers, Würzburg 2008, 112. 123 Heidegger, Die Sprache, GA 12, 11. 121 122
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bestimmtes Wohnen dieses Haus bauen. »Das Haus wird erst Haus durch das Wohnen.« 124 Deshalb geht es Heidegger darum, »das Wohnen im Sprechen der Sprache zu lernen«. 125 Genauer gesagt versucht Heidegger nicht über die Sprache zu sprechen, denn »ein Sprechen über die Sprache macht sie fast unausweichlich zu einem Gegenstand«. 126 Vielmehr wird ein »Sprechen von der Sprache« gesucht. 127 Ein »Sprechen von der Sprache« ist erforderlich, weil »die Sprache spricht«. 128 Wenn die Sprache spricht, dann steht das Sagen in der Entsprechung zu dem, was sich selbst und als jeweils dieses zeigt, da die Sprache die Offenbarkeit des Seienden erst ermöglicht, der sie selbst entspricht. »Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht«. 129 Die Sprache spricht also nur, indem sie entspricht, das heißt indem das Gesprochene einen lebendigen Bezug zur jeweiligen Erfahrung des Gesprochenen in sich trägt. Dieses entsprechende Wort, das sich von dem entwurzelten Wort des Geredes radikal unterscheidet, ist für Heidegger das dichterische Wort, denn dieses Wort ist das, was selbst ein Ding ist. »Kein Ding ist, wo das Wort, d. h. der Name fehlt.« 130 Der Dichter wohnt dichterisch in der Sprache, und deshalb weiß er, »daß erst das Wort ein Ding als das Ding, das es ist, erscheinen und also anwesen läßt«. 131 Das dichterische Wort lässt jedoch die Sprache nur sprechen, weil das Dichten »erst ein Hören« ist. 132 Das ursprüngliche Hören ist »das dichtende Hören«. 133 Entscheidend ist dabei, dass ein »Sprechen von der Sprache« nur geschieht, wenn auf die Sprache gehört wird. Denn das »Hören auf die Sprache« ist nicht nur gegenüber der Verlautbarung vorrangig, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass unser Sprechen der Sprache entsprechen kann. »Das Sprechen ist als Sagen von sich aus ein Hören. Es ist das Hören auf die Sprache, die wir sprechen.« 134 Heideggers Verständnis des Hörens lässt sich natürlich nicht auf das 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134
Heidegger, Rede auf Hebel, GA 16, 537. Heidegger, Die Sprache, GA 12, 30. Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 141. Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 141. Heidegger, Die Sprache, GA 12, 10. Heidegger, Die Sprache, GA 12, 30. Heidegger, Das Wesen der Sprache, GA 12, 154. Heidegger, Das Wesen der Sprache, GA 12, 158. Heidegger, Die Sprache im Gedicht, GA 12, 67. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 202. Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 243. A
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lediglich sinnliche Hören reduzieren. 135 Indem das Sprechen »zuvor ein Hören« ist, 136 bedeutet das Hören diejenige vorrangige Offenheit, in der wir allererst etwas als das, was es seinem Wesen nach ist, erfahren können. Das »Entsprechen ist Hören«, wenn das Hören ein »echtes« ist, das heißt wenn es »mit dem eigenen Sagen an sich [hält]«. 137 Das »echte Hörenkönnen [ist] ein ursprüngliches Wiedersagen (nicht ein Nachsagen) des Gehörten«. 138 Doch das rechte Hören, das erforderlich ist, um das zu sagen, was ist, fällt nicht leicht. Für ein solches Hören wird »das Anerkennen« vorausgesetzt. 139 Es geht hier um das wesentliche Anerkennen dessen, was ist. Das echte Hören auf die Sprache ist eigentlich ein »Sichsagenlassen«. 140 »Das Denken selbst ist »allem zuvor ein Hören«, »ein Sichsagenlassen«. 141 Und wenn die Gelassenheit das ist, was das Wesen des Denkens ausmacht, 142 dann ist der Mensch nur dann ein Hörender, wenn sein Aufenthalt, sein Ethos gelassen ist. Von hier her ist auch die Rede von einer »Ethik des Lassens« zu verstehen. 143 Wenn das Hören die Ermöglichung des Entsprechens ist, dann ist zugleich das Hören der Weg zur Zugehörigkeit zum Ereignis. Wir hören auf die Sprache nur, insofern wir »in sie gehören«. 144 Deshalb wandelt sich für Heidegger das »Sichsagenlassen« in das »Gehörenlassen in die Sage«. 145 Die Sage heißt »Zeigen, Erscheinen lassen, lichtend-verbergend freigeben als Dar-reichen von Welt«. 146 Im Hören ereignet sich der eigentliche und wesentliche Aufenthalt des Menschen bzw. sein Zugehören zum Ereignis: »Das Ereignis verleiht den Sterblichen den Aufenthalt in ihrem Wesen, daß sie vermögen, die Sprechenden zu 135 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 124. Vgl. auch Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 217. 136 Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 243. 137 Heidegger, Die Sprache, GA 12, 29. 138 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 124. 139 Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 82. 140 Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 243. 141 Heidegger, Das Wesen der Sprache, GA 12, 170. 142 Vgl. Heidegger, ⁄gcibasfflh. Ein Gespräch, GA 77, 142. 143 Adriano Fabris, Heideggers Gespräch als Sage des Ereignisses, in: D. Barbaric ´ [Hrsg.], Das Spätwerk Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert, Würzburg 2007, 191– 209, hier 196. Vgl. Heidegger, Gedachtes, GA 81, 130. 144 Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 244. 145 Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 245. 146 Heidegger, Das Wesen der Sprache, GA 12, 202.
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sein.« 147 Wenn die Sprache in der Entsprechung zum Ereignis geschieht, lässt sie die Offenbarkeit des Seienden als das sich jeweils so und so Ereignende erscheinen. Der Mensch muss aber sich selbst als der in seinem Sprechen auf das Ereignis Antwortende erkennen: Erst so ereignet er sich auch selbst. Im Aufenthalt der Zugehörigkeit zum Ereignis ist das Ereignis das »Gesetz«, das heißt »die Versammlung dessen, was jegliches in seinem Eigenen anwesen, in sein Gehöriges gehören läßt«. 148 In der Zugehörigkeit zum Ereignis sprechen wir aus der sprechend-zeigenden Sprache, welche Sprache als das Hören auf das Ungesprochene und Unzeigbare, auf das Geheimnis, ist. »Die Sprache, die spricht, indem sie sagt, bekümmert sich darum, daß unser Sprache, auf das Ungesprochene hörend, ihrem Gesagten entspricht.« 149 Das »Sprechen von der Sprache« ist aber nur als »Gespräch« möglich. 150 Heidegger sagt mit Hölderlin, dass wir ein »Gespräch« sind. 151 Das Sein des Menschen gründet in der Sprache; aber diese geschieht erst eigentlich im »Gespräch«. 152 Das Gespräch wird als das Wesen der Sprache bezeichnet. 153 Im ursprünglichen Gespräch spricht die dichterische Sprache. 154 Das Sagen des Dichters ist aber »nur mitzusagen aus der Haltung des ursprünglichen Hörens und umgekehrt«. 155 In seiner Rede auf Hebel aus dem Jahr 1956 betont Heidegger noch einmal die Wichtigkeit des »Hörenkönnens« für das Gespräch, denn dieses (und nicht das Reden) sei »das Tragende und Weisende in einem Gespräch«. 156 Dass wir ein Gespräch sind, heißt für Heidegger »zugleich und gleichursprünglich«, dass wir »ein Schweigen [sind]«. 157 Als Gespräch eröffnet Sprache die interpersonale Dimension, sie lässt sich aber nicht auf diese reduzieren. Vielmehr sind wir ein Gespräch, weil die Existenz des Menschen im Hinblick auf sein Zuhören Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 248. Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 248. 149 Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 251. 150 Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 141. 151 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 68: »Wir sind ein Gespräch.« 152 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 38. 153 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 38. 154 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 126. 155 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 203. 156 Heidegger, Rede auf Hebel, GA 16, 534. 157 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 70. 147 148
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auf die Stimme des Seins konzipiert wird: 158 »Sprache ist Gespräch des Seyns.« 159 Die Wichtigkeit der Sprache liegt für Heidegger nicht in ihrer alltäglichen, der menschlichen Kommunikation dienenden Funktion, 160 sondern in ihrem Bezug zum Sein: Der Mensch ist »Kraft der Sprache«, »der Zeuge des Seyns«. 161 Die Sprache ist ihrem Wesen nach demzufolge nicht bloß ein Werkzeug des Menschen, sondern die Weise, wie der Mensch inmitten der Welt – und das heißt: in der Offenbarkeit des Seienden – steht und das Seiende in seinem Wesen zur Sprache bringt. 162 Und obwohl Heideggers Verständnis der Sprache als Gespräch vorrangig auf einer ontologischen Ebene gedacht wird, heißt dies nicht, dass dabei die Möglichkeit einer Gemeinschaft ausgeschlossen wird. 163 Dass wir ein Gespräch sind, bedeutet: »Wir können voneinander hören«. 164 Die Sprechenden richten sich »auf das hin, womit sie sprechen, wobei sie verweilen als dem, was sie je und je bereits angeht«, wobei das Wohin auf nichts Weiteres als auf »die Mitmenschen und die Dinge« hinweist. 165 Und auch hier stellt Heidegger die Erfahrung des Dinges in das Zentrum des Aufenthaltes des Menschen oder, noch genauer gesagt, des zwischenmenschlichen Aufenthaltes: »Das Voneinander-Hörenkönnen ist erst dann möglich, wenn 158 Es gibt einige Autoren, die vom dialogischen Charakter der Sprache her, der bereits in Sein und Zeit zu finden ist, den Bereich für die interpersonalen Beziehungen zu eröffnen versuchen. Dies ist beispielsweise in Friedrich-Wilhelm von Herrmanns Interpretation der Fall. Er spricht von einem »interexistenziellen Charakter« des Daseins, der daraus entspringt, dass die »Gliederung der Erschlossenheit als das existenziale Wesen der Sprache« zu verstehen ist (von Herrmann, Subjekt und Dasein, 160). Vgl. Katsuya Akitomi, Mitdasein und Gespräch, in: J. Weiß [Hrsg.], Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, Konstanz 2001, 219–232. Zum Verständnis der zwischenmenschlichen Dimension in Heideggers Spätwerk vgl. Ute Guzzoni, »Anspruch« und »Entsprechung« und die Frage der Subjektivität, in: U. Guzzoni [Hrsg.], Nachdenken über Heidegger. Eine Bestandsaufnahme, Hildesheim 1980, 117–135; Radomír Rozbroj, Gespräch. Die zwischenmenschliche Problematik im Spätwerk Heideggers, Würzburg 2008. 159 Heidegger, Gedachtes, GA 81, 240. 160 Vgl. Heidegger, Johann Peter Hebel, GA 16, 532. 161 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 62. 162 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 37–38: »Die Sprache ist nicht nur ein Werkzeug, das der Mensch neben vielen anderen auch besitzt, sondern die Sprache gewährt überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen.« 163 Vgl. Rozbroj, Gespräch, 273. 164 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 39. 165 Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 239.
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Die Sprache der echten Öffentlichkeit: Das Schweigen und das Hören
jedeiner zuvor ausgesetzt ist in die Nähe und Ferne des Wesens der Dinge.« 166 Die Erfahrung eines Dings versammelt nicht nur das Geviert, 167 sondern auch die Menschen. Solange diese Erfahrung eine Wesenserfahrung ist, werden die Menschen durch die im Ding geschehende Wahrheit zu einer Gemeinschaft. Diese »Nähe und Ferne des Wesens der Dinge« geschieht jedoch nur durch die Sprache, das heißt durch diejenige eigentliche Sprache, die die ursprüngliche Stiftung des Seins ist. Das Miteinandersprechen heißt deshalb für Heidegger »zusammen von etwas sagen, einander solches zeigen, was das Angesprochene im Besprochenen besagt, was es von sich her zum Scheinen bringt«. 168 Nur sozusagen »von Selbst« kann es echte Gemeinschaft geben: »Erst wenn wir von der zuvor erfahrenen Wesensmacht der Dinge her auf uns zurückkommen, kommen wir zueinander und sind mit- und für einander – von selbst, und zwar im strengen Sinne des Wortes ›von Selbst‹.« 169 Aus diesem Grund bemüht sich Heidegger zu betonen, dass wir »ein« Gespräch sind. »Die Einheit eines Gesprächs besteht aber darin, daß jeweils im wesentlichen Wort das Eine und Selbe offenbar ist, worauf wir uns einigen, auf Grund dessen wir einig und so eigentlich wir selbst sind.« 170 Wenn wir »ein« Gespräch sind, dann sprechen wir nicht in der Weise des Geredes, sondern unsere Sprache bezieht sich auf dasselbe Wort, und dieses Wort, das wir sprechen, ist in der Sache selbst verwurzelt. »Wo ein Gespräch sein soll, muß das wesentliche Wort auf das Eine und Selbe bezogen bleiben.« 171 Damit ist aber gesagt, dass wir, wenn wir »ein« Gespräch sind, dieselbe Wahrheitserfahrung teilen. Das echte Miteinandersein geschieht, wie wir wissen, nur aus einer gemeinsamen Wahrheitserfahrung heraus. Das meint Heidegger, wenn er sagt, dass »das Gespräch und seine Einheit […] unser Dasein [trägt]«. 172 Sind wir aber »ein« Gespräch, dann sind wir eine Gemeinschaft. Lapidar sagt Heidegger: »Der Einzelne hat nicht ›Gemeinschaft‹ zu seinem Gegen-teil. Deshalb [ist, D. A.] auch nicht das Aufgehen in ihr und Verschmelzung mit ihr seine Bestimmung, zumal wenn Ge166 167 168 169 170 171 172
Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 73. Siehe das VII. Kapitel dieser Arbeit. Heidegger, Der Weg zur Sprache, GA 12, 241. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 73. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 39. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 39. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 39. A
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meinschaft = Sichgemeinmachen mit denen, die gemeinhin mit sich und ihrer Leere nichts anzufangen wissen, sondern er hat überhaupt kein ›Gegen‹ auf der selben Ebene, weil er im Zwischen – dieses selbst ist«. 173
4.
Selbstsein in ursprünglicher Gemeinschaft
»Volk« und »Gemeinschaft« werden für Heidegger aus dem möglichen Selbstsein des Daseins gedacht. 174 Die Frage »Wer sind wir?« ist, wie Heidegger in den Beiträgen feststellt, »trotz des ›wir‹ doch auf uns selbst zurück gerichtet«. 175 Er sagt sogar, dass diese Frage »der einzige Weg, um zu uns selbst zu kommen«, ist. 176 Diese Wer-Frage hat Heidegger bereits in seiner Vorlesung aus dem SS 1934 gestellt. Fragen wie »Wer sind wir?« oder »Wer bin ich?« beziehen sich ursprünglich nicht auf die Subjektivität eines Ich oder auf die Intersubjektivität eines Wir. Vielmehr weisen diese Fragen immer auf das Selbst hin. 177 Die WerFrage ist wesentlich mit der Frage nach dem Selbst verbunden, und zwar deshalb, weil der Mensch für Heidegger immer mehr als bloß ein Ich ist. Die Selbstheit ist »die Voraussetzung für die Möglichkeit der Ichheit, die immer nur im Du sich erschließt«. 178 Nur von der Selbstheit her gibt es die eigentliche Möglichkeit der mitmenschlichen Beziehung. Denn für Heidegger kann die Selbstheit des Menschen erst aus der Gründung des »Da-seins« heraus geschehen, das heißt aus der ständigen und aktiven Anerkennung des menschlichen Wesens als des Ortes der Offenheit für das Erscheinen des Seienden. Erkennen sich die Menschen als diese Offenheit, dann gehört alles, was sich darin frei gibt, allein zu dieser Offenheit. Wenn der Mensch sich in seinem offenen und eröffnenden Wesen 173 Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Das Da-sein und Das Seyn (Ereignis), in: Heidegger Studies 23 (2007), 9–17, hier 11. 174 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 319: »Nur vom Da-sein her ist das Wesen des Volkes zu begreifen.« 175 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 49. 176 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 54. 177 Vgl. Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 39: »Die Gefragten sind also je ein Selbst.« 178 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 157. Vgl. auch Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 40.
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hält, ist »erst dieses Bei-sich […] der zureichende Grund, um das Für Andere wahrhaft zu übernehmen«. 179 Der Mensch öffnet sich also wahrhaft für Andere, wenn er die Selbstheit bereits erreicht hat, da sie »ursprünglicher als jedes Ich und Du und Wir [ist]. Diese sammeln sich als solche erst im Selbst und werden so je sie ›selbst‹«. 180 In Besinnung führt Heidegger aus, dass gerade die »Selbstheit« des Menschen, die »in der Inständigkeit« seines Wesens als Da-sein gründet, »der Grund von Du und Ich, von Wir und Ich« ist. 181 Selbstheit fordert aber immer zuerst Vereinzelung: »Wir sind eigentlich wir nur in der Entscheidung, und zwar jeder vereinzelt.« 182 Das Volk setzt immer die Selbstheit des einzelnen Menschen voraus, denn nur im »Da-sein« eröffnet sich der Spielraum, in dem die das Volk vereinende Wahrheit des Seins auftreten kann. 183 Derselbe Vorrang des Selbst kommt zur Geltung, wenn von der »ursprünglichen Gemeinschaft« die Rede ist. Die ursprüngliche Gemeinschaft fordert »die vorgängige Bindung jedes Einzelnen an das, was jeden Einzelnen überhöhend bindet und bestimmt.« 184 Deshalb ist für Heidegger die Erfahrung des Todes dasjenige, das eine Gemeinschaft bindet. Der Tod ist diejenige Vereinzelung, aus der die »Kameradschaft der Frontsoldaten« geschehen kann. 185 Dasselbe gilt für die Möglichkeit der Freundschaft, die »nur aus der größtmöglichen inneren Selbstständigkeit jedes einzelnen, die freilich etwas ganz anderes als Ichsucht ist«, erwächst. 186 Darüber hinaus bedeutet die Anerkennung des Daseins in seiner Jemeinigkeit, dass sein Sein »dem MitHeidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 320. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 320. Vgl. auch Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 67: »Die Besinnung des anfänglichen Denkens ist vielmehr so ursprünglich, dass sie erst fragt, wie das Selbst zu begründen sein, in dessen Bereich ›wir‹, ich und du, je zu uns selbst kommen.« 181 Heidegger, Besinnung, GA 66, 117. 182 Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 58. Vgl. auch Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 157. 183 Vgl. Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 57: »Wir als Dasein fügen uns in eigener Weise hinein in der Zugehörigkeit zum Volk, wir stehen im Sein des Volkes, wir sind dieses Volk selbst.« 184 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 72. 185 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 72. Vgl. auch Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 283–284. 186 Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 59. Vgl. auch Heidegger, Aufsätze und Dialog, GA 75, 17. 179 180
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einander und Füreinander übereignet ist«. 187 Wenn Heidegger sagt, dass die »Bewahrung des Werkes […] das Für- und Miteinandersein als das geschichtliche Ausstehen des Da-seins aus dem Bezug zur Unverborgenheit [gründet]«, dann kann dies nur geschehen, weil diese Bewahrung des Werkes die Menschen »vereinzelt«, und zwar »nicht auf ihre Erlebnisse, sondern [diese] rückt sie ein in die Zugehörigkeit zu der im Werk geschehenden Wahrheit«. 188 Das echte Miteinandersein als die echte Gemeinschaft von Freunden und Kameraden ist für Heidegger nur aus der Selbstheit des Daseins möglich, die aber stets eine vorgängige Vereinzelung ihrer Mitglieder voraussetzt. Weil für Heidegger das Miteinandersein zuerst ein Miteinandersprechen ist, hängt von der Weise des Sprechens ab, wie das Miteinandersein gelebt wird. Während sich in der Öffentlichkeit die führende Form der Rede als das Be- und Ansprechen von etwas zeigt, ist das eigentliche Miteinandersein als die Bewahrung einer Offenheit für das Eintreten des Anderen gekennzeichnet, in der die Rede die Gestalt des Schweigens und Hörens annimmt. Ein schweigender, hörender Aufenthalt bedeutet also nichts anderes als »im Ungesprochenen [zu] wohnen«. 189 Im »Ungesprochenen zu wohnen« heißt, das Glauben an kategoriale Bestimmungen zu verlieren, so dass wir offen für die Kontingenz und ihre sich wandelnde Sinnerfahrung existieren können. »Die eigentliche Sprache kehrt in das Ungesprochene zurück – sie wohnt in ihm und kann nur deshalb Behausung sein.« 190 Der Vorrang des Ungesprochenen vor dem Ausgesprochenen entspricht Heideggers Überzeugung, dass die Domäne des Gemeinisvollen, des Wesens der Wahrheit als Verborgenheit, immer größer als ihre Enthüllung ist. 191 Somit gilt es für Heidegger sowohl auf das jeweilige Anwesende zu achten als auch den Raum für das noch nicht Anwesende, für das Unsichtbare und Unsagbare, frei zu halten. Und was könnte ethischer sein als die Aufforderung, etwas zu schützen einfach deswegen, weil es etwas ist? Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 164. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 55. 189 Heidegger, Aufzeichnungen und Entwürfe, GA 75, 279. 190 Heidegger, Das Gespräch, Heidegger Studies 19 (2003), 24. 191 Vgl. Diana Aurenque, Literatur, Öffentlichkeit und Geheimnis. Die heideggersche Unterscheidung von geschrieben-ausgesprochenem und schweigend-hörendem Wort, in: D. Espinet [Hrsg.], Schreiben Dichten Denken. Zu Heideggers Sprachdenken, Frankfurt a. M. 2010, 13–28. 187 188
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Selbstsein in ursprünglicher Gemeinschaft
Für Heidegger ist also die »ursprüngliche Gemeinschaft« immer erst aus der Selbstheit des Menschen möglich, die zugleich eine Vereinzelung auf das Selbst fordert. Hierbei zeigt sich, dass die Vereinzelung als Weg zur Einsamkeit und zum Selbstsein das wahrhafte Miteinandersein ermöglicht. Das Spätwerk Heideggers ist wie auch sein frühes Philosophieren zwar durch den Primat des Selbst geprägt, doch dieser Primat bedeutet nicht, dass das philosophische Ethos des Selbst mit echter Gemeinschaft unvereinbar wäre. Vielmehr trägt dieser Vorrang (anders als Lévinas meint) ein ethisches Gewicht in sich, denn die ursprüngliche, echte Gemeinschaft ist eine in der Wahrheit der Existenz und damit in der Sache der Philosophie selbst verwurzelte Gemeinschaft.
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Abschluss
1.
Auf der Suche nach Wahrheit und Freiheit
Im Laufe dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die Problematik »Heidegger und die Ethik« als eine Ethosproblematik eine berechtigte Fragestellung ist. Es besteht kein Zweifel: Heideggers Denken lässt sich als eine Suche nach dem angemessenen Ethos des Menschen interpretieren. Um diese Interpretation zu begründen, wurde zum einen gezeigt, dass Heidegger tatsächlich ein Ethosdenken entwickelt, und zum anderen, dass in diesem Denken eine bestimmte Form des Ethos, eine exemplarische Weise des Aufenthaltes, den Vorrang vor anderen Möglichkeiten des Ethos hat. Dieses exemplarische Ethos wird in der gesamten Philosophie Heideggers als ein Aufenthalt des Menschen in der Nähe der Wahrheit gedacht, in dem das in sich strittige Wesen der Wahrheit bewahrt wird. Heideggers Auffassung der Wahrheit verändert sich aber durch die Akzentverschiebung im Verhältnis von Sein und Dasein, so dass ihre Bewahrung im Verlauf von Heideggers Denkweg jeweils anders verstanden wird. Während das rechte Ethos beim jungen Heidegger ein beim Handeln verweilendes Ethos ist, das heißt ein Ethos, bei dem der Mensch wach in der Phronesis verweilt, zeigt sich das rechte Ethos in seiner Spätphilosophie anders. Denn nun wird Wahrheit als die Wahrheit des »Seyns« verstanden. In diesem veränderten Seins- und Wahrheitsverständnis geht es um das Wohnen des Menschen in der Nähe des Seins, das nicht mehr paradigmatisch im Tun als Bewerkstelligen erreicht werden kann, sondern durch den dichterischen Aufenthalt des Menschen im Geviert. Obwohl beide Auffassungen von Wahrheit erhebliche Unterschiede aufweisen, bleibt Heidegger dem Gedanken der Verwurzelung der angemessenen Haltung des Menschen in der Wahrheit treu. Das in der Wahrheit verwurzelte Ethos ist jedoch keine Haltung, die als eine si336
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chere Stellung des Menschen in der Welt zu beschreiben wäre. Vielmehr heißt dieses Ethos, dieser Aufenthalt, das Unsichere im menschlichen Leben, das ständige Spiel des Sichzeigens und Sichentziehens der Phänomene nüchtern vor Augen zu behalten. Mit Heidegger gesagt: »Der Aufenthalt in der 3Alhqeia und diese als das den Aufenthalt Gewährende erfahren, heißt: Ihr Unsichtbares als das in allen Dingen Unsichtbare erblicken, das jegliches Anwesende erst in die Sichtbarkeit und Vernehmbarkeit freigibt und darin aufbehält, jenes Unsichtbare, das als entbergendes Bergen sich jeder Versinnlichung enthält.« 1 Heideggers Philosophie ist somit als eine nicht objektivierende Anleitung des Menschen zur Befreiung zu seinem Selbstsein zu verstehen, die einen verbindlichen Charakter enthält, auch wenn sie keine Normen formuliert. Die Befreiung des Menschen, die Heideggers Philosophie zu erreichen sucht, artikuliert sich nicht normativ, sondern im hermeneutischen, kritischen Gestus seines Denkens. Während beim jungen Heidegger die Selbstentfremdung des Menschen dadurch zum Ausdruck kommt, dass das öffentliche Selbst des Daseins als »Man« verstanden wird, zeigt sie sich beim späteren Heidegger als Entwurzelung des Wesens des Menschen im Zeitalter der modernen Technik. Heideggers Aufforderung an den Menschen zur Selbsterkenntnis wurde als das sokratische Moment seiner Philosophie bezeichnet, das die Bedingung für den eigentlichen Aufenthalt des Menschen ist. Der Mensch soll für sich selbst eine offene Frage werden, das heißt, er soll eine gewisse Distanz zu seiner erreichten Existenz gewinnen, um so die Transparenz seines Seins erreichen zu können. 2 Nur dann kann der Mensch sich von der Fessel der Alltäglichkeit lösen, sich von dem Gedankenlosen und dem selbstverständlich Gewordenen befreien. Durch die Fraglichkeit des Menschen bricht seine alltägliche Vertrautheit mit der Welt und mit sich selbst in sich zusammen; der Mensch distanziert sich vom Gewöhnlichen, das zum Sinnlosen geworden ist. Gerade in der Unterscheidung zwischen einem »vulgären« und gewöhnlichen – als dem »uneigentlichen« oder »entwurzelten« – und einem »wachen« – als dem »eigentlichen« oder »dichterischen« – Aufenthalt des Menschen zeigt sich der verbindliche Charakter von Heideggers Überlegungen. Heidegger, Griechenlandreisen, GA 75, 234. Vgl. Heidegger, Die metaphysische Grundstellungen des abendländischen Denkens, GA 88, 5: »Ein Grundzug des Da-seins: das Fragen. Was fragen wir: die Grundfrage nach der Wahrheit des Seyns.«
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Dieser verbindliche Charakter zeichnet sich nicht dadurch aus, dass Heidegger dem Menschen einen konkreten Inhalt anbieten könnte. Jede im Voraus etablierte Bestimmung der menschlichen Existenz ist für Heidegger nicht nur bodenlos, sondern verdeckt sogar deren eigentliche Unbestimmtheit. Das Verbindliche zeigt sich weder in der Form einer Norm noch eines Wertes, sondern nur in der Auszeichnung, die Heidegger einem Modus des menschlichen Aufenthaltes zuspricht. Das alltägliche Ethos mit seiner Neigung zur Bequemlichkeit und zum selbstverständlichen Zuhausesein vermag es ebenso wenig wie die theoretische Haltung der Wissenschaften mit ihrem vergegenständlichenden Blick, die Wahrheit zu bewahren. Nur indem der Mensch sich aus der Transparenz seines Seins für die Wahrheit entschließt, wenn er sich bewusst für einen offenen und gelassenen Aufenthalt in der »Wahrheit« genannten Offenheit entschließt, gehorcht er nicht mehr der alltäglich-blinden Haltung, sondern gelangt in das eigentliche Ethos. Die Möglichkeit eines eigentlichen und deshalb auch für Andere exemplarischen Ethos kommt also für den Menschen weder vom Himmel noch aus seiner Willkür. Dieses Ethos bedarf des Mutes, die Existenz als etwas Wankendes zu verstehen und sie als eine sich wandelnde Bindung an das Sichzeigen und Verbergen von Wahrheit bestehen zu lassen. Darin erklärt sich noch einmal die Bedeutung des bei Heidegger ständig wiederkehrenden Motivs der Wachheit und der Erweckung. Der Mensch muss aus seiner alltäglichen, unbewussten Seinsweise »geweckt« werden. Gerade diese Geste, die den philosophischen, differenzierten und nicht mehr blinden Aufenthalt des Menschen hervorhebt und durch die die Übernahme der eigenen Seinsweise des Menschen geschieht, macht das Ethische in Heideggers Denken aus. Die Pointe des Ethischen als Ethos bei Heidegger liegt gerade darin, dass dabei die Begriffe von Freiheit, Wahrheit und Verantwortung implizit und explizit stets gegenwärtig sind.
2.
Die ursprüngliche Ethik als das Ethos in der Entsprechung zum Sein
Zweifellos gehört die Rede von Gespräch, Entsprechung und Antwort wesentlich zu Heideggers Spätwerk. Aber auch in seinem Frühwerk ist das Dasein bereits ein antwortendes. Dieser Charakter des Daseins lässt sich erkennen, wenn man noch einmal auf das Verständnis des Daseins 338
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als eines handelnden zurückkommt. Das Dasein kann seine jeweilige Situation nicht gestalten. Es ist einfach da als ein in die Situation geworfenes Seiendes. Sein Existieren bedeutet daher ein Umgehenmüssen mit dem, das ihm begegnet. Dieses Umgehenmüssen, die Notwendigkeit zu handeln ist eigentlich ein Antworten auf dasjenige, was auf das Dasein selbst zukommt. 3 Bereits in Heideggers Frühwerk gehört es wesentlich zum menschlichen Dasein, dass es auf seine Existenz antwortet. Heidegger geht es gerade darum, dass das Dasein seine Existenz als eine auf eine jeweilige Situation antwortende übernimmt. Diese Überantwortung und Verantwortung zu übernehmen heißt, sich auf das, was in der Situation entdeckt wird, einzulassen. Weil das innerweltliche Seiende – Dinge und Menschen – jeweils im Handeln in bestimmter Weise erst entdeckt wird, kommt es für Heidegger darauf an, dass das Dasein sich in der Situation wachsam für diese Jeweiligkeit hält. Das wache Verweilen bei etwas, das sich in der Situation ergibt, geschieht für den jungen Heidegger im Augenblick. Darüber hinaus hat Heideggers Aufforderung zur Rückkehr in die Situation zuallererst den Zweck, das Seiende, das sich selbst in der Situation so und so gibt, nicht aus den Augen zu verlieren. Die Übernahme der Überantwortung des Daseins ist zweifach zu verstehen: Zum einen geht es um die Übernahme seines eigenen Seins als ein Seinkönnen, das zugleich die Verantwortung gegenüber seiner eigenen Existenz fordert; zum anderen geschieht diese Übernahme als Übernahme seiner geworfenen Situation durch seine Offenheit für das Jeweilige, durch sein Sicheinlassen auf die sich jeweils in der Situation gebende Wahrheit des Seienden. Die Aufforderung zum Verweilen im Augenblick und damit zur eigentlichen Existenz des Daseins hat die Bewahrung der Wahrheit zum Ziel. Bereits in Heideggers Frühwerk geht es also darum, dass das Dasein seine Existenz in eine Entsprechung zur Wahrheit bringt. Die Anerkennung der Wahrheit der Existenz, auf die Sein und Zeit zielt, ist sozusagen die Anerkennung einer höheren Pflicht der menschlichen Existenz, nämlich der Pflicht zur Wahrheit. Das faktische Ideal in Sein und Zeit ist der Wahrheit verpflichtet. Damit zeigt sich, dass es bereits im Hauptwerk Heideggers um einen bestimmten Aufenthalt des Menschen – sein Existieren in
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Vgl. McNeill, The Time of Life, 102. A
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der Welt – geht, den es in der Entsprechung zum Sein und dessen Wahrheit zu gestalten gilt. 4 Geht man davon aus, dass die Dynamik von Anspruch und Entsprechung mit guten Gründen als das Herz von Heideggers spätem Denken verstanden werden kann, 5 dann scheint eine Interpretation dieses Denkens als Verkörperung einer ursprünglichen Ethik zutreffend zu sein. 6 Das angemessene Ethos ist nun nichts anderes als das Ethos, das in der Entsprechung zum Sein, in der Zugehörigkeit zum Ereignis geschieht. Wie diese Entsprechung geschieht, ist anhand von Heideggers Verständnis des dichterischen Wohnens im Geviert zu verstehen. Das Verhältnis von Antwort und Verantwortung geht im Spätwerk Heideggers von der Überantwortung des Menschen an das Sein aus. Diese Überantwortung ist im Spätwerk anders als in Sein und Zeit gedacht, da der Gedanke der Angewiesenheit des Menschen auf das Sein radikalisiert wird. Heidegger gibt im Humanismusbrief und den Beiträgen eine Korrektur des Begriffes der Geworfenheit aus Sein und Zeit: 7 Die Überantwortung an das »Seyn« verlangt nun die Verantwortung des Daseins, die sich in seiner Selbsterkenntnis als der »Wächter des Seyns« manifestiert. Mit dieser Anerkennung geschieht sowohl das Zurückkehren des Daseins in sein Wesen als auch die Möglichkeit des Sicheinlassens auf die Wahrheit des »Seyns«. 8 Dieses Sicheinlassen bedeutet die Achtsamkeit für die sich jeweils im konkreten Gefüge der Welt ergebenden Phänomene. Das Antworten auf das »Seyn« geschieht in der Vgl. Riedel, Hören auf die Sprache, 276. Vgl. Ute Guzzoni, »Anspruch« und »Entsprechung« und die Frage der Subjektivität, 118: »Das Denken des späteren Heidegger könnte insgesamt unter die Überschrift ›Das Verhältnis von Anspruch bzw. Zuspruch und Entsprechung‹ gestellt werden.« 6 Vgl. Kettering, NÄHE, 369; Santiesteban, Die Ethik des »anderen Anfangs«, 234; Seel, Heidegger und die Ethik des Spiels, 244. 7 Das Geworfensein des menschlichen Daseins besagt nun die Vorbestimmung unseres Seins durch das Seyn selbst, sofern es sich nur »im Wurf des Seins als des schickend Geschichtlichen« gründet (Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 327). In den Beiträgen wird die Geworfenheit deshalb als die »Überantwortung an die Wächterschaft des Seyns« bezeichnet, in die der Mensch geworfen ist (Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 490). »Da-sein« als Entwurf wird also nun »als Entwerfung der Wahrheit des Seyns (›Da‹)« verstanden (Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 295). 8 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 317: »Die Zugehörigkeit zum Seyn aber west nur, weil das Sein in seiner Einzigkeit das Da-sein braucht und darin gegründet und es gründend den Menschen. Anders west keine Wahrheit.« 4 5
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Die ursprüngliche Ethik als das Ethos in der Entsprechung zum Sein
Form eines Hörens auf die Phänomene in einer Weise, die diese nicht kategorial begreift oder bloß mit ihnen rechnet. Es ist ein rechtes Hören, das sich auf die Offenheit der Welt und ihre Tiefe einlässt. 9 Für Lévinas dagegen exponiert sich der Andere durch sein Antlitz, und dieses Antlitz ist es, das mich zu einer ethischen Beziehung herausfordert. Interessanterweise ist diese ethische Beziehung für Lévinas im sprachlichen Sinne gedacht; für ihn ist die Sprache von Grund auf ethisch. Gerade darin liegt nun auch eine Gemeinsamkeit mit dem Projekt Heideggers. Der Mensch übernimmt seine Verantwortung für das Sein, wenn er sein Leben in die Entsprechung zum Sein bringt. Diese Entsprechung geschieht aber nur sprachlich. In der Entsprechung zum Sein zu wohnen heißt, der Sprache zu entsprechen. Unsere Worte sollen der Sache selbst entsprechen. Heideggers Verständnis der Dynamik von Anspruch und Entsprechung, einer Entsprechung, die sich als Antwort und Verantwortung des Daseins realisiert, ist somit eine ontologische Transposition des moralischen Verständnisses von Antwort und Verantwortung. 10 Das Ethos, auf das Heidegger zielt, ist als philosophisches Ethos eine Alternative zur christlich-neuzeitlichen Haltung. Wenn man Heideggers Verständnis der Wahrheit rein formal betrachtet, dann scheint es so, als ob der Mensch sich nicht vor den anderen Menschen verantworten müsste. Doch Heideggers Wahrheitsauffasung ist geschichtlich, das heißt, sie trägt ihre Negativität, ihre Unwahrheit in sich. Diese Geschichtlichkeit der Wahrheit ist in den Phänomenen selbst zu erfahren. Ein Phänomen zeigt sich als dieses und jenes, eröffnet das Geviert als jeweiliges »Spiegel-Spiel« und verschließt damit zugleich andere Möglichkeiten seines Sichzeigens und des Gevierts. Sich auf die Wahrheit des Seins einzulassen, heißt nicht, sich auf ein unverständliches Abstraktum einzulassen. Man soll vielmehr all das, was es im Geviert gibt, als es selbst beachten; sowohl die Dinge als auch die Menschen werden so frei für ihr je eigenes Auftreten.
Wie Ute Guzzoni sagt, wird der Mensch, der sich in der Zugehörigkeit zum Sein erkennt, »als zuhörendes und zugehörendes Sich-Einlassen auf … verstanden, als Eingehen auf die Eigenart des jeweils Anderen als eines Anderen, das von sich aus, aus seinem Welt- und Bedeutungszusammenhang heraus, dem Menschen etwas zu sagen hat, auf das er hören und dem er antworten kann« (Guzzoni, »Anspruch« und »Entsprechung« und die Frage der Subjektivität, 119). 10 Vgl. Cerezo, De la existencia etica a la existencia originaria, 70. 9
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Dieser Gedanke hat unübersehbar ein ethisches Gewicht, weil es darum geht, die Gelassenheit des Menschen zu betonen, die sich als die Freiheit für das Andere realisiert. Einwände gegen diesen Gedanken kommen erst auf, wenn man der Meinung ist, dass zum anderen Menschen eine definite moralische Auszeichnung gehört, wie das etwa Lévinas annimmt. Die Besonderheit des Menschen lässt sich für Heidegger nicht anhand einer moralischen Bestimmung verstehen, wie etwa der Vorstellung vom Menschen als Person, der die Überzeugung einer inhärenten Würde des Menschen zugrunde liegt. Vielmehr zeichnet sich der Mensch dadurch aus, dass er der offene Ort des Seins ist, und als solche Ortschaft des Seins soll er sich selbst erkennen. Ortschaft des Seins zu sein bedeutet, die Offenheit für das Sein zu bewahren, und fordert deshalb die Einsicht, dass alle vorgefassten Maßstäbe, wie etwa die moralische Norm und das juristische Recht, die zu einer Gesellschaftsordnung und politischen Konzeption gehören, nicht ursprünglich sind. Die ontologische Transposition des moralischen Verständnisses, die man bei Heidegger findet, wird vor allem deutlich, wenn man Heideggers Ethosdenken noch einmal mit Lévinas’ philosophisch-ethischem Projekt vergleicht. Wie unterschiedlich auch immer ihre Philosophien sein mögen, so geht es doch sowohl Lévinas als auch Heidegger darum, auf eine Andersheit aufmerksam zu machen und diese Andersheit sein zu lassen. Zwar ist bei Lévinas das Andere der Andere im moralischen Antlitz und nicht das Andere im Sein wie bei Heidegger. Doch trägt gerade diese radikale Offenheit von Heideggers Denken für das Andere eine ethische Möglichkeit in sich. Denn es geht dabei darum, alles andere, Dinge und Menschen, frei für sich zu lassen.
3.
Zwischen antiker Ethik und entpolitisiertem Ethos
Wenn man bedenkt, dass die Ethik seit ihrem griechischen Ursprung im Sinne einer Lehre vom besten Leben konzipiert worden ist, dann zeigt sich, dass Heideggers Philosophie trotz der moralischen Neutralität des Daseins dieser antiken Auffassung der Ethik treu bleibt. Zwar entwickelt Heidegger keine normative Vorstellung von einem »guten« Leben, wohl aber von einem »eigentlichen«. Er stellt auf eine nicht metaphysische Weise eben die metaphysisch-ethischen Fragen der An342
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Zwischen antiker Ethik und entpolitisiertem Ethos
tike nach dem guten Leben, nach der praktischen Wahrheit und nach der Auszeichnung des menschlichen Handelns neu. Heideggers Denken wird von dem (platonisch-augustinischen) Gedanken einer Dualität zwischen einem schlafenden und einem wachen Leben in vielfältigen Differenzierungen und Abwandlungen geleitet, zum Beispiel als die Dualität von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit oder von Seinsentwurf im Gestell und dem im Geviert. Es geht Heidegger immer wieder um die Unterscheidung zwischen dem Bloßen und dem Echten, zwischen herkömmlicher Wahrheit und ursprünglicher Wahrheit als Verborgenheit, zwischen neugierigem Hören und »rechtem Hören«, dogmatischer und »ursprünglicher« Logik, bodenloser und »ursprünglicher« Ethik. Es gibt eine exemplarische Weise des menschlichen Lebens, die es, obwohl sie niemals vollständig erreicht werden kann, zu suchen gilt. Dieses rechte Ethos ist ein waches, kritisches und als solches philosophisches Ethos, da es im Dienste der Wahrheit steht. Die Hervorhebung eines Ethos, bei dem der Bezug auf das Wahre im Mittelpunkt steht, ist ein Gedanke, der bereits von Platon und Aristoteles vertreten wurde. 11 So wie die platonische und die aristotelische Philosophie versuchen, das philosophische Leben als die höchste Form des menschlichen Lebens zu bestimmen, so versucht dies auch Heidegger. Platons, Aristoteles’ und Heideggers Denken sind durch ein richtunggebendes Prinzip geleitet. Bei Heidegger fehlt die ausdrücklich moralische Qualität des Guten als einer Tugend. Bei Aristoteles dagegen ist der Philosoph als ein weiser Mensch zugleich ein guter und ein gerechter Mensch, weil für ihn Weisheit, Güte und Gerechtigkeit Tugenden sind, und diese Tugenden sind aufeinander bezogen. 12 Auch Platon – und natürlich Sokrates – werden durch den sogenannten »ethische Determinismus« geleitet, der die Möglichkeit ausschließt, Böses und Schlechtes zu wollen. 13 Dies ist bei Heidegger anders, da Heidegger keine Theorie der Tugend entwickelt. Für Heidegger heißt ein Philosoph zu sein (was wir im Grunde unseres Wesens sind, jedoch nicht alle gleichermaßen zu erkennen vermögen) nicht ausdrücklich, der beste und gleichzeitig auch ein gerechter Mensch zu sein, sondern lediglich 11 Bereits Aristoteles sagt deutlich, dass der Philosoph im Dienste der Wahrheit steht. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1096a. 12 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1144b. 13 Marcus Düwell, Ethik-Handbuch, 360.
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derjenige, der das strittige Wesen der Wahrheit erkennt und in ihrer Nähe zu bleiben versucht. Daraus, dass Heideggers Ethosdenken nicht nur am antiken Modell der Ethik orientiert ist, 14 sondern Heidegger auch die praktische Philosophie Aristoteles ontologisiert, wird verständlich, dass sein Denken einen Vorrang des Selbst kennt. 15 Während die Moderne eine »Ethik des Richtigen« zu gestalten versucht, findet man bei Heidegger eine Umdeutung des klassischen Verständnisses der Ethik als einer »Ethik des Guten«, als einer Lehre vom besten Leben. 16 Die moderne Ethik, die sich auf Normen und Werte bezieht, denkt gerade nicht den ursprünglichsten Aufenthalt des Menschen. 17 Das »beste« Leben versteht Heidegger weder moralisch als das »gute Leben« noch politisch als das beste Leben »in der Polis«, sondern ontologisch, das heißt als dasjenige Leben, das in der Entsprechung zum Sein geschieht. Der moralisch-politische Charakter des gemeinsamen Lebens spielt dabei nicht die entscheidende Rolle, denn »wesentlicher als alle Aufstellung von Regeln ist, daß der Mensch zum Aufenthalt in die Wahrheit des Seins findet«. 18 Und selbst wenn Heidegger aus politischen Gründen über die Polis nachdenkt, ist sein »politisches Denken« alles andere als traditionelle Politik. Die Frage, ob allein dieses philosophische Ethos ausreicht, um dem zwischenmenschlichen Leben in seiner Komplexität gerecht zu werden, ist nicht leicht zu beantworten. Doch man muss eines zugestehen: Da wir in einer globalisierten Gesellschaft existieren, in der wir zusammen mit Anderen leben, mit denen wir nicht notwendigerweise eine Gemeinschaft bilden, kann Heideggers Ethosdenken mit seiner Aufforderung zur Offenheit für das Andere – und das heißt: zu Toleranz und Pluralismus – in entscheidendem Maße dazu beitragen, spezifische Wert– und Moralvorstellungen in Frage zu stellen und einen neuen Vgl. Cerezo, De la existencia etica a la existencia originaria, 60. Wie Otfried Höffe angemerkt hat, gehört zur antiken Ethik ein Defizit, das gerade das ethische Projekt der Moderne zu bewältigen versucht: »Das Defizit betrifft die Gerechtigkeit als Eigenschaft eines Gemeinwesens« (Höffe, Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt, 29). 16 Vgl. Seel, Heidegger und die Ethik des Spiels, 258. 17 Vgl. Hermann Mörchen, Heideggers Satz: »Sein« heißt »An-wesen«, in: Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten, hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1989, 176–200, 191. 18 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 361. 14 15
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ethischen Diskurs zu gestalten. In diesem ginge es darum, wie ein wahrhaftiger Aufenthalt für jeden Menschen als wahren Menschen möglich wäre. Die ethische Stoßrichtung in Heideggers Ethosdenken besteht in der Aufforderung zu einer Offenheit für das Andere, die sich als ein Schutz für die Freiheit des Anderen verstehen lässt. Heideggers Aufforderung zur Offenheit geschieht nicht um des anderen Menschen willen, sondern um des Seins willen. Selbst Heideggers augustinische Auffassung der Liebe als volo ut sis wird nicht zu einer Nächstenliebe als amor benevolentiae, weil in der heideggerschen Liebe das Begehren zur Entsprechung zum Sein führt. Heideggers Auffassung der Liebe zeigt sich vor allem als eine Umdeutung des griechischen Verständnisses der Philosophie und ihrer Liebe zur Weisheit. Die Liebe zur Wahrheit, die die klassische Suche des Philosophen nach der Weisheit eigentlich motiviert, ist jedoch nicht mit der Liebe zum Guten gleichzusetzen. Hannah Arendt hat diesen Unterschied deutlich erkannt. Während der Philosoph in die Einsamkeit geht, kann derjenige, der die Liebe zum Guten ergriffen hat, es sich ein Leben in der Einsamkeit nicht leisten. 19 Die Liebe zum Guten geht es also nicht zwangsläufig mit der Liebe des Philosophen einher, weil der Philosoph in seiner Einsamkeit auf die Begleitung der Anderen verzichtet und damit in gewissem Maße der Welt den Rücken kehrt. Gewiss geht es im Ethosdenken Heideggers allein um das philosophische Ethos. Jedoch ist dieses Ethos nicht unbedingt ein einsames Ethos. Zwar übt Heidegger immer wieder Kritik an der Öffentlichkeit und damit an der öffentlichen Ausgelegtheit und den öffentlichen Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Doch stellt er der alltäglichen Öffentlichkeit die »echte Öffentlichkeit« gegenüber. Diese echte Öffentlichkeit ist diejenige Öffentlichkeit einer echten Gemeinschaft, in der jedes Mitglied vereinzelt ist. Nur so sind sie wahrhaft miteinander verbunden, und nur daraus kann dann sogar eine Freundschaft zwischen ihnen entspringen. Die Einsamkeit versteht Heidegger damit als notwendige Voraussetzung für das eigentliche Miteinandersein. Nicht von ungefähr ist für Heidegger die eigentliche Sprache das Gespräch, das heißt die hörende Sprache, die offen ist für das, was noch nicht der Fall ist. Das achtsame Hören auf die sich frei gebenden Dinge und Menschen macht nicht nur das philosophische Ethos aus, sondern auch das Ethos des Menschen in der Gemeinschaft. Im »Mithören« gründet 19
Vgl. Arendt, Vita activa, 72–73. A
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das echte Miteinandersein, das nichts mit dem bloßen Zusammensein einer indifferenten Gruppe zu tun hat. Darin zeigt sich die ethische Dimension von Heideggers Auffassung der Sprache. Dass in Heideggers Philosophie eine ethische Dimension zu finden ist, kann also nicht geleugnet werden. Heidegger wirft zwar immer wieder Schlaglichter auf moralische und politische Fragen, entwickelt aber weder eine durchgängige politische Philosophie noch eine Moralphilosophie. Erst nachdem man sich dies vor Augen geführt hat, ist man in der Lage, die Entscheidung zu treffen, ob man mit Heideggers Verständnis der Philosophie und des philosophischen Ethos einverstanden ist. Die Beantwortung der Frage, ob ein philosophisches Ethos, das sich weder konstruktiv auf das Politische noch auf das Moralische bezieht, um die Fragen nach dem Guten, dem Gerechten, nach Legitimität usw. ausdrücklich zu beantworten, ausreichend ist, liegt jenseits der Grenzen dieser Arbeit. Ihr war die Aufgabe zugemessen, zu zeigen, dass die ethische Problematik in Heideggers Philosophie eine echte ist, insofern seine Philosophie sich als ein Ethosdenken interpretieren lässt. Dieses Ethosdenken steht nicht nur jenseits von Normativität, sondern stellt auch kein ethisches System dar, das alle konkreten Fragen der Ethik im Voraus beantworten könnte. Mit diesem sozusagen »ontologischen« Verständnis der Ethik als Ethos wandelt Heidegger auf seine eigene Weise (und völlig anders als Lévinas) die traditionelle Ethik als eine erste Philosophie ab. Die »ursprüngliche Ethik« ist zwar weder Ethik noch Ontologie. Doch sie ist ein ursprüngliches Denken, in dem das Ethos als das »Eigenste und Auszeichnende« 20 des Menschen verstanden wird. Das, was das philosophische Ethos Heideggers mit seiner radikalen Aufforderung zur Offenheit für das Andere uns zu lehren versucht, hat jedoch eine nicht zu widerlegende ethische Dimension. Denn Heideggers Ethosdenken fordert von uns, die Stellung des Menschen im Kosmos und sein Handeln tiefer und radikal anders als bisher zu bedenken. Die Anerkennung der Machtlosigkeit des Menschen gegenüber seiner eigenen Existenz wie auch gegenüber dem Anderen – Menschen wie auch Dingen – drückt sich aus als der unüberhörbare Ruf nach Aufmerksamkeit und Gelassenheit für all das, was wir einfach »Welt« nennen. Die Wahrheit aller Phänomene soll gerade im philosophischen Ethos erhalten werden. Man kann deshalb mit Recht sagen, dass das 20
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Heidegger, Heraklit, GA 55, 217.
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philosophische Ethos sich prinzipiell als ein phänomenologisches Ethos darstellt. Wie die Phänomene eigens zu sehen sind, kann niemals durch eine a priori vorhandene Vorstellung bestimmt werden, sondern einzig und allein aus diesen jeweiligen Phänomenen selbst und dem durch sie bestimmten Zusammenhang, aus dem sie erst erscheinen. Denn »vieles am Seienden vermag der Mensch nicht zu bewältigen. Weniges nur wird erkannt. Das Bekannte bleibt ein Ungefähres, das Gemeisterte ein Unsicheres. Niemals ist das Seiende, wie es allzu leicht scheinen möchte, unser Gemächte oder gar nur unsere Vorstellung.« 21 Von der unvermeidbaren Unsicherheit des menschlichen Lebens, von der Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit der Wahrheit kann uns weder eine normative Ethik noch eine politische Gerechtigkeit erlösen. Wie Heidegger sagt: »Nur noch ein Gott kann uns retten.« 22
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Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 39. Heidegger, Martin Heidegger im Gespräch, GA 16, 671. A
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Literaturverzeichnis
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Zitierweise
Die Schriften Martin Heideggers werden, soweit möglich, nach der Gesamtausgabe (GA) bei Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M., zitiert. Darüber hinaus wurden einige Texte aus dem Nachlass Heideggers berücksichtigt, die in den Heidegger Studies veröffentlicht sind. In den Fußnoten werden bei der Erstnennung eines Titels (mit Ausnahme der GA) die vollständigen bibliographischen Angaben gegeben. Bei allen weiteren Nennungen wird dann ein Kurztitel angeführt.
2.
Schriften Martin Heidegger
2.1 Martin-Heidegger-Gesamtausgabe (GA) GA 1 Frühe Schriften (1912–1916), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 1978. GA 2 Sein und Zeit (1927), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 1976. GA 3 Kant und das Problem der Metaphysik (1929), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 1976. GA 4 Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, hrsg. von F.-W. von Herrmann, 2 1996. GA 5 Holzwege (1935–1946), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 8 2003. GA 7 Vorträge und Aufsätze (1936–1953), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 2000. GA 8 Was heißt Denken? (1951–1952), hrsg. von P.-L. Coriando, 2002. GA 9 Wegmarken (1919–1958), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 3 1996. GA 11 Identität und Differenz (1955–1957), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 2006. GA 10 Der Satz vom Grund (1955–1956), hrsg. von P. Jaeger, 1997. GA 12 Unterwegs zur Sprache (1950–1959), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 1985. GA 13 Aus der Erfahrung des Denkens (1919–1976), hrsg. von H. Heidegger, 1983. GA 14 Zur Sache des Denkens (1962–1964), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 2007. GA 15 Seminare (1951–1973), hrsg. von C. Ochwadt, 1986. GA 16 Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910–1976), hrsg. von H. Heidegger, 2000. GA 17 Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 1922/23), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 1994.
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Schriften Martin Heidegger GA 18 Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (SS 1924), hrsg. von M. Michalsky, 2002. GA 19 Platon: Sophistes (WS 1924/25), hrsg. von I. Schüßler, 1992. GA 20 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (SS 1925), hrsg. von P. Jaeger, 2 1995. GA 21 Logik: Die Frage nach der Wahrheit (WS 1925/26), hrsg. von W. Biemel, 2 1995. GA 24 Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS 1927), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 2 1989. GA 25 Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (WS 1927/28), hrsg. von I. Görland, 3 1995. GA 26 Metaphysische Anfangsgründe der Logik (SS 1928), hrsg. von K. Held, 2 1990. GA 27 Einleitung in die Philosophie (WS 1928/1929), hrsg. von O. Saame, 1997. GA 29/30 Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (WS 1929/30), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 1983. GA 34 Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (WS 1931/32), hrsg. von H. Mörchen, 1988. GA 36/37 Sein und Wahrheit (SS 1933 und WS 1933/34), hrsg. von H. Tietjen, 2001. GA 38 Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (SS 1934), hrsg. von G. Seubold, 1998. GA 39 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (WS 1934/35), hrsg. von S. Ziegler, 3 1999. GA 40 Einführung in die Metaphysik (SS 1935), hrsg. von P. Jaeger, 1983. GA 42 Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) (SS 1936), hrsg. von I. Schüßler, 1988. GA 45 Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik«, hrsg. von F.-W. von Herrmann, 1992. GA 51 Grundbegriffe (SS 1941), hrsg. von P. Jaeger, 2 1991. GA 52 Hölderlins Hymne »Andenken« (WS 1941/42), hrsg. von C. Ochwadt, 2 1992. GA 53 Hölderlins Hymne »Der Ister« (SS 1942), hrsg. von W. Biemel, 2 1993. GA 54 Parmenides (WS 1942/43), hrsg. von M. S. Frings, 2 1992. GA 55 Heraklit (SS 1943 und SS 1944), hrsg. von M. S. Frings, 3 1994. GA 56/57 Zur Bestimmung der Philosophie (KNS 1919 und SS 1919), hrsg. von B. Heimbüchel, 1987. GA 58 Grundprobleme der Phänomenologie (WS 1919/20), hrsg. von H.-H. Gander, 1993. GA 59 Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (SS 1920), hrsg. von C. Strube, 1993. GA 60 Phänomenologie des religiösen Lebens (WS 1920/21 und SS 1921), hrsg. von M. Jung, T. Regehly und S. Strube, 1995. GA 61 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 1921/22), hrsg. von W. Bröcker und K. Bröcker-Oltmanns, 2 1994. A
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Literaturverzeichnis GA 62 Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik (SS 1922), hrsg. von G. Neumann, 2005. GA 63 Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (SS 1923), hrsg. von K. Bröcker-Oltmanns, 1988. GA 64 Der Begriff der Zeit (1924), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 2004. GA 65 Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 2 1994. GA 66 Besinnung (1938/39), hrsg. von F.-W. von Herrmann, 1994. GA 69 Die Geschichte des Seyns (1938/40 und 1939), hrsg. von P. Trawny, 1998. GA 75 Zu Hölderlin – Griechenlandreisen, hrsg. von C. Ochwadt, 2000. GA 77 Feldweg-Gespräche (1944/45), hrsg. von I. Schüßler, 1995. GA 79 Bremer und Freiburger Vorträge, hrsg. von P. Jaeger, 2 2005. GA 81 Gedachtes, hrsg. von P.-L. Coriando, 2007. GA 88 Seminare, hrsg. von A. Denker, 2008. 2.2 Heideggers Texte aus dem Nachlass (Heidegger Studies) Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Das Da-sein und das Seyn (Ereignis), Heidegger Studies 23 (2007), 9–17. Heidegger, Briefe Martin Heideggers an Julius Stenzel (1928–1932), Heidegger Studies 16 (2000), 11–33. Heidegger, Die Dichtung. Filosoyffla – Pofflhsi@. Das Gespräch, Heidegger Studies 19 (2003), 13–28. Heidegger, Seinsvergessenheit, Heidegger Studies 20 (2004), 9–14. 2.3 Briefe Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hrsg. von U. Ludz, Frankfurt a. M. 1998. Martin Heidegger/Kurt Bauch, Briefwechsel 1932–1975, hrsg. von A. Heidegger, Freiburg i. Br./München 2010. Rudolf Bultmann/Martin Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, hrsg. von A. Großmann und C. Landmesser, Frankfurt a. M./Tübingen 2009. Ernst Jünger/Martin Heidegger. Briefe 1949–1975, hrsg. von G. Figal, Frankfurt a. M. 2008. Martin Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. von H. Zaborowski und A. Bösl, Freiburg i. Br./München 2003. Martin Heidegger, Mein liebes Seelchen! Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915–1970, hrsg. von G. Heidegger, München 2005. Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, hrsg. von J. W. Storck, Marbach a. N. 1989. Martin Heidegger/Karl Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, hrsg. von W. Biemel und H. Saner, Frankfurt a. M./München 1990. Martin Heidegger/Imma von Bodmershof, Briefwechsel 1959–1976, hrsg. von B. Pieger, Stuttgart 2000.
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Verzeichnis der anderen zitierten Schriften
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Personenregister
Anaximander 137, 170–171, 196, 221, 263–265 Arendt 16, 60, 209, 256–257, 269, 297– 298, 306, 310, 313–315, 344–345 Aristoteles 14, 21–23, 31, 40, 42, 44, 48–49, 55, 58–59, 61–64, 67, 69–70, 75, 77, 79, 104, 140, 170, 238–239, 263, 343–344 Blochmann 47, 55, 81, 115, 121, 246– 248, 255, 297, 305, 311–312, 316 Bultmann 248, 317–318 Derrida 17, 59, 246, 248, 260 Descartes 171, 180, 182, 275
Jaspers 247, 252–253, 256, 274, 306, 316–317 Jonas 16 Kant 116–117, 119, 123, 132–133, 151, 188, 269, 283 Kierkegaard 63, 266 Lévinas 10, 16–17, 32, 90, 108, 187, 257, 272, 286–295, 298–299, 301–303, 335, 341–342, 346 Löwith 166, 196, 238 Luther 62–63 Müller 17
Figal 27, 54–55, 58, 60, 67–69, 88, 96– 97, 100, 111, 120, 145, 148, 169, 195, 234, 238, 244, 248, 260, 268–269, 280, 307, 311, 318, 325–326
Nietzsche 169–170, 172, 179–180, 182, 255
Gadamer 13, 16, 25–26, 56, 72, 110– 111, 205 George 249, 252–256, 316, 319
Paulus 45–46 Platon 23, 51, 66–67, 69–75, 148, 155– 158, 160, 170, 206–207, 238–239, 244–245, 259–260, 266, 269, 308, 318, 343
Habermas 21, 23, 187, 266, 313–315 Heraklit 24, 27, 164–166, 189, 210, 241, 244, 320–321, 346 Hölderlin 187–188, 205, 209–216, 225– 230, 232–235, 240–244, 246, 249– 257, 260, 263, 285–286, 299, 301, 321, 325, 327–331, 333 Husserl 13–14, 34, 38, 140
Ortega y Gasset 310–311
Ritter 16 Sokrates 51–52, 266, 268–270, 287, 318, 343 Sophokles 250
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Personenregister Trawny 14, 186–187, 200, 243, 246, 250, 252, 254–255, 266, 269, 310, 312, 314, 316
von Hellingrath 188, 252–256, 316 Wisser 18
von Bodmershof 253
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Sachregister
Abstand 27–28, 71, 77–78, 82, 181, 214–215, 283 Achtsamkeit 207, 221, 223, 268, 303, 319, 340 Alltäglichkeit 35, 54, 77–78, 90–91, 108, 157, 206, 212, 215, 276, 306–307, 337 Analytik des Daseins 16, 84, 110–111, 117–118, 274 Aneignung 31, 37–39, 63, 65, 68, 74, 175, 181, 213, 229, 311–312 Angst 63, 89–93, 104, 107, 129, 136 Antwort 187, 198, 200, 234, 293, 301– 302, 338, 340–341 Aufenthalt –, gelassener, wartender 192–193, 299, 338 –, hörender 200, 326, 334 –, im Handeln 7, 30, 33 –, im Man 106 –, im Sein 9, 32, 162, 171, 174, 201 –, in der Nähe des Seins 195 –, in der Offenheit 150 –, in der Wahrheit des Seins 153, 212 –, philosophischer 7, 43, 47, 139 –, phronetischer 57 –, primärer 62 –, theoretischer 62 Augenblick 8, 30, 46, 69, 72–73, 78–79, 81–83, 90, 100–109, 128, 131–134, 136, 161–162, 173, 175, 215, 248, 266, 285, 291, 339 Bauen 28, 201, 216–225, 230–231, 321
Bedeutsamkeit 25, 37–38, 40, 48, 53, 60, 68, 141, 277, 281 Bestand 178–179, 184, 186, 199, 202, 310 Destruktion 63, 108, 118, 354 Dichtung 32, 155, 187, 199, 201, 205, 207–216, 226–229, 231, 233–235, 245, 249–252, 255, 300, 316, 321, 325, 328–331 Eigentlichkeit 58, 76–77, 81, 84, 88, 95– 96, 99–100, 106–109, 133–134, 142, 176, 195, 261–262, 275, 279–280, 296, 306, 315, 323–324, 343 Einsamkeit 10, 288–290, 303–306, 313, 315, 321, 335, 345 Entsprechung zum Sein 10, 198–200, 202, 228, 302, 338, 340–341, 344–345 Entwurzelung 27, 41, 91, 337 Ereignis 9, 13, 26, 38–40, 50, 58, 77, 106, 166–169, 171–175, 188, 194– 195, 198–202, 212, 221, 224, 234, 263, 267, 270, 286, 290, 294, 306, 328–329, 332, 340 Erschlossenheit 87, 89, 95–98, 102, 108–110, 141–144, 146–147, 153, 273, 277, 281, 330 Erweckung 8, 31, 55, 58, 82, 88–90, 93– 94, 119–120, 122, 133–134, 156–157, 160–161, 176, 266, 268, 338 Ethik –, traditionelle 7, 19, 23, 26, 82, 346 –, ursprüngliche 10, 19–20, 164, 183, 201, 219, 302, 338, 340, 346 A
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Sachregister Ethos –, dichterisches 195 –, eigentliches, exemplarisches, genuines 8, 28–29, 31–32, 43, 74, 79, 83, 107, 160, 164, 200, 231, 235, 263, 303, 336, 338 –, einsames 9, 32, 237, 304, 345 –, entpolitisiertes 10, 32, 342 –, griechisches 127, 306 –, phänomenologisches 236, 347 –, philosophisches 9–10, 30, 32, 108, 128, 200, 202, 236–237, 263, 302, 313, 321, 335, 341, 343–347 –, rechtes 8, 55, 82, 84, 99–100, 103, 107, 138, 263, 336, 343 –, technisches 32, 189, 195, 231 –, uneigentliches, alltägliches 8, 88, 91– 92, 243, 338 –, ursprüngliches 219, 270 Ethosdenken –, entpolitisiertes 263 –, frühes 31, 306 –, spätes 20, 30–31, 119 Ethosvergessenheit 166 Faktizität 7, 25, 30, 35–36, 39–40, 42– 49, 52–56, 63–64, 66, 69, 87, 94, 100, 109–111, 142, 266, 350 Freiheit 10, 85, 94, 97, 102, 111, 114, 116, 125–126, 131, 134, 137, 145–151, 154, 156, 159–161, 170, 173, 175, 191, 193, 200, 245, 261, 265, 283, 287–288, 293–294, 297–299, 302–303, 320, 326, 336, 338, 342, 345 Freundschaft 284, 320–321, 333, 345 Fundamentalontologie 31, 110–112, 116–119, 161, 352 Fürsorge 10, 95, 278–281, 295–297, 303, 320, 324–325 Geheimnis 151–154, 157, 161, 163, 193, 205, 214, 235, 267, 289, 312, 329, 334 Gelassenheit 14, 149–150, 178, 184, 190–193, 236, 238, 252, 267, 297–301, 328, 342, 346
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Gemeinschaft 9–10, 32, 121, 168–169, 208, 226, 237–238, 240, 243, 251, 272, 284–286, 304, 310, 313–319, 321, 330–335, 344–345 Gerechtigkeit 9, 239, 257, 263–270, 287–288, 293–294, 302, 343–344, 347 Gesellschaft 18–19, 272, 274, 307, 310, 315, 344 Gespräch 18, 191–193, 199, 209, 248, 268, 286, 300, 314, 323, 326–331, 334, 338, 344–345, 347 Gestell 30, 178, 181, 184–187, 189, 195, 204, 231–232, 343 Geviert 9, 13, 30, 32, 195, 203–204, 216–225, 230–231, 234–235, 243, 270, 328, 331, 336, 340–341, 343 Haltlosigkeit 8, 31, 123, 126–127, 134, 139 Haltung 8, 18, 23, 29–30, 32, 39–40, 46, 52–53, 75–77, 79, 83, 86, 91, 100, 102, 105, 114, 119–121, 127–128, 134, 137–138, 150, 161–162, 184, 190– 191, 193, 209, 235, 258, 267, 318–319, 322, 329, 336, 338, 341 Heimat 9, 30, 211–216, 218, 225, 235, 254 Heimatlosigkeit 9, 32, 50, 164, 187, 212, 218 Hermeneutik der Faktizität 7, 17, 20, 30–31, 34–35, 38–39, 41, 48–52, 55– 56, 58, 66–67, 75, 99, 108–109, 111– 112, 118, 124, 309 Höhlengleichnis 8, 148, 156–157, 159– 160, 258–259 Hören 10, 14, 44, 55, 96, 165, 305, 317– 318, 321–329, 334, 340–341, 343, 345 Jeweiligkeit 7, 30, 35–36, 41, 52, 54–56, 72–73, 77, 81–82, 103, 111, 162, 223, 339 Kairos 8, 31, 46, 72, 74, 78, 81–82, 106, 162 Kampf 29, 43, 70, 111, 186, 246, 285– 286
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Sachregister Kunst 22, 25, 32, 114, 120, 155, 186, 188, 204–205, 207–209, 227–228, 231, 249, 256–257 Kunstwerk 114, 155, 204–207 Leben –, alltägliches 213, 259, 306 –, als Möglichkeit 82 –, bestes 21, 342, 344 –, eigentliches 49, 83 –, faktisches 25, 35, 37–40, 42–46, 48– 49, 52–54, 58–60, 63, 67, 69–70, 80, 83, 211 –, gemeinsames 268, 275, 285, 315, 344 –, griechisches 254 –, gutes 14, 21–22, 52, 67, 108, 343–344 –, öffentliches 304, 306–307, 311 –, philosophisches 83, 108, 263, 343 –, politisches 22, 76 –, schlafendes 82 –, soziales 272 –, theoretisches 22–23, 76, 108 –, waches 343 Liebe 10, 129, 295, 297–301, 303, 319– 320, 345 Metaphysik des Daseins 8, 31, 115–119, 128, 274, 352 Metontologie 8, 115, 117–119 Miteinandersein 41, 75–76, 239–240, 276, 278, 281–285, 288, 290–291, 295, 308, 312, 315, 322, 325, 331, 334–335, 345–346 Mitsein 10, 32, 95, 143, 238–239, 272– 278, 280–282, 284–285, 287, 290– 292, 296, 299, 307–309, 315, 322, 324, 330 Moral 13, 20–21, 23, 28, 51, 79, 122, 128, 161, 180, 266, 270, 286 Moralität 21, 25, 52, 94, 183, 235, 270 Nationalsozialismus 245–246, 249, 355 Natur 22, 28, 47, 119, 178, 180, 188, 227, 311, 314
Nichtigkeit 8, 31, 92–94, 114, 122–123, 127, 129, 134–137, 139, 166, 286, 300 Normativität 27, 53, 148, 346 Normen 44, 53, 79, 81–82, 123, 337, 344 Objektivierung 26, 53 Offenheit 9–10, 69, 81, 88, 97, 99, 102, 108, 120, 136–137, 145, 150, 155, 173–174, 192–193, 201, 205–208, 224–225, 227, 231, 233–234, 265, 267, 277–278, 295, 299–300, 303, 322– 323, 326, 328, 330, 332, 334, 338–339, 341–342, 344–346 Öffentlichkeit 10, 32, 41, 92, 234, 253, 257, 265, 299, 304–319, 322, 324– 326, 334, 345 Phronesis 7–8, 14, 31, 56–59, 61–63, 65, 67–75, 78–79, 82, 96–97, 102, 162, 336 Polis 9, 22–23, 30, 51, 238–245, 248– 251, 256–258, 260, 266, 269–270, 306, 313–315, 344 Politik 14, 22–23, 32, 76, 108, 180, 228, 239, 245, 249, 252, 255–258, 260, 270, 306, 315–316, 344 Praxis 56, 60–61, 66–67, 70–71, 74, 76, 102, 287 Räumlichkeit 8, 85–88, 203 Ruf des Gewissens 89–91, 94, 323 Schweigen 10, 25, 322, 325–326, 329, 334 Seinlassen 149, 151–155, 197, 297–300 Seinsfrage 16, 59, 67, 84, 102–103, 105, 110–112, 118, 137, 144, 146, 176, 203, 286, 295, 302, 353–356 Seinsgeschichte 9, 162–164, 167–169, 184, 195, 240, 243, 246, 310 Seinsvergessenheit 25–26, 163, 166, 168, 170–171, 186–187, 193, 264, 266–267, 350 Seinsverständnis 16, 64–67, 70, 110– 112, 119, 124, 133, 144, 154, 156, 162– A
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Sachregister 163, 168–170, 172–173, 178, 184, 287 Selbstgenügsamkeit 43 Selbstheit 39, 88, 99, 137, 174–175, 298, 303, 321, 332–335 Sichaufhalten 30, 56, 62, 71, 80, 91, 103, 105, 161, 206, 235, 296 Sicheinlassen 102, 192, 207, 228, 233, 298, 301, 303, 326, 339–340 Sichentziehen 193, 207, 268 Sichhalten 8, 76, 108, 129, 135, 137– 138, 147, 161, 197, 210, 221, 267 Sichzeigen 76, 82, 174, 193, 207, 214, 222–223, 230, 234–236, 267–268, 326, 338 Solipsismus 273, 275, 288, 315 Sorge 19, 36, 38, 40–42, 53, 60–61, 71, 86, 93–95, 99–100, 166, 196, 201– 202, 210–211, 214–215, 219, 239– 241, 244, 266–269, 273, 275, 278–280, 289, 292 Spiel 8, 14, 79, 96, 106, 119, 122–126, 134, 139, 152, 163, 199, 203, 212, 216– 217, 222, 252, 270, 337, 340–341, 344 Stimme –, des Freundes 323–324 –, des Gewissens 90, 323 –, des öffentlichen Gewissens 324 –, des Seins 136, 197–198, 231, 330 Störung 14, 77, 89–90, 181 Störungscharakter 90 Subjektivität 18–19, 32, 115, 121, 187, 330, 332, 340–341 Technik 14, 29, 108, 155, 163, 176–190, 201, 209, 215, 218, 224, 228, 231, 256, 270, 297, 299, 305, 310, 315, 337 Theorie 14, 23, 34, 56, 61, 67, 310, 313– 314, 343 Uneigentlichkeit 41, 50, 84, 106, 109, 133–134, 195, 343 Unheimlichkeit 8, 79, 90, 92–93, 122– 123, 125, 128–131, 134, 136, 213, 241
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Verantwortung 28, 177, 200, 234, 257, 293–294, 296, 301, 338–341 Verbindlichkeit 27–28, 105–106, 159– 160, 172, 175, 259, 270, 303 Vereinzelung 88–89, 93, 107, 275, 303– 306, 313, 315, 324, 333–335 Vergegenständlichung 24, 40, 148, 184 Vertrautheit 80, 89–90, 92, 257, 323, 337 Verweilen 8, 30–31, 35–36, 54–56, 74, 103, 105, 130, 133, 139, 147, 153–154, 206, 221, 229–231, 339 Verwurzelung 29–30, 50, 131, 171, 193, 257, 259, 336 Vorlaufen zum Tode 89–91 Wachheit 50, 54, 97, 100, 121, 129, 197, 207, 316, 338 Wachsein 7, 49–51, 54, 309 Wächterschaft 196–197, 200, 245, 262, 340 Wahrheit –, als Entdeckung bzw. Entdecktheit 140–143, 146–147, 153, 161 –, als Geschehen 8, 139, 205, 207–208, 241 –, der Dinge 231, 235 –, der Existenz 8, 85, 88, 93, 95–96, 108, 139, 142–144, 157, 161, 219, 335, 339 –, des Seins 8, 19, 26, 31, 102, 113, 115, 119, 135, 138–139, 146, 149–150, 152, 155, 160, 162–164, 166, 169–170, 172, 176, 181–183, 185, 187–190, 194– 197, 201–203, 213–214, 217–218, 224, 244, 249, 264–265, 269–271, 301–302, 333, 341, 344 –, im Handeln 8, 139, 147, 162 –, traditioneller Begriff bzw. Übereinstimmung 139 –, und Unwahrheit 97, 151–152, 161 –, ursprüngliche 31, 68, 96, 139–141 Warten 191–192, 221, 319 Weltbildung 31, 120, 124–125, 155, 205 Weltentwurf 31, 120, 125–126, 169 Wesensaufenthalt 165, 175, 202, 326 Wohnen 9, 13, 20, 27–30, 32, 80, 91,
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Sachregister 120, 139, 155, 160, 162, 172, 181, 194–196, 198–201, 203–204, 211, 213–214, 216–225, 227–236, 243– 244, 263, 267, 321, 327, 336, 340 Würde 25, 188–189, 251, 342
Zeitlichkeit 42, 45–46, 49–50, 52, 54, 58–59, 65, 72, 83–85, 88, 100–104, 109–111, 116, 131, 134, 162, 164, 217, 221, 285
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