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German Pages 288 [290] Year 2011
Dem Täter auf der Spur
Peter Becker
Dem Täter auf der Spur Eine Geschichte der Kriminalistik
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2005 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandmotiv: Ein Kriminaltechniker stellt einen Vergleichsabdruck eines Täterschuhs her (Leipzig 18.4.2002). © picture-alliance/ZB, Foto: Wolfgang Kluge Redaktion: Winfried Schindler, Wiesbaden Gestaltung und Satz: Johannes Steil, Karlsruhe Printed in Germany www.primusverlag.de isbn 3-89678-275-4
Inhalt Vorwort Kriminalität und ihre Bekämpfung Die Vorgeschichte der Kriminalistik 1. Von der Folter zur Verhörpsychologie 2. Experten vor Gericht – Die Einsatzbereiche der Rechtsmedizin
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Neue Aufgaben – neue Methoden 3. Fotografie im Dienst von Spurensicherung und Erkennung 4. Internationale Polizeikooperation – Kommunikation ohne Grenzen? 5. Der Fingerabdruck revolutioniert die Identifikation von Verbrechern 6. Das kriminalistische Labor – Wissenschaftler auf Verbrechersuche
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Auf dem Weg zum gläsernen Menschen? 7. Bürger auf Verbrecherjagd – Die Medien als Hilfsmittel der Polizei 8. „Kommissar Computer“ und die Rasterfahndung 9. Der genetische Fingerabdruck 10. Profiling – neue Wege der Fallanalyse Die Wiederkehr des praktischen Blicks
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Anhang Anmerkungen Literaturverzeichnis Bildnachweis
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Dem Andenken meines Vaters gewidmet
Vorwort Dieses Buch hat seine eigene Geschichte. Sie nahm ihren Anfang vor vielen Jahren, als ich mit Forschungen zur Polizeigeschichte begann. Das Konzept dieses Buches, das sich an ein breiteres Publikum wendet, entstand in der Diskussion mit dem Primus Verlag, vor allem mit Frau Regine Gamm, der ich an dieser Stelle für ihr Verständnis und ihre Unterstützung herzlich danken möchte. Für die Fertigstellung des Manuskripts war die Hilfsbereitschaft der Bibliothekarinnen des BKA Wiesbaden von entscheidender Bedeutung. Ihnen möchte ich ebenfalls meinen Dank aussprechen. Freunde und Kollegen haben zahlreiche Anregungen beigesteuert. Jakob Tanner, Claudia Kollbach, Alexander Geppert und Ilsen About haben mit kritischen Kommentaren die unterschiedlichen Versionen des Manuskripts begleitet, Jane Caplan, Mary Gibson, Valentin Gröbner, Nicole Hahn-Rafter und Susanne Regener teilen meine Begeisterung für eine kulturgeschichtliche Studie der Kriminalistik und haben mit mir immer wieder Themen diskutiert, die in diesem Buch eine Rolle spielen. Schließlich möchte ich Winfried Schindler danken, der mit seiner professionellen und kreativen Redaktion dem Manuskript wichtige Impulse gegeben hat. Während der Arbeit an meinem Forschungsprojekt zur Polizeigeschichte war die Erinnerung an den Wunsch meines verstorbenen Vaters, Polizist zu werden, immer wieder präsent. Für die Verwirklichung dieses Lebenstraums fehlte ihm die österreichische Geburtsurkunde. Meine Studien zur Geschichte von Polizei und Kriminalistik sind keine späte Antwort auf diesen Wunsch, sondern einem anderen Interesse verpflichtet. Er ist aber einer der Gründe, weshalb ich dieses Buch dem Andenken meines Vaters widmen möchte. Sesto Fiorentino (Toskana), im August 2005
Kriminalität und ihre Bekämpfung Kriminalistinnen bzw. Kriminalisten befassen sich professionell mit der Auf klärung und Verhütung von Straftaten. Sie agieren in verschiedenen Rollen: als Richter, Staatsanwälte, Kriminalbeamte und Kriminaltechniker. In diesen Funktionen spielen sie eine wichtige Rolle in der heutigen Gesellschaft. Die Vertrautheit der Ö≠entlichkeit mit den Kriminalisten und ihrer Arbeitsweise entsteht jedoch nur in seltenen Fällen durch persönliche Kontakte mit dem Rechts- und Polizeiapparat, sondern vielmehr durch deren starke Präsenz in den Medien. In Fernsehserien, Kinofilmen und (Bestseller-)Romanen wird nach Verbrechern gefahndet. Beamte der Kriminalpolizei sind die Helden der meisten Kriminalgeschichten. Ihre Intelligenz und Ausdauer sowie der Rückgri≠ auf Kriminaltechnik und den Apparat der Polizei garantieren den Fahndungserfolg. In den letzten Jahren sind neue ‚Helden‘ aufgetaucht: Ausgehend von den USA übernimmt der Kriminaltechniker mit seiner Laborarbeit die Rolle des Quotenträgers. In Österreich, Deutschland und Italien wird selbst der Polizeihund nach fast hundert Jahren Einsatz im Dienst der Gerechtigkeit zum Star im Abendprogramm. Mein Blick auf die Geschichte der Kriminalistik ist der eines professionellen Außenseiters. Obwohl ich ein begeisterter Leser von Krimis und Konsument von Kriminalfilmen bin, habe ich keinen Fall selbst bearbeitet. Der vorliegende Band stellt daher eine historisch-ethnographische Annäherung an die Kriminalistik dar, die ich mit der „naiven Beobachtung des geschulten Beobachters“ (René König) unternehme. Aus dieser Perspektive gibt es keine Selbstverständlichkeiten. Selbst die Aufgabenverteilung innerhalb des Justiz- und Polizeiwesens oder die interdisziplinäre Auswertung der Tatortspuren erscheint mir als Folge einer spezifischen historischen Entwicklung erklärungsbedürftig. Für den naiven, d. h. unvoreingenommenen Beobachter ist es auffällig, dass Verbrechensauf klärung fast ausschließlich in den dafür einge-
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richteten Behörden erfolgt: Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter. Aus historischer Perspektive kann man aber zeigen, dass der Beitrag dieser drei institutionellen Akteure für die Auf klärung von Verbrechen erheblichen Veränderungen unterlag. Mit der Einführung der Staatsanwaltschaft in den deutschen Staaten (1846) verringerte sich die Bedeutung der Untersuchungsrichter, gleichzeitig erfuhr die Kriminalpolizei seit dem späten 19. Jahrhundert eine erhebliche Aufwertung, die bis heute andauert und ihr ein Auf klärungsmonopol sichert. Dieses Wissen um die Verlagerung der Kompetenz vom Untersuchungsrichter zur Kripo ist wichtig für die Planung der historischen Analyse. Eine gewisse O≠enheit im Hinblick auf die zu untersuchenden Institutionen wird dadurch notwendig. Die alleinige Konzentration auf die Kriminalpolizei wäre für das 19. und noch mehr für das 18. Jahrhundert unzulässig. Maßnahmen zur Prävention und Aufklärung von Verbrechen Der Blick des naiven Beobachters ist nicht vorbelastet durch die Vertrautheit mit der aktuellen Kriminalistik. Die Innovationen im Bereich der Verbrechensauf klärung seit dem späten 18. Jahrhundert werden daher nicht auf die Rolle von Vorläufern heutiger Verfahren reduziert, sondern als ein Beitrag zur Lösung von spezifischen Sicherheitsproblemen verstanden. Das erfordert die Rekonstruktion der vielfältigen Bezüge zwischen den kriminalistischen Techniken und ihrem institutionellen, politischen, sozialen und kulturellen Umfeld. Damit lässt sich etwa zeigen, dass erhöhte räumliche Mobilität und die Angst vor den Täuschungsmanövern der Berufsverbrecher die Identifikation von Straftätern bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Problem werden ließ. Zur Lösung dieses Problems entwickelten die Kriminalisten neue Techniken und integrierten naturwissenschaftliche und medizinische Verfahren in ihre Praxis. Wenn man sich mit der Kriminalistik als Praxis auseinander setzt, stößt man unweigerlich auf die Bedeutung des Strafrechts und des Strafprozessrechts. Die Kriminalisten können nur einschreiten, wenn eine Straftat begangen wurde. Die Veränderungen im Strafrecht haben daher auch Auswirkungen auf die Praxis der Kriminalisten, die Strate-
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gien zur Ermittlung neuer Straftatbestände entwickeln müssen. Als Beispiel kann man etwa auf den Tatbestand der „Rassenschande“ im Dritten Reich oder auf die Verfolgung von Dissidenten hinweisen. Die Polizei, der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter operieren in einem rechtlich klar festgelegten Raum, in dem die Zulässigkeit von Beweismitteln, die Form des Umgangs mit Beschuldigten und Zeugen sowie die inkriminierten Tatbestände eindeutig definiert sind. Für den Untersuchungsrichter des 18. Jahrhunderts war die freie Würdigung eines Sachbeweises zur Ermittlung der Schuld ebenso unvorstellbar wie für den Kriminalisten des 20. Jahrhunderts die Anwendung der Folter. Das Strafprozessrecht definiert jedoch nur die Grenzen des Erlaubten und legt die Verfahren selbst nicht fest. Wie die Kriminalisten das vom Strafrecht definierte Verbrechen auf klärten, hing von verschiedenen Faktoren ab. Entscheidend waren die Art und Schwere des Verbrechens, die zur Verfügung stehenden Technologien sowie deren Akzeptanz innerhalb spezifischer politischer und kultureller Konstellationen. Die Kriminalistik erscheint als komplexes Unterfangen, bei dem verschiedene Institutionen und deren Akteure, Technologien und Praktiken aufeinander abgestimmt werden müssen. Darin ähnelt die Auf klärung von Verbrechen der Produktion von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ebenfalls ein Netzwerk unterschiedlicher ‚Aktanten‘, d. h. die systematische, projektbezogene Koordination menschlicher und nichtmenschlicher Akteure, erfordert. Die Kriminalistik wird aufgrund dieser Parallelen zwar nicht zur Wissenschaft, kann aber durchaus mit den Konzepten der neuen Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte analysiert werden. Eine wissenschaftshistorische Analyse der Kriminalistik konzentriert sich nicht auf die Geschichte der entsprechenden Institutionen, sondern auf die konkreten kriminalistischen Praktiken zur Prävention und Auf klärung von Verbrechen. Dabei kann man sich kriminalistische Verfahren als eine Kooperation unterschiedlicher institutioneller Akteure vorstellen, wobei sich die Struktur dieser Netzwerke dauernd ändert. Zur Aufnahme der Tatortspuren und zur Inspektion des Mordopfers – eine aus Kriminalfilmen und -romanen hinreichend bekannte Szenerie – ist die erfolgreiche Integration von Kriminaltechnik, fotografischer Ausstattung, Gerichtsmedizin und den jeweils neuesten Technologien
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zur Sicherung von Fingerabdrücken am Tatort erforderlich. Zur Auf bereitung der am Tatort gewonnenen Informationen sind anders strukturierte Netzwerke maßgeblich. Die kriminalistischen Labors mit ihrer technischen Ausstattung und ihrem spezialisierten Mitarbeiterstab leisten entscheidende Beiträge zur immer ra∏nierteren Auswertung der Tatortspuren. Ein solches Verständnis von Kriminalistik sieht die Kriminalisten eingebunden in ein unsichtbares Netzwerk, das die Mobilisierung unterschiedlicher Hilfsmittel und Informationsquellen von staatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen ermöglicht. Das erö≠net einen di≠erenzierten Blick auf die Herausforderungen, mit denen die Behörden bei der Integration von neuen Verfahren und Techniken konfrontiert waren. Denn – allgemein gesprochen – die Erweiterung bzw. Veränderung des kriminalistischen Netzwerkes veränderte immer auch die lokalen Praktiken. Die Einführung von biometrischen Methoden zur Personenidentifikation um 1900 erhöhte nicht nur die Wahrscheinlichkeit, einen rückfälligen Verbrecher trotz eines Pseudonyms zu erkennen, sondern erforderte eine weit gehende Reorganisation des bestehenden Erkennungsdienstes. Das betraf die Umschulung der Beamten, die Reorganisation der Büros und die Kooperation mit anderen Polizeibehörden. Dem naiven Beobachter erscheint die relative O≠enheit dieser Netzwerke im Hinblick auf die Integration von neuen Verfahren und Techniken überraschend angesichts der bürokratischen Organisation von Justiz und Polizei. Diese O≠enheit wurde ermöglicht durch eine grundsätzliche Flexibilität des kriminalistischen Wirklichkeitsbezugs, den die Kriminalisten des 19. Jahrhunderts mit dem Begri≠ des praktischen Blicks beschrieben. Sie verstanden darunter ein kollektives Erfahrungswissen, das zwar durch Publikationen und persönliche Unterweisungen weitergegeben, aber nicht als ein in sich geschlossenes System konstruiert werden konnte. Aus der Handlungsperspektive ermöglichte der praktische Blick jedem Kriminalisten eine Form der Wahrnehmung, die nicht zirkulär auf deduktiv ermittelte Sachverhalte gerichtet, sondern o≠en für das Auftauchen neuer empirischer Belege war. Der praktische Blick erlaubte den Kriminalisten zudem eine weit gehend standardisierte, aber dennoch flexible Handhabung von Normen und Techniken, die auf die subjektive Interpretation der spezifischen
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Situation Rücksicht nehmen konnte. Diese Flexibilität war eine entscheidende Voraussetzung für die Integration neuer Technologien in die Ermittlungs- und Fahndungstätigkeit. Zur Geschichte der Kriminalistik Wenn man die Kriminalistik als die Praxis der Strafverfolgung und Prävention begreift, projiziert man den heutigen Sprachgebrauch auf das damalige Rechts- und Polizeisystem. Denn erst seit dem späten 19. Jahrhundert bezeichnet der Begri≠ Kriminalistik das Wissensfeld, das sich systematisch mit Verbrechen, ihrer Aufspürung und Verhütung befasste. Vorher verstand man unter Kriminalistik meist das materielle und formelle Strafrecht sowie die strafrechtlichen Hilfswissenschaften. Die Geschichte der Kriminalistik als eine Geschichte ihrer Praxis ist mehr als eine Analyse neuer Techniken. Damit soll nicht die weit reichende Veränderung innerhalb der kriminalistischen Praktiken ignoriert werden. Die als vorwissenschaftlich bezeichnete Kriminalistik des frühen 19. Jahrhunderts hatte mit der so genannten wissenschaftlichen Kriminalistik wenig gemeinsam, die sich um die Zeit der Jahrhundertwende entwickelte. Diese Veränderungen werden hier diskutiert, jedoch aus einer neuen Perspektive. Wie im ersten Teil dieses Buches – in den beiden Kapiteln zur Vorgeschichte der Kriminalistik – gezeigt wird, entstand im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ein erstes interdisziplinäres Netzwerk zur Auf klärung von Verbrechen, in dem die medizinische Kompetenz durch externe Expertise, das psychologische Wissen intern, durch eine Erweiterung der kriminalistischen Methoden, integriert wurde. Das Misstrauen gegenüber der Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen als Folge der psychologischen Forschung der Jahrhundertwende, die freie Beweiswürdigung der Richter und die technologischen Fortschritte führten zu einer radikalen Umgestaltung der kriminalistischen Praxis seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Indizien konnten nun in ihrer Bedeutung für die Rekonstruktion des Tathergangs und die Feststellung der Schuld des Täters vom Richter unabhängig von den starren Beweisregeln der frühneuzeitlichen Verfahrensvorschriften kritisch bewertet werden. In Verbindung mit einem zunehmenden Erfahrungswis-
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sen der Praktiker und den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften konnte sich dadurch ein neues, von manchen Autoren als „wissenschaftlich“ bezeichnetes System der Tatauf klärung und Täterüberführung entwickeln. Aus meiner Perspektive ist hier die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Kriminalistik zur Erklärung der Veränderungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nebensächlich. Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter konzentrierten sich auf die umfassende Erhebung und Auswertung der Tatortspuren. Sie nutzten Technologien wie die Fotografie und die Klassifikation von Fingerabdrücken, bildeten aber auch neue Allianzen mit Chemikern, Physikern, Physiologen und anderen Wissenschaftlern. Wesentlich für die neue Kriminalistik war die Integration wissenschaftlicher und technologischer Kompetenzen zur Auf klärung von Straftaten, was in den vier Kapiteln des zweiten Teils beschrieben wird. Dort werden die Nutzung der Fotografie, die Einführung biometrischer Verfahren und die Entstehung von kriminalistischen Labors ebenso vorgestellt wie die Entwicklung von nationalen und internationalen Netzwerken der Kommunikation und Kooperation. Das Interesse an Innovationen im Bereich der Kommunikation resultiert aus dem genuin arbeitsteiligen Charakter der Auf klärung von Verbrechen. Komplexe Daten müssen möglichst ohne Informationsverlust innerhalb der Behörden, zwischen unterschiedlichen Behörden und mit den Gutachtern kommuniziert werden, was die lokalen kriminalpolizeilichen Aktivitäten in einen regionalen, nationalen und internationalen Austausch einbindet. Weil die lokalen Behörden zur Auf klärung von Straftaten und zur Identifikation von Personen auf die entsprechenden Daten zugreifen konnten, wurde diese Kommunikation auch zu einem Element innerhalb der lokalen kriminalistischen Netzwerke. Der Zugri≠ auf externe Informationen konnte unterschiedliche Formen annehmen. Für die Fahndung nach flüchtigen Verbrechern mobilisierten schon die Kriminalisten des 19. Jahrhunderts die Mitarbeit von auswärtigen Polizei- und Justizbehörden. Bei der Suche nach unbekannten Tätern konnten die Akten von anderen Einrichtungen wie etwa Krankenanstalten wichtige Aufschlüsse bieten. In Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder bringen beispielsweise die Unterlagen
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der psychiatrischen Kliniken den lang ersehnten Hinweis auf den Mörder. Die vier Kapitel des dritten Teils verfolgen die Strategien der Polizei im 20. Jahrhundert zur Bekämpfung von Kriminalität in der Massengesellschaft. Herkömmliche Formen der sozialen Kontrolle und polizeilichen Überwachung versagen im Kampf gegen Terroristen und Gewaltwie Sexualverbrecher wegen ihres sozial angepassten Verhaltens. Jeder wird dann verdächtig. Um den Kreis der Verdächtigen einzuschränken, werten die Kriminalisten ein breites Spektrum an Daten von staatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen aus und gehen neue Allianzen ein – mit den Massenmedien, den Genetikern und Psychologen. Die Rasterfahndung, die DNA -Analyse und das Profiling funktionieren am besten, wenn möglichst viele Personen in ihrem sozialen Verhalten, genetischen Profil und ihren Handlungsmustern erfasst sind. Die Kritiker dieses polizeilichen Wissenshungers sehen dadurch das Grundrecht der Bürger auf informationelle Selbstbestimmung gefährdet und in vielen Fällen auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von polizeilichen Maßnahmen verletzt. Aus ihrer Sicht entsteht in den Datenbanken von Polizei und Verfassungsschutz der gläserne Mensch, der manipuliert werden kann oder sich in vorauseilendem Gehorsam an die Erwartungen der staatlichen Organe anpasst. Die Kriminalistik der Nachkriegszeit muss sich mit dieser Kritik auseinander setzen; ihre Strategien sind das Ergebnis eines politischen Kompromisses zwischen Funktionalität und Rechtsstaatlichkeit, der von einer kritischen Ö≠entlichkeit eingefordert und überwacht wird. Das erste Kapitel des dritten Teils beschäftigt sich mit dem erfolgreichen Versuch der Polizei, die Ö≠entlichkeit als Partner in der Fahndung nach Straftätern zu gewinnen. Die gesamte Ermittlungstätigkeit der Polizei war als eine Botschaft an die Bevölkerung gedacht, dass jedes Verbrechen verfolgt und jeder Täter seine Strafe finden werde. Seit dem späten 19. Jahrhundert begann die Polizei, die Bevölkerung gezielt in die Auf klärung von Straftaten und bei der Fahndung nach flüchtigen Verbrechern einzubeziehen. Durch die Nutzung der Massenmedien wird die Stellung von Verdächtigen und Beschuldigten in einer breiten Ö≠entlichkeit nachhaltig beeinträchtigt. Deshalb wurde ein leichtfertiger Einsatz dieses Fahndungsinstruments immer wieder kritisiert.
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Die Polizeibehörden nutzten relativ früh die Innovationen der elektronischen Datenverarbeitung zur Neuorganisation der eigenen Registraturen. Die Möglichkeiten der systematischen Vernetzung unterschiedlicher Datenbanken erö≠nete völlig neue Perspektiven für die Fahndung nach jenen Personen, die als Terroristen im Mittelpunkt des polizeilichen Interesses standen. Durch die Abfrage einer Vielzahl von Datenbanken nach bestimmten Kriterien filterten die Kriminalisten eine Gruppe von Personen heraus, die als besonders verdächtig galten. Im Kapitel über die Rasterfahndung werde ich zeigen, dass zur Formulierung der Abfrage ein Erfahrungswissen eingesetzt wird, das an den praktischen Blick des 19. Jahrhunderts erinnert. Ein wesentliches Element des praktischen Blicks war der Schluss von der Tat auf den Täter. Jeder Berufsverbrecher sollte seine ganz spezifische Handschrift besitzen bzw. durch die Zugehörigkeit zur kriminellen Gegenwelt auch ein besonders auffälliges Sozialverhalten an den Tag legen. Mit diesem Wissen ließen sich besonders problematische Fälle wie etwa Serienmörder kaum fassen. Denn hier fehlte die Zuordnung zum kriminalistischen Erfahrungswissen. Der speziell geschulte Profiler analysierte mit einem theoretisch geschulten praktischen Blickden Spurentext von Gewaltverbrechen. Die Verwendung von hermeneutischen und statistischen Verfahren erö≠neten Einsichten in die Täterpersönlichkeit und ermöglichten die Erarbeitung von neuen Strategien für die weitere kriminalpolizeiliche Arbeit, wie Kapitel 10 über das Profiling zeigen wird. Die Kriminalistik des 20. Jahrhunderts erweiterte systematisch ihr Repertoire an wissenschaftlichen Techniken und nutzte neue Formen von Expertise. Die Träume der Kriminalisten von einem internationalen, interdisziplinären Riesenlabor wurden zwar nicht Wirklichkeit, aber die kriminaltechnischen Labors der Landeskriminalämter und des BKA erweitern beständig ihr Repertoire an wissenschaftlichen Verfahren. So liefert beispielsweise die forensische Entomologie (Insektenkunde) wichtige Hinweise zur Feststellung des Todeszeitpunkts von stark verwesten Leichnamen. In den letzten Jahren wurde vor allem die Erstellung von DNA -Profilen zu einem wichtigen Aufgabengebiet. Die Experten der Kriminalämter verbinden wissenschaftliche Kompetenz mit Praxiserfahrung und einem institutionell verankerten kriminalpoliti-
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schen Programm, um die umstrittene Ausweitung der Personengruppe durchzusetzen, zu der ein genetischer Fingerabdruck erstellt werden kann. Meine bisherige Argumentation hat sich mit der Integration von Wissen und Techniken in die kriminalistischen Verfahren beschäftigt. Wenig wurde über die Produktion von kriminalistisch verwertbarem Wissen gesagt. Die Kriminalisten hatten kein Interesse an einer wissenschaftlichen Debatte über medizinische, physiologische, physikalische und chemische Forschungen und deren theoretische Grundlagen. Sie nahmen den Dialog mit den Vertretern unterschiedlicher Fachrichtungen mit einem klaren Anwendungsinteresse auf, beschränkten sich jedoch nicht auf die Rezeption fachwissenschaftlicher Einsichten, sondern engagierten sich selbst in Forschungsprojekten. Die Forschungsinteressen der Kriminalisten umfassten bis zum späten 19. Jahrhundert gleichermaßen die Gebiete der Kriminologie, der Kriminaltechnik und der Kriminalpsychologie. Danach verlagerte sich die kriminologische Forschung hin zu den Anthropologen, Psychiatern und Soziologen. Die kriminalistischen Praktiker popularisierten die neuen Einsichten und nutzten sie zur Entwicklung von sicherheitspolizeilichen Strategien. Auch im Bereich der Kriminaltechnik blieben die Praktiker aktiv. Beispielhaft kann man auf den bekannten französischen Kriminalisten Alphonse Bertillon hinweisen, der mit der Einführung biometrischer Verfahren den Erkennungsdienst auf neue wissenschaftliche Grundlagen stellte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die kriminalistische Forschung zunehmend institutionalisiert. Im 1951 gegründeten Bundeskriminalamt und in den Landeskriminalämtern beschäftigten sich Forschergruppen mit der Vernehmungstechnik, der Spurensicherung vor allem von Betäubungsmitteln und Sprengsto≠en, der Stimmidentifizierung und der Erstellung von Täterprofilen. Die Forschungsleistung der Kriminalisten stellt ebenso wie die naturwissenschaftliche und medizinische Forschung zusätzliche Elemente für kriminalistische Verfahren bereit. Dadurch änderte sich zwar die Praxis der Verbrechensbekämpfung, diese wurde aber nicht völlig davon bestimmt. Der praktische Blick der Kriminalisten benötigte trotz der Unterstützung durch Datenbanken und wissenschaftliche Expertise weiterhin Kreativität
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und Findigkeit, um sich in der Fülle von teils widersprüchlichen Informationen orientieren zu können. Zu diesem Buch In diesem Buch wird die Geschichte der Kriminalistik als interdisziplinäre Form der Verbrechensauf klärung und Prävention mit Hilfe von Fallstudien dargestellt. Jedes Kapitel steht für eine kriminalistische Methode. Die Anordnung folgt weit gehend der Chronologie ihrer Einführung. Entwicklung und Nutzung der jeweiligen kriminalistischen Verfahren werden in einen gesellschaftsgeschichtlichen Bezugsrahmen gestellt. Um die Bezüge zwischen den Verfahren der Justiz- und Polizeibehörden, den sozialen und politischen Verhältnissen und den neuen Technologien beschreiben zu können, steht am Beginn eines jeden Kapitels eine Fallgeschichte, auf die dann im weiteren Verlauf jeweils Bezug genommen wird. Die Verwendung von Fallgeschichten ist nicht neu, hier stehen sie allerdings nicht nur als Beispiel für die erfolgreiche Entwicklung bzw. Anwendung einer bestimmten kriminalistischen Untersuchungstechnik, sondern bieten auch den Anknüpfungspunkt für deren Zuordnung zu einem sozialen, kulturellen und politischen Umfeld. Innovationen wie die Verwendung von Fingerabdrücken zur Personenidentifikation oder die Rasterfahndung zur Suche nach sozial unauffälligen Straftätern erschienen nicht plötzlich als geniale Erfindungen, sondern als Lösungsvorschläge für sicherheitspolizeiliche Probleme. Die kriminalistischen Verfahren werden in diesem Buch nicht losgelöst von ihrer institutionellen Verortung betrachtet. Auf der lokalen Ebene der Behördenorganisation hatte die Einführung von neuen Technologien ganz erhebliche Auswirkungen, die in einer Geschichte der Kriminalistik nicht fehlen dürfen. So erforderte die Einführung von Fingerabdrücken neue Registraturen und die Ausbildung von Kriminalbeamten in der Handhabung dieser Technologie, um nur ein Beispiel zu nennen. Entwicklung und Veränderung der jeweils neuen Techniken werden bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgt. So erhält jedes einzelne Kapitel unabhängig von seiner Positionierung innerhalb der Ge-
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samtgliederung eine eigenständige historische Argumentation. Die Rekonstruktion der ‚Biografien‘ dieser Verfahren erö≠net eine zusätzliche Perspektive in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kriminalistik. Die Verfechter der Innovationen mussten sich gegen den Widerstand etablierter Praktiken und kritischer Stimmen aus der Ö≠entlichkeit durchsetzen und gleichzeitig die Vereinbarkeit mit den Verfahrensregeln von Justiz und Polizei überzeugend nachweisen.
Die Vorgeschichte der Kriminalistik
1. Von der Folter zur Verhörpsychologie Die moderne Kriminalistik nutzt Theorien und Verfahren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zur Auf klärung und Verhütung von Verbrechen. Sie konnte nur innerhalb eines Rechtssystems entstehen, in dem die Rekonstruktion der materiellen Wahrheit über eine Straftat die Grundlage des Urteilsspruchs war. Das wurde mit der Einführung des Inquisitionsverfahrens in die weltliche Gerichtsbarkeit durch Kaiser Friedrich II. im Jahr 1231 erreicht. Ab diesem Zeitpunkt konnten Strafverfahren auch ohne Vorliegen einer Anzeige von Privatpersonen eingeleitet werden. Das erhöhte die E∏zienz im Kampf gegen Kriminalität und führte ein neues Prinzip in die Ermittlung ein. Im früheren System, dem so genannten Akkusationsverfahren, wurde die Darstellung der Prozesspartei als „wahr“ anerkannt, die sich nach den Regeln des Verfahrens durchsetzen konnte – durch entsprechend viele Zeugen, den Ausgang eines Gottesurteils etc. Die Frage nach dem tatsächlichen Hergang der Tat wurde nicht gestellt. Das änderte sich im Inquisitionsverfahren. Nun musste sich das Gericht umfassende Kenntnis von jeder Straftat verscha≠en, um diese aufzuklären und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Das Dreiecksverhältnis Richter-KlägerBeschuldigter wurde zum Dialog zwischen Richter und Angeklagtem, wobei der Richter sowohl belastendes als auch entlastendes Material sammeln sollte. Zu einer Wahrheitserforschung im heutigen Sinn fehlten den Richtern allerdings bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts die Technologie und mehr noch die strafprozessualen Grundlagen. Das Inquisitionsverfahren hatte klare Beweisregeln, die dem Sachbeweis, d. h. den Spuren einer Tat, nur sekundäre Bedeutung zusprachen, um Irrtum und Willkür des Richters auszuschließen. Das führte zur Konzentration auf den Angeklagten bei der Auf klärung der Straftat. Die Folter war ein bevor-
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zugtes Mittel, um den Angeklagten zum Reden zu bringen. Solange die Richter Gewalt anwenden konnten, gab es sozusagen keinen Bedarf an zusätzlichen Technologien im Sinne einer modernen Kriminalistik, um die Wahrheit zu ermitteln. Erst die Abkehr von der Folter als einem Mittel der Wahrheitsfindung im späten 18. Jahrhundert erforderte die Entwicklung neuer Technologien, mit denen man den „verstockt leugnenden“ Angeklagten überführen konnte. An die Stelle von körperlicher Gewalt trat nun die psychologische Überwältigung in langen Verhörsitzungen, in denen der Untersuchungsrichter den Angeklagten in Widersprüche verwickelte. Die angewandte Kriminalpsychologie war geboren. Als schließlich das starre Gerüst der Beweisregeln im Strafverfahren um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgegeben und durch die freie Beweiswürdigung des Richters ersetzt wurde, war der Weg frei für den Sachbeweis. Mit der Verfügbarkeit der entsprechenden Technologien erhielt die systematische Analyse der Spuren zur Jahrhundertwende eine zentrale Bedeutung – die wissenschaftliche Kriminalistik in ihrer heutigen Form konnte sich ausbilden.1 Dieses Kapitel wird sich auf die Folter, ihre Abscha≠ung und die Entstehung der Verhörpsychologie konzentrieren. Die Darstellung verfolgt die weitere Entwicklung dieser Methoden bis ins 20. Jahrhundert, in dem zur Wahrheitsfindung auch die experimentelle Psychologie in Form des Polygraphen, des so genannten Lügendetektors, eingesetzt wird. Die Hexe und ihre Richter Im Jahre 1670 verfing sich die 21-jährige Regina Bartholome in den Netzen der Augsburger Inquisition. Sie wurde eigentlich vor Gericht zitiert wegen der Morddrohungen, die sie gegen die frisch vermählte Frau eines Mannes ausgesprochen hatte, den sie selbst für sich begehrte. Im Laufe des Verfahrens gestand sie jedoch ein Verhältnis mit dem Teufel ein, der für sie Geliebter, Vater und Ehemann gewesen sei. Anhand dieses Falles präsentiert die britische Historikerin Lyndal Roper ihre Einsichten über die psychologische Dynamik der Hexenprozesse – über die zwischenmenschlichen Konflikte zwischen Frauen, die sich in Fremd- und Selbstvorwürfen entluden.2 Dieser Fall ist auch für
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ein Verständnis des Inquisitionsverfahrens aufschlussreich. In Augsburg gab es bis dato keine massenhafte Hexenverfolgung. Es fehlte daher eine intensive Bedrohungsvorstellung, die in anderen Teilen Deutschlands die weit gehende Auf hebung von Verfahrensgrundsätzen mit sich brachte. Der Augsburger Rat führte die Untersuchung strikt nach den Regeln des Inquisitionsverfahrens, fand sich jedoch mit einem Tatbestand konfrontiert, der nur in den Vorstellungen von Richter und Angeklagten vorhanden war. Wie versuchte nun das Gericht in Augsburg die Wahrheit über die Beziehungen zwischen Regina Bartholome und dem Teufel zu ermitteln und empirisch zu überprüfen? Im Laufe des Verfahrens bekannte Regina Bartholome, dass sie im Alter von 16 Jahren mit dem Teufel zusammengetro≠en sei. Er habe wie ein Edelmann ausgesehen – in samtenen Hosen, mit Stiefeln und Sporen – und sie in einem Wirtshaus fürstlich bewirtet. Lungenwurst, Schweinebraten und Bier ließen sich die beiden alleine in der Gaststube sitzend schmecken. Außerdem gab ihr der Teufel Geld, damit sie mit ihm einen siebenjährigen Pakt schließe und ihn anstelle Gottes zum Vater annehme. Der Teufel wurde auch ihr Liebhaber und sie musste versprechen, ihm alle Kinder zu überlassen, die sie gebären würde. In Regina Bartolomes Geständnis fehlte lange Zeit ein wesentliches Element des Hexenglaubens – der Schadenzauber. Der Tatbestand der Hexerei hatte sich seit dem Mittelalter aus den Ketzerei- und Zaubereiprozessen entwickelt, angereichert um den populären Glauben an den nächtlichen Flug durch die Luft. Die Hexerei bestand daher aus fünf Hauptpunkten: Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Flug durch die Luft, Teilnahme am Hexensabbat mit Teufelsanbetung und eben Schadenzauber.3 Bis zur fünften Befragung hatte die junge Hexe das Verhältnis mit dem Teufel detailliert geschildert, ohne auf diesen letzten Punkt einzugehen. Erst in der sechsten Sitzung gestand sie unter dem Eindruck der Folter, dass sie versucht hatte, zwei Häuser in Brand zu stecken, die Braut des von ihr geliebten Mannes zu vergiften und ihren Vater zu ermorden. Schließlich wies sie noch darauf hin, dass sie nackt auf Schafen geritten sei, um diese zu verderben. Die Angeklagte brachte nun konkrete Sachverhalte in das Verfahren ein. Das Gericht nutzte diese Gelegenheit, um durch eine gezielte Befragung von Zeugen den Wahrheitsgehalt der belastenden Aussagen zu
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überprüfen. Die angeblichen Opfer der Brandstiftung konnten die Selbstanschuldigungen der jungen Frau ebenso wenig bestätigen wie die Schaf hirten, die nichts Auffälliges an ihren Herden wahrgenommen hatten. Selbst die junge Braut, die von Regina Bartholome mit solcher Inbrunst gehasst wurde, hatte keine Anzeichen einer möglichen Vergiftung wahrgenommen. Sie betonte jedoch, dass sie sich immer vor der Angeklagten gefürchtet hatte. Nachdem die Verifizierung dieser Selbstbeschuldigungen gescheitert war, konzentrierte sich der Rat auf die Verfolgung der jungen Frau wegen Hurerei mit dem Teufel. Dazu war sie nach eigenen Aussagen durch Lüsternheit und Geldgier verführt worden. Die Strategien des Gerichts Der Augsburger Rat verfolgte in seinen Befragungen der angeblichen Hexe keine Strategie der Überführung durch Suggestivfragen. Selbst die Unmöglichkeit der Verifizierung des Schadenzaubers, der ja ein wichtiger Bestandteil des damaligen Hexenglaubens war, stellte das Gericht nicht vor ein grundsätzliches Problem. Der Rat begnügte sich mit den Geständnissen der jungen Hexe, die sich auf den Teufelspakt und ihre sexuelle Beziehung mit dem Teufel bezogen und die mit dem kulturellen Wissen der Richter übereinstimmten. Das Gericht setzte zur Ermittlung der Wahrheit unterschiedliche Strategien ein. Es drohte mit der Anwendung der Folter bzw. wandte diese tatsächlich an, kontrollierte die Aussagen der Angeklagten im Rückgri≠ auf das eigene Wissen über Teufel, Hexen und Dämonen und deren Wirken innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Mit der vorsichtigen Anwendung der „peinlichen Frage“ – so der zeitgenössische Ausdruck für die Folter – folgte der Augsburger Rat den strafprozessualen Vorschriften. Das war in Hexenprozessen nicht die Regel. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzte sich bei deutschen Juristen die Auffassung von der Hexerei als einem Ausnahmeverbrechen durch.4 Die dadurch ermöglichte Radikalisierung der Hexenverfolgung stieß auf heftigen Widerspruch, unter anderem vonseiten des Vatikans. In einer Instruktion aus dem frühen 17. Jahrhundert prangerte der Papst zahlreiche Missgri≠e an, wobei er vor allem die exzessiven Folterungen und leichtfertigen Anklagen kritisierte.5
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Der Augsburger Rat setzte nicht ausschließlich auf die Folter, sondern auf eine sorgfältige Befragung. Durch die wiederholte Thematisierung von entscheidenden Sachverhalten sollten Widersprüche ausgeräumt werden und die Wahrheit über die Beziehung der jungen Hexe zum Teufel ans Licht kommen. Die gemeinsam mit der Beklagten konstruierte Geschichte ihrer Teufelsbuhlschaft folgte den Konventionen der damaligen Zeit, enthielt aber auch eine Reihe von Details, die sich nicht ausschließlich auf die stereotypen Vorstellungen von Hexen und ihrem Treiben zurückführen lassen, sondern ganz individuelle Züge trugen. Die Befürworter der Folter verstanden den körperlichen Zwang lediglich als ein Mittel, um die bestehenden Hemmungen gegenüber einem Geständnis zu überwinden. Es hatte aus ihrer Sicht keinen Einfluss auf den Inhalt des Geständnisses. Dieser Auffassung wurde bereits in der Frühen Neuzeit von kritischen Beobachtern widersprochen. Um die Verschleierung der Wahrheit durch falsche, unter körperlichen Schmerzen erzwungene Geständnisse zu vermeiden, legte die von Kaiser Karl V. erlassene Peinliche Gerichtsordnung (1532) fest, dass diese Geständnisse freiwillig und ohne Androhung der Folter wenige Tage später bestätigt werden mussten. Der Augsburger Rat war keineswegs besessen von der Idee, Hexen aus der christlichen Gemeinschaft ausmerzen zu müssen.6 Er war sogar bereit, die Selbstbeschuldigungen von Regina Bartolome als Folge einer Geisteskrankheit zu interpretieren. Ihr Vater hatte ja zu Protokoll gegeben, dass seine Tochter „leppisch“ im Kopf, d. h. geistig etwas behindert sei. Die Richter gaben daher ein medizinisches Gutachten in Auftrag, das die volle Zurechnungsfähigkeit feststellte. Zu dieser Zeit gab es durchaus Fälle, in denen die Ärzte die Geständnisse als Ausgeburt einer melancholischen Psyche beurteilten – eine Auffassung, der sich der Rat dann auch anschloss.7 Im Fall von Regina Bartolome fanden die Ärzte zwar auch Anzeichen einer Melancholie, führten diese jedoch auf die Auswirkungen der Haft zurück. Was veranlasste Regina Bartolome – bewusst oder unbewusst –, den Rat auf ihre Beziehung mit dem Teufel hinzuweisen, obwohl sie wusste, welche Konsequenzen ein solches Geständnis haben würde? Lyndal Roper schreibt dem Teufel in der Geschichte der jungen Hexe eine wichtige Rolle zu: In der Figur des Teufels konnte Regina psy-
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chische Konflikte thematisieren, ihnen gleichermaßen Gestalt geben. Diese Konflikte bezogen sich auf ihre frühreifen Liebesbeziehungen zu ‚väterlichen‘ Figuren, auf die Vertreibung der Mutter aus der Stadt nach einem Ehebruch und auf ihre Schuldgefühle aufgrund der engen Beziehung zu ihrem Vater, dem sie in mancher Hinsicht die Frau ersetzen musste. Diese Interpretation nutzt Einsichten der Psychoanalyse zur Erklärung der Hexenphantasien. Selbst wenn man einer solchen Erklärung kritisch gegenübersteht, kann man nicht leugnen, dass die Geständnisse der Hexen eine weit reichende Auf lehnung gegen väterliche Autorität bedeuteten. Es war eine Missachtung der Autorität Gottes, der Obrigkeit und – im Fall der Regina Bartolome – des eigenen Vaters. Mit dieser Deutung ö≠net Roper den Blick auf ein zentrales Element der frühneuzeitlichen Herrschafts- und Gerichtsordnung. Eine Straftat wurde nicht als Auf lehnung gegenüber der Gesellschaft, sondern gegenüber der bestehenden Herrschaftsordnung verstanden. Ein wesentliches Element der Strafverfolgung war die Wiederherstellung dieser Ordnung.8 Das Gericht erwartete die bedingungslose Unterwerfung der Angeklagten unter ein Ritual ö≠entlicher Überwältigung, mit dem sie sich der richterlichen „Gnade“ auszuliefern hatte. Damit stellte sie die Legitimationsgrundlage des Systems wieder her, das sie durch ihre Handlungen in Frage gestellt hatte. Nach dieser Unterwerfung konnte die Obrigkeit Großzügigkeit beweisen und Gnade walten lassen. Der britische Historiker Douglas Hay sieht dieses Wechselspiel von Unterwerfung und Gnade als wesentliches Merkmal der Strafjustiz in der Frühen Neuzeit. Die Gnade durfte jedoch nicht berechenbar sein, um Gehorsamkeit, Dankbarkeit und Ehrerbietung gegenüber den weltlichen und geistlichen Autoritäten zu garantieren.9 Regina Bartolome war geständig, aus Habgier und Lüsternheit einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und mit ihm eine sexuelle Beziehung unterhalten zu haben. In einem solchen Fall musste die Obrigkeit die Todesstrafe vollziehen, um das Gemeinwesen vor einer möglichen Vergeltung Gottes zu schützen. Die Art der Hinrichtung – das Verbrennen – ist kennzeichnend für diese Art von Vergehen. Denn damit wurde eine radikale Vernichtung und Auslöschung des Missetäters garantiert,
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durch die sich das Gemeinwesen von einem derart schwer wiegenden Verbrechen reinigen konnte.10 Folter – legitimes Hilfsmittel bis ins 18. Jahrhundert Der Schriftsteller und Philosoph Michel de Montaigne bezog in seiner Auseinandersetzung mit der Folter eine Position, die zu seiner Zeit keine Mehrheitsmeinung war: Die Wilden, welche die Leichen ihrer Verstorbenen braten und verspeisen, sind mir weniger zuwider als jene unter uns, die Menschen grausam verfolgen und lebendigen Leibes foltern.11
Seine Aussage gewinnt angesichts des Kampfes gegen den Terror neue Aktualität. Die gefangenen Terroristen werden auch heute einer breiten Palette an Zwangsmitteln unterworfen, um ihnen Informationen zu entlocken, die für das Gemeinwesen von entscheidender Bedeutung scheinen.12 Als Teil des Strafverfahrens wurde die Folter in der Frühen Neuzeit zunehmend reglementiert. Sie beruhte nicht auf der Anwendung blinder Gewalt, sondern unterstützte die Befragung durch ein geregeltes und abgestuftes System von Schmerzzufügung. Wie Abbildung 1 zeigt, schrieb der Gesetzgeber des 18. Jahrhunderts selbst die Art und den Gebrauch der Marterwerkzeuge vor, um die „peinliche Frage“ in den Strafprozess einzubinden. Derart domestiziert sollte die Folter den boshaften Willen des Angeklagten ausschalten, ohne ihm dauerhaften körperlichen Schaden zuzufügen.13 Nur hinreichende Verdachtsgründe ermöglichten den Einsatz der Folter gegen einen Angeklagten. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 legte die Spielregeln fest: Zwei zuverlässige Zeugen mussten den Sachbeweis wie etwa das corpus delicti bestätigen bzw. ein Zeuge musste die Tat selbst gesehen haben. Wenn unter diesen Umständen der Angeklagte weiterhin hartnäckig leugnete und weder ein glaubhaftes Alibi noch andere Entlastungsgründe vorbringen konnte, durfte er gefoltert werden. Die Kriminalisten der Frühen Neuzeit waren nicht naiv. Sie wussten, dass die Zufügung von Schmerz nicht nur den Widerstand gegen ein
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1 Die Peinliche Gerichtsordnung Maria Theresias (1796) gab im Anhang klare Vorgaben für die Anordnung und Durchführung der einzelnen Foltermethoden wie dem Strecken auf der Folterleiter.
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Geständnis überwinden, sondern auch falsche Zeugnisse produzieren konnte. Dadurch war ein wesentlicher Grundpfeiler des Inquisitionsverfahrens in Gefahr: die Suche nach der materiellen Wahrheit. Deshalb forderte man eine kritische Beurteilung des Geständnisses. Die Peinliche Gerichtsordnung Maria Theresias aus dem Jahr 1769 ließ das Geständnis nur dann als vollständigen Beweis zu, wenn es fünf Voraussetzungen erfüllte: Es musste klar und deutlich sein, ausführlich den Tathergang und die Motivation schildern, mit Zeugenaussagen und dem Sachbeweis übereinstimmen, es musste vor dem Gericht abgelegt und durfte nicht widerrufen werden (Artikel 32, §§1–7). Der Gefahr eines falschen Geständnisses begegnete man einerseits durch die Disziplinierung der Richter, denen man strengstens untersagte, Suggestivfragen zu stellen, schon gar nicht während der Folter. Andererseits ho≠te man die Zuverlässigkeit des Geständnisses zu erhöhen, wenn man dem Beschuldigten jene Informationen entlockte, die zum exklusiven Wissen des Täters und Opfers gehörten – „die kein vnschulldiger wissen oder sagen khann“, wie Artikel 53 der Carolina feststellte.14 Im Inquisitionsverfahren veränderte sich somit die Rolle des Geständnisses: Es wurde von einer Strafunterwerfungserklärung zu einem „umständlichen Bericht“, der Angeklagte war gleichzeitig Schuldiger und Informationsquelle.15 Für das Verhör des Beschuldigten entwarf der Richter ein spezielles Frageschema.16 Es begann mit einer Rekonstruktion des Lebenslaufs. Die Angaben des Angeklagten wurden überprüft, Leumundszeugnisse eingeholt. Anschließend konzentrierte sich der Richter auf das Delikt und ein mögliches Alibi. Um den Angeklagten zu einem Geständnis zu bewegen, setzte man auf langsame Zermürbung. Die Fragen und Antworten wurden protokolliert und jede Seite des Protokolls vom Befragten signiert. Wichtige Punkte sprach der Richter immer wieder an und verglich die Antworten miteinander. Etwaige Widersprüche boten einen willkommenen Ansatzpunkt, um psychologischen Druck zu erzeugen, worauf die Constitutio Criminalis Theresiana im 31. Artikel hinweist: […] sodann die zur Sache dienliche Fragstücke schriftlich und Punktenweis in fortlaufender Zi≠erzahl zu verfassen, auch dieselben mit guter Ordnung und so zu sagen Kettenweis und, so viel thunlich, dergestalten einzurichten, daß gleichsam ein Fragstück aus dem anderen abfliessen und die Fragen immer stär-
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ker und zu Überzeugung des Inquisiten eindringlicher werden, damit derselbe andurch, wenn er sich solchergestalten in die Enge gebracht und überwunden siehet, desto wirksamer zur Bekanntnis der Wahrheit bewogen werde.
Für die Überführung eines Täters musste der Richter das komplizierte Beweisrecht in Betracht ziehen, das den Wert der einzelnen Beweismittel klar festlegte. Der Sachbeweis war ohne Bestätigung durch einen Zeugen fast wertlos. Aus diesem Grund war die Beweiswürdigung durch den Richter zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, aber stark limitiert. Angesichts dieser Beschränkungen blieb die Folter bis ins 18. Jahrhundert ein wichtiges Hilfsmittel, um einen durch Indizien stark belasteten Verdächtigen zu einem Geständnis zu bewegen. Trotz ihrer Bedeutung für das frühneuzeitliche Strafverfahren war die Folter im Laufe des 18. Jahrhunderts immer heftigeren Angri≠en ausgesetzt. Die Einwände bezogen sich vor allem auf ihre Dysfunktionalität zur Wahrheitssuche. Kritische Beobachter nahmen an, dass gerade die abgefeimtesten Schurken sich eher durch hartnäckiges Leugnen aus den Fängen der Justiz befreien konnten als unschuldig Angeklagte. Die deutlichsten Worte fand Cesare Beccaria. Er bezeichnete die Folter als „das sichere Mittel, kräftige Verbrecher freizusprechen und schwache Unschuldige zu verurteilen“.17 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schlossen sich immer mehr Regierungen dieser Kritik an. Ausgehend von Preußen, wo Friedrich II. bereits im Jahr 1740 ein eingeschränktes Folterverbot erlassen hatte, wurde in den anderen deutschen Staaten und im restlichen Europa die Folter abgescha≠t.18 Weder in Preußen noch in anderen Teilen Deutschlands war die Abscha≠ung der Folter von einer weit reichenden Reform des gerichtlichen Beweisrechts begleitet. Noch immer blieb das Geständnis das Herzstück des Verfahrens, es konnte aber nicht mehr länger durch die Anwendung von körperlicher Gewalt erzwungen werden. Die Weigerung des Angeklagten, auf die begründeten Vorhaltungen von Indizien durch das Gericht entsprechend zu reagieren, konnte jedoch als Ungehorsam verstanden und mit so genannten körperlichen Ungehorsamsund Lügenstrafen geahndet werden. Diese Strafen wurden nur selten verhängt, wie eine Studie zum Wiener Kriminalgericht zeigt.19 Nach der Abscha≠ung der Folter waren die Juristen und die Legisla-
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tive gezwungen, sich mit der Bedeutung der Indizien neu auseinander zu setzen. Um den Spielraum des Richters bei der Beweiswürdigung zu erhöhen, wurden die Indizien klassifiziert und in ein neues Regelwerk für die Urteilsfindung integriert. Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 schrieb etwa vor, dass für die Verhängung einer ordentlichen Strafe – aber nicht der Todesstrafe – je zwei vorausgehende, gleichzeitige und nachfolgende Indizien zusammentre≠en müssten. Erst im Jahr 1838 verabschiedete sich mit dem Königreich Sachsen der erste deutsche Staat von diesen komplizierten Beweisregeln, an deren Stelle die freie Beweiswürdigung durch die Richter trat. Einheitlich geregelt wurde sie für ganz Deutschland durch die Reichsstrafprozessordnung von 1877. Die damals eingeführten Vorschriften sind auch heute noch geltendes Recht.20 Das Ringen um die Wahrheit im Verhör Die Richter des späten 18. Jahrhunderts setzten vor allem auf die Verstärkung des psychologischen Drucks auf den Inquisiten. Mit einer raffinierten Verhörtechnik, die sich von der praktischen Erfahrung der Kriminalisten ebenso inspirieren ließ wie von der Psychologie des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, wollte man ein zuverlässiges Geständnis auch ohne Gewaltanwendung erreichen. Diese Verhörpsychologie baute auf einer umfassenden Beobachtung von Angeklagten und Zeugen auf und stellte dem Richter eine Semiotik der Gemütsbewegungen sowie eine Reihe von kommunikativen Praktiken zur Überwältigung des leugnenden Schuldigen zur Verfügung. Erst relativ spät – zur Zeit der Jahrhundertwende – setzte sich die Kriminalpsychologie auch mit dem verhörenden Richter auseinander. Der Kriminalist sollte sich zuerst einen Eindruck vom Charakter des Verhörten verscha≠en, um dessen Angaben zur Person kritisch zu prüfen und Strategien für das weitere Verhör zu entwickeln.21 Zur Zeit des Vormärz konzentrierten sich die Kriminalisten noch auf die Körperhaltung und die Physiognomie. Hundert Jahre später verfügten sie bereits über ein ganzes Arsenal an wissenschaftlichen Einsichten zur Charakterbeurteilung, von der experimentellen Psychologie über die Konstitutionsbiologie bis hin zur Psychoanalyse. Das Resultat dieser Beobachtungen war eine erste Klassifizierung des Verhörten anhand von psycho-
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logischen Kategorien. In Anlehnung an Kretschmers Buch Körperbau und Charakter (1921) empfahl Friedrich Geerds noch in der Nachkriegszeit die Einteilung in willensschwache Triebmenschen, denen mit Autorität zu begegnen ist, in Willensmenschen, die mit Zurückhaltung zu behandeln sind, in leichtsinnige Vorstellungsmenschen, die der Richter nüchtern und sachlich behandeln sollte, in Gefühlsmenschen, für die man viel Zeit aufwenden müsste, und schließlich in Empfindungsmenschen, bei denen man nur mit Sachlichkeit und Entschlossenheit ein erfolgreiches Verhör führen konnte.22 Im weiteren Lauf des Verhörs achteten die Richter vor allem auf die verborgenen Zeichen der Schuld, die eine kritische Lesart von Aussagen ermöglichten. Die Verhörsituation begünstigte gewisse Zeichen, wie das düstere Brüten, den sinnenden Blick und die gekrümmte Stellung des sitzenden Körpers.23 Solche Anzeichen einer inneren Unruhe wurden von den Kriminalisten mit subtilen Beobachtungsmethoden registriert. Der Wiener Kriminalbeamte Rudolf von Felsenthal schlief Mitte des 19. Jahrhunderts sogar in dem Zimmer neben dem Arrestlokal, „um immer in der Nähe zu sein, und um selbst […] während der Nacht noch meine Beobachtungen fortsetzen zu können“.24 Der Verdächtige wurde zum Objekt der Beobachtung, weil die Richter davon ausgingen, dass der Körper die Wahrheit sagt. Denn die vom vegetativen Nervensystem gesteuerten Körperfunktionen konnten nicht willkürlich beeinflusst werden. Psychischer Stress musste sich deshalb in mehr oder weniger verdeckter Form ausdrücken.25 Um den körperlichen Zeichen der Schuld auf die Spur zu kommen, wurde das Verhalten des Verhörten mit normativen Erwartungen verglichen.26 Das kommt in den psychologischen Schlussfolgerungen von Ludwig Pfister aus den 1820er-Jahren deutlich zum Ausdruck. In seinen Merkwürdigen Criminalfällen, geschrieben als Anleitung für die Untersuchungsführung, präsentierte er psychologische Beobachtungen in den Fußnoten. In einem der Fälle war ein Ehepaar wegen des Mordes an ihrem Untermieter verdächtig. Die Frau hatte bereits gestanden, die Schuld dabei gänzlich auf sich genommen, um ihren Mann zu entlasten. Pfister war von der Mitschuld des Mannes überzeugt und wollte ihn durch die Konfrontation mit dem Geständnis seiner Frau zu einem Bekenntnis bewegen. Dazu lud er zwei Bürgermeister ein, die als Zeugen die Aus-
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2 Verhör eines Angeklagten vor dem Inquisitor, links im Bild sieht man den Schreiber (Kupferstich von 1692).
sagen der Ehefrau gegenüber dem leugnenden Mann bestätigten. Pfisters Strategie schlug fehl. Er notierte dazu in der Fußnote: Der wirklich unschuldige Mann würde auf diese nun aus dem Munde des dritten Zeugenpaares, gegen welche er durchaus keinen Argwohn eines Einverständnisses mit dem Inquirenten gegen ihn hegen konnte, von der Ueberzeugung der Wahrheit ihrer Behauptung überwältigt, – in Jammer über sein Unglück, in Verwünschungen gegen seine Frau ausgebrochen seyn; – nicht, wie hier Johann U. that, Gott und der Welt Trotz geboten haben.27
Für ihre Charakterstudien benötigten die Richter ein entsprechendes Talent. Carl Gottlieb Svarez hielt das psychologische Geschick sogar für eine wesentliche Qualifikation des Strafrichters. In seinen Vorträgen vor dem preußischen Kronprinzen empfahl er am Ende des 18. Jahrhunderts die Einstellung solcher Richter zur Untersuchung von „groben Verbrechen“, die für ihre „vorzügliche Geschicklichkeit, Erfahrung und Menschenkenntnis“ bekannt waren.28 Talent allein war allerdings nicht ausreichend. Der Richter sollte sich außerdem mit den einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten auseinander setzen, die hundert Jahre später von engagierten Kriminalisten wie Hans Gross gezielt für ihre Kollegen auf bereitet wurden. In dem Kampf zwischen Richtern und Angeklagten am Verhörtisch
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waren die Wa≠en ungleich verteilt. Psychologisches Geschick konnten beide Parteien für sich nutzen. Exklusiv den Richtern vorbehalten war die Kontrolle über den Verlauf des Verhörs und die schriftliche Aufzeichnung der Aussagen. Der Untersuchungsrichter kontrollierte die Verhörsituation in jeder Hinsicht. Er nahm einen bevorzugten Platz am Verhör- oder Schreibtisch ein, hatte einen Schreiber und andere Hilfskräfte zur Verfügung, um mögliche Übergri≠e des Angeklagten zu verhindern (s. Abbildung 2). Seine Kontrolle erstreckte sich auch auf die Position des Verhörten im Raum. Dieser sollte so sitzen, dass er sich und seine Bewegungen nicht hinter einem Tisch verbergen konnte. Der Richter saß im Zweifelsfall im Dunkeln, mit dem Rücken zur Lichtquelle, die dem Verhörten das Gesicht beleuchten sollte, um die bewussten und unbewussten Reaktionen auf Fragen und Vorhaltungen genau verfolgen zu können.29 Wie Ludwig Pfister aus langjähriger Erfahrung anmerkte, konnte man die erfahrenen Verbrecher, die bereits öfter vor Gericht gestanden waren, schnell an der Weigerung erkennen, ihr Leben zu schildern. Der Angeklagte sei mit allen Mitteln zu einer „zusammenhängenden Erzählung zu bringen, damit ihm im Eifer dieser Erzählung vielleicht manches entfahre, was er auf eine bestimmte Nachfrage nicht angegeben haben würde“.30 Zusätzlich zum Zwang zur ausführlichen Erzählung unterwarfen die Richter ihre Verhörten dem Test der Wiederholung. Einmal zu Protokoll gegebene Wahrnehmungen, Handlungen oder Begegnungen konnten in späteren Verhörsitzungen immer wieder nachgefragt werden. Anders als der Verhörte, der sich keine Notizen machen durfte, konnte der Richter in den Akten die vorher gemachten Aussagen mit der aktuellen Version vergleichen. Die fehlende Kohärenz zwischen den Aussagen erzeugte einen erheblichen Druck, dem manche Geständnisse geschuldet waren. Um einen solchen Erfolg zu erzielen, musste der Richter gut vorbereitet sein. Noch in der Nachkriegszeit ermahnten die Autoren von Handbüchern ihre jungen Kollegen, das Aktenstudium ernst zu nehmen: „Man muß also alles, was in den Akten steht, entweder im Kopf oder auf seinem Notizzettel haben.“31 Disziplin, Kontrolle und gute Vorbereitung waren wichtige Voraussetzungen für das Verhör. Sie garantierten aber noch keinen Erfolg. Die
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Richter benötigten auch die Fähigkeit, einen persönlichen Kontakt zum Verhörten herzustellen. Landgerichtsdirektor Albert Hellwig bezeichnete das Verhör in den 1920er-Jahren als eine psychische Leistung, die nur dann gelingen konnte, wenn es eine „innere seelische Verbindung zwischen Vernehmenden und Vernommenen … [gibt]“.32 Dieser Kontakt war fragil, wie bereits hundert Jahre zuvor Ludwig Pfister argumentiert hatte: Er bezeichnete es als „ein schweres und saures, mitunter auch manchmal ekelhaftes Stück Arbeit“, einen Verbrecher, der trotz widersprechender Indizien leugnet, ohne Gewaltanwendung zum Geständnis zu bewegen. Ebenso schwierig war es, einen geständigen Verbrecher in der Zeit zwischen dem letzten Verhör und dem Urteilsspruch in demselben „Grade von Hingebung zu erhalten, durch welche das Geständniß veranlaßt worden war“.33 Die größte Herausforderung für den Richter war die Einschätzung der Aussagen von Zeugen und Angeklagten. Die Psychologie, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Einblicke in die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung und der Erinnerung produzierte, bot den Kriminalisten dazu wichtige Anhaltspunkte. Hans Gross beschrieb die Kriminalpsychologe daher als „eine Zusammenstellung aller Lehren der Psychologie, welche der Criminalist bei seiner Arbeit nötig hat“.34 In der Auseinandersetzung mit dieser Literatur fand Gross viel Aufschlussreiches, aber wenig Erfreuliches. Er musste feststellen, dass die Psychologen die Aussagefälschung als eine normalpsychologische Tatsache betrachteten und die fehlerfreie Erinnerung und Wiedergabe des Erlebten nicht für die Regel, sondern für die Ausnahme hielten. Für den Untersuchungsrichter bedeutete das eine Aufforderung zum Misstrauen gegenüber den Aussagen von Zeugen und Beschuldigten, aber auch seinen eigenen Schlüssen gegenüber. Einen Ausweg brachte die Einführung des Körpers als Bezugspunkt: Geerds verwies in den 1970er-Jahren auf den „alten kriminalistischen Grundsatz, daß man den Wirklichkeitsgehalt einer Aussage am besten erkennt, wenn man sich jedes Wort und jeden geschilderten Vorgang körperlich vorzustellen versucht“.35 In den Studien zur Psychologie der Aussage wurden wesentliche Annahmen der Kriminalisten über die Glaubwürdigkeit von Beobachtungen infrage gestellt. Für einen Richter des 19. Jahrhunderts war es selbstverständlich, den Beobachtungen eines gebildeten Mannes mehr Ver-
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trauen entgegenzubringen als denjenigen eines Arbeiters, Bauern oder gar einer Frau. Während sich die Vorurteile gegen die Zuverlässigkeit von Frauen und Mädchen als Zeuginnen fortsetzten, büßten die Intellektuellen ihre Vorrangstellung ein. Die Kriminalpsychologen stellten nämlich fest, dass Menschen, die über Bildung, Temperament und Tatkraft verfügten und im Leben den Blick auf das Wesentliche richteten, häufig Nebensächliches zugunsten der Hauptsache missachteten und daher keine guten Zeugen waren. „So erklärt sich […] daß primitivere Naturen oft weit bessere und zuverlässigere Zeugen sind als intelligente und hochgebildete“.36 Das Protokoll – analytisch und authentisch Ludwig Pfister vermittelt in einem Ausschnitt aus dem Verhör mit einer Beschuldigten einen interessanten Einblick in das Selbstverständnis des Inquisitionsverfahrens. Es beruhte nicht nur auf einer wohl durchdachten Ordnung der Befragung, sondern mehr noch auf einer umfassenden Verschriftlichung der Kommunikation. Sie schwieg lange. Frage: Sie solle Antwort geben. Antwort: Was ist’s denn, wenn ich auch Antwort gebe. Frage: Es ist darum zu thun, daß man ihre Antwort kennen lernt, und niederschreiben läßt.37
Vor der Einführung der ö≠entlichen und mündlichen Hauptverhandlung um die Mitte des 19. Jahrhunderts urteilten die Richter nur aufgrund der Aktenlage. Für sie galt der tre≠ende lateinische Spruch: quod non est in actis, non est in mundo 38 (was nicht in den Akten steht, existiert nicht). Selbst heute haben die Protokolle der Untersuchungsrichter und der ermittelnden Behörden einen hohen Stellenwert für die Auf klärung von Straftaten und die Einschätzung der Angeklagten. Die Kriminalpolizei sieht sich daher mit einem ähnlichen Zwang zur Verschriftlichung konfrontiert wie der Untersuchungsrichter im Inquisitionsverfahren: „Kriminaluntersuchungen und Aktenführung müssen parallel laufen […] Es kann nicht genug geschrieben werden, was auch dem Erfordernis
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der Rechtsstaatlichkeit entspricht“, so der deutsche Kriminalist Manfred Teufel.39 Die Analogie zwischen der heutigen Kripo und dem Untersuchungsrichter des 19. Jahrhunderts ist im Bereich der Protokollführung auffällig. Auch im 19. Jahrhundert war die Richtigkeit und Zuverlässigkeit der Protokolle nicht davon abhängig, dass sie im Wortlaut die Aussagen der Zeugen, Beschuldigten und Opfer wiedergaben. Der Richter musste die relevanten Informationen auswählen, gewichten und zu einer kohärenten Erzählung zusammenstellen. Vereinzelte Vorschläge zur stenografischen Erfassung der gesamten Untersuchung, um einen „getreuen Abdruck des Wahrgenommenen, der mündlichen Aeusserungen des Untersuchungsgerichts und der Vernommenen“ zu erhalten, wurden abgelehnt.40 Dasselbe gilt für das Protokoll der Kripo. Die selektive, gewichtende Darstellung stellt kein Problem für die Auf klärung von Straftaten dar. Wie Geerds argumentiert, trennt die Selektion die „Spreu vom Weizen“ und ermögllicht die Konzentration auf jene Informationen, die für eine Strafsache wesentlich sind. Eine Tonbandaufzeichnung kann daher ein Protokoll niemals ersetzen, sondern nur ergänzen.41 Damals wie heute beruht die Objektivität des Protokolls auf einer weit gehenden Disziplinierung des Beamten. Er muss für die „Richtigkeit einer jeden Zeile, eines jeden einzelnen Ausdrucks … in jedem Augenblick voll und ganz eintreten können“.42 Als Autoren von Protokollen waren die Untersuchungsrichter im Inquisitionsverfahren zusätzlichen Anforderungen unterworfen, die sich auf die narrative Qualität ihrer Texte bezog. Sie mussten sich durch „Deutlichkeit und Wohllaut“ auszeichnen, wie Jagemann feststellte.43 Er forderte die Inquirenten dazu auf, ihre eigene Sprache zu verwenden, ohne dabei den authentischen Eindruck des Protokolls zu gefährden. Diese Gratwanderung zwischen Authentizität und Sprachrichtigkeit sollten sie durch das weit gehende Angleichen ihrer Sprache an den Sprachstil des Verhörten lösen: „Wer kann nun ihre Aussage für wahr halten, wenn sie im Protokolle in bombastischen Phrasen vorgeführt werden, die ein Mensch solchen Standes nicht denkt, geschweige spricht […]“44 Die Sprache des Protokolls durfte aber auch nicht vollständig in der Sprache der Verhörten aufgehen. Die wörtliche Wieder-
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gabe der Aussage war keine tragbare Alternative, weil sie auf analytische und synthetische Elemente verzichtete. Wörtlich zitiert werden sollte daher nur jener Teil der Aussage, der „in Beziehung auf die That, ihre Qualification und den Animus entscheidend ist […]“.45 Die Sprache allein war nicht ausschlaggebend, um ein authentisches Bild der Straftat zu entwerfen. Wie die Sprache der Protokolle die sprachlichen Äußerungen der Beteiligten re-konstruierte, musste auch die Anordnung der Informationen mit dem Tathergang übereinstimmen. Die Ordnung der Erzählung sollte sich an derselben natürlichen Ordnung der Dinge orientieren wie der Tatverlauf selbst. Ganz in diesem Sinne meinte Jagemann: „Die chronologische Ordnung ist zugleich die natürlichste, bei der man nicht leicht irre werden kann […]“46 Die chronologische und kausale Erzählung, die der Inquirent bzw. der Kriminalbeamte präsentierte,47 rief vor dem geistigen Auge des Lesers den beschriebenen Tathergang hervor.48 Als Ratschlag für die stilistische Einlösung dieser Vorgaben empfahl Jagemann den Inquirenten, sich beim Auf bau und der sprachlichen Gestaltung der Protokolle an der Form des klassischen Dramas zu orientieren: „Auch das Lesen guter dramatischer Werke ist nützlich, weil ja doch die Form der articulirten Verhöre auch dialogisch ist […]“49 Von der dialogischen Präsentation erho≠te man die Verstärkung des authentischen Eindrucks. Das exklusive Wissen von Täter und Opfer über die vorgefallenen Ereignisse und Sachverhalte wurde dabei als kommunikative Überwältigung vor Gericht rekonstruiert, die der Inquirent im Dienste der Wahrheitsfindung zu leisten hatte: „Der directe Stil hat den wesentlichen Vorzug […] daß Jeder, der das Protocoll später liest, sich lebendig in den Moment der Entstehung desselben, ja in die Seele und damalige Stimmung des Deponenten zurückversetzen kann.“50 Mit dem Ende des Inquisitionsverfahrens verschwand diese Schreibpraxis keineswegs aus der Verbrechensauf klärung. Friedrich Geerds empfiehlt noch 1976 die Gestaltung des Protokolls in direkter Rede; die indirekte Rede will er nur für Bemerkungen über den Gang der Vernehmung zulassen.51 Das Protokoll war also kein einfach zu beherrschendes Genre. Es musste die Resultate der Untersuchung in einer Form präsentieren, die analytisch und gleichzeitig authentisch war: es musste die Geständ-
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nisse, Darstellungen und Ausflüchte der Verhörten so zu Papier bringen, dass sie von diesen anerkannt und durch ihre Unterschrift bestätigt werden konnten, ohne das weitere Verfahren durch Weitschweifigkeit oder allzu große Knappheit zu gefährden. Das o∏zielle Protokoll wurde begleitet von Aufzeichnungen, die dem Verhörten nicht mitgeteilt wurden. Es handelte sich dabei um Beobachtungen über dessen Verhalten. Denn „nur derjenige Beamte, der selbst diese Vernehmungen […] durchführt, erhält einen unmittelbaren, persönlichen Eindruck von dem Vernommenen. Jeder andere, der als Nachfolger, Vorgesetzter, als Staatsanwalt oder Richter bei seiner Arbeit lediglich die Akten und damit diese Vernehmungsprotokolle sieht, muß sich also nach diesen ein Bild des Sachverhalts und der Aussagepersonen machen und verscha≠en können, um sich auf seine Arbeit […] vorbereiten zu können“.52 Die überraschende Übereinstimmung zwischen den Erwartungen an das Protokoll im Inquisitionsverfahren und der heutigen Praxis der Protokollierung durch die Kripo kann mit einem wichtigen Merkmal kriminalistischer Verfahren erklärt werden. Die Kriminalistik beruht auf einem arbeitsteiligen Vorgehen, bei dem eine Vielzahl von Akteuren, Technologien und Verfahren zur Auf klärung von Straftaten miteinander verbunden sind. Bis zur Hauptverhandlung erfolgt der Austausch von Informationen vor allem auf schriftlichem Weg – durch die Gutachten der Sachverständigen und die Protokolle der ermittelnden Beamten. Der Polygraph und andere neue Technologien Die Abscha≠ung der Folter nötigte die Kriminalisten zu einer Strategieänderung. Solange das Strafprozessrecht die freie Beweiswürdigung nicht vorsah und die technischen Möglichkeiten der Sicherung und Auswertung von Spuren noch nicht ausreichend entwickelt waren, blieb nur die psychologische Überwältigung des Verdächtigen im Verhör. Dazu nutzte man sowohl die eigene Erfahrung als auch die Erkenntnisse der Psychologie – von der Erfahrungsseelenkunde des späten 18. bis zur experimentellen Psychologie des 20. Jahrhunderts. Die psychologischen Kompetenzen wurden von den Kriminalisten in ihre eigenen Praktiken integriert. Als Vermittler dienten einschlägige Lehrbücher, entsprechend auf bereitete Fallgeschichten und die eigene Lektüre.
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3 In den 1930er-Jahren entwickelte Walter Summers an der Fordham University einen so genannten Polygraphen, der physiologische Stressfaktoren wie veränderte Atmung, Pulsfrequenz, Schwitzen etc. registriert und von der New Yorker Polizei noch in den 1950er-Jahren als Lügendetektor verwendet wurde.
Der psychologische Experte erhält seinen Raum im Strafverfahren erst mit der Einführung neuer Technologien, die einen experimentellen Nachweis von Lüge und Täuschung erreichen wollen. Dabei greift man auf Erkenntnisse der experimentellen Psychologie und der Kriminologie der Jahrhundertwende zurück, die messbare körperliche Reaktionen im Fall von psychischem Stress festgestellt haben. Der Polygraph – im Volksmund auch als Lügendetektor bezeichnet – dokumentiert diese Reaktionen und stellt dem Experten das Material für sein Gutachten bereit. Der Polygraph (s. Abbildung 3) ist heute vor allem in den USA, in Israel, Japan und Australien im Einsatz – und zwar nicht nur im Justizbereich. Zahlreiche Firmen bedienen sich dieses Instruments, um die Loyalität ihrer Mitarbeiter zu garantieren und Betrügereien bei Versicherungsleistungen zu verhindern. Mit den derzeit verwendeten Apparaten werden vor allem der Blutdruck, die Atmungsfrequenz, die Puls-
geschwindigkeit, die Hautdurchblutung und die elektrodermale Aktivität gemessen, d. h. die durch emotionales Schwitzen sich verändernde Hautleitfähigkeit elektrischen Stroms. Der Polygraph objektiviert die Beobachtungen der Verhörten durch die Kriminalisten. Bereits die Gebärdenprotokolle verwiesen auf die Anzeichen von psychischem Stress. Die herkömmlichen Formen der Beobachtung waren jedoch sehr fehleranfällig, weil sie ausschließlich von der Kompetenz und Aufmerksamkeit der einzelnen Richter abhingen. Der Lügendetektor könnte durchaus als eine Antwort auf das zunehmende Bewusstsein der Richter von ihrer eigenen Fehleranfälligkeit verstanden werden, weil er die subjektiven Fehleinschätzungen der Reaktionen des Verhörten ausschaltet, indem er diese auf mechanischem Wege misst und die Messwerte auf einem Blatt Papier als Kurvendiagramm ausdruckt. Die Kriminalpsychologie der Jahrhundertwende hat sich allerdings nicht nur mit der Subjektivität der Verhörenden befasst, sondern auch die geringe Eindeutigkeit der psycho-physiologischen Zeichen belegt. Das vegetative Nervensystem reagiert zwar auf emotionalen Stress, dieser Stress ist aber nicht nur durch die Angst vor einer entdeckten Lüge verursacht, sondern kann gleichermaßen durch Angst vor dem Gerichtsverfahren, durch Unsicherheit etc. ausgelöst werden. Die Kenntnisse über die Wechselwirkung zwischen Psyche und Physis sind noch zu wenig di≠erenziert, um exakt den Lügen- bzw. Täuschungsstress von anderen emotionalen Stressfaktoren zu unterscheiden. Eine Validität der Messung ist daher nicht hinreichend gewährleistet, ein Einsatz im deutschen Recht nicht empfehlenswert. Ein solcher Einsatz ist im Übrigen äußerst unwahrscheinlich angesichts verschiedener höchstrichterlicher Urteile zwischen 1954 und 1998, die dem Polygraphentest den Status eines gerichtlichen Beweismittels absprechen.53
2. Experten vor Gericht – Die Einsatzbereiche der Rechtsmedizin Medizinische Sachverständige spielen heute eine wichtige Rolle in der Auf klärung von Verbrechen und bei der Beurteilung der Täterpersönlichkeit. Der Gerichtsmediziner kann den Todeszeitpunkt und die Todesursache feststellen, was für die Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft von entscheidender Bedeutung ist. Ebenso wichtig ist seine Rolle bei der Beweissicherung im Fall von rechtserheblichen Körperverletzungen, z. B. von Misshandlungen und Notzucht. Der Einsatz medizinischer Kenntnisse zur Klärung von rechtlichen Fragen hat eine lange Tradition, die sich bis in die Zeit der Antike zurückverfolgen lässt. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 (s. Kapitel 1) war ein wichtiger Einschnitt, weil sie die gerichtsmedizinische Praxis für die nächsten Jahrhunderte festschrieb. Der Gesetzgeber der Frühen Neuzeit ließ sich von Ärzten als medizinischen Sachverständigen beraten, bestimmte aber Hebammen, Wundärzte und Chirurgen als Auskunftspersonen über Fragen der Schwangerschaft und des gewaltsamen Todes. Seit dem 17. Jahrhundert kämpften die akademisch gebildeten Mediziner gegen diese Gutachtertätigkeit von Chirurgen und Hebammen. Erst im späten 18. Jahrhundert setzten sie sich schließlich durch, als Chirurgie und Geburtshilfe in die medizinische Forschung und Lehre integriert wurden.1 Die zunehmende Autorität der Experten In den Gerichtsverhandlungen des 17. und 18. Jahrhunderts begegnen uns medizinische Experten bereits häufig. Wie das Beispiel der angeblichen Hexe in Kapitel 1 gezeigt hat, waren die Ärzte nicht nur für die Untersuchung von Verletzungen, Mordopfern und Schwangeren zu-
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ständig, sondern auch für die Beurteilung des Geisteszustandes von Beschuldigten. Sie nahmen medizinische Untersuchungen vor, ö≠neten Leichen, besuchten Gefängnisse und schrieben anschließend Berichte. Seit der Einführung der mündlichen und ö≠entlichen Hauptverhandlung im 19. Jahrhundert erhielt der medizinische Experte eine neue Bühne. Er vertrat dort weder Anklage noch Verteidigung, sondern gab den Geschichten eine Stimme, die der tote Körper über seine Verletzungen und Misshandlungen erzählte. Die Rolle des Gerichtsmediziners war und ist jedoch nicht auf ö≠entlichkeitswirksame Auftritte vor Gericht beschränkt. Seine Expertise ist bereits im Stadium der Voruntersuchung entscheidend. Die Medizin erweiterte ihren Einfluss auf die Rechtspflege während des 19. Jahrhunderts. Dazu trug die Einrichtung von gerichtsmedizinischen Instituten bei, in denen Spezialisten neben ihrer Gutachtertätigkeit in Forschung und Lehre involviert waren. Die Gerichtsmedizin entwickelte sich dadurch zu einem spezialisierten Wissensfeld, das allerdings schon bald das Monopol für gerichtlich relevante Expertisen verlor. Mit der Analyse von Giftsto≠en und Blutspuren betrauten die Gerichte immer häufiger Chemiker. Im 20. Jahrhundert wurde die Analyse der Realien, d. h. der am Tatort vorgefundenen Spuren zu einem interdisziplinären Unternehmen, wie in Kapitel 6 ausführlicher dargestellt wird. Seit dem späten 18. Jahrhundert erhielt die Zurechnungsfähigkeit des Täters einen wichtigen Stellenwert für die Festlegung des Strafmaßes und die Zuerkennung von mildernden Umständen. In dieser Zeit begann sich das psychiatrische Wissen deutlich gegenüber einem laienhaften Verständnis von Geisteskrankheiten abzugrenzen, in dem Verhaltensanomalien und Kommunikationsprobleme die wichtigsten Indizien waren. Die Psychiater beanspruchten auf dieser Grundlage die alleinige Autorität zur Feststellung von Geisteskrankheiten. Obwohl sie weniger für die Auf klärung von Verbrechen als für die Beurteilung von Verbrechern herangezogen wurde, ist die Psychiatrie ein wesentlicher Teil der forensischen Medizin, sie schaltete sich regulierend in die rechtliche Beziehung zwischen Kollektiven und Individuen ein.2 Ausgehend von der Begutachtung eines Kindesmords im 17. Jahrhundert schildert dieses Kapitel die unterschiedlichen Einsatzbereiche der
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Gerichtsmedizin und fragt dabei nach den Möglichkeiten und Grenzen des Austausches zwischen dem rechtlichen und dem medizinischen Blick auf Sachverhalte, Beschuldigte und Zeugen. Der Erfolg einer Untersuchung hing oft von der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Richter ab, wie der österreichische Kriminalist Hans Gross 1913 feststellte. Wichtig dafür erschien ihm neben der Kompetenz des Arztes die Fähigkeit des Richters, die richtigen Fragen zu stellen und Verständnis für die Arbeitslogik des Arztes zu haben.3 Die Lungenprobe – Nachweis für eine Totgeburt? Am 8. Oktober 1681 wurde in dem kleinen Städtchen Zeitz, das unweit von Leipzig gelegen ist, eine grausige Entdeckung gemacht: Man fand die Leiche eines Neugeborenen mit blutigen Wunden am Kopf in einem Garten vergraben. Diese Entdeckung kam nicht ganz unerwartet. Die Nachbarn der Anna Voigt hatten gezielt nach dem Leichnam des Kindes gesucht, weil die Schwangerschaft eines 15-jährigen Mädchens zur damaligen Zeit kaum verheimlicht werden konnte. Kindesmord gibt es heute noch; zur Zeit von Anna Voigt war das sogar ein häufiges Delikt. Wie neue Studien zur Sozialgeschichte von Verbrechen und Strafen in der Frühen Neuzeit zeigen, nahm die Zahl der Frauen, die wegen vorsätzlicher Tötung ihres neugeborenen Kindes verurteilt wurden, im Laufe des 17. Jahrhunderts beständig zu. An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erreichten die Hinrichtungen von Kindesmörderinnen einen Höhepunkt. Wegen der Häufigkeit dieses Deliktes wurden in Danzig zwischen 1688 und 1717 sogar mehr Frauen als Männer hingerichtet.4 Kindesmord war ein Kapitalverbrechen. Die gesetzlichen Handhaben gegen die Täterinnen – sehr oft die Mütter der Kinder – wurden seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend verschärft. Ausgehend von Frankreich wurden unverheiratete Schwangere einer rigiden Kontrolle unterworfen, indem bereits die Verheimlichung einer Schwangerschaft kriminalisiert und als Indiz für einen geplanten Kindesmord gewertet wurde.5 Zur Aufdeckung des Kindesmords bediente man sich aller Möglichkeiten, die in der damaligen Zeit zur Verfügung standen: an erster Stelle wurden Hebammen und Ärzte zur sachverständigen Be-
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gutachtung der jungen Frauen bzw. der toten Säuglinge hinzugezogen, aber auch der Richter und seine Henker kamen zum Einsatz. Sie sollten ein Geständnis erzwingen und dadurch das Verfahren – im Sinne der Rechtsprechung – zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Nicht unterschätzt werden darf in diesem Zusammenhang die indirekte soziale Kontrolle und das Gerücht zur Identifizierung von Beschuldigten. Anna Voigt wurde nach der Entdeckung des Leichnams verhaftet und galt als die Beschuldigte eines Kapitalverbrechens. Sie bestritt nicht die Schwangerschaft, aber die Tötung des Kindes. Ihrer Aussage nach hatte sie das Kind tot geboren und nach der Geburt im Garten vergraben, weil sie sich vor einer Strafe wegen verheimlichter Schwangerschaft bzw. wegen ihrer unehelichen sexuellen Beziehung fürchtete. Diese Notlage wurde von den Gerichten nicht berücksichtigt. Denn die Ängste der jungen Frauen vor der Schande und der psychische Stress, in dem sie sich vor und während der Geburt befanden, wurden erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ernst genommen. Anna Voigt hatte das Glück, nicht wie die meisten anderen Kindesmörderinnen aus einer armen Familie zu kommen. Sie war die Tochter eines „angesehenen Mannes“ und wohnte zudem in einer Stadt, in der mit Johannes Schreyer ein gebildeter und wissenschaftlich interessierter Stadtarzt wirkte. Er beschränkte sich nicht auf die üblichen Handgri≠e, sondern wandte die neuesten physiologischen Erkenntnisse seiner Zeit zur Untersuchung des toten Kindes an. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 hatte den Hebammen und Ärzten empfohlen, bei der Untersuchung der Mutter vor allem auf die Veränderung des Körperumfangs nach dem Ende einer verheimlichten Schwangerschaft und auf die Muttermilch in den Brüsten zu achten, bei der Obduktion des Kindes die Lebensfähigkeit, die allgemeine Körperentwicklung und die Spuren der Anwendung von Gewalt zu erforschen. Wurden belastende Indizien gefunden, konnte die Folter gegen die junge Mutter angewandt werden. Der Stadtarzt von Zeitz ließ sich von den Verletzungen am Kopf des Säuglings nicht beirren. Er glaubte der Erzählung der Angeklagten und interpretierte die Wunden als Folge der Suche nach dem Leichnam mit spitzen Stangen. Um die Glaubwürdigkeit von Anna Voigts Aussage zu unterstützen, musste er einen Nachweis finden, der eindeutig die Totge-
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burt belegen konnte. Eine Totgeburt war für die damalige Zeit nichts Seltenes. Mütter und Kinder starben häufig im Wochenbett. Bei verheirateten Frauen war ein solches Ereignis immer belastend, hatte aber kein gerichtliches Nachspiel. Die Hebamme konnte jederzeit den Hergang bezeugen, falls ein Verdacht gegen die Mutter entstehen sollte. Anna Voigt, die wie so viele Kindesmörderinnen ihr Kind alleine und ohne jede Hilfe zur Welt gebracht hatte, konnte jedoch auf keine Zeugen zurückgreifen. Das Zeugnis ihrer Unschuld konnte so nur im Körper des toten Säuglings gefunden werden. Johannes Schreyer kannte die gerade entfachte Diskussion um die Bescha≠enheit der Lunge von Neugeborenen und ihre Veränderungen durch das Einsetzen der Atmung. Bereits Galen, der einflussreiche Arzt der Antike, hatte den Unterschied zwischen der kompakten, unentfalteten Lunge von ungeborenen Kindern und der beatmeten Lunge festgestellt. Nach der Entdeckung des Blutkreislaufs durch den englischen Naturforscher William Harvey im Jahr 1628 gewannen diese Beobachtungen neue Aktualität. Sie wurden in den Schriften des dänischen Anatomen Thomas Bartholin und des niederländischen Forschers Johann Swammerdam weiter verfolgt. Zwei Jahre vor dem Fall Voigt hatte Swammerdam seine anatomisch-physiologische Abhandlung über die Atmung publiziert.6 Für einen Stadtarzt des 17. Jahrhunderts war es nicht üblich, sich umfassend und schnell über die neuesten Entwicklungen im Bereich der Medizin zu informieren. Johannes Schreyer war eine Ausnahme. Er nutzte die physiologischen Einsichten in die Veränderungen der Lunge durch das Einsetzen der Atmung und warf die bei der Obduktion entnommene Lunge des Kindes in ein Behältnis mit Wasser. Als sie unterging, stand für ihn die Unschuld von Anna Voigt fest. In seiner deutschen Publikation zu diesem Fall, die der so genannten Lungenschwimmprobe in der Gerichtsmedizin zum Durchbruch verhalf, fasste er seine Überlegungen nochmals zusammen. Das Kind musste tot geboren sein, weil „die aus dem Leibe des Kindes genommene und auf das Wasser hingeworfene Lunge untertauchte, welches, wie ich mich erinnerte die Curiosi und andere hochgelehrte Medici, für ein Zeichen eines in Mutter-Leibe gestorbenen Kindes angeben […]“7 Seit diesem Fall gehört die Lungenschwimmprobe zum festen Repertoire der Gerichtsme-
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dizin. Sie wird auch heute noch eingesetzt, obwohl man mittlerweile weiß, dass sie nicht völlig zuverlässig ist. Eine Lunge kann als Folge der Verwesung leichter als Wasser sein, auch wenn sie niemals beatmet wurde. Im späten 17. Jahrhundert war die Entscheidung von Johannes Schreyer, die Lunge des Säuglings ins Wasser zu werfen, ein mutiger Schritt. Durch die Nutzung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse wollte er eine junge Frau vor Folter und Hinrichtung bewahren.8 Die neuen experimentellen Verfahren setzten sich jedoch nur langsam in den Gerichtsbezirken der deutschen Staaten durch. Erst seit den 1760er-Jahren gab es ein weit verbreitetes Interesse an der Lungenprobe als einem physiologischen Kennzeichen der Totgeburt.9 Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kritisierte die medizinische Fakultät der Universität Tübingen das geringe Niveau der gerichtsärztlichen Gutachten zum Kindesmord. Aus der Sicht der Universitätsmediziner waren sie unvollständig und daher ungeeignet zur Feststellung des Sachverhalts.10 Der Blick auf die individuelle Notlage Anna Voigt hatte nicht nur das Glück, einen fachlich interessierten medizinischen Gutachter zu haben. Sie wurde zudem von einer Koryphäe der damaligen Rechtswissenschaft, Christian Thomasius, verteidigt. Er unterrichtete an der Universität Leipzig positives Recht sowie Naturrecht und war einer der einflussreichsten Auf klärer Deutschlands. Sein Kampf gegen Hexenwahn und Folter lassen ihn als einen unerschrockenen Kritiker der Auswüchse des frühneuzeitlichen Rechtssystems erscheinen. In der Verteidigung von Anna Voigt konnte er dieses Engagement in einen konkreten Fall einbringen. Den gemeinsamen Bemühungen von Schreyer und Thomasius war ein voller Erfolg beschieden. Die Angeklagte musste nur für zwei Jahre die Heimat verlassen, um die verheimlichte Schwangerschaft und die uneheliche sexuelle Beziehung zu sühnen. Das Auftreten von Christian Thomasius als Verteidiger einer vermeintlichen Kindesmörderin kann als Hinweis auf das starke Interesse der aufgeklärten Ö≠entlichkeit am Problem des Kindesmords interpre-
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tiert werden. Der kritische Blick auf die Bekämpfung des Kindesmords o≠enbarte den Auf klärern die Schattenseiten eines höchst ine∏zienten und inhumanen Rechtssystems. Die bestehenden Gesetze und sozialen Institutionen schienen den Kindesmord eher zu fördern als zu reduzieren. Die ö≠entliche Kritik richtete sich ebenso gegen die Gerichtspraxis, vor allem gegen die Anwendung der Folter. Diese Debatte beeinflusste nicht nur die Richter, sondern erhöhte den Druck auf die medizinischen Gutachter, zuverlässige Anhaltspunkte für die Verurteilung der Frauen zu bieten. Das Engagement der Auf klärer drückte sich in den fast 400 Antworten auf eine Preisfrage der Mannheimer Akademie des Jahres 1780 zum Thema Kindesmord aus. Die Preisschriften richteten die Aufmerksamkeit auf die Notlage der jungen Mütter, die aus Verzweif lung zu einem derartigen Schritt gezwungen waren, und forderten eine Bestrafung, die sich an der bisherigen Lebensführung der Angeklagten orientieren sollte. Der Blick auf die ‚Individualität‘ der Täterin sollte dem Beobachter den Zugang zu einer komplexen Notlage erö≠nen, in der sich die tötende Mutter befunden hatte. Literarische Bearbeitungen dieses Themas, wie etwa die Figur des Gretchens in Goethes Faust, folgten demselben Erklärungsmuster. Das Interesse der Fürsten und ihrer Regierungen an diesem Thema beschränkte sich nicht nur auf das Verständnis für die Notlage der Täterinnen, sondern war motiviert von bevölkerungspolitischen Überlegungen. Der Staat des 18. Jahrhunderts benötigte Arbeiter und Rekruten. In den Amtsstuben wurden zahlreiche Projekte entwickelt, mit denen die Bevölkerung erfasst, klassifiziert und möglichst vermehrt werden sollte.11 Beim Kindesmord setzten die Regierungen vor allem auf Prävention, wobei sie die Argumente der Auf klärer durchaus ernst nahmen. Um der sozialen Diskriminierung eines unehelichen Kindes zu begegnen, richteten sie Findelhäuser ein, die häufig mit Geburtsanstalten gekoppelt waren. Die Sensibilität für die psychische Notlage der Kindesmörderinnen veränderte zur selben Zeit die gerichtliche Beurteilung dieser Fälle, solange die Täterin noch nicht polizeilich oder gerichtlich auffällig geworden war.12
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Gewalt- und Sittlichkeitsdelikte Zusätzliche Expertise war vor Gericht vor allem dann gefragt, wenn der menschliche Körper zum Gegenstand der gerichtlichen Untersuchung wurde. Die Constitutio Criminalis Carolina legte die Rolle der medizinischen Expertise genau fest. Im Fall eines gewaltsamen Todes musste der Richter in Begleitung von zwei Schö≠en, einem Schreiber und einem oder mehreren Wundärzten den Leichnam genau besichtigen und die Art der Wunden beschreiben. Der medizinische Sachverständige sollte außerdem die Schwere der Verletzung und ihre Tödlichkeit feststellen; diese Wundbegutachtung war somit prognostisch ausgerichtet. Zur Erstellung der Prognose stützten sich die Chirurgen auf die Lage der Verletzung am Körper, die als Hinweis auf Heilbarkeit bzw. Unheilbarkeit verstanden wurde (s. Abbildung 4). Im Laufe des 17. Jahrhunderts änderte sich der Blick auf die Wunde. Die Obduktion des gesamten Körpers wurde üblich. Verletzungen des Kopfes sowie der Bauch- und Brusthöhle galten nun als besonders gefährlich, weil dadurch innere Organe in Mitleidenschaft gezogen werden konnten. Mit der Rezeption des physiologischen Wissens veränderte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte die Bestimmung der Gefährlichkeit einer Wunde erneut, weil nun der Funktionsausfall von Organen in Betracht gezogen wurde.13 Dieser neue Blick auf Verletzungen ging mit neuen Praktiken der Wahrheitsfindung einher, die aus heutiger Sicht magische Qualitäten hatten. Zur Überführung des Täters war es üblich, die Bahr-Probe bzw. Cruentatio Cadaverum (Bluten der Leiche) anzuwenden, die auf eine lange Tradition als Gottesurteil zurückblicken konnte. Sie beruhte auf der Annahme, dass die Wunden des Opfers bei der Konfrontation mit dem Täter zu bluten begannen. Aus heutiger Sicht erscheint dieses Nebeneinander von moderner physiologischer Argumentation und dem nahezu magischen Glauben an die ‚Zeugenschaft‘ des Leichnams im Angesicht des Täters unvereinbar. Für die Mediziner und Naturforscher des 16. und 17. Jahrhunderts war dies nicht der Fall. Bekannte Gelehrte dieser Zeit fanden für das plötzliche Austreten von Blut aus den Wunden bei der Konfrontation mit dem Mörder Erklärungen, die mit den damaligen wissenschaftlichen Vorstellungen vom Körper durchaus übereinstimmten: die Anti-
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4 Zur Beurteilung der Schwere einer Verletzung gingen die Chirurgen am Beginn der Frühen Neuzeit von ihrer Lokalisation aus, die eine Klassifikation in heilbare (curabilis) und unheilbare (incurabilis) ermöglichte. Zur Diagnose griffen sie auf bildliche Schemata, so genannte Wundenmänner wie diese Federzeichnung aus dem späten 14. Jahrhundert zurück.
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pathie des Verstorbenen gegen seinen Mörder, der Wunsch nach Rache und die Kraft der Seele selbst nach dem Tode konnten das Blut des Toten gezielt in Wallung versetzen.14 Das Nebeneinander von zwei gänzlich unterschiedlichen Zugängen zum Körper von Verletzten und Toten lässt sich im Rückgri≠ auf eine interessante Beobachtung des Freud-Schülers Theodor Reik erklären. Aus seiner Sicht gab es in der Rechtsgeschichte keine lineare Entwicklung vom Gottesurteil über Eid und Folter hin zum modernen Indizienbeweis. Indizien wurden Reik zufolge immer gesammelt und ausgewertet. Die Deutung der Indizien bezog sich auf das Wissen um den Körper und die natürlichen wie übernatürlichen Kräfte, die auf ihn einwirkten.15 In der cruentatio sahen die Gelehrten eine natürliche körperliche Reaktionsweise, die denselben Status als Beweismittel für sich beanspruchen konnte wie die in der Obduktion gemachten Wahrnehmungen zur Tödlichkeit von Verletzungen. Die zeitgenössischen Kritiker bezeichneten die cruentatio nicht als eine Form des Aberglaubens. Sie wiesen auf alternative Erklärungen für das plötzliche Austreten von Blut aus den Wunden von Ermordeten hin. Die Erschütterungen des Leichnams, die Fäulnis der Venen und andere Faktoren erklärten das Bluten der Wunden als einen natürlichen Vorgang, der von der Präsenz des Mörders völlig unabhängig verlief.16 Angesichts dieser Zweifel verschwand die cruentatio zunehmend aus der frühneuzeitlichen Gerichtspraxis. Bei der Beurteilung von Wunden waren die Gerichte vor allem an einer gutachtlichen Äußerung über die Tödlichkeit von Verletzungen interessiert. Denn nur im Fall einer absolut tödlichen Verletzung konnten die Richter die volle Strafe verhängen. Das Gutachten der Ärzte hatte daher einen entscheidenden Stellenwert für den Ausgang des Gerichtsverfahrens. Die Ärzte wurden dadurch zu „Schiedsrichtern über Leben und Tod“, wie der Gerichtsmediziner Adolph Christian Heinrich Henke im Jahr 1815 konstatierte.17 Mit dem heutigen Wissen um die Funktionszusammenhänge des menschlichen Körpers hat die Beurteilung von Verletzungen eine andere Basis gewonnen. Im 18. Jahrhundert waren die Kenntnisse über die „hydraulisch-vitale Maschinerie“ des Menschen noch sehr lückenhaft. Eine naturwissenschaftliche Kausalanalyse von Krankheiten und Ver-
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letzungen existierte noch nicht. Die Einsichten der Physiologie wurden zunehmend in ein komplexes Klassifikationssystem von Wunden integriert. Nach dem Grad ihrer Tödlichkeit wurden sie in Arten, Unterarten und Familien eingeteilt. Die Anwendung dieser Systeme in der Gutachterpraxis führte zu heftigen Kontroversen. Denn viele Verletzungen konnten gleichzeitig tödlich und nicht tödlich sein – je nach der körperlichen Konstitution, den Umweltbedingungen und der medizinischen Versorgung.18 Die Debatte um eine angemessene Systematik der Wunden erlaubt einen Einblick in die strukturellen Herausforderungen, mit denen sich die Kriminalistik bis heute auseinander setzen muss. Die Fragen der Richter, Staatsanwälte und Kriminalbeamten an die Ärzte und andere Fachwissenschaftler waren und sind von den rechtlichen Kategorien des Tatbestands bestimmt. Die Gerichtsmediziner mussten im 18. Jahrhundert auf diese Fragen eine Antwort finden, selbst wenn das mit dem Entwicklungsstand der Medizin nicht vereinbar war. Die Kooperation zwischen forensischer Medizin und Gericht änderte sich erst im 19. Jahrhundert. Die Richter konnten auf der Grundlage der neuen Strafgesetzbücher flexibler über die Schuldfrage entscheiden und waren nicht mehr so sehr vom Schiedsspruch der Ärzte über die Tödlichkeit einer Verletzung abhängig. Gleichzeitig erweiterte sich das Wissen der Gerichtsärzte auf den Gebieten der Pathologie, der Histologie und der Physiologie. Ihre Gutachten wurden di≠erenzierter und lieferten nun auch wertvolle Hinweise für die Suche nach dem Täter. Bei der Beurteilung und Begutachtung von Sittlichkeitsdelikten war der juristische und medizinische Blick zugleich von einem kulturellen Wissen bestimmt, das den betro≠enen Frauen grundsätzlich misstraute. Da nur bei Jungfrauen die Möglichkeit einer Vergewaltigung in Betracht gezogen wurde – jeder uneheliche sexuelle Kontakt wertete eine Frau als leichtfertig ab –, konzentrierten sich die Mediziner auf die Zeichen der Jungfräulichkeit. Zu ihrer Feststellung waren in der Carolina die Hebammen bestimmt, die ihre Gutachten auf der Unversehrtheit des Hymens, des so genannten Jungfernhäutchens, auf bauten. Dagegen wandten sich die Ärzte des späten 16. und des 17. Jahrhunderts. Sie stritten die Existenz eines Hymens ab und versuchten dadurch die Expertise der Hebammen zu entwerten. Die Ärzte präsentierten alter-
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native Kennzeichen der Jungfernschaft wie die Inspektion des Urins und das Räuchern der Genitalien. Eine Jungfrau – so glaubten sie – würde vom Räuchern nichts wahrnehmen, weil ihre Sexualorgane noch nicht geö≠net waren und deshalb keine Verbindung zwischen ihrem Unterleib und ihren Sinnen im Kopf existieren konnte.19 In der Zeit der Auf klärung setzte sich auch bei den Medizinern das unbeeinträchtigte Hymen als das wichtigste Kennzeichen der sexuellen Unberührtheit einer Frau durch. Gleichzeitig verstärkte sich die Skepsis der Ärzte gegenüber der Möglichkeit einer Vergewaltigung. Ausgehend von einem Gutachten der medizinischen Fakultät in Leipzig aus dem Jahre 1670 vertraten Juristen und Mediziner die Ansicht, dass ein gewisses Einverständnis vonseiten der Frau immer notwendig war, um einen Beischlaf durchzuführen. Nur unter besonderen Bedingungen ließ sich eine Vergewaltigung vorstellen: bei einem deutlich stärkeren Täter, der die Frau trotz heftiger Gegenwehr gefügig machen konnte, bzw. bei Kindern oder bewusstlosen Frauen.20 In der Gerichts- und Gutachterpraxis wurden Problemfälle meist durch eine männliche Solidarität gelöst, die einen o≠ensichtlich zu geringen Widerstand der Frau mit einem grundsätzlich vorhandenen, vor Gericht aber geleugneten Einverständnis in die sexuelle Beziehung gleichsetzte.21 Den Frauen, die sich als Opfer von Vergewaltigungen vor Gericht präsentierten, wurde weder im 18. noch im 19. Jahrhundert großes Vertrauen entgegengebracht. Ihre Anzeigen hielt man häufig für Verleumdungen gegenüber den Männern, von denen sie Heirat oder finanzielle Abfindung erho≠ten oder an denen sie sich rächen wollten. Dieses Misstrauen gegen die Opfer führte dazu, dass sie und nicht die Männer zwangsweise medizinisch untersucht wurden. Für die vergewaltigten Frauen des 18. und 19. Jahrhunderts war eine Untersuchung ihrer Geschlechtsteile sogar noch viel problematischer und beschämender, als dies heute in Zeiten regelmäßiger gynäkologischer Untersuchungen der Fall ist.22 Zurechnungsfähigkeit und Simulation Die Gerichtsmedizin unterstützt nicht nur die Gerichts- und Polizeibehörden bei der Auf klärung von Verbrechen, sondern vertritt auch die
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Interessen des Beschuldigten gegenüber den Behörden, wenn dieser als körperlich oder geistig Kranker Anspruch auf Hafterleichterung, auf Befreiung von der Folter oder auf Strafmilderung hat. Für die Beschuldigten war diese Unterstützung von großer Bedeutung; sie unternahmen daher erhebliche Anstrengungen, sich dafür zu qualifizieren. Die Gerichtsärzte waren sich dessen bewusst. Ihre Kompendien enthielten daher Abschnitte, in denen Anzeichen der Simulation von Geisteskrankheiten, Epilepsie und Schwangerschaft beschrieben wurden. Die Constitutio Criminals Carolina sah bereits eine Strafmilderung vor, wenn ein Mord oder Totschlag in einem krankhaften psychischen Zustand verübt worden war. Für die Beurteilung des Geisteszustandes war allerdings kein medizinisches Gutachten vorgesehen. In der Gerichtspraxis beauftragte man dennoch die Ärzte mit der Beurteilung eines zweifelhaften Geisteszustandes, wie auch das Beispiel des Hexenprozesses im Augsburg des 17. Jahrhunderts gezeigt hat (s. Kapitel 1). Im 17. Jahrhundert stellten Dämonen die gerichtlichen Psychologen vor erhebliche Probleme. Die Dämonen tauchten sowohl in den Darstellungen von Patienten als auch in den Lehrbüchern der Rechtsmedizin auf. Als Gutachter mussten die Ärzte bei Verdacht auf Geisteskrankheit zuerst die Möglichkeit einer dämonischen Besessenheit, anschließend die Simulation der Krankheit ausschließen. Der italienische Mediziner Fortunatus Fidelis beschrieb aus eigener Erfahrung die daraus resultierenden diagnostischen Schwierigkeiten, weil jedes Symptom auf das Wirken der Dämonen, eine Simulation oder eine Krankheit hinweisen konnte.23 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellten die Mediziner die Geisteskrankheiten in enge Beziehung zu körperlichen Fehlleistungen und reklamierten die Psychiatrie als eine medizinische Spezialität. Man ging davon aus, dass Beeinträchtigungen durch körperliche Krankheiten, aber auch ausbleibende Menstruation bzw. Hämorrhoidalfluss Frauen und Männer rasend machen konnten.24 Seit dem späten 18. Jahrhundert führte die Übernahme auf klärerischer anthropologischer Konzepte zu der für die Rechtspflege folgenreichen Annahme, dass jede von einem vernünftigen Menschen begangene Tat verständlich und nachvollziehbar sein musste. Straftaten ohne Motiv riefen daher den Verdacht hervor, dass sie nur in einem unfreien Zustand verübt worden
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sein konnten.25 Vor allem bei Gewaltdelikten handelten die Täter aus der Sicht der damaligen Experten kaum vernünftig. Dennoch erschien es unzulässig, Gewaltverbrecher alleine deshalb als unzurechnungsfähig zu erklären.26 Die Mediziner betonten den Unterschied zwischen psychischer und moralischer Krankheit, um nicht jeden Straftäter entschuldigen zu müssen. Der Würzburger Mediziner Johann Baptista Friedreich argumentierte in seinem System der gerichtlichen Psychologie (1842), dass „[…] ein Individuum moralisch abnorm oder krank, zugleich aber ärztlich betrachtet durchaus psychisch gesund seyn kann […] Freier Wille ist immer da, er hat nur eine unrechte, vom Moralisten nicht gebilligte Richtung“.27 Diese Konzeption der Willensfreiheit bezog sich auf die Festlegung eines Lebensentwurfs und nicht auf die Entscheidung für oder gegen eine Straftat.28 Damit verlagerte Friedreich die Schuldhaftigkeit und das ‚Böse‘ von der Handlung in die Motive zur Tat und in das „Wesen“ des Menschen: „Freiheit also, so oder so zu sein, nicht so oder so zu handeln […]“,29 wie Friedrich Nietzsche tre≠end in seiner Kritik formulierte. Im späten 19. Jahrhundert veränderte sich der Blick der Psychiater und Juristen auf Personen mit abweichendem Verhalten. Die medizinischen Konzepte der Degeneration und der Neurasthenie (Nervenschwäche) bezogen sich auf das Gehirn bzw. Nervensystem und boten neue Anhaltspunkte für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit. Mit diesen Konzepten erhielten die Psychiater einen neuen Zugang zu Verhaltensstörungen, die bisher nicht als Folge von krankhaften Zuständen erkannt worden waren. Der deutsche Psychiater Karl Wilmanns präsentierte in seiner Studie zur Psychopathologie der Landstreicher mehrere biografische Studien, in denen die dauernde Wiederkehr von Straftaten nicht moralischen Verfall, sondern eine pathologische Veränderung der Persönlichkeit anzeigte. Diese drückte sich eben in der Unfähigkeit zur sozialen Eingliederung, im Bedürfnis nach Ortsveränderung und in den Ausbrüchen von destruktiver Aggressivität aus.30 Degenerierte Straftäter stellten für die Psychiater und Kriminalisten der Jahrhundertwende und des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Herausforderung dar. Als Kranke konnten sie weder bestraft noch in Frei-
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heit entlassen werden – sie mussten daher in spezialisierten Anstalten verwahrt werden. Nicht jeder Degenerierte wurde straffällig. Ihre soziale Auffälligkeit konnte sich auf vielfältige Weise äußern. Hans Gross vermittelte seinen Lesern einen Eindruck von den unterschiedlichen Zumutungen, mit denen sich der Untersuchungsrichter vonseiten dieser krankhaft veranlagten Personen konfrontiert sah: Die Degenerierten, psychisch Minderwertigen, Neurasthenischen, Psychotischen, endogen Nervösen bilden keine besondere Klasse der geistig nicht Gesunden: auch der Epileptiker, die Hysterische, der Landstreicher, der Exhibitionist und unzählige andere dieser Qualität sind degeneriert und weil sie es sind, hat sich eine der genannten Krankheiten bei ihnen entwickelt. Es gibt aber noch eine unabsehbar große Gruppe von Menschen, die zwar degeneriert sind, bei welchen sich aber die Epilepsie, Hysterie usw. nicht entwickelt hat […] Trotzdem sind sie nicht als normal anzusehen; auf dem Boden ihres nicht ganz, falsch oder vielleicht zu weit entwickelten Wesens schießt allerlei Seltsames, Unsoziales, strafrechtlich nicht zu Haltendes aus und so geben die Degenerierten dem Kriminalisten außerordentlich viele und ausnahmslos schwierige Arbeit.31
Der Untersuchungsrichter benötigte eine gewisse Vertrautheit mit den Erscheinungsformen von Geisteskrankheiten, um eine Simulation möglichstbalddurchschauenzukönnen.EinersterVerdachtergabsichimmer dann, wenn nur auffällige Symptome einer Krankheit reproduziert wurden. Der wenig geschickte Simulant entlarvte sich, indem er „überhaupt dieRollederangenommenenKrankheitnichtdurchzuführen[wusste]“.32 Zur Entlarvung der geschickteren Simulanten mussten die Mediziner auf die besonderen Zeichen der Simulation zurückgreifen. Sie verfügten über eine normative Vorstellung vom Erscheinungsbild bestimmter Geisteskrankheiten als einer Summe von Blicken, Gebärden, Bewegungen, Handlungen und Worten. Diese „eigenthümliche Physiognomie“ einer Krankheit konnte niemals vollständig nachgeahmt werden.33 Da die forensischePsychiatrieletztlicheinReferenzsystemverwendete,indemjede somatische wie psychische Manifestation gleichzeitig als Zeichen von Krankheit wie Simulation gelesen werden konnte, waren die Patienten jedoch in ein Vorwissen um ihren Charakter eingebunden, das auf den biografischen Erhebungen der Kriminalisten beruhte.34
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Identitätsermittlung Ein wichtiges Aufgabengebiet der Gerichtsmedizin ist die Feststellung der Identität von unbekannten Toten. Die zahlreichen Opfer von Katastrophen wie Flugzeugabstürzen, Eisenbahnunfällen und kürzlich dem Seebeben in Südostasien werden heute mit den modernsten Techniken identifiziert. Das erfordert eine rechtsmedizinische Befunderstellung, die Erhebung des Zahnstatus, die Feststellung besonderer Merkmale am und im Körper sowie eine DNA -Analyse. Die Identifizierung von unbekannten Toten hatte in der Frühen Neuzeit keinen hohen Stellenwert. Sie blieb auf einzelne spektakuläre Fälle beschränkt, wie etwa auf Karl den Kühnen, Herzog von Burgund, der in der Schlacht von Nancy im Jahr 1477 gefallen war. Die Leiche des Herzogs konnte erst zwei Tage nach dem Ende der Schlacht gefunden werden. Alle Gefallenen waren nackt, weil spezialisierte Einheiten unmittelbar nach dem Ende der Kampf handlungen den Toten die Kleider und Wa≠en abnahmen, um sie zu verkaufen. Grundsätzlich aber waren Kleider die ersten Bezugspunkte in der Identifikation einer Person bis zum späten 18. Jahrhundert. Wenn sie fehlten, musste der Körper einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen werden. Das Protokoll über die Identifizierung des Herzogs listete die folgenden Anhaltspunkte auf: fehlende Vorderzähne, Narben am Hals und auf der Schulter, ein Geschwür am Bauch und besonders lange Fingernägel.35 Informationen über die Zähne und die besonderen Kennzeichen stehen auch heute im Vordergrund bei der Identifikation von unbekannten Leichen. Seit dem 19. Jahrhundert sind es nicht die fehlenden Kleider, die eine erfolgreiche Identitätsfeststellung verhindern, sondern das Fehlen des Körpers selbst. Die Gerichtsmediziner gewinnen Hinweise auf die Identität von weit gehend verwesten Leichen durch die Untersuchung des Skeletts und die Rekonstruktion von Gesichtern durch Moulagen (Abdrücke) und letztlich auch durch den Einsatz des Computers. Ein gutes Beispiel für die Ermittlung der Identität anhand des Skeletts findet sich in den Annalen der französischen Justiz. Dem bekannten Kriminologen und Gerichtsmediziner Alexandre Lacassagne gelang 1889 durch aufwändige Analyse einer Leiche der Nachweis, dass es sich dabei um den als vermisst gemeldeten Pariser Gerichtsvollzieher
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Alphonse Gou≠é handelte. Während Lacassagnes Abwesenheit aus Lyon war die Leiche bereits von seinem Stellvertreter Paul Bernard im Leichenschauhaus einer Autopsie unterzogen worden. Bernard schätzte das Alter des Unbekannten auf etwa 35 Jahre und fand Hinweise auf einen Tod durch Strangulation. Wegen der Altersfeststellung schied der 49-jährige Gerichtsvollzieher Gou≠é aus. Dennoch fuhr Gou≠és Schwager nach Lyon, um diese Spur nicht ungenutzt zu lassen. Aufgrund der Haarfarbe konnte er keine Übereinstimmung mit seinem vermissten Verwandten feststellen. Dennoch gab Marie-François Goron, der Leiter der Pariser Sûreté, nicht auf. Er war überzeugt, dass Gou≠é einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war; einige Indizien deuteten auf Lyon. Deshalb bat er Alexandre Lacassagne, den Professor für Gerichtsmedizin an der Universität von Lyon, um ein weiteres Gutachten. Die Leiche wurde exhumiert und Lacassagne begann mit der Arbeit. Da die Verwesung bereits weit fortgeschritten war, konzentrierte er sich auf Haare und Knochen. Als erfahrener Pathologe und Anatom erkannte er schnell Deformationen an der rechten Kniescheibe – ausgelöst durch eine chronische Wasseransammlung – und am rechten Fußgelenk, die von einer tuberkulösen Entzündung verursacht schienen. An weiteren Besonderheiten stellte er ein Gichtleiden am rechten Fuß und das Fehlen eines Backenzahns fest. Die vergleichende Analyse der rechten und linken Hände und Arme bestätigte, dass der Unbekannte ein Rechtshänder war. Die Anatomie der Füße stimmte mit den Schuhen überein, die Gou≠é trug. Die Größenbestimmung war nicht schwierig, stand doch das gesamte Skelett zur Verfügung. Selbst wenn nur ein Oberschenkelknochen von Gou≠é erhalten geblieben wäre, hätte Lacassagne eine ziemlich genaue Schätzung vornehmen können. Diese Schätzungen wurden durch vergleichende Forschungen an gefallenen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg immer präziser.36 Im Fall Gou≠é bereitete die Altersbestimmung einige Schwierigkeiten. Lacassagne analysierte die Zähne, die sich im Laufe der Jahre in einer beobachtbaren Weise verändern. Aufgrund des vorliegenden Befundes schätzte er das Alter des unbekannten Toten auf 45 bis 50 Jahre, was mit dem Lebensalter des vermissten Gou≠é übereinstimmte. Die heutigen Gerichtsmediziner nutzen weiterhin die Zähne zur Altersbestimmung. Sie verwenden dafür die so genannten Zahnzementringe, die eine Be-
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stimmung des Alters auf 2,5 Jahre exakt ermöglichen. Dabei werden die jährlichen Zuwachsringe im Zahnzement unter dem Mikroskop bestimmt und ausgezählt. Das Gutachten von Lacassagne brachte den lang erwarteten Durchbruch in dem Mordfall Gou≠é. Als Täter wurden eine Prostituierte und ihr Zuhälter ermittelt, die schließlich auch festgenommen und in einem Sensationsprozess wegen Raubmord verurteilt wurden.37 Lacassagne nutzte in seiner gerichtsmedizinischen Untersuchung ein stochastisches Verständnis von Identität, indem die Individualität in der ganz spezifischen Nutzung des Körpers bzw. in seinen krankhaften Veränderungen gesucht wurde: Die Rechtshändigkeit von Gou≠é zeigte sich in der stärkeren Ausbildung des rechten Armes und der rechten Hand, seine Knochenerkrankungen hinterließen keine einzigartigen, in ihrer Kombination jedoch eindeutigen Spuren, die von den behandelnden Ärzten des Opfers bestätigt wurden. Diese Annäherung an die Identität blieb nicht auf Menschen und deren Körper beschränkt. Wie in Kapitel 6 gezeigt wird, sucht die mikroskopische Analyse von Werkzeugen nach denselben aussagekräftigen Spuren individueller Abnutzung. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert setzten erste Versuche mit der visuellen Rekonstruktion des Gesichts anhand von Schädelfunden ein. Der Anatom Wilhelm His erhielt 1894 den Auftrag, die Gebeine eines älteren Mannes zu identifizieren, die beim Umbau der Johanneskirche in Leipzig gefunden worden waren. Nach mündlicher Überlieferung handelte es sich um die Überreste des Musikers Johann Sebastian Bach. Um diese Annahme experimentell zu überprüfen, ging His neue Wege. In früheren Forschungen hatte er die Weichteildicke von erwachsenen Europäern untersucht und war von ihrer weit gehenden Konstanz überzeugt. Er beauftragte nun einen Bildhauer, auf einem Abdruck des gefundenen Schädels die entsprechenden Weichteile zu modellieren. Die dabei entstandene Porträtbüste von Bach (s. Abbildung 5) glich zeitgenössischen Porträts so stark, dass eine Prüfungskommission zu dem Schluss gelangte, dass „die in einem eichenen Sarg aufgefundenen Gebeine eines älteren Mannes die Gebeine von Johann Sebastian Bach sind […]“38 Diese Methode wurde von Polizei und Gerichtsmedizin rasch übernommen und in die praktische Arbeit überführt. Bereits in den 1920er-
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5 Der Anatom Wilhelm His trug 1894 auf den Gipsabguss eines Schädels eine solche Menge Gipsbrei auf, wie sie der mittleren Weichteildicke der einzelnen Schädelteile entsprach. Dadurch konnte er auf experimentellem Weg nachweisen, dass es sich um den Schädel des Musikers Johann Sebastian Bach handelte.
Jahren gab es technologische Innovationen, wie die Entwicklung einer besonders gut geeigneten Abformmasse durch den Wiener Arzt Alfons Poller; es handelte sich dabei um ein reversibles, elastisches Hydrokolloid namens Negocoll, das aus Seetang gewonnen wurde. Seine Technik
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ermöglichte die Herstellung eines exakten und fehlerfreien Abgusses von den Überresten eines Gesichts. Auf dieser Grundlage konnten die Mitarbeiter des Erkennungsdienstes der Wiener Polizei anhand der Moulage-Technik die Gesichter von unbekannten Verbrechensopfern rekonstruieren. In den 1930er-Jahren wurden auf diesem Weg jährlich 120 Abgüsse von Gesichtern, Körperteilen sowie von Gegenständen und Spuren angefertigt.39 Heute erfolgt die Rekonstruktion der Gesichter auf digitalem Weg. Spezialgeräte vermessen den Schädel. Aus den etwa achtzig Messungen ermittelt ein spezialisiertes Programm die Gesichtsgeometrie und wesentliche Formmerkmale des Gesichts. Die Gesichtsform wird anschließend digital errechnet. Dazu greifen die Kriminalisten und Anthropologen auf eine Datenbank am Bundeskriminalamt in Wiesbaden zu, in der fast 2000 Gesichter und ihre Merkmale gespeichert sind. Im Institut für Anthropologie der Universität Freiburg werden so jährlich zwanzig bis dreißig Gesichter als Unterstützung für die polizeiliche Fahndung rekonstruiert. Im Jahr 2004 führte das in drei Fällen zum Erfolg, d. h. zu einer Identifizierung. Zusammenspiel von Rechtssystem und Medizin Die Geschichte der Rechtsmedizin erö≠net aufschlussreiche Einblicke in die Beziehung zwischen Recht, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Erkenntnisse der medizinischen Forschung über die Funktionsweise des menschlichen Organismus ermöglichten immer di≠erenziertere Stellungnahmen zur Tödlichkeit von Verletzungen und eine präzisere Bestimmung des Todeszeitpunkts. Die medizinischen Verfahren der Herstellung von lebensechten Präparaten durch das Verfahren der Moulage inspirierte Rechtsmediziner und Kriminalisten zur Nutzung dieser Techniken für die Auf klärung von Verbrechen. Medizinisches Wissen muss vom Rechtssystem gezielt für die Verbrechensauf klärung mobilisiert werden. Bereits zur Zeit der Jahrhundertwende forderte der Grazer Kriminalist Hans Gross die Untersuchungsrichter auf, sich gezielt über die Rechtsmedizin und ihre Möglichkeiten zu informieren. Persönliche Kontakte erschienen ihm die beste Strategie zu sein, um die beiden Wissensbereiche aufeinander abzustimmen:
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„Ist aber das Verhältnis zwischen UR [Untersuchungsrichter, PB ] und Gerichtsarzt ein näheres und durch Interesse an der gemeinsamen Sache bedingt ein freundschaftliches, so wird auch die Behandlung der Sache das rege Interesse und das gemeinsame, eifrige Zusammenwirken beider Faktoren deutlich zeigen.“40 Die Rechtsmedizin bleibt nicht unbeeinflusst durch diesen Austausch. Die Mediziner sehen sich mit Anfragen konfrontiert, die nicht aus der Logik medizinischen Forschens entstehen, sondern anwendungsorientiert sind. Wie das Beispiel der Tödlichkeit von Verletzungen gezeigt hat, waren die Mediziner der Frühen Neuzeit von den Erwartungen der Gerichte deutlich überfordert. Die Richter und ihre medizinischen Sachverständigen operieren außerdem in einer spezifischen Kultur, die sie mit einem Alltagswissen über Menschen und deren Handlungsweisen ausstattet. Die Relevanz dieses kulturellen Wissens für die rechtliche und medizinische Beurteilung von Straftaten konnte am Beispiel der Kindesmorddebatte rekonstruiert werden. Die Anforderung von medizinischen Gutachten durch die Gerichte folgt einer für die Wahrheitsfindung durchaus vorteilhaften Konstruktion der institutionell unabhängigen Experten, die nicht als Zeugen, sondern als Sachverständige einvernommen werden. Diese Konstruktion ist weiterhin tragfähig, wie man der Selbstbeschreibung des Departments für Gerichtliche Medizin an der Medizinischen Universität Wien entnehmen kann. Dort sieht man die institutionelle Unabhängigkeit von den Auftraggebern, d. h. von Justiz und Polizei, als Garant für die Anwendung modernster Forschungsergebnisse bei der Erstellung von „objektiven und weisungsfreien Gutachten“.41
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3. Fotografie im Dienst von Spurensicherung und Erkennung Die Fotografie ist ein unverzichtbarer Bestandteil heutiger kriminalistischer Verfahren. Sie findet bei der Spurensicherung ebenso Verwendung wie bei der Aufnahme von standardisierten Porträts von Verbrechern für den Erkennungsdienst. Ihre Geschichte im Dienst der Kriminalistik beginnt um die Mitte des 19. Jahrhunderts und erreicht einen ersten Höhepunkt mit der Professionalisierung der forensischen Fotografie zur Zeit der Jahrhundertwende. In diesen fünfzig Jahren veränderten sich Wirtschaft und Gesellschaft, Wissenschaft und Polizei. Die neue Technologie im Dienste der Verbrechensbekämpfung blieb nicht unbeeinflusst von diesen Veränderungen, die deshalb in einer Geschichte der Polizeifotografie nicht fehlen dürfen. Mit dem Kauf der Rechte an der 1839 erfundenen Daguerreotypie, der ersten Form der Fotografie, durch den französischen Staat war der Weg frei für ihre Nutzung zu gewerblichen, künstlerischen, wissenschaftlichen und auch polizeilichen Zwecken. Wie die Fotografie bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in deutschen Staaten von der Polizei eingesetzt wurde, das illustriert die Geschichte von einem jungen Mann, der gern einen reichen Onkel in Amerika und Eltern in Schlesien gehabt hätte. Seine Geschichte gibt aber auch Einblicke in die gesellschaftlichen Hintergründe und sicherheitspolizeilichen Herausforderungen, die bei der Einführung der Polizeifotografie Pate standen. Eine fast alltägliche Geschichte Am 29. Juni 1853 wurde in der Nähe von Hannover ein 23-jähriger Mann verhaftet, der keine Reisepapiere mit sich führte und vorgab, Carl
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Schmidt zu heißen. Der Polizei präsentierte er eine abenteuerliche Geschichte. Seine Jugend, so behauptete der Verhaftete, habe er bei einem reichen Onkel in einer Vorstadt von New York verbracht. Als der Onkel seiner überdrüssig geworden war, schickte er ihn mit einem Diener über England nach Hamburg zurück. Von dort sollte er zu seinen Eltern nach Hirschberg in Schlesien wandern. Nachdem ihm das Gepäck gestohlen und das Geld ausgegangen war, wollte er über Hamburg wieder nach Amerika zurück, just dabei war er aber stattdessen von den Beamten der Hannoverschen Polizei verhaftet worden. Die Polizeidirektion Hannover fand diese Geschichte unglaubwürdig und kontaktierte die Behörden in Schlesien. Das war eine weit verbreitete Praxis und verantwortlich für eine Flut von wechselseitigen Anfragen und Mitteilungen zwischen den Behörden der deutschen Staaten. Als die Beamten in Hannover von ihren schlesischen Kollegen keine Bestätigung der Heimatverhältnisse erhielten, verö≠entlichten sie am 7. September 1853 – etwa zwei Monate nach der Verhaftung – den Steckbrief des Carl Schmidt im Hannoverschen Polizeiblatt. Dadurch ho≠ten sie, nähere Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Verdächtigen zu erhalten. Die Ho≠nung erfüllte sich jedoch nicht. Weitere zwei Monate später, am 12. November 1853, erschien daher eine neuerliche Fahndungsmitteilung. Bei der Polizeidirektion Hannover war man inzwischen überzeugt, dass der Verdächtige „die gewichtigsten Gründe hat, die Behörden über seine Persönlichkeit zu täuschen. Allem Anscheine nach ist der angebliche Schmidt ein flüchtiger Verbrecher oder entsprungener Sträf ling“. Deshalb scheute die Polizeibehörde keine Kosten und setzte auf Innovation; das Hannoversche Polizeiblatt verö≠entlichte die lithografierte Fotografie des vorgeblichen Carl Schmidt (s. Abbildung 6)1. Das Foto zeigt ein Brustporträt in Dreiviertel-Ansicht. Diese Darstellung kommt modernen polizeilichen Standards schon erstaunlich nahe. Sie konzentriert sich auf den Abgebildeten und verzichtet auf jegliche Kulisse. Darin unterschied sich der Fotograf in Hannover von den meisten Kollegen, die selbst für Polizeifotos die bürgerliche Bildersprache einsetzten und reichlich Gebrauch von künstlichen Säulen, Tischen, Stühlen und sonstigen Requisiten ihrer Ateliers machten. Das Porträt von Carl Schmidt nahm noch weitere Anforderungen der modernen
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6 Das Hannoversche Polizeiblatt veröffentlichte 1853 dieses Brustporträt zur Identifikation eines Mannes, der sich Carl Schmidt nannte.
Kriminalistik vorweg: Es konzentrierte sich auf die Physiognomie und bot mit Profil und linkem Ohr wichtige Anhaltspunkte für die Identifizierung. Außerdem war die ganze Breite der Achseln dargestellt, was für den deutschen Kriminalisten Robert Heindl noch in den 1920erJahren ein notwendiger Bestandteil des Verbrecherporträts war: „Die
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stramme Haltung des Militärs, der gekrümmte Rücken des Tischlers, die Steif heit des Engländers, die saloppe Stellung des Südländers sind Erkennungszeichen, welche sich von den Schultern ablesen lassen.“2 Der Erfolg dieser Brustbilder für die Fahndung war begrenzt, wie man den wiederholten Aufrufen um Mithilfe bei der Identitätsfeststellung entnehmen kann. Für dieses Scheitern war nicht zuletzt die besondere Herausforderung verantwortlich, mit der sich die deutschen Polizeibehörden im 19. Jahrhundert konfrontiert sahen. Sie nahmen die Mobilität innerhalb der deutschen Staaten als grundsätzliche Bedrohung von Staat und Gesellschaft wahr. Deshalb galten alle Männer und Frauen als verdächtig, die auf deutschen Landstraßen unterwegs waren und keine gültigen Ausweispapiere besaßen. Und das waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr viele. Diese Verdächtigen konnten – bis zur Durchsetzung der persönlichen Freiheitsrechte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – für längere Zeit festgesetzt werden, um ihre Identität zu überprüfen. Ohne einen überregionalen kriminalpolizeilichen Nachrichtendienst blieb die Identifikation letztlich vom Zufall abhängig, wie das Beispiel des Carl Schmidt belegt. Vor der Revolution von 1848/49 führte die Krise von Landwirtschaft und Gewerbe zusammen mit dem Wegfall traditioneller Versorgungsleistungen dazu, dass sich Arbeitslose und verarmte Handwerker auf der Straße mit Betteln, Gelegenheitsarbeiten und kleinen Diebstählen durchschlagen mussten. Zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte brachten die Industrialisierung und die Strukturveränderungen in der Landwirtschaft zwar eine neue Dynamik in den Arbeitsmarkt. Die rasch wachsenden Industriezentren zogen Tausende von Menschen an, zwangen diese jedoch in konjunkturbedingten Zyklen immer wieder zur Rückkehr auf die Straße. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler bezeichnet diese Zentren daher als „überdimensionale Schleusenwerke“, die nur einen geringen Teil der Mobilität dauerhaft absorbierten.3 Den Polizeibehörden galt jede Form von Heimatlosigkeit als Keimzelle von Verbrechen und politischem Aufruhr. Die Revolution von 1848/49 war den Behörden noch in frischer Erinnerung. Um eine erneute politische Radikalisierung zu vermeiden, setzten die deutschen Polizeibehörden auf Kooperation. Dadurch sollte ein e∏zientes Vorgehen gegen Umstürzler und Gauner, die damalige Form der organisier-
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ten Kriminalität, möglich werden. Jeder Fremde – vom vornehmen Reisenden bis zum bettelnden Vagabunden – konnte letztlich ein verkappter Gauner oder Revolutionär sein, der mit seiner Rolle die Behörden und ‚anständigen‘ Bürger täuschen wollte. Dieses Bedrohungsszenario macht den Aufwand der Hannoverschen Polizeidirektion zur Auf klärung der wahren Identität des Vagabunden Carl Schmidt verständlich. Die weitere Geschichte des jungen Mannes lässt sich aus den Anzeigen des Hannoverschen Polizeiblattes rekonstruieren. Etwa ein halbes Jahr nach seiner Verhaftung wurde er aus der Haft entlassen. Da er hartnäckig an seiner Geschichte vom amerikanischen Onkel und den schlesischen Eltern festhielt und die Polizei keine Aufschlüsse aus ihrem weit gespannten Netzwerk erhalten hatte, konnte die Hannoversche Behörde den vorgeblichen Carl Schmidt nur wegen Landstreicherei bestrafen. Kurz vor Weihnachten verließ er das Gefängnis und wurde Richtung Hamburg abgeschoben. Das Abschieben über die Grenze des Nachbarstaates war eine beliebte Strategie der Behörden des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, um mittellose Männer und Frauen loszuwerden, die keinen Wohnsitz innerhalb der Landesgrenzen hatten. Die trostlose Situation am Arbeitsmarkt bot den Abgeschobenen keine Perspektive für ein sozial integriertes Leben an ihrem neuen Bestimmungsort. Sie wurden auch dort angehalten, für verdächtig befunden und weiter geschoben. Carl Schmidt war sicherlich kein strebsamer Arbeiter. Dennoch war sein Schicksal nicht untypisch für die schwierige Lebenssituation der Unterschichten im 19. Jahrhundert. Nach seiner Abschiebung aus Hannover hielt er sich etwa einen Monat unbehelligt in Hamburg auf, wurde dort von der Polizei aufgegri≠en und in Haft genommen. Die Hamburger Beamten versuchten ebenfalls vergeblich, seine Identität zu ermitteln. Als ihre Bemühungen scheiterten, setzte ihn die Hamburger Polizei Anfang Juni auf ein Schi≠ Richtung England mit der Auf lage, das Hamburger Territorium nie mehr zu betreten. Damit verschwindet Carl Schmidt aber nicht aus den Registern der Polizei. Er taucht erneut an verschiedenen Orten auf und wird später als Heinrich Völker entlarvt, der vorgibt, aus Zürich zu stammen. Völker war nicht der Einzige, der unter dem Pseudonym Carl Schmidt reiste. Auch Heinrich Splittorf alias Liebermann gab sich zeitweise als
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Schmidt aus. Er kam als Liebermann aus New York und als Schmidt aus Basel. Trotz der Ähnlichkeit in der Konstruktion der fiktiven Lebensgeschichten ist eine Identität des hier vorgestellten Schmidt mit Splittorf nicht denkbar, weil sich ihre Haftdaten überschneiden. Sicherheitspolizeiliche Probleme und Projekte Die Polizeibehörden der europäischen Staaten sahen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einem massiven Sicherheitsproblem konfrontiert. Die heimat- und bindungslosen Menschen wurden nicht sozialpolitisch versorgt, sondern polizeilich überwacht und in ihre Heimatgemeinden zurückgeschickt, die sie vorher wegen eines Mangels an Beschäftigungsmöglichkeiten verlassen hatten. Das führte zu absurden Situationen: Vorbestrafte Männer und Frauen konnten in einen Teufelskreis von polizeilicher Überwachung und Ausweisung geraten, der ihnen jegliche Integrationsmöglichkeit abschnitt und sie zu der kriminellen Karriere zwang, die damit eigentlich verhindert werden sollte.4 Die Überwachung und soziale Integration von Menschen wie Carl Schmidt scheiterte daran, dass die Regierungen der deutschen Staaten bis in die 1860er-Jahre von sozialpolitischen Ordnungsvorstellung ausgingen, die mit den Lebensverhältnissen der Bevölkerung längst nicht mehr übereinstimmten. Aus der Sicht der Polizei waren die Arbeiter und Handwerker nur deshalb unterwegs, um „die am heimatlichen Wohnort einigermaßen mögliche polizeiliche Controle zu eludiren“, wie der Lübecker Polizeiexperte Friedrich Christian Benedikt Avé-Lallemant am Ende der 1850er-Jahre behauptete.5 Der Hinweis auf soziale Not und mangelnde Arbeit wurde lediglich als Ausrede abgetan. Das geringe Verständnis der Polizeibeamten für die Mobilität der Mittellosen erklärt wiederum die mangelnde Bereitschaft von Carl Schmidt und seinesgleichen zur Kooperation mit den Behörden. Um den dauernden Kontrollen und Anhaltungen sowie – vor der Neuregelung der Armenversorgung durch den Norddeutschen Bund 1867 – auch der Abschiebung in die Heimatgemeinde zu entgehen, vermieden die Arbeitsuchenden und Vagabunden den Kontakt mit den Behörden und gaben sich selbst im Zweifelsfall eine neue Identität. Die Polizei reagierte darauf mit unterschiedlichen Strategien: der verbesserten Kontrolle von
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Ausweisdokumenten und der möglichst eindeutigen Kennzeichnung der „gefährlichen Klassen“ durch neue Beschreibungsstrategien.6 Arbeits- und Dienstbotenbücher sowie andere Ausweisdokumente waren leicht zu fälschen, weil sie nur mit einem einfachen Amtssiegel bzw. einem Stempelabdruck beglaubigt wurden. Dagegen setzten die Behörden auf ra∏niertere Vordrucke. Passformulare und massenhaft verwendete Ausweise wie Dienstbotenbücher wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte mit modernen Sicherheitsmerkmalen wie Wasserzeichen und Tiefdrucksymbolen ausgestattet.7 Selbst eine lückenlose Kontrolle von Amtssiegeln und Drucksorten konnte jedoch das Überwachungsproblem nicht lösen. Die amtliche „Verdoppelung der Person“ (Valentin Gröbner) stellte die Behörden vor erhebliche Probleme:8 Erstens mussten die Dokumente selbst als Urkunden einer Behörde nachweisbar sein; dazu dienten die Drucksorten und Stempel. Zweitens musste die Ausstellung der Reiselegitimation in Registern der ausstellenden Behörde verzeichnet werden, um in Zweifelsfällen die Authentizität des Dokuments beweisen zu können. Drittens musste der Inhaber des Dokuments mit der darin genannten Person übereinstimmen. Die dritte Anforderung war in Zeiten steigender Mobilität und Urbanisierung mit den verfügbaren Technologien nur schwer zu gewährleisten. In den Amtsstuben legitimierte sich ein Antragsteller meist dadurch, dass die Beamten ihn kannten. Die neuen Passkarten wurden nur an jene Personen ausgegeben, die an ihrem Wohnort den Behörden bekannt waren; in Frankreich war diese Praxis durch das System der zwei so genannten „patentierten Zeugen“ formal geregelt.9 Angesichts zunehmender Mobilität und der Überforderung ländlicher Verwaltungen sahen die Experten des 19. Jahrhunderts diese Kontrolle in Gefahr: die Ausstellung von echten Ausweisen an „falsche“ Antragsteller stand als Drohung im Raum. Im Kampf gegen diese Bedrohung forderten die Polizeiexperten eine verbesserte Personenbeschreibung, vor allem die sorgfältige Registrierung der besonderen Kennzeichen. Es gab jedoch weder eine ausreichende Kontrolle noch eine angemessene Ausbildung der Polizeibeamten in der analytischen Beschreibung von Gesicht und Körper. Erst die Einführung von anthropometrischen Kennzeichen, d. h. von Maßangaben ausgewählter Körperteile und die Verwendung eines Passbildes zur
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Zeit des Ersten Weltkriegs erschwerten die missbräuchliche Verwendung von Ausweisdokumenten. Bevor diese neuen Technologien verfügbar waren, setzten die Kriminalisten auf zusätzliche Formen der Kennzeichnung, um professionelle Bettler und Diebe hinter der Maske bürgerlicher Anständigkeit und ehrlicher Armut zu entlarven. Einige Kriminalisten gri≠en dabei auf bereits überholte Instrumente zurück. Die preußische Regierung in Cleve schlug 1819 vor, alle Vagabunden zu tätowieren, damit „ihnen dadurch für immer ein bleibendes Zeichen eingeprägt würde, woran jede Pol. Behörde sie für die Folge leicht erkennen könne“. Wenige Jahre später regte der hessische Kriminalbeamte Schwencken die Verwendung von Brandmarkungen an.10 Beide Vorschläge können als verzweifelter Versuch verstanden werden, den zunehmenden Sicherheitsproblemen im Gefolge der Napoleonischen Kriege zu begegnen. Das preußische Innenministerium lehnte den Vorschlag der Regierung in Cleve mit dem Argument ab, dass man mit der Tätowierung den resozialisierten Landstreichern „eine bleibende Erinnerung an den Stand einprägen würde“.11 In Frankreich und Russland war man zur selben Zeit weniger um die Resozialisierung der gefährlichen Verbrecher besorgt: Französische Galeerensträf linge wurden bis zum Jahr 1832 mit dem Brandmal T. F. (travaux forcés, d. h. Zwangsarbeit) gekennzeichnet, in Russland wurde diese Art der Kennzeichnung sogar erst 1863 abgescha≠t. Für die preußische Polizei bedeutete die aufgeklärte Politik ihrer Regierung eine Herausforderung. Sie musste die Kennzeichnung der Angehörigen von „gefährlichen“ Klassen innerhalb der eigenen Informationssysteme so organisieren, dass bei Bedarf darauf zurückgegri≠en werden konnte. Wie ließ sich das realisieren? Die traditionelle Form der Identifikation von Rückfälligen beruhte auf der Gedächtnisleistung einzelner Beamter. Sie erkannten ihre früheren ‚Klienten‘, selbst wenn diese sich hinter einem neuen Pseudonym verbargen. Eine solche Strategie hatte nur in großen Polizeibehörden, wie etwa in Berlin, Paris und Wien Erfolg. Dort konnten verhaftete Gauner den Kriminalbeamten der Stadt auf regelmäßig stattfindenden Polizeikonferenzen vorgestellt werden.12 Kriminalbeamten besuchten außerdem die Gefängnisse, um bekannte Gesichter unter den Neuzugängen zu entdecken – eine Praxis,
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die in London und Paris bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand. Beamte von kleineren, ländlichen Behörden konnten sich die Gesichter einer großen Zahl von Verbrechern nur dann einprägen, wenn deren Vorstellung auf virtuellem Weg – durch die Zirkulation von Porträts – erfolgte. Darauf zielte ein Vorschlag des Amtsaktuars Rademacher (Gehren) aus dem Jahr 1837, zwei Jahre vor der o∏ziellen Erfindung der Daguerreotypie. Er forderte die Verwendung von talentierten Zeichnern bei den Untersuchungsbehörden, um Brustbilder von Straftätern anzufertigen. Diese Bilder sollten zu Fahndungszwecken, als kriminologisches Anschauungsmaterial und Trophäensammlung verwendet werden: „Wie der Waidmann Hirsche, Hunde und Vögel in Bildern gern um sich hat, eben so gern würde der Sicherheitsbeamte und Polizeyfreund die Portraits merkwürdiger Gauner u. s. w. um sich versammeln.“13 Rademachers Vorschläge waren in Frankreich bereits umgesetzt; im Jahr 1819 begann die redaction du bureau des prisons Porträtzeichnungen von Verbrechern anzufertigen.14 Im deutschsprachigen Raum fanden seine Vorschläge ein o≠enes Ohr bei Friedrich Eberhardt, dem Herausgeber des sächsischen Fahndungsblattes Allgemeiner Polizei-Anzeiger. Eberhardt modifizierte jedoch diese Ideen. Für ihn war das Porträtieren zu wenig mechanisch und daher ein „sehr geübter und geschickter Zeichner“ notwendig. Dagegen boten Schattenrisse aus seiner Sicht den Vorteil, dass ihre Anfertigung „ein mehr mechanisches Geschäft [ist], das von jedem, der mit Genauigkeit zu arbeiten gewöhnt ist, leicht besorgt werden kann“.15 Die Schattenrisse eigneten sich jedoch nicht für die Personenfahndung; sie waren schematisch und zeigten kaum Merkmale, an denen man den Abgebildeten erkennen konnte. Daher begannen die Kriminalisten schon um die Mitte des Jahrhunderts nach Alternativen zu suchen, die eine mechanische Abbildung mit einer besseren Identifikation verbanden und die man in der Fotografie fand. Die Verwendung der Fotografie durch die Polizeibehörden wurde von zeitgenössischen Experten als wichtiger Schritt der technologischen Aufrüstung gefeiert: Auch die Diebe, Betrüger u[nd] Gauner aller Klassen gehen mit der Zeit fort u[nd] vereiteln durch ihr Ra∏nement nicht selten die Bemühungen der Sicherheitsbehörden […] Alle diese Hindernisse zu beseitigen, ist eine schwer zu
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lösende Aufgabe […] Die Erfindung der Daguerreotypie muß auch für sicherheitspolizeiliche Zwecke benützt werden. Die Anfertigung von Lichtbildern gefährlicher Inhaftaten u[nd] die Vervielfältigung der erstern durch Steindruck hat sich in verschiedenen Fällen […] bewährt.16
Der anonyme Autor verö≠entlichte diese Forderung bereits im Jahr 1852. Das zeigt, dass die deutschen Kriminalisten sehr früh das Potenzial der neuen Technologie erkannten und – wie das Beispiel von Carl Schmidt zeigt – auch nutzten. In Frankreich wurde erst zwei Jahre später, nämlich 1854, der Auf bau eines fotografischen Erkennungsdienstes gefordert; zu dieser Zeit gab es in deutschen Behörden bereits praktische Erfahrungen mit der Fotografie. Weshalb bezeichnete der anonyme Autor die Fotografie als bewährte Methode? Sicherlich nicht wegen eines dramatischen Anstiegs der Aufklärungsquote. Fotografien bewährten sich in den polizeilichen Verfahren, weil sie der Sehnsucht der Beamten nach einer präzisen und gleichzeitig mechanischen Wiedergabe von Gesichtern und Tatorten entsprachen. Sie schlossen eine technologische Lücke im arbeitsteiligen Vorgehen der Polizei: Beobachtungen mussten möglichst ungebrochen von den Beamten an Vorgesetzte, von diesen in Register und von dort an andere Polizeibehörden, an Gerichte und Staatsanwälte weitergeleitet werden. Der Hamburger Polizeipräsident Gustav Roscher sah den größten Vorteil der Fotografie eben darin, dass sie „den Verbrecher unabhängig vom Orte dem Auge vorführen [konnte]“.17 Die Fotografien von Verbrechern, wie sie die Polizei seit der Zeit des Vormärz in steigender Zahl anfertigte und auf bewahrte, waren Teil eines sicherheitspolizeilichen Bestrebens, die Kontrolle über die Menschen auf der Straße zu verstärken. Porträts und die in den Akten der Polizei- und Gerichtsbehörden verzeichneten Biografien wurden nicht nur zu Fahndungszwecken verwendet, sondern entfalteten ein wissenschaftliches Eigenleben. Die Ursprünge des Bösen ließen sich damit nicht nur systematisch im Vorleben der „gemeinschädlichen Umhertreiber“ erforschen; die Bösen konnten auch anschaulich vorgeführt und physiognomisch untersucht werden.
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Das Verbrecheralbum: Nutzen und Grenzen Bereits vor Einführung der Fotografie bot die Redaktion des Sächsischen Polizei-Anzeigers ihren Abonnenten an, „eine ordentliche Sammlung“ von Zeichnungen der berüchtigtsten Gauner anzulegen.18 Dadurch sollte ein Archiv für spätere Fahndungen entstehen. Wer waren nun diese „besonders gefährlichen Verbrecher“, gegen die sich die Polizeibehörden der deutschen Staaten mit technologischer Aufrüstung zu behaupten suchten? Einen ersten Aufschluss darüber erhalten wir durch einen Blick in die Schweiz, wo ein groß angelegtes Projekt zur fotografischen Erfassung dieser Zielgruppe bereits im Jahr 1852 begann. Als Teil einer umfassenden Polizeiaktion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität wurden Hunderte von Nicht-Sesshaften und Heimatlosen verhaftet, nach Bern überstellt und dort verhört. Neu an dieser Initiative war der Auftrag von Generalanwalt Jakob Amiet an den Berner Lithografen und Fotografen Carl Durheim, alle inhaftierten Heimatlosen und Fahrenden zu fotografieren. Mithilfe der Porträts sollte die Identität jener Heimatlosen festgestellt werden, die sich hinter einem Pseudonym verbargen. Außerdem wollte man dadurch die Vagabunden von einer Wiederaufnahme ihrer früheren Lebensweise abhalten. Das Wissen der Heimatlosen um die Zirkulation ihrer Porträts sollte sie an ihre Heimatorte binden. Als sich diese Ho≠nung nicht erfüllte, gri≠en einige Gemeinden auf altbewährte Strategien zurück und finanzierten die Auswanderung der hartnäckigsten Problemfälle in die USA und nach Argentinien.19 Die Fotografien der Heimatlosen wurden nach dem Verfahren der Kalotypie, d. h. auf Papier und nicht auf Metallplatten aufgenommen. Das erleichterte die Vervielfältigung der Porträts durch die Lithografie. Jeweils sechs Porträts wurden mit wenigen Angaben zur Person auf einen Bogen Papier gedruckt und an die kantonalen Polizeistellen verschickt (s. Abbildung 7). Als Format wählte man so genannte „Kniestücke“ anstelle der Brustbilder, weil sie besser für die Fahndung geeignet schienen. Dieses Album hat nicht nur wegen seines frühen Entstehungszeitpunkts eine Sonderstellung. Ebenso bemerkenswert ist die Art seiner Nutzung. Anders als die Bildergalerien der großen europäischen Poli-
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7 Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt der Berner Lithograf den Auftrag, die nach Bern überstellten Vagabunden und Heimatlosen zu fotografieren. Um die spätere Identifikation der Abgebildeten zu erleichtern, wählte er Kniestücke anstelle von Brustbildern. Je sechs dieser Porträts wurden auf einen Bogen gedruckt und an die kantonalen Polizeistellen verschickt.
zeibehörden, die nur vor Ort einsehbar waren, wurde es mehrfach reproduziert und an die kantonalen Polizeistellen versandt, um das darin enthaltene Wissen allen Schweizer Polizeistellen gleichermaßen zugänglich zu machen. Das Album hatte jedoch einen erheblichen Nachteil: Es war nicht beliebig erweiterbar. Darin drückte sich ein optimistischer Grundzug aus. Mit der Festsetzung der Gauner ho≠te man, das Problem für immer gelöst zu haben. In den Polizeibehörden der deutschen Staaten fehlte dieser Optimismus. Dort entstanden Verbrecheralben in Verbindung mit den Datensammlungen der Fahndungsblätter, wie etwa in Hannover um 1860. Diese Alben wurden in spezialisierten Büros verwaltet und erweitert. Sie ermöglichten neue Formen der Fahndung, wie etwa nach der Identität des Carl Schmidt, und illustrier-
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ten kurze kriminologische Abhandlungen zu „gemeinschädlichen Umhertreibern“ in den Fahndungsblättern.20 Das Verbrecheralbum bot die Möglichkeit, den Geschädigten die polizeilich bekannten Täter vorzuführen, um dadurch Straftaten schneller aufzuklären. Das funktionierte am besten bei Delikten, bei denen es einen direkten Kontakt zwischen Täter und Opfer gab. Die Danziger Polizei legte daher in den 1860er-Jahren ein Verzeichnis der Taschendiebe an, die Berliner Polizei begann ihre eigene Sammlung von Verbrecherporträts mit Bauernfängern. Die Erfolge mit diesen neuen Hilfsmitteln waren beachtlich, wie der Berliner Polizeiexperte O. Klatt im Jahr 1902 rückblickend feststellte. Sie ermutigten zum weiteren Ausbau der Sammlungen. Sehr bald stieg die Zahl der erfassten Verbrecher enorm an. Das 1876 in Berlin begonnene Verbrecheralbum enthielt 1909 die Fotografien von 32 533 Personen.21 Die fotografische Anstalt der Polizeibehörde Hamburg fertigte zwischen 1889 und 1912 insgesamt 900 000 Bilder an, darunter 120 000 Fotografien von Personen, 1300 von Tatorten und 2000 von Handschriften.22 Diese Fülle visueller Informationen stellte eine Herausforderung an die Entwicklung eines adäquaten Zugri≠s dar. Eine erste Ordnung unterteilte die Bilder der gewerbsmäßigen Verbrecher, vor allem der Eigentumsverbrecher und Anarchisten, nach ihrer jeweiligen ‚Spezialisierung‘. Diese Ordnung konnte nur dann einen Fahndungserfolg garantieren, wenn die Verbrecher sich selbst treu blieben und der Manteldieb nicht plötzlich zum Taschendieb oder gar Hochstapler wurde. Innovative Kriminalisten wie Robert Heindl betonten zur Zeit der Jahrhundertwende die Nachteile dieser Einteilung. Heindl ging davon aus, dass trotz der o≠ensichtlichen Vorliebe für bestimmte Delikte ein Verbrecher keine Gelegenheit zur Begehung einer Straftat auslassen würde. Deshalb forderte er die Klassifikation der Porträts nach der äußeren Erscheinung des Täters, die den Zeugen ja bekannt war. Um die Kriterien herauszufinden, die am leichtesten und genauesten von Unbeteiligten erinnert wurden, stellte Heindl umfangreiche empirische Versuche mit Schulkindern, Jugendlichen und Erwachsenen beiderlei Geschlechts an. Dabei zeigte sich, dass Alter- und Körpergröße noch am besten wahrgenommen wurden. Auf dieser Grundlage reorganisierte er die Fotografien in einem Karteischrank zuerst nach der
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Größe, dann nach dem Alter und zuletzt nach der Verbrechenskategorie. Dieses System war erweitererbar und ermöglichte rationelle Suchstrategien. Selbst wenn in einem Fach die Fotografie einer gesuchten Person nicht aufzufinden war, konnte man die Suche im darüber bzw. darunter liegenden Fach fortsetzen, ohne dass man das gesamte Archiv durchforsten musste. Aufgrund dieser Vorteile wurden derartige Fototheken in München, Dresden, Berlin und Stuttgart eingeführt.23 Zur Zeit von Robert Heindl hatte das Verbrecheralbum bereits seine Funktion verändert. In den 1860er-Jahren war es noch das modernste Hilfsmittel der Personenfahndung gewesen. Zur Zeit der Jahrhundertwende wurde es in dieser Funktion von den Fingerabdrücken und anderen Hilfsmitteln der Kriminalpolizei abgelöst. Lapidar bemerkt Heindl in seinem Handbuch, dass das Verbrecheralbum „zur Feststellung der Personalien unbekannter Verhafteter … zurzeit überflüssig ist“.24 Um die Jahrhundertwende gab es einen letzten Versuch, das Verbrecheralbum gezielt zur Personenfahndung einzusetzen. Der Franzose Alphonse Bertillon, der den Erkennungsdienst der europäischen Polizeibehörden revolutionär umgestaltete, entwarf ein Fahndungsalbum im Taschenformat, das von den Polizeibeamten mitgenommen werden konnte. Aus seiner Sicht bot es den Beamten im Außendienst die Möglichkeit, bei verdächtig erscheinende Personen schnell festzustellen, ob sie polizeilich gesucht wurden. Angesichts der großen Zahl von unerledigten Personenfahndungen war dieses „Taschenbuch“ freilich sehr umfänglich – es enthielt zweitausend Doppelfotografien. Schnelles Nachschlagen war nur möglich, wenn die Porträts systematisch geordnet waren. Bertillon verwendete als Ordnungskriterien die Form der Nase, die anatomische Bescha≠enheit der Ohren, die Körpergröße, das Lebensalter und die Augenfarbe (s. Abbildung 8). Aus Heindls Sicht war ein solches Fahndungsalbum aber letztlich unbrauchbar. Als gebundene Sammlung von Porträts widersprach es der Logik polizeilicher Informationsverarbeitung. Der Auf bau großer personenbezogener Datenbestände, die Meldeämter, Vorstrafenregister, Fotografien und Fingerabdruckkarteien miteinander vernetzten, erforderte eine systematische Zentralisierung und Standardisierung der Informationsströme. Ein mobiles Register konnte daher im besten Fall einen kleinen Ausschnitt aus dieser Datensammlung für einen be-
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8 Das Fahndungstaschenalbum organisierte 2000 Doppelfotografien nach anatomischen Merkmalen. Das erste Merkmal betraf die Nasenform, hier rectiligne für gerade, das zweite und dritte die Ohrform, hier vex für konvexe untere Falte und sep für freihängendes (séparé) Ohrläppchen. Weitere Merkmale waren Körpergröße (Taille), Alter und Augenfarbe.
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stimmten Fahndungszweck reproduzieren, wie Robert Heindl in seiner Kritik an Bertillons Fahndungsalbum argumentierte. Die Standardisierung der Fotografie Das späte 19. Jahrhundert war eine Zeit der Experimente im polizeilichen Erkennungsdienst. Anarchisten und so genannte „minderwertige“ Gewalttäter wurden als Bedrohung von Staat und Gesellschaft wahrgenommen. Um dieser Gefahr zu begegnen, benötigte die Polizei neue Hilfsmittel zur eindeutigen Identifikation der Verdächtigen. Das war die Geburtsstunde des heutigen Erkennungsdienstes, für den die standardisierte Fotografie ein unverzichtbares Hilfsmittel ist. Entscheidende Anregungen für die Vereinheitlichung der Fotografien von Kriminellen kamen von Alphonse Bertillon, der 1888 die Integration des fotografischen Ateliers der Pariser Polizeidirektion in sein Service de l’Identification erreicht hatte. Zwei Jahre später brachte er eine detaillierte Anleitung zur Aufnahme der Porträtbilder heraus, in der jedes Detail geregelt war, von den Lichtverhältnissen bis zur Scharfstellung der Linse.25 Er gab damit wichtige Anregungen für die Reform der Polizeifotografie in anderen europäischen Staaten. Wie Abbildung 9 zeigt, schlug er auch technische Einrichtungen vor, um diese Standards in die Praxis umzusetzen. Zur Standardisierung der Kopf haltung brachte er auf der Mattscheibe seiner Apparate zwei Linien im Winkel von 15 Grad an. Der Kopf des Probanden musste bei der Profilaufnahme so gehalten werden, dass der Schnittpunkt beider Linien auf den äußeren Augenwinkel fiel und eine der beiden Linien durch die Ohrmitte verlief. Nur mit einer solchen Aufnahme konnte man die Abbildungen jener Personen erfolgreich miteinander vergleichen, die ihre Erscheinung verändert hatten.26 Eine zusätzliche Neuerung war die Anfertigung eines Möbels, das die Sitzgelegenheit für den Verbrecher mit dem Aufnahmegerät verband. Abbildung 10 zeigt diese Erfindung. Jeder Abzulichtende wurde auf einen höhenverstellbaren Stuhl platziert, dessen Dimensionen absichtlich so gering gehalten waren, dass er sich mit seinem Rücken an die Mitte der Lehne stützen musste. Um ein Ausweichen nach der Seite zu erschweren, waren an den Rändern der Sitzfläche kantige Einfassungen
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angebracht, die nur in der Stuhlmitte ein einigermaßen bequemes Sitzen ermöglichten. Der Kopf des Abzulichtenden wurde durch ein Stativ, das hinter der Stuhllehne angebracht war, in der vorgeschriebenen Lage gehalten. Die Gleichmäßigkeit der Einstellung und der Pose wurde dadurch erreicht, dass die Kamera und der Stuhl Teil derselben Apparatur waren. Der Stuhl war auf einer rotierenden Scheibe montiert. Durch einen Hebel konnte der Fotograf sein Gegenüber von der en-face- in die Profil-Position verschieben.27 Diese Standardisierung unterwarf Fotografen wie auch die Fotografierten einer strengen Disziplin. Ein kleiner Fehler der Einstellung, jede Unachtsamkeit bei der Beleuchtung oder der vertikalen Adjustierung des Objektivs konnte die Brauchbarkeit der Aufnahme gefährden. Der Verbrecher sah sich deshalb im Studio des Polizeifotografen mit einem strikten Regime konfrontiert, dem er sich nicht nach Gutdünken entziehen konnte. Falls er sich gegen die Fotografie sträubte, konnte die Polizei Zwangsmittel einsetzen.28 Bertillons innovative Form der standardisierten Fotografie wurde zuerst in den großen Polizeibehörden eingeführt. Kleinere Ämter sahen sich bis ins 20. Jahrhundert außerstande, einen spezialisierten Polizeifotografen einzustellen und gri≠en auf die Dienste von lokalen Berufsfotografen zurück. Das wurde als eine Gefahr für die Durchsetzung einer strikt polizeilichen Logik in der Aufnahmetechnik wahrgenommen. Robert Heindl wies etwa darauf hin, dass „Professions-Photographen […] gewöhnlich auf den Schnurrbart oder noch öfter auf die Krawatte einstellen“, während der Polizeifotograf das Bild auf den äußeren Augenwinkel einstellen musste, um eine möglichst präzise Darstellung aller Details zu erreichen. Außerdem rentierte sich die Anscha≠ung eines spezialisierten Apparates für die nach Aufträgen bezahlten Berufsfotografen nicht. In Lübeck wurde dieses Problem erst 1905 durch die Einrichtung eines eigenen fotografischen Dienstes an der Polizeibehörde gelöst.29 Die Rezeption von Bertillons standardisierter Fotografie erfolgte in einem Wechselspiel zwischen persönlicher Initiative und institutionellem Reformbedarf. Interessierte Kriminalisten nahmen die in Fachpublikationen bekannt gemachten Erfolge Bertillons wahr und pilgerten nach Paris und später auch nach Hamburg, um dort auf Ausstellungen
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9 Die vertikale Linie zeigt den Schnittpunkt der Objektivachse. Die Scharfeinstellung musste mit größter Genauigkeit auf den äußeren Augenwinkel eingerichtet werden. Die Haltung des Kopfes für die Seitenansicht wurde standardisiert, indem man die Linie vom Augenwinkel nach dem Tragus (anatomisches Merkmal des Ohres) in einem Winkel von 15 Grad gegen die Objektivachse neigte.
und durch Führungen das neue System des Erkennungsdienstes kennen zu lernen. Sie berichteten ihre Erfahrungen an die Polizeipräsidenten bzw. direkt an die Justiz- und Innenministerien, in der Regel verbunden mit der Anregung zur Einrichtung eines vergleichbaren Dienstes. In Deutschland waren es innovativ denkende Kriminalisten aus den Polizeibehörden, wie Robert Heindl aus Dresden und Gustav Roscher aus Hamburg, die sich um die Reorganisation des Erkennungsdienstes bemühten. In Österreich verfolgten junge Justizbeamte aufmerksamer die neuen Entwicklungen als ihre Kollegen von der Polizei. Erst die verstärkte nationale und internationale Kooperation der Behörden bei der Personenfahndung führte seit dem frühen 20. Jahrhundert zur Vereinheitlichung der Verfahren und zum Auf bau von Clearing-house-Strukturen, d. h. von regionalen und nationalen Informationszentren. Das zwang die Polizeibehörden der Hauptstädte dazu, ihre abwartende Haltung aufzugeben, um ihren Führungsanspruch innerhalb der deutschen bzw. österreichischen Polizei zurückzugewinnen.
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10 Der Dresdner Erkennungsdienst verwendete einen Apparat, der Kamera und Sitzgelegenheit vereinigte, um die Fotografien zu standardisieren.
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Tatortfotografie – neue Möglichkeiten der Dokumentation Schon lange vor der Einführung der Fotografie sahen sich die Kriminalisten bei der Auf klärung von Straftaten mit der Notwendigkeit konfrontiert, den Tatort möglichst detailliert zu beschreiben. Die Beilage einer Planskizze konnte dem Gericht später entscheidende Hinweise für die Überführung eines Täters geben. Die Visualisierung war entscheidend, weil sie neue Lesarten des Tatortes ermöglichte. „Ein mächtiger Stoß von Protokollen“ war aus der Sicht des bekannten österreichischen Kriminalisten Hans Gross daher weniger brauchbar als eine einzige Skizze.30 Die Skizze musste jedoch präzise sein und anhand von standardisierten Symbolen die einzelnen Objekte und deren Lage zueinander eindeutig bezeichnen. Im fünften Band von Ludwig Aloys Pfisters Merkwürdigen Criminalfällen (1820), die als Anleitung für die Untersuchungsführung gedacht waren, findet sich eine beispielhafte Tatortaufnahme nach einem Mordfall (s. Abbildung 11). Sie besteht aus einer detaillierten Skizze, die von einem Werkmeister auf Bestellung angefertigt wurde, und einem ausführlichen Protokoll über die Bescha≠enheit des Tatortes im Umfang von etwa sieben Druckseiten. Die Beschreibung war eine Erläuterung zur Planskizze und gab vor allem die räumlichen Verhältnisse am Tatort in exakter Form wieder – die Breite der Fenster, die Möblierung, die Entfernungen zwischen den einzelnen Objekten etc. Die Skizze wurde nach dem Augenschein angefertigt, was den Experten immer wichtig war.31 Der Einsatz der Fotografie erö≠nete neue Möglichkeiten der Dokumentation, die nicht mehr durch die Unsicherheiten der Sprache und das mangelnde Geschick des Zeichners gefährdet schien. Die Fotografie schaltete – im Verständnis der Zeitgenossen – die Einwirkung des Menschen aus und bildete die Gegenstände durch die Einwirkung des Lichtes direkt auf die lichtempfindliche Platte ab.32 Sie konservierte die Details am Tatort, ermöglichte ein arbeitsteiliges Vorgehen und gestattete den Vergleich der Tatspuren mit früheren Kriminalfällen, um dadurch zusätzliche Aufschlüsse über den möglichen Täter zu erhalten. Die Spurensicherung durch Fotografie wurde seit dem frühen 20. Jahrhundert auf alle Gegenstände am Tatort ausgedehnt. In Dresden
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11 Maßstabsgetreue, nach dem Augenschein angefertigte Tatortskizze nach einem Mord (1820).
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gelang im Jahr 1909 die Überführung eines Einbrechers aufgrund von Streichhölzern, die er am Tatort zur besseren Orientierung abgebrannt hatte. Er benutzte eine so genannte Jupiterpackung, d. h. eine doppelte Reihe von flachen Zündhölzern, die in einem Falz stecken. Als bei einem Verdächtigen eine solche Packung gefunden wurde, setzte man die abgebrannten Streichhölzer vom Tatort auf die Abrissstellen und konnte durch eine fotografische Vergrößerung die Anwesenheit des Täters am Tatort nachweisen.33 Heute gibt es keinen Zweifel mehr über den Stellenwert der Fotografie als Beweismittel. Bertillon und seine Kollegen mussten noch um diese Anerkennung kämpfen. Zu ihrer Zeit war vor allem die Reduktion des dreidimensionalen Raumes auf eine zweidimensionale fotografische Platte ein Problem für die ‚Lesbarkeit‘ der Fotografie, dem man mit neuen technischen Verfahren begegnen wollte. Bertillon selbst entwickelte als Antwort auf diese Herausforderung die polizeiliche Photogramm-Metrie. Dabei wurde zusammen mit der fotografischen Aufnahme ein metrischer Raster abgebildet, was die exakte Rekonstruktion des Tatortes gewährleisten sollte. Eine alternative Methode schlug Heindl vor, der eine quadratische weiße Tafel mit einer Skala mitbelichtete.34 Die räumlichen Verhältnisse auf der Fotografie konnten bei diesen Verfahren nur dann eindeutig bestimmt werden, wenn mit normierten Brennweiten und Aufnahmewinkeln fotografiert wurde – was bei Tatortaufnahmen oft nicht möglich war. Eine Abhilfe bot aus der Sicht der zeitgenössischen Experten nur die Verwendung stereoskopischer Kameras, die vor Gericht eine bessere Rekonstruktion des Tatortes erlaubten. Im Zweifelsfall empfahlen die Kriminalisten eine Planskizze als Ergänzung zur Fotografie.35 Das fotografische Abbild, gedacht als „anschauliches Bild des Tatherganges, das auch dem Strafrichter willkommen ist […]“, unterlag noch einer zusätzlichen Herausforderung. Jede fotografische Aufnahme verfuhr selektiv, was dem Anspruch an eine unvermittelte Wiedergabe der Objekte widersprach. Der Fotograf – im besten Fall ein geschulter Kriminalist – musste daher bei der Auswahl relevanter Informationen ähnliche Selektionskriterien einsetzen, die auch in anderen Bereichen seine Arbeit bestimmten:
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Im Einzelfalle das herauszufinden, was im Interesse der Untersuchung der photographischen Wiedergabe wert ist, und die Art, wie die Aufnahmen geschehen müssen, zu bestimmen, ist Sache des practischen Blickes und der Erfahrung; in wichtigeren Fällen ist ein Zuviel immer besser als ein Zuwenig.36
Diese Feststellung von Gustav Roscher markiert die Grenzen der Fotografie als einer Form der mechanischen Wiedergabe. Der praktische Blick des Experten sah viel mehr in dem Tatbestand, als es eine Fotografie jemals ausdrücken konnte. Als eine weit gehend mechanische Form der Repräsentation war sie an die manifesten Erscheinungen gebunden. Der praktische Blick drang dagegen hinter die Erscheinungen vor und las sie als Zeugen einer Tat. Deshalb konnte Roscher die Fotografien als „anschauliches Bild des Tatherganges“ bezeichnen, was eher auf einen Film oder ein Video zutri≠t. Dem Kriminalisten erzählten die Realien – seit der Jahrhundertwende durch die Methoden der Mikrofotografien und durch andere wissenschaftliche Methoden befragt – den Hergang der Tat, während sie dem Laien nur deren Resultate vor Augen führten. Der Kriminalist war daher ein deduzierender Sherlock Holmes, während der Laie immer nur der staunende Beobachter Dr. Watson blieb. Fotografie als Beweismittel Die Fotografie wurde seit dem späten 19. Jahrhundert nicht nur zu einem wesentlichen Bestandteil des Erkennungsdienstes, sondern auch zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel der Spurensicherung. Polizeifotografen kletterten auf Leiterstative, um Leichen und Spuren in einer möglichst guten Qualität auf ihre fotografische Platte bannen zu können. Sie arbeiteten eng mit den Technikern in den kriminalistischen Laboren zusammen, um die Ergebnisse der mikroskopischen Untersuchungen zu visualisieren und als Beweismittel festzuhalten. Die Fotografie ist so wertvoll für die Kriminalistik, weil alles und jeder eine Spur hinterlässt – diese Spuren allerdings für die weitere Bearbeitung dokumentiert und auf bereitet werden müssen. Nur der geniale – und leider fiktive – Kriminalist Sherlock Holmes konnte sie aufgrund seiner Gedächtnisleistung und seines analytischen Könnens vor
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Ort verarbeiten und klassifizieren. Als Speichermedium reichte sein Gedächtnis. In arbeitsteiligen Polizei- und Gerichtsbehörden erfordert die Aufnahme, Verarbeitung und Konservierung von Spuren ein Medium, das den ‚Transport‘ der Spur von einer Instanz zur nächsten ermöglicht. Für Fußspuren entwickelten die Experten des späten 19. Jahrhunderts eigene Konservierungstechniken; andere Spuren, z. B. die charakteristischen Scharten eines Einbruchswerkzeugs, wurden fotografisch dokumentiert, durch die Vergrößerung eindeutig bestimmt und dann als Beweismittel dem Gericht vorgelegt. Die Fotografie revolutionierte die Spurensicherung, die Auswertung der Spuren und die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Instanzen des Ermittlungs- und Strafverfahrens. Sie ermöglichte die Zirkulation von Beweismitteln ebenso wie von Porträts gesuchter bzw. zu identifizierender Verbrecher. Ihre rasche Integration in polizeiliche und gerichtliche Verfahren war möglich, weil die Kriminalisten bereits in den 1830er-Jahren die Notwendigkeit einer solchen Technologie erkannt hatten, ohne sie damals bereits verfügbar zu haben. Die Fotografie schloss eine Lücke innerhalb der polizeilichen und gerichtlichen Verfahren, die durch zunehmende Arbeitsteilung und nationale wie internationale Kommunikation entstanden war. Sie konnte diese Funktion aufgrund ihrer Reputation als mechanische, unkünstlerische Abbildung erfüllen.
4. Internationale Polizeikooperation – Kommunikation ohne Grenzen? Telefon, Telefax und Computer gehören heute zur Ausstattung eines jeden Polizeibüros. Verbrechen werden aufgeklärt im Rückgri≠ auf ein weitmaschiges Kommunikationsnetz, das den gesamten Globus umspannt. Dank Interpol sind Informationen über das Vorleben eines international tätigen Straftäters, seine ‚Handschrift‘ und seine Kontakte für die Auf klärung und in manchen Fällen selbst für die Prävention von Straftaten auf der ganzen Welt verfügbar. Eine moderne Polizei ist ohne internationale Zusammenarbeit nicht mehr vorstellbar. Die grenzüberschreitende Kooperation hat eine lange Geschichte und begann noch vor der Scha≠ung von Polizeibehörden im modernen Sinn mit der Übermittlung von Steckbriefen in der Frühen Neuzeit.1 Die historischen Vorläufer der Interpol wollten durch eine gezielte Information ausländischer Behörden besonders gefährliche Verbrecher stellen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fehlte jedoch eine zuverlässige Infrastruktur, um den Erfolg dieser „Nacheile“ – ein tre≠ender Begri≠ für die Verfolgung der Kriminellen durch Steckbriefe – sicherzustellen. Dazu benötigte man nicht nur eine schnelle und sichere Datenübertragung, sondern auch eine institutionell wie rechtlich fest verankerte Zusammenarbeit der Behörden auf nationaler und regionaler Ebene. Erst dann war gewährleistet, dass die Fahndungsersuchen alle Behörden erreichten und Informationen der lokalen Einsatzkräfte für die internationale Fahndung genutzt werden konnten. Diese Infrastruktur und ihre Geschichte ist das Thema dieses Kapitels. Der Anstoß zu ihrem Auf bau kam von den Praktikern, d. h. von engagierten Kriminalisten, die in den großen Polizeibehörden der Hauptstädte arbeiteten. Ihr Versuch, die Kontakte zu ausländischen Behörden
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institutionell zu verankern, stieß zunächst auf den Widerstand der Außenministerien, die darin eine Verletzung ihres Monopols der Kontaktaufnahme zu ausländischen Behörden sahen. Dieser Widerstand wurde erst im späten 19. Jahrhundert überwunden – zuerst aufgrund der Angst der Regierungen vor Anarchisten und schließlich aufgrund einer ‚moralischen Panik‘ im Zusammenhang mit Prostitution und Menschenhandel. Die International Abolitionist Society um Josephine Butler, die National Vigilance Association sowie die Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels brachten das Thema des internationalen Mädchenhandels auf die politische Agenda und sorgten dafür, dass es als vorrangiges Sicherheitsproblem diskutiert wurde.2 Ihr Einsatz führte 1904 zum ersten multilateralen Abkommen, das dem Schutz der Bevölkerung und nicht der politischen Systeme dienen sollte. Menschenhandel im Londoner East End Am 3. Juni 1885 war der Handel perfekt. Eliza, die 13-jährige Tochter einer Arbeiterfamilie aus den Londoner Slums, wurde für fünf englische Pfund an die Freundin einer Nachbarin ‚verkauft‘. Es war nicht das erste Mal, dass Rebecca Jarret ihre Kontakte ins Londoner East End nutzte, um junge Mädchen für die Bordelle im wohlhabenden West End zu rekrutieren. Die Mädchen galten als besonders begehrte Ware, wenn sie noch jungfräulich waren. Der ‚Kaufpreis‘ wurde in zwei Raten bezahlt. Die Anzahlung von drei Pfund war sofort fällig, die restlichen zwei Pfund erst nach der Untersuchung durch eine Hebamme, die Elizas Jungfräulichkeit überprüfte. Von der Wohnung der Hebamme wurde das Mädchen direkt in das Bordell gebracht, wo bereits ein ‚Käufer‘ sehnsüchtig wartete. Jungfräulichkeit war eine sexuelle Obsession der Jahrhundertwende. Sie galt als das wertvollste Gut einer Frau und war daher Objekt der Begierde von zahlreichen Männern. Der Aberglaube des 19. Jahrhunderts ließ manche Männer sogar ho≠en, durch den Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau ihre Syphilis heilen zu können. Wie so viele ihrer Leidensgefährtinnen wusste auch Eliza nichts über ihr Schicksal. Sie war fest davon überzeugt, dass sie bei der netten Frau eine situation, d. h. eine Anstellung als Haushaltshilfe gefunden hatte.
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Das erö≠nete für sie plötzlich eine neue Welt: Sie erhielt bessere Kleider und konnte der drückenden Armut und den beengten Wohnverhältnissen entfliehen. Die Untersuchung bei der Hebamme war ein erster Schock und doch behielt sie das Vertrauen in die Kupplerin. Es wurde erst im Bordell gebrochen, als sie – trotz der Betäubung mit Chloroform – den fremden Mann in ihrem Zimmer wahrnahm. Elizas Geschichte war nicht ungewöhnlich für das Europa des 19. Jahrhunderts. Junge Frauen waren im späten 19. Jahrhundert häufig den Nachstellungen von Männern ausgeliefert. Die prekäre wirtschaftliche Lage der Arbeiter in den Städten und auf dem Land zwang die Kinder dazu, sich möglichst früh ein Einkommen zu suchen, um das Familienbudget zu stabilisieren. Das wurde vor allem in Zeiten der Krise – bei Arbeitslosigkeit oder Krankheit eines Elternteils – unvermeidbar. In der Landwirtschaft hatte die Mitarbeit von Kindern und Jugendlichen eine lange Tradition ebenso wie ihre sexuelle Ausbeutung. Im Gegensatz zum Leben im Dorf fehlte den Mädchen und jungen Frauen in der Stadt jedoch der Rückhalt in einem sozialen Netzwerk, das im Fall von Verführung und Missbrauch Hilfe bieten konnte. Die Großstädte des 19. Jahrhunderts verkörperten für viele junge Frauen die Ho≠nung auf ein besseres Leben als Dienstmädchen, Kindermädchen, Verkäuferin, aber auch als Arbeiterin in einer Fabrik. Mit dem ersparten Geld wollten sie sich eine Existenz scha≠en. Diese Ho≠nung war trügerisch und wurde oft enttäuscht. Anstelle der Existenzgründung stand häufig der Weg in die Prostitution. Aus der Sicht von zeitgenössischen Beobachtern war es der Leichtsinn und die Putzsucht dieser Frauen, die sie anfällig für männliche Verführungen machten. Aus sozialhistorischer Perspektive war eher die mangelnde soziale Absicherung in Verbindung mit einem labilen Arbeitsmarkt für die weit verbreitete Prostitution verantwortlich. Der geringe soziale Rückhalt von Frauen in der Großstadt war bedingt durch die prekäre wirtschaftliche Situation der Arbeiter insgesamt, die ihre Töchter in Zeiten wirtschaftlicher Krisen kaum unterstützen konnten. Gleichzeitig ermöglichte die zunehmende Verbreitung von Anzeigenblättern neue Formen der Rekrutierung. Sie erfolgte nicht mehr durch soziale Netzwerke, die eine Verbindung zwischen der Heimat und der Großstadt herstellten, sondern in anonymer Form durch
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spezialisierte Agenturen. Engagierte Sozialreformer sahen die ahnungslosen Mädchen und Frauen, die am Bahnhof bzw. im Hafen der Großstädte eintrafen, als leichte Beute von Kupplerinnen. Diese arbeiteten für Bordelle, die ihren Bedarf an ‚frischer Ware‘ zum Teil durch die Rekrutierung von bislang unbescholtenen Frauen, zum Teil auf dem internationalen Markt von Prostituierten deckten, um die männlichen Kunden mit ständig wechselnder ‚Belegschaft‘ zu befriedigen. Das Schicksal einer Prostituierten blieb Eliza erspart. Ihre Geschichte nahm einen anderen Verlauf, weil ihr ‚Kauf ‘ nur Teil eines propagandistischen Feldzugs gegen Prostitution und Mädchenhandel war. William T. Stead, der Redakteur der Pall Mall Gazette, nutzte ein Netzwerk von Philanthropen, um durch eigenen Augenschein die traurige Wahrheit über dieses Problem zu enthüllen. Eine wesentliche Rolle spielte dabei eine frühere Kupplerin: Rebecca Jarret war nach dem Verbüßen einer Haftstrafe von der Sozialreformerin Josephine Butler bekehrt worden und arbeitete eng mit ihr zusammen. Ihre alten Kontakte ermöglichten der ehemaligen Kupplerin, binnen kürzester Zeit die junge Eliza in ihre Gewalt bringen. Das Mädchen wurde untersucht, für kurze Zeit mit Chloroform betäubt und in ein Bordell gebracht. Dadurch konnte Stead nachweisen, wie einfach es war, mit einem jungen Mädchen ein Zimmer in einem verrufenen Haus zu beziehen. Eliza wurde anschließend über Vermittlung der Heilsarmee nach Paris gebracht, wo sie einige Monate als Haushaltshilfe zubrachte. William Stead berichtete in vier melodramatischen Artikeln, die reißenden Absatz fanden, über diesen Menschenhandel. Er wandte sich mit seinem Kreuzzug nicht gegen die Prostitution als solche. Als britischer Liberaler akzeptierte er das Angebot von sexuellen Dienstleistungen, solange es sich um erwachsene Frauen handelte, denen die Folgen ihrer Handlungen bewusst waren. Er kämpfte gegen die Verführung von Mädchen und jungen Frauen, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu einem Leben gezwungen wurden, das sie nicht gewollt hatten und aus dem es für sie kaum ein Entrinnen gab. Die Konzentration auf die unschuldigen Opfer sexueller Ausbeutung veränderte die Auseinandersetzung mit Prostitution als einem sozialen Phänomen. Die Vorschläge zum Schutz der Mädchen fanden die Unterstützung von Sozialreformern und einer breiten Ö≠entlichkeit, die für die bereits gefallenen
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Prostituierten wenig Sympathien auf bringen konnten. Stead konnte deshalb die britische Ö≠entlichkeit zur Unterstützung einer Gesetzesvorlage mobilisieren, die jungen Mädchen einen besseren Schutz vor sexueller Ausbeutung bieten sollte. Der Erfolg seiner Kampagne blieb nicht auf Großbritannien beschränkt. Seine Enthüllungen verbreiteten sich rasch durch Übersetzungen und Kommentare und begründeten eine gesamteuropäische Bewegung gegen den Mädchenhandel. Die Enthüllungen in der Pall Mall Gazette und die sich daran anschließenden Diskussionen machten die Probleme der Polizei im Umgang mit der Prostitution deutlich. Zahlreiche Beamte unterstützten mehr oder weniger o≠en die Zuhälter und Bordellwirte aufgrund von Bestechungen oder im Tausch gegen deren Kooperation im Kampf gegen Berufsverbrecher. Gegen den national und international operierenden Mädchenhandel war die Polizei machtlos, weil sie vor allem lokal agierte. Über grenzüberschreitende Kommunikations- und Kooperationsnetzwerke verfügten eben nur die Mädchenhändler, die Anarchisten, die Hersteller und Vertreiber von Falschgeld und schließlich die Philanthropen. Die Anfänge grenzüberschreitender Zusammenarbeit Die europäischen Polizeiexperten sahen diese mangelnde Kooperation auf nationaler und internationaler Ebene durchaus als Problem. Engagierte Praktiker versuchten durch den Auf bau von regionalen und überregionalen Netzwerken die Kommunikation über sicherheitspolizeiliche Probleme und die Personenfahndung zu verbessern. Sie stießen dabei auf den Widerstand der Außenministerien, die ihr Monopol im Kontakt mit anderen Staaten verteidigten. Dagegen betonten die Polizeiexperten die Untauglichkeit der langsamen diplomatischen Dienstwege im Kampf gegen Berufsverbrecher, die sich geschickt der neuesten Verkehrsund Informationstechnologien bedienten. Die Abhängigkeit von den Außenministerien wurde zuerst im Kampf gegen die politische Opposition gelockert. Innerhalb des Deutschen Bundes, in den deutschen Staaten und der Habsburgermonarchie, begann mit der Gründung des so genannten Polizeivereins im Jahr 1851 eine enge Zusammenarbeit gegen Demokraten und Republikaner.
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Durch persönliche Kontakte auf regelmäßig stattfindenden Konferenzen und durch einen schnellen, wirkungsvollen Nachrichtenaustausch setzte der Polizeiverein neue Standards im Hinblick auf die multilaterale Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden, wie Wolfram Siemann in seiner Studie zu den Anfängen der politischen Polizei in Deutschland betont.3 Der Polizeiverein operierte mit Zustimmung der Regierungen, aber ohne rechtliche Basis. Er bot den leitenden Polizeibeamten der Bundesstaaten eine Plattform zum Austausch von Informationen und zur Diskussion von sicherheitspolizeilichen Problemen. Für die Scha≠ung einer rechtlichen Grundlage fehlte den Regierungen die Zustimmung der politischen Ö≠entlichkeit, die sich von den Präventivmaßnahmen der politischen Polizei mehr bedroht als beschützt fühlte. Unter dem Druck der Geheimhaltung erfolgte eine stra≠e Zentralisierung des innerstaatlichen Informationsflusses und die Monopolisierung der zwischenstaatlichen Kommunikation durch Zentralstellen. Diese erste Phase der internationalen Polizeikooperation fand ein jähes Ende mit der Auf lösung des Deutschen Bundes im Jahr 1866. In den Jahrzehnten danach wurde die politische Auseinandersetzung zunehmend gewalttätig. Die Anarchisten setzten als ‚außerparlamentarische Opposition‘ auf spektakuläre Gewaltakte. Diese richteten sich gegen die königlichen Familien und führende Politiker. Das tödliche Attentat auf die österreichische Kaiserin Elisabeth am 10. September 1898 in Genf brachte die europäischen Polizeibehörden an den Verhandlungstisch. Denn dieses Attentat war nur der traurige Höhepunkt einer Serie von Anschlägen, denen unter anderem Zar Alexander II. (1881) und der französische Präsident Sadi Carnot (1894) zum Opfer gefallen waren. Um verbesserte Strategien im Kampf gegen international tätige Anarchisten zu erarbeiten, lud die italienische Regierung 1898 zu einer internationalen Konferenz ein. An der Tagung nahmen 22 europäische Staaten teil, darunter Großmächte wie Deutschland, Österreich, Frankreich, Russland und Großbritannien, aber auch Klein- und Mittelstaaten wie Belgien, Bulgarien, die Schweiz und Portugal. Selbst die Türkei beteiligte sich am Kampf gegen den anarchistischen Terrorismus. Während der Tagung kam es jedoch zu unlösbaren politischen Konflikten bei dem Versuch, eine ver-
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bindliche Definition von Anarchismus festzulegen und darauf rechtliche Maßnahmen zu begründen. Für die österreichische Regierung war Anarchismus eine politische Bewegung, die den Umsturz und die Zerstörung der bestehenden politischen Ordnung mit oder ohne gewalttätige Mittel zum Ziel hatte. Anarchisten waren demnach Personen, die sich mit diesen Ideen identifizierten, sie unterstützten oder verbreiteten.4 Staaten wie England, Frankreich und die Schweiz, die sich o≠en zur politischen Meinungsfreiheit bekannten, konnten dieser Definition von Anarchismus nicht zustimmen. Sie sahen sich erheblichem innenpolitischen Druck ausgesetzt, weil sie mit Staaten wie Serbien, der Türkei und Bulgarien gemeinsame Sache machten. Dieser Konflikt kam deutlich in einem Schweizer Gesetz des Jahres 1902 zum Ausdruck. Nach einem neuerlichen Attentat, dem der italienische König Umberto I. im Jahr 1900 zum Opfer gefallen war, erhöhte sich der Druck der monarchischen Staaten auf die Schweiz, endlich gegen die Anarchisten vorzugehen. Die Schweizer Regierung erließ ein Gesetz, das die Zustimmung zu und Verherrlichung von anarchistischen Taten unter Strafe stellte. Wenige Monate später musste dieses Gesetz abgeändert werden, weil damit auch die Aufführung von Wilhelm Tell als einer Verherrlichung des Widerstands gegen die bestehende politische Ordnung kriminalisiert werden konnte. Dieses Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeiten der internationalen Kooperation im Kampf gegen politische Kriminalität zwischen Staaten mit unterschiedlichen Vorstellungen von politischer Normalität. Der britische Vertreter auf der Konferenz in Rom betonte immer wieder, dass man nicht jede Form der politischen Rebellion als anarchistisch bezeichnen könnte, ohne damit wichtige Traditionslinien der europäischen politischen Kultur zu dämonisieren. In ‚liberalen‘ Staaten musste politische Gesinnung straffrei bleiben. Nur in Verbindung mit der Vorbereitung oder Durchführung einer Straftat konnten Anhänger des Anarchismus bestraft werden. Das europäische Abkommen zur Bekämpfung des Terrorismus (1977) ist mit einer ähnlichen schwierigen Abgrenzung zwischen Terrorismus und politisch motiviertem Widerstand konfrontiert (s. Kapitel 8).
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Gemeinsam gegen Anarchismus und Mädchenhandel Die während der Tagung in Angri≠ genommene Vereinheitlichung von Auslieferungsabkommen scheiterte an unterschiedlichen politischen Kulturen und an den rechtsstaatlichen Grenzen für das Vorgehen gegen politische Opposition. Erfolgreich umgesetzt wurde letztlich nur die Kooperation der Polizei im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Erstmals wurde ein internationales polizeiliches Kommunikationssystem o∏ziell eingerichtet, in dem schnell und e∏zient Beobachtungen über anarchistische Netzwerke und deren Aktivitäten ausgetauscht wurden – ohne den langwierigen Umweg über die diplomatischen Kanäle. Dazu schufen die einzelnen Staaten Zentralbehörden, die als Sammelstellen für die Beobachtungen der politischen Polizei dienten und mit ausländischen Zentralstellen kommunizierten. Wenige Jahre nach der Konferenz in Rom, im Jahr 1902, trafen sich die europäischen Polizeiexperten erneut. Diesmal reisten sie nach Paris, um neue Maßnahmen im Kampf gegen das internationale Verbrechertum zu diskutieren. Die Regierungen wurden zu dieser Initiative durch ‚zivilgesellschaftliche‘ Initiativen gezwungen. Nach den Enthüllungen der Pall Mall Gazette formierte sich der Widerstand gegen die organisierte Prostitution. Eine von William Alexander Coote, dem Sekretär der National Vigilance Organisation im Jahr 1899 veranstaltete internationale Konferenz wurde von Vertretern von zwölf Ländern besucht, darunter waren Aktivisten aus Deutschland, Frankreich, Russland, Österreich, Großbritannien und Belgien. Der politische Druck zwang die europäischen Polizeiexperten aus Deutschland, Belgien, Dänemark, Spanien, Frankreich, England, Italien, Holland, Portugal, Russland, Schweden, Norwegen und der Schweiz dazu, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen, obwohl sie das Problem des Mädchenhandels nicht als vordringliches Sicherheitsproblem sahen. Sie einigten sich auf ein Aktionsprogramm, das am 18. Mai 1904 ratifiziert wurde und dem auch Österreich beitrat. In dem Maßnahmenkatalog waren präventive Strategien ebenso enthalten wie Vereinbarungen zum Austausch von Informationen und zur Auslieferung von Straftätern. Für eine Geschichte der internationalen Polizeikooperation sind vor allem die polizeilichen Maßnahmen interessant. Dazu
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zählte die verstärkte Aufsicht über die Büros und Agenturen, die Stellen für Frauen und Mädchen vermittelten, sowie eine intensivierte Kontrolle der Begleitpersonen von Frauen und Mädchen auf Bahnhöfen und Einschi≠ungshäfen. Damit gri≠en die Experten die Forderungen von philanthropischen Organisationen, wie der Heilsarmee und der Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels, auf. Außerdem verpflichteten sich die Regierungen – ähnlich wie im Kampf gegen den Anarchismus – zur Einrichtung von Zentralstellen, die Nachrichten sammelten und mit den Einrichtungen der anderen Länder in Kontakt standen. Die meisten Staaten richteten diese Zentralen in den Polizeibehörden der Hauptstädte ein. Am Berliner Polizeipräsidium wurden ein Kommissar, sein Stellvertreter, ein Wachtmeister und 15 Schutzmänner mit dieser Aufgabe betraut. In London gehörten der 1912 gegründeten Spezialabteilung am Criminal Investigation Department der Metropolitan Police ein Inspektor und neun Schutzmänner an.5 Besonders engagierte Regierungen wie Österreich und Frankreich setzten ihr konsularisches Netzwerk ein, um Aufschluss über das Ausmaß des internationalen Mädchenhandels zu erhalten. Das Wiener Außenministerium beauftragte im Jahr 1905 alle diplomatischen Missionen und Konsularämter, „auch ihrerseits dem Mädchenhandel ihr volles Augenmerk zuzuwenden und alle ihre auf diese Materie bezüglichen Beobachtungen den auf Grund des Art. 1 des Pariser Übereinkommens zur Unterdrückung des Mädchenhandels in Wien und Budapest eingesetzten Zentralstellen mitzuteilen“. Im Kampf gegen die Mädchenhändler zogen die konkurrierenden Netzwerke der Diplomaten und der Polizisten somit an einem gemeinsamen Strang. Motiviert durch den Gedanken, den Schwachen und Bedrängten zu helfen, und getragen von dem missionarischen Eifer der Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels entfalteten die Polizeibehörden ihre Überwachungs- und Verfolgungstätigkeit. Für einen vollen Erfolg fehlte nur eines: der Mädchenhändler. Das war zumindest die Sicht von deutschen und britischen Polizeiexperten angesichts der ‚moralischen Panik‘, die von zahlreichen Vereinen geschürt wurde. Robert Heindl, einer der führenden Kriminalisten des Deutschen Reiches, aber auch Commissioner Bullock von der Metropolitan Police wiesen im Jahr 1913 auf die verschwindend geringe Zahl solcher Straftäter hin.6
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Die deutschen Kriminalisten leugneten nicht die Existenz eines internationalen Netzwerks von Kupplern, durch das Frauen von einem Bordell zum nächsten verschoben wurden. Diese Frauen prostituierten sich aus ihrer Sicht freiwillig – d. h. aus Not oder Leichtsinn. Wie man den konsularischen Berichten an das Wiener Außenministerium entnehmen kann, gab es jedoch immer wieder abenteuerlustige junge Frauen, die sich um eine Stelle als ‚Sitzkassiererin‘ in einem ausländischen Ka≠eehaus bewarben und sich plötzlich in einem Bordell wieder fanden. Für diese Frauen gab es grundsätzlich die Möglichkeit des Ausstiegs, der allerdings viel persönlichen Mut erforderte. Die europäischen Polizeiexperten sahen die internationalen Abkommen zum Kampf gegen Anarchismus, Mädchenhandel und – seit 1910 – gegen Pornografie als Ansatzpunkt, um endgültig die Fesseln der Diplomatie in der Kommunikation mit ihren ausländischen Kollegen abzuschütteln. Unterstützt von den einflussreichen Strafrechtsexperten der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung forderte die Deutsche Polizeikonferenz im Jahr 1912 die Verbesserung des Fahndungsverkehrs, vor allem die Möglichkeit der direkten Kommunikation mit ausländischen Behörden. Zu diesem Zeitpunkt erklärte das Auswärtige Amt, dass einer Weiterentwicklung der bestehenden internationalen Abkommen nichts im Wege stehe. Zwei Jahre später, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914, wurden die Kriminalbeamten noch deutlicher. In Abwesenheit von o∏ziellen Vertretern aus Deutschland und Österreich forderte der erste internationale Kriminalpolizeikongress in Monaco die Beschleunigung und Vereinfachung der Verfolgung flüchtiger Verbrecher und die Einrichtung spezialisierter Hilfsmittel im Kampf gegen die international operierenden Verbrecher: Dazu gehörten ein Steckbriefregister, ein internationales Fahndungsblatt, ein internationaler Nachrichtendienst, die Vereinheitlichung des Auslieferungsverfahrens sowie Telegramm-, Telefon- und Portofreiheit für Polizei und Staatsanwaltschaft. Diese Initiative war nicht nur durch den Ausbruch des Weltkrieges zum Scheitern verurteilt. Das Fehlen der o∏ziellen Vertreter aus deutschsprachigen Ländern, aus Skandinavien und aus Großbritannien unterstrich die zunehmende Kluft zwischen den europäischen Regierungen. Trotzdem gab es schon bald nach dem Ende des Ersten Welt-
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krieges erneute Ansätze, die internationale Polizeikooperation wieder zu beleben. Der niederländische Polizeiexperte M. C. van Houten richtete im Dezember 1919 einen Brief an die bedeutendsten europäischen Polizeibehörden, in dem er die Scha≠ung einer internationalen kriminalpolizeilichen Zentralstelle anregte. Diese Zentrale sollte einen internationalen Nachrichtendienst organisieren, Informationen mit den nationalen Zentralstellen austauschen und selbst kriminalistische Forschungen anstellen.7 Van Houten verstand das Abkommen zur Bekämpfung des Mädchenhandels als Modell für eine solche Initiative. Dieser Bezug war umso nahe liegender, als die Siegermächte im Friedensvertrag von Versailles Deutschland explizit zur weiteren Teilnahme am Kampf gegen den Mädchenhandel verpflichteten. Die ‚zivilgesellschaftlichen‘ Initiativen im Gefolge von William Stead und Josephine Butler blieben somit noch in der Zeit der Weimarer Republik eine wichtige Orientierung für die internationale Polizeikooperation. Lokale und regionale Informationsnetze Der Präsident des sächsischen Landeskriminalamtes skizzierte 1926 tre≠end die organisatorischen Anforderungen an eine verbesserte internationale Kooperation: In allen wesentlichen Punkten und unter den vorstehenden kritischen Einschränkungen können wir also den Forderungen zur Durchführung kriminalpolizeilicher Zusammenarbeit beipflichten. Es unterliegt aber […] keinem Zweifel, daß als Grundlage und Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit eine Kriminalpolizei-Organisation im eigenen Lande vorhanden sein muß, die den modernen Anforderungen für eine Bekämpfung des Verbrechertums Genüge leistet und über die hierfür erforderlichen zentralen Einrichtungen und technischen Hilfsmittel verfügt […] Nun müssen wir aber […] feststellen, daß sowohl das Deutsche Reich in seiner Gesamtheit wie auch einzelne deutsche Länder diesen Anforderungen noch nicht allenthalben genügen.8
Die Einrichtung von nationalen Zentralstellen musste begleitet sein von einer systematischen Reorganisation des Informationsflusses innerhalb der Behörden und zwischen den Behörden der einzelnen Län-
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der. Nur bei entsprechender Vernetzung auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene konnte die internationale Kooperation funktionieren. Die ersten Ansätze zu einer Rationalisierung des Informationsflusses führen zurück in die Zeit nach den Napoleonischen Kriegen, als die Staaten des Deutschen Bundes ihre Polizeiapparate auf bauten. Engagierte Praktiker, wie der preußische Polizeirat Johann Friedrich Karl Merker, sahen die bisherige Aktenführung nach dem Modell der Gerichte als ungenügend an. Polizeiliche Beobachtung war personen- und nicht fallbezogen. Daher forderte er in seinem viel beachteten Handbuch für Polizeybeamte im ausübenden Dienste (1818) die Einrichtung von Verzeichnissen, in denen – nach Delikten und Wohnvierteln getrennt – die polizeilich relevanten Wahrnehmungen zu einzelnen Personen zusammengefasst wurden. Einen weiteren Schritt hin zum Auf bau eines modernen polizeilichen Nachrichtendienstes machte Generalpolizeidirektor Carl Georg Ludwig Wermuth in Hannover, als er 1846 die nach einzelnen Fällen aufgebaute Registratur seiner Behörde auf Personalakten von Straftätern und Verdächtigten umstellte.9 Er begründete die Reorganisation mit dem Hinweis auf die spezifischen Anforderungen an die polizeiliche Registratur: [Sie] muß nicht nur jede frühere Bestrafung, jeden entstandenen Verdacht, jede auffällige Erscheinung, oder muthmaßlich verbrecherische Verbindung festhalten, sondern sie muß auch im Stande sein, bei jedem neuen Falle, beim Wiederauftauchen einer Person sofort übersehen zu können, was von Beachtenswerthem oder auch nur zu Combinationen Führendem früher vorkam.10
Diese Registratur wurde in den großen Polizeibehörden um die Aufzeichnungen ergänzt, die bei der Redaktion der Polizeiblätter einliefen. Die Polizeiblätter waren ein erster Versuch, regionale Informations- und Kommunikationsnetze aufzubauen. Sie begannen als private Initiativen von engagierten Kriminalisten und gingen seit der Mitte des Jahrhunderts zunehmend in die Regie der Polizeiverwaltung über. Dadurch sollte die Verbindlichkeit der Zusammenarbeit mit den Behörden des eigenen Landes erhöht und der Austausch mit ausländischen Kollegen besser koordiniert werden. Der nächste Schritt zur verbesserten Integration und Vernetzung der
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kriminalpolizeilichen Aktivitäten wurde erst in der Weimarer Republik getan. Das Reichskriminalpolizeigesetz aus dem Jahre 1922, das die Gründung eines dem Reichsministerium des Inneren unterstellten Reichskriminalpolizeiamts und die Scha≠ung von Landeskriminalpolizeiämtern vorsah, wurde zwar nicht umgesetzt, doch begannen einzelne Länder wie Baden, Preußen, Sachsen und Württemberg mit der Koordination der eigenen kriminalpolizeilichen Aktivitäten. Sachsen erreichte dieses Ziel mit der Verstaatlichung der Kriminalpolizei bereits Anfang der 1920er-Jahre. An der Spitze stand das Landeskriminalamt, dem vier Kriminalämter unterstellt waren, die ihrerseits die Tätigkeit von Kriminalabteilungen und den Dienst der kriminalpolizeilich tätigen Mitglieder der Landgendarmerie beaufsichtigten. Durch diese Struktur wurde eine bürokratische Angleichung der gesamten kriminalpolizeilichen Aktivitäten erreicht – von der Ausbildung über die Geschäftsführung bis hin zu den Formularen zur Erfassung und Mitteilung von Beobachtungen. Das Landeskriminalamt hatte zudem einen wissenschaftlichen Auftrag und beherbergte die Einrichtungen für den Erkennungs-, Nachrichten- und Fahndungsdienst.11 Unterstützt wurden diese Bemühungen um eine bessere Koordination der Fahndung durch die Umgestaltung des Deutschen Fahndungsblattes und die Herausgabe eines gemeinsamen Steckbriefregisters seit dem Jahre 1928.12 Um den Erfolg der verstaatlichten Kriminalpolizei in Sachsen zu belegen, benutzte Polizeipräsident Palitzsch moderne Präsentationstechniken. Anhand von thematisch gestalteten Karten illustrierte er die Nachteile der traditionellen Ermittlungstätigkeit. Beschränkt auf die lokal verfügbaren Ressourcen blieb die Gefährlichkeit von mobilen Straftätern häufig unerkannt. Erst ein gut organisierter Nachrichtendienst, der die Informationen über kriminelle Handlungen an einem Sammelpunkt zentralisierte und dort auswertete, konnte die besonders gefährlichen, reisenden Berufsverbrecher entlarven. Die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in den 1970er-Jahren verbesserte die Zugri≠smöglichkeiten auf die Daten des polizeilischen Nachrichtendienstes (s. Kapitel 9). Den nächsten Schritt machte die deutsche Polizei im Jahr 1999 mit der Einführung eines spezialisierten Datenbanksystems zur Serienzusammenführung im Bereich der Gewalt- und Sexualverbrechen (s. Kapitel 10).
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Die sächsische Polizei der Zwischenkriegszeit realisierte den Traum eines jeden Kriminalisten des 19. Jahrhunderts, indem sie einen Nachrichtendienst einrichtete, der Informationen über Verbrecher und deren Praktiken von allen kriminalpolizeilichen Dienststellen und Justizbehörden erhielt13 (s. Abbildung 12). Die anhand eines einheitlichen Formulars eingesandten Berichte enthielten die Personenbeschreibung des bekannten oder unbekannten Täters, seine Personalien, seine Spitzoder Decknamen, sichtbare Kennzeichen, die Aufenthaltsverhältnisse und Informationen über seine Arbeitsweise. Fingerabdrücke, Lichtbilder, Handschriftenproben wurden, soweit vorhanden, ebenfalls beigefügt. Diese Daten wurden nach dem so genannten modus operandi, d. h. nach der Arbeitsmethode, in eine Hauptkartei eingereiht. Um Verbrechern, wie einem berufsmäßigen Heirats- und Darlehensbetrüger auf die Schliche zukommen, musste die Kartei des Nachrichtendienstes anhand von fälschungssicheren Kriterien organisiert sein, weil die Berufsverbrecher des 20. Jahrhunderts weiterhin unter falschem Namen operierten. Die Hauptkartei war daher nach Delikten eingeteilt – vom schweren Diebstahl bis zum Sittlichkeitsdelikt – und innerhalb dieser Kategorien nach der jeweiligen Spezialisierung. Zusätzlich zu dieser Hauptkartei gab es eine Namenskartei, eine Deck- und Spitznamenkartei, eine Tatortkartei und eine Kartei mit sichtbaren Kennzeichen, wie Narben und Tätowierungen. Mit diesen Hilfsmitteln arbeiteten die Experten der Nachrichtenzentrale in einer Art Großraumbüro, das ihnen einen schnellen Zugri≠ auf die Datenbestände und ihre kollektive Erfahrung ermöglichte. Sie kooperierten mit den anderen Zentralstellen des Landeskriminalamts: der sächsischen Zentralstelle für Fingerabdrücke, Personenfeststellung, Vermisste und Schriftenvergleich; der Zentralstelle zur Bekämpfung von Mädchenhandel und Falschgeld sowie dem Verbrecheralbum und der Schriftleitung des Sächsischen Fahndungsblattes. Mit diesen Ressourcen konnten im Zeitraum zwischen Oktober 1924 und September 1925 mehr als 240 Personen als Täter von 556 Straftaten ermittelt werden, die an 384 verschiedenen Orten begangen wurden.14 Für Palitzsch war dies ein großer Erfolg. Er forderte daher die Teilnehmer der Deutschen Polizeifachkonferenz 1925 in Karlsruhe zur Gründung einer Deutschen Kriminalpolizeilichen Kommission auf, die sich für die
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12 Nachrichtenzentrale im Sächsischen Landeskriminalamt Dresden (1926).
Vereinheitlichung und Vernetzung der kriminalpolizeilichen Arbeit auf Länder- und Bundesebene einsetzen sollte,15 um deutsche Polizeibehörden für die internationale Kooperation vorzubereiten. Verwirklicht wurde dieses Programm allerdings erst durch Horst Herold, den legendären Präsidenten des BKA , in den 1970er-Jahren. Er begegnete den Nachteilen der von der Verfassung vorgeschriebenen Dezentralisierung polizeilicher Organisationen durch eine systematische Zentralisierung von Information und Kommunikation am BKA , das sich in den 1970erJahren zur zentralen Polizeibehörde Deutschlands entwickelte.16 Die Gründung der IKPK Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Vision einer global agierenden internationalen Polizei Wirklichkeit. Sie ist eng mit dem fast schon legendären Namen Interpol verbunden: Das Generalsekretariat der IKPO -Interpol wäre jederzeit in der Lage, eigenständig und eigeninitiativ – aber auch auf Ersuchen eines NZB (Nationalen Zentralbüros) – an Hand seiner fachspezifisch breit gefächerten Materialsammlungen und Unterlagen sowie dank der ihm verfügbaren technischen Hilfsmittel eine Präventivausschreibung über einen international auftretenden, gefährlichen
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Rechtsbrecher vorzunehmen. Dies könnte beispielsweise durch in den USA aufgenommene Lichtbilder, in Österreich gespeicherte Fingerabdrücke, mehrere in außereuropäischen Staaten gesammelte sowie sonstige, in den Spezialistenkarteien der Organisation enthaltene Erkenntnisse über die kriminellen Aktivitäten der Bezugsperson geschehen. Das Ergebnis könnte sodann allen Mitgliedern im Wege der Verö≠entlichung unverzüglich mitgeteilt werden.17
Die Interpol wurde in ihrer heutigen Form nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gegründet. Ihre Anfänge lassen sich jedoch bis in die 1920er-Jahre zurückverfolgen. Angesichts der steigenden Kriminalität in der unmittelbaren Nachkriegszeit engagierten sich die Kriminalisten erneut für die internationale Zusammenarbeit auf kriminalpolizeilichem Gebiet. Den Durchbruch brachte der Internationale Polizeikongress im September 1923 in Wien. Dieser Erfolg war nicht zuletzt dem Engagement des Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober zu verdanken, der in seiner Funktion als österreichischer Bundeskanzler und Außenminister in den Jahren 1921 und 1922 über ausgezeichnete Verbindungen zu ausländischen Regierungen verfügte. An diesem Kongress nahmen die Vertreter von 17 europäischen und vier außereuropäischen Staaten (Ägypten, USA , China und Japan) teil. Großbritannien hatte keinen o∏ziellen Vertreter entsandt. Der entscheidende Schritt war die Gründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK ) als einer zwischenstaatlichen Körperschaft, die sich um die Durchsetzung der Tagungsbeschlüsse und den weiteren Ausbau der internationalen Zusammenarbeit bemühte. Die Beschlüsse der Wiener Tagung gingen kaum über die bereits bekannten Forderungen nach einer verbesserten zwischenstaatlichen Kommunikation der Polizeibehörden und nach der wechselseitigen Unterstützung bei Verhaftungen und Auslieferungen hinaus. Dennoch gab es einige konkrete Beschlüsse, die neue Akzente in der internationalen Kooperation setzten. So verpflichteten sich die einzelnen Polizeibehörden zur Bereitstellung von Auskünften über Inländer, die sich im Ausland niederlassen wollten. Um die Kommunikation zwischen den Behörden zu vereinfachen, entwickelte man einen standardisierten Kode für die Übermittlung von telegrafischen Nachrichten. Schließlich sorgte man sich auch um die Fortbildung der Kriminalbeamten. Die Regierungen wurden
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aufgefordert, Studienreisen zu ausländischen Einrichtungen zu fördern – eine Vorform des Erasmus-Programms für Kriminalisten. Die ehrgeizigste technische Innovation, mit der sich die Konferenz befasste, war das neu entwickelte Fernidentifizierungssystem von Hakon Jörgensen aus Kopenhagen. Es beruhte auf einer Weiterentwicklung der bestehenden Klassifizierungen für Fingerabdrücke (s. Kapitel 5), indem es eine unverwechselbare Formel für jeden einzelnen Probanden erstellte. Durch die Übermittlung der Formel an die Zentrale in Kopenhagen konnte man zweifelsfrei feststellen, ob der Verdächtige bereits in einem anderen Land erkennungsdienstlich erfasst worden war. Voraussetzung dafür war der Auf bau einer Zentralstelle in Kopenhagen mit den Fingerabdrücken jener Verbrecher, die als international tätige Kriminelle in Betracht kamen. Dazu zählten Anarchisten, Betrüger, Banknotenfälscher und Eisenbahndiebe ebenso wie Falschspieler, Hochstapler, Hoteldiebe, Taschendiebe und Mädchenhändler.18 Für dieses System interessierten sich amerikanische wie europäische Polizeibehörden. Zu seiner Realisierung war jedoch ein Ausmaß an Standardisierung erforderlich, das von den beteiligten Polizeibehörden nicht aufgebracht werden konnte. Die schnell wachsenden Sammlungen von Fingerabdruckblättern waren nämlich unterschiedlich klassifiziert worden. Für eine systematische Kooperation mit dem neuen Büro in Kopenhagen waren daher zwei Schritte notwendig. Zuerst mussten die Polizeibehörden Doubletten von Fingerabdruckbögen übermitteln, die in der Kopenhagener Zentralstelle nach dem System Jörgensen kodiert wurden. Anschließend musste jede regionale und nationale Zentralstelle alle neu erfassten Fingerabdrücke erneut kodieren, um sie in die eigenen Karteien einsortieren und mit dem internationalen daktyloskopischen Fahndungsblatt abgleichen zu können. Das ließ sich nicht verwirklichen. Das Verfahren von Jörgensen wurde schließlich durch die drahtlose Bildübertragung verdrängt, die der deutsche Physiker Arthur Korn entwickelt und in Zusammenarbeit mit dem italienischen Kriminalisten Salvatore Ottolenghi getestet hatte. Sie ermöglichte den Polizeibehörden, die Fingerabdrücke als Bild zu übermitteln. Die Empfänger konnten sie nach ihren eigenen Systemen klassifizieren und in den Karteien rasch nach dem Gesuchten fahnden. Ohne die Einrichtung der IKPK als einer dauerhaften zwischenstaat-
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lichen Organisation wäre die globale Koordination der polizeilichen Informationskanäle kaum Wirklichkeit geworden. Denn erst die Tätigkeit dieser Kommission konnte – in Verbindung mit den diplomatischen Bemühungen des österreichischen Außenministeriums – den kontinuierlichen Ausbau der Kommunikationsnetze erreichen. Ein erster Schritt war die Anerkennung der Organisation durch die Regierungen der beteiligten Staaten und die Aufnahme von Beziehungen zum Völkerbund. Daran schloss sich eine intensive und letztlich erfolgreiche Phase der Überzeugungsarbeit auf nationalstaatlicher Ebene für die Einrichtung von Zentralstellen an. Ein wichtiges Element in dem neuen Netzwerk war die internationale Zentralstelle, die an der Wiener Polizeidirektion, dem Sitz der IKPK , eingerichtet wurde. Der Polizeipräsident von Wien war gleichzeitig Präsident der IKPK . Sein Stab bestand aus einem Generalsekretär und fünf Referenten. Mit diesem Personal wurde ein Nachrichtendienst über internationale Verbrecher aufgebaut, ein internationales Fahndungs- und Informationsblatt (die Internationale Ö≠entliche Sicherheit) gescha≠en und zur schnellen Kommunikation eine so genannte Rundaussendung eingerichtet. Diese wurde zu Nachforschungen nach Personen verwendet, zu denen Fingerabdrücke, Fotografien und Unterschriftsproben vorlagen. Dabei wurde die Fingerabdruckkarte fotografisch vervielfältigt und gemeinsam mit den anderen Materialien an die Behörden des Netzwerkes versandt.19 Angesichts dieser vielfältigen Aktivitäten erstaunt die geringe Personalausstattung. Sie wurde möglich durch die enge Anbindung des internationalen Büros an die Polizeidirektion in Wien, die Ressourcen für die Bearbeitung der Karteien und die Aufrechterhaltung der Informationsnetze zur Verfügung stellte. Diese enge Anbindung erwies sich nach dem so genannten Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland als verhängnisvoll. Durch eine willkürliche Auslegung der Beschlüsse wurde die IKPK in das Reichskriminalpolizeiamt in Berlin integriert, Heydrich übernahm als Chef der deutschen Sicherheitspolizei auch die Funktion des Präsidenten der IKPK .20 Das bedeutete das vorläufige Ende für die IKPK , weil für die europäischen Polizeibehörden die nationalsozialistische Polizei kein akzeptabler Partner in der internationalen Kooperation war.
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Reorganisation nach 1945: Die Entstehung von Interpol Zwischen dem 6. und 9. Juni 1946 tagten namhafte Kriminalisten aus 14 europäischen und drei außereuropäischen Staaten in Brüssel, um angesichts der steigenden Kriminalität der Nachkriegszeit die IKPK neu zu etablieren. „Alle Gründe, die für die Scha≠ung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission sprachen, gebieten uns heute ihren Wiederauf bau – wir dürfen die Flamme nicht erlöschen lassen.“ Mit diesen Worten erö≠nete F. E. Louwage, der Generalinspektor der belgischen Polizei, die Tagung.21 Die IKPK konstituierte sich erneut als eine zwischenstaatliche Organisation, deren Mitglieder nicht die Regierungen, sondern die Polizeibehörden der einzelnen Staaten waren. Angesichts der negativen Erfahrungen mit der Anbindung der IKPK an eine nationale Polizeibehörde wurde die neue Organisation unter dem Namen IKPO – Interpol in Paris unabhängig von der französischen Polizei eingerichtet. In der polizeilichen Zusammenarbeit hat das nationale Recht weiterhin Vorrang. Die Ersuchen ausländischer Kollegen um Zusammenarbeit bei der Personensuche und der Verhaftung können nur dann berücksichtigt werden, wenn sie materiell und formell mit den nationalen Rechtsvorschriften des Landes in Einklang stehen, das um Mithilfe ersucht wird. Ausgeschlossen ist jede Verfolgung aufgrund von politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Kriterien. Im Mittelpunkt von Interpol steht die Zentralstelle in Paris (seit 1989 in Lyon), die mit den Landeszentralstellen – in Deutschland dem BKA – zusammenarbeitet.22 Dort wurden nach dem weit gehenden Verlust der Karteien der früheren IKPK neue Datenbanken aufgebaut. Sie bestehen aus drei Teilen: den Personen- und Fallakten, die anhand der täglich einlaufenden Informationen die Aktivitäten der international tätigen Rechtsbrecher dokumentieren (1); den erkennungsdienstlichen Sammlungen: Zehnfinger- und Einzelfingerabdruckkarteien und ein nach dem modus operandi organisiertes Verbrecheralbum (2); schließlich die Spezialistenkarteien, in der die ‚Tricks‘, d.h. die besonders auffälligen Arbeitsweisen von Verbrechern erfasst sind (3). Aufgrund dieser Karteien können nicht nur Einzeltäter weltweit verfolgt, sondern auch die Aktivitäten der organisierten Kriminalität systematisch rekonstruiert werden. Seit
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den 1990er-Jahren bietet Interpol außerdem spezialisierte Plattformen an, die den Austausch von DNA -Profilen und von Profiling-Daten zwischen den Mitgliedern erleichtern sollten (s. Kapitel 9 und 10). Die Interpol entwickelte das in der Zwischenkriegszeit aufgebaute Funknetz und den Abkürzungsschlüssel für den Funkverkehr weiter. In den letzten Jahren wurde auf ein „global communication system“ umgestellt, das durch gesicherte Internetverbindungen den Zugang zu den Datenbanken ermöglicht. Mit den neuen Technologien können nun auch Landeszentralstellen Teile des nationalen polizeilichen Informationssystems für andere Länder verfügbar machen. Die Ausschreibungen der Interpol – zur Fahndung nach flüchtigen Straftätern und nach Vermissten, zur Feststellung der Identität von Verdächtigen und Toten sowie zur präventiven Warnung vor gefährlichen Verbrechern und Anschlägen – werden heute ebenfalls via Internet verbreitet. Die Fahndungsausschreibungen enthalten umfassende Angaben zur Person des Gesuchten und zum Delikt. Sie sind ein erfolgreiches Mittel im Kampf gegen die international agierenden Straftäter, wie man den Statistiken der Interpol entnehmen kann. Im Jahr 2003 wurden 1207 Fahndungsersuchen sowie 266 Warnungen vor international tätigen Straftätern publiziert. Dadurch konnten fast 2000 Straftäter verhaftet werden. Interpol stellt somit eine schlagkräftige Struktur zur Verfügung, die den Zugri≠ auf Informationen beschleunigt und durch einen spezialisierten Nachrichtendienst neues Wissen über Straftäter, einzelne Verbrechen und den Problemkomplex der organisierten Kriminalität, Menschenhandel, Internetkriminalität, Terrorismus und Drogenhandel scha≠t. Sie hat jedoch keine exekutive Kompetenz und ist daher nicht direkt in die Aktivitäten der einzelnen Mitglieder involviert. Für die europäischen Polizeibehörden steht seit 1998 mit der Europol ein zusätzliches Instrument im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und den internationalen Terrorismus zur Verfügung. Sie bietet ähnliche Dienstleistungen wie die Interpol, geht aber in einem entscheidenden Schritt darüber hinaus. Sie koordiniert auch die Fahndungsund Auf klärungsaktivitäten der einzelstaatlichen Behörden und ist daher stärker in deren operative Tätigkeit involviert. Das Informationsund Koordinationsangebot der Europol wird in zunehmendem Maße genutzt: Sie war im Jahr 2003 an der Auf klärung von mehr als 4700
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Straftaten beteiligt. Das bedeutet eine Zunahme von fast vierzig Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Technologien und Konventionen für die Zusammenarbeit Interpol und Europol bieten den Polizeibehörden neue Hilfsmittel im Vorgehen gegen die organisierte Kriminalität. Durch innovative Lösungen im Bereich der Kommunikationstechnologie – vom Kurzwellensender über Bildtelegrafie bis hin zur gesicherten Internetverbindung – versuchen die Kriminalisten, dem international tätigen Verbrecher einen Schritt voraus zu sein. Ihre stärkste Wa≠e sind die vielfach vernetzten Datenbestände, die zuerst als Karteien und in jüngster Zeit als Datenbanken zur Verfügung stehen. Der Beamte am BKA in Wiesbaden, der online Informationen aus den Datenbanken der Interpol abruft, kann kaum mit dem Kriminalisten des 19. Jahrhunderts verglichen werden, der nur einen sehr begrenzten und zeitaufwändigen Zugri≠ auf personen- und fallbezogene Informationen hatte. Beiden gemeinsam ist jedoch der starke Rückhalt in einem Informationssystem, das eine Fülle von lokalen Beobachtungen integrierte. Jede Form der organisierten, arbeitsteiligen Bekämpfung des Verbrechens benötigt Verfahren, um individuelle Wahrnehmungen in objektivierbare Beobachtungen zu übersetzen. Dazu werden seit dem 19. Jahrhundert Formulare verwendet, die nicht nur bei der Verschriftlichung der Wahrnehmungen helfen, sondern auch den Blick auf jene Sachverhalte richten, die für das Strafverfahren bzw. die Personenfahndung von Bedeutung sind. Einen ersten Schritt in diese Richtung machte der preußische Minister des Inneren und der Polizei am 13. Januar 1828, als er alle königlichen Regierungen sowie das Berliner Polizeipräsidium anwies, ein Formular zur Ausstellung von Steckbriefen zu verwenden. Durch die Verwendung des Formulars wurden die Beschreibungskategorien vereinheitlicht und damit die Kommunikation verbessert. Der nächste Schritt war die Integration von Merkmalslisten in die Formulare gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch den französischen Kriminalisten Alphonse Bertillon, was eine weitere Standardisierung der Personenbeschreibung ermöglichte. Die Vordrucke hatten außerdem eine große Bedeutung für die Si-
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13 Die Wiener Zentrale der IKPK kommunizierte mit den Polizeibehörden mithilfe verschiedenfarbiger Formulare, hier das Formular zur Fahndung nach einem internationalen Verbrecher, das in vier Sprachen verfügbar war.
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cherstellung einer standardisierten Eingabe von Daten in die spezialisierten Informationssysteme auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Die Experten verwandten daher erhebliche Mühe auf das Design dieser Formulare: die Nachrichtenzentrale der sächsischen Polizei in Dresden, die Wiener Polizei als Sitz der IKPK und schließlich auch die IKPO-Interpol produzierten spezialisierte Vordrucke, die an die angeschlossenen Dienststellen zur Erfassung und Übermittlung von Informationen verteilt wurden. Die Zusammenarbeit von Polizeibehörden aus unterschiedlichen Ländern erzeugte eine Reihe von organisatorischen Problemen. Dazu zählte die Auswahl einer Verkehrssprache, die keine nationalen Befindlichkeiten verletzte. Mit dieser Herausforderung setzten sich bereits die Konferenzen in Monaco (1914) und in Wien (1923) auseinander. In Monaco beschlossen die – vor allem aus frankophonen Ländern stammenden – Teilnehmer, dass Französisch die beste linguistische Basis für die internationale Kooperation bereitstellen würde, weil Kunstsprachen wie Esperanto noch nicht ausreichend entwickelt waren. In Wien argumentierte Polizeidirektor Dressler gegen die Verwendung einer der Weltsprachen. Da er ebenfalls dem Esperanto reserviert gegenüberstand, sah er in der Wiederbelebung von Latein die Rettung für die Polizeibehörden.23 Dieser Vorschlag war gut begründet, fand jedoch keine Zustimmung. Die Verwendung einer toten Sprache für die so sehr im Leben stehende Kriminalistik erschien allen Teilnehmern als untragbar. Man einigte sich daher auf die Gleichzeitigkeit von mehreren Verkehrssprachen: Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch. Dieses Prinzip wurde auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beibehalten. Die Interpol hat vier Verkehrssprachen, die dem globalen Wirkungskreis der Organisation Rechnung tragen: Englisch, Französisch, Spanisch und Arabisch. Die für Deutschland relevanten Ausschreibungen werden vom BKA in Wiesbaden ins Deutsche übersetzt. Die Entscheidung für eine Verkehrssprache ist nicht nur eine Frage des nationalen Prestiges. Davon hängt ganz wesentlich die Integrationsfähigkeit der internationalen Netzwerke in die nationalen und regionalen Arbeitsabläufe ab. Innerhalb der Interpol wird diese Integrationsleistung von den Länderzentralen erbracht, die Übersetzungsleis-
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tungen in linguistischer und konzeptueller Hinsicht erbringen. Diese Hürde ist bei Europol geringer, weil man dort Eingaben in allen Sprachen der Mitgliedsländer zulässt. Diese Flexibilität hat ihren Preis: Sie verlagert die Übersetzung in die Europol und erfordert die informelle Privilegierung einiger Sprachen als Umgangssprachen. Die internationale Polizeikooperation hat erst die Strukturen gescha≠en, mit denen die neuen Identifikationstechnologien wie Fingerabdrücke und DNA -Kodierung ihr Potential voll entfalten konnten. Ermöglicht wurde diese Kooperation durch ein gemeinsames Problembewusstsein der Polizeibehörden und die Existenz von ‚zivilgesellschaftlichen‘ Initiativen, die den Widerstand der Regierungen gegen die Verselbstständigung der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit überwinden konnten.
5. Der Fingerabdruck revolutioniert die Identifikation von Verbrechern Die Globalisierung von Wirtschaft und Kommunikation erfordert neue Formen der Identifikation. Die herkömmlichen Methoden der Identifikation – von der persönlichen Bekanntschaft über den Ausweis bis hin zur PIN – sind in Zeiten des virtuellen Kontaktes entweder nicht anwendbar oder keine hinreichende Garantie gegen Missbrauch durch Dritte. Es ist paradox, dass gerade in der virtuellen Welt des Internet der Körper erneut eine zentrale Rolle für die Identifikation einer Person spielt. Im Internet kann der Körper nur in Form von digitalen Kodes – als Biometrie – präsent sein. Besonders dafür geeignete Teile des Körpers werden mit einer spezialisierten Technologie registriert, klassifiziert und mit gespeicherten Daten verglichen, um die Identität einer Person zu verifizieren. Ein Lesegerät, das die Iris oder den Fingerabdruck automatisch erfasst, an eine Zentralstelle übermittelt und dort mit den Daten von autorisierten Personen abgleicht, um den Zugang zu einem Labor zu ermöglichen, kann als Beispiel genannt werden. Die Biometrie als solche ist nicht neu. Bereits in den Steckbriefen und Signalements des 19. Jahrhunderts finden sich Angaben zur Körpergröße. Sie blieben allerdings nur ein Beschreibungselement unter vielen, bis Alphonse Bertillon mit einem di≠erenzierten System von Körpermessungen den Nachweis der persönlichen Identität im späten 19. Jahrhundert revolutionierte. Am deutlichsten unterschied sich die Anthropometrie Bertillons von den heutigen biometrischen Verfahren dadurch, dass Bertillon den gesamten Körper und dabei vor allem die Gliedmaßen vermaß. Heute verwendet man bestimmte Teile des Körpers wie Fingerabdrücke, Iris, Retina (d. h. Netzhaut des Auges) etc., die
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besonders gut für die Identifikation geeignet sind, und beschreibt sie anhand eines digitalen Kodes. Die Biometrie ist daher die direkte Nachfolgerin der Daktyloskopie, d. h. der Verwendung von Fingerabdrücken zur Personenerkennung, die am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Polizeibehörden eingeführt wurde. Vom grafischen Linienmuster zum numerischen Kode Der Fingerabdruck ist auf den ersten Blick kein besonders aussichtsreicher Kandidat für ein biometrisches Verfahren. Die Papillarleisten, d. h. die reliefartig an den Innenflächen der Hände und an den Fußsohlen verlaufenden Erhebungen, zeigen bei näherer Betrachtung „ein scheinbar systemloses Durcheinander von geraden und wieder vereinigenden Linien, kreisähnlichen Gebilden und anderen asymmetrischen Figuren“.1 Wie Abbildung 14 zeigt, ist ein Fingerabdruck vor allem ein grafisches Gebilde. Der Heidelberger Professor Arthur von Kirchenheim stellte noch im Jahr 1897 die kriminalistische Nutzung der Daktyloskopie infrage, weil aus seiner Sicht „das Lesen von Fingerabdrücken viel zu schwierig ist“.2 Damit hatte er durchaus Recht. Er berücksichtigte jedoch nicht die Anstrengungen der Daktyloskopen, die grafische Information in einen numerischen Kode zu transformieren. Erst diese Umwandlung macht die Daktyloskopie zum biometrischen Verfahren. Die Suche nach der geeigneten Formel für die Transformation des Papillarlinienmusters in einen numerischen Kode bestimmte die kriminalistische Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ist bis heute nicht abgeschlossen. Alle Varianten beschreiben die Hautleistenbilder durch eine Bruchzahl, die im Zähler und Nenner wesentliche Merkmale der Papillarlinien der rechten und linken Hand in unterschiedlicher Kombination registriert. Diese Zahl berücksichtigt nicht für jeden Abdruck die mehr als 100 Minuzien, d.h. anatomischen Details eines Fingerabdrucks, die Abbildung 14 dokumentiert. Sie beschränkt sich auf eine limitierte Zahl von Merkmalen und wird daher nur für die Registrierung verwendet. Das ermöglicht die schnelle Suche in den rasch wachsenden Datenbanken: Das BKA verwaltete Anfang der 1980er-Jahre etwa vier Millionen Fingerabdruckblätter, die Sammlungen des FBI waren zu dieser Zeit bereits auf mehr als siebzig Millionen Blätter angewachsen.3
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14 Ein Fingerabdruck zeigt eine Fülle von anatomischen Details; 102 sind hier nachgewiesen. Die Formeln zur Einsortierung der Abdrücke verwenden nur einen kleinen Teil dieser Informationen.
Die Geschichte der Daktyloskopie als kriminalistische Methode wird mit wenigen Ausnahmen als eine Erfolgsgeschichte präsentiert. Die vielfältigen Probleme der Integration des neuen Verfahrens in die bestehenden Praktiken der Verbrechensbekämpfung bleiben weit gehend ausgeblendet.4 In diesem Kapitel werden die Herausforderungen rekonstruiert, mit denen die Kriminalisten der Jahrhundertwende konfrontiert waren, als sie den Fingerabdruck als biometrisches Merkmal für die Personenerkennung einsetzten. Diese Probleme betrafen nicht nur die Widerstände von innovationsfeindlichen Beamten oder das „retardierende Element“ der Anthropo-
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metrie, wie der deutsche Kriminalisten Robert Heindl polemisch argumentierte. Schwer wiegender war die Umgestaltung der erkennungsdienstlichen Praxis, d. h. die Einführung neuer Verfahren, neuer Utensilien, neuer Registraturen und neuer Kompetenzen bei einer Polizei, die weit gehend dezentral organisiert war. Ebenso notwendig wie die Akzeptanz der neuen Technologien innerhalb der Polizei war ihre Anerkennung durch Strafrichter, die den Identitätsbeweis auf der Grundlage von Fingerabdrücken akzeptieren mussten. Tatort Holbeinstraße in Dresden Am 4. Juli 1914, wenige Wochen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurde die Dresdner Kriminalpolizei zu einem Tatort gerufen. Am frühen Abend hatten die Nachbarn der Beamtenwitwe Anna Maria Lehmann bemerkt, dass die Wohnungstür unversperrt war. Durch das Oberlichtfenster der versperrten Wohnzimmertür sahen sie, dass die Witwe einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Die sofort anrückende Kripo stand unter der Leitung des bekannten Kriminalisten Robert Heindl, der diesen Fall in seinem Handbuch der Daktyloskopie ausführlich beschrieb, handelte es sich dabei doch um die erste Auf klärung eines Mordes durch die Daktyloskopie, d. h. durch die Transformation der am Tatort gefundenen Fingerabdrücke in eine Formel und deren Vergleich mit den Karten in der Fingerabdruckregistratur.5 Doch zurück zum Tatort: Heindl stellte fest, dass die versperrte Wohnzimmertür den Tatort vor Neugierigen geschützt hatte. Deshalb ließ er vorerst nur die Beamten des Erkennungsdienstes in das Wohnzimmer und das ebenfalls versperrte Schlafzimmer eintreten. Sie suchten an den Türen, auf den Möbeln und sonstigen Gegenständen nach latenten Fingerspuren, wobei sie zum Sichtbarmachen dieser Spuren vermutlich das von Heindl empfohlene Argentorat (Aluminiumpulver) verwendeten. Die Beamten hatten Erfolg: An der Tür zum Schlafzimmer fanden sie den Abdruck eines linken Mittelfingers und auf einer versteckten Geldkassette den eines linken Zeige- und Mittelfingers. Diese Spuren wurden mit einer Schneiderschen Folie abgezogen und für die weitere Fahndung konserviert. Für heutige Kriminalisten sind diese Praktiken bereits Alltag. Zur
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15 Anna Maria Lehmann wurde ermordet in ihrem versperrten Wohnzimmer aufgefunden. Der Raum war seit der Tat unberührt und wurde vom Erkennungsdienst nach Fingerabdrücken abgesucht.
Zeit des Mordes in der Holbeinstraße war die Suche nach Fingerabdrücken und deren Konservierung jedoch noch Experimentierfeld für innovative Praktiker. In der kriminalistischen Fachliteratur6 präsentierten sie ihre Methoden, die entsprechenden Utensilien brachten sie selbst auf den Markt. Der Wiener Polizeibeamte Rudolf Schneider entwickelte eine Folie zum Abziehen von Fingerabdrücken, die aus Glyzerinleim mit schwarzem Pigment bestand und mit einer Schutzplatte aus Zelluloid bedeckt war. Sie wurde gemeinsam mit einem von ihm hergestellten Argentorat über die Polizeidirektion Wien an interessierte Kollegen vertrieben.7 Die Fachliteratur bot nicht nur ein Forum für technische Debatten, sondern vermittelte auch Fingerzeige für die praktische Anwendung der Verfahren. In den detaillierten Beschreibungen zeigt sich die Sorge um die Nutzung der neuen Hilfsmittel, wozu ein savoir faire notwendig schien, das nur teilweise durch Bücher und Zeitschriften vermittelt werden konnte. Entscheidend war die praktische Erfahrung im Blick auf den Tatort und im Umgang mit den technischen Hilfsmitteln wie dem Argentorat und Schneiderschen Folien:
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Will man am Tatort eine Spur sichern, staubt man sie […] mit Argentorat ein. Das überschüssige Pulver rings um den Abdruck ist sorgfältig wegzupinseln, da es das Folienbild stören würde. Dann schneidet man ein großes Stück der […] Folie ab […] und drückt die Folie auf die Spur. Damit sich keine Luftblasen bilden, die die gleichmäßige Übertragung der eingestaubten Linien verhindern würden, lege man die Folie zunächst an einem Rande auf und streiche sie dann erst behutsam mit der ganzen Fläche auf.8
Diese Techniken werden heute in den Lehrgängen zur Ausbildung von Kriminaltechnikern und Daktyloskopen unterrichtet. Die angehenden Kriminalisten werden dabei nicht nur im Gebrauch von Argentorat und Schwarzfolie geschult, sondern mit den neuesten technischen Verfahren vertraut gemacht. Dazu zählen der Einsatz von Rasterelektronenmikroskopen, die UV-Bestrahlung von Flächen, die vorher mit Fluorochromen besprüht werden, sowie das so genannte Streulichtverfahren. Alle diese Verfahren machen Fingerabdrücke mithilfe einer Spezialoptik und nachfolgender elektronischer Signalverarbeitung sichtbar. Dadurch ist die Ausbeute an Fingerabdrücken heute deutlich höher, als sie es noch im Fall Lehmann war.9 Die traditionelle kriminalpolizeiliche Tätigkeit begann am Tatort Holbeinstraße, nachdem der Erkennungsdienst alle Spuren gesichert hatte. Die Leiche wurde vom Polizeiarzt untersucht und anschließend fotografiert, die Nachbarn und der Untermieter der Ermordeten verhört, die Presse verständigt. Die Kriminalpolizei entfaltete eine fieberhafte Tätigkeit, um den Mord aufzuklären. Innerhalb von 14 Tagen produzierten die Dresdner Kriminalbeamten 560 Seiten Akten mit Befragungen und Notizen. Dennoch kamen sie der Lösung des Falles keinen Schritt näher. Der Täter war o≠ensichtlich weder zuvor mit demselben modus operandi, d. h. derselben Art der Verbrechensbegehung, aufgefallen noch stammte er aus dem sozialen/familiären Umfeld des Opfers. Fingerabdrücke als einziger Beweis Die Auf klärung erfolgte schließlich durch den Erkennungsdienst. Am 20. Juli, etwas mehr als zwei Wochen nach dem Mord, erstattete Kriminalwachtmeister Birnstengel – selbst aktiv in der Verbesserung der Fin-
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16 Links unfreiwilliger Abdruck, rechts Kontrollabdruck der Täterin. Die Kleinbuchstaben weisen auf übereinstimmende anatomische Details hin.
gerabdrucktechnik engagiert – folgenden Bericht: „Die Mörderin der Beamtenwitwe Anna Marie L. ist von mir in dem hiesigen Register auf Grund der an der Blechkassette zurückgelassenen Fingerabdrücke in der Schneiderin Marie Margarethe gesch. Müller, geb. Mießbach, am 23.11.62 in Dresden geboren, ermittelt worden.“10 Kurze Zeit später wurde Müller auch noch als Täterin in einem zweiten Mordfall aufgrund ihrer Fingerabdrücke ermittelt. Sie selbst leugnete standhaft jegliche Beziehung zu der Ermordeten und behauptete sogar, niemals in dem Stadtteil gewesen zu sein, in dem der Mord an der Beamtenwitwe stattgefunden hatte. Aufgrund des Leugnens der Müller intensivierte die Polizei ihre Recherchen, um zusätzliche Indizien zu finden – doch leider ohne Erfolg. Die Fingerabdrücke blieben der einzige Beweis für ihre Tatschuld. Das Scheitern der traditionellen kriminalpolizeilichen Methoden macht den Fall Müller so aufschlussreich, weil die Attraktivität der Daktyloskopie für die Kriminalisten der damaligen Zeit dadurch verständlich wird. Ihre Ängste vor der zunehmenden Anonymität der Großstadt und vor dem Scheitern der traditionellen Formen sozialer Kontrolle fanden sich hier bestätigt. Rein funktionale Kontakte zu einer Schnei-
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derin, die ihre Dienste auch außerhalb ihrer sozialen Netzwerke anbot, waren mit den Kontrollmechanismen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht mehr zu erfassen. Die Karteien der Polizei, die nach Namen und Verbrechensarten geordnet waren, versagten bei der Suche nach Tätern, die weder berufsmäßig agierten noch namentlich bekannt waren. Fingerabdrücke ermöglichten hingegen einen alternativen Zugri≠, der nicht auf die Spezialisierung Rücksicht nahm. Die Täterin wurde entdeckt, weil sie wegen einer Abtreibung bereits erkennungsdienstlich erfasst war – eine Straftat, die mit dem Mord an der Beamtenwitwe in keinem Zusammenhang stand. Dieser flexible Zugri≠ entsprach dem kriminologischen Feindbild des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Degenerierte Gewalttäter, die zum Opfer ihrer eigenen Impulse wurden,11 waren mit den herkömmlichen kriminalistischen Verfahren kaum zu bekämpfen, weil sie nicht sozial auffällig im Sinne des polizeilichen Aufmerksamkeitsrasters waren. In Fritz Langs Film M wird dieses Dilemma anschaulich in Szene gesetzt. Abhilfe brachte dort erst Kommissar Lohmanns Vorschlag einer systematischen Nutzung der Datenbestände der Ordnungsämter und der psychiatrischen Anstalten – ein Szenario, das uns bei der Diskussion um die Ö≠entlichkeitsfahndung und der Rasterfahndung erneut begegnen wird (s. Kapitel 7 und 8). Der Fall Müller endete mit einem Schuldspruch vor einem Geschworenengericht. Die entscheidende Rolle spielte das Gutachten von Robert Heindl, mit dem er die Schuld der Täterin in einer für die Geschworenen nachvollziehbaren Form belegen konnte. Er begann seinen Vortrag mit Ausführungen über die Grundlagen der daktyloskopischen Beweisführung und verwendete auf einen halben Quadratmeter vergrößerte Fotografien der Fingerabdrücke als Anschauungsmaterial. Das überzeugte die Geschworenen. Die Angeklagte wurde zum Tod verurteilt. Sie gestand selbst nach der Verurteilung nicht.12 Die Frage, unter welchen Umständen zwei Fingerabdrücke als übereinstimmend betrachtet werden können, war immer entscheidend für die Gutachtertätigkeit der Daktyloskopen. Die Vollständigkeit und auch die Form der Fingerabdrücke hängt zum Teil von der Tätigkeit ab, bei der sie entstehen. Die von der Polizei angefertigten Kontrollabdrucke werden durch das Abrollen der einzelnen Finger erzeugt, der Fingerabdruck am Tatort durch das Berühren bzw. Festhalten von Gegenstän-
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den. Diese beiden Abdrücke können daher nicht vollständig übereinstimmen. Deshalb mussten sich die Kriminalisten auf Standards für den Nachweis der Identität einigen. In Deutschland wie auch in anderen europäischen Staaten gilt der Nachweis dann erbracht, wenn mindestens zwölf anatomische Merkmale eines einzelnen Fingerabdrucks in ihrer Form und Lage zueinander übereinstimmen.13 Die Rolle des daktyloskopischen Sachverständigen vor Gericht verweist auf einen wichtigen Gesichtspunkt in der Auseinandersetzung mit kriminalistischen Verfahren, der bereits in der Diskussion der forensischen Medizin angeklungen ist. Ihre Zuverlässigkeit musste nicht nur innerhalb der Polizei, sondern auch vor Gericht anerkannt werden. Wie Miloˇs Vec in seiner Studie zur Geschichte der kriminalistischen Identifikationsmethoden argumentiert, akzeptierten die Richter rasch die Identifikation aufgrund des Fingerabdrucks: „Das Vertrauen, das die Strafprozeßordnungen qua freie Beweiswürdigung in die Kenntnisse des Richters gesetzt hatten, gaben diese ihrerseits umstandslos an die Daktyloskopie weiter […] Aus der abstrakten Vorstellung über die Perfektion der Technik leitete sich die Unfehlbarkeit der Daktyloskopie ab.“14 Vereinzelte Zweifel am daktyloskopischen Beweis aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts wurden von Heindl in seinem Buch zur Geschichte und Praxis der Daktyloskopie als unzulässige Einmischung des Richters in wissenschaftliche Fragen und als eine „Verwirrung“ der Begri≠e dargestellt.15 Auch heute dominiert der Glaube an die Unfehlbarkeit eines von Experten durchgeführten Vergleichs von Tatortfingerspuren mit den Fingerabdrücken eines Verdächtigen. Gleiches gilt für den genetischen Fingerabdruck (s. Kapitel 9). Gegen diese institutionell fest verankerte Phalanx sind kritische Wissenschaftler und Wissenschaftshistoriker nahezu machtlos. Grundlagen und Praxis der Daktyloskopie Miloˇs Vec zitiert in seiner Studie zwei Aussagen, die tre≠end die beiden theoretischen Grundlagen der Daktyloskopie charakterisieren: Die erste Stellungnahme stammt von Anders Daae, einem Osloer Strafanstaltsdirektor. Er bezeichnete im Jahr 1895 den Fingerabdruck als „eine vollkommene direkte Kopie vom Körper selbst“. Dass es keine zwei völ-
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lig identischen Körper gibt, ist die zweite Aussage und gilt noch heute als wesentlicher Lehrsatz der Biometrie: „Die Natur wiederholt sich nicht.“16 Als dritte Prämisse muss man noch die These von der Unveränderlichkeit der Fingerabdrücke im Laufe des Lebens hinzufügen. Für den polizeilichen und gerichtlichen Identitätsbeweis sind die beiden letzten Prämissen entscheidend. Die individuelle Einzigartigkeit der Hautlinienbilder wurde von dem englischen Gelehrten Francis Galton auf statistischem Weg begründet. Er berechnete die mögliche Existenz von 64 Milliarden unterschiedlichen Mustern von Papillarlinien auf einem Finger.17 Weil er davon ausging, dass die Natur Wiederholungen nur dann zulassen würde, wenn diese unausweichlich waren, d.h. wenn mehr als 64 Milliarden Menschen auf der Erde leben würden, konnte er die notwendige Einzigartigkeit der Fingerabdrücke behaupten. Um die Unveränderlichkeit der Papillarlinien während eines individuellen Lebens zu belegen, mussten sich die Kriminalisten zwei Fragen stellen: Veränderten sich die Hautlinien durch ihren Gebrauch? Und welche Auswirkungen hatten gewaltsame Einwirkungen auf die Finger für die Hautlinien? Um die erste Frage zu beantworten, verwendeten die Kriminalisten des frühen 20. Jahrhunderts unterschiedliche Evidenzen: Im Zeitraum von mehreren Jahren aufgenommene Fingerabdrücke wurden nebeneinander gestellt, das Handlinienbild eines deutschen Gelehrten – in einem Abstand von vierzig Jahren mehrfach aufgenommen – fand ebenfalls Eingang in die Fachliteratur. Einer der Pioniere der Daktyloskopie, der englische Verwaltungsbeamte Sir William Herschel, nutzte in der indischen Kolonialverwaltung seit den späten 1850er-Jahren die Fingerabdrücke zur Authentifizierung von Verträgen und zur Identifikation von Häftlingen in den Gefängnissen seines Distrikts. Er sammelte dabei mehrere Tausend Fingerabdrücke, die eine wichtige empirische Grundlage für den Nachweis der Unveränderlichkeit der Hautlinien wurden.18 Die Verletzungen der Finger stellten keine Herausforderung für die Daktyloskopie dar. Die klinische Erfahrung zeigte deutlich, dass die Hautlinienbilder durch traumatische Einwirkungen zwar vorübergehend zerstört wurden, am Ende des Heilungsprozesses jedoch wieder ihre ursprüngliche Gestalt erhielten. Um diese Erfahrung zu überprüfen, unternahmen zwei Kriminalisten aus Lyon – Locard und Wit-
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kowski – Selbstversuche, die Heindl näher beschrieb: „Sie verbrannten sich die Fingerspitzen durch kochendes Wasser, durch heißes Öl und durch Berühren von heißem Metall […] die restaurierte Epidermis [wies] alle, selbst die feinsten Einzelheiten auf, die vor dem Verbrennungsprozess sichtbar waren.“19 Selbst die deutlichsten Beweise für das unveränderliche Muster der Hautleisten ignorierten nicht die Veränderungen von einzelnen Details. Hautleisten konnten sich abnutzen; dann entstanden zwei getrennte Linien, wo vorher noch eine Gabelung zu sehen war. Auf dieses Problem machte bereits Galton in seinem einflussreichen Buch Finger Prints aufmerksam. Für ihn stellte diese Varianz die Zuverlässigkeit der Personenerkennung durch die Daktyloskopie keinesfalls infrage. Die Fingerabdrücke enthielten aus seiner Sicht eine enorme Informationsmenge, die selbst bei geringen Unterschieden eine sichere Feststellung der Identität durch den erfahrenen Experten ermöglichten.20 In Deutschland bestimmten anfangs kritische Stimmen die Auseinandersetzung mit der Daktyloskopie. Es gab aber Ausnahmen. Bereits im Mai 1888 wandte sich der Berliner Tierarzt Wilhelm Eber an das preußische Ministerium des Inneren mit einem Vorschlag, die Fingerabdrücke zur Feststellung der Anwesenheit eines Verdächtigen am Tatort zu verwenden. Noch bevor Francis Galton sich für dieses Thema zu interessieren begann, präsentierte Eber selbst konstruierte Vorrichtungen, um die Fingerabdrücke mittels Jod zu konservieren. Doch brachte ein Votum des Berliner Polizeipräsidenten das ho≠nungsvolle Projekt schnell zu Fall: Bisher sind indes, soweit die diesseitigen Beamten sich zu erinnern vermögen, an Türklinken, Gläsern und anderen für die Aufnahme und Zurücklassung eines Handbildes geeigneten Gegenständen auch bei der sorgfältigsten Besichtigung des Tatortes solche Spuren […] nicht wahrgenommen worden.21
Eine zweite Initiative zur Einführung der Daktyloskopie war nicht viel erfolgreicher. Im Jahr 1892 trat ein Dr. Bauck aus Bad Boll an das Ministerium des Inneren heran und regte die Verwendung von Fingerabdrücken als Mittel zur Feststellung der Identität an.22 Das Ministerium betraute ihn vorerst mit der Durchführung einer unbezahlten Versuchsreihe an der Moabiter Strafanstalt. Damit sollten erste Aufschlüsse über
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die Einzigartigkeit bzw. Veränderbarkeit der deutschen Handlinien gewonnen werden.23 Dieses Projekt scheiterte an den Fährnissen der menschlichen Psyche. Schon bei seinem ersten Besuch in Moabit nahm der Direktor der Strafanstalt an Dr. Bauck eine gewisse Exaltiertheit wahr, die er nicht richtig zuordnen konnte. Von einer Benachrichtigung der vorgesetzten Stellen nahm er zu dieser Zeit noch Abstand. Zu einem zweiten Besuch sollte es nicht mehr kommen. Der nächste Kontakt wurde von dem Bruder des Dr. Bauck hergestellt, der den Strafanstaltsleiter vom Ausbruch einer Geisteskrankheit bei seinem Bruder in Kenntnis setzte.24 Die wesentlichen Schritte: Erfassung und Klassifizierung Die Daktyloskopie setzte sich trotz aller Widrigkeiten binnen kurzer Zeit durch. Ihre Einführung erforderte nicht nur den Auf bau eines neuen Karteiensystems, sondern eine Reorganisation der gesamten kriminalistischen Praxis, auf die hier etwas näher eingegangen wird. Die Nutzung der Fingerabdrücke zur Personenerkennung stellte neue Beziehungen zwischen Polizeitechnik, der Justiz und speziellen Verfahrensweisen her. Für die Entwicklung der Daktyloskopie wurden zahlreiche Ressourcen mobilisiert – die Laborversuche und statistischen Berechnungen von Francis Galton, die Suche der Praktiker nach der geeigneten Druckerschwärze, die Gestaltung von entsprechenden Formularen und schließlich die Entwicklung von optimal angepassten Registerschränken. Am Anfang des daktyloskopischen Verfahrens steht die Aufnahme des Fingerabdrucks. Dazu wird Farbsto≠ auf die Finger aufgetragen, die anschließend auf einem Blatt Papier abgerollt werden. Wie schon Heindl in seinem Handbuch argumentierte, ist dieser Vorgang sehr einfach, erfordert jedoch vonseiten der Behörde eine entsprechende Ausstattung. Grundsätzlich kann jeder Farbsto≠ verwendet werden, doch ist nicht jeder gleichermaßen geeignet. Heindl empfahl Buchdruckerschwärze, und zwar solche, deren Schwärze aus Lampenruß stammte: „Insbesondere vor dem Zusatz von Para∏nöl sei gewarnt, es erzeugt Fettränder am Druck […] Was wir zu unserer Druckerschwärze brauchen, ist Leinöl.“ Ähnlich sorgfältig sollte die Behörde das Papier auswählen. Heindl empfahl nach einem systematischen Vergleich unter-
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schiedlicher Papiersorten die Verwendung eines vollkommen glatten Papiers, das aber kein Hochglanzpapier sein durfte. Um die Aufnahme des Farbsto≠s zu fördern, sollten Füllsto≠e beigemengt sein.25 In diesem ersten praktischen Schritt nutzten die Kriminalisten die Erfahrungen und Utensilien der Buchdrucker und der Papierfachleute. Ihre eigene Erfahrung in der Aufnahme des Fingerabdrucks bot Anhaltspunkte für Verbesserungen in der Praxis. Heindl erklärte seinen Lesern, dass besondere Vorsicht geboten sei „beim Daktyloskopieren von Jugendlichen und Frauen, deren Hände die Arbeit nicht gewohnt sind“. Bei ihnen waren die Hautleisten nur schwach entwickelt. Man musste daher besonders vorsichtig vorgehen, um die Furchen zwischen den Leisten nicht einzuschwärzen.26 Ohne die elektronische Datenverarbeitung war die Such- und Speicherkapazität der Behörden stark eingeschränkt, wie Abbildung 17 zeigt. Daher wurde nicht von jeder Person, die eine Straftat oder eine Ordnungswidrigkeit begangen hatte, ein Fingerabdruck registriert. Man beschränkte die Erfassung und Verarbeitung von Fingerabdrücken auf bestimmte Tätergruppen. Zu ihrer Definition verwendeten die Experten das Fachwissen der Kriminologie, das eng mit den sozial- und rassenpolitischen Agenden der jeweiligen Zeit verbunden war. Auf dieser Grundlage wurden Gewohnheits- und gewerbsmäßige Verbrecher sowie alle Personen, die man verdächtigte, einen falschen Namen zu tragen, von der Daktyloskopie erfasst. Sinti und Roma, Landstreicher, Triebtäter und Fürsorgezöglinge mit verbrecherischen Neigungen wurden in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus ebenfalls registriert.27 Beim nächsten Schritt, der Klassifikation der Handleistenbilder, gri≠en die Kriminalisten auf Erkenntnisse der Physiologie zurück. Sie stellte die Kategorien zur formalen Beschreibung der Fingerabdrücke bereit, mit der die Sorge des Heidelberger Professors von Kirchenheim um eine adäquate Lektüre der Fingerspuren hinfällig wurde. Eine Klassifikation der Linienmuster der Hand wurde erstmals 1823 von dem Breslauer Physiologen Johann Ev. Purkinje in einer Publikation vorgestellt, der dadurch die Verwendung des Fingerabdrucks in einem formalisierten Zugri≠ssystem vorbereitete.28 Die drei physiologischen Grundformen eines Fingerabdrucks – Bo-
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17 Die Suche nach einem Fingerabdruck in den großen Registraturen des Bundeskriminalamts war sehr arbeitsintensiv. Die daktyloskopische Formel unterteilte die Abdrücke ja lediglich in Klassen. Die Suche nach einem Vergleichsabdruck erforderte Ausdauer und ein visuelles Gedächtnis von dem speziell ausgebildeten Daktyloskopen, der zahlreiche Zehnfingerabdruckblätter mit einer Vorlage abgleichen musste.
gen, Schleifen und Wirbel (s. Abbildung 18) – sind die Grundlage der Formelbildung. Aufgrund der ungleichen Verteilung der Grundmuster mussten Unterklassen gebildet werden, um ein schnelles Auffinden der Karten in der Registratur zu ermöglichen. Dabei wurden mindestens 25 unterschiedliche Systeme entwickelt; 14 dieser Systeme sind noch heute im Einsatz.29 Die Hauptklassen des Registriersystems von GaltonHenry, das am weitesten verbreitet und in einer abgewandelten Form in Deutschland im Einsatz ist, werden durch die Anzahl und die Verteilung der Wirbel-Muster an allen Fingern gebildet. Zur Bildung von Unterklassen wurden anatomische Besonderheiten, vor allem die so genannten Deltas bzw. die Anzahl der Hautlinien zwischen zwei vorgegebenen Punkten, herangezogen. Für den Außenstehenden ist daher die daktyloskopische Formel nur schwer zugänglich, wie Helmut Prante, der Experte des Bundeskriminalamtes, in seinem Handbuch selbst zugesteht.30
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18 Daktyloskopische Grundmuster.
Wichtig zum Verständnis der weiteren Entwicklung der Daktyloskopie ist ein Blick auf die Rolle der elektronischen Datenverarbeitung. Sie wird aufgrund ihrer überlegenen Sortierfunktionen und Zugri≠smöglichkeiten heute von allen Polizeibehörden genutzt. Der deutlich verbesserte und beschleunigte Zugri≠ ermöglicht die Erweiterung der daktyloskopischen Formel um zusätzliche anatomische Merkmale. Im automatisierten Fingerabdruck-Identifizierungs-System (AFIS) des BKA wird jeder der etwa drei Millionen Zehnfingerabdrücke mit bis zu tausend Merkmalen beschrieben. Eine solche Datenmenge wäre manuell schon lange nicht mehr zu bewältigen.31 Die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung löste das Problem des Tatortfingerabdrucks. Die daktyloskopischen Registraturen beruhten auf der formelhaften Beschreibung aller zehn Finger. Jemanden aufzufinden, zu dem nur der Abdruck eines Fingers vorhanden war, erforderte einen erheblichen Arbeitsaufwand. Deshalb begannen die Behörden mit der Scha≠ung von Spezialregistraturen zu einzelnen Täter-
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gruppen wie z. B. Einbrechern, die häufig Fingerabdrücke am Tatort zurückließen. Die gleichzeitig angelegten Einzelfingerregistraturen nutzten ein sehr kompliziertes und daher auch fehleranfälliges Klassifikationsschema. Erst das AFIS -System ermöglicht die Suche nach den Formeln für einzelne Finger im Gesamtbestand der Zehnfingerabdrücke. Gleichzeitig kann das Fahndungssystem die am Tatort aufgefundenen Fingerabdrücke mit anderen, noch nicht erfolgreich identifizierten Spuren vergleichen. Die Daktyloskopie hat mit der elektronischen Datenverarbeitung einen wichtigen Verbündeten gefunden (s. dazu auch Kapitel 8). Die EDV ermöglicht eine schnellere Auf klärung von Straftaten bzw. die schnelle Ermittlung der Identität. Sie hilft den Kriminalisten auch bei der systematischen Auseinandersetzung mit der Qualität und Aussagekraft ihrer Daten. Das deutsche Bundeskriminalamt unternahm massenstatistische Untersuchungen an den im AFIS -System gespeicherten Fingerabdrücken, um auf experimentellem Weg festzustellen, wie viel übereinstimmende anatomische Merkmale erforderlich sind, damit die Identität zwischen zwei Abdrücken zweifelsfrei festgestellt werden kann. Es zeigte sich, dass die deutsche Praxis im internationalen Vergleich ziemlich hohe Ansprüche an den daktyloskopischen Identitätsbeweis stellt.32 Die Einführung der Daktyloskopie in Deutschland Die Einführung der Daktyloskopie bedeutete nicht nur die Erweiterung des bestehenden Methodenkanons, sondern erforderte den Aufbau eines komplexen Netzwerks von Verfahren und Praktiken, die so weit standardisiert sein mussten, um einen Datenvergleich auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene sicherzustellen. Diese Herausforderung wurde von den europäischen Polizeibehörden seit der Jahrhundertwende in Angri≠ genommen. Für die Einführung der Daktyloskopie war eine Reihe von Gründen ausschlaggebend. Am wichtigsten war das Bewusstsein um die Notwendigkeit einer Neuordnung der polizeilichen Datenbestände anhand von fälschungssicheren Kriterien. Die zuerst dafür verwendete Anthropometrie, d. h. die Messung von mehreren Körperteilen, hatte erheb-
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liche Erfolge und begründete den dauerhaften Ruhm ihres Erfinders Alphonse Bertillon. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die Anforderungen an die Exaktheit der Messungen den polizeilichen Realitäten nicht entsprachen. Weil das Verfahren an sich kompliziert, zeitaufwändig und teuer war, zögerten zahlreiche Staaten, darunter ÖsterreichUngarn, die Einführung hinaus. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Daktyloskopie bereits als Alternative diskutiert. Sie versprach eine einfache Datenerhebung, verlangte jedoch eine kompliziertere Klassifizierung. Diese Arbeitsteilung zwischen der mechanischen Aufgabe der Datenerhebung vor Ort und der Weiterbearbeitung in den polizeilichen Zentralstellen entsprach der bestehenden hierarchischen Struktur und konnte daher ohne große Schwierigkeiten umgesetzt werden. Die Daktyloskopie trat ihren Siegeszug von Britisch-Indien aus an. Edward Henry, der Generalinspektor der Polizei in Kalkutta und spätere Polizeipräsident von London, berief nach einem Besuch im Labor von Francis Galton im Jahr 1897 eine Kommission ein, die zwischen der Anthropometrie und der Daktyloskopie entscheiden sollte. Für die Fingerabdrücke sprachen ihre einfachere Aufnahme, die geringere Fehleranfälligkeit und die Möglichkeit einer schnelleren Suche in den Karteien. Die Entscheidung fiel zugunsten der Daktyloskopie, die noch in demselben Jahr eingeführt wurde.33 Vier Jahre später, im Jahr 1901, folgten die Polizeibehörden von England und Wales; die Londoner Polizeibehörde wurde zur Fingerabdruckzentrale für England und die Kolonien. Im Jahr darauf entschieden sich bereits die Wiener Polizeidirektion und Italien für die Daktyloskopie, 1903 folgte Sachsen. Auf einer Konferenz der sächsischen Polizeibehörden wurde Dresden als Zentrale bestimmt. Das nötigte den Vertreter der Berliner Polizeibehörde dazu, die Einrichtung einer Reichszentrale in Berlin in Aussicht zu stellen, um nicht die Rolle Berlins als polizeiliche Zentralstelle für das Deutsche Reich zu gefährden.34 Die Daktyloskopie setzte sich nach 1903 im Deutschen Reich und in Österreich rasch durch, wobei es jedoch erhebliche Unterschiede in der Erfassungsdichte gab. Selbst jene Staaten, die wie Preußen eine Vorreiterrolle bei der Einführung von neuen Methoden zur Personenidentifikation spielten, hatten 1912 noch kein umfassendes Netz von Mess-
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stationen etabliert. Von 1104 preußischen Amtsgerichtsbezirken hatten 83 Prozent keine Einrichtung, um Fingerabdrücke oder Körpermaße zu erfassen.35 Diese Daten zur Erfassungsdichte veranschaulichen die Probleme bei der Durchsetzung eines neuen Verfahrens innerhalb einer institutionellen Infrastruktur, die nicht zentralisiert war. Die Polizeibehörden, die in den meisten deutschen Staaten für den Erkennungsdienst verantwortlich zeichneten, unterstanden zwar dem Innenministerium, wurden aber in vielen Städten durch die Magistrate verwaltet. Für neue Projekte musste daher das Budget aus dem städtischen Haushalt bereitgestellt und die von den Städten bezahlten Polizeibeamten zu Ausbildungskursen freigestellt werden. Die Einführung der Daktyloskopie als neues erkennungsdienstliches Verfahren erfolgte in mehreren Etappen. Zuerst mussten die innovativen Kriminalisten ihre Behördenchefs und die Ministerialbürokratie davon überzeugen, dass es sich dabei um die Technologie der Zukunft handelte. Die Verö≠entlichungen von Galton und anderen Wissenschaftlern sowie die ersten positiven Erfahrungen in den britischen Kolonien und in Großbritannien waren eine wichtige Argumentationshilfe. In einem zweiten Schritt musste in der jeweiligen Behörde das Verfahren festgeschrieben und in den Behördenalltag integriert werden. Dazu bedurfte es neuer Utensilien und Registerschränke ebenso wie der Einrichtung von Ausbildungseinheiten zur Handhabung der neuen Technologie. Der entscheidende Schritt war der Auf bau eines Kommunikationsnetzwerkes, das die Fingerabdrücke für die regionalen und nationalen Zentralstellen erfasste und den lokalen Behörden einen dauernden Kontakt zu diesen Stellen ermöglichte, um zweifelhafte Identitäten überprüfen zu lassen. Mit der Scha≠ung eines dicht gespannten Erfassungsnetzes unter zentraler Leitung wurde in einigen deutschen Ländern bereits während der Weimarer Republik durch die Einrichtung von Landeskriminalämtern und Landeszentralen begonnen. Im Juli 1932 wurde dieses Netzwerk e∏zienter, nachdem ein Vorschlag der Deutschen Kriminalpolizeilichen Kommission aufgegri≠en wurde und die Landeszentralen nach kriminalgeografischen Gesichtspunkten neu zugeteilt wurden.36 Die Reorganisation der erkennungsdienstlichen Netzwerke hatte keine Bestand. Die systematische Zentralisierung der
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Polizeibefugnisse durch die Nationalsozialisten hatte Auswirkungen auch auf den Erkennungsdienst. Nun waren allein das Reichskriminalpolizeiamt (RKPA ) und die Kriminalpolizeileitstellen befugt, Zehnfingerabdrucksammlungen zu führen.37 Die Polizei der Bundesrepublik Deutschland brach mit dem Zentralismus der NS -Zeit, ohne den Fehler der mangelnden überregionalen und nationalen Integration der kriminalpolizeilichen Organisation der Weimarer Republik zu wiederholen. Es entstand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein neues System der Polizeikooperation, das auf der regionalen Integration der Polizeiarbeit durch die Landeskriminalämter beruhte und auf Bundesebene mit dem 1951 gescha≠enen Bundeskriminalamt eine e∏ziente Leitstelle schuf. Eine entscheidende Verbesserung der Kommunikation zwischen den Behörden wurde durch den Auf bau eines spezialisierten Telebildnetzes seit den späten 1960erJahren erreicht. Bereits in den 1920er-Jahren hatte der deutsche Wissenschaftler Arthur Korn Fingerabdrücke mithilfe der Bildtelegrafie übermittelt. Das Telebildnetz des BKA setzt diese Tradition fort, um Anfragen möglichst rasch erledigen zu können. Die neuen Technologien haben die Daktyloskopie deutlich verändert. Die elektronische Erfassung und Klassifikation der Fingerabdrücke sowie die computergestützte Suche beschleunigen die Arbeit des Daktyloskopen. Der menschliche Experte bleibt aber weiterhin die entscheidende Instanz. Die Klassifikation durch den Computer muss überprüft werden, um mögliche Fehlinterpretationen von Linienmustern aufgrund einer schlechten Abdruckqualität zu korrigieren. Die Ergebnisse von Suchoperationen im Computer sind Vorschlagslisten, die der Daktyloskop evaluiert, um den identischen Abdruck zu ermitteln. Man könnte meinen, dass die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in die Daktyloskopie eine weit reichende Standardisierung zur Folge hatte. Dies tri≠t nicht zu. Zur Vielfalt der Klassifizierungssysteme kommt die Heterogenität der ‚lokalen‘ Lösungen, die große Computerfirmen für einzelne Polizeibehörden entwickelt haben. Der Austausch zwischen den Systemen funktioniert jedoch relativ problemlos, weil sie alle ein Abbild des Abdrucks speichern, das an Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt über das Netzwerk der Interpol verschickt werden kann.
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Biometrie: Die Zukunft gehört nicht mehr der Polizei allein Biometrische Systeme zur Feststellung der Identität erfordern einen erheblichen technischen und organisatorischen Aufwand. Ihre Anwendung blieb daher lange auf den Kernbereich der kriminalpolizeilichen Ermittlungstätigkeit beschränkt. In den USA begann das FBI bereits in der Zwischenkriegszeit mit der Registrierung und Klassifizierung der Fingerabdrücke von Personen, die nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Es handelte sich dabei um die Inanspruchnahme der Bundespolizei durch Privatpersonen, die einen sicheren Zugri≠ auf ihre Identität im Fall eines Gedächtnisverlusts sicherstellen wollten. Hinzu kamen die Fingerabdrücke von Staatsangestellten. Das Militär registrierte ebenfalls seine Rekruten. Heute verwaltet die Criminal Justice Information Services Division des FBI mit vierzig Millionen Abdrücken von Nicht-Kriminellen eine ebenso große Datenmenge zu diesem Personenkreis wie zu den Kriminellen. In Europa blieb die Daktyloskopie weit gehend auf den Bereich der Justiz und der Polizei beschränkt. Eine systematische Erweiterung des Einsatzes von biometrischen Methoden ist durch die Einführung von fälschungssicheren Reisepässen innerhalb der Europäischen Union vorgesehen. Geplant ist die Integration einer Chipkarte, auf der die digitalisierte Version des Porträts und fakultativ des Fingerabdrucks gespeichert ist. Für die nähere Zukunft ist auch der Auf bau eines zentralisierten europäischen Registers aller Reisepassbewilligungen angestrebt, das anhand der Fingerabdrücke organisiert sein könnte.38 In der Debatte über die neuen EU -Reisepässe wurden auch andere biometrische Verfahren wie etwa die digitale Aufnahme und Klassifikation der Iris genannt. Bei der Suche nach einer neuen Identifikationsund Verifizierungstechnologie sind die Behörden heute nicht mehr allein. Die Entwicklung und Vermarktung der entsprechenden Verfahren ist zu einem guten Geschäft geworden – zu einem Geschäft mit einem erheblichen Wachstumspotenzial. Im Jahr 1999 wurden etwa 100 Millionen Dollar umgesetzt, davon sechzig Prozent in den USA . Die Organisation der Biometrieanbieter IBIA (International Biometric Industry Association) rechnet jedoch in naher Zukunft mit einem US -Markt von 1 bis 2,5 Milliarden Dollar.39
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Dieser prognostizierte Marktzuwachs beruht nur zu einem gewissen Teil auf den Investitionen der ö≠entlichen Hand in eine verbesserte Verwaltung der Berechtigungen und Zugangsbeschränkungen. Wichtiger sind Unternehmen, die den Zugang zu sensiblen Forschungs- und Verwaltungsbereichen besser kontrollieren wollen. Die biometrischen Verfahren für Privatkunden nutzen meist das Fingerbild, das Profil der Hand, die Geometrie des Gesichts, die Erkennung der Iris oder der Netzhaut. Selbst für den Privatmann ist heute das Einstiegsmodell eines Türschlosses, das durch Daumenabdruck zu betätigen ist, erschwinglich geworden. Die biometrischen Verfahren im Geschäfts- und Privatkundenbereich müssen sich mit ähnlichen Problemen auseinander setzen wie die Kriminalpolizei bei der Klassifikation und Auswertung von Fingerabdrücken. Jedes biometrische Verfahren benötigt zuerst eine Klassifizierung der Daten. Vorausgesetzt wird dabei, dass die Informationen einzigartig, zeitlich invariabel und quantitativ erfassbar sind. In einem weiteren Schritt muss das zu einer Person ermittelte und gespeicherte Profil mit den Angaben der Zutrittsberechtigten abgeglichen werden. Im Bereich der Kriminalpolizei kann der Betro≠ene aufatmen, wenn die Suche nach einem Vergleichsabdruck erfolglos war. Im Privat- und Unternehmensbereich ist das Gegenteil der Fall. Wer rechtmäßig Einlass in ein Labor begehrt, möchte nicht durch eine Fehlleistung des Systems von seinem Arbeitsplatz ausgeschlossen werden. Die Vergleichsoperationen gestalten sich hier weitaus einfacher als im Fall der Kriminalpolizei. Das FBI hat etwa vierzig Millionen Fingerabdrücke von Straftätern gespeichert, mit denen Neueingänge verglichen werden müssen. In ein Labor erhält nur eine relativ kleine Zahl von Berechtigten Zutritt. Daher wird das biometrische Profil auch nur mit den Daten dieser kleinen Gruppe abgeglichen. Selbst unter diesen Umständen stellt der Vergleich zwischen Profil und dem autorisierten Muster eine erhebliche technologische Herausforderung dar. Die Informationen sind relativ komplex. Es wird daher eine gewisse Zeit benötigt, um sie an einen Zentralrechner zu übertragen, dort zu verifizieren und von dort das Signal zum Ö≠nen der Tür zu senden. Diese Verzögerung lässt sich vermeiden, wenn man die Schleuse mit einem Lesegerät sowohl für die biometrische Information
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als auch für eine Chipkarte ausstattet. Dann erfolgt der Vergleich des Profils nicht zentral, sondern nur noch über die auf der Karte gespeicherten Informationen.40 Die Verwendung von biometrischen Verfahren zur Kontrolle des Zugangs zu sensiblen Unternehmensbereichen oder zur Feststellung der Identität erfordert die Integration neuer Technologien in bestehende Verfahren. Diese Aufgabe gestaltet sich einfacher, wenn die Einrichtung noch kein anderes System etabliert hatte und die Anzahl der zu verwaltenden Personen beschränkt ist. Auf die Polizei traf beides nicht zu. Es gab bereits etablierte Verfahren, mit denen eine große und rasch zunehmende Zahl von Personen verwaltet wurde. Die Umstellung auf das neue System hatte daher weit reichende Auswirkungen auf die Organisation der Polizei, von der vor allem der Erkennungsdienst betro≠en war.
6. Das kriminalistische Labor – Wissenschaftler auf Verbrechersuche Der Detektivroman des späten 19. Jahrhunderts übt auf den heutigen Leser noch eine erhebliche Faszination aus. Zu den herausragenden Protagonisten zählt zweifellos Sherlock Holmes, dessen Arbeitsmethode ausschließlich auf detailgenauer Beobachtung und nüchterner Schlussfolgerung beruht. Es ist ein Mord verübt worden, und der Mörder ist ein Mann. Er ist über sechs Fuß groß, im besten Alter, hat für seine Größe kleine Füße, trägt grobe Stiefel, die vorn viereckig enden, und hat eine Trichnopoly-Zigarre geraucht […] Höchstwahrscheinlich hat der Mörder ein blühendes Aussehen, und die Fingernägel seiner rechten Hand sind bemerkenswert lang […]1
Wenn man Sherlock Holmes aus der sicheren Position der eigenen vier Wände bei der Auf klärung von Straftaten zusieht – ungläubig und dennoch auf seine überlegene Entzi≠erungstechnik vertrauend – nimmt man die Rolle des Dr. Watson ein, der interessiert, aber unfähig und mit wachsender Bewunderung seinen Freund bei der Arbeit unterstützt: „Ich hatte jedoch solch außerordentliche Beweise für die Schnelligkeit seiner Wahrnehmungsgabe erhalten, daß ich nicht daran zweifelte, daß er vieles zu sehen vermochte, was mir verborgen blieb.“2 Mit diesen Worten kommentierte Dr. Watson die konzentrierte Analyse des Tatorts durch Sherlock Holmes. Seine lange und intensive Untersuchung, die das Messen, Besehen, Betasten und Beriechen unterschiedlicher Spuren umfasste, nahm das kriminalistische Diktum vom Tatort als dem Schlüssel zur Auf klärung des Verbrechens vorweg undwurde von den anwesenden Polizeidetektiven nur mit einem ungläubigen Staunen quittiert. Am Ende seiner
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Spurensuche präsentierte Holmes das eingangs zitierte Bild des Verdächtigen. Systematische Analyse aller materiellen Spuren Mit seiner Methode war die literarische Figur des Sherlock Holmes den Ermittlungstechniken seiner Zeit einen Schritt voraus. Um die Jahrhundertwende begannen die europäischen Polizeibehörden die neuen Möglichkeiten der Sicherung und Auswertung von Tatortspuren zunehmend in die polizeiliche Ermittlung zu integrieren. Dabei verlagerte sich der Schwerpunkt der Untersuchung von der Befragung der Zeugen, Verdächtigen und Opfer hin zur systematischen Auswertung der Realien, d. h. der am Tatort vorgefundenen Hinweise auf die Tat und den Täter. Dazu benötigte der Kriminalist einen geschulten Blick. Die Anforderungen an diesen Blick brachte Edmond Locard in seinem Handbuch tre≠end zum Ausdruck: Beobachten, das bedeutet nicht ein Ansehen auf gut Glück, bedeutet nicht nur Kenntnis nehmen, was den Blick auf sich zieht, worauf der Blick ruht; es ist ein planmäßiges Nachspüren nach vorher festgelegtem Plan …3
Dieser Plan musste von dem juristischen Wissen um den Tatbestand – d. h. die Definition von Mord, Totschlag etc. – und von den kriminaltechnischen Möglichkeiten ausgehen. Unter Kriminaltechnik versteht man die naturwissenschaftlichen Praktiken und Methoden zum Erkennen, Sichern und Auswerten aller materiellen Spuren und Beweismittel.4 Sie erfordert ein umfassendes Erfahrungswissen, das nur der literarischen Figur des Sherlock Holmes als persönliche Kenntnisse zur Verfügung stand. Die Kriminalpolizei und die Untersuchungsrichter mussten diese Kenntnisse im Zugri≠ auf ein Netzwerk von Experten mobilisieren, das auf die Bedürfnisse des jeweiligen Falls abgestimmt war. Die Sachverständigen sollten den Beamten eine richtige Wahrnehmung des Tathergangs ermöglichen, wie Hans Gross meinte: „Ungefähr wird ja auch der Laie, namentlich der gut beobachtende, etwas entdecken und richtig schließen, aber das wirklich Richtige und alles Richtige wird doch nur der Sachverständige sehen und beurteilen.“5 Dieses Kapitel thematisiert die Rolle der Wissenschaft für die Verbre-
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chensauf klärung im 20. Jahrhundert. Die Konzentration auf das letzte Jahrhundert bedeutet nicht, dass in den Kriminaluntersuchungen der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts keine Sachverständigen gehört und keine Spuren gesichert wurden. Bereits das Strafrecht der Frühen Neuzeit, die Constitutio Criminalis Carolina (1532), forderte die Richter auf, in Zweifelsfällen Gutachten von Ärzten, aber auch von Hebammen und Apothekern einzuholen (s. Kapitel 2). Seit dem späten 18. Jahrhundert gab es sogar einen eigenen Kriminalgerichtskommissär am Wiener Kriminalgericht, der auch kriminalpolizeiliche Befugnisse hatte. Er war für die Spurensicherung, Zeugenbefragung, Haussuchung und Verhaftung zuständig.6 Die neuen Möglichkeiten der wissenschaftlichen Spurenanalyse seit dem späten 19. Jahrhundert erweiterten den Kreis der Experten, die von dem Kriminalisten bei der Auf klärung von Straftaten herangezogen werden konnten. Die Autoren von Handbüchern für die Polizeibeamten und Untersuchungsrichter, wie etwa Hans Gross, aber auch der Hamburger Polizeipräsident Gustav Roscher forderten ihre professionelle Leserschaft auf, „[…] sich viel mehr an die Sachverständigen [zu] halten, als es bisher geschehen ist […]“.7 Gleichzeitig plädierten sie für eine Ausweitung des Expertenkreises sowie für die Einrichtung von Vorlesungen in den wissenschaftlichen Disziplinen, die für die Kriminalisten am wichtigsten waren. Dadurch sollten die Beamten für die Grenzen und Möglichkeiten der wissenschaftlichen Verfahren sensibilisiert werden. Ausgehend von einer Fallgeschichte werde ich die Bedeutung von naturwissenschaftlichen Verfahren für die Auf klärung von Straftaten rekonstruieren. Wie bereits bei der Auseinandersetzung mit dem Fingerabdruckverfahren wird auch in diesem Kapitel die Integration von neuen Technologien in die Verfahren von Justiz und Polizei verfolgt und dabei nach den Auswirkungen dieser Wechselbeziehung für die Wissenschaften wie auch für das Rechtssystem gefragt.8 Ein versuchter Raubmord Es gibt zahlreiche interessante Mordfälle, in denen der entscheidende Hinweis zur Auf klärung aus dem kriminalistischen Labor kam. Nicht erst die einschlägigen Fernsehserien, sondern bereits die Kriminalge-
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schichten des 19. Jahrhunderts wiesen den Sachverständigen eine bedeutende Rolle zu. Bei Giftmorden wurden Chemiker und Gerichtsmediziner als Auskunftspersonen herangezogen.9 Im Fall der Gesche Gottfried, der bekannten Serienmörderin aus dem Bremen des 19. Jahrhunderts, war der Nachweis von Gift das letzte Element in einer Reihe von Verdachtsmomenten. Sie entstanden durch die Beobachtung von Todes- und Krankheitsfällen im Umfeld der Mörderin. Gottfried wurde zuerst bedauert, dann gefürchtet und schließlich verdächtigt. Sobald der Verdacht geweckt war, wurden die Zubereitung und Verabreichung von Speisen und Arzneien besser beobachtet und bald verdächtige Substanzen bemerkt. Die chemische Untersuchung, die darauf folgte, konnte schnell den Nachweis von Gift erbringen. Aus kriminalistischer Sicht waren diese Fälle kaum aufregend. Die Täterschaft stand fest, sobald der Tatbestand einer Vergiftung festgestellt wurde. Eine größere Herausforderung stellte die Analyse von Blutspuren dar, wie ein Fall zeigt, den Max Eugen Hermann Dennstedt in seinem 1910 verö≠entlichen Leitfaden der forensischen Chemie präsentierte.10 Es handelt sich um einen Mordversuch aus der Zeit der Jahrhundertwende. Ort des Geschehens war eine preußische Provinzstadt. Ein polnischer Arbeiter wurde von seinen Kollegen vom Bau damit beauftragt, Frühstück zu holen. In der kurzen Zeit seiner Abwesenheit sollte er die Wohnung einer ihm nicht näher bekannten Frau betreten haben, um dort ein Zwanzigmarkstück zu wechseln. Als sie das Geld auf den Tisch legte, schlug er ihr mit seinem Hammer mehrfach auf den Schädel, steckte das Geld ein und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Die Frau überlebte die schwere Schädelverletzung, wurde aber schwachsinnig und büßte ihr Erinnerungsvermögen ein. Kurz nach der Tat konnte sie den Täter beschreiben, stand aber für spätere Vernehmungen nicht mehr zur Verfügung. Andere Zeugen für die Tat gab es nicht. Die Bauarbeiter bemerkten an dem Hammer ihres polnischen Arbeitskollegen Blutflecken; der Hammer verschwand, bevor die Polizei ihn beschlagnahmen konnte. Schließlich wurde der Verdächtige trotz hartnäckigen Leugnens verhaftet. Die kriminalistische Untersuchung stand somit vor einem Problem, mit dem sich die Experten der Jahrhundertwende intensiv beschäftigten – die Frage der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit von Zeugen-
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aussagen (s. Kapitel 1). Die psychologischen Studien zu Wahrnehmung und Erinnerung erschütterten die Grundlagen einer Kriminalistik, die vor allem auf der Befragung von Zeugen, Opfern und Verdächtigen beruhte. Wie konnte man die Wahrheit über den Hergang einer Straftat und dadurch den rechtlich relevanten Sachverhalt ermitteln, wenn die Aussagen über den Tathergang von unterschiedlichen Formen des Wahrnehmens und Erinnerns bestimmt waren? Die Kriminalisten der Jahrhundertwende, allen voran Hans Gross aus Graz, empfahlen die Konzentration auf die so genannten Realien, d. h. die Untersuchung des Tatortes und der vom Täter bzw. Opfer getragenen Kleidungsstücke.11 Das war auch die Strategie des Untersuchungsrichters zur Auf klärung des Raubüberfalls. Er ließ den Arbeiter verhaften, ordnete eine Untersuchung des Tatortes an und sammelte alle Indizien, die auf die Anwesenheit des Verdächtigen am Tatort hinweisen konnten: die Kleidungsstücke des Verdächtigen, sein Geld und seine Geldtasche sowie den sorgsam gesammelten Schmutz unter den Fingernägeln. Die erste Untersuchung ergab jedoch keinen Hinweis auf Blut. Selbst die roten Flecke auf dem Kittel des Beschuldigten entpuppten sich bei näherer Untersuchung als Ölfarbe. Die Verhaftung des polnischen Arbeiters erscheint angesichts des geringen Belastungsmaterials überraschend, lässt sich aber mit den Vorurteilen der deutschen Juristen gegenüber ihren polnischen Mitbürgern erklären. Die Berichte von deutschen Staatsanwälten über Fragen der inneren Sicherheit aus der Zeit des späten 19. Jahrhunderts bringen die Polarisierung zwischen Deutschen und Polen deutlich zum Ausdruck. Die Staatsanwälte stellten eine direkte Verbindung zwischen polnischer Herkunft und krimineller Energie her. Polnische Staatsbürger wurden mit den Adjektiven sklavisch, unterwürfig, feig, sinnlich und erregbar näher beschrieben.12 Individuelle Reformmaßnahmen, wie moralisch-sittliche und intellektuelle Bildung, waren aus dieser Perspektive aussichtslos: „Es ist zu ho≠en, daß es der deutschen Kultur mit der Zeit gelingen wird, die in dem Volkscharakter liegende Neigung zur Kriminalität zu vermindern“, argumentierte Staatsanwalt Franz aus Gleiwitz. Verbrechensverhütung war nur als ‚Germanisierung‘ denkbar.13 Diese Vorurteile gegenüber den polnischen Mitbürgern war sicherlich nicht die wesentliche Triebfeder in diesem Fall, erleichterte aber die
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Verhängung einer langen Untersuchungshaft trotz fehlenden Belastungsmaterials. Um seinen Verdacht weiter zu erhärten, blieb dem Untersuchungsrichter nur die Analyse der Kleidung des Verdächtigen durch Sachverständige. Er ging davon aus, dass der Verdächtige nicht die Zeit gehabt hatte, Blutflecken von seiner Kleidung zu entfernen, weil er rasch verhaftet worden war. Die Art der Verletzung ließ es zudem äußerst unwahrscheinlich erscheinen, dass der Täter ohne Blutspuren auf seiner Kleidung geblieben sein konnte. Die akribische Kleinarbeit des Experten Der Kittel des polnischen Arbeiters wurde daher vorsichtig eingepackt und an den Sachverständigen geschickt – in diesem Fall an Max Eugen Hermann Dennstedt, den Direktor des chemischen Staatslaboratoriums in Hamburg. Gemeinsam mit einem Assistenten machte er sich an die Arbeit und war zunächst erfolglos. Der Kittel war schmutzig, verfettet und jahrelang bei der Arbeit bei einem Schlosser und dann beim Kalklöschen getragen worden. Schließlich entdeckten Dennstedt und sein Assistent die ersten beiden Blutflecken – oder mit den Worten des Chemikers: „Endlich an einem hellen, sonnigen Tage wurde bei schräger Beleuchtung unter Zuhülfenahme verschieden gefärbter Gelatinefolien in der Nähe der oberen Ärmelnaht zwei etwa stecknadelgroße, bräunliche, zackige Flecke bemerkt […]“14 (s. Abbildung 19). Waren diese Flecken tatsächlich Blutflecken? Zur Beantwortung dieser Frage verwendete Dennstedt die damals gebräuchlichen Tests, die er jedoch nicht mit den Flecken selbst durchführte, sondern mit einem Abklatsch, den er mit angefeuchtetem Papier hergestellt hatte. Die Reaktionen – mit Wassersto≠superoxid schäumte der Fleck und mit Guajaklösung verfärbte er sich blau – bestätigten den Verdacht, dass es sich um Blutflecken handeln konnte. Einen eindeutigen Nachweis erbrachten diese ersten Tests nicht, weil auch andere Substanzen in ähnlicher Weise reagierten. Derart ermutigt investierten die beiden Chemiker mehrere Tage in die detaillierte Analyse des Kittels mit der Lupe bei grellem Sonnenlicht. Dabei fanden sie etwa zwanzig kleine Spritzflecke an der rechten Schulter und am rechten Ärmel: „Man konnte daraus schließen, daß das Blut durch starkes Aufschlagen mit einem flachen Gegenstande in
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19 Nach langer Suche entdeckte der Sachverständige mit seinem Assistenten auf dem stark verschmutzten Kittel des Beschuldigten diese beiden Blutflecke.
feinste Tröpfchen verteilt umhergespritzt war, was naturgemäß nicht bei dem ersten Schlag geschehen konnte […]“15 Bereits zu diesem Zeitpunkt hatten die Chemiker mehr an Wissen über den Tathergang produziert, als das Opfer selbst aufgrund seiner Schädelverletzung noch erinnern konnte. Es musste aber ein eindeutiger Nachweis geführt werden, dass es sich bei den Flecken um Blutspuren handelte. Die beiden zuverlässigsten Methoden – die Spektralanalyse und der Häminkristallnachweis – ließen sich mit den Flecken nicht durchführen, weil der Sto≠ des gesamten Kittels durch die Verschmutzung stark eisen- und kalkhaltig war. Um den Nachweis doch noch erbringen zu können, forschten die beiden Chemiker nach weiteren Spuren und fanden schließlich an der unteren Naht des Kittels ein beinahe frei schwebendes Blutströpfchen, das von zwei aufrecht stehenden Sto≠fasern gehalten wurde. Es war mit dem eigentlichen Sto≠ nicht in Berührung gekommen und deshalb nicht von der allgemeinen Verunreinigung des Kittels betro≠en. Mit diesem Partikelchen gelang der eindeutige Nachweis, dass es sich um einen Blutstropfen handelte, weil er die unverkennbaren Häminkristalle in einer chemischen Reaktion produzierte. Deshalb schritt Dennstedt zum nächsten Test, der belegen sollte, dass es sich dabei um
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Menschenblut handelte. Dazu verwendete er das Serum eines mit Menschenblut behandelten Kaninchens – ein von dem preußischen Stabsarzt Paul Uhlenhuth am hygienischen Institut der Universität Greifswald Anfang des 20. Jahrhunderts entwickeltes Verfahren. Dennstedt stellte dabei fest, dass sich an dem verdächtigen Kittel eine große Zahl kleiner Blutspritzflecken befanden, die mit größter Wahrscheinlichkeit – „soweit ein positiver Ausfall der Uhlenhuthschen Blutreaktion in so starker Verdünnung noch als beweiskräftig angesehen werden könne […]“16 – aus Menschenblut bestanden. Angesichts des beständigen Leugnens des Täters machte sich Dennstedt auf die Suche nach weiteren Indizien. Der Besuch beim Opfer verlief ergebnislos, weil der Tatort wegen der unhygienischen Verhältnisse keine aussichtsreichen Untersuchungsbedingungen bot. Es fanden sich allerdings auf der Hose des Täters noch eine Reihe von kleinen Flecken, darunter auch ein weiteres frei hängendes Blutströpfchen. Auch hier fiel die biologische Reaktion positiv aus. Der Täter wurde aufgrund dieser Beweise trotz seines Leugnens zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt, weil die Geschworenen seine Schuld durch die Aussagen des Opfers und durch das Gutachten des Gerichtschemikers als erwiesen betrachteten. Für die Sachverständigen war dieser Fall eine Erfolgsgeschichte, weil ihnen anhand von winzigen Spuren auf der Kleidung die Rekonstruktion des Tathergangs und der Nachweis von Blutspuren auf einem Kleidungsstück gelungen ist, das für die chemischen Verfahren erhebliche Probleme schuf. Die wissenschaftliche Auswertung der Spuren ermöglichte den Kriminalisten eine verbesserte Auf klärung von Straftaten. Die Kripo erweiterte dabei nicht einfach ihren Methodenkanon, sondern ging eine Reihe von folgenreichen Allianzen mit den Naturwissenschaften ein. Durch diese neue Vernetzung mit den Vertretern von unterschiedlichen Disziplinen blieb die Tätigkeit der Kriminalisten nicht unberührt. Sie benötigten ein Basiswissen in den wichtigsten Naturwissenschaften wie der Chemie, um erfolgreich mit Sachverständigen zusammenarbeiten zu können. Dennstedt forderte daher eine Grundausbildung der Kriminalisten in Chemie – eine Forderung, die wenigstens am Kriminalistischen Institut der Wiener Polizeidirektion erfüllt wurde.
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Der ‚praktische Blick‘ – eine Vorgeschichte der wissenschaftlichen Spurensuche Die kriminalistische Untersuchung erfolgte auch vor der Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Experten nicht ziellos. In zahlreichen Verö≠entlichungen in den Polizeiblättern und in Buchpublikationen vermittelten die besonders aktiven und versierten Kriminalisten ihr Erfahrungswissen an Kollegen. Dieses Erfahrungswissen betraf einerseits die selektive Anwendung von strafrechtlichen Normen. Gustav Zimmermann hat diesen Aspekt in seinem Handbuch zur deutschen Polizei in der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich ausgedrückt, als er meinte: „Die Polizei jage nicht darnach, Alles zu wissen und einzusammeln, sondern nur das, was sie wirklich für den Ordnungszweck braucht.“17 Der praktische Blick des Kriminalisten irrte nicht ziellos durch den sozialen Raum, sondern richtete sich gezielt auf bestimmte Suchbilder.18 Diese Suchbilder waren der zweite Wissensbestand, auf den sich die erfahrenen Kriminalisten in ihren Publikationen bezogen. Woran erkannte man den Gauner, d.h. den professionellen Berufsverbrecher? Was waren die Zeichen, an denen man einen Hochstapler von einem anständigen Bürger unterschied? Dieses Wissen war biografisch, physiognomisch und ethnographisch. Die Art der Soziabilität und Familienbeziehungen, eine eigentümliche Sprache und besondere Umgangsformen zeigten den eingeweihten Kriminellen und Kriminalisten, dass eine Person zu den Gaunern gehörte. Für den Kriminalisten noch entscheidender war indes das Wissen um die Erscheinungsformen gesellschaftlicher Normalität, d.h. das Aussehen und Verhalten von Bürgern unterschiedlicher sozialer Herkunft und Profession. Nur dann konnten sie den unter der Maske bürgerlicher Normalität agierenden Gauner entlarven. Dieses Wissen wurde von der Kriminalistik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weiter systematisiert. Die literarische Figur des Sherlock Holmes sprach mit seinem Freund Dr. Watson über entsprechende Verö≠entlichungen: „Auch dies hier ist ein interessantes kleines Werk; es behandelt den Einfluß des Berufsstandes auf die Form der Hand und enthält Abbildungen der Hände von Dachdeckern, Seeleuten, Korkschneidern, Schriftsetzern, Webern und Diamantschleifern.“19 Der Kri-
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minalist Wilhelm Polzer regte seine Kollegen zu einem Blick auf das Gebiss an. Er präsentierte in seinem Handbuch aus dem Jahr 1922 die entsprechenden Berufsmerkmale mit einer Vielzahl von Abbildungen. Das Wissen um den körperlichen Habitus einer Berufsgruppe wurde nicht nur zur Identifikation von Hochstaplern eingesetzt, sondern auch zur Erkennung von Straftätern. Es beruhte auf der Annahme, dass der Körper eines Menschen sich an seine Umwelt anpassen würde. Bewegungsabläufe, schädliche Dämpfe am Arbeitsplatz, aber auch Emotionen und Leidenschaften prägten das Aussehen eines jeden Menschen. Aus dieser Sicht konnte der Kriminalist nicht nur die Angehörigen von Berufsgruppen als solche erkennen, sondern auch die Kriminellen aufgrund ihres abweichenden Lebensstils. Die Spuren der langjährigen Ausübung eines Handwerks waren ebenso wenig willkürlich anzunehmen und zu entfernen wie die Merkmale einer vagabundierenden und ausschweifenden Lebensweise.20 Diese Semiotik hatte ihre Fallstricke in der zunehmenden Auf lösung der ständisch geprägten Lebens- und Arbeitsweise, die „ziemlich die Ecken abschleift“, wie Gustav Zimmermann bedauernd anmerkte. Das Verwischen der Unterschiede betraf nicht nur die Abgrenzungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, sondern ebenso die Grenzziehungen zwischen bürgerlicher und krimineller Welt. In die Körper der über einen längeren Zeitraum arbeitslosen Handwerksburschen waren die Zeichen ihrer Profession weniger deutlich eingeprägt als in die Körper der beschäftigten Gesellen. Beschäftigungslosigkeit und vagabundierender Lebensstil hinterließen ähnliche Merkmale, wie sie Gauner an sich trugen. Der Mecklenburger Kriminalist Franz Andreas Wennmohs fasste 1823 seine lange Liste von Merkmalen, an denen man Gauner erkennen sollte, resignierend mit der Bemerkung zusammen: „[…] wie denn dieß Alles beim Gauner auch nur die Regel ausmacht, welche ihre häufigen Ausnahmen hat“.21 Nicht einzelne Merkmale, sondern die Gesamtheit der gaunerischen Erscheinung und des Verhaltens, kurz das Ensemble hielt er daher für aussagekräftig.22 Zu diesem Ensemble gehörten soziale Verhaltensweisen, wie das Herumziehen mit einer Konkubine und der Umgang mit Geld.23 Die Verbrecher konnten nur einen Teil ihrer Erscheinung und ihrer
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20 Das linke Bild zeigt Berufsmerkmale an den Zähnen eines Glasbläsers, die von dem Mundstück des Glasrohres zum Glasblasen an den Schneidezähnen verursacht wurden. Im rechten Bild sieht man Zahnmasseverluste bei einem Schuster, der seinen Mund als Nagelvorratskammer verwendete und die Stifte mit der Zunge zwischen den Schneidezähnen hinausschob.
Handlungen manipulieren, um ihre Identität bzw. Täterschaft zu verschleiern. Diese Kontrolle versagte in der Regel bei alltäglichen Routinen. Um einen Täter identifizieren zu können, empfahl Hans Gross daher die Konzentration auf diese Marginalien, wie dem Knüpfen eines Knotens, und deren Deutung durch andere Handwerker. Denn sie erkannten die Praktiken der Täter, wenn diese ebenfalls aus dem Handwerkermilieu stammten: „Es ist übrigens auffallend, wie wenig sich, besonders Leute der arbeitenden Klasse, ihrer gewohnten Handlungen entäußern können; diese liegen ihnen so zur Hand, und sind ihnen so gar nichts Auffälliges, daß sie sich nicht fürchten, dadurch entdeckt zu werden.“24 Die Kriminalisten entwickelten und tradierten somit ein Erfahrungswissen über die soziale Welt, das nicht zirkulär auf deduktiv ermittelte Sachverhalte gerichtet, sondern o≠en für das Auftauchen neuer empirischer Sachverhalte war. Der deutsche Soziologe René König hat einen solchen Zugang zur Realität tre≠end als „die naive Beobachtung des geschulten Beobachters“ beschrieben.25 Die Kriminalisten betrachteten ihre Umwelt nicht mit einem unschuldigen, sondern mit einem geschulten Blick, der sich auf kollektives Erfahrungswissen und spezifische Annahmen über Gesellschaft und abweichendes Verhalten gründete. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erö≠nete der technologische und wissenschaftliche Fortschritt neue Perspektiven für die Spu-
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rensicherung und Spurenanalyse.26 Die Integration dieser neuen Verfahren wurde ermöglicht durch die zunehmende Verwissenschaftlichung der Sozialpolitik und durch die grundsätzliche O≠enheit der kriminalistischen Verfahren für Expertise von außen. Die Ermittler konnten externe Unterstützung anfordern, wenn ihnen die eigene Sachkenntnis fehlte, wie Dennstedt argumentierte.27 Hans Gross riet seinen Lesern, möglichst viele Fragen durch Sachverständige klären zu lassen, wobei Sachverständige für ihn nicht nur akademisch gebildete Wissenschaftler waren. Handwerker und Jäger konnten aus seiner Sicht ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Unter den naturwissenschaftlichen Disziplinen waren vor allem Mediziner, Chemiker, Physiker und Mikroskopiker gefragt. Da die forensische Medizin bereits in Kapitel 2 behandelt wurde, werde ich mich im Folgenden auf die Rolle der restlichen Disziplinen für die Spurensicherung und Spurenanalyse konzentrieren. Spuren lesen, sichern und deuten Sherlock Holmes konnte wesentliche Aufschlüsse über das Aussehen und die Statur des unbekannten Verbrechers gewinnen, weil er die Spuren mit einem physiologischen Blick betrachtete. ‚Spur‘ bedeutete hierbei zweierlei: „Die Gesamtreihe der fortlaufenden Fußeindrücke und jeden einzelnen Fußeindruck selbst […]“, wie Hans Gross in seinem Handbuch feststellte.28 Bei seinen Messungen der Entfernungen von Eindrücken im Boden und der Analyse der Art der Eindrücke dachte Holmes die physiologische Zergliederung des Bewegungsablaufs mit, um die Spuren angemessen zu entzi≠ern. Das Zusammenspiel von Fasern, Muskeln, Gelenken, Knochen und Gewichtsverlagerungen, das die menschliche Fortbewegung ausmacht, erklärte erst die Abdrücke im Boden in ihrer ganz spezifischen Form und Gestalt. Dieses physiologische Wissen wurde seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend in den kriminalistischen Methodenkanon integriert. Autoren von Handbüchern wiesen auf die Bedeutung der richtigen Sicherung und Interpretation von Fußspuren hin. Sie richteten die Aufmerksamkeit ihrer Leser auf die Bedeutung des Gangbildes, d. h. einer Serie von Fußspuren für die Konstruktion eines Bildes des Verdächtigen. Das theoretische Wissen der Physiologie war dabei unverzichtbar, aber nicht
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21 Am Gangbild ließen sich zahlreiche Beobachtungen machen. Die Abweichung der Ganglinie von der Mitte auf Grafik II verweist auf Personen, die – wenn sie Lasten trugen – sicher, aber langsam vorwärts kommen wollten; die Fußlinie in Grafik III zeigt individuelle Besonderheiten eines Gehenden an.
ausreichend, wie der amerikanische Kriminalist Harry Soederman argumentierte. Ebenso wichtig war die eigene Erfahrung in der Deutung von Fußspuren – und eine solche ließ sich nur durch umfassende Versuche erwerben.29 Bereits in dem Handbuch von Hans Gross finden sich Anleitungen für derartige Versuche: Nehmen wir z. B. an, der UR. [Untersuchungsrichter, PB] habe auf lehmigem Waldwege eine Spur gefunden, von der er nach den zu machenden Beobachtungen annimmt, sie rühre von einem großen, rasch gehenden Manne her; der UR.
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wird sich also eine Stelle auf demselben Waldwege suchen, wo die Bodenverhältnisse möglichst ähnlich jenen sind, unter welchen die Originalspur gefunden wurde. Hat er eine solche Stelle gefunden, so lasse er nun auch hier einen großen Mann rasch gehen und unterziehe dessen Spur einer eingehenden Prüfung […]30
Der Kriminalist sollte dann auf die Übereinstimmung der künstlich erzeugten Spur mit den Teilen der Originalspur achten, die in ihm das Bild eines großen, rasch ausschreitenden Mannes hervorgerufen hatten. Diese Analyse bezog sich auf das Gangbild, das den individuellen Bewegungsablauf des Gehens wiedergab. Die Deutung des Gangbildes erforderte eine zeitraubende Vermessung der Fußspur, die jedoch eine Fülle von Informationen über die Identität einer Person zugänglich machte.31 Der Fußwinkel, der auf dem ersten Schema von Abbildung 21 als der Winkel zwischen den Geraden a und c definiert ist, zeigte das Tragen von Lasten, den sozialen Status und allfällige körperliche Deformationen des Gehenden an; die Schrittweite wies auf Körpergröße, Profession, Haltung, das Vorliegen von Missbildungen und Bewusstseinsstörungen hin. Selbst auf die sexuelle Orientierung sollte das Gangbild einige Rückschlüsse zulassen, da homosexuelle Männer keine konstante Schrittweite hätten: „Eine Ausnahme soll bei homosexuellen Männern vorkommen; diese Leute machen, o≠enbar ihrem weibischen Wesen entsprechend, angeblich von Natur aus kleine tänzelnde Schritte, vergrößern sie aber stets, wenn sie daran denken oder sich beobachtet wissen, so daß ihre Schritte verschieden groß ausfallen […]“.32 Zur Identifikation eines Menschen anhand der Fußspur konnte man in Zeiten zunehmender Massenproduktion nicht mehr länger auf die Besonderheiten der Fußbekleidung achten. Entscheidend wurde nun die individuelle Form der Abnutzung dieser Fußbekleidung aufgrund der Gangart, d. h. durch die spezifische Abweichung von einer Normalform.33 Dieselbe Logik der Individualisierung wurde auch in anderen Bereichen der Spurensicherung angewandt. Bei Einbruchsdelikten interessierten sich die Kriminalisten immer schon für die Tatausführung, die als modus operandi dokumentiert und für die Suche nach dem Täter eingesetzt wurde. Die Täter hinterließen allerdings auch Spuren, die mit dem bloßen Auge nicht sichtbar waren. Wenn man die Kratzspuren
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am Tatort fotografisch erfasste und unter dem Mikroskop analysierte, konnte man individuelle Abnutzungsspuren des verwendeten Werkzeugs erkennen und mit den Spuren am Werkzeug selbst abgleichen. Im Jahre 1930 stellte der Supreme Court des Staates Washington in einer Entscheidung fest, dass ein Einbruchinstrument ebenso individuelle Spuren hinterlässt wie ein Fingerabdruck, weil selbst ein massengefertigter Gegenstand durch die individuelle Abnutzung einzigartig wird. Auf dieser Grundlage ergab sich eine enge Kooperation zwischen den Kriminalisten und den Mikroskopikern, die unter einem speziellen Vergleichsmikroskop die Identität zwischen zwei Abnutzungsspuren herstellen konnten. Diese Kooperation wurde möglich nicht nur durch die Verfügbarkeit dieser Technologie und ihre Begründung durch die Theorie der stochastischen, d. h. individuell zufälligen und damit einzigartigen Veränderung durch Gebrauch, sondern auch durch die Anerkennung dieser Beobachtungen durch die Gerichte als Beweismittel. Fußspuren und die Abdrücke von Einbruchswerkzeugen waren Zeichen der Anwesenheit eines unbekannten Täters am Tatort. In umgekehrter Richtung funktionierte die Analyse des Staubes. Staub wurde von Hans Gross tre≠end als die „Umgebung im Kleinen“ bezeichnet. Diese Umgebung trug jeder in Form von mikroskopisch-kleinen Ablagerungen in den Haaren und auf der Kleidung mit sich herum und sie ließ sich anhand einer di≠erenzierten, mikroskopischen Analyse eindeutig bestimmen. Das erö≠nete zwei weitere Perspektiven für die kriminalistische Untersuchung: Erstens konnte man anhand von Kleidungsstücken, die am Tatort zurückgelassen wurden, ein Täterprofil erstellen, wie Hans Gross demonstrierte. Er sammelte den Staub eines Kleidungsstückes, das er am Tatort gefunden hatte, durch systematisches Ausklopfen und übergab das Resultat dem Mikroskopiker. Dieser fand fein zerriebene Holzfasern sowie pulverisierte Gallerte, d. h. Leim. Die Verbindung dieser beiden Elemente wies eindeutig auf einen Schreiner, was sich später auch bewahrheitete.34 Zweitens konnten die Spuren auf der Kleidung bzw. an den Schuhen die Anwesenheit des Verdächtigen am Tatort belegen.35 Selbst die auf Geldschränke spezialisierten Einbrecher können anhand der Staubpartikel überführt werden, die von der Isolierung des Safes auf die Kleidung übertragen wird. Das New York Police Depart-
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ment (NYPD ) und das FBI haben in ihren Labors Karteien mit den Spezifikationen dieser Isolierungen zur schnellen Zuordnung solcher Spuren.36 Durch die sorgfältige Analyse der Faserspuren an den Objekten, mit denen Opfer wie Täter in Berührung kommen konnten, ließen sich weitere wichtige Anhaltspunkte für den Tathergang gewinnen und ermöglichten damit eine kritische Perspektive auf die Aussagen von Beschuldigten und Zeugen. Im Fall Weimar, einem im Deutschland der späten 1980er-Jahre viel beachteten Fall von Kindsmord, war diese Untersuchung entscheidend. Dabei wurden die Laken, Kopf kissen, Bettbezüge sowie die Schonbezüge des Autos und die Kleider der Opfer mit Folie abgeklebt, um alle Fasern in ihrer Lage zu erfassen. Dadurch konnte nachgewiesen werden, dass die Kinder die Nacht vor ihrem Tod nicht mit den Kleidern im Bett geschlafen hatten – was die Darstellung der Mutter widerlegte und sie stark belastete. Sie wurde schließlich verurteilt.37 Besondere Expertise erfordert die Untersuchung von Brandfällen. Beim Verdacht auf Brandstiftung empfahlen bereits die Kriminalisten des 19. Jahrhunderts das Hinzuziehen von Sachverständigen. Der Chemiker oder ein anderer Experte konnte auf der Brandstätte nach den Resten der Zündanlage suchen. Brandstiftung war immer dann nachweisbar, wenn sie beobachtet wurde bzw. wenn die Zündvorrichtung wenigstens zum Teil noch erhalten war und für den Chemiker identifizierbare Spuren hinterlassen hatte.38 Der Erfolg dieses Nachweises hing häufig von dem Zusammenwirken zwischen der wissenschaftlichen und polizeilichen Untersuchung ab. Wenn der Sachverständige über die Tätigkeit und Ausbildung eines Verdächtigen informiert war, konnte er gezielt nach den Spuren von ganz bestimmten Zündanlagen suchen.39 Das Potenzial der neuen Technologien zur Spurensicherung konnte für die Kriminalistik erst dann systematisch genutzt werden, als die Reform der Kriminalpolizei eine ausreichende Zahl von entsprechend ausgebildeten Beamten für die polizeilichen Arbeit außerhalb der großstädtischen Zentren bereitstellte. Das wurde in Ansätzen in der Zeit der Weimarer Republik und endgültig in der Nachkriegszeit erreicht. In der Bundesrepublik steht den Ermittlungsbeamten heute ein dichtes Netz
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von polizeieigenen Einrichtungen zur Verfügung: die örtlichen Erkennungsdienste und kriminaltechnischen Untersuchungsstellen, die Laboratorien der Landeskriminalämter und die entsprechenden Einrichtungen beim Bundeskriminalamt. Außerdem können zusätzliche Sachverständige für die polizeiliche Ermittlung mobilisiert werden. Heute empfiehlt Kriminaloberkommissar Meyer seinen Lesern die Beschränkung auf „die als solche bestellten und berufenen Experten“ – Fachkundige aus der Zivilbevölkerung werden als Zeugen behandelt.40 Spurenauswertung durch die wissenschaftlichen Experten Die Sachverständigen erstellten ihre Gutachten in ihren spezialisierten Labors, die nicht unbedingt am Ort der Untersuchung lagen. Das erforderte den Transport der sorgfältig verpackten Beweismittel und verlagerte die Kriminaluntersuchung an einen gänzlich neuen Ort, der nicht nur räumlich vom Gericht bzw. von der Kriminalpolizei getrennt war, sondern auch eine andere Herangehensweise an das Studium der Natur und der Menschen hatte. Hans Gross forderte vom Kriminalisten mehr Verständnis für die Aufgaben des Sachverständigen. Denn nur sinnvoll gestellte Fragen konnte der Gutachter in seiner Expertise zuverlässig beantworten. Bei fehlendem Verständnis für das Wissen und die Kompetenzen des Sachverständigen konnte sich der Richter entweder eine Blöße geben oder das Potenzial des Experten nicht ausschöpfen. Zwischen dem Kriminalisten und dem Sachverständigen gab es einen Dialog, bei dem die Ergebnisse der polizeilichen und wissenschaftlichen Untersuchungen ausgetauscht wurden und sich wechselseitig bereicherten. Dieser Austausch wurde immer intensiver – bis hin zur engen Kooperation zwischen Ermittlern und Kriminaltechnikern in Mordfällen. Die Sachverständigen forderten Einblick in die Untersuchungsakten, um Anhaltspunkte für eine gezielte Auswertung der Spuren zu erhalten. Die Kriminalisten konnten wiederum die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchungen für das Verhör bzw. die Suche nach dem Täter verwenden. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür findet sich in dem Film Dr. Mabuse von Fritz Lang: Kommissar Lohmann konfrontierte einen verhafteten Kriminellen mit den Resultaten der ballistischen Untersuchung zwi-
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schen einem Geschoss, mit dem sich der Kumpan des Verhafteten erschossen hatte, und der Kugel, mit der ein Mord verübt worden war. Die Drallspuren waren auf beiden Projektilen identisch – damit war die Herkunft aus derselben Wa≠e erwiesen. Denn es lassen sich selbst bei industrieller Massenfertigung keine zwei Wa≠en mit den exakt gleichen Zügen, d. h. spiralförmigen Rillen im Inneren des Laufs, herstellen, weil auch die Werkzeuge zur Herstellung der Wa≠en bei jedem Gebrauch minimal abgenutzt werden. Die Konfrontation mit diesem Sachbeweis brach den Widerstand des Verhafteten und führte zur Preisgabe wichtiger Informationen. Schussverletzungen wurden bereits im 19. Jahrhundert von den Gerichtsärzten untersucht, um den Tathergang zu rekonstruieren. Sie achteten dabei vor allem auf die Schmauchspuren sowie die Art des Einund Austritts des Geschosses. Diese Form der Untersuchung bleibt kriminalistisch relevant und wird auch heute noch praktiziert. Seit dem frühen 20. Jahrhundert kamen mit der Ballistik und der mikroskopischen Untersuchung der Geschosse neue Einsichten hinzu. Harry Soederman bezeichnete in seinem Handbuch die forensische Ballistik als einen wichtigen Durchbruch: „On a bullet we find the sum total of all peculiarities of the particular barrel. Generally speaking, it is useless to compare the barrel or its parts directly with the bullet as was formerly done. The comparison should be made with comparison bullets.“41 Einen entscheidenden Fortschritt brachte dabei die Entwicklung eines Vergleichsmikroskops in den 1920er-Jahren, mit dem man die Bilder zweier verschiedener Projektile nebeneinander unter einer Linse betrachten und die Riefen, d. h. die Drallspuren, direkt miteinander vergleichen konnte (s. Abbildung 22). Für die Auf klärung von Gewaltverbrechen war die Sicherung von Blutspuren immer bedeutsam. Dazu benötigte man einen geübten Blick und ein Wissen über die Erscheinungsformen von Blut. Seit dem späten 19. Jahrhundert dokumentierten Kriminalisten wie Wilhelm Polzer gezielt das Aussehen von Blutspuren auf verschiedenen Sto≠en und verfolgten die Veränderungen aufgrund von unterschiedlichen Witterungseinflüssen.42 Sobald die Blutspuren als solche erkannt waren, mussten sie durch den Chemiker oder den Gerichtsmediziner analysiert werden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verfügten die Kri-
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22 Die Marken durch den Schlagbolzen und Auswurfmechanismus sind ebenso wichtige stochastische Signaturen für die Identifikation einer Waffe wie die Kratzspuren auf einem Geschoß. Die Identität kann unter einem Vergleichsmikroskop eindeutig bestimmt werden.
minalisten mit der Teichmannschen Häminprobe über einen sicheren Nachweis von Blut, der allerdings noch nicht zwischen Tier- und Menschenblut unterschied. Dabei wurde auf einem Objektträger einer Blutspur eine kleine Prise Kochsalz und ein Tropfen Essigsäure hinzugefügt. Diese Mischung wurde erwärmt – nach dem Erkalten fand man unter dem Mikroskop eigenartige, mahagonibraune, kreuzartig ange-
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ordnete Kriställchen von rhombischer, wetzsteinartiger Gestalt.43 Dieses Verfahren ist indes nicht immer anwendbar, weil Sto≠e wie Eisen und Metallsalze die Reaktion erschweren – wie etwa im Fall des polnischen Arbeiters. Eine alternative Strategie nutzt die Eigenschaft der Lichtbrechung im Spektroskop.44 Sie wurde erstmals von Robert Bunsen und Gustav Kirchho≠ im Jahr 1859 zur Bestimmung der sto≠ lichen Zusammensetzung eingesetzt und beruht auf der Annahme, dass Licht von jedem Sto≠ auf eine ganz spezifische Art absorbiert wird. Jedes chemische Element besitzt ein Spektrum im Bereich des sichtbaren, infraroten und ultravioletten Lichtes, das sich in Form von charakteristischen Linienspektren äußert. Schickt man Licht einer vorgegebenen Wellenlänge durch eine Probe, wird ein Teil des Lichtes absorbiert, abhängig von den in der Probe enthaltenen Elementen. Aus der Lage der Spektrallinien zueinander kann man die Art des Materials erkennen. Dadurch lässt sich die sto≠ liche Zusammensetzung selbst der kleinsten Proben ermitteln.45 Der Nachweis von Menschenblut erfolgt durch die physiologische Methode von Paul Uhlenhuth, der mit tierischem Antiserum experimentiert hatte.46 Dabei wurde ein Kaninchen mit menschlichem Blut ‚geimpft‘, welches darauf hin gegen dieses Blut ein Antiserum als Abstoßungsreaktion entwickelte. Wenn man nun die Blutspur mit diesem Antiserum in Berührung brachte, reagierte Menschenblut durch die Produktion eines ganz spezifischen Niederschlags. Die heutige Kriminalistik hat dieses Verfahren weiterentwickelt und leichter anwendbar gemacht. Hämoglobin als charakteristisches Element des Blutes wird durch die Porphyrinprobe mit konzentrierter Schwefelsäure unter UV Bestrahlung nachgewiesen, das dabei eine spezifisch orangerote Fluoreszenz zeigt. Für die nähere Bestimmung von Menschenblut greift man weiterhin auf Antiseren zurück, die heute künstlich hergestellt werden. Das Blut wird nicht mehr direkt mit dem Antiserum in Kontakt gebracht, sondern bleibt durch eine dünne Schicht erstarrter Gelatine getrennt. Die Proben mit ihrem Eiweißgehalt verteilen sich langsam und kreisförmig in der Gelatine und tre≠en auf das Antiserum. Handelt es sich um Menschenblut, flocken die beiden Eiweißkörper aus. Der Niederschlag kann durch Entwicklung in einem Farbbad sichtbar gemacht
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werden. Die heutigen Analysemethoden ermöglichen sogar die weitere Spezifizierung des Blutes durch Blutgruppenbestimmung, Chromosomenanalyse und schließlich durch die DNA -Analyse (s. Kapitel 9).47 Neben der Blutbestimmung war und ist der Nachweis von Gift ein wichtiges Einsatzgebiet der wissenschaftlichen Experten. Er erfordert die enge Kooperation zwischen den Sachverständigen und den Ermittlern. Denn zur Auf klärung eines Giftmordes ist es entscheidend, den Fundort der Leiche genau zu untersuchen, um die Reste des Giftes bzw. die Schachteln und Fläschchen zu finden, aus denen es eingenommen werden konnte. Essens- und Trinkensreste sind ebenfalls sicherzustellen. Anschließend muss die Biografie des/der Toten erhoben werden mit einer besonderen Konzentration auf die Vorgeschichte des Todes und die beobachteten Symptome.48 Erfahrene Gutachter wie Max Dennstedt forderten bereits zur Jahrhundertwende die rasche Einbeziehung der Chemiker, die bei der Spurensicherung gehört und bei einer gerichtlichen Leichenschau hinzugezogen werden sollten. Die Gutachter sollten aus seiner Sicht auch Einblick in die Untersuchungsakten erhalten: „Auch kommt es vor, dass der Chemiker zu erfolgreichen Versuchen angeregt wird auf Grund von Tatsachen und Umständen, die dem Laien, auch dem Juristen, ganz nebensächlich oder bedeutungslos erscheinen.“49 Zur Feststellung des Giftes im Körper wurde zuerst das organische „Beiwerk“ der Probe – wie Leichenteile, Speisereste etc. – zerstört. Dazu bediente man sich der Oxidation, die durch Salpetersäure, Chlorsäure bzw. Salzsäure bewirkt wurde. Schwierig ist der Nachweis organischer Gifte, weil sie von dem organischen Beiwerk getrennt werden müssen, ohne dieses und dadurch die Gifte selbst zu zerstören. Bei Pilzen ist die Suche nach den Sporen unter dem Mikroskop aussichtsreicher als der chemische Nachweis. Die Feststellung der Identität von einigen organischen Giften erfolgte nach einem komplexen Prozess der Transformation durch die Zunge: „Man kostet den Rückstand, natürlich nicht wie die Köchin kostet, mit dem Suppenlö≠el, meist hat man ja auch nur wenige Milligramme zur Verfügung, und der Rückstand ist nach seiner Herkunft auch nicht immer gerade appetitlich, sondern indem man von der vielleicht giftigen Substanz mit einem zu einer feinen Spitze ausgezogenen Glasstabe eine Spur auf die Zungenspitze bringt […]“.50
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Der Nachweis von Alkaloiden wie Strychnin, Digitalin, Kokain etc. war sehr schwierig und gelang nicht immer. Er beruht, wie auch der Nachweis anderer Gifte, auf der Isolierung der Substanz und der Anwendung von Reagenzien.51 Die Reaktion der zu testenden Substanz auf die Reagenzien wurde anhand des Erfahrungswissens beurteilt: „Tritt auch diese Reaktion ein, dann ist das Strychnin so gut wie sicher nachgewiesen, denn ein Ptomain, das diese beiden Reaktionen gleichzeitig in reinen Färbungen gäbe, ist bisher noch nicht beobachtet worden.“52 Wichtig für den Nachweis organischer Gifte blieb der physiologische Nachweis, d. h. die Verabreichung der gefundenen Substanz an ein Versuchstier – einen Frosch bzw. eine Maus.53 Selbst eindeutige Resultate einer chemischen Untersuchung führen nicht direkt zu einem Urteilsspruch. Sie können einen Angeklagten zu einem Geständnis bewegen oder die Richter bzw. Geschworenen von seiner Schuld überzeugen. Die Beurteilung der Expertise im Rahmen des Verfahrens bleibt daher dem Richter und seiner freien Beweiswürdigung vorbehalten. Das stellte und stellt erhebliche Anforderungen an den Gutachter in seiner Präsentation vor Gericht. Vor allem in einem Rechtssystem wie dem amerikanischen, das der Laienbeteiligung eine große Bedeutung zuschreibt, hängt die Glaubwürdigkeit des Sachverständigen weit gehend von seiner Fähigkeit der vereinfachten und doch überzeugenden Darstellung komplexer Sachverhalte ab.54 Die Bedeutung der kriminalistischen Labors Als der amerikanische Polizeiexperte Raymond Fosdick 1915 die europäischen Polizeibehörden besuchte, zeigte er sich beeindruckt von der systematischen Nutzung wissenschaftlicher Methoden für die Auf klärung von Verbrechen. 55 Die technologische Aufrüstung der europäischen Polizei entwickelte sich nicht in den Polizeibehörden selbst, sondern an den Universitäten. Fosdick wies vor allem auf die Pionierrolle von Hans Gross (Graz), Edmond Locard (Lyon), Rudolf Reiss (Lausanne) und Alfredo Niceforo (Rom) hin. Ihr Interesse für eine Weiterentwicklung der polizeilichen Ermittlungstätigkeit durch die systematische Nutzung der verfügbaren Technologien ermöglichte den Auf bau von Kompetenzzentren, die von
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den Gerichts- und Polizeibehörden für die Auf klärung von Straftaten und die Erstellung von Gutachten genutzt wurden.56 In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden in Europa und den USA zahlreiche kriminalistische Labors, die vor allem gerichtsmedizinische, chemische, physikalische, grafologische und mikroskopische Untersuchungen anboten. Ihr Erfolg für eine weit reichende Umgestaltung der Auf klärung von Straftaten hing von der Integration dieser neuen Einrichtungen in die staatlichen und regionalen Netzwerke von Polizei und Gendarmerie ab. In dieser Hinsicht war Italien innovativ, wie Fosdick in seinem Bericht ausführte. In Italien gab es vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 27 Labors, die unter der Leitung des Innenministeriums eingerichtet wurden. Sie waren mit den besten Apparaten für die chemische und physikalische Untersuchung ausgestattet und dienten auch der weiteren Ausbildung der Beamten.57 Aus der Sicht der Experten litten die bestehenden Einrichtungen unter dem Problem knapper Ressourcen. Ein Laboratorium, das einen wirklichen Fortschritt in der wissenschaftlichen Kriminalistik erreichen wollte, musste interdisziplinär und international sein, wie Siegfried Türkel, der Leiter des Laboratoriums an der Polizeidirektion Wien, argumentierte. Er skizzierte das Projekt eines „Riesenlaboratoriums“, in dem unter einheitlicher Leitung „Fachleute aller in Betracht kommenden Wissenschaften in gemeinsamer Arbeit den forensisch wichtigen Fragen der Theorie und Praxis näher treten [sollten]“. Das Laboratorium sollte demnach die Umsetzung des ehrgeizigen Programms einer wissenschaftlich betriebenen Kriminalistik sein, wie es in der literarischen Fiktion des Sherlock Holmes von einer genialen Person verkörpert wurde.58 Viele dieser Forderungen sind in den heutigen Einrichtungen erfüllt. Die spezifische Funktion der kriminalistischen Labors stellt aber immer noch erhebliche Anforderungen an die Mitarbeiter und die Direktion. Für Harry Soederman passt nur ein ganz bestimmter Typus von Wissenschaftler für eine solche Einrichtung. Selbst ein brillanter Chemiker oder Physiker kann aus Soedermans Sicht in einem solchen Labor versagen, wenn er sich nicht auf die besondere Logik der polizeilichen Arbeit einlassen kann: anwendungsorientierte Forschung zur Auf klärung eines strafrechtlich relevanten Sachverhalts, ein Verständnis für die kriminalistisch wesentlichen Probleme
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der jeweiligen Fälle und die Bereitschaft, die Arbeitsmethode beständig zu wechseln, um sie an die Herausforderungen des jeweiligen Falles anzupassen.59 In den kriminalistischen Labors wird die Herausforderung eines interdisziplinären Austausches ernst genommen, der nicht nur Wissenschaftler unterschiedlicher Spezialisierung miteinander in Beziehung setzt, sondern Wissenschaft, Recht und polizeiliches Erfahrungswissen. Das erfordert von dem Wissenschaftler Flexibilität und die Bereitschaft, sich auf die Logik der polizeilichen Arbeit und juristischen Problemstellung einzulassen. Das verweist auf die Schwierigkeiten, die von allen Seiten überwunden werden mussten, um eine erfolgreiche Kooperation zwischen unterschiedlichen Wissensbereichen im Bereich der Kriminalistik in Gang bringen zu können. Die Logik wissenschaftlichen Arbeitens musste einer praxisorientierten Fallanalyse weichen, die kriminalpolizeiliche Spurensicherung auf die wissenschaftlichen Verfahren der Spurenauswertung Rücksicht nehmen. Dieser wechselseitige Kompromiss setzte sich auf anderen Ebenen fort. Das Gericht muss nicht nur die Expertise anerkennen, es muss dem Experten auch Einblick in den Verlauf der Untersuchung gewähren und sich dadurch über die Geheimhaltungspflicht hinwegsetzen. Der Experte, der die Protokolle der Untersuchung liest, sieht sich mit einem fremden Genre konfrontiert, mit dem er sich vertraut machen muss. Die kriminalistischen Labors sind aus dieser Perspektive eine Erfolgsgeschichte, weil sie deutlich machen, dass unterschiedliche Disziplinen ihre Praktiken und ihre Verfahren erfolgreich in eine neue institutionelle Struktur einbringen und nicht nur in der literarischen Figur eines Detektivs zusammenwirken können.
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7. Bürger auf Verbrecherjagd – Die Medien als Hilfsmittel der Polizei Bürger waren immer schon in die Auf klärung von Verbrechen und die Fahndung nach Verbrechern einbezogen. Als Opfer und Zeugen waren sie direkt betro≠en und konnten in manchen Fällen sogar die flüchtigen Täter stellen. Dieses Engagement war meist auf die direkt Beteiligten bzw. deren Nachbarn und Freunde beschränkt. Erst seit dem späten 19. Jahrhundert mobilisierte die Polizei die unbeteiligten Bürger gezielt für die Verbrecherjagd durch die Nutzung von Presse, Film und später auch des Fernsehens. Die Polizei nutzte diese Strategie bei besonders schweren Verbrechen, wenn sie mit den eigenen Hilfsmitteln den Fall nicht auf klären konnte. Die Analyse der Tatortspuren und – im Fall von Kapitalverbrechen – der Leiche brachten zwar wichtige Aufschlüsse über den Hergang der Tat und über den Täter. Der Zugri≠ auf den Täter, der als Fremder über Land zog oder sich in die Anonymität der Großstadt zurückzog, gestaltete sich jedoch immer schwieriger. Fritz Lang setzt einen solchen Fall in seinem Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) eindrucksvoll in Szene. In dem Film, der sich an einem Kriminalfall der späten 1920er-Jahre orientierte, sah sich die Polizei mit einem Triebtäter konfrontiert, der in seinem Alltag kein sozial auffälliges Verhalten zeigte und in den Registern der Polizei nicht nachzuweisen war. Er war daher nicht greif bar, sodass die Polizei die Bevölkerung zur Unterstützung aufrief. Dadurch sollten zusätzliche Informationen über die Tat und den Täter zugänglich gemacht werden. Zufällige Begegnungen und Wahrnehmungen, die für die Beteiligten selbst keine große Bedeutung hatten, konnten den Kriminalisten wichtige Aufschlüsse geben. Die Bevölkerung spielte eine wichtige Rolle bei der Auf klärung von
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Straftaten. Die Bürger, die sich an der Verbrecherjagd beteiligten, agierten allerdings eigensinnig und ließen sich nur schwer auf eine bestimmte Rolle festlegen. In den Kommentaren der Kriminalisten zur Ö≠entlichkeitsfahndung finden sich immer wieder Überlegungen, wie die Bürger am besten in die Verbrecherjagd integriert werden könnten. Die Polizeiexperten gingen ganz zu Recht davon aus, dass die Bürger gezielt für die Mithilfe bei der Fahndung motiviert werden mussten. Ohne die Dramatisierung des Falles, wozu die Fahnder sogar Kurzfilme im Stile von Krimis produzierten, blieb die Bevölkerung teilnahmslos. Selbst den Bürgern, die zur Verbrecherjagd motiviert waren, fehlte der geschulte Blick des Kriminalisten. Die Polizei musste daher die Bevölkerung nicht nur motivieren, sondern gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf konkrete, fahndungsrelevante Sachverhalte lenken. Die Beziehungen zwischen Polizei und Ö≠entlichkeit, die dabei zur Sprache kommen, waren nicht nur für die Kriminaltaktik relevant, sondern aufschlussreich für das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, Polizei und Bürger. Aus der Sicht der Bürger war und ist eine Zusammenarbeit nur dann möglich, wenn die Polizei ein positives Image hat, das wenigstens auf der symbolischen Ebene die zunehmende Distanz zwischen dem bürokratischen Apparat der Polizei und der Lebenswirklichkeit der Bürger überwindet. Dazu setzte die Polizei seit dem 19. Jahrhundert auf eine gezielte Pressearbeit; seit den 1880er-Jahren kooperierten die Kriminalisten sogar mit liberalen und fortschrittlichen Blättern. Die Beziehung zwischen Polizei und Ö≠entlichkeit war nicht zuletzt bestimmt von der Organisation der polizeilichen Arbeit. Die zu Fuß patrouillierenden Revierpolizisten hatten mehr Gelegenheit zu einem zwanglosen Gespräch mit der Bevölkerung als die motorisierte Streifenpolizei der Nachkriegszeit, die selbst im expandierenden Raum der Großstädte e∏zient und kostenbewusst eingesetzt werden konnte. Eduard Zimmermann, der Initiator und Hauptverantwortliche der Fernsehsendung Aktenzeichen XY … ungelöst, sah in dieser Strategieänderung der Polizei einen Grund für die zunehmenden Sicherheitsprobleme in der Nachkriegszeit, denen mit innovativen Methoden wie seiner Fernsehsendung begegnet werden musste.1 Für die Geschichte der Kriminalistik ist die Ö≠entlichkeitsfahndung wichtig, weil sie zum unverzichtbaren Bestandteil der Fahndung des
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20. Jahrhunderts geworden ist. Aus der kriminaltaktischen Perspektive ermöglicht die Einbeziehung der Ö≠entlichkeit die fast unbegrenzte Ausweitung des Beobachtungsnetzes, verursacht jedoch erhebliche Kosten. Diese Kosten sind real im Sinne von Personalkosten, weil die zahlreichen Mitteilungen überprüft und bearbeitet werden müssen. Gleichzeitig entstehen symbolische Kosten für den Verdächtigen, dessen Stellung in der Ö≠entlichkeit und in seinen sozialen Beziehungen erheblich beeinträchtigt wird. Die Richtlinien der Justiz- und Innenminister, die seit der Weimarer Republik den Einsatz der Ö≠entlichkeitsfahndung regeln, zwingen die Kriminalisten daher zum vorsichtigen Umgang mit diesem Hilfsmittel. Ein Massenmörder spielt mit einer Stadt Am 7. November 1929 wurde die fünfjährige Gertrud Albermann in Düsseldorf von einem Mann entführt, sexuell schwer misshandelt und schließlich auf grausame Art getötet. Sie war das 14. Opfer eines Serienmörders, der die rheinländische Großstadt zur Zeit der beginnenden Weltwirtschaftskrise in Angst und Schrecken versetzte. Die Polizei war bis zum Mai 1930, als der Mörder schließlich durch einen Zufall entdeckt wurde, mit einem schier unlösbaren Problem konfrontiert. Sie musste unter den knapp 500 000 Einwohnern der Großstadt einen Serienmörder finden, der keine eindeutigen Spuren hinterließ und der seine Opfer nur bei zufälligen Begegnungen auswählte (s. Kapitel 10). Das gesamte Stadtgebiet war mit Plakaten übersät, auf denen Belohnungen von 15 000 Mark für Hinweise zur Ergreifung des Täters versprochen wurden. Die Plakate und die Zeitungsberichte forderten zur Mitarbeit bei der Auf klärung der Straftaten auf und warnten vor neuen Anschlägen. Eine Sonderausgabe des Leipziger Kriminal-Magazins schilderte tre≠end die angespannte Stimmung unter der Bevölkerung: „Keiner traut mehr dem anderen. Freundschaften gehen auseinander, weil Verdachtsmomente auftauchen. Die Eltern bringen ihre Kinder selbst zur Schule und erwarten sie mittags wieder vor den Toren […] Spielende Kinder sieht man in Düsseldorfs Straßen kaum mehr.“2 Die Leser wurden dazu aufgefordert, noch mehr als bisher an der Auf klärung der Fälle mitzuarbeiten und dabei keine vermeintlichen Nachteile zu
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scheuen – wie den Kontakt mit Behörden, die Angst vor Arbeitsversäumnis und selbst die Rache der Denunzierten. Die Mitarbeit der Bevölkerung an der Fahndung war dann auch entsprechend beeindruckend. Es meldeten sich 2 000 Zeugen, die den Täter und die Opfer gesehen haben wollten. Täglich trafen bis zu hundert Briefe mit Hinweisen, Verdächtigungen und Beschuldigungen bei der Kriminalpolizei ein. Selbst mehrere hundert Hellseher, Okkultisten und Spiritisten boten der Polizei ihre Mitarbeit an. Der Fall erhitzte die Fantasie der Bürger derart, dass sich zweihundert Personen fälschlich als Serienmörder der Polizei stellten. Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder, der von diesem Fall inspiriert war, stellt die Gereiztheit der Bevölkerung und ihre Mitarbeit an der Verbrecherjagd tre≠end dar. Selbst die Schwierigkeiten der Polizei mit den sich widersprechenden Darstellungen der Zeugen sind von Lang meisterhaft in Szene gesetzt. Im Düsseldorfer Fall konnten selbst die wenigen mit dem Leben davongekommenen Opfer nur ungenaue Angaben über das Aussehen des Täters machen. Die Polizei tappte daher weiterhin im Dunkeln und setzte alle verfügbaren Kräfte ein, um durch eine systematische Untersuchung des Tatortes neue Anhaltspunkte zu gewinnen. Als wichtigstes Indiz galt anfangs der Modus operandi, d. h. die Art der Verbrechensbegehung. Man ging davon aus, dass jeder Kriminelle eine Art ‚Handschrift‘ entwickelte, an der man ihn erkennen könnte. Auf dieser Grundlage nahm die Kriminalpolizei mehrere Verhaftungen vor. Betro≠en waren Männer, die bereits früher durch Vergewaltigungen, Attentate mit Messern und Kindesmisshandlungen auffällig geworden waren. In allen Fällen zeigte die Fortsetzung der Mordserie indes sehr bald, dass der gesuchte Verbrecher noch nicht inhaftiert war. Der Modus operandi brachte keinen Hinweis auf den Täter, weil dieser noch nicht als Triebtäter behördlich erfasst war. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei dem Serienmörder sehr wohl um einen vielfach vorbestraften Mann – seine Eigentumsdelikte und Gewalttätigkeiten machten ihn jedoch nicht zu einem Verdächtigen. Angesichts dieser schwierigen Situation versuchte die Kriminalpolizei anhand der Tatumstände eine Art Profil des Täters zu erstellen – die Methode des Profiling (s. Kapitel 10) wurde hier bereits in Ansätzen vorweggenommen. Dabei zeigte sich eine Konzentration des Serienmör-
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ders auf Kinder und Frauen aus dem Milieu der Hausangestellten. Auffällig war außerdem die Art der Tötung. Bei Kindern verwendete der Mörder ein langes Messer, das die kleinen Körper beinahe ganz durchbohrte; Frauen ermordete er meist mit einem Hammer. Mit beiden Wa≠en stach bzw. hämmerte er wie wahnsinnig auf seine Opfer ein, wobei er auf Kopf, Hals und Brust zielte. Die Experten schlossen daraus auf einen sexuellen Charakter der Morde, obwohl nicht alle Opfer vergewaltigt wurden. Die Untersuchung des Tatorts deutete auf eine gewisse Neigung zum Fetischismus: So nahm der Täter Handtaschen und Hüte von einigen seiner Opfer mit. Weil er nach dem Mord nicht mehr impulsiv, sondern überlegt handelte, warf er diese Gegenstände nach kurzer Zeit weg, um nicht dadurch als Täter entlarvt zu werden. Für die Zuordnung des Täters zu einem Sozialprofil erschien den Kriminalisten aufschlussreich, dass er sich in den Außenbezirken der Großstadt bewegte und dort tötete, wo sich zwischen Stadtzentrum und Vorstadt Industrieanlagen mit Schrebergartenkolonien abwechselten. Es handelt sich um Orte, die von unbeleuchteten Straßen und Bahndämmen durchzogen waren; hier waren Frauen und Männer unterwegs, die am Rand der Gesellschaft lebten. Im Mordgebiet hausten Menschen in Notunterkünften und in selbst gebauten Hütten; eines der Opfer nächtigte sogar während der warmen Jahreszeit im Freien. Sie waren potenzielle Opfer, wie die Prostituierte Elisabeth Dörrier, kamen aber auch den Frauen zu Hilfe, die sich in letzter Minute vor dem Mörder retten konnten. Der Mörder begnügte sich nicht mit der Tötung seiner Opfer. Er wollte seine Taten publik machen und kommunizierte dazu mit Polizei und Ö≠entlichkeit via Presse. Die gleichzeitige Nutzung der Presse durch die Polizei und den Täter zeichnet diesen Fall aus. Zuerst wandte sich der Mörder mit einem Brief an die Polizei, um die Fundstelle eines von ihm bestatteten Opfers mitzuteilen. Als diese nicht reagierte bzw. die Leiche nicht bergen konnte, verübte er einen weiteren Mord und schickte einen zweiten Brief direkt an die Presse. Der Brief bezeichnete den Fundort von zwei Leichen. Die Leiche des kurz zuvor ermordeten Kindes war bereits entdeckt, als die Skizze von der Polizei ausgewertet wurde. Da der Poststempel zeitlich vor dem Auffinden der Leiche lag, war der Verfasser des Briefes zweifellos auch
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der Mörder. Sicher war nun auch die Identität zwischen dem Kinderund Frauenmörder, weil die eine Leiche ein Kind, die andere eine ehemalige Hausangestellte war. Wie der Autor der Sonderausgabe des Leipziger Kriminal-Magazins ausführte, konnte man anhand des Schreibens noch viel mehr an Informationen über den Täter gewinnen. In psychologischer Hinsicht entpuppte sich der Serienmörder als eine „Bestie“ mit starkem Geltungstrieb, „die nicht nur ihr Verbrechen verübt, sondern auch wünscht, daß die Ö≠entlichkeit von ihr spreche“.3 Nach seiner Verhaftung wurde der Täter mehrfach psychiatrisch untersucht. Einer der Gutachter, Professor Sioli, lenkte während der Untersuchung das Gespräch auch auf die Briefe. Der Mörder gestand, dass ihn das Schreiben dieser Briefe sexuell erregt hätte. Die Erregung stellte sich ein, sobald er sich die Empörung der Behörden und der Bevölkerung vorstellte, wenn sie den Brief lasen. In diesem Sinn stellte das Schreiben der Briefe eine Art Ersatzhandlung dar, wenn gerade kein Opfer für einen neuen Mord vorhanden war. Die Verö≠entlichung der Mörderbriefe hatte eine ambivalente Wirkung auf die Bürger. Sie machte das Scheitern der bisherigen polizeilichen Bemühungen o≠ensichtlich und rief zu verstärkter Wachsamkeit auf; manche motivierte sie jedoch auch zu einer spielerischen Übernahme der Rolle des Mörders. Das Kriminal-Magazin äußerte den Verdacht, dass „im November 1929 der aktuellste Sport gewisser Stammtische in Düsseldorf die Herstellung von ‚Mörderbriefen‘ sei“.4 Für die Auf klärung der Straftaten erhielten die Kriminalisten durch die beiden Schreiben erste wertvolle Anhaltspunkte über den Täter. Das Papier, der Blaustift, die Schrift und die Briefumschläge wurden untersucht und einem Grafologen zwecks Anfertigung eines Gutachtens übergeben. Vor allem der erste Brief war aufschlussreich, weil er auf unbedrucktem Zeitungspapier geschrieben war, das im Handel nicht verkauft wurde. Die Kriminalpolizei kontaktierte daher alle Druckereien und Altpapierhandlungen in der weiteren Umgebung, um Hinweise zu erhalten. Für die Düsseldorfer Kripo hatten die Untersuchungen keinen Erfolg. Nur in Fritz Langs Film führten diese Spuren schließlich zum Täter. Anders als im Film fand die Düsseldorfer Mordserie nur durch einen glücklichen Zufall ihr Ende. Eines der Opfer wurde von dem Täter in
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seine Wohnung mitgenommen, bevor er sie in einem Wald vergewaltigte. Das Mädchen überlebte und schilderte ihre Erlebnisse brief lich einer Freundin. Der Brief war ungenügend adressiert und gelangte deshalb auf Umwegen in die Hände der Polizei. Sie konnte die junge Frau ausfindig machen und wurde von ihr zur Wohnung des Mörders geführt. Dort traf die Polizei auf die Ehefrau des Serienmörders, der als der Fuhrmann Peter Kürten identifiziert wurde. Seine Frau teilte den Kriminalbeamten mit, dass ihr Mann sich ein Untermietzimmer gesucht hatte und führte ein großes Polizeiaufgebot zum neuen Aufenthaltsort ihres Mannes. Der ließ sich widerstandslos abführen und bedauerte nur, dass „seine Sache so beendet worden wäre, es hätte einen Knalle≠ekt geben müssen, indem er jeden Tag zwei Personen hätte ermorden wollen“. Mit seinen Mordtaten wollte er sich an der Gesellschaft für die schlechte Behandlung während früherer Gefängnisaufenthalte rächen; in einem Gespräch mit Oberregierungsrat Dr. Kopp bezeichnete er später seine Taten als einen Beitrag „zur Reform des Strafvollzugs“.5 Der schöne Schein der Anständigkeit Das Leben in Düsseldorf war durch die Mordserie beeinträchtigt – die Menschen waren verunsichert. Die vielen jungen Frauen, die sich aus dem abhängigen Leben einer Hausangestellten durch eine Heirat befreien wollten, suchten dennoch weiterhin Kontakt zu fremden Männern, oft Zufallsbekanntschaften an ö≠entlichen Orten. Das Äußere und die vorgebliche soziale Rolle des Mannes waren dabei entscheidend für seine Vertrauenswürdigkeit. Peter Kürten konnte selbst auf dem Höhepunkt der Mordserie als angeblicher Postbeamter oder Straßenbahner mit jungen Frauen in Beziehung treten, die sich unter seinen Schutz begaben. Kürten sprach die Vertrauensseligkeit dieser Frauen sogar in seinem Schlussplädoyer an. Aus seiner Sicht war bei vielen Frauen „der Drang nach dem Mann“ so groß, dass jede Vorsicht ausgeschaltet wurde.6 Vertrauen beruhte in der Massengesellschaft jener Zeit auf sozialer Kompetenz und dem schönen Schein der Anständigkeit. Peter Kürten konnte dieses Vertrauen gewinnen, weil er in vieler Hinsicht ein sozial
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angepasstes Verhalten zeigte. Gegenüber seiner Frau war er kein vorbildlicher Ehemann, aber auch kein notorischer Gewalttäter. Er lebte seine Gewaltfantasien außerhalb der Ehe und der ehelichen Sexualität aus. Seine Ehefrau konnte daher seinen Geständnissen zunächst keinen Glauben schenken. Dieses Doppelleben sicherte ihn vor möglicher Denunziation aus seinem näheren sozialen Umfeld, weil er dort die Fassade einer gewissen Normalität aufrechterhalten konnte. Nur seine ehemaligen Zellengenossen schöpften Verdacht; Kürten hatte sich ihnen gegenüber mit seinen sexuellen Perversionen gebrüstet. Nach dem letzten Mordfall machte ein entlassener Sträf ling bei der Kriminalpolizei die Anzeige, dass er Peter Kürten, den er von seinem letzten Gefängnisaufenthalt kannte, für den Mörder halte. Die Ö≠entlichkeitsfahndung stieß im Fall Kürten auf ein überraschendes Echo seitens der Bevölkerung. Etwa 12 000 Hinweise erhielt die Düsseldorfer Polizei. Sie führten zwar nicht direkt zur Ergreifung des Täters, waren aber dennoch wesentlich für den Erfolg der Ermittlungen. Ohne die Mitarbeit der Bevölkerung wäre der falsch adressierte Brief kaum in die Hände der Polizei gelangt und Kürten hätte weiter gemordet. Der Zugri≠ auf einen Täter, der ohne rationales Kalkül und somit willkürlich tötete, war für die Polizei ohne die Hilfe der Bevölkerung und von ‚Kommissar Zufall‘ unmöglich, weil die kriminalistischen Verfahren auf die Ermittlung rational kalkulierender Straftäter ausgerichtet sind. Ein Blick zurück: Die Anfänge der Ö≠entlichkeitsfahndung Eine Kooperation zwischen Polizei und Bürgern bei der Fahndung nach flüchtigen Verbrechern gab es bereits vor dem 20. Jahrhundert. Die Steckbriefe des 18. Jahrhunderts wurden in Buchform sowie in den Intelligenzblättern verö≠entlicht und dadurch einer gebildeten Ö≠entlichkeit bekannt gemacht. Erst mit der Gründung von spezialisierten Polizeiblättern in der Zeit des Vormärz reduzierte sich die Ö≠entlichkeit auf die Kriminalisten; der Bezug dieser Publikationen stand jedoch weiterhin jedem Bürger frei. Im Jahr 1846 wurde von Generalpolizeidirektor Carl Georg Ludwig Wermuth mit dem Hannoverschen Polizeiblatt das erste regionale amtliche Nachrichtenorgan der Polizei gescha≠en. Friedrich Eberhardt, der Herausgeber des halbamtlichen Allgemeinen
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Polizei-Anzeigers, äußerte noch im Jahre 1842 den Wunsch, dass seine Zeitschrift „auch von recht vielen Privatpersonen gelesen werden möge“.7 Mit der Ausweitung des Abonnentenkreises wollte er die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bürger verbessern. Denn wer einmal über die Gefährlichkeit der Verbrecher und das Vorgehen der Polizei informiert war, musste – aus seiner Sicht – unweigerlich zur Kooperation mit den Sicherheitskräften bereit sein. Gegen diese bewusste Verletzung des polizeilichen Amtsgeheimnisses wandten sich Wermuth und die anderen Befürworter von amtlichen Polizeiblättern. Sie sorgten sich dabei weniger um die mögliche Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte durch eine Ausschreibung im Fahndungsblatt, sondern befürchteten die Mitteilung der Ausschreibung an die Betro≠enen – vor allem an die zur Fahndung ausgeschriebenen politischen Oppositionellen. In den Vorstellungen von Wermuth und Eberhardt kamen zwei unterschiedliche Auffassungen von der Stellung der Polizei in der Gesellschaft zum Ausdruck. Wermuths strikt bürokratische Konzeption sah die Polizei als eine Institution, die auf Seiten der bürgerlichen Gesellschaft und dennoch außerhalb von ihr operierte. Eberhardts Ideen lassen sich dagegen auf ein Polizeiverständnis zurückführen, das die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung als eine Aufgabe verstand, die gemeinsam mit der bürgerlichen Gesellschaft realisiert werden sollte. Als Vorbild galt dabei unter anderem die mittelalterliche Stadt mit ihren korporativen Strukturen. Die Mobilisierung der Bevölkerung für die Mitarbeit an der Fahndung war nicht Ausdruck eines liberalen Polizeiverständnisses, sondern wurde durch die neuen Herausforderungen erzwungen, mit denen sich die Großstadtpolizei auseinander setzen musste. Diese Mobilisierung ließ sich nicht durch eine weitere Verbreitung der Polizeiblätter erreichen, denn die bürgerlichen Haushalte hatten keine besondere Vorliebe für die Lektüre von Steckbriefen und kriminalistischer Fachprosa. Sie gelang erst mit den Mitteln der Dramatisierung, wie sie die Tageszeitungen seit dem späten 19. Jahrhundert anboten. Für die Fahndung des 19. Jahrhunderts war die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bürger immer wichtig und wurde selbst von den Verfechtern eines strikt obrigkeitlich-bürokratischen Polizeiverständnisses anerkannt. Die Informationen über die Tat und die Verdächtigen, die
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zur Auf klärung von Straftaten unumgänglich notwendig waren, kamen aus einem breit gespannten Netz von amtlichen und privaten Beobachtern. Dazu zählten die Wahrnehmungen der Polizeiagenten, die als die Augen und Ohren eines bürokratischen Beobachtungsapparates galten. Gezielte Kontrollen und Razzien in den Etablissements, in denen man Verbrecher vermutete, komplettierten die Informationsbescha≠ung. Der einzelne Bürger konnte dazu nur beitragen, indem er den Weg zur Polizei auf sich nahm, um dort eine vertrauliche Mitteilung zu machen. Ihre Zuverlässigkeit wurde nicht zuletzt am sozialen Stand des Denunzianten gemessen – ein Vorurteil, das selbst bei der Fahndung nach dem Düsseldorfer Serienmörder Peter Kürten eine Rolle spielte. Die Sorge der Polizei im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert galt der Mobilität. Fremde wurden mit Misstrauen betrachtet, außer wenn es sich um vornehme und wohlhabende Personen handelte. Informationen über ihre Ankunft und Abreise waren daher ein wichtiges Hilfsmittel der Auf klärung und Prävention von Verbrechen. Der Hannoversche Polizeiexperte Gustav Zimmermann sah im Jahre 1845 die polizeiliche Meldepflicht aus diesem Grund als ein wertvolles Instrument, um über die Bewegung in den bürgerlichen Haushalten informiert zu werden: „Wohin das Auge und Ohr der patrouillirenden O∏cianten nicht reicht, das Innere der Häuser wird in einzelnen Beziehungen aufgedeckt durch jene Notizgaben […]“8 Im Kampf gegen Berufsverbrecher schienen den Experten des 19. Jahrhunderts diese Mittel weitgehend unbrauchbar. Denn die erfolgreichen Gauner waren in ihrer Lebensweise völlig in die bürgerliche Umwelt integriert. Sie erregten keinen Verdacht und tauchten in den Registern der Polizei und Gerichte nicht auf. Wurden sie auf ihren kriminellen Streifzügen gefasst, war das in der Regel weit weg von ihrem Wohnort, wo sie unter falschen Namen operierten. Um diesen falschen Schein bürgerlicher Anständigkeit zu durchdringen, setzte die Polizei auf die Hilfe von Spitzeln, den so genannten Vigilanten. Sie wurden im 19. Jahrhundert aus den Reihen der ehemaligen Straffälligen rekrutiert und sollten ihre erfolgreichen Genossen bei der Verübung von Straftaten beobachten und an die Polizei verraten. Damit setzte die kriminaltaktische Strategie im Kampf gegen sozial unauffällige Straftäter nicht bei den Bürgern, sondern im kriminellen
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Milieu an, was erhebliche Probleme verursachte. V-Leute wurden auch von den Ermittlern als Verräter betrachtet, die sich mit ihren Mitteilungen einen wirtschaftlichen Vorteil verscha≠en wollten. Deshalb galten ihre Aussagen nicht unbedingt als zuverlässig. Sie konnten auch nur gegenüber jenen Straftätern eingesetzt werden, die enge Kontakte zum kriminellen Milieu unterhielten. Allein operierende Eigentumsverbrecher, willkürlich zuschlagende Triebtäter und sozial angepasste Terroristen ließen sich mit diesem Instrument nicht ermitteln. Im Kampf gegen diese Formen des Verbrechens entwickelte die Polizei eine Reihe von neuen Ermittlungstechniken wie die Ö≠entlichkeitsfahndung und die Rasterfahndung. Das Zusammenspiel von Polizei und Presse Der amerikanische Polizeiexperte Raymond Fosdick bereiste kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Europa, um sich über die Organisation der europäischen Polizeibehörden zu informieren. In Berlin zeigte er sich insbesondere von dem Kriminalarchiv und den vielfältigen Registraturen tief beeindruckt. Eines der von dem bekannten Kriminalisten Hans Schneickert angelegten Register betraf die Presseberichte zur Kriminalität. Die Berliner wie auch die Dresdner Polizei waren Subskribenten eines Dienstleistungsunternehmens, das aus deutschen Tageszeitungen Artikel ausschnitt. Diese Ausschnitte dienten den beiden Polizeibehörden dazu, sich über die Verbrechen im gesamten Deutschen Reich auf dem Laufenden zu halten. Es ist bezeichnend, dass die Polizeibehörden die Tagespresse als Hilfsmittel heranzogen und sich nicht auf polizeiinterne Fahndungsblätter beschränkten. Das belegt die dominante Stellung der Presse am Markt für aktuelle Informationen zur Zeit der Jahrhundertwende. Diese Dominanz ergab sich im Bereich der Kriminalitätsberichterstattung aus der engen Zusammenarbeit mit der lokalen Polizei. Das rege Publikumsinteresse spornte die Reporter dazu an, sich möglichst rasch Informationen von allgemeinem lokalem Interesse zu bescha≠en. Die Polizei, der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter waren dabei die bevorzugten Ansprechpartner. In großen Polizeibehörden wie etwa in Berlin und Hamburg wurden
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bereits Ende des 19. Jahrhunderts eigene Pressestellen eingerichtet. Das markierte den entscheidenden Wendepunkt hin zu einer professionellen Pressearbeit, die nicht mehr nur die regierungsnahen Blätter mit Informationen belieferte, sondern mit allen lokalen Tageszeitungen ohne Ansehen von deren politischer Ausrichtung zusammenarbeitete. Im Vordergrund stand nun das Interesse der Polizei an einer gezielten und gleichzeitig kontrollierten Information der Bevölkerung über Straftaten, Fahndungen und verbrechensverhütende Maßnahmen. Die Beziehung zwischen Polizei und Presse war auf einen wechselseitigen Austausch von Informationen begründet. Die Polizei nutzte die rasche Verbreitung überregionaler Nachrichten und stellte selbst die Grundlage dazu bereit, indem sie die Pressedienste mit sachlich und nüchtern gehaltenen amtlichen Mitteilungen versorgte. Die Zeitungen konnten ihre hohen Auf lagen nur durch ein ansprechendes Angebot an Unterhaltung und Information sicherstellen. Die von der Polizei berichteten Verbrechen, Fahndungen und Sicherheitsprobleme waren wichtige Bestandteile dieses Angebots, mussten aber für ein Massenpublikum erst entsprechend auf bereitet, zu news gemacht werden. Die Polizei profitierte letztlich von dieser ‚Übersetzung‘, war aber nicht immer mit der Art der Transformation eines Falls in eine Sensation einverstanden. Die journalistische Auf bereitung entstellte manchmal den Sachverhalt derart, dass wenig Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Kriminalfall übrig blieb. Diese Entstellungen und vor allem die Schuldzuweisungen an Verdächtige konnten die Erinnerung von Zeugen und anderen Beteiligten in gefährlicher Weise beeinflussen. Allein aus diesem Grund empfahlen Kriminalisten wie Hans Schneickert die Kooperation der Behörden mit der Presse, um die Zirkulation von Informationen zu kontrollieren. Dabei gab es einen klaren Interessengegensatz zwischen Polizei und Presse. Die Zeitungen pochten auf ihr Recht, die Ö≠entlichkeit möglichst umfassend und aktuell zu informieren und drohten damit, selbst zu recherchieren. Der (leitende) Ermittler sah sich daher mit dem schwierigen Balanceakt konfrontiert, genug Informationen mitzuteilen, ohne die Untersuchung dadurch zu gefährden. Schneickerts Empfehlungen wurden im Jahr 1933, zu Beginn des Dritten Reiches, verö≠entlicht. Sie ähneln den Vorschlägen, die Hans Gross den Kriminalisten der Jahrhundertwende gemacht hatte. Im Be-
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reich der polizeilichen Pressearbeit gab es eine deutliche Kontinuität zwischen der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus. Die NS-Polizei setzte weiterhin auf Flugblätter, Laufzettel, ö≠entliche Anschläge, Ausstellung von Beweismitteln, die Tagespresse und den Rundfunk, um die Bevölkerung zur Verbrecherjagd zu mobilisieren. Sie beschritt aber auch neue Wege, indem sie vermehrt auch das Kino und sogar das Fernsehen einsetzte. Heute ist die Professionalisierung der polizeilichen Pressearbeit weit fortgeschritten. Der enge Kontakt mit den Medienvertretern sichert der Polizei eine umfangreiche Kontrolle über die Kriminalberichterstattung in den Medien. Die Pressestellen der Polizei verfügen fast über ein Monopol bei der Bereitstellung von Information über lokale Straftaten und üben daher einen starken Einfluss auf die Auswahl jener Verbrechen aus, über die eine breitere Ö≠entlichkeit informiert wird. Als Reaktion auf das Gladbecker Geiseldrama verabschiedete die Innenministerkonferenz gemeinsam mit dem Deutschen Presserat im Jahr 1993 eine Reihe von Verhaltensgrundsätzen zur Vermeidung von Konflikten. In deren Mittelpunkt steht der regelmäßige Kontakt zwischen Medienvertretern und Polizeibeamten, der Verständnis für die Arbeitsweise der anderen Seite wecken soll. In diesen Beschlüssen wird die bereits im späten 19. Jahrhundert begonnene Praxis festgeschrieben. Die Unterschiede zwischen damals und heute liegen vor allem in der konkreten Ausgestaltung der Partnerschaft zwischen Polizei und Presse, die nicht zuletzt durch die verfügbaren Kommunikationstechnologien bestimmt ist. Im Berlin der 1880er-Jahre mussten die Reporter noch die Meldungen persönlich im Polizeipräsidium abholen, was vielfältige Möglichkeiten zur Befragung der Polizeibeamten bot. Seit der Jahrhundertwende wurden diese Kontakte unterbunden, weil die Mitteilungen via Telegraf an die Zeitungsredaktionen gelangten. Seit einigen Jahren ermöglicht die dpa-Tochter news aktuell den Internetzugri≠ auf monatlich rund 6 000 Meldungen von Polizei, Justiz, Bundesgrenzschutz und Feuerwehr. Die Polizei nutzt heute außerdem Rundfunk- und Fernsehverö≠entlichungen, Telefonansagedienste sowie das Internet zur Kommunikation mit der Bevölkerung. Die Pressearbeit der Polizei kann durchaus als eine Erfolgsgeschichte geschrieben werden. Nach einer längeren Phase des Misstrauens der Po-
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lizei in die Haltung der Bevölkerung während des 19. Jahrhunderts kam es zu einer erfolgreichen Annäherung, die von der Presse wesentlich mit gestaltet wurde. Blickt man auf die konkreten Reaktionsweisen der Bevölkerung auf die medial vermittelten Aufforderungen der Polizei um Mitarbeit, gewinnt man jedoch einen etwas di≠erenzierteren Eindruck. Die Teilnahme der Bevölkerung an der Fahndung nach bekannten Verbrechern war beträchtlich, wie der Fall Peter Kürten eindrucksvoll gezeigt hat. Die Art der Mitwirkung entsprach aber nicht immer den Erwartungen der Polizei an „bereitwillige, kooperative und ordnungsliebende Informanten“. Zuschauen, Anzeigen, Verfolgen von Schuldigen wie Unschuldigen, das Vortäuschen der Opferrolle, um Mitleid zu heischen oder Vergünstigungen zu bekommen, aber auch das Verulken der Behörden durch die absichtliche Reproduktion von fahndungsrelevanten Merkmalen verdeutlichen das breite Spektrum von Reaktionen.9 Die Zusammenarbeit mit der Presse war nur eine unter mehreren Fahndungsstrategien der Polizei seit der Jahrhundertwende. Als die Berliner Polizei im Jahr 1906 nach dem flüchtigen Mörder Rudolph Henning fahndete, begann sie mit dem Anschlagen von dreitausend so genannten roten Zetteln an den Litfasssäulen Berlins. Diese Plakate wurden überall dort angebracht, wo viele Menschen zusammenkamen: auf verkehrsreichen Straßen, in Gerichtsbehörden, Postanstalten, Bahnhöfen, Sparkassen, Finanzämtern, Markthallen, Wärmehallen, Arbeitsämtern, Ortskrankenkassen, Sozialberatungsstellen, großen Fabriken sowie den Polizeigebäuden der Stadt. Beispiele dieser Form der Kommunikation zwischen Polizei und Publikum finden sich in Fritz Langs Filmen Dr. Mabuse und M. Bei der Fahndung nach dem Mörder Rudolph Henning konzentrierte sich die Polizei auf die Eisenbahn, weil man seine Flucht aus Berlin nicht ausschließen konnte. Daher wurden fünf hundert Steckbriefe an die Beamten der Eisenbahn verteilt. Schließlich wurde ein Steckbrief im Anzeigenteil der Berliner Tageszeitungen publiziert, der von der Vermieterin Hennings gelesen wurde und so auf seine Spur führte. Im Gegensatz zu den journalistisch auf bereiteten Sensationen in den Zeitungen waren Plakate und Steckbriefe in einem amtlich-sachlichen Ton gehalten. Die Bürger der Großstadt waren also mit unterschiedlich aufbereiteten Informationen zu einzelnen Straftaten konfrontiert, die sich
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wechselseitig ergänzten und kommentierten. Presse wie Polizei profitierten von dieser Situation. Die sensationell aufgemachten Berichte gewannen an Glaubwürdigkeit durch den Hinweis auf die Polizei als Informationsquelle und durch die gleichzeitige Präsenz der Plakate im ö≠entlichen Raum. Die Polizei hingegen konnte durch die Allgegenwart in den Medien ihre Expertenrolle in Sachen Verbrechensbekämpfung festigen. Eine neue Liaison: Polizei und Fernsehen Heute erreicht die Polizei die Bevölkerung nicht mehr mit Plakaten, sondern mit Fernsehsendungen und via Internet. Die Nutzung der neuen Medien begann in Deutschland bereits am Ende des Ersten Weltkriegs: Im Jahr 1917 wurden erstmals die Diapositive von zwei gesuchten Verbrechern in Münchner Lichtspieltheatern, Varietés und Kabaretts gezeigt. Mit dem Ausbau des Funknetzes in der Weimarer Republik erhielt dann auch der Rundfunk eine zunehmende Bedeutung für die Information der Bevölkerung durch die Polizei. Ein Runderlass des preußischen Innenministers aus dem Jahre 1927 legte klare Richtlinien für die Nutzung des Rundfunks fest. Die Polizeibehörden sollten demnach dieses Medium nur in Ausnahmefällen verwenden, um die Bevölkerung nicht gegen die Beachtung wichtiger Nachrichten abzustumpfen. Diese Botschaft vermittelte auch Hans Schneickert im Jahr 1933 den Lesern seines Handbuchs: „Die Rundfunknachrichten müssen aktuelle Bedeutung haben und geeignet sein, das Publikum zu interessieren; sie können die Verfolgung flüchtiger Verbrecher und die Warnung vor auftretenden gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Verbrechern bezwecken […]“10 Den größten Erfolg bei der Mobilisierung der Bevölkerung für die Fahndung hatte indes das Fernsehen. Die in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgestrahlte Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst wurde gar zu einem wichtigen Bestandteil der deutschen Nachkriegskultur. Die erfolgreiche Liaison zwischen Polizei und Fernsehen begann Anfang der 1950er-Jahre – den Fernsehaufrufen im Dritten Reich hatte noch die Reichweite gefehlt. 1953 produzierten die norddeutschen Sender NWDR und NWRV gemeinsam mit der ARD die Fernsehserie Der Polizeibericht meldet. Im Mittelpunkt jeder Episode standen Fälle aus den
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Akten vor allem der Hamburger Polizei, die von Moderator Jürgen Roland präsentiert und vom Hamburger Kriminaldirektor Carl Breuer kommentiert wurden. Die Sendung konzentrierte sich auf Alltagsdelikte wie Erpressung, Betrug und Verleumdung, gab aber auch Hinweise für das Verhalten im Verkehr. Fünf Jahre später folgte die Serie Stahlnetz. Sie wurde von denselben Sendern produziert; Jürgen Roland hatte auch in dieser Produktion eine bedeutende Rolle als Regisseur. Das Konzept der Sendung hatte sich deutlich geändert. Es handelte sich nicht mehr um eine Auf klärungs- und Informationssendung der Polizei, sondern um die erste westdeutsche Krimiserie, die in Deutschland spielte. Die einzelnen Folgen wurden möglichst authentisch inszeniert und waren realen Kriminalfällen nachempfunden, die unter Mitarbeit der Kriminalpolizei in Szene gesetzt wurden. Der Schwerpunkt der Sendung lag auf der Darstellung der zwar stets schwierigen, aber letztendlich doch erfolgreichen Polizeiarbeit. Der Tathergang wurde fast immer gezeigt, teils mit o≠ener, teils mit verdeckter Täterführung. Mit diesem Konzept orientierten sich die norddeutschen Produzenten an dem amerikanischen Erfolgsmodell Dragnet, das im Jahr 1954 die Hälfte aller amerikanischen Fernsehbesitzer an den Bildschirm lockte.11 Stahlnetz war zehn Jahre lang, bis 1968, auf den Bildschirmen der norddeutschen Haushalte präsent. Sechs Jahre nach der Erstausstrahlung erhielt die Serie Konkurrenz aus dem überregionalen Programm durch Eduard Zimmermanns Sendung Vorsicht, Falle!, die ab 1964 ausgestrahlt wurde. Sie verband die beiden bereits erprobten Modelle miteinander und präsentierte Auf klärung zu tatsächlichen Betrugsdelikten mit filmischen Mitteln, die dem Genre des Krimis entlehnt waren. Durch lebensnahe Aufnahmen von Betrugsmanövern an der Haustür von nichtsahnenden Bürgern, die mit versteckter Kamera gefilmt wurden, verstärkte die Sendung den Eindruck von Authentizität. Um die Warnung vor Eigentumsdelikten im Deutschland der Wirtschaftswunderzeit möglichst eindrücklich zu vermitteln, setzte Zimmermann auf Spannung und realistische Darstellung. Sein Konzept – die Verbindung zwischen Warnung, Auf klärung und Unterhaltung – sprach die Menschen an, was sich in hohen Einschaltquoten und guten Bewertungen niederschlug. Die Zuschauer blieben nicht nur passiv, sondern traten
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mit der Redaktion in Kontakt, um Betrügereien zu melden, denen sie zum Opfer gefallen waren. Keine dieser Sendungen kann als Fahndungssendung im eigentlichen Sinn bezeichnet werden. Sie waren als Kriminalprävention bzw. als PR-Sendungen für die Polizei gedacht, die dabei als kompetenter Akteur im Bereich der Verbrechensbekämpfung vorgeführt wurde. Eduard Zimmermann verband mit seiner Serie auch eine politische Mission. Er wollte die Eigentumskriminalität wieder in die Debatte um die Reform des Strafrechts einbringen und dadurch langfristig eine Strategieänderung der Exekutive und der Legislative erreichen. In seinem Buch finden sich zahlreiche Einwände gegen die Strafrechtsreform, die sich nicht auf die kriminalpolitische Blindheit gegenüber den Eigentumsdelikten beschränken. Aus seiner Sicht war der Handlungsspielraum der Polizei übermäßig eingeschränkt und die Berufsverbrecher profitierten von den Schwierigkeiten, Untersuchungshaft gegenüber Straftätern zu verhängen.12 Den verbesserten ‚Arbeitsbedingungen‘ der Kriminellen setzte er seine Sendung entgegen. Zu Fahndungszwecken wurde das Fernsehen erstmals in den Niederlanden gezielt eingesetzt. Anfang der 1950er-Jahre strahlte das Hilversumer Fernsehen das Lichtbild eines vermisst gemeldeten 17-jährigen Mädchens im Auftrag der Polizei aus. Im selben Jahr, 1952, schloss die britische Polizei einen Vertrag mit der BBC über die Verbreitung von Bildern und Personenbeschreibungen gesuchter Verbrecher. Fünf Jahre später hatte auch in Deutschland die erste überregionale Fernsehfahndung Premiere, als die ARD in der Tagesschau das Bild eines Autofahrers ausstrahlte, der auf der Flucht einen Polizeibeamten überfahren und dabei getötet hatte. Im österreichischen Rundfunk führte ein Mordfall im Jahr 1958 zur Einschaltung des Fernsehpublikums. Seit 1963 verö≠entlicht die ZDF -Nachrichtensendung Heute die Fahndungsersuchen der Polizei. Der legendäre Fernsehfahnder Eduard Zimmermann Die von Eduard Zimmermann und der so genannten Deutschen Kriminal-Fachredaktion gestaltete Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst, die am 20. Oktober 1967 erstmals vom ZDF ausgestrahlt wurde, betrat Neu-
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23 Moderator Eduard Zimmermann im April 1970 in der Kulisse der Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst.
land im Bereich der Ö≠entlichkeits- und Fernsehfahndung. Sie präsentierte nicht nur die Porträts der gesuchten Verbrecher und Hinweise auf ihre Identität, sondern nutzte die Erfahrungen mit der filmischen Rekonstruktion von Straftaten. Im Gegensatz zu anderen Sendungen setzten Zimmermann und seine Mitarbeiter auf mehrere inszenierte Minikrimis, die unterschiedliche Straftaten anschaulich präsentierten. Die Fälle wurden kommentiert durch die im Studio anwesenden Kriminalbeamten, die im Anschluss an die Vorführung konkrete Fragen an das Publikum stellten. Durch die Sendung führte Eduard Zimmermann. Nachdem das österreichische und das schweizerische Fernsehen bei Aktenzeichen XY … ungelöst mitmachten, war er während der Sendung live mit den Studios in Wien und Zürich verbunden, die auch in einer Folgesendung spät abends die Auswertung der Ergebnisse präsentierten. Die Ausweitung der Fahndung auf die deutschsprachigen Nachbarländer begründete Zimmermann mit ähnlichen Argumenten, mit denen die Polizeiexperten der Jahrhundertwende für ihre internationale Kooperation geworben hatten. Die Verbrecher waren demnach mobiler als die Polizei. Aus
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der Sicht von Zimmermann brachte selbst die verbesserte Kommunikation zwischen den nationalen Polizeibehörden keinen großen Erfolg. Die Verfolgung von Eigentumstätern hatte keine Priorität und verlief daher häufig im Sand. Durch die Mobilisierung der Bevölkerung auch in Österreich und der Schweiz erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit einer Festnahme ganz erheblich. Die Choreografie der Sendung unterstrich die E∏zienz der internationalen Verbrechersuche via Fernsehen. Mit kurzen Schaltungen in die Aufnahmestudios in Wien und Zürich wurden die Zuschauer über die neuesten Spuren informiert, die zur Auf klärung selbst der deutschen Fälle aus dem benachbarten Ausland einliefen. Für Zimmermann war diese internationale Dimension seiner Sendung ein zentrales Element. Schon Ende der 1960er-Jahre träumte er von einer Fernseh-Interpol: „Ein weltweites XY -Programm, von Nachrichtensatelliten übermittelt, braucht deshalb kaum als Utopie bezeichnet zu werden. Denn auch das wachsende internationale Gangstertum bewegt sich innerhalb weniger Stunden von Kontinent zu Kontinent.“13 Zimmermann war mit seiner Sendung auch in einer anderen Hinsicht grenzüberschreitend tätig. Aus seiner Sicht war die Überbrückung des Kommunikationsdefizits zwischen Polizei und Bürgern innerhalb Deutschlands ebenso wichtig wie die Überwindung von Staatsgrenzen bei der Personenfahndung. Aufgrund der geringen Präsenz einer motorisierten Polizei im ö≠entlichen Raum reduzierten sich die Kontakte mit den Bürgern und der Druck auf die Straftäter. Zimmermann zitierte einen so genannten Geldschränker, der meinte, nur gute Erfahrungen mit der deutschen Polizei gemacht zu haben: „Vor der motorisierten Polizeistreife hatte ich nie Furcht. Polizeifunk habe ich während der Arbeit mitgehört.“14 Wenn schon die Polizei wegen ihrer neuen Strategie keine Beobachtungen mehr machen konnte, die zur Auf klärung von Straftaten führten, wollte Zimmermann wenigstens die zufälligen Wahrnehmungen der einzelnen Zuschauer zur Auf klärung von Kriminalfällen mobilisieren. Bereits die sechste Sendung konnte einen wirklichen Erfolg verbuchen. Der Mord an einem Zeitungsverleger wurde aufgrund eines Zuschauerhinweises aufgeklärt. Zwölf Stunden nach der Ausstrahlung der Sendung war der Täter bereits im Polizeigewahrsam. Zimmermann bezeichnete seine Sendung in Anlehnung an das er-
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folgreiche amerikanische Vorbild als „unsichtbares Netz, das zehnmal im Jahr durch die Fischgründe der Unterwelt gezogen wird“. Diese Analogie erscheint auf den ersten Blick seltsam, weil ja ein Fischer selten einen ganz bestimmten Fisch im Auge hat. Erst wenn man die Erfolgsbilanz von Zimmermann analysiert, wird seine Metapher plausibel. Denn die Hinweise auf einzelne Täter bezogen sich häufig auf Verbrecher, nach denen gar nicht gefahndet wurde. Bei der polizeilichen Nachbearbeitung der Informationen blieben daher zahlreiche Täter im Netz der Polizei hängen. Für die Fahndung nach den in der Sendung ausgeschriebenen Straftätern selbst erscheint eine zweite Metapher zutre≠ender, die Zimmermann in seiner Selbstdarstellung benutzte. Dabei verglich er die Fernsehfahndung mit einer elektronischen Datenbank, die bereits fertig erstellt war und auf die man nur mit den geeigneten Mitteln zugreifen musste.15 Der Zugri≠ auf diese ‚Datenbank‘ unterlag eigenen Gesetzen, wie Zimmermann selbst betonte. Es handelte sich um zwei eng miteinander verbundene Herausforderungen. Erstens musste das Interesse der Bevölkerung geweckt werden. Dazu setzte man wie bereits die Presse der Jahrhundertwende auf Dramatisierung. Für Zimmermanns Sendung bedeutete das konkret den Rückgri≠ auf das Genre des Krimis, um die Fälle möglichst lebensnah und spannend vermitteln zu können. Anders als in den Sendereihen Dragnet und Stahlnetz wurden keine Krimis produziert, sondern in mehreren Kurzfilmen einzelne Straftaten anschaulich rekonstruiert. Zweitens sollte diese Rekonstruktion den Zuschauern Anhaltspunkte bieten, mit denen sie ihre zufällig gemachten Wahrnehmungen wieder in Erinnerung rufen konnten. Um diesen Prozess zu erleichtern, stellten Zimmermann und die für die Bearbeitung der Fälle verantwortlichen Polizeibeamten eine Reihe von konkreten Fragen, wie über den Verbleib von geraubten Gegenständen, die Herkunft von Kleidungsstücken etc. Diese Verbindung von filmischer Rekonstruktion und sachlicher Polizeiarbeit war ein Erfolgsrezept im Hinblick auf den Fahndungserfolg und die Einschaltquoten. Die Ö≠entlichkeit, an die sich die Kriminalisten mit Hilfe von Presse, Plakaten und Fernsehsendungen wandten, schloss immer auch die Verbrecher mit ein. Von der Publikation von Falschmeldungen bis hin zur gezielten Kontrolle der an die Presse übermittelten Informationen
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reichten die Strategien, mit denen die Ermittler seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf diese Herausforderung reagierten. Die Straftäter selbst interessierten sich lebhaft für die Berichterstattung, wie Eduard Zimmermann in seinem Buch über die ersten Folgen von Aktenzeichen XY … ungelöst betonte.16 In der Fernsehfahndung erwähnt zu sein, konnte unterschiedliche Reaktionen hervorrufen – von der raschen Flucht bis hin zum Gang zur Polizei. Im Jahr 1969 stellte sich ein Verbrecher selbst, weil ihm nach seiner Ausschreibung in der Fernsehfahndung jede weitere Flucht zwecklos erschien. Andere Straftäter baten wiederum die Redaktion um eine Kopie des Films, um ein Andenken an ‚ihren‘ Auftritt im Fernsehen zu erhalten. Diese vielfältigen Formen der Aneignung der Fahndung durch die Verbrecher kann man bis in die Zeit der Jahrhundertwende zurückverfolgen. Philipp Müller präsentiert in seiner Studie zur Pressearbeit der wilhelminischen Polizei und ihrer Rezeption in der Bevölkerung eine ähnlich eigensinnige Aneignung der Berichterstattung durch die Verbrecher anhand einer Karikatur von Heinrich Zille, einem Mitarbeiter der politisch-satirischen Wochenschrift Simplicissimus. Dort wird ein Einbrecher in einem Ka≠eehaus im Kreis seiner Genossen gezeigt, wie er in der Zeitung nach der „Rezension“ von seinem letzten Einbruch sucht.17 Ö≠entlichkeitsfahndung und Persönlichkeitsschutz Der sächsische Kriminalist Friedrich Eberhardt drückte im Jahr 1840 ein Verständnis von Ö≠entlichkeitsfahndung aus, mit dem noch die Strafverfolger der Nachkriegszeit übereinstimmten: „Wer von der Bahn der Ehrlichkeit abweicht, mag sich auch gefallen lassen, daß ihm der gebührende Platz im allgem[einen] Pol[izei]-Anz[eiger] angewiesen werde.“18 Eduard Zimmermann lehnte mit ganz ähnlichen Argumenten die Vorwürfe von Kritikern ab, dass seine Sendung die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten verletze und vor allem die Beschuldigten einer unzulässigen Bloßstellung aussetze. Diese Kritik konterte er mit dem Hinweis auf die Schutzbedürfnisse der Geschädigten und der Gesellschaft sowie auf die positiven Auswirkungen der Fahndung auf den Täter. Durch eine rasche Beendigung der kriminellen Karriere stehe der Weg o≠en für die spätere Resozialisierung.19
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Friedrich Eberhardt konnte seine kriminaltaktischen Überlegungen zur Ö≠entlichkeitsfahndung frei von den Beschränkungen der Strafprozessordnung entwickeln. Seit dem späten 19. Jahrhundert waren die Kriminalisten glücklicherweise durch die Reichsstrafprozessordnung von 1879 in ihrem Handlungsspielraum beschränkt. Dort wurde festgelegt, wann und wie eine Person durch Steckbrief gesucht und wie die Ö≠entlichkeit dabei eingeschaltet werden konnte. Die Mobilisierung der Bevölkerung war immer dann gestattet, wenn die zu verhaftende Person flüchtig oder aus dem Gefängnis entflohen war. Diese strafprozessualen Grundlagen für die ö≠entliche Fahndung blieben in der Weimarer Republik und auch während des Dritten Reiches weitgehend unverändert bestehen. In der Strafprozessordnung der Bundesrepublik wurden diese Bestimmungen mit einigen sprachlichen Änderungen übernommen. Der Erlass eines Steckbriefes war und ist nur aufgrund eines Haft- bzw. Unterbringungsbefehls zulässig. Dafür ist das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts und eines besonderen Haftgrundes, wie beispielsweise die Gefahr von Flucht oder Verbergen notwendig. Wenn die Ö≠entlichkeit in die Fahndung einbezogen wird, verletzt die Polizei den Grundsatz der Nichtö≠entlichkeit des Ermittlungsverfahrens und greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten ein, da Fahndungsaufrufe in hohem Maße zu seiner Rufschädigung führen können. Die Ö≠entlichkeitsfahndung verletzt außerdem das Recht am eigenen Bild, das durch das Kunsturhebergesetz normativ festgelegt ist, sowie das Recht auf Namensanonymität. Das ist nur dann zulässig, wenn das Interesse der Allgemeinheit eindeutig gegenüber den berechtigten Anliegen der Betro≠enen dominiert. In einem Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main zur Klage gegen die Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst wurde im August 1970 festgestellt, dass die Redaktion den Namen und das Bild von Tatverdächtigen verö≠entlichen dürfe, weil es sich dabei um Personen der Zeitgeschichte handle und die Allgemeinheit ein begründetes Interesse am Aufdecken ihrer Identität habe.20 Die ö≠entliche Fahndung der Nachkriegszeit ist noch weiteren verfassungsmäßigen Einschränkungen unterworfen, mit denen sich Eduard Zimmermann in seiner Selbstdarstellung immer wieder auseinander gesetzt hat. Die Unschuldsvermutung verlangt die Rücksichtnahme
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auf die Stellung der Verdächtigen in der Ö≠entlichkeit und in seinen sozialen Beziehungen. Deshalb ist in diesem Bereich vor allem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, bei dem es sich um einen Grundsatz mit Verfassungsrang handelt. Konkret bedeutet dies, dass die Ö≠entlichkeitsfahndung geeignet sein muss, die Ermittlungen in dem bestimmten Fall so zu fördern, dass der dadurch entstehende Nachteil für den Betro≠enen in Kauf genommen werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch der Grundsatz der Subsidiarität zu bedenken: Angesichts der weit reichenden negativen Folgen für den Betro≠enen kann dieser von den Ermittlern erwarten, dass sie alle anderen, weniger einschneidenden Fahndungsmittel ausschöpfen, bevor sie auf die Ö≠entlichkeitsfahndung zugreifen bzw. diese erst dann einsetzen, wenn eine aktuelle Gefahr besteht. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive verbietet sich daher der Einsatz der Ö≠entlichkeitsfahndung in Fällen von Bagatelldelikten. Die Ö≠entlichkeitsfahndung befindet sich am Kreuzungspunkt unterschiedlicher Interessen: der Kriminalistik, der Medien und dem rechtlichen Schutz der Persönlichkeit. In diesem Spannungsfeld entwickelten sich Praktiken, die ein untrennbarer Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte geworden sind. Um sie rechtlich abzusichern, beschlossen die Justizminister des Bundes und der Länder im Jahr 1973 eine Art Gebrauchsanweisung für die Nutzung der Medien bei der Personenfahndung, die von der Konferenz der Innenminister für die Polizeibehörden verabschiedet wurde. 14 Jahre später folgte eine Vereinbarung zwischen ARD/ZDF und den Justizministern für die bundesweite Ausstrahlung von Fahndungsmeldungen im Fernsehen. Innerhalb dieses normativen Rahmens müssen die konkreten Formen der Ö≠entlichkeitsfahndung in der Auseinandersetzung zwischen Medienvertretern und der Kriminalistik entwickelt werden. Die Institutionalisierung dieses Dialogs in der Deutschen Kriminal-Fachkommission durch Eduard Zimmermann versprach Kontinuität bei gleich bleibender Flexibilität. Aus der Perspektive der Kriminalistik stellte die Einschaltung der Ö≠entlichkeit via Medien eine echte Herausforderung dar, weil sie tendenziell die polizeiliche Rekonstruktion des Sachverhalts mit beeinflusst. Die Möglichkeit der Fernsehfahndung sollte in der Bearbeitung eines Falles bereits antizipiert werden, wie Zimmermann
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empfahl: „So muß heute jeder Kriminalbeamte bei der Bearbeitung seines Falles auf mögliche ‚Ansatzpunkte‘ für eine spätere Fernsehfahndung achten […] Die Praxis der ersten zwanzig Sendungen hat gezeigt, daß diese Ansatzpunkte, die in konkrete Fragen an ein Millionenpublikum umzuwandeln sind, nicht selten erst ermittelt werden müssen.“21
8. „Kommissar Computer“ und die Rasterfahndung Polizeiliche Fahndung beruhte schon im 19. Jahrhundert auf dem systematischen Sammeln, Verknüpfen und Auswerten von Daten unterschiedlicher Herkunft. Dadurch wurde die Identität von Verdächtigen ermittelt, nach flüchtigen Straftätern gefahndet und Verbrechen aufgeklärt. Der Zugri≠ auf die Daten verbesserte sich durch die Einführung von Karteikarten als flexiblem Speichermedium. Die Karteikarten konnten beliebig angeordnet werden und bildeten die Grundlage eines Verweissystems, das die Datenbank des 20. Jahrhunderts bereits vorwegnahm. Mit der raschen Zunahme der registrierten Daten vor allem in der Nachkriegszeit wurde die manuelle Suche jedoch immer aufwändiger. Angesichts dieser Probleme ist das frühe Interesse der deutschen Polizei an einem Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung nicht überraschend. Bereits im Jahr 1960 präsentierte das Unternehmen IBM der Kriminalpolizei eine Anlage zur rationalisierten Bearbeitung umfangreicher Datenbestände. Darauf hin führte das LKA Berlin eine Untersuchung zu den Möglichkeiten der Automatisierung der kriminalpolizeilichen Datenverarbeitung durch, deren Ergebnisse im Folgejahr auf einer Arbeitstagung der Polizeiakademie Hiltrup diskutiert wurden. Zu einer Zeit, als Großunternehmen, Universitäten und Großforschungseinrichtungen in Deutschland gerade erst begannen, elektronische Datenverarbeitungsanlagen zu nutzen, hatte die Polizei somit schon erste Erfahrungen gesammelt. Die Computer jener Zeit waren mit den heutigen Rechnern indes nicht vergleichbar. Sie nutzten als Eingabe Lochkarten, die auf einem Erfassungsgerät gestanzt werden mussten. Trotz ihrer nach heutigen
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Maßstäben geringen Rechen- und Speicherleistung füllten diese Anlagen große Räume und waren sehr kostspielig – zwischen 200 000 und sechs Millionen DM. Programme für die Durchführung der geplanten Aufgaben mussten von Experten für jeden Abnehmer programmiert und installiert werden. Die Ausrüstung der Polizei mit EDV -Anlagen war daher eine erhebliche finanzielle Investition und eine logistische Herausforderung. Im Jahr 1966 sprach sich die Ständige Konferenz der Innenminister für eine rasche bundesweite Einführung von EDV -Anlagen aus. Das erforderte organisatorische Vorbereitungen und Trainingsprogramme im Bereich der Polizeizentralen sowie einen intensiven Austausch mit Softwareexperten, um Programme für die spezifischen Zwecke der Polizei zu entwickeln. Die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung erforderte weit reichende Entscheidungen, da die gewählte Programmlogik die Zugri≠smöglichkeiten auf die vorhandenen und noch zu erstellenden Datenbestände vorgab. Im Allgemeinen wurde die Integration der neuen Technologie dadurch erleichtert, dass die Nutzung von zentralen Großrechenanlagen mit der Funktionslogik der deutschen Polizei übereinstimmte. Denn vor der Einführung der Personalcomputer wurde Rechenleistung in zentralen Einrichtungen bereitgestellt, die gegenüber nicht autorisiertem Zugri≠ abgeschottet waren. Entwicklung und Ausbau elektronischer Informationssysteme Bereits vor Einführung der EDV hatte die Polizei auf eine zentralisierte Auf bereitung, Speicherung und Bereitstellung von wichtigen Daten in den Landeskriminalämtern sowie im Bundeskriminalamt gesetzt. Das BKA in Wiesbaden wurde 1951 als Informations- und Kommunikationszentrale der deutschen Polizei gegründet. Bis zur Einführung der Computer galt das Amt als eine so genannte Brief kastenbehörde, weil die Beamten mit der manuellen Erfassung und Registrierung von mehreren Millionen Nachweisen über Straftaten und Straftäter vollauf beschäftigt waren. Erst die Umstellung auf elektronische Datenverarbeitung erö≠nete neue Möglichkeiten der Fahndung, aber auch der kriminologischen Auswertung der gesammelten Informationen. Die systematische Nutzung des Computers innerhalb der Polizei ist
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eng verbunden mit der Person von Horst Herold, von seinen Kollegen als „Kommissar Computer“ bezeichnet. Herold war technikbegeistert und zeigte sich o≠en für neue Lösungen der Verbrechensbekämpfung. Nachdem er mit innovativen Fahndungsmethoden als Polizeipräsident von Nürnberg auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde er 1971 als BKA -Chef berufen. Dort war er maßgeblich für die Entwicklung des immer noch verwendeten digitalen Informationssystems der Polizei, INPOL , verantwortlich. INPOL enthält eine kontinuierlich aktualisierte Zusammenstellung aller gesuchten Personen und Sachen, die über externe Datensichtgeräte abgerufen werden können. Es wurde 1972 in Betrieb genommen und führte zu einem raschen Anstieg der Festnahmen vor allem bei Grenzkontrollen. Aufgrund dieser Anfangserfolge wurden zusätzliche Mittel für den weiteren Ausbau der EDV -Infrastruktur im BKA bewilligt. Die terroristischen Anschläge der 1970er-Jahre führten zu weiteren Investitionen in den Ausbau der polizeilichen Infrastruktur. Das Personal des Bundeskriminalamtes wurde zwischen 1970 und 1980 beinahe verdreifacht; es wuchs von 1200 auf knapp 3400 Planstellen. Nach der Geiselnahme bei den Olympischen Spielen von München (1972) gründete die Bundesregierung eine Spezialabteilung des Bundesgrenzschutzes: Die GSG 9 war für die Bekämpfung von Terrorismus und schwerster Gewaltkriminalität vorgesehen. Bei der Befreiung von Geiseln aus einem entführten Lufthansaflugzeug auf dem Flughafen von Mogadischu wurde diese Spezialtruppe 1977 erstmals eingesetzt und begründete den ihr bis heute anhaftenden Mythos. Die Polizei sah sich mit schwierigen Herausforderungen konfrontiert: neue Formen der organisierten Kriminalität, Rauschgifthandel im großen Stil – als ein globaler Wirtschaftszweig mit enormen Gewinnspannen – und Terrorismus in der Form militärischer Kommandounternehmen. Die Antwort des BKA auf diese Bedrohungen war eine erhebliche Erweiterung der im BKA gesammelten Daten. In der speziell für den Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität entwickelten Datenbank PIOS (Personen, Institutionen, Objekte, Sachen), die als Ergänzung zu INPOL gescha≠en wurde, waren Ende der 1970er-Jahre mehr als zehn Millionen Fallakten mit Informationen zu 330 000 Personen gespeichert. Dadurch erhielten die Kriminalisten einen flexiblen
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Zugri≠ auf eine große Zahl selbst jener Personen, die nicht direkt mit Straftaten bzw. terroristischen Anschlägen in Verbindung standen. Herolds Sammelwut beschränkte sich nicht nur auf den Bereich der Terrorismusbekämpfung, sondern zielte auch auf eine möglichst umfassende Dokumentation über Kriminalität und Kriminelle. Dadurch, so Herold, könne eine nicht nur reaktiv orientierte Polizei neue Strategien für die Bekämpfung und Vorbeugung von Verbrechen entwickeln. Gegen diese Ansprüche regten sich kritische Stimmen. Sie betrafen den fehlenden Datenschutz, die anmaßende Hybris der technokratischen Sozialplanung, die in diesen Projekten zum Ausdruck kam, und Herolds Bekenntnis zu einem demokratisch legitimierten, aber gleichzeitig bevormundenden Sozial- und Sicherheitsstaat, der in das Leben der Bürger gestaltend eingri≠. Herold begründete die Notwendigkeit der neuen Fahndungsstrategien mit dem Hinweis auf die Anonymität der Großstädte und das Fehlen sozialer Kontrolle, mit dem Zwang zur grenzüberschreitenden Kooperation im Kampf gegen einen international organisierten Terrorismus und schließlich mit der Objektivität des Sachbeweises. Seinen Kritikern ging es nicht so sehr um polizeiliche E∏zienz, sondern um das demokratische Grundrecht der „informationellen Selbstbestimmung“, das im Bundesverfassungsgerichtsurteil des Jahres 1983 zur Volkszählung normativ festgeschrieben wurde. Selbst ein wohlmeinender Staat dürfe nicht nach Belieben Informationen über seine Bürger einholen und verwenden – sonst drohe politischer Konformismus und Subordination. Demokratisch könne nur eine Gesellschaft sein, die sich an den Chancen und Risiken der informationellen Selbstbestimmung entlang entfaltet und beständig neu bewährt.1 Terroristenjagd mit neuen Methoden Am 9. Juni 1979 war der RAF -Terrorist Rolf Heißler unterwegs zu einer Wohnung in der Frankfurter Textorstraße 79. Er hatte bereits als Terrorist Hafterfahrung gesammelt, nachdem er in Berlin wegen Mordversuchs und Bankraubs verurteilt worden war. Heißler wurde vorzeitig aus der Haft entlassen; durch die Entführung des Berliner CDU -Spitzenkandidaten Peter Lorenz war er 1975 gemeinsam mit anderen Häft-
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24 Der RAF-Terrorist Rolf Heißler auf einem Fahndungsfoto.
lingen freigepresst und in den Südjemen ausgeflogen worden. Nach seiner illegalen Rückreise in die BRD war er an der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer beteiligt; zudem wurde ihm der Tod von Grenzbeamten zur Last gelegt, die nach einem Schusswechsel an der deutsch-niederländischen Grenze im Jahr 1978 gestorben waren. Aufgrund dieser Straftaten und seiner Mitgliedschaft in der RAF zählte Rolf Heißler in den späten 1970er-Jahren zu den meistgesuchten Personen Deutschlands. In seiner Wohnung wartete bereits die Polizei auf Heißler. Beim Eintritt wurde er durch einen Kopfschuss getro≠en und schwer verletzt verhaftet. Drei Jahre später verurteilte ihn ein Gericht zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe. Im Jahr 2001 konnte er das Gefängnis auf Bewährung verlassen. Zur Verhaftung hatte weder ein Hinweis aus der Bevölkerung noch Verrat aus der Terroristen- oder Sympathisantenszene geführt: Es waren vielmehr der Computer und eine rechen- wie arbeitsintensive
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Auswertung von unterschiedlichen Datenbeständen, die die Polizei auf die Spur der konspirativen Wohnung und dadurch zu Heißler selbst gebracht hatten. Dass die vorangegangene Ö≠entlichkeitsfahndung ohne Ergebnis geblieben war, lag nicht im Desinteresse der Bevölkerung begründet. Mit Plakaten hatte die Polizei um Mitarbeit bei der Fahndung nach Terroristen geworben. Nach den Terroranschlägen im so genannten Deutschen Herbst des Jahres 1977, d. h. nach den Entführungen von Schleyer und einer Lufthansamaschine, reagierten Bevölkerung wie Polizei mit einer „Vertiefung des Wir-Gefühls“, wie der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt feststellte. Die Teilnahme der Bevölkerung an der Fahndung nach den Terroristen brachte jedoch diesmal keinen Erfolg. Die Ö≠entlichkeitsfahndung war von demselben Dilemma bestimmt wie die kriminalpolizeiliche Ermittlung selbst: Die Täter waren sozial unauffällig, verwendeten ausgesprochen gut gefälschte Dokumente und veränderten ebenso häufig wie gezielt ihr äußeres Erscheinungsbild, worauf die Polizei auf den Fahndungsplakaten aufmerksam machte. Die Gesuchten hatten außerdem jede Verbindung zu ihrem früheren sozialen Milieu abgebrochen und stützten sich stattdessen auf ein konspiratives Netzwerk von Kombattanten und Sympathisanten. Mit herkömmlichen Fahndungsmitteln ließ sich diesen Tätern nicht beikommen. Sie erregten in den anonymen Wohngegenden der Großstädte keinen Verdacht, weil sie sich den Erwartungen der Nachbarn, Hausmeister und auch der Polizei gemäß verhielten: Sie bezahlten ihre Miete und auch andere Rechnungen, fuhren nicht schwarz und gingen regelmäßig zum Friseur. Sie ließen sich aber durch eine Kombination von unterschiedlichen Fahndungsmethoden und der Auswertung verschiedenster Datenbestände einkreisen – das war zumindest die Ho≠nung von Horst Herold, dem Chef des BKA. Denn selbst ein sozial angepasstes Verhalten und täuschend echte Ausweisdokumente waren nicht genug, um eine bürokratische Normalexistenz zu führen. Ausgehend von diesen Überlegungen entwarf Herold das Konzept der negativen Rasterfahndung, das bei der Jagd nach Terroristen indes nur einen einzigen Fahndungserfolg ermöglichte: die Festnahme von Rolf Heißler in Frankfurt. Das Konzept ist zunächst überzeugend einfach. Auf Basis einer reflektierten Vorstellung der so genannten Nor-
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malexistenz erarbeitet der Kriminalist eine Reihe von Merkmalen, die für einen Verdächtigen typisch sind. Die negative Rasterfahndung geht davon aus, dass die Terroristen bzw. die Hintermänner der Rauschgiftkriminalität nicht alle Verhaltensmuster ihrer Umwelt übernehmen können. Beispielsweise können sie sich nicht beim Meldeamt registrieren lassen, kein Fahrzeug anmelden und kein Konto erö≠nen, weil sie damit die Polizei auf sich aufmerksam machen könnten. Bei hundertprozentig korrekten Meldeverhältnissen fallen zwangsläufig die Fehldaten des nicht gemeldeten Terroristen heraus.2 Ein solcher Zugri≠ auf die Verdächtigen kehrte das Prinzip der Fahndung um. Bisher suchte man in den polizeilichen Datenbeständen und auch in den Registern der Meldeämter bzw. den Verzeichnissen von Transport- und Beherbergungsunternehmen gezielt nach solchen Personen, die zur Fahndung ausgeschrieben waren. Bei der Suche nach den Terroristen anhand der negativen Rasterfahndung durchsuchte man hingegen eine Vielzahl von Datenbanken, um all jene Personen auszusortieren, die nicht mit den Suchkriterien übereinstimmten. Am Ende der Suche blieb eine Gruppe von Personen übrig, deren Umfang von der Präzision der Suchanfrage abhing und die mit herkömmlichen Fahndungs- und Beobachtungsmethoden weiter ‚bearbeitet‘ wurden. Im Fall der Fahndung nach Heißler wurde die Maschinerie der Rasterfahndung durch einen Zufallsfund in Gang gesetzt. In einer anderen konspirativen Wohnung hatten die Ermittler Frankfurter Zeitungen mit Inseraten von Mietwohnungen entdeckt. Darauf wurde das BKAFahndungsprogramm Annoncen in Gang gesetzt, in dessen Verlauf alle Mieter und Vermieter von Ein- bis Dreizimmer-Wohnungen in Frankfurt am Main überprüft wurden. Die Kriminalisten versuchten gezielt, unverdächtige Personen aus der Fahndung auszuschließen. Das geschah durch einen systematischen Datenabgleich mit den Einwohnerund Fernmeldeämtern, Elektrizitätsgesellschaften, Postämtern, Banken und dem Grundbuchamt. So wurden von den 16 000 Bürgern, die ihre Rechnung bar bezahlten, diejenigen ausgerastert, die beim Einwohnermeldeamt verzeichnet waren, als Führerscheinbesitzer oder Fahrzeughalter registriert waren oder Kindergeld bezogen. Die Kriminaltechnik des BKA verglich per Computer die Unterschriften auf Meldezetteln und Bankformularen mit gespeicherten Schriftsätzen. Und
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schließlich wurden die Daten der als nicht gemeldet identifizierten Personen mit dem gesamten Datenbestand des BKA abgeglichen. Die Rasterfahndung war möglich, weil die zunehmende Automatisierung der Verwaltung und der Versorgungsunternehmen einen rasch wachsenden Datenbestand gescha≠en hatte, in dem die deutschen Bürger in unterschiedlicher Form registriert waren. Wegen der akuten terroristischen Bedrohung gab es zunächst keine grundsätzliche Debatte über die Nutzung dieser Daten. Die konservative Einstellung zu diesem Problem brachte Friedrich Zimmermann, als Bundesinnenminister auch für den Datenschutz zuständig, in den 1980er-Jahren mit dem Bonmot „Datenschutz ist Täterschutz“ zum Ausdruck.3 Die Polizei konnte sich selbst in Zeiten der Rasterfahndung nicht gänzlich hinter ihre Computer zurückziehen. Viele Informationen mussten vor Ort abgeklärt werden, bevor man eine konspirative Wohnung identifizieren konnte. Dazu schwärmten die Kriminalisten aus, um Briefträger, Hausmeister, Nachbarn und solche Personen zu befragen, die selbst in der Anonymität der Großstadt noch über gewisse persönliche Kontakte zu den Gesuchten verfügen konnten. Diese Ermittlungen waren mit der herkömmlichen Logik einer polizeilichen Arbeit nicht zu begründen. Sie bezogen sich nämlich auf Personen, die nicht in Zusammenhang mit Straftaten gebracht werden konnten, sondern deren bürokratische Existenz bestimmte Suchkriterien erfüllte. Die grundsätzliche Problematik dieses Vorgehens veranschaulicht ein Fall im Zusammenhang mit Annonce, der in der Presse ausführlich diskutiert wurde, weil eine Journalistin persönlich davon betro≠en war. Sie hatte eine Zweitwohnung im Frankfurter Westend gemietet und sich bei der Meldestelle erkundigt, ob sie sich auch dort polizeilich anmelden müsste. Sie erhielt eine falsche Auskunft und verzichtete auf die Anmeldung. Dadurch geriet sie in die Maschen des Fahndungsnetzes. Polizisten kamen in das Haus und erkundigten sich bei der Hausmeisterin nach Familienstand, Lebenswandel, Beruf und Arbeitgeber der Frau und ermahnten die Informantin zur Verschwiegenheit. Auch wenn der Verdacht in diesem Fall schnell ausgeräumt war, hinterließ er im sozialen Umfeld der Verdächtigten seine Spuren, obwohl sich der Verdacht aufgrund von Verhaltensweisen ergeben hatte, die mit der Tat in keinerlei ursächlichem Zusammenhang standen. Der Meldepflicht verweiger-
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ten sich eben nicht nur Terroristen und die Barzahlung von Miete und Stromrechnung war nicht ungewöhnlich. Die verdeckte Ermittlung unter strikter Geheimhaltung, die den Befragten die Logik des Verfahrens nicht transparent machte, verstärkte die negativen Folgen für die Betro≠enen. „Werden Sie bitte nicht radikal!“ Folgenreicher konnte die Rasterfahndung für diejenigen Personen sein, die bereits in den Datenbeständen von Polizei und Verfassungsschutz gespeichert waren. Das Fahndungskonzept des BKA beruhte ja auf der Annahme, dass sich die Terroristen auf ein Netzwerk von scheinlegalen Helfern stützten, zu dem Herold etwa sechshundert bis siebenhundert Personen zählte. Sie mussten anhand von polizeilichen Ermittlungen, Befragungen und Hinweisen aus der Bevölkerung ausgeforscht und, wenn bekannt, auch überwacht werden.4 Das BKA erfasste seit 1973 systematisch die so genannten Kommunarden, d. h. die Bewohner von Wohngemeinschaften. Dabei wurden bis 1979 in der Bundesrepublik tausend Wohngemeinschaften mit etwa viertausend Bewohnern registriert. Ebenfalls in das Aufmerksamkeitsraster der Polizei gerieten die Gegner von Kernkraftwerken und atomaren Wiederaufarbeitungsanlagen, die Mitglieder von politischen Organisationen, Bürgerinitiativen und bestimmten Vereinen, die Betreuer politischer Häftlinge sowie die Mitarbeiter von amnesty international. Wer an politischen Kundgebungen teilnahm, Flugblätter verteilte oder auch nur sein Auto in der Nähe kommunistischer Versammlungen parkte, lief Gefahr, einen Eintrag in den polizeilichen Datenbeständen zu erhalten und dadurch erhebliche Behinderungen in der späteren Berufskarriere in Kauf nehmen zu müssen. Im Januar 1972 trat der „Radikalenerlass“ (auch Extremistenbeschluss genannt) in Kraft. Er verbot die Aufnahme jener Bewerber in den ö≠entlichen Dienst, die in verfassungsfeindliche Aktivitäten verstrickt waren. Um die Loyalität der Bewerber zu prüfen, wurden Anfragen an NADIS , das Nachrichtendienstliche Informationssystem, gerichtet. Dort fanden sich auch Einträge der Staatsschutzabteilung des BKA . Bis zum Ende der 1970er-Jahre waren in den Informationssystemen der Polizei von Bund und Ländern Anga-
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ben zu etwa drei Millionen Bundesbürgern gespeichert.5 Diese Daten entfalteten ein Eigenleben, indem sie die Aufmerksamkeit der Polizei auf die Betro≠enen lenkte und diese dadurch erheblichen Einschränkungen und Belästigungen unterwarf, wie ein Fall aus der Bremer AntiAKW-Szene deutlich macht. Der Rechtsanwalt Heinrich Hannover berichtet in seinen Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts von einem Fall in Bremen, der die möglichen Unannehmlichkeiten dieser Erfassungspraxis sehr gut verdeutlicht. Im Juni 1982 bemerkten die Bewohner einer Wohngemeinschaft, dass sich der Verfassungsschutz intensiv für sie interessierte. Im gegenüberliegenden Haus wurde ein Observationstrupp installiert, der die Aktivitäten der jungen Bremer mit Fotoapparaten und Videokameras nachrichtendienstlich festhielt. Dagegen wehrten sich die Betro≠enen zuerst mit Gegenobservation, schließlich – nach einer Woche Dauerstress – mit der Konfrontation der Agenten. Als sich einige Bewohner der observierten Wohngemeinschaft Zutritt zur Beobachtungsstelle verscha≠ten, rief eine der Agentinnen angstvoll: „Werden Sie bitte nicht radikal!“ – und dachte dabei sicherlich nicht an die Bestimmungen des Radikalenerlasses. Bei dieser Aktion wurden die Observationsgeräte zerstört. Dies war jedoch nicht der eigentliche Grund für die massive Gegenreaktion der Polizei, die zweimal die Wohngemeinschaft vollständig durchsuchte. Gefahndet wurde zuerst nach den vertraulichen Unterlagen des Verfassungsschutzes, die den ‚Radikalen‘ in die Hände gefallen waren, und später nach Sprengsto≠. Es stellte sich heraus, dass die jungen Leute durch eine Rasterfahndung zum Objekt verfassungsschützerischer Neugierde geworden waren. Die BKA -Datenbank PIOS hatte die Bewohner der Wohngemeinschaft gespeichert, weil sie schon mehrfach durch Proteste gegen Atomkraftwerke und Militärtransporte sowie durch Mitarbeit in Bürgerinitiativen aufgefallen waren. Als nun im April 1981 zwei Sprengsto≠anschläge auf Hochspannungsmasten in der Nähe des Kernkraftwerkes Unterweser verübt worden waren, suchte die Polizei in PIOS nach möglichen Verdächtigen. Die Bewohner der Graudenzer Straße 26 zählten dazu.6 Die Polizei lag grundsätzlich nicht völlig falsch mit ihrem Generalverdacht gegen die linke Szene von Hausbesetzern, Wohngemeinschaf-
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ten, politischen Aktivisten und gegenkulturellen Bohemiens. Aus diesem Milieu rekrutierten sich viele spätere Terroristen, was aber nicht bedeutete, dass alle diese Personen die RAF und andere gewaltbereite Gruppierungen aktiv unterstützten. Die Polizei war noch einem Denkschema verhaftet, das kein pluralistisches Verständnis von sozialer Normalität und politischer Aktivität kannte und daher die gewandelten gesellschaftlichen Normen und Werte nicht berücksichtigen konnte. Im Fall der Bremer Wohngemeinschaft drückte sich dieser ‚Generationenkonflikt‘ in der Verteidigung des Verfassungsschutzes durch die Vertreter der politischen Parteien aus, während sich die Jungsozialisten vehement und ö≠entlich gegen diese Praktiken der Bespitzelung wandten. Mit dem Historiker Klaus Weinhauer kann man von dem Paradoxon des deutschen Terrorismus sprechen. Der Kampf gegen die RAF führte kurzzeitig zu einer Verstärkung der Solidarität mit dem Staat, langfristig aber zu einer Skepsis gegenüber seinen sichernden und gestaltenden Eingri≠en in das Leben der Bürger. Als Beleg für diese These kann man auf das Interesse für den Datenschutz, die neuen Formen von politischem Aktivismus in Basisgruppen mit konkreten Anliegen sowie auf ein neues Verständnis von Staat und Gesellschaft hinweisen, in dem politische Zielvorstellungen auch außerhalb der etablierten Strukturen von Partei und Interessenverbänden verfolgt werden. Die Rasterfahndung und ihre Vorläufer im 19. Jahrhundert Die Rasterfahndung ist untrennbar mit dem Namen ihres Erfinders, Horst Herold, verbunden. Als Polizeipräsident von Nürnberg hatte er mit dem statistischen Verfahren der Kriminalgeografie den Einsatz der Polizei so e∏zient gestaltet, dass die Kriminalität zurückging. Dabei nutzte er einen neuen Blick auf die Daten, die über die Verbrechen in Nürnberg verfügbar waren, um darauf Präventions- und Fahndungsprogramme aufzubauen. Die Rasterfahndung übertrug dieses Prinzip auf die Fahndung nach unbekannten Straftätern. Beide Strategien entwarfen Tatorte und Täter als Träger von bestimmten Merkmalen. Herold hatte seine geistigen Väter in der deutschsprachigen Kriminalistik, die in der Diskussion um seine Rolle bei der Reorganisation des BKA kaum präsent sind. Seine systematische Erweiterung und Reorga-
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nisation der Daten zu Rechtsbrechern wäre ohne die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte Anpassung der polizeilichen Registratur an die Bedürfnisse der Polizei nicht möglich gewesen. Generalpolizeidirektor Carl Georg Ludwig Wermuth aus Hannover hatte 1846 die nach einzelnen Fällen aufgebaute Registratur seiner Behörde auf Personalakten von Straftätern und Verdächtigten umgestellt. Sein Ziel war es bereits damals, alles Wissenswerte zu einer verdächtigen Person in der polizeilichen Registratur abzuspeichern (s. Kapitel 4). Eine zweite Traditionslinie führt ebenfalls zurück in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Kriminalisten begannen, sich über die Art ihres Wirklichkeitsbezugs Gedanken zu machen. Sie betonten gegenüber den Juristen die Überlegenheit ihres praktischen Blicks auf soziale, rechtliche und politische Sachverhalte, weil aus ihrer Sicht das reflektierte und systematisierte Erfahrungswissen im Bereich der ‚bürgerlichen und natürlichen Ordnung der Dinge‘ eine bessere Orientierung bot als das juristische Norm- und Lehrbuchwissen.7 Der praktische Blick ermöglichte eine qualifizierte Unterscheidung zwischen tolerierbaren und gefährlichen Formen von abweichendem Verhalten.8 Auf dieser Grundlage suchten Herold und seine Mitstreiter entsprechend flexibel zwischen zulässiger politischer Kritik und unzulässiger verfassungsfeindlicher Aktivität zu unterscheiden. Die Normalitätsvorstellungen als wichtiges Element des praktischen Blicks boten bei der Rasterfahndung die Ansatzpunkte zur Formulierung von Fragen an die unterschiedlichen Datenbanken. Die Folgeleistung der Meldepflicht, die Bezahlung von Strom und anderen Versorgungsleistungen durch Bankeinzug etc. definierten den Normalbürger, der nicht im Raster der polizeilichen Fahndung hängen bleiben sollte. Wie die Raster konzipiert wurden und welche Handlungsräume davon umrissen wurden, hing von den Normalitätserwartungen der Beamten ab. Eine entscheidende Voraussetzung für die Praktikabilität dieses Verfahrens war die Übereinstimmung zwischen den Erwartungen der Fahnder und der sozialen Praxis. Der Generationenwechsel in der deutschen Polizei der 1970er-Jahre war in dieser Hinsicht von ganz entscheidender Bedeutung. Eine dritte Traditionslinie führt zu dem Grazer Kriminalisten Hans Gross, der in seinen einflussreichen Publikationen die Konzentration
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auf den Sachbeweis forderte. Ohne sich selbst als Nachfolger von Gross zu verstehen, bezeichnete Herold den Einsatz des Computers gemeinsam mit der Perfektion der Kriminaltechnik als den einzig gangbaren Weg zur Objektivierung des Strafverfahrens. Er fasste diese Vorstellungen programmatisch in der Ablehnung von menschlicher Beobachtung, Interpretation und Intuition zusammen: „Ich erstrebe einen Strafprozess, der […] frei ist von Zeugen und Sachverständigen. Der sich ausschließlich gründet auf dem wissenschaftlich nachprüf baren, meßbaren Sachbeweis […] auch der Richter [ist] entbehrlich.“9 Dieses Programm führte zu einer systematischen Klassifikation und Speicherung von Indizien, die mit Straftätern in Zusammenhang gebracht wurden. Die Leidenschaft für den Auf bau solcher Datenbestände teilte Herold mit Hans Schneickert, einem bekannten Kriminalisten der Weimarer Republik und des Dritten Reichs. Beide interessierten sich insbesondere für die Handschrift und legten entsprechende Datenbanken an. Im April 1979 enthielt die zentrale Handschriftensammlung des BKA bereits Proben von etwa 62 000 Personen, auch solche von „Nichtverdächtigen“.10 Ähnliche Sammlungen hatte Hans Schneickert in den 1920erJahren angelegt. Fritz Lang porträtierte Schneickert und seine Sammlungen in dem Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder. Er wird dort bei der Erstellung eines Gutachtens zur Handschrift des Mörders gezeigt: Schneickert diktiert seiner Sekretärin, während er vor einer langen Reihe von Registerschränken auf und ab schreitet. Die Verwendung von Registerschränken als einem traditionellen Verfahren zur Speicherung von Informationen markiert einen deutlichen Unterschied zu den kriminalistischen Praktiken, die Herold am BKA in den 1970er-Jahren einführte. Die EDV -Technologie ermöglichte nicht nur einen raschen Zugri≠ auf Informationen, die vorher mühsam aus den vielen Akten- und Karteischränken herausgesucht werden mussten. Sie erö≠nete auch die Möglichkeit der Verknüpfung von Daten in einem Ausmaß, das ohne dieses Hilfsmittel nicht vorstellbar war. Herold sah eine neue Ära der polizeilichen Fahndung entstehen: „Die früheren herkömmlichen, breitflächig angelegten Fahndungsmaßnahmen der Polizei mit ihren unausbleiblichen Eingri≠en in die Privatsphäre Unbetro≠ener werden mit Hilfe der modernen Technik grundrechtskonform durch nahezu klinisch-sterile Fahndungsformen ersetzt.“11
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Diese neuen Möglichkeiten stießen aber auf Widerstand bei kritischen Intellektuellen, die sich um den Schutz personenbezogener Daten als einem wichtigen Grundrecht der Demokratie sorgten. Technokrat mit politischen Ambitionen: Horst Herold Die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung wollte Herold noch in einer weiteren Hinsicht nutzen. Das analytische Potenzial der elektronischen Datenverarbeitung sollte nicht auf die Entwicklung neuer Fahndungsinstrumente beschränkt bleiben. Die Polizei musste laut Herold auch kriminologische Forschungen betreiben, um eine Führungsrolle bei der Entwicklung von kriminalpolitischen Programmen und bei der Reform des Rechtssystems spielen zu können: „In der deutschen Polizei, schätze ich, wird es vielleicht 15 Millionen Kriminalakten geben […] Das ganze Wissen liegt herum, nur wir wissen nicht, was wir eigentlich wissen. Daß man dieses Wissen nicht ausschöpfen und verbinden kann zu einem Gemälde der Gesellschaft! Dies würde doch die Möglichkeit einer Therapie erö≠nen. Oder anders gesagt: Was ich anstrebe, ist Polizei als gesellschaftliches Diagnoseinstrument.“12 Herold setzte mit den kriminologischen Ambitionen der Polizei neue Akzente. Seit dem späten 19. Jahrhundert hatten die Praktiker von Polizei und Strafvollzug keine aktive Rolle mehr in der Produktion von kriminologischem Wissen gespielt. Anders als seine Vorläufer setzte Herold auf die Nutzung moderner statistischer Verfahren. Mit den Methoden der Kriminalsoziologie und Kriminalpsychologie sollte sich das BKA mit dem Problem der Kriminalität analytisch auseinander setzen: „ […] ich kann auch Zusammenhänge feststellen wie Ehescheidung und Deliktshäufigkeit, Trinker und das verlassene Kind […] Ich kann ständig wie ein Arzt – deshalb das Wort gesellschaftssanitär – den Puls der Gesellschaft fühlen und mit Hilfe rationaler Einsichten unser Rechtssystem dynamisch halten.“13 Dadurch sollte die Polizei, konkret: das BKA , zusätzlich die Rolle des beratenden Experten für alle Projekte der Normsetzung und Kriminalitätsbekämpfung erhalten. Diese Rolle konnte die Polizei Herold zufolge übernehmen, weil die in den Polizeicomputern gespeicherten Daten eine systematische Beobachtung der Gesellschaft und ihrer Veränderungen ermöglichten. Des-
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halb würde die Polizei sensibel, rasch und zielgenau auf neue gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und diese anhand eines umfassenden Instrumentariums sozial- und sicherheitsstaatlicher Programme umgekehrt wieder beeinflussen können. Das Szenario erinnert an Rainer Werner Fassbinders Fernsehspiel Welt am Draht aus dem Jahr 1973, in dem die elektronische Simulation einer Großstadt und ihres wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Lebens zu Zwecken der Marktforschung thematisiert wird. Bei Herolds Plänen handelte es sich quasi um eine (wenn auch nicht als solche reflektierte) Simulation der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Polizeicomputer. Die Konzentration staatlicher Macht und wissenschaftlicher Planungskompetenz in den Händen der Polizei war für Herold eine technokratische, aber auch eine demokratische Antwort auf die Herausforderungen der Moderne. Er reagierte daher mit Unverständnis auf grundsätzliche Kritik, wie sie etwa Hans Magnus Enzensberger in einem Kursbuch-Artikel des Jahres 1979 äußerte. Vor allem stieß sich Herold in einem Interview an dem Begri≠ des „sozialdemokratischen Sonnenstaates“, der zur Charakterisierung seiner Projekte verwendet worden war.14 Herold hatte eine grundsätzlich andere Auffassung von Staat und Gesellschaft als Enzensberger, was sein Unverständnis gegenüber Enzenbergers Vorwürfen erklärt. Er warb mit den positiven Auswirkungen einer umfassenden datentechnischen Erfassung der Bürger und ihrer Aktivitäten, die – wie Herold glaubte – zum Verschwinden von Folter und Grausamkeit auf der ganzen Welt beitragen könnten. Für ihn gab es weder bei der Auf klärung von Straftaten noch bei der Planung von Präventionsprogrammen einen Zweifel daran, dass institutionell legitimierte Akteure die gesellschaftliche ‚Wahrheit‘ nicht nur aus den polizeilich verfügbaren Daten diagnostizieren, sondern diese Gesellschaft darüber hinaus (mit entsprechenden Maßnahmen) formen bzw. Missstände in die ‚richtige‘ Richtung korrigieren könnten. Intellektuelle wie Enzensberger reagierten besorgt auf diese Stärkung der Exekutive und die von der ö≠entlichen Meinung unterstützte Ausweitung der staatlichen Zugri≠smöglichkeiten. Sie stellten den staatlichen Maßnahmen im Zeichen des „symbolischen Belagerungszustands“ die Vision einer Zivilgesellschaft entgehen, in der sich Bürger
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am politischen Prozess auch außerhalb der partei- und interessenpolitischen Strukturen beteiligten.15 Aus dieser Sicht sei der beste Verfassungsschutz nicht durch die Aktivitäten und Datenbanken der entsprechenden Behörde garantiert, sondern durch „die Bereitschaft seiner Bürger, sich schützend vor die Verfassung zu stellen, wenn staatliche Gewalt in ihre Freiheitsrechte eingreift“, so das Schlussplädoyer des Verteidigers der Bremer Jugendlichen, die sich gegen die Observation durch den Verfassungsschutz zur Wehr gesetzt hatten.16 Die rechtlichen Grundlagen der Rasterfahndung Erst im Jahr 1992 wurde die Rasterfahndung in Artikel 3 des Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) rechtlich geregelt.17 Vorher operierten Polizei und Justiz nicht im rechtsfreien Raum, sondern beriefen sich auf allgemeine Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO) bzw. auf den generellen Auftrag der Polizei, zur Auf klärung und Verhinderung von Straftaten Informationen zu sammeln, zu verknüpfen und auszuwerten. Angesichts der massiven Bedrohung durch den Terrorismus und die organisierte Kriminalität schien dadurch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel keineswegs verletzt. Bis 1992 existieren seitens des BKA keine präzisen Angaben über die Häufigkeit von Rasterfahndungen. Landespolizeipräsident i. R. Stümper konstatierte 1994, dass sie zur kriminalistischen Alltagsarbeit geworden sei. Diese Einschätzung wird unterstützt von Informationen aus einem Entwurf zur Änderung des Strafverfahrensrechts (1988). Dort wird festgestellt, dass die Rasterfahndung allein in den Jahren 1985 und 1986 von Bund und Ländern insgesamt 104-mal angewendet worden sei. Der Schwerpunkt dieser Fahndungen lag jedoch, wie Walther Graf in seiner Studie nachweist, nicht im Kampf gegen die organisierte Kriminalität.18 Die organisierte Kriminalität – vielmehr die publizistische Auseinandersetzung mit ihrer bedrohlichen Zunahme – bereitete das politische Klima für die gesetzliche Regelung der Rasterfahndung vor. Der Gesetzesentwurf des Jahres 1988 scheiterte noch an der weit verbreiteten Sorge um den Datenschutz und die politischen Risiken einer solchen
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Novelle. Vier Jahre später war es schließlich so weit: Nach vielen Beratungen und Änderungen wurde das OrgKG verabschiedet, das die Rasterfahndung in §§98a–b regelt. Paragraf 98a, Absatz 1 definiert diese Art der Fahndung dadurch, dass „personenbezogene Daten von Personen, die bestimmte, auf den Täter vermutlich zutre≠ende Prüfungsmerkmale erfüllen, mit anderen Daten maschinell abgeglichen werden, um Nichtverdächtige auszuschließen oder Personen festzustellen, die weitere für die Ermittlungen bedeutsame Prüfungsmerkmale erfüllen“. Zur Bestimmung der Einsatzmöglichkeit wird ein Straftatenkatalog vorgegeben: (1 ) Liegen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, daß eine Straftat von erheblicher Bedeutung 1. auf dem Gebiet des unerlaubten Betäubungsmittel- oder Wa≠enverkehrs, der Geld- oder Wertzeichenfälschung, 2. auf dem Gebiet des Staatsschutzes (§§74a, 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes), 3. auf dem Gebiet der gemeingefährlichen Straftaten, 4. gegen Leib oder Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder die persönliche Freiheit, 5. gewerbs- oder gewohnheitsmäßig oder 6. von einem Bandenmitglied oder in anderer Weise organisiert begangen worden ist […]
Anschließend wird in Absatz 1 das Verfahren in groben Zügen skizziert. Es besteht aus vier Schritten: Erstens werden die Prüfungskriterien in einem Verdächtigtenprofil zusammengefasst. Dieses aus mehreren Kriterien und logischen Operatoren (und, oder, nicht) bestehende Profil wird an die ö≠entliche oder private Stelle adressiert, welche die benötigten Daten speichert. Zweitens ist die Speicherstelle verpflichtet, die gewünschten Daten aus ihren Beständen auszusondern, darf aber keine zusätzlichen Erhebungen zu diesem Zweck anstellen. Die Tre≠er werden selektiert und in einer separaten Datei abgelegt. Wenn diese Daten nicht mit einem vertretbaren Aufwand von anderen Daten zu trennen sind, können zusätzliche Informationen an die Strafverfolgungsbehörden übergeben werden. Die nicht mit dem Profil übereinstimmenden Daten dürfen jedoch nicht weiterverarbeitet werden.
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25 Ein Beamter des LKA Dresden auf der Suche nach so genannten Schläfern im Jahre 2001. Die Rasterfahndung erfordert die Kombinationsfähigkeit einzelner Beamter, der Computer leistet nur Hilfestellung.
Drittens wird die elektronische Datei mit den Angaben zu den Personen, die bestimmte, vermutlich auf den Täter zutre≠ende Prüfungsmerkmale erfüllen, an die Stelle übermittelt, von der die Suchanfrage ursprünglich ausging. Private und ö≠entliche Stellen sind dabei zur Kooperation verpflichtet. Der Gesetzgeber hat sich in dieser Hinsicht an den Vorschriften zur Beschlagnahme orientiert und stellt den Strafverfolgungsbehörden sogar Ordnungs- und Zwangsmittel zur Verfügung, um die Hilfestellung im Notfall erzwingen zu können. Ausgenommen von der Übermittlungspflicht sind nur jene Daten, deren Verwendung besondere bundesgesetzliche oder entsprechende landesgesetzliche Regelungen entgegenstehen (§98b, Absatz 1). Viertens wird der Abgleich der Daten von den Strafverfolgungsbehörden durchgeführt und zwar von jener Stelle, die technisch dazu in der Lage ist. Der Abgleich erfolgt elektronisch, indem die unterschiedlichen Dateien miteinander verknüpft werden. Die Resultate werden jedoch nicht einfach durch Knopfdruck erzeugt – das wäre eine sehr optimistische Vorstellung von der Funktionsweise der computerunterstützten Fahndung. Die EDV kann die kriminalistische Arbeit voranbringen,
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aber nicht ersetzen, wie Abb. 25 zeigt. Unterstützt und geleitet von elektronischen Hilfsmitteln sucht hier ein Beamter des LKA Dresden nach möglichen islamischen Terroristen. Das OrgKG von 1992 legt in Paragraf 98b die Rahmenbedingungen für eine Rasterfahndung fest. Absatz 1 bestimmt den Richter als Autorität für die Anordnung des Abgleichs und die Übermittlung von Daten. Nur bei Gefahr im Verzug darf der Staatsanwalt eine entsprechende Anordnung tre≠en, die innerhalb von drei Tagen vom Richter bestätigt werden muss. Nach Beendigung des Abgleichs müssen die Datenträger zurückgegeben und die auf andere Datenträger übertragenen Informationen sofort gelöscht werden. Eine Verwendung der gewonnenen Erkenntnisse als Beweismittel in einem anderen Strafverfahren ist nur zulässig, wenn es sich um eine Straftat handelt, für die eine Rasterfahndung vorgesehen ist. Um die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen zu gewährleisten, gibt es eine Berichtspflicht an die für den Datenschutz verantwortliche Stelle. Ein wesentliches Element dieses Gesetzes ist die Subsidiaritätsklausel, die auch für die Ö≠entlichkeitsfahndung (s. Kapitel 7) gilt. Sie besagt, dass die Rasterfahndung nur dann angeordnet werden darf, wenn „die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters auf andere Weise erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre“. Diese Klausel stellt den Strafverfolgungsbehörden einen Ermessensspielraum bereit, der noch dadurch erweitert wird, dass die Polizei durch die Polizeigesetze der einzelnen Länder selbst ermächtigt ist, eine Rasterfahndung zur Abwehr der Gefahr einer künftigen Straftat durchzuführen. Die Kritik an der Rasterfahndung ist auch nach dem OrgKG von 1992 nicht verstummt. Sie bezieht sich vor allem auf die rechtlichen Voraussetzungen und auf die praktische Durchführung. Im Hinblick auf die Rechtsgrundlagen wird eine Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht des Bürgers auf „informationelle Selbstbestimmung“ angenommen. Das verbietet zwar nicht die Erhebung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch Behörden, verlangt jedoch eine strikte Zweckbindung der erhobenen Informationen. Dieses Recht scha≠t eine normative Barriere „gegen alle Tendenzen, den einzelnen immer und immer konsequenter in ein bloßes Informationsobjekt zu verwandeln“.19
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Die Gefahr der behördlichen Datensammlung und nicht nur der Rasterfahndung sieht man in der Erzeugung eines sozialen Anpassungsdrucks, in der Entstehung von sozialen und politischen Normalexistenzen. Das würde ‚Einfalt‘ an die Stelle von gesellschaftlicher, kultureller und politischer Vielfalt setzten, was für die Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesens als erhebliches Problem gewertet wird. Die Rasterfahndung war deshalb einer der Konfliktpunkte, an denen die Debatten über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft auf brachen. Dabei folgten die Kritiker keinesfalls der Denklogik der radikalen Linken der 1970er-Jahre, die in den Praktiken des BKA bereits die ersten Anzeichen eines neuen Faschismus heraufziehen sahen. Dennoch betonten sie, wie etwa Götz Aly, die Problematik einer technokratischen Einstellung des Staates zu seinen Bürgern, die aus Gründen der Planbarkeit und des Sicherheitsdenkens zu Objekten von staatlichen Programmen werden: „Der Planungsbegri≠, der anhand beliebig variierbarer Zahlenkolonnen entsteht, ist seinem Wesen nach undemokratisch. In der Abstraktion des Menschen zur Zi≠er liegt ein fundamentaler Eingri≠ in seine Würde.“20 Technologische Probleme der Rasterfahndung Das OrgKG von 1992, die Selbstdarstellungen der Kriminalisten und die Kritiken von Intellektuellen gehen von der idealen Situation aus, dass der Abgleich von Daten zwischen unterschiedlichen Datenbanken möglich sei. Das setzt austauschbare Datenformate zwischen den Immatrikulationsdaten der Universitäten, den Daten der Meldeämter und den in den polizeilichen Datenbanken gespeicherten Informationen voraus. Diese Voraussetzung ist bis heute jedoch praktisch nicht erfüllt. Das mussten die Kriminalisten bei der bundesweiten präventiven Rasterfahndung des Jahres 2001 nach den so genannten ‚Schläfern‘, d. h. späteren muslimischen Terroristen, leidvoll erfahren. Das bundesweite Rasterfahndungsprojekt wurde aus unterschiedlichen Perspektiven kritisiert und bietet einen guten Ausgangspunkt, um die technologischen Herausforderungen dieses Verfahrens darzustellen. Die Rasterfahndung erfordert eine besonders weit gehende Abstimmung zwischen den beteiligten Behörden, um die nach unter-
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schiedlichen Gesichtspunkten angelegten Datenbanken miteinander vergleichen zu können. Innerhalb der Polizeibehörden ist zur Bewältigung dieser Herausforderung speziell geschultes Personal vorhanden, das aufgrund spezialisierter Informatik-Kenntnisse die Verbindung zwischen den einzelnen Datenformaten herstellen kann. In den privaten und ö≠entlichen Stellen kann eine solche hochkomplexe Vorleistung nicht erwartet werden, wie ja auch der Gesetzgeber einräumt. Die unterschiedlichen Datenformate konfrontierten die Polizeibehörden der Länder mit erheblichen Schwierigkeiten. Manche Ämter konnten die Daten nur auf dem Postwege übermitteln, die Einwohnermeldeämter hatten keine einheitlichen Formate und lieferten daher ganz unterschiedlich strukturierte Dateien für den weiteren Abgleich an die Landeszentralen, einige der zur Mitarbeit aufgeforderten Stellen hatten wesentliche Merkmale nicht gespeichert und schließlich sahen sich manche Behörden und Einrichtungen außerstande, ihre Daten nach den Herkunftsländern ihrer ‚Klienten‘ zu sortieren, was ja eines der wesentlichen Suchkriterien darstellte. Auf Bundesebene mussten sich die Fahnder mit dem zusätzlichen Problem auseinander setzen, dass die Fahndungszentralen der einzelnen Länder zwar ein gemeinsames Profil erarbeitet, in der Umsetzung dieses Profils in konkrete Suchstrategien aber sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten. Es funktionierte somit nicht einmal die Abstimmung zwischen den Verantwortlichen in den einzelnen Ländern. Das Hauptproblem der Rasterfahndung nach den ‚Schläfern‘ war jedoch die Identifikation von Personen, die sich bewusst nicht von ihrem sozialen, kulturellen und beruf lichen Umfeld unterschieden. Bei den RAF -Terroristen gab es Anhaltspunkte einer funktional bedingten Abweichung im Zugri≠ auf Dienstleistungen und eine regionale Beschränkung der Fahndung, wie im Fall Heißler auf den Raum Frankfurt am Main. Das war im Fall der ‚Schläfer‘ nicht gegeben. Ihr Profil in der Rasterfahndung war daher sehr allgemein: Männlich, zwischen 18 und 40 Jahren, islamische Religionszugehörigkeit ohne nach außen tretende fundamentalistische Grundhaltung, legaler Aufenthalt, keine eigenen Kinder, Studientätigkeit zwischen 1996 und 2001 von technischen oder naturwissenschaftlichen Fächern, Mehrsprachigkeit, keine Auf-
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fälligkeiten im allgemeinkriminellen Bereich, rege Reisetätigkeit, häufige Visabeantragungen und finanziell unabhängig.21
In seiner Studie zur Rasterfahndung aus dem Jahr 1997 stellte Walther Graf bereits fest, dass sich ungeschickte Ermittlungen „vor allem durch die Auswahl von unpräzisen Suchkriterien aus[zeichnen]“.22 Diese Charakterisierung tri≠t auch auf die Suche nach den ‚Schläfern‘ zu. Wie ließ sich eine fundamentalistische Grundhaltung ermitteln, die nicht nach außen in Erscheinung getreten war? Die in Berlin als Ausweg herangezogene Frage nach Personen, die sich vermutlich zum Islam bekannten, weitete die Tre≠ermenge erheblich aus. Gleichzeitig führte diese Pauschalisierung zur Verunsicherung bei den Betro≠enen, die von einer allgemeinen Diskriminierung der Muslime sprachen. Die fehlende Zielgenauigkeit des Profils machte es zudem unmöglich, die als ‚Bodensatz‘ der Rasterfahndung ermittelten Personen mit den klassischen kriminalpolizeilichen Mitteln zu überprüfen. Dem positiven Fazit der Bundesregierung zum Trotz, die von einem Erfolg der bundesweiten Rasterfahndung sprach, konnte kein einziger ‚Schläfer‘ identifiziert werden.23 Angesichts dieser Probleme mit der Konzeption des Profils und der Durchführung des Datenabgleichs ist es verwunderlich, dass die deutsche Bundesregierung innerhalb der EU für das ambitionierte Projekt einer europäischen Rasterfahndung wirbt. Sie tritt damit in die Fußstapfen von Horst Herold, der bereits bei der Bekämpfung des Terrorismus in den 1970er-Jahren eine stärkere internationale Zusammenarbeit gefordert hatte. Das damals zustande gekommene Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus (1977) enthält zahlreiche Hinweise auf die Schwierigkeiten der internationalen Kooperation zur Bekämpfung der politischen Kriminalität – vor allem nach den Erfahrungen von Diktatur und Totalitarismus. Die polizeiliche Zusammenarbeit, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder aufgebaut wurde (s. Kapitel 4), schloss die Verfolgung aufgrund von politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Kriterien aus. Das Abkommen von 1977 legte daher zuerst die Grenzen zwischen terroristischen Akten und den so genannten politischen Verbrechen fest, indem es bestimmte Tatbestände aus dem Definitionsbereich der politischen Kriminalität entfernte. Das Abkommen gestand
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allerdings jeder Signatarmacht die Möglichkeit zu, im Einzelfall zu entscheiden, ob ein gesuchter Terrorist nicht doch wegen seiner politischen Einstellung, Rasse, Religion oder ethnischen Zugehörigkeit verfolgt würde. Die gegenwärtig diskutierte Ausweitung dieser Kooperation hin zu einer europäischen Rasterfahndung wirft eine Reihe von technischen und rechtlichen Bedenken auf. Sie beziehen sich auf die unterschiedlichen nationalen Traditionen der Personenmeldung, des Datenschutzes, aber auch der technischen Formate, in denen die Daten erhoben und gespeichert sind. Daraus ergeben sich verfassungsrechtliche und praktische Barrieren der Datenerfassung, die nur mit entsprechendem Aufwand und politischer Zustimmung überwunden werden können. Die technischen Schwierigkeiten des Datenabgleichs, die rechtlichen Schranken gegen einen allzu häufigen Einsatz dieses Verfahrens und die aufmerksame Kontrolle der polizeilichen Aktivitäten durch eine kritische Ö≠entlichkeit sind wichtige Barrieren gegenüber dem Datenhunger der Polizei. Nur wenn die Bürger nicht zu reinen Objekten im kriminalistischen Datennetz degradiert werden, können die Polizei und ihre Verfahren Legitimität beanspruchen und Unterstützung seitens der Ö≠entlichkeit erhalten. Erhöhte Transparenz und Verständnis für die berechtigten Anliegen der Bürger ist eine wichtige Voraussetzung für die Akzeptanz der Rasterfahndung. Datenschutz ist eben doch Bürgerund nicht Täterschutz.
9. Der genetische Fingerabdruck „Kein Straftäter kann sich weiterhin in der Sicherheit wiegen, dass seine Tat nicht entdeckt wird […]“, frohlockte der Chef des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen am 21. Juli 2004 anlässlich eines spektakulären Ermittlungserfolges, der durch die DNA -Analyse-Datei (DAD) des Bundeskriminalamts möglich wurde. Diese Begeisterung ist durchaus verständlich, denn der genetische Fingerabdruck erscheint vielen Kriminalisten als die Erfüllung ihrer Wünsche nach einem untrüglichen Beweismittel. Ähnlich euphorische Reaktionen hatte es bereits anlässlich der Einführung des Fingerabdrucks und bei der Anwendung neuer Verfahren zur Sicherung und Auswertung von Spuren um die vorletzte Jahrhundertwende gegeben. Davon erho≠te man sich eine Rekonstruktion des Verbrechens ohne die Mitarbeit von Tätern, Opfern und Zeugen. Die Fahnder suchten nach Spuren, die entweder Aufschluss über die Anwesenheit von Personen am Tatort boten (wie etwa Fingerabdrücke und Fußspuren) oder direkt auf die Tatverübung bezogen waren (wie Werkzeugspuren bei Einbrüchen, Blut- oder Schussspuren). Wichtig für die Interpretation der Spuren war ihr eindeutiger Bezug zum Verdächtigen und die Herstellung einer ursächlichen Beziehung zum Verbrechen. Die Straftäter passten sich rasch den neuen Techniken der Polizei an und arbeiteten bei Einbrüchen bevorzugt mit Handschuhen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Trotz aller Vorsicht hinterlässt jedoch selbst der professionellste Straftäter eine Vielzahl von Spuren am Tatort bzw. trägt Spuren der Anwesenheit am Tatort an sich. Der Staub – von Hans Gross als „Umgebung im Kleinen“ bezeichnet (s. Kapitel 6) – war und ist verräterisch. Anhand der mikroskopischen Untersuchung von Staub und Fasern der Kleidung konnten bereits zahlreiche Straftaten aufgeklärt werden. Solche Analysen geben Hinweise auf die
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soziale und lokale Herkunft des Täters oder weisen die Anwesenheit von Tatverdächtigen am Tatort nach. Der genetische Fingerabdruck bringt nun jene Spuren zum Sprechen, denen die Kriminalisten vorher keine Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Es handelt sich um teils mikroskopisch kleine Spuren des Körpers, die in Form von Haaren, Hautschuppen, Speichel auf Gläsern und Zigarettenkippen, aber auch als Samenflüssigkeit und Blut bei der Tat vom Täter immer auf die Umgebung bzw. das Opfer übertragen werden. Damit lässt sich die körperliche Anwesenheit einer Person an einem fraglichen Ort eindeutig nachweisen. Durch seine Kodierung kann das DNA -Identifizierungsmuster – ähnlich wie der Fingerabdruck – in Datenbanken gespeichert und zur Ermittlung von Tatverdächtigen eingesetzt werden. Anwendungserfolge und Missbrauchsmöglichkeiten Der für die Entdeckung des genetischen Fingerabdrucks in den Adelsstand erhobene britische Genetiker Alec Je≠reys nutzte dieses Verfahren erstmals 1986 zur Unterstützung der englischen Polizei bei der Auf klärung von zwei Sexualmorden. Zu jener Zeit war die Technologie noch wenig ausgereift und die Herstellung der Identifizierungsmuster zeitaufwändig und kostenintensiv. Erst mit der Vereinfachung des technischen Verfahrens und der Umwandlung des genetischen Fingerabdrucks in einen numerischen Kode in den 1990er-Jahren konnten Datenbanken mit DNA -Identifizierungsmustern aufgebaut werden. Die technischen Möglichkeiten sind viel versprechend, die Erfolgsbilanz der Polizei ist entsprechend beeindruckend: In den sechs Jahren ihres Bestehens, von 1998 bis 2004, ließen sich mit Hilfe der deutschen DNA -Datenbank bereits 18 565 Übereinstimmungen zwischen den am Tatort sichergestellten Gewebeproben und den Eintragungen in der Datenbank nachweisen. Der Großteil dieser erfolgreich aufgeklärten Fälle gehört zum weiten Spektrum der Eigentumsdelikte, aber auch Gewaltund Sexualverbrecher sind nun leichter zur Verantwortung zu ziehen. Trotz dieser Erfolgsbilanz werden die Chancen nicht in allen europäischen Polizeibehörden gleichermaßen genutzt. Die Unterschiede ergeben sich aus der Art der Integration des geneti-
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schen Fingerabdrucks in die Organisation der kriminalistischen Arbeit. Diese Integration verläuft in keinem Land konfliktfrei, weil dadurch rechts- und kriminalpolitische Fragen von erheblicher Reichweite berührt werden, die bereits im Zusammenhang mit der Rasterfahndung diskutiert worden sind. Auf der Seite der Befürworter stehen die Kriminalisten und eine wachsende Zahl von Politikern. Sie treten für eine technologische Aufrüstung der Polizei ein, um der Bedrohung durch das Verbrechen wirksam zu begegnen. Der genetische Fingerabdruck erscheint dabei als ein bewährtes Mittel, weil er ein untrügliches, objektives Indiz bereitstellt. Die Kritiker – Datenschützer, Bürgerrechtsorganisationen und vereinzelt Wissenschaftler – sehen nicht nur ganz allgemein das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gefährdet, sondern warnen auch vor den Möglichkeiten des Missbrauchs von genetischer Information. Konkret geht es in dieser Diskussion um Probleme, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei der Einführung des klassischen Fingerabdrucks verhandelt wurden. Wer darf wann erfasst werden? Wie sind die Daten zu speichern und welche Abfragen an die Datenbank sind zulässig? Selbst die nach dem Ersten Weltkrieg von mehreren Seiten lancierte Idee einer vollständigen Erfassung der Bevölkerung wird inzwischen wieder diskutiert. In England, das die höchste Erfassungsdichte von DNA -Identifizierungsmustern hat, trat etwa Sir Alec Je≠reys mit dieser Idee an die Ö≠entlichkeit. Dabei dachte er nicht an die Perfektion des Überwachungsstaats, sondern an die Sicherstellung der eigenen Identität in einer nicht von der Polizei verwalteten Datenbank.1 Der englische Bürger sollte dadurch nicht von der Begehung von Straftaten abgehalten werden, sondern als Opfer von Unglücksfällen und Naturkatastrophen identifiziert werden können, ohne dass die Polizei deswegen seinen Zahnarzt belästigen müsste. Mord in der Münchner Schickeria Rudolph Moshammer war einer der bekanntesten Münchner unserer Zeit. Als Modemacher, Philanthrop, Schriftsteller und vor allem als skurriler Selbstdarsteller war er aus dem Münchner Gesellschaftsleben der achtziger und neunziger Jahre nicht wegzudenken. Manche ver-
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glichen ihn als Münchner Original sogar mit dem Komiker Karl Valentin. Vernissagen, Geschäftserö≠nungen, Premieren, Partys – meistens war Moshammer mit seiner Yorkshire-Hündin Daisy dabei und ein willkommener Anziehungspunkt für die Presse. Davon profitierten die Gastgeber und ließen sich die Anwesenheit des exzentrischen ‚Modezaren‘ auch etwas kosten. Moshammer war perfekt in seiner Inszenierung. Er legte Wert auf seine Kleidung – Anzüge aus feinstem Sto≠, kombiniert mit den legendären Krawatten aus eigener Produktion – und auf seine kunstvoll toupierte Frisur mit zwei Stirnlocken aus der Zeit Ludwigs II. Bei seinen Auftritten wurde er lange Zeit von seiner Mutter begleitet, zu der er eine innige Beziehung pflegte. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1993 betrieben sie gemeinsam die Luxusboutique Carnaval de Venise in der Münchner Maximilianstraße. Danach leitete er das gut gehende Geschäft allein. Zu seinen Auftritten, aber auch für den Weg zur Arbeit wählte er einen seiner drei teuren Rolls-Royces, die meist von seinem Chau≠eur Andreas Kaplan gelenkt wurden. Kaplan traf am Morgen des 14. Januar 2005 in der Villa seines Arbeitgebers im Münchner Stadtteil Grünwald ein, um Moshammer wie an jedem anderen Tag ins Geschäft zu fahren. Dabei machte er eine grausige Entdeckung. Er fand ihn tot im Flur der ersten Etage, bekleidet mit Sakko, Hemd und Hose – erdrosselt mit einem Elektrokabel, das noch um seinen Hals gewickelt war. Sein Rolls-Royce war vor dem Haus geparkt, die Hündin Daisy im Schlafzimmer eingesperrt. Es gab keinen Zweifel: Moshammer war einem Mord zum Opfer gefallen. Den Täter hatte er gekannt und selbst ins Haus gelassen, weil es keine Anzeichen von einem Einbruch oder Kampf gab. Die Fahndung nach dem unbekannten Täter konnte auf die Mithilfe der Münchner Bevölkerung zählen. Wie die spontanen Trauerbekundungen von Passanten zeigten, war Moshammer nicht nur als Exzentriker, sondern auch als Bürger mit einem Herz für die Armen und Obdachlosen bekannt und beliebt. Er hatte die Stiftung Licht für Obdachlose gegründet, die Obdachlosen-Zeitung BISS unterstützt und die Patenschaft für ein Suchtentwöhnungszentrum für Alkoholkranke übernommen; für das Jahr 2005 war der Bau eines Heimes für sechzig Obdachlose geplant. Moshammers Beliebtheit erklärt die rege Teilnahme
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der Bevölkerung an der Fahndung, für die eine Sonderkommission „Moshammer“ eingerichtet wurde. Sie erhielt schon am ersten Tag 130 Hinweise. Die Ermittlungen wurden dadurch auf die Bahnhofsgegend gelenkt, wo Moshammer mit seinem Rolls-Royce gesehen wurde; neben ihm saß angeblich ein junger, schlanker Mann mit einer Wollmütze. Moshammer war eine ö≠entliche Figur, über deren Privatleben kaum etwas bekannt war. Er galt als homosexuell, ohne das zu einem ö≠entlichen Thema zu machen. Er verkehrte daher auch nicht in der einschlägigen Szene und hatte keinen festen Partner. Für sexuelle ‚Dienstleistungen‘ kontaktierte er junge Männer auf der Straße, denen er Geld anbot: „Rolls-Royce im Stricher Milieu“, lautete eine Überschrift in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung, der die Hintergründe der Ermordung von Moshammer ausleuchtete.2 Den Abend vor seiner Ermordung verbrachte Moshammer zuerst mit einer Bekannten in einem italienischen Restaurant. Dann fuhr er allein Richtung Innenstadt und sprach in der Nähe des Hauptbahnhofs einen jungen Iraker an, dem er 2000 Euro anbot. Der junge Mann stieg zu Moshammer in den Rolls-Royce, in dem er von Zeugen auch gesehen wurde. Während die Beamten der Mordkommission noch den Hinweisen nach dem jungen Mann mit Wollmütze nachgingen, war der Fall schon durch den BKA -Computer aufgeklärt. Weniger als 48 Stunden nach dem Mord war Herisch Ali Abdullah, ein 25-jähriger irakischer Aushilfskoch, als mutmaßlicher Täter gefasst. Laut seiner Aussage war es in der besagten Nacht in Moshammers Villa zum Streit über die Art der ‚Dienstleistung‘ und über ihre Bezahlung gekommen. Moshammer wollte die Polizei rufen, um den jungen Liebhaber aus dem Haus werfen zu lassen. Darauf nahm dieser ein Elektrokabel vom Tisch und erwürgte den ‚Modezar‘. Nach der Tat fuhr Herisch Ali Abdullah mit der ersten Straßenbahn nach Hause, wo er sich den Kopf rasierte, um nicht von Zeugen erkannt zu werden. Das half ihm jedoch nichts mehr. Ihm wurde eine freiwillige Speichelprobe zum Verhängnis, die er ein Jahr vor seinem Mord abgegeben hatte. Damals waren zwei Strafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung und eines Sexualdeliktes gegen ihn anhängig. Obwohl beide Verfahren eingestellt worden waren, landete sein genetischer Fingerabdruck in der DAD (DNA -Analyse-Datei) des BKA . Die am Tat-
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ort vorgefundenen Gewebeproben wurden durch die serologische Abteilung des bayerischen Landeskriminalamts auf bereitet und als Tatortspur in die DAD eingegeben. Automatisch erfolgte ein Abgleich mit den gespeicherten DNA -Identifizierungsmustern: Herisch Ali Abdullah wurde als mutmaßlicher Täter identifiziert – und kurze Zeit später festgenommen. Sexualverbrechen und kriminalistische Innovationen Der Fall Moshammer ist insofern aufschlussreich, als er die Bedeutung des genetischen Fingerabdrucks als kriminalistisches Hilfsmittel zur Auf klärung von Sexual- und Gewaltverbrechen eindrücklich belegt. Die Auf klärungsrate war bei Sexualmorden schon vor Einführung dieses neuen Instruments sehr hoch. Laut polizeilicher Kriminalstatistik lag sie in den 1990er-Jahren zwischen 88 und 98 Prozent. Die Einführung der DNA -Identifizierung ließ die Auf klärungsquote – berechnet als das Verhältnis zwischen aufgeklärten und innerhalb eines Jahres angezeigten Straftaten – seit dem Jahr 2000 auf über hundert Prozent ansteigen. Die Auf bereitung von archivierten Tatortspuren ermöglicht auch die Wiederaufnahme und den Abschluss von Ermittlungen in bislang ungelöst gebliebenen Fällen. Sexualverbrechen – vor allem wenn sie an Kindern begangen werden – sind nicht nur eine kriminalistische, sondern auch eine kriminalpolitische Herausforderung. Ungeklärte Fälle, von der Fernsehfahndung für die Ö≠entlichkeit auf bereitet, führen zu erheblicher Verunsicherung, nicht zuletzt wegen der Zufälligkeit, mit der die Täter ihre Opfer auswählen (s. Kapitel 7). Sie radikalisieren die ö≠entliche Meinung über Strafvollzug und Todesstrafe. In Deutschland führte der Prozess gegen den Serienmörder Jürgen Bartsch in den 1960er-Jahren zu einer regen Anteilnahme unbeteiligter Bürger. Sie schrieben an die Presse sowie an die Gerichte und teilten dabei ihre Meinung über die Behandlung des überführten Täters mit: Die Todesstrafe erschien ihnen als die einzig geeignete Maßnahme, manche forderten gar den Tod des Verteidigers. Eine ähnliche Radikalisierung der ö≠entlichen Meinung lässt sich auch in anderen europäischen Ländern beobachten. Sie ermöglicht die Durchsetzung von neuen Formen der Prävention selbst
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gegen den Widerstand von Datenschützern und kritischen Einwänden der politischen Linken. In England preschte die Zeitung News of the World mit der Verö≠entlichung von Namen von Sexualstraftätern vor, die damit in ihrem sozialen Umfeld eine erhebliche Stigmatisierung erfuhren. In den USA unterhält das Texas Department of Public Safety eine allgemein zugängliche Datenbank mit Namen, Anschrift, Fotografie und kurzen Angaben zum Delikt all jener Personen, die als Sexualstraftäter verurteilt wurden.3 In dieser Datenbank kann man nach einzelnen Personen suchen, wenn man eine neue Bekanntschaft überprüfen will, oder nach Adressen, um die möglicherweise ‚gefährlichen‘ Personen der Nachbarschaft zu identifizieren. Mit dem Einsatz der neuesten Technologie wird in Texas somit eine Alternative zur traditionellen Form der sozialen Kontrolle aufgebaut, die den erfassten Personen die Wiederaufnahme eines sozialen und beruf lichen Lebens erheblich erschwert. In Deutschland ist man glücklicherweise weit entfernt von so radikalen Maßnahmen, die mit den Persönlichkeitsrechten, vor allem mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung in keiner Weise vereinbar sind. Die deutsche Polizei benötigt die Einwilligung des zuständigen Richters sowohl für die Erstellung von DNA -Identifizierungsmustern anhand der am Tatort sichergestellten Gewebeproben als auch für die Entnahme einer Speichelprobe bei Verdächtigen. Die Aufnahme von DNA -Profilen in eine Datenbank kann vom Richter nur dann bewilligt werden, wenn es sich um Straftaten von erheblicher Bedeutung handelt und für den Verdächtigen eine qualifizierte Negativprognose vorliegt, d. h. wenn Grund zu der Annahme besteht, dass der Betro≠ene mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten begehen wird. Die deutschen Kriminalisten und eine zunehmende Zahl von Politikern nahmen den Fall Moshammer zum Anlass, um eine Erleichterung für die Erstellung von DNA -Profilen zu fordern. Sie verwiesen dabei auf das britische Vorbild, das eine im internationalen Vergleich einzigartige Flexibilität im Hinblick auf die Erhebung und Speicherung des genetischen Fingerabdrucks kennt. Die britische Polizei kann von allen Männern und Frauen einen genetischen Fingerabdruck anfertigen und in der Datenbank speichern, die eines Vergehens oder Verbrechens verdächtig sind, das mit einer Haftstrafe geahndet wird. Die National DNA
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Database mit Einträgen aus England und Wales enthielt im März 2005 bereits 2,9 Millionen genetische Fingerabdrücke und fast 240 000 genetische Profile von anonymen Tätern, die aufgrund der Tatortspuren erstellt wurden. Pro Monat werden in Großbritannien damit durchschnittlich 26 Morde, 57 Vergewaltigungen und 3000 Eigentums- und Drogendelikte aufgeklärt. Bis Dezember 2004 wurden fast 600 000 Tatortspuren mit Täterprofilen verglichen.4 DNA -Fahndung in Europa: zwischen Pluralität und Standardisierung
Das DNA -Identifizierungsmuster hat zwei unterschiedliche Funktionen im Strafverfahren. Erstens kann das Muster eines bereits ermittelten Verdächtigen mit dem Spurenmaterial verglichen werden, um ein zusätzliches Indiz für seine Tatschuld zu gewinnen. Zweitens können die Tatortspuren mit den gespeicherten Mustern abgeglichen werden, um dadurch Verdächtige zu identifizieren. Diese beiden Anwendungen stellen ganz spezifische Anforderungen an die kriminalistische Praxis. Im ersten Fall muss das Gericht diesen Nachweis als Beweismittel zulassen, was in Deutschland seit einem BGH -Urteil von 1990 der Fall ist. Um die beiden Muster – des Verdächtigen und der Gewebeproben vom Tatort – vergleichbar zu machen, müssen sie mit denselben Verfahren hergestellt werden. Die technische Abstimmung erfolgt lokal und ist auf das konkrete Ermittlungsverfahren bezogen. Im zweiten Fall wird auf der nationalen Ebene eine weitgehende Standardisierung oder wenigstens Vereinbarkeit der technischen Verfahren vorausgesetzt, damit genetische Fingerabdrücke aus unterschiedlichen serologischen und gerichtsmedizinischen Labors miteinander verglichen werden können. Für Deutschland ist diese Standardisierung erreicht – sonst würde die bundesweite DNA -Datenbank nicht funktionieren. Auf europäischer Ebene gibt es eine derartige Vereinheitlichung noch nicht. Die erstaunliche Vielfalt von Verfahren kann mit der raschen technologischen Entwicklung in diesem Bereich erklärt werden. Die Nutzung von kommerziell produzierten Anlagen, den so genannten Multiplexern, hat bereits zu einer gewissen Vereinheitlichung geführt; verschiedene Expertengruppen sind damit beschäftigt, einen einheitlichen Standard zu entwickeln und in den jeweiligen nationalen Labors durchzusetzen.
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Die bereits erarbeiteten Standards sind in der Entschließung des Europäischen Rates zum Austausch von DNS -Analyseergebnissen aus dem Jahr 2001 als Empfehlungen an die Mitgliedsländer enthalten. Eine weitgehende Zusammenarbeit der europäischen Polizeibehörden in der Erstellung und Nutzung von genetischen Fingerabdrücken wird jedoch nicht nur durch technische Unterschiede, sondern mehr noch durch die unterschiedlichen Rechtslagen, vor allem im Bereich des Datenschutzes behindert. Wenn die deutsche Polizei ein DNA -Identifizierungsmuster an eine supranationale Einrichtung wie Interpol oder Europol weiterleitet, ist dann der Schutz der Daten vor Missbrauch garantiert? Welche Einflussmöglichkeiten hat die deutsche Behörde über die Verwendung der Daten, die sie an eine ausländische Behörde weitergibt? Das sind zwei der vielen o≠enen Fragen, die den Auf bau einer zentralen Datenbank auf europäischer Ebene unwahrscheinlich, zumindest aber sehr schwierig machen. Um dennoch die vorhandenen Ressourcen für internationale Fahndungen besser nutzen zu können, schlagen die Experten die Einrichtung eines virtuellen Netzwerks vor: Es soll Abfragen an die nationalen Datenbanken mittels einer gemeinsamen Suchmaschine ermöglichen, den nationalen Einrichtungen jedoch die volle Kontrolle über die Art des Zugri≠s belassen.5 Die unterschiedlichen rechts- und kriminalpolitischen Vorstellungen in den einzelnen europäischen Staaten legen nicht nur die Parameter für die Nutzung der genetischen Fingerabdrücke fest, sondern begrenzen auch die Anzahl der Personen, von denen ein solches Muster hergestellt und gespeichert werden darf. Entsprechend ungleich sind die nationalen Datenbanken. Das zeigt die Übersicht über die vorhandenen DNA -Datenbanken in Europa, die vom European Network of Forensic Science Institutes (ENFSI ) auf seiner Webseite publiziert wurde und den Stand vom Dezember 2004 wiedergibt.6 Die gemeinsame Datenbank von England und Wales ist Spitzenreiter. Sie enthält mit etwa 2,9 Millionen Einträgen beinahe hundertmal so viele Datensätze wie ihr französisches Äquivalent. Absolute Zahlen sind aufgrund der unterschiedlichen Bevölkerungszahlen für den Vergleich nur wenig aussagekräftig. Doch auch im Verhältnis zur Bevölkerung liegen England und Wales an der Spitze. Es gibt einen Eintrag pro 19 Einwohner. In Frankreich ist nur ein Fingerabdruck pro 1748 Bürger
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erfasst. Damit liegt die französische Polizei im Mittelfeld. Zu den Schlusslichtern gehört Spanien, wo das Verhältnis zwischen Eintrag und Bevölkerung 1:15 210 beträgt. Deutschland ist mit einem Verhältnis von 1:257 zwar weit von den britischen Spitzenwerten entfernt, kann sich aber immer noch gemeinsam mit Österreich (1:108) und der Schweiz (1:136) zum europäischen Spitzenfeld rechnen. Denselben Eindruck vermittelt die Statistik der Profile von unbekannten Tätern, die anhand von biologischen Tatortspuren erstellt wurden. England und Wales sind auch in diesem Bereich mit 236 070 Eintragungen unerreicht. Die im BKA verwaltete Datenbank der deutschen Polizei steht mit 66 798 auf Platz 2 – und das trotz der immer wieder von den Ermittlern beklagten Beschränkungen. Entsprechend beeindruckend sind die Zahlen für die positiv beantworteten Anfragen. Auch hier liegt Deutschland an zweiter Stelle hinter England und Wales. Dort gibt es aufgrund der großen Zahl von Datensätzen erwartungsgemäß die größte Zahl von positiven Antworten – insgesamt 593 330 Tre≠er bzw. ein Tre≠er pro 4,8 Einträge. In Deutschland liegt dieser Wert bei 1:17. Das ist allerdings nicht nur auf die geringere Erfassungsdichte zurückzuführen, wie ein Vergleich zwischen der Schweiz und Österreich zeigt. In Österreich gibt es eine höhere Anzahl von Profilen unbekannter Täter und eine höhere Erfassungsdichte von Verurteilten und Verdächtigen als in der Schweiz. Dennoch ermittelt die österreichische Polizei nur einen Tre≠er pro elf Datensätze, während die Schweizer Beamten einen Tre≠er pro 7,8 Eintragungen erreichen. Die Unterschiede in der Größe der Datenbanken können allerdings nur teilweise mit den nationalen Regelungen für die Erstellung von DNA -Profilen erklärt werden. Trotz der Einschränkungen durch die Gesetzgebung hat das BKA gemeinsam mit den Landeskriminalämtern inzwischen eine beachtliche Datenbank aufgebaut. Ebenso entscheidend für die Größe einer DNA -Datenbank ist die Unterstützung von einflussreichen Akteuren in Politik und Verwaltung. In Deutschland waren es die deutschen Mitglieder der europäischen Netzwerke – das Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter sowie einige gerichtsmedizinische Institute –, die sich erfolgreich für die Integration des DNA -Identifizierungsmusters in die kriminalistische und gerichtliche Praxis eingesetzt haben.
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Der Balkenkode des Körpers Die Komplexität dieses Projektes, d. h. der Integration des genetischen Fingerabdrucks in die kriminalistische Praxis, wird erst verständlich, wenn man sich mit den technischen Grundlagen auseinander setzt. Sie wurden von dem britischen Genetiker Alec Je≠reys in den achtziger Jahren gescha≠en, um Fragen nach der genetischen Variation zwischen einzelnen Menschen zu erforschen. Das DNA -Identifizierungsmuster, das er dabei entwickelte, ist das Ergebnis von mehreren molekularbiologischen Manipulationen, die hier nur schematisch wiedergegeben werden. Alec Je≠reys konzentrierte sich in seinen Forschungen auf jenen Teil der DNA , der keine genetische Ausprägung besitzt, d. h. auf jene Chromosomenbereiche, die keine Informationen über Erbmerkmale enthalten. Nur ein kleiner Teil der menschlichen DNA -Abschnitte – etwa fünf Prozent – enthält Informationen über Genprodukte, der Rest besteht unter anderem aus tandemartigen Wiederholungen von DNA -Blöcken mit einer Länge von einem bis sieben Basenpaaren. Diese Wiederholungen werden als short tandem repeats (STR ) oder auch Mikrosatelliten bezeichnet. Es gibt tausende Mikrosatelliten, verteilt über die chromosomale, doppelsträngige DNA einer Zelle, die insgesamt circa drei Milliarden Basenpaare umfasst. Der genetische Fingerabdruck unterscheidet zwischen einzelnen Personen nicht aufgrund der DNA -Sequenz, die in den untersuchten Abschnitten gespeichert ist, sondern anhand der unterschiedlich häufigen Wiederholungen von DNA -Blöcken an einem bestimmten DNA -Abschnitt. Diese Abschnitte werden in der Literatur und Gesetzgebung mit dem Begri≠ Loci bezeichnet. Bei den rechtsmedizinisch genutzten Mikrosatelliten findet man Allele, d. h. Ausprägungen eines Gens an einem bestimmten Locus, mit zehn bis zwanzig Wiederholungen. Wenn man die statistische Verteilung der Wiederholungen an bestimmten Gen-Orten kennt, kann man die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der mehrere Personen dieselbe Häufigkeit von Wiederholungen besitzen. Auf dieser Grundlage lässt sich die Anzahl von Loci bestimmen, die notwendig sind, um aufgrund der Kombination von Wiederholungen eine für jede Person eindeutige Kennzahl zu errechnen. Der genetische Fin-
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gerabdruck, der als digitaler Kode produziert und in Datenbanken gespeichert wird, ist zumindest nach dieser mathematischen Theorie einzigartig.7 Die Umsetzung dieser Logik in die molekularbiologische Praxis erfordert mehrere aufwändige Manipulationen. Zuerst müssen die Gewebeproben am Tatort gesichert bzw. einem Verdächtigen entnommen werden. Die bevorzugte Methode ist in Deutschland ein Abstrich von der Mundschleimhaut durch Mediziner. Anschließend wird aus dem Zellkern die DNA extrahiert, indem man alle Proteine über Nacht in einem Wasserbad mit einem proteinverdauenden Molekül, einer Protease, auf löst. Wäscht man die Proteinbruchstücke fort, bleibt reine DNA übrig.8 In einem weiteren Schritt muss der lange Strang der DNA aufgetrennt werden, um die Mikrosatelliten zu isolieren. Dazu werden so genannte Restriktionsenzyme verwendet, die die doppelsträngige DNA an einer bestimmten DNA -Basensequenz zerschneiden. Anschließend werden die Bruchstücke mit der Polymerase-Kettenreaktion vervielfältigt. Es handelt sich dabei um ein Verfahren, das den natürlichen Prozess der Verdoppelung der DNA vor der Zellteilung imitiert, um selbst bei verschwindend geringem Spurenmaterial eine ausreichende Ausgangsbasis für die Feststellung des DNA -Identifizierungsmusters zu erhalten. Um die Anzahl der Wiederholungen in den vervielfältigten Abschnitten darzustellen, wird das gewonnene Material auf ein Gel aufgetragen, das elektrisch geladen ist. Die negativ geladenen DNA -Bruchstücke bewegen sich auf die positiv geladene Elektrode am Ende der Gelschicht zu. Die kürzeren und leichteren Bruchstücke wandern schneller als die längeren, schwereren Fragmente. So entsteht ein Muster dünner Streifen (Banden) unterschiedlicher Länge, sie entsprechen der Anzahl der Wiederholungen. Um diese sichtbar zu machen, werden sie mit DNA Sonden radioaktiv markiert und auf einen Röntgenfilm übertragen, der das Verteilungsmuster in Form eines Barcodes (auch Balkenkode) visualisiert (s. Abbildung 26). In einem weiteren Schritt können diese Informationen in einen digitalen Kode umgewandelt und so in einer Datenbank gespeichert und verarbeitet werden. Aufgrund dieses aufwändigen und kostspieligen Verfahrens lässt sich der genetische Fingerabdruck nur dann zu kriminalistischen Zwecken
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26 Der genetische Fingerabdruck wird für die Fahndung nach Straftätern ebenso verwendet wie zur Bestimmung der Vaterschaft. Hier sieht man eine Untersuchung im Charité-Institut für gerichtliche Medizin, Berlin.
einsetzen, wenn die einzelnen Schritte standardisiert sind und die Qualität der Verarbeitung von Gewebeproben permanent überwacht wird. Serologische und gerichtsmedizinische Labors müssen für diese Verfahren akkreditiert werden und unterliegen regelmäßigen Qualitäts- und Eignungsprüfungen durch nationale Aufsichtsbehörden. Auf europäischer Ebene gibt es bislang keine Behörde, die sich um die Einhaltung von Standards kümmert. Es existiert nur eine Entschließung des Europäischen Rates vom 25. Juni 2001, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, die von dem European Network of Forensic Science Institutes (ENFSI ) erarbeiteten Standards umzusetzen und einzuhalten. Es handelt sich dabei um zwei Arten von Standards. Der erste betri≠t die Qualitätsstandards, mit denen die Labore arbeiten, deren DNA Profil an fremde Behörden mitgeteilt werden. Der zweite Standard legt eine verbindliche Liste von Loci fest, auf denen das DNA -Identifizierungsmuster beruhen sollte. Bisher werden sieben Abschnitte ausgewertet, in Deutschland wird mit dem Locus SE33 noch ein achter Abschnitt berücksichtigt, der für die Bearbeitung von Tatortspuren besonders geeignet ist. Im April 2005 wurde von einer Expertengruppe eine
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Erweiterung auf zehn Abschnitte vorgeschlagen, um das Risiko von falsch-positiven Antworten weitgehend ausschalten zu können.9 DNA -Profile in der praktischen Polizeiarbeit
Die Integration des genetischen Fingerabdrucks in die kriminalistische Praxis ist noch nicht abgeschlossen. Zu den Akteuren, die miteinander kooperieren, gehören Genetiker und ihre Labortechniken, die Mitarbeiter des Erkennungsdienstes mit ihren Verfahren der Spurensicherung, die Kriminalisten in den Zentralstellen mit ihren Datenbanken sowie Politiker und Experten in den Fachressorts der Ministerien, die rechtliche und budgetäre Lösungen für die Integration der neuen Technologie in das Strafverfahren erarbeiten. In der Debatte um die Art der Nutzung der DNA -Identifizierungsmuster sind außerdem noch Datenschützer, Richter und kritische Intellektuelle engagiert. Aus einer europäischen Perspektive ist die starke Präsenz der Kriminalisten in der deutschen Debatte auffällig. Ihre Interessenvertretung, der Bund Deutscher Kriminalbeamter, betreibt eine engagierte Pressearbeit und hat allein in der ersten Hälfte des Jahres 2005 acht Stellungnahmen zum genetischen Fingerabdruck herausgegeben. Die Ö≠entlichkeitsarbeit ist sicher nicht das einzige Aktionsfeld der beamteten Experten, sie spielen auch in der kriminalpolitischen Diskussion eine gewichtige Rolle. Ihre Autorität wird dadurch verstärkt, dass das BKA und die meisten Landeskriminalämter als Kompetenzzentren um die Anwendung und Weiterentwicklung der bewährten Verfahren bemüht sind. Im Vergleich zu den Kollegen aus den gerichtsmedizinischen Instituten der deutschen Universitäten können die Strafverfolgungsbehörden die wissenschaftliche Befähigung mit Praxiserfahrung und einem institutionell verankerten kriminalpolitischen Programm verbinden. Die Integration des genetischen Fingerabdrucks wird nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als kriminalpolitische und organisatorische Herausforderung verstanden. Das kann man einem Vortrag von Hermann Schmitter – Leiter der Fachgruppe Serologie am BKA – auf der ersten DNA -Nutzerkonferenz entnehmen, die 1999 in Lyon veranstaltet wurde.10 Schmitter forderte eine gut durchdachte Ö≠entlichkeitsarbeit, um die Bevölkerung über die Funktionsweise des genetischen Fingerab-
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drucks zu informieren und auf dessen Bedeutung für die Auf klärung von Straftaten hinzuweisen. Die Erfolge, wie sie in den Pressemitteilungen der Landeskriminalämter immer wieder herausgestellt werden, sind Teil dieser Strategie. Sie sollen die Akzeptanz der neuen Verfahren erhöhen. Der rasche Fahndungserfolg in dem prominenten Fall Moshammer ist aus dieser Perspektive von unschätzbarem Wert. Zur besseren Integration des DNA -Identifizierungsmusters in die kriminalpolizeiliche Praxis plant Schmitter, die Kriminalpolizisten über die Grenzen und Möglichkeiten der neuen Verfahren besser zu informieren. Ziel ist, den Blick für die Tatortspuren zu schärfen und vor allem den Geweberesten besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Für die Kriminaltechniker sieht er ein spezielles Training vor, denn nur ein angemessener Umgang mit den Gewebeproben kann gewährleisten, dass sie weder verunreinigt noch beschädigt im Labor eintre≠en. Schmitter plädiert außerdem für eine umfassende Information der Staatsanwälte, Richter und Verteidiger, um sie von der Zuverlässigkeit dieses Beweismittels zu überzeugen. DNA -Identifizierungsmuster sind zwar seit einem Grundsatzurteil des BGH im Jahr 1990 zulässig. Trotzdem gibt es in der deutschen Justiz weiterhin berechtigte Zweifel an der Aussagesicherheit des Verfahrens. Denn selbst bei einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte die am Tatort gesicherte Spur verursacht hat, kann der genetische Fingerabdruck allein keine Tatschuld begründen. Eine falsch-positive Identifizierung ist aufgrund von Zufallsfehlern oder der Verunreinigung von Proben eben nicht auszuschließen.11 1992 wurde ein Urteil des Landgerichtes Hannover aufgehoben, das sich mangels weiterer Indizien ausschließlich auf das DNA -Identifizierungsmuster gestützt hatte. Die Begründung: Die Staatsanwaltschaft hätte den genetischen Fingerabdruck des serbischen Angeklagten mit Mustern von Serben und nicht von Niedersachsen vergleichen müssen. Heute steht den Landeskriminalämtern für solche Fälle eine spezialisierte Datenbank des European Network of Forensic Science Institutes (ENFSI ) zur Verfügung. Sie enthält 5700 genetische Profile aus 24 europäischen Ländern und erlaubt den Labors die Berechnung von Verteilungsmustern anhand verschiedener Kriterien.12 Schmitters Überlegungen zeigen, dass die Durchsetzung des neuen
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Verfahrens durch die Bildung unterschiedlicher Allianzen betrieben wird. In diesem Netzwerk teilen nicht alle dieselben Vorstellungen vom genetischen Fingerabdruck. Als Leiter der Fachgruppe Serologie weiß Schmitter selbst über die technischen Grundlagen bestens Bescheid. Von den Politikern, Journalisten und den kriminalistischen Praktikern lässt sich dies nur schwerlich behaupten Sie engagieren sich in diesen Diskussionen anhand allgemeiner und oftmals sehr unspezifischer Vorstellungen von den Grenzen, Möglichkeiten und Risiken der neuen Technologie. Die rechtliche Situation in Deutschland Ein wesentlicher Adressat der kriminalistischen PR -Bemühungen war und ist die Legislative. Sie legt die Rahmenbedingungen fest und setzt damit Grenzen für den Datenhunger der Ermittler. Der Fall Moshammer wird gegenwärtig von verschiedenen Akteuren ausgeschlachtet, um die verfahrensrechtliche Gleichsetzung der konventionellen und genetischen Fingerabdrücke zu erreichen. Wie Lichtbild oder Fingerabdruck könnte der DNA -Kode dann zu jeder erkennungsdienstlichen Behandlung gehören. Das würde eine deutliche Ausweitung der erfassten Personen ermöglichen. Während bisher nur knapp 400 000 DNA -Identifizierungsmuster von Täter- und Tatortprofilen gespeichert sind, enthält die Fingerabdruckdatenbank 3,2 Millionen Einträge. Derzeit enthalten die gesetzlichen Bestimmungen in Deutschland einen Richtervorbehalt für jede Form der Erhebung genetischer Informationen. Sowohl für die molekularbiologische Bearbeitung von Gewebeproben, die am Tatort sichergestellt wurden als auch für die Erhebung von Speichelproben von Beschuldigten und Verdächtigen ist ein richterlicher Beschluss erforderlich. Das gilt selbst dann, wenn es sich um eine freiwillige Probe handelt. Darin kommt die Überzeugung des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass letztlich nur ein Richter derart weit reichende Entscheidungen tre≠en kann, die über die Schuld oder Unschuld von Menschen entscheiden. Im DNA -Identitätsfeststellungsgesetz von 1998 wurde zusätzlich zum Abgleich des genetischen Fingerabdrucks mit den Tatortspuren der Auf bau einer Datenbank vorgesehen. Dabei legte der Gesetzgeber
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den Personenkreis fest, auf den die Abspeicherung des DNA -Kodes als präventive Maßnahme angewandt werden kann: Es handelt sich um jene Beschuldigten, die „einer Straftat von erheblicher Bedeutung, insbesondere eines Verbrechens, eines Vergehens gegen die sexuelle Selbstbestimmung, einer gefährlichen Körperverletzung, eines Diebstahls in besonders schwerem Fall oder einer Erpressung verdächtigt [sind]“ und von denen man aufgrund der „Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit […] oder sonstiger Erkenntnisse […]“ annimmt, dass sie erneut Straftaten begehen werden.13 Diese Regelung ist deutlich restriktiver als die englischen Vorgaben, die für alle Personen die Erstellung und Abspeicherung eines genetischen Fingerabdrucks billigen, die einer Straftat verdächtig sind, für die eine Freiheitsstrafe verhängt wird. Das englische Modell gilt unter deutschen Kriminalisten als vorbildlich. Unterstützt wird die Forderung nach einer Ausweitung des Straftatenkatalogs, für die eine Erfassung in der Datenbank möglich ist, durch kriminologische Forschungen zu Sexualstraftätern. Dabei hat sich gezeigt, „dass bei Sexualstraftätern, die in massiver und aggressiver Weise vorgehen, oftmals bereits erhebliche polizeiliche Vorkenntnisse vorliegen, die eine beachtliche Deliktsbreite aufweisen, darunter insbesondere auch Straftaten gegen das Vermögen oder die körperliche Unversehrtheit“.14 Die zitierte Argumentation stammt aus dem Referentenentwurf für eine Gesetzesnovelle zur forensischen DNA -Analyse vom Mai 2005. Sie zeigt die Bereitschaft zum Dialog mit den Kriminalisten und den konservativen Kräften. Dennoch wird in dem Entwurf die Gleichsetzung von DNA -Identifizierungsmustern und Fingerabdrücken vermieden. Der Richtervorbehalt bleibt auf die Ermächtigung zur unfreiwilligen Entnahme von Speichelproben beschränkt. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter äußert sich deshalb positiv zu diesem Entwurf, kritisiert jedoch das Fortbestehen von richterlichen Schranken. Seit der Änderung des DNA -Identitätsfeststellungsgesetzes am 2. Juni 1999 ist zusätzlich die Überprüfung von so genannten Alt-Fällen möglich. Anders als in den USA geht es dabei weniger um die Entlastung von unschuldig Verurteilten, sondern eher um die Ermittlung von Tatverdächtigen in jenen Fällen, die aufgrund mangelnder Indizien nicht aufgeklärt werden konnten. Durch diese Regelung können die ge-
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netischen Fingerabdrücke von bereits Verurteilten in die Datenbank aufgenommen werden, wenn deren Eintragung im Bundeszentralregister noch nicht getilgt ist. Damit sind spektakuläre Ermittlungserfolge möglich geworden, wie eine Pressemitteilung des LKA Nordrhein-Westfalen vom 21. Juli 2004 zeigt. Geschildert wird der Fall eines 42-jährigen verheirateten Mannes aus Westfalen, der vor zwanzig Jahren in München wegen Vergewaltigung angeklagt und zu zehn Jahren Haft verurteilt worden ist. Nach seiner Entlassung führte er „ein augenscheinlich normales Leben“ in einer westfälischen Kleinstadt. Im Jahre 2002 wurde ihm – als verurteilter Sexualstraftäter – eine Speichelprobe zur DNA Analyse entnommen, die seither in der DAD (DNA -Analyse-Datei) des BKA gespeichert ist. Zwei Jahre später machte die bayerische Polizei eine für ihn verhängnisvolle Entdeckung. Bei der Aufarbeitung eines Sexualmordes aus dem Jahr 1983 konnten DNA -Spuren gewonnen werden, die mit dem genetischen Fingerabdruck des Mannes übereinstimmten. Am 15. Juli 2004 wurde er als Tatverdächtiger wegen des Mordes an einer 18-jährigen Frau festgenommen, den er 21 Jahre zuvor verübt haben soll. Nicht in die Datenbank aufgenommen werden die Ergebnisse der Massentests, die zur Auf klärung von Sexualverbrechen durchgeführt werden. Dabei fordert die Polizei die in einer bestimmten Region lebenden Männer ohne Unterschied zur freiwilligen Speichelprobe auf. So geraten sehr viele Personen in das Aufmerksamkeitsraster der Polizei. Bei der Suche nach dem Mörder einer jungen Frau aus Mecklenburg-Vorpommern gaben beispielsweise zwischen 1998 und 2003 beinahe 4000 Männer aus der näheren Umgebung des Wohnorts des Mädchens freiwillige Speichelproben ab. Derartige Massentests stellen eine erhebliche Belastung für die Kapazitäten der serologischen und gerichtsmedizinischen Institute dar, welche die genetischen Fingerabdrücke herstellen. Das bayerische Landeskriminalamt wertet pro Jahr bis zu 15 000 Mundhöhlenabstriche und 10 000 Tatortspuren aus. Im LKA NordrheinWestfalen mussten im ersten Halbjahr 2004 gar 46 000 DNA -Analysen bewältigt werden. Der genetische Fingerabdruck stellt mehrere Herausforderungen an die Legislative. Im Fall des konventionellen Fingerabdrucks war die Frage nach der Auf bewahrung der Gegenstände, auf denen man die Fingerspuren gefunden hatte, nur für die Transparenz des Verfahrens
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interessant. Das ist anders im Fall der DNA -Identifizierungsmuster. Sie werden aus einem für diesen Zweck vom Probanden erhobenen oder am Tatort vorgefundenen Zellenmaterial gewonnen. Diese Zellen könnten auch für andere genetische Untersuchungen herangezogen werden. Darf der Staat dieses Risiko für die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen eingehen? In Deutschland ist es die erklärte Absicht des Gesetzgebers, diese Gefahr zu minimieren. Er bestimmt daher, dass Körperzellen, mit denen ein genetischer Fingerabdruck erzeugt wird, nach der molekulargenetischen Untersuchung sofort zu vernichten sind und dass jede zusätzliche Auswertung des Materials nicht gestattet ist. Eine solche Vorsicht kennt man in anderen europäischen Staaten nicht. In England und Wales können alle Zellen – vom Tatort, den Verdächtigen, Verurteilten und den Freiwilligen, nicht aber von den Opfern – unbeschränkt auf bewahrt werden. Ein wesentliches Element der gesetzlichen Regelungen zum genetischen Fingerabdruck betri≠t den Zugri≠ auf die DNA -Datenbank. Der deutsche Gesetzgeber sieht vor, dass Auskünfte aus der DNA -AnalyseDatei nur zum Zweck von Strafverfahren, der Gefahrenabwehr und der internationalen Rechtshilfe möglich sind. Ein gesonderter Hinweis auf den internationalen Datenaustausch ermöglicht die enge Kooperation der deutschen Polizeibehörden mit ihren ausländischen Partnern. Genetik und Kriminologie Im Oktober 2000 trafen sich amerikanische Naturwissenschaftler, Juristen und Kriminalisten in San Diego zur Second Annual National Conference on Science and the Law.15 Eine Sektion setzte sich mit der Gegenwart und Zukunft von DNA -Evidenz auseinander. Deborah Denno erö≠nete die Diskussion mit einem Hinweis auf einen Mordprozess in Georgia. Ein junger Mann aus wohlhabender Familie war angeklagt. Sein Anwalt fand wenig entlastendes Material in seiner Familie und seinem sozialen Umfeld und beantragte eine genetische Untersuchung, weil es in der Familie des Mörders zahlreiche bad people gab, die trotz ihres geschäftlichen Erfolges deutliche Zeichen abweichenden Verhaltens zeigten. Der Anwalt begründete seinen Antrag mit den Forschungen in den Niederlanden zur MAOA (Monoaminoxidase A).
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Es handelt sich dabei um die Studien des niederländischen Genetikers Han G. Brunner, Professor für medizinische Genetik an der Universität Nijmegen. Bei der Untersuchung der männlichen Mitglieder einer weit verzweigten niederländischen Familie fanden Brunner und seine Mitarbeiter ein häufiges Auftreten von abnormem Verhalten, vor allem Aggressivität und Gewalttätigkeit, aber auch Brandstiftung, versuchte Vergewaltigung, Exhibitionismus und einen Selbstmordversuch. Die genetische Analyse ergab bei diesen Männern einen Defekt im Gen für die Monaminoxidase, das sich auf Locus Xp11.23 befindet.16 Brunner behauptete nicht, ein Gen für Gewalttätigkeit oder gar abweichendes Verhalten gefunden zu haben. Das entspräche nicht der Auffassung der Genetiker, die davon ausgehen, dass mehrere Gene bzw. das Zusammenwirken von genetischer Anlage und Umwelteinflüssen für Krankheiten und Verhaltensanomalien verantwortlich sind. Ihre Forschungen setzen jedoch eine Tradition fort, die mit dem Interesse für die biologischen Ursachen von abweichendem Verhalten zur Zeit der Jahrhundertwende begann, durch die kriminalbiologischen Forschungen der 1920er-Jahre wie des Dritten Reiches neue Impulse erhielt und zu verhängnisvollen Maßnahmen des NS -Unrechtsstaates führten. In der Nachkriegszeit gab es keinen Versuch mehr, abweichendes Verhalten in seiner Gesamtheit biologisch zu erklären. Die Forschungen von Patricia Jacobs in der Mitte der 1960er-Jahre konzentrierten sich auf die Zusammenhänge zwischen aggressivem Verhalten und Chromosomenanomalien. Sie zeigte, dass in einer psychiatrischen Anstalt für Straftäter Männer mit einer Chromosomenabweichung überrepräsentiert waren. Die von ihr angenommene erhöhte Aggressivität von Männern mit einem zusätzlichen Y-Chromosom ließ sich in nachfolgenden Studien nicht nachweisen.17 Die kriminologischen Forschungen zu den biologischen Ursachen von abweichendem Verhalten stehen in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Erstellung des genetischen Fingerabdrucks. Das dafür verwendete Zellenmaterial könnte ähnliche Gelüste nach einer Sekundäranalyse wachrufen, wie sie der frühere BKA -Chef Herold im Hinblick auf die Fallakten geäußert hatte. Eine umfassende genetische Studie zu Tatverdächtigen und Beschuldigten könnte sicherlich eine Fülle von Erkenntnissen liefern, deren Nützlichkeit heftig umstritten
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wäre. Ihre Verfügbarkeit könnte in jedem Fall zur Entwicklung von Präventionsprogrammen herangezogen werden, wie sie zum Teil bereits in den USA ausprobiert werden und die gefährliche Konsequenzen für die Persönlichkeitsrechte der Bürger hätten. Eine solche Schreckensvision kann derzeit glücklicherweise nicht realisiert werden. Die Sekundäranalyse des Zellmaterials von Straftätern für genetische Forschungen ist nach der aktuellen Rechtslage illegal. Die Entschließung des Europäischen Rates vom 25. Juni 2001 fordert die Mitgliedstaaten auf, die DNA -Analyse – wenigstens den Austausch der Analyseergebnisse – auf solche Chromosomenbereiche zu beschränken, die keine Informationen über bestimmte Erbmerkmale erhalten. Die kriminalistische Forschung im Bereich des genetischen Fingerabdrucks interessiert sich jedoch verstärkt für zusätzliche Informationen über Straftäter. Motiviert wird diese Forschung durch die Herausforderung ungelöster Fälle. Wenn in der DNA -Datenbank ein Straftäter noch nicht erfasst ist, der eine Spur am Tatort hinterlassen hat, wäre die Rekonstruktion seines Phänotyps, d. h. seines Aussehens anhand der genetischen Analyse für die Fahndung sehr hilfreich. Die zukünftigen Entwicklungen und Fortschritte in diesem Bereich sind gegenwärtig nicht abzuschätzen. Mit den bestehenden Verfahren lassen sich aufgrund von Verteilungsmustern innerhalb des genetischen Fingerabdrucks gewisse Anhaltspunkte für die ethnische Zugehörigkeit gewinnen. Die Geschlechtszugehörigkeit wird ja bereits jetzt bestimmt. Angesichts der erheblichen Ressourcen, die für diese Art von Forschung zur Verfügung stehen, ist davon auszugehen, dass die serologischen und gerichtsmedizinischen Labors immer mehr an Informationen aus den Spuren ermitteln werden. Dann ist jedoch Selbstbeschränkung vonseiten der Forscher und eine entsprechende Kontrolle notwendig, um nicht kriminalbiologische Verirrungen im Sinne einer genetischen „Normalisierung“ der Bevölkerung zu begünstigen.
10. Profiling – neue Wege der Fallanalyse Seit den 1960er-Jahren verfolgen die Kriminalisten mit Besorgnis die steigende Zahl von Tötungsdelikten, gegen die man mit herkömmlichen Ermittlungsmethoden keinen Erfolg erzielen kann. Es handelt sich um Morde, die von Fremden und aus unbekannten Motiven verübt werden. Laut dem Uniform Crime Report des FBI erhöhte sich der Anteil dieser Morde in den USA zwischen 1964 und 1994 von zwanzig auf über fünfzig Prozent; die Auf klärungsrate bei Tötungsdelikten reduzierte sich dadurch erheblich. In Deutschland ist die Auf klärungsrate immer noch beachtlich, sie liegt derzeit bei 96,5 Prozent. Dennoch tragen die wenigen unaufgeklärten Tötungsdelikte zur Beunruhigung der Bevölkerung bei, weil der Täter scheinbar wahllos seine Opfer auswählt und in teils sadistischer Manier tötet. Die Grausamkeit dieser kriminellen Akte wird in der Boulevardpresse als Kennzeichen eines grundsätzlichen Anders-Seins präsentiert, die den Täter zur ‚Bestie‘ in Menschengestalt macht. Für die Kriminalisten stellen derartige Fälle eine erhebliche Herausforderung dar, weil das Anders-Sein der Täter nur in seltenen Fällen deutlich sichtbar ist. Kriminologische Untersuchungen haben gezeigt, dass gerade Serienmörder sich ihrer sozialen Umgebung perfekt anpassen und, wenn überhaupt, nur ihren Psychiatern als Problemfälle bekannt sind.1 Aus der Sicht der Ermittler bedeutet die erfolgreiche Inszenierung von sozialer Normalität durch den Mörder, dass grundsätzlich jeder verdächtig ist. Der freundliche Nachbar kann ebenso wie der Arbeitskollege ein Doppelleben führen, in dem Hilfsbereitschaft und Verbindlichkeit plötzlich in Grausamkeit und Mordlust umschlägt. Dieses Nebeneinander von zwei gegensätzlichen Verhaltensformen weist auf eine schwere Persönlichkeitsstörung hin, die der Täter vor den Opfern und seinem sozialen Umfeld erfolgreich verbergen kann.
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Wenn jeder verdächtig ist, kann ein Verbrechen nicht aufgeklärt werden. Denn ein derart genereller Verdacht lässt sich in der Fahndung nicht konstruktiv umsetzen. In diesen schwierigen Fällen verwendet die Polizei unterschiedliche Strategien, um den Kreis der Verdächtigen zu beschränken. Dazu zählen die Ö≠entlichkeitsfahndung (Kapitel 7) die Rasterfahndung (Kapitel 8) und die Durchführung von DNA -Reihentests bei einer größeren Gruppe von Männern (Kapitel 9). Ein zusätzliches Hilfsmittel ist die in diesem Kapitel vorgestellte Operative Fallanalyse (OFA ), eine deutsche Variante des amerikanischen Profiling, das als Ermittlungstechnik durch literarische Bestseller und Spielfilme wie etwa Das Schweigen der Lämmer (1991) einer breiten Ö≠entlichkeit bekannt gemacht wurde.2 Das Profiling und die Operative Fallanalyse stellen neue Hilfsmittel für die kriminalistische Praxis bereit. Es handelt sich dabei um psychologische und psychoanalytische Konzepte sowie um hermeneutische Verfahren der Interpretation, die für die Suche nach unbekannten Schwerstverbrechern genutzt werden. Den Kern dieser Verfahren bildet die Analyse des Tatorts und der Opfer. Dr. Hannibal Lecters Rat an die junge FBI -Agentin Clarice Starling im Film Das Schweigen der Lämmer tri≠t die Logik des Profiling ganz gut: Er fordert sie zur analytischen Lektüre der Fallakten auf, weil sich darin die entscheidenden Hinweise zur Ermittlung des Serienmörders finden lassen. Im Mittelpunkt: die detaillierte Fallanalyse Die Profiler nutzen bei ihrer Arbeit die Protokolle der Beamten, die den Mordfall bearbeiten. Mit einer neuen Sicht auf den Fall, die psychologische und kriminologische Theorien mit kriminalistischem Erfahrungswissen verbindet, erhalten sie zusätzliche Aufschlüsse über den Tathergang und den Täter. Sie interessieren sich dabei für die ungewöhnlichen Details der Fälle, die über die rein funktionalen Aspekte der Tatbegehung hinausgehen. Wie bereits bei Sherlock Holmes wird hier nicht „Seltsames mit Mysteriösem verwechselt“, sondern gilt als aussagekräftig für die Rekonstruktion der Persönlichkeit des Täters.3 Profiling ist in den Medien populär; die autobiografischen Darstellungen von FBI -Beamten, die erfolgreich in diesem Metier tätig waren,
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sind Beststeller. Selbst in Deutschland haben die Bücher des österreichischen Kriminalpsychologen Thomas Müller und des deutschen Fallanalytikers Stephan Harbort eine Verbreitung, die ein Sachbuch selten erreicht. Diese Präsenz in den Medien führt dazu, dass Profiling zu einem Wunschberuf gerade für Psychologiestudenten wird. Eine Internetseite des Bundeskriminalamts setzt sich gezielt mit diesen Zukunftsplänen auseinander, um falschen Erwartungen rechtzeitig entgegenzutreten. Die Experten des BKA betonen, dass der Bedarf an gut ausgebildeten Fallanalytikern derzeit vollkommen gedeckt sei. Außerdem gäbe es in Deutschland – anders als in den USA – keinen Markt für polizeiexterne Fachkräfte, die gegen Honorar ihren Sachverstand in laufende Ermittlungen einbringen. Das ist einer der Unterschiede zwischen der deutschen und der amerikanischen Polizei. In Deutschland wird die Operative Fallanalyse als integraler Bestandteil der Kriminalistik gesehen, die nur von Beamten praktiziert werden kann, die Erfahrung in der polizeilichen Ermittlungstätigkeit haben. Die Fallanalytiker der deutschen Polizei verfügen daher alle über ein entsprechendes Praxiswissen in einem der relevanten Deliktsbereiche. Selbst die in diesem Bereich tätigen Psychologen benötigen eine mehrjährige Berufserfahrung bei der Polizei. Die große Bedeutung des kriminalistischen Erfahrungswissens für die Fallanalyse erinnert an die Überlegungen von Kriminalisten des 19. Jahrhunderts zu ihrer eigenen Vorgehensweise. Als wichtiges Hilfsmittel zur Enttarnung von sozial angepassten Verbrechern, die bereits damals ein erhebliches Sicherheitsproblem darstellten, sahen sie ihren so genannten praktischen Blick, den man als einen fachspezifischen, flexiblen und doch weitgehend standardisierten Wirklichkeitsbezug beschreiben kann. Die Ausbildung der Beamten sollte in der Verbindung von Praxiswissen und theoretischen Kenntnissen diesen praktischen Blick schärfen und dadurch zum Erfolg im Kampf gegen Berufsverbrecher beitragen. Das Profiling und die Operative Fallanalyse erscheinen aus dieser Perspektive als weitere Versuche der Praktiker, in Auseinandersetzung mit theoretischen Modellen und unter Verwendung moderner sozial- und geisteswissenschaftlicher Verfahren das kriminalistische Erfahrungswissen zu systematisieren und zur besseren Auf klärung von Straftaten zu verwenden.
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Profiler auf der Spur eines politischen Einzeltäters Anfang Dezember 1993 erschütterte eine Brief bombenserie die österreichische Politik. Unter den Opfern waren der katholische Pfarrer August Janisch, die Mitarbeiterin der Minderheitenredaktion des ORF , Silvana Meixner, und der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, dessen linke Hand beim Ö≠nen eines der präparierten Briefe zerfetzt wurde. Die Brief bomben an den Caritas-Präsidenten Helmut Schüller, die österreichischen Grünen-Politikerinnen Madeleine Petrovic und Terezija Stoisits, an die Frauenministerin Johanna Dohnal und den Obmann eines slowenischen Vereins wurden rechtzeitig entdeckt. Die Anschläge waren ganz o≠ensichtlich politisch motiviert und richteten sich gegen eine ausländer- und minderheitenfreundliche Politik. Die österreichische Polizei hatte lange Zeit keine weiteren Anhaltspunkte für die Auf klärung der Straftaten. Sie konzentrierte sich daher auf Nachforschungen und Hausdurchsuchungen im rechten politischen Milieu, die jedoch zu keinem Erfolg führten. Während die Polizei noch verschiedenen Spuren nachging, schlug der Bombenleger mehr als ein halbes Jahr später, im August 1994, erneut zu. Diesmal war eine zweisprachige Schule in Klagenfurt das Ziel des Attentats. Beim Versuch, die Rohrbombe zu entschärfen, verlor ein Polizist beide Hände. Wenig später, im Oktober desselben Jahres, verschickte der Täter erneut Brief bomben, die aufgrund eines Konstruktionsfehlers nicht explodierten. Adressaten waren auch dieses Mal Personen, die für Minderheitenrechte bzw. für die Integration von Ausländern eintraten, darunter ein slowenischer Verlag in Klagenfurt, der Abt von Stift Wilten in Tirol und ein Verein zur Ausländerbetreuung in Dornbirn. Diese Anschläge bezogen sich ganz o≠enkundig auf zwei kontroverse Themen der österreichischen Innenpolitik: die Ausländer- und die Minderheitenfrage. Obwohl die Rechte der ethnischen Minderheiten in Artikel 7 des Staatsvertrages von 1955 klar geregelt sind, steht die vollständige Umsetzung dieser Bestimmungen immer noch aus. Bekannt ist der so genannte Ortstafelsturm des Jahres 1972 in Südkärnten, bei dem die zweisprachigen Ortstafeln von deutschnationalen Kärntnern eigenmächtig entfernt und seither nicht mehr aufgestellt wurden. Eine Neuauf lage dieser Diskussion gab es im Jahre 2002, als sich der Kärnt-
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ner Landeshauptmann Jörg Haider (FPÖ/BZÖ ) weigerte, ein entsprechendes Urteil des Verfassungsgerichtshofes umzusetzen. Ein weiteres politisches Betätigungsfeld von FPÖ und Kärntner Heimatdienst war der Kampf gegen zweisprachige Schulen, gegen die sich auch eines der Attentate richtete. Ein direkter, kausaler Zusammenhang zwischen den politischen Ambitionen von FPÖ wie Heimatdienst und den Attentaten bestand aus heutiger Sicht nicht. Für die österreichischen Sicherheitskräfte war eine solche Hypothese mangels anderer Spuren durchaus nahe liegend. Der Verdacht gegen die rechte politische Szene verstärkte sich nach dem nächsten Attentat: Im Februar 1995 wurden im burgenländischen Oberwart fünf Roma getötet, als sie ein Schild mit der Aufschrift „Roma zurück nach Indien“ entfernen wollten. Sie aktivierten dabei eine Sprengfalle – eine Rohrbombe mit erheblicher Sprengkraft. Am folgenden Tag wurde ein Mitarbeiter der Müllabfuhr in Stinatz, einer Ortschaft mit einer aktiven kroatischen Kulturszene, durch eine Rohrbombe leicht verletzt. Nach diesen Anschlägen wurden die Brief bombenattentate fortgesetzt: vom Juni, Oktober und Dezember 1995 bis Ende 1996. In Deutschland waren die Fernsehmoderatorin Arabella Kiesbauer und der Lübecker SPD -Geschäftsführer Thomas Rother als Adressaten betro≠en. Die Polizei und die Ö≠entlichkeit erhielten durch mehrere teilweise umfangreiche Bekennerbriefe zusätzliche Anhaltspunkte für die Zuordnung der Attentate. Darin bekannte sich eine so genannte Bajuwarische Befreiungsarmee als Vereinigung von unabhängig operierenden Kampftrupps mit klingenden Namen wie „Rüdiger Graf von Starhemberg“ und „Andreas Hofer“ zu den Verbrechen. Den Schreiben zufolge waren die Anschläge verübt worden, um der drohenden Unterwanderung Österreichs durch Nicht-Deutsche, vor allem durch Slawen und Slowenen zu begegnen. Die Bekennerschreiben gaben der Polizei gemeinsam mit der detaillierten Auswertung der Brief- und Rohrbomben die entscheidenden Hinweise für die Ermittlung. Der österreichische Kriminalist Thomas Müller war ein einflussreicher Vertreter der Einzeltäterhypothese. Er war der erste Profiler im deutschsprachigen Raum. Seine Karriere bei der Polizei hatte als Streifenpolizist begonnen. Durch ein Psychologiestudium und eine Ausbildung am FBI bei dem bekannten Fallanalyti-
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ker Robert K. Ressler zum Profiler qualifizierte er sich weiter und wurde schließlich 1993 zum Leiter des kriminalpsychologischen Dienstes im Innenministerium ernannt. Mittlerweile kann er auf zahlreiche kriminalistische Erfolge im In- und Ausland zurückblicken, außerdem feiert er mit dem Theaterstück Thomas Müllers Theatertäter auf österreichischen wie deutschen Bühnen Erfolge. Im Fall des Brief bombenattentäters erarbeitete Müller gemeinsam mit FBI -Experten ein Täterprofil. Die Entscheidung für die Einzeltäterhypothese, die in der Ö≠entlichkeit immer noch umstritten ist, ergab sich für Müller durch die Auswertung der Bekennerbriefe. Es zeigte sich, dass der Täter während des Zeitraums, in dem er komplexe Bomben baute, weniger lange Schreiben verfasste. Als Einzeltäter verfügte er über ein begrenztes Zeitkontingent, das er nicht beliebig erweitern konnte. Nachdem für Müller feststand, dass es die Polizei mit einem Einzeltäter zu tun hatte, forschte er nach den Hinweisen auf das Persönlichkeitsprofil des Attentäters. Zumindest seine politische Gesinnung war mehr als o≠ensichtlich. Welcher Mensch verbarg sich jedoch hinter diesem politischen Attentäter? Aufgrund einer Analyse der Bomben tippte der Wiener Profiler auf eine zwanghafte Persönlichkeitsstruktur. Ein wichtiges Indiz dafür lieferten die Batterien: Sie waren immer penibel genau in gleicher Höhe eingerichtet – ein Merkmal, das für die Funktionalität der Bombe nicht entscheidend war und deshalb nach der Logik des Profiling als Ausdruck der Täterpersönlichkeit gelesen werden konnte.4 Für eine zielgerichtete Fahndung waren diese Erkenntnisse aber noch immer zu wenig aussagekräftig. Die Polizei konnte kaum alle ausländerfeindlich eingestellten Österreicher mit zwanghafter Persönlichkeit observieren. Deshalb entschieden sich die Sicherheitskräfte zu einer provokativen Strategie, die in Abstimmung mit einem Psychiater ausgearbeitet wurde. Als zwanghafte Persönlichkeit sah man den Attentäter anfällig für Stress; er sollte durch gezielte Provokationen zu einem auffälligen Verhalten getrieben werden. Deshalb teilte Müller das von ihm erarbeitete Täterprofil Ende 1996 der Presse mit. Es beschrieb den Täter unter anderem als etwa fünfzigjährig, allein stehend und in einem Einfamilienhaus lebend. Wenig später kündigte der oberste österreichische Polizeichef an, dass der Täter mit der bald einsetzenden Rasterfahn-
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dung identifiziert werden könne und dass die wenigen Menschen mit der Fähigkeit zur Herstellung dieser Bomben bereits observiert würden. Dieser Plan funktionierte wie erwartet. Bereits am ersten Tag nach der Einführung der Rasterfahndung in Österreich, am 1. Oktober 1997, fühlten sich zwei Frauen von einem Mann in einem Auto verfolgt. Sie trauten sich nicht mehr aus dem Auto auszusteigen und riefen einen ihrer Ehemänner zu Hilfe, der die Gendarmerie verständigte. Als die beiden Beamten den Fahrer kontrollieren wollten, fühlte sich der 48-jährige Franz Fuchs aus Gralla bei Leibnitz ertappt und zündete eine seiner Rohrbomben. Aus seiner Sicht zählten die beiden Frauen zu einem Überwachungsteam, das Unterstützung angefordert hatte. Sein Selbstmordversuch schlug fehl, die Bombe trennte ihm beide Hände ab; einer der beiden Beamten erlitt bei der Amtshandlung eine Augenverletzung. Der Täter hatte sich mit dieser Aktion quasi gestellt. In rechtlicher und polizeilicher Hinsicht wurde der Fall Fuchs im März 1999 mit einer Verurteilung zu lebenslanger Haft abgeschlossen. Fuchs beging ein Jahr später in seiner Zelle Selbstmord. Die Debatte über die Attentate war damit noch nicht zu Ende. Zu stark waren wichtige Themen der österreichischen Innenpolitik mit diesem Fall verquickt. Eine Auswertung der Bekennerbriefe, die insgesamt siebzig Seiten umfassen, erschloss den Forschern eine zutiefst ‚österreichische Figur‘, die ihre soziale und psychische Not in ethnisch-rassischen Kategorien zum Ausdruck brachte und sich gegen die Entfremdung durch Immigration, europäische Integration und den Abbau des Sozialstaates auf ihre Art wehrte, nämlich als gewalttätige Attacke gegen die „Tschuschen-Diktatur“.5 Tätertypologien und die Aufklärung eines Sexualmordes Das Profiling wurde in den USA als kriminalistische Methode im Kampf gegen Serienmörder und Serienvergewaltiger entwickelt. In den 1970er-Jahren gründete das FBI die so genannte Behavioral Science Unit. Sie begann mit der Scha≠ung einer empirischen Basis für die Fahndung nach Gewaltverbrechern. Dazu wurden 36 verurteilte Sexualmörder in den Haftanstalten detailliert befragt und zusätzliche Daten aus ihren Fallakten erhoben.6 In Deutschland gri≠ der Kriminalist Stephan
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Harbort in den 1990er-Jahren diese Idee auf und analysierte die Fälle von 22 sexuell motivierten Serienmördern der deutschen Nachkriegszeit, um dadurch konzeptionelle Hilfsmittel zur Unterstützung von laufenden Ermittlungen zu entwickeln.7 Das Profiling beruht auf der Annahme, dass die Tat etwas über die Persönlichkeit des Täters aussagt. Die Spuren des Tatorts bieten als solche zu wenig Informationen, um ein di≠erenziertes Persönlichkeitsbild erstellen zu können. Deshalb verwenden Fallanalytiker verschiedene Typologien, die anhand von Studien über bekannte Straftäter erarbeitet wurden. Sie gehen davon aus, dass Täter mit ähnlicher Tatbegehung auch in ihren Persönlichkeitsmerkmalen weit gehend übereinstimmen. Ein Beispiel für diese Typologien ist die Einteilung der Sexualmörder in organized nonsocial und disorganized asocial als Resultat eines zwischen 1979 und 1983 am FBI durchgeführten Forschungsprojekts. Der erste Typ wird als soziopathischer Mörder beschrieben. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er seine Opfer vor der Tat beobachtet und sorgfältig auswählt. Bei der Tötung geht er methodisch vor und versteckt Leiche wie Tatwa≠e. Zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse quält er die Opfer nach einem in seiner Fantasie festgelegten Plan. Wie die Forscher des FBI festgestellt haben, korrespondiert einem solchen Tatverhalten ein Tätertyp, der folgendermaßen beschrieben werden kann: intelligent, sozial kompetent, beruf lich etabliert, hohe räumliche Mobilität, lebt mit einem Partner und fährt ein relativ neues Auto. Der zweite Typ ist als Gegensatz dazu konstruiert. Dabei handelt es sich um geistig einfach strukturierte bis verwirrte Straftäter, die zurückgezogen und alleine, manchmal auch noch bei den Eltern leben und ihre Taten eher impulsiv begehen.8 Die Resultate dieses Criminal Personality Research Project wurden vielfach kritisiert. Die geringe Zahl der untersuchten Straftäter und die kulturell spezifische Situation der USA würden eine Verallgemeinerung kaum ermöglichen. Der deutsche Kriminalpsychologe Jens Ho≠mann schreibt dieser Studie wie auch der FBI -Untersuchung zu Serienvergewaltigern trotzdem eine zentrale Rolle für die Entwicklung des Profiling zu. Die Tätertypologien, die von unterschiedlichen Formen der Annäherung an das Opfer und der Kontrollgewinnung ausgehen, helfen den Fallanalytikern, die Komplexität der Gewalt- und Sexualver-
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brechen mit unbekanntem Motiv zu reduzieren und bieten empirisch abgesicherte Orientierungshilfen bei der Auf klärung von Straftaten. Diese Modelle wurden in Deutschland von einer BKA-Einheit für Operative Fallanalyse zur Klärung eines Sexualverbrechens im niedersächsischen Emsland eingesetzt. Es handelte sich um den Fall einer brutalen Vergewaltigung mit anschließender Tötung. Das Opfer war ein elfjähriges Mädchen namens Christina Nytsch, das im März 1998 auf dem Heimweg vom Schwimmbad überfallen worden war. Nach der Entdeckung des Leichnams stieg der Druck auf die Polizei stark an, die jedoch keine konkreten Hinweise auf einen Täter hatte. Deshalb wurde schon nach wenigen Tagen das Bundeskriminalamt eingeschaltet, das eine Spezialeinheit mit der Fallanalyse und der Erstellung eines Täterprofils betraute. Die Operative Fallanalyse funktioniert am besten, wenn eine Serie von Verbrechen desselben Täters vorliegt. Dann sind die Rückschlüsse von der Tatbegehung auf die Persönlichkeit des Täters fundierter. Die Fallanalytiker aus Wiesbaden konnten aber auch bei dieser Einzeltat anhand der Art des Überfalls, der mehrfachen Vergewaltigung und der Methode der Tötung wichtige Einsichten gewinnen. Wie bei jeder Fallanalyse begannen die Experten mit der Frage nach der Kontaktaufnahme. Dazu nutzten sie die Erkenntnisse über die Fahrtroute des Mädchens, den Fundort des Fahrrads und die Einsichten aus dem Opferprofil. Das Mädchen wurde von einer stark befahrenen Straße entführt, was ein erhebliches Entdeckungsrisiko für den Täter bedeutete. Nelly war ein selbstbewusstes Mädchen, das sich nicht leicht einschüchtern ließ; das konnten die Ermittler in ihren Gesprächen mit Eltern, Lehrern und Freunden feststellen. Deshalb schlossen sie mit relativer Sicherheit aus, dass Nelly freiwillig in ein fremdes Auto gestiegen sei. Der Täter musste also sehr schnell und brutal die Kontrolle über das Mädchen gewonnen haben. Das verwies wiederum auf einen impulsiven, nicht geplanten Überfall. Diese Annahme wurde unterstützt durch die Erkenntnisse aus der Opferwahl. Aufgrund zahlreicher Indizien schlossen die Experten aus, dass Nelly von dem Täter wegen seiner pädophilen Neigungen ausgewählt worden war. Der Täter entschied sich für das junge Mädchen, weil es ihm leichter schien, ein Kind unter seine Kontrolle zu bringen. Aus diesen und anderen Beobachtungen wurden drei fahndungsrele-
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vante Hypothesen abgeleitet. Erstens wurde das mutmaßliche Alter des Täters auf etwa 18 bis 27 Jahre geschätzt, weil die Tat zu brutal für einen jüngeren Mann schien. Zweitens gingen die Kriminalisten davon aus, dass der Täter einen ausgeprägten Drang besaß, zum Zweck sexuellen Dominanzerlebens einen Menschen ohne jede Rücksichtnahme in seine Gewalt zu bringen. Dieser Drang musste bereits früher zum Ausdruck gekommen sein. Drittens schlossen die Ermittler im klaren Widerspruch zu den Annahmen der lokalen Kriminalpolizei anhand der erst kurz zuvor entwickelten Methoden des geographic profiling auf einen Täter, der in der Region zu Hause war. Dabei stützten sie sich auf die Interpretation der Beziehungen zwischen dem Ort der Entführung, dem Fundort von Nellys Rucksack und dem eigentlichen Tatort. Der Rucksack wurde dabei zum entscheidenden Indiz. Er wurde zwischen dem Ort der Entführung und dem Tatort entdeckt. Die lokale Kriminalpolizei ging von einem Tathergang aus, bei dem der Täter das Opfer zuerst in seine Gewalt brachte, dann den Rucksack als belastendes Material verschwinden ließ und schließlich das Mädchen vergewaltigte und ermordete. Aus dieser Sicht gab es eine klare Bewegung weg vom Wohnort des Mädchens, was auf einen überregionalen Täter hinwies. Die Fallanalytiker konstruierten einen anderen Verbrechensablauf. Aus den Umständen der Entführung und der Brutalität bei der Kontrollgewinnung schlossen sie auf einen starken inneren Handlungsdruck des Täters. Deshalb hätte er sofort das Mädchen zum Tatort verschleppt, sie dort mehrfach vergewaltigt und getötet, um sein sexuelles Machtstreben rasch umsetzen zu können. Er fuhr dabei auf kleinen Straßen, die eigentlich nur den Einheimischen bekannt waren. Bei Abschluss der Tat geriet er unter Stress und wurde panisch, wie die unkontrollierte Tötung, das nachlässige Verbergen des Leichnams und das unachtsame Wegwerfen des Messers zeigten. Er flüchtete in seine Wohnung, wobei er den Rucksack als belastendes Indiz unterwegs beseitigte. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wurden die kriminalpolizeilichen Ermittlungen gezielt fortgesetzt. Zuerst wurden alle Lehrer der Region zusammengerufen, mit dem Täterprofil vertraut gemacht und anschließend befragt, ob sie sich an Schüler erinnern konnten, die wegen Gewalthandlungen an jungen Mädchen auffällig geworden waren. Diese Maßnahme führte zu keinem Ergebnis. Deshalb entschied sich
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die Polizei zur Durchführung einer DNA -Reihenuntersuchung in einer Gegend von zehn bis fünfzehn Kilometern rund um den Tatort, die von den Fallanalytikern als Herkunftsgebiet des Täters bezeichnet wurde. 75 Tage nach der Ermordung des Mädchens entlarvte die Speichelprobe Nummer 3889 den 30-jährigen Binnenschi≠er und Familienvater Ronny Rieken als Täter. Er war bereits in seiner Jugend in der von den Fahndern prognostizierten Weise auffällig geworden, lebte zu jener Zeit allerdings außerhalb der Region und war den Lehrern daher unbekannt. Wegen der außergewöhnlich brutalen Vergewaltigung seiner jüngeren Schwester hatte er bereits eine Freiheitsstrafe verbüßt. Er gestand neben weiteren Vergewaltigungen noch einen zweiten Sexualmord.9 Die Grundlagen des Profiling „To understand the artist, you must first look at the art work.“ Mit diesen Worten erklärte der ehemalige FBI-Profiler und erfolgreiche Schriftsteller John Douglas die Grundlagen seines Metiers. Anlass dafür war ein Online Chat, den der amerikanische Fernsehsender ABC zum Erscheinen von Douglas’ neuem Buch am 22. Juni 2000 veranstaltet hatte.10 Der Schluss des Kunstkritikers vom Kunstwerk auf den Künstler hat gewisse Anklänge an die Arbeit des Profilers, der von einem Tatort auf den Täter schließen muss. Es gibt aber wesentliche Unterschiede. Der Kunstkritiker kann in einem Kunstwerk die ‚Handschrift‘ eines ganz konkreten Künstlers erkennen, der selbst bei unsignierten Werken benannt werden kann. Für den Profiler ist ein solcher Schluss zwar wünschenswert, aber in der Praxis kaum machbar. Die Experten des FBI wie John Douglas ordnen den Täter anhand des Tatorts einer bestimmten Klasse von Verbrechern zu. Mit der Klassenzugehörigkeit verbinden sich Erwartungen an den Lebensstil und dadurch eine Einschränkung des Täterkreises. Um bei dem von Douglas angesprochenen Beispiel zu bleiben: Das FBI nimmt einen Unterschied zwischen einem Vertreter der modernen Kunst und einem passionierten Maler konventioneller Stillleben an, der sich nicht nur im künstlerischen Ausdruck, sondern auch in seinen gesamten Verhaltensweisen niederschlagen würde. Von der Identifikation eines konkreten Tatverdächtigen ist man damit jedoch weit entfernt.
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Seit den ersten Anfängen des Profiling in den 1970er-Jahren haben sich unterschiedliche Ansätze entwickelt, die den Pionierleistungen der FBI -Experten mehr oder weniger stark verpflichtet sind. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie gehen von einer kritischen und detaillierten Analyse des Tatortes, der Täter-Opfer-Beziehung und der verfügbaren Fakten über das Opfer aus. Bei der Lektüre des ‚Spurentextes‘ (d. h. der Gesamtheit aller verfügbaren Indizien) unterteilen die Fallanalytiker diese Informationen in zwei Kategorien. Die erste Kategorie enthält alle Angaben, die das für die Tatbegehung erforderliche Verhalten beschreiben, den so genannten modus operandi, anhand dessen man eine Straftat als Sexualverbrechen, Raubmord etc. klassifizieren kann. Die zweite Kategorie bündelt die Angaben zu den Verhaltensweisen, die für die Tatbegehung aus einer rein funktionalen Perspektive nicht notwendig waren. Sie liefern Anhaltspunkte für die Individualität des Täters. Der Blick auf den Spurentext ist analytisch, kombinierend und vergleichend. Er zerlegt zuerst die Beschreibung des Tatorts, des Opfers und der Täter-Opfer-Beziehung in einzelne bedeutungstragende Einheiten, um sie anschließend zu einem ganzheitlichen Bild neu zusammenzufügen, das mehr aussagt als die Summe seiner Teile. Der Mehrwert ergibt sich aus einer Analyse, die zwei Vergleichsebenen berücksichtigt. Die Gesamtheit aller Elemente einer Tat – gewissermaßen ihre Phänomenologie – wird zuerst mit den Erwartungen des Kriminalisten an die Art der Begehung von Straftaten verglichen. Dieser Schritt hat Ähnlichkeit mit der Rasterfahndung. Dort erstellt der Kriminalist eine Reihe von sozialen Normalitätserwartungen, von denen die gesuchten Straftäter abweichen. Der Fallanalytiker nutzt ein Raster von kriminalistischen Normalitätserwartungen, die eine Straftat aus einer rein funktionalen Sichtweise beschreiben. Was nicht zum Erreichen des Zieles funktional notwendig ist, gilt als Ausdruck der Persönlichkeit. Im nächsten Schritt werden die individuellen Besonderheiten einer Tat mit den Charakteristika von bekannten Straftaten desselben Typus in Beziehung gesetzt, um Aufschlüsse über das Täterprofil zu erhalten (zweite Vergleichsebene). Der Spurentext des Tatorts wird dabei als Hinweis auf die psychologischen und emotionalen Bedürfnisse des Täters gelesen. Ähnlichkeiten in der Tatbegehung gelten als Indiz für übereinstimmende Verhaltensweisen. Deshalb können aufgrund der Zuord-
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nung eines unbekannten Täters zu einem bestimmten Typus Prognosen über dessen Persönlichkeitsmerkmale gemacht werden. Gleichzeitig wird die Summe von Besonderheiten im Spurentext als die individuelle Handschrift eines Täters gedeutet. Sie bildet die Grundlage für die Zuordnung von mehreren Straftaten zu demselben unbekannten Täter. Sechs Schritte auf dem Weg zum Täter Die Analyse des Tatorts und des Opfers folgt in seinen Grundzügen der vom FBI in den 1970er-Jahren erarbeiteten Methode. Sie beruht auf einer schematischen Tathergangsanalyse in sechs Schritten, die in den meisten Ländern als fallanalytisches Basisverfahren zum Einsatz kommt:11 1. Erhebung der Profiling-Eingabedaten 2. Strukturieren der Daten 3. Bewertung des Verbrechens 4. Täterprofilerstellung 5. Ermittlungen durch die lokale Kriminalpolizei 6. Auf klärung der Tat Bei der Erhebung der Eingabedaten verwendet der Fallanalytiker die Dokumentation des Falles durch die Sachbearbeiter der Kriminalpolizei. Nötig ist eine umfangreiche Datensammlung, in der Informationen über die Örtlichkeit, die klimatischen Verhältnisse, die soziale wie topografische Umgebung des Tatorts, die Verletzungen des Opfers und alle Laborberichte zu den Tatortspuren enthalten sind. Die Profiler des BKA legen Wert auf eine umfassende Erhebung zum Opfer, über das ein eigenes Profil erstellt wird. Mit diesen Informationen sollen die Entscheidungen des Täters vor, während und nach der Tat rekonstruiert werden. So ist eine begründete Theorie über die Reaktionsweise des Opfers eine sichere Ausgangsbasis, um das Verhalten des Angreifers zu verstehen, wie der Fall Christina Nytsch gezeigt hat. Fotografien und Karten sind wichtige Hilfsmittel in der Fallbearbeitung, weil sie zusätzliche Rückschlüsse auf die Handlungsweise des Täters erlauben. Die Positionierung des Leichnams kann besonders aufschlussreich sein; war er bestattet, lässt sich daraus eventuell auf eine aktive Form der Reue schließen – auf einen symbolischen Akt, der den Mord ungeschehen machen sollte.
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In einem zweiten Schritt werden die vorhandenen Informationen klassifiziert und nach sinnvollen Mustern gesucht. Die Fallanalytiker fragen hier nach den primären Motiven des Täters – war es ein Beziehungs-, ein Bereicherungs- oder ein Sexualdelikt? Von wesentlicher Bedeutung sind Opfer- und Täterrisiko. Sehr junge und sehr alte Menschen stellen ein geringeres Risiko für Gewaltverbrecher dar; dasselbe gilt für Personen mit einer risikoreichen beruf lichen Tätigkeit wie Prostituierte. Zur analytischen Einordnung des Verbrechens sind Zeit und Ort wichtige Kategorien. In Verbindung von Opferprofil, Entführungsort und Entführungszeit schlossen die Kriminalisten im Fall Christina Nytsch auf eine brutale Attacke auf das Mädchen. Ebenso interessant ist die Zeit, die der Täter am Tatort verbringt, um sein Opfer zu missbrauchen, ggf. zu töten und anschließend die Leiche zu verbergen. Je länger dieser Zeitraum dauert, desto sicherer fühlt sich der Täter und desto wahrscheinlicher ist seine Vertrautheit mit den Örtlichkeiten. Im dritten Schritt geht es um die genaue Rekonstruktion der Tat, in der die einzelnen Sequenzen der Interaktion zwischen Täter und Opfer beschrieben und bewertet werden. Für den deutschen Kriminalpsychologen Jens Ho≠mann ist dieser Teil entscheidend für die Tathergangsanalyse und eine wichtige Voraussetzung für die Erstellung eines Täterprofils. Aus seiner Sicht erö≠net die Klassifizierung der einzelnen Sequenzen und Handlungsbereiche in geplante und nicht geplante Anteile der Opferauswahl, der Kontrollausübung und des Tatverlaufs wichtige Aufschlüsse über die Tiefenstruktur einer Straftat. Der Mörder von Christina Nytsch wollte nicht unbedingt ein junges Mädchen ermorden, ihr Alter war in sexueller Hinsicht eher nebensächlich, dafür aber funktional für ihre rasche Überwältigung. In der Lektüre des Spurentextes stehen die Fallanalytiker allerdings vor einem Problem, das bereits die Kriminalisten des 19. Jahrhunderts beschäftigt hat: Jede Besonderheit kann auf den Täter oder auf eine gezielt vom Täter inszenierte Fiktion verweisen. Das Täterprofil, das im vierten Schritt erstellt wird, darf deshalb nur die Informationen berücksichtigen, bei denen eine bewusste Verfälschung ausgeschlossen ist. Welche Eigenschaften des Täters mit dem Täterprofil prognostiziert werden können, ist noch immer umstritten. Die FBI -Profiler geben Prognosen über ein weites Feld von persönlichen
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Merkmalen ab, zu denen Alter, Geschlecht und körperliche Eigenschaften ebenso zählen wie Intelligenz, Emotionalität und soziale Fertigkeiten. Auch Familienstand, Ausbildung und Beruf sowie Gewohnheiten und Wohnort des Täters werden erschlossen. Kritiker dieses Verfahrens sehen einen Teil der Folgerungen nicht hinreichend empirisch abgesichert. Für sie ist vor allem der Rückschluss von der Tat auf die Intelligenz, das Alter und das Geschlecht problematisch. Denn Altersangaben können sich nur auf ein ‚Normalalter‘ beziehen, was gerade die Früh- und Spätentwickler nicht richtig bezeichnen würde. Noch größere Probleme bereitet die Prognose der Intelligenz, weil der Tathergang nur konkrete Anhaltspunkte für die Fähigkeiten und Kenntnisse des Täters im kriminellen wie nicht-kriminellen Bereich bereitstellt.12 Die BKA -Fallanalytiker nehmen die Kritik an der FBI-Methode ernst und verzichten auf die Erstellung eines umfassenden Täterprofils, wenn sich die Informationsbasis als zu beschränkt herausstellt. In diesen Fällen belassen es die deutschen Analytiker bei der Erarbeitung von konkreten Hinweisen für die weitere Ermittlung, wie etwa der vermutliche Herkunftsort, eine kriminelle Vorbelastung etc. Im fünften und sechsten Schritt werden das Täterprofil bzw. die konkreten Hinweise in der kriminalpolizeilichen Arbeit umgesetzt, eventuell Rückmeldungen an die Arbeitsgruppe des BKA bzw. der Landeskriminalämter gegeben, die mit der Fallanalyse betraut war. Wenn es gelingt, die Straftat aufzuklären, werden die Tathergangsanalyse und das Profil mit den im Verhör und während der Gerichtsverhandlung ermittelten Informationen abgeglichen, um die Qualität der bestehenden Verfahren zu kontrollieren und an ihrer Weiterentwicklung mitzuwirken.13 Der Kriminalist als Hermeneutiker Im Jahre 1993 gründete das BKA die Kriminalistisch-kriminologisch Forschungsgruppe, die Methoden der Fallanalyse unter Berücksichtigung der Täterprofilerstellung entwickeln sollte. Mittlerweile hat die Forschungsgruppe zahlreiche sozialwissenschaftliche Methoden und Modelle für die kriminalistische Arbeit adaptiert und sich besonders auf die objektiv-hermeneutische Analyse des deutschen Soziologen Ulrich Oevermann konzentriert.
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Diese Methode wurde entwickelt, um „latente Regeln bzw. verborgene Strukturen eines Individuums zu deuten und zu rekonstruieren, die sich unabhängig von den Intentionen des Handelns unbemerkt im Verhalten niederschlagen und hermeneutisch entschlüsselbar sind […]“ – wie die Kriminologin Cornelia Musol≠ ihr Verständnis der objektiven Hermeneutik knapp und prägnant zusammenfasst.14 Oevermann geht davon aus, dass sich in menschlichen Verhaltensweisen zwei Sinnebenen unterscheiden lassen: das subjektive, zielgerichtete Verhalten und die unterschwellig vorhandenen, aber nicht in Erscheinung tretenden (latenten) Sinnstrukturen, die außerhalb der individuellen Kontrolle liegen. Indem der Soziologe Lebenssituationen und Handlungsabläufe als Träger symbolischer Bedeutung versteht, kann er sie als ‚Texte‘ im weiteren Sinn begreifen und zum Gegenstand hermeneutischer Interpretation und Auslegung machen. Oevermanns Theorie der objektiven Hermeneutik wird seit den 1980er-Jahren durch die Kriminalistik genutzt. Die Integration seiner sozialwissenschaftlichen Methode erfolgte durch ein Forschungsprojekt, in dem Oevermann selbst die Perseveranz von Verbrechern, d. h. die Annahme von der gleich bleibenden Tatbegehung untersuchte. Er konnte schlüssig nachweisen, dass das kriminalistische Dogma von der Fixierung des Verbrechers auf eine Deliktskategorie und auf eine spezifische Form der Verbrechensbegehung nicht haltbar ist. Die Konsequenzen dieser Einsichten für die kriminalpolizeiliche Arbeit sind erheblich, weil zahlreiche Auf klärungsstrategien auf dieser nun widerlegten Annahme beruhen. Die Frage nach der Perseveranz ist für die Entdeckung von Serientätern entscheidend. Wenn Straftäter sich dauernd wechselnder Methoden zur Verübung von Verbrechen bedienen, lassen sich die Taten nur schwer derselben Person zuordnen. Die objektive Hermeneutik von Oevermann erö≠net hier neue Perspektiven, weil sie sich nicht auf die rational kalkulierten Bestandteile des modus operandi, sondern auf die unbewussten Elemente einer Handlung bezieht. Grundsätzlich ähneln sich hier die Strategien der FBI -Profiler und der BKA -Fallanalytiker. Die deutschen Ermittler können jedoch mit ihrer hermeneutischen Zugangsweise eine größere Bandbreite unbewusster Handlungskomplexe berücksichtigen als ihre amerikanischen Kollegen, die sich ausschließ-
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lich auf die mentalen scripts im Sinne von imaginierten Gewaltvorstellungen beziehen. Unter scripts verstehen die Profiler imaginierte Szenen und Handlungen, mit denen die psychischen und emotionalen Bedürfnisse einer Person befriedigt werden. Diese ‚Drehbücher‘ sorgen letzlich dafür, dass bei der Ausführung mehrerer Taten die prägnanten Einzelheiten übereinstimmen. John Douglas sieht die so genannte Handschrift eines Verbrechers als Ausdruck dieser Gewaltvorstellungen: „[…] die Handschrift ist in gewisser Weise der Grund, warum er es tut – nämlich das, was ihn emotional befriedigt […] Ich habe über Jahre festgestellt, dass die Handschrift viel mehr über das Verhalten eines Serientäters verrät als die Vorgehensweise [im Sinne der funktionalen Aspekte des Verbrechens, PB ].“15 Bestandteile dieser Signatur können sein: die ‚Übertötung‘ (d. h. ein Übermaß an Gewaltanwendung, das für die Tötung nicht erforderlich wäre), die Reihenfolge von sexuellen Akten, die Gestaltung des Tatorts, die Positionierung des Leichnams, die Mitnahme von Souvenirs oder Trophäen, die Praktizierung sadistischer Foltermethoden, das Einführen von Gegenständen in die Genitalien etc.16 Indem die deutschen Fallanalytiker alle alltäglichen Verhaltensweisen des Täters berücksichtigen und nicht nur die Art der Verbrechensbegehung im engeren Sinn, kann ihre Analyse eine Vielzahl von Übereinstimmungen zwischen mehreren Straftaten berücksichtigen – vor allem in jenen Handlungsbereichen, die vom Täter als nebensächlich eingestuft und daher nicht bewusst kontrolliert werden. Die Handschrift eines Täters als die Summe seiner unbewussten Handlungen ist nach dem Kanon der FBI -Profiler dem Tatort und den Täter-Opfer-Beziehungen eingeschrieben. Um sie als solche zu erkennen, reicht eine bloße Addition der Merkmale nicht: „Nicht die Summe der einzelnen Tatmerkmale ergibt die Handschrift, sondern die sinnstiftende Ausdeutung in der Gesamtheit des Spurenbildes“, wie der deutsche Kommunikationswissenschaftler Jo Reichertz kritisch anmerkt.17 Eine solche ganzheitliche Betrachtung erfordert entsprechende Methoden und Hilfsmittel, damit sie nicht zur beliebigen Spekulation verkommt. Die deutschen Fallanalytiker setzen auf die objektive Hermeneutik, die FBI -Profiler begnügen sich mit dem Hinweis auf ihr
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Erfahrungswissen, dessen Einsatz methodisch und theoretisch keiner systematischen Kontrolle unterworfen wird. Die deutschen und amerikanischen Fallanalytiker arbeiten mit den Protokollen, die von den lokalen Sachbearbeitern und den Sachverständigen erstellt wurden. Der Erfolg der Profiler hängt daher ganz wesentlich davon ab, ob die Kripo vor Ort ein hinreichendes Gespür für die Aussagekraft von jenen Nebensächlichkeiten und Details hat, die dem Fallanalytiker weit reichende Einsichten über die Persönlichkeit des Täters und sein Verhalten gestatten. Dieses Interesse für Nebensächlichkeiten ist nicht neu. Bereits der Doyen der deutschsprachigen Kriminalistik der Jahrhundertwende, Hans Gross, hat die Untersuchungsrichter und Kripobeamten auf die Aussagekraft von Details für die Zuordnung eines Täters zu einer Sozial- oder Berufsgruppe hingewiesen.18 Beim Umgang mit den Protokollen der Kripo und der Sachverständigen arbeiten die BKA -Fallanalytiker stärker hermeneutisch als die FBI Profiler, weil sie den Spurentext mithilfe einer Sequenzanalyse, d. h. einer analytischen Zergliederung der Tatbegehung in einzelne Schritte neu zum Sprechen bringen. Die methodische Voraussetzung dieses Verfahrens ist die Ausschaltung von Kontextwissen und daher eine künstliche Naivität bei der Analyse der Interaktionssequenzen. Durch die Rekonstruktion der Handlungsschritte lassen sich Anhaltspunkte für die bewussten und unbewussten Entscheidungen des Straftäters gewinnen. Diese Entscheidungen werden als charakteristisch für eine handelnde Person angesehen und erlauben Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit und Herkunft. Letztlich könne der Fallanalytiker die Tat mit dieser Methode sogar besser verstehen als ihr Urheber, wie Cornelia Musol≠ meint.19 Die Sequenzanalyse erfordert Kreativität und kontrollierte Fantasie vonseiten der Kriminalisten. Bei der Frage nach den Handlungsoptionen fließen lebenspraktische Erfahrungen und Vorannahmen, theoretische wie praktische Kenntnisse, aber auch Normalitätserwartungen in den analytischen Prozess ein. Die Entwicklung von ersten Strukturhypothesen ähnelt der in der DDR praktizierten Methode der Versionsbildung. Dort wurde durch die systematische Aufstellung und Überprüfung von Hypothesen, so genannten Versionen, schrittweise das Tatgeschehen rekonstruiert und ein Bild von dem unbekannten Täter gescha≠en.
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Diese knappen Bemerkungen über die Strategien der Fallanalytiker und ihre methodischen und theoretischen Hilfsmittel sollen nicht zuletzt die weit verbreiteten Vorurteile über die ‚seherischen‘ Fähigkeiten der Profiler widerlegen. Der deutsche Kriminalpsychologe Jens Ho≠mann betont, dass die Zeit der „tief in die Abgründe der Seele blickenden ‚Seher‘“ als Leitbild für Profiler und Fallanalytiker endgültig vorbei ist. Welches Analyseverfahren auch angewandt wird – von den empirisch-statistischen Täterprofilen über Psychoanalyse bis hin zur objektiven Hermeneutik –, in jedem Fall agieren die Profiler als gut ausgebildete Experten. Sie benötigen zur Erstellung eines Täterprofils bzw. zur Konstruktion von neuen Anregungen für die Ermittlung Fachwissen, ein gewisses Maß an Menschenkenntnis und viel Erfahrung in der kriminalistischen Arbeit, aber auch Intuition, Empathiefähigkeit und Kreativität.20 Der amerikanische Profiler Brent Turvey fordert von seinen Kollegen sogar gute Bildung und Liebe zur Literatur: „Beware the criminal profiler […] who does not love books, and has no library.“21 Datenbanken gegen Serientäter Bei der Auf klärung einer Gewalttat durch einen unbekannten Verbrecher stellt sich den Kriminalisten oft die Frage, ob es sich um einen Serientäter handelt. Ist das Verbrechen Teil einer Serie, kann die Polizei aus der Zusammenstellung der einzelnen Tathandlungen wichtige Aufschlüsse erhalten, weil dann die individuelle Handschrift deutlicher zum Ausdruck kommt. Die Zuordnung von einzelnen Straftaten zu einer Serie ist kompliziert und erfordert den Zugri≠ auf zuverlässige und umfassende Informationen über ungeklärte Straftaten aus einem größeren Einzugsbereich sowie das analytische Geschick der Kriminalisten bei der Verknüpfung der einzelnen Elemente. Dafür müssen viele Informationen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Vor der Einführung spezialisierter EDV -Programme ließ sich das nur durch die Erstellung von großen Tabellen realisieren, wie ein Fall aus dem Frankreich des späten 19. Jahrhunderts zeigt. Émile Fourquet, Untersuchungsrichter im französischen Gerichtsbezirk Bourg-enPresse, stellte in den 1890er-Jahren bei Morden in seinem Gerichts-
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bezirk auffällige Ähnlichkeiten fest. Als junger engagierter Kriminalist legte er eine Tabelle an, in die er für jeden einzelnen Mordfall die Details des Tatorts, der Leiche und die Aussagen von Zeugen eintrug. Er achtete vor allem auf die Art der Verletzungen am Körper der Opfer, den Zustand der Bekleidung, die Einzelheiten des Tatorts sowie die Hinweise der Zeugen auf verdächtige Personen. Nachdem die Tabelle erstellt war, nahm er einen blauen Farbstift und kennzeichnete die Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Merkmalen. Mit einem Blick auf die nun farbig markierte Tabelle stand für ihn fest: Ein Serienmörder war für die Mordtaten verantwortlich. Den entscheidenden Schritt von der Tabelle zum Computerprogramm machten die Kriminalisten des FBI in den 1980er-Jahren. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein Jahrzehnt an neuen Methoden zur Ermittlung von unbekannten Sexual- und Gewaltverbrechern gearbeitet. Dabei wurde die Erstellung von Täterprofilen auf neue Grundlagen gestellt und die Einrichtung von spezialisierten Datenbanken geplant, um die Identifikation von Serientätern zu erleichtern. Im Jahr 1985 wurde schließlich die Datenbank VICAP (Violent Criminal Apprehension Program) in Betrieb genommen. Sie enthält die formalisierte Beschreibung sowohl von gelösten als auch ungelösten Tötungsdelikten aus allen amerikanischen Bundesstaaten sowie Informationen über verschwundene Personen und ungeklärte Leichenfunde. Die detaillierte Erfassung der einzelnen Fälle ermöglicht einen EDV -gestützten Vergleich von Verhaltensmustern zwischen Tötungen in unterschiedlichen Bundesstaaten. Der Erfolg eines solchen Datenbankprojekts hängt entscheidend von der Qualität und Vollständigkeit der Daten ab. Beides ist in dem Fall nicht gewährleistet, weil die einzelnen Polizeidienststellen keine Meldeund Eingabepflicht an das FBI haben. Um eine bessere Erfassungsrate zu erreichen, hat sich das FBI zu Kompromissen bei der Datenqualität entschieden, indem Fälle anhand von Zeitungsberichten auf bereitet und in die Datenbank eingegeben werden.22 Mit der Nutzung der Presse als Kompensation für ein nicht funktionierendes Kooperations- und Kommunikationsnetzwerk kann man das FBI mit der preußischen Polizei der Zwischenkriegszeit vergleichen. Auch in Berlin wurden damals Zeitungsberichte ausgewertet, um
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Informationen zu Verbrechen in anderen deutschen Bundesstaaten zu erhalten. Zur Unterstützung bei der Serienzusammenführung im Bereich von Tötungs- und sexuellen Gewaltdelikten baut das BKA in Verbindung mit den LKA s eine Datenbank auf, die sich an der Logik der amerikanischen VICAP orientiert, in wichtigen Bereichen jedoch über sie hinausgeht. Es handelt sich um eine deutsche Adaption der kanadischen Software ViCLAS (Violent Crime Linkage Analysis System), die sich in den letzten Jahren zum internationalen Standard für die Bekämpfung von Serienverbrechen entwickelt hat.23 Sie erfasst neben den Tötungs- auch Vergewaltigungsdelikte, in Deutschland außerdem alle Fälle eines verdächtigen Ansprechens von Kindern und Jugendlichen. Diese Neuerung wird von den deutschen Ermittlern mit hoher Priorität behandelt, weil sie zur Verhinderung von Straftaten beitragen kann. Wird eine Serie von Kontaktaufnahmen festgestellt, ergeht eine Warnmeldung an alle Dienststellen mit einer Beschreibung des Täterverhaltens. 1999 wurde durch die Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes die bundesweite Einführung von V i CLAS beschlossen. Anders als in den USA wurde in Deutschland von Anfang an ein funktionierendes Netzwerk etabliert, in dem die Erfassung, Bewertung und Auswertung der Daten verbindlich geregelt ist. Dieses Netzwerk erweitert die bestehende Kooperation zwischen den Landeskriminalämtern und dem BKA . In jedem LKA wurden OFA -Einheiten eingerichtet, die für die Eingabe von Falldaten aus ihrem Einzugsgebiet und für die fallanalytische Bearbeitung von Straftaten zuständig sind. Die enge organisatorische Verzahnung zwischen der Arbeit an der Datenbank und der Operativen Fallanalyse ist ein wesentliches Element der deutschen Lösung. Diese Verzahnung kommt auch in der Ausbildung von Fallanalytikern zum Ausdruck. Dabei nehmen die Handhabung der Datenbank und die Entwicklung von komplexen Recherchestrategien einen hohen Stellenwert ein. Erste Erfahrungen mit V i CLAS machte die Polizei in Bayern, die das System bereits ein Jahr vor der allgemeinen Einführung im Jahre 1999 in Betrieb nahm. Erfasst werden wie im deutschen Gesamtsystem vier Fallkategorien:
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1. Tötungsdelikte und versuchte Tötungen, außer Beziehungsdelikte ohne besondere Tatumstände 2. Sexualdelikte unter Anwendung von Gewalt. Nicht erfasst werden jene Fälle, in denen eine familiäre oder partnerschaftliche Beziehung zwischen Täter und Opfer besteht und bei denen besondere Tatumstände fehlen 3. ‚Verdächtiges‘ Ansprechen von Kindern und Jugendlichen mit einem sexuellen Hintergrund, d. h. Anwendung von körperlicher Gewalt, von List, Drohung und sexuellen Angeboten, um die Betro≠enen an einen Ort außerhalb des Schutzbereiches der Eltern bzw. der Ö≠entlichkeit zu bringen 4. Vermisste Personen, die vermutlich Opfer eines Verbrechens geworden sind.24 Die Aufnahme der Fälle in die Datenbank beginnt mit dem Ausfüllen des standardisierten V i CLAS -Bogens durch den lokalen Sachbearbeiter. Die Entscheidung, ob ein Delikt für die Datenbank erfasst wird, liegt bei der Kripo-Dienststelle, die den Fall bearbeitet. Die OFA-Einheit des LKA München kontrolliert die Eingänge und vergleicht sie mit den gemeldeten Straftaten, um Erfassungslücken auszuschließen. Liegt eine Meldung vor, werden die Daten durch einen Fallanalytiker geprüft und eventuell nach Rücksprache mit dem Sachbearbeiter komplettiert. Die Erfassung, Bewertung und Eingabe erfordert relativ viel Zeit, etwa viereinhalb Stunden pro Fall. Die dadurch garantierte Qualität und Vollständigkeit der Daten lohnt jedoch diese Investition. Das bayerische LKA hat positive Erfahrungen mit V i CLAS gemacht. Die lokalen Sachbearbeiter wurden durch spezielle Schulungen zwar nicht zu Fallanalytikern ausgebildet, sind aber mit der Logik des Systems hinreichend vertraut, um die Erfassungsbögen kompetent ausfüllen zu können. Die Motivation der lokalen Kriminalpolizei zur Mitwirkung an diesem Projekt ist sehr hoch. Das zeigt die freiwillige Aufarbeitung von nicht gelösten Fällen aus der Vergangenheit. Um diese Motivation aufrechtzuerhalten, wird von der bayerischen V i CLAS -Zentrale monatlich ein Lagebericht an alle Führungsdienststellen verschickt. Zahlreiche Erfolge im Sinne der Identifizierung von Serientätern sind allerdings erst dann zu erwarten, wenn die Datenbank eine gewisse Größe erreicht hat. Die Operative Fallanalyse ermöglicht eine systematische Integration
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von kriminologischen, psychologischen und psychoanalytischen Wissensbeständen in die kriminalistische Praxis. Diese Integration wird von den einzelnen Polizeibehörden auf ganz unterschiedliche Weise gelöst. Das FBI setzt auf praxisorientierte kriminologische Forschung und die Entwicklung von Typologien, die von den Analytikern bei der Bearbeitung von einzelnen Fällen herangezogen werden. Den Experten der amerikanischen Bundespolizei fehlt allerdings ein wirksames und zuverlässiges Kommunikations- und Kooperationsnetzwerk, das die lokale Polizei in dieses Projekt einbinden könnte. Das mindert nicht die Kompetenz der Profiler, beschränkt jedoch ihren Zugri≠ auf wichtige Informationen zu aktuellen Straftaten. Die Operative Fallanalyse der deutschen Polizei ist dagegen viel stärker mit den Sachbearbeitern der lokalen Kriminalpolizei vernetzt. Die Meldebögen für das V i CLAS -Datenbanksystem werden von speziell geschulten lokalen Sachbearbeitern ausgefüllt und von den Spezialisten in den Zentralen der Landeskriminalämter auf ihre Vollständigkeit und Stimmigkeit hin überprüft. Dadurch werden bereits bei der Erfassung der Daten zwei Kompetenzen verknüpft und genutzt: die lokale Fallkenntnis und das analytische Wissen der Experten.
Die Wiederkehr des praktischen Blicks Mit der Fallanalyse setzt die deutsche Polizei heute ein Modell der kriminalistischen Beobachtung in die Praxis um, wie es bereits von Gustav Zimmermann in der Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert worden war. Beobachten war aus seiner Sicht zielgerichtet und interpretierend. Es ging deutlich über das einfache Wahrnehmen hinaus und war deshalb den leitenden Beamten, vor allem den Behördenchefs vorbehalten. Sie verarbeiteten die Wahrnehmungen von Polizeibeamten, denen Zimmermann keine analytische Fähigkeit zutraute und die er deshalb als „mechanische Agenten“ und als „Fernrohre“ bezeichnete, mit denen die Polizeibehörde „den ganzen Platz ihrer Wirksamkeit durchstreift und übersieht“.1 Die interpretierende Auseinandersetzung mit diesen Wahrnehmungen beruhte auf eigenen Erfahrungen und der Lektüre von Fachliteratur im weitesten Sinn. Denn erst durch Reflexion und Abstraktion wurden aus sinnlicher Wahrnehmung empirische Erkenntnisse, wie Zimmermann mit Berufung auf den „großen Kant“ feststellte.2 Das deutsche Netzwerk der Operativen Fallanalyse folgt diesem arbeitsteiligen Konzept der polizeilichen Beobachtung und hat es den Anforderungen der Kriminalistik des 21. Jahrhunderts erfolgreich angepasst. Selbst die Beamten vor Ort benötigen heute eine theoretisch-konzeptionelle Ausbildung, um polizeilich und gerichtlich verwertbare Wahrnehmungen machen und mitteilen zu können. Die Spurensuche am Tatort und die Aufnahme eines Falls für das V i CLAS -System erfordern eine Vertrautheit mit den aktuellen Methoden der labortechnischen Spurenauswertung und der Operativen Fallanalyse. Diese Ausbildung lenkt den Blick auf wichtige Details, die einem ungeschulten Auge entgehen könnten. In den Einsatzzentralen von heute ist es nicht mehr der von Gustav Zimmermann konzipierte, omnipräsente und beinahe allwissende Polizeichef, der die Wahrnehmungen in verfahrens- und
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forschungsrelevantes Wissen transformiert; vielmehr setzen die Landeskriminalämter und das BKA auf spezielle Arbeitsgruppen, um die gemeldeten Daten aufzubereiten und weiter verarbeiten zu können. Die Rolle der Operativen Fallanalyse ist eine beratende. Durch ihre Fachkenntnisse qualifizieren sich die Fallanalytiker als Sachverständige, die für eine polizeiliche Ermittlung, aber auch für ein Gerichtsverfahren bei der Auf klärung von Sachverhalten mitwirken können. Die Integration der Profiler in die laufenden Ermittlungen setzt damit den Einsatz von Experten im Bereich der Täterpsychologie fort. Ihr Anspruch auf den Rang eines Sachverständigen ist durchaus gerechtfertigt, wie empirische Studien zur Erstellung von Täterprofilen gezeigt haben. Die Profiler erhalten durch die Integration von theoretischen und praktischen Kompetenzen Zugri≠e auf Wirklichkeitsbereiche, die den KripoBeamten und auch den Richtern verschlossen sind. Sie können die fallbezogenen Daten schneller und umfassender einschätzen als die Ermittler ohne theoretisches Hintergrundwissen. Außerdem sind ihre Analysen besser an die Erfordernisse der kriminalpolizeilichen Arbeit angepasst als diejenigen von Psychologen ohne polizeiliche Berufspraxis.3 Interpretation als Element kriminalpolizeilicher Arbeit Die Fallanalytiker erstellen besser fundierte und leichter verwertbare Täterprofile als die Praktiker und die Psychologen. Diese Profile sind keineswegs standardisiert; die Unterschiede sind Ausdruck von verschiedenen theoretischen und methodischen Schwerpunktsetzungen der Experten. Die Operative Fallanalyse der deutschen Polizei setzt auf Teamarbeit, um mehrere Perspektiven in der Bearbeitung eines jeden Falles zu integrieren. Gleichzeitig ermöglicht die Zusammenarbeit eine gewisse Kontrolle über die hermeneutischen Gedankenexperimente der einzelnen Mitglieder des Teams. Die Fallanalyse hat mit der selbstbewussten Betonung der Interpretation als Methode kriminalistischer Ermittlungen ein neues und durchaus positives Element in die aktuelle Diskussion eingebracht. Die Fallanalytiker greifen damit auf eine lange Traditionslinie zurück. Im 19. Jahrhundert sah man die interpretierende Aneignung der sozialen und materiellen Welt durch die Kriminalisten als Ergebnis ihres prakti-
256
Auf dem Weg zum gläsernen Menschen?
schen Blicks. Dieser garantierte einen disziplinierten und durch die Nutzung theoretischer und praktischer Hilfsmittel weit gehend standardisierten Wirklichkeitsbezug, ohne dadurch die Subjektivität des Ermittlers, seine analytische Kompetenz und Intuition aus dem Verfahren auszuschalten. Die Operative Fallanalyse kann als eine Rückkehr des praktischen Blicks in die Polizeiarbeit verstanden werden. Dieser Blick war bei der Auf klärung von Straftaten immer präsent. Interpretation war und ist ein wesentliches Element der kriminalpolizeilichen Arbeit, wie Gustav Zimmermann schon vor mehr als 150 Jahren festgestellt hat. Seit den kriminalpsychologischen Forschungen zur Zeit der Jahrhundertwende wird die Subjektivität des Ermittlers jedoch als ein potenzieller Störfaktor gesehen. Die technologische Aufrüstung, die Nutzung von Fotografie und hoch entwickelten Labortechniken, aber auch der Einsatz des Computers sollten unter anderem die Objektivität der kriminalpolizeilichen Verbrechensauf klärung gegen die drohenden Fehlleistungen der einzelnen Beamten sicherstellen. Die Visionen von einer vollständig automatisierten Ermittlung gipfelten in dem Wunsch des ehemaligen BKA -Chefs Horst Herold, durch die technologische Perfektionierung des Sachbeweises nicht nur Zeugen und Ermittler, sondern letztlich sogar den Richter abscha≠en zu können. Diese Vorstellung von Objektivität, die auf der radikalen Eliminierung von solchen genuin menschlichen Eigenschaften wie Kreativität und Intuition auf baut, ebnete den Weg für eine Reihe von wichtigen Innovationen im Bereich der forensischen Wissenschaften. Die labortechnische Auswertung der Spuren bietet auch dem Hermeneutiker eine solide Grundlage für die Bearbeitung seines Falls. Die Kriminaltechnik kann den Fall nur sehr selten allein auf klären. Der Ausbau der Datenbanken, die den genetischen Fingerabdruck von Verurteilten und – wie in England und Wales – auch von Beschuldigten enthalten, kann die Auf klärungsrate bei Gewalt- wie Eigentumsdelikten zwar erheblich steigern. Die Festnahme des Täters ist jedoch nur ein – wenn auch wichtiger – Teil der Auf klärung einer Straftat. Für die Verhandlung vor Gericht sind zusätzliche Informationen notwendig, die von den Kriminalisten in Zusammenarbeit mit Untersuchungsrichtern und Staatsanwälten ermittelt werden müssen.
Die Wiederkehr des pr aktischen Blick s
257
27 Videokamera zur Überwachung des Regensburger Domplatzes. Damit will die Polizei vor Straftaten abschrecken und im Fall von Straßenkriminalität die Täter überführen.
Verbrechensauf klärung ist heute ohne naturwissenschaftliche Verfahren und die Nutzung von rasch expandierenden Datenbanken nicht mehr vorstellbar. Sie ermöglichen eine di≠erenzierte Analyse der materiellen Spuren und eine rasche Suche nach Personen. Neue Formen der Überwachung und Kontrolle – etwa durch Videoinstallationen im öffentlichen Raum (s. Abbildung 27) – lassen die elektronischen Archive der Kriminalpolizei um eine enorme Masse an visuellen Aufzeichnungen wachsen. Diese Videoaufzeichnungen sind nur Rohmaterial und daher kaum systematisch in die Ermittlungstätigkeit zu integrieren. Sie müssen erst analytisch bearbeitet werden, damit aus der ‚Bilderflut‘ kriminalistisch verwertbares Wissen wird. Für den Kriminalisten des 19. Jahrhunderts wären die Datenbanken der heutigen Polizei eine faszinierende Ausweitung der eigenen Ermittlungsstrategien gewesen: elektronische Karteien, in denen der Sachverstand der deutschen Kriminalisten seinen Niederschlag findet. Vermut-
258
Auf dem Weg zum gläsernen Menschen?
lich sehr viel weniger begeistert wären sie indes von den Videoaufzeichnungen gewesen, weil dem Kameraauge grundsätzlich die Selektivität des polizeilichen Blicks fehlt. Gustav Zimmermann hatte bereits seine Kollegen vor einem undi≠erenzierten Zugri≠ auf die soziale Wirklichkeit gewarnt, wenn er 1945 feststellte: „Die Polizei jage nicht darnach, Alles zu wissen und einzusammeln, sondern nur das, was sie wirklich für den Ordnungszweck braucht.“4 Der praktische Blick des Kriminalisten irrte im 19. Jahrhundert nicht ziellos durch den sozialen Raum, sondern richtete sich auf bestimmte Suchbilder. Diese Begrenzung des polizeilichen Blicks war auch für den Altmeister der französischen Kriminalistik, Edmond Locard, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein wichtiges Merkmal der Observation: „Beobachten bedeutet nicht ein Ansehen auf gut Glück, bedeutet nicht nur Kenntnis nehmen, was den Blick auf sich zieht, worauf der Blick ruht; es ist ein planmäßiges Nachspüren […]“5 Die Operative Fallanalyse setzte diese Tradition einer planmäßigen und fokussierten Beobachtung fort. Die di≠erenzierte Erfassung des Tatorts und der Täter-Opfer-Beziehung muss bereits von den lokalen Polizeikräften, ihrer ‚Kleinarbeit‘ am Tatort und bei der Zeugenbefragung geleistet werden. Der Auf bau des spezialisierten Datenbanksystems ViCLAS stellt eine institutionelle Basis zur Scha≠ung entsprechender Kompetenznetzwerke bereit, die den Blick der lokalen Sachbearbeiter für die aussagekräftigen Details am Tatort schärft. Durch die Einführung dieser Hilfsmittel wird die lokale Praxis der kriminalpolizeilichen Nachforschungen ebenso verändert wie die Bearbeitung von Gewalt- und Sexualverbrechen in den Zentralen der Landeskriminalämter und des BKA . Die Forschungen von Ulrich Oevermann und seinen Mitarbeitern zur Praxis der polizeilichen Ermittlungstätigkeit erhält durch die Diskussion um die Hermeneutik der Fallanalyse neue Brisanz. Die in einem Netzwerk von Akteuren erstellten Daten beruhen auf einer Fülle von Interpretationen, die in der arbeitsteiligen Organisation der polizeilichen Arbeit meistens aus dem Blick geraten, weil nur so die schriftlichen Mitteilungen und die in den Datenbanken gespeicherten Informationen als objektivierbare Daten behandelt werden können. Diese Vorstellung von einer Objektivität, die Informationen quasi maschinell
Die Wiederkehr des pr aktischen Blick s
259
in die Verfahrensabläufe der polizeilichen Ermittlung und gerichtlichen Wahrheitsfindung einspeist, entspricht nicht mehr dem heutigen Diskussionsstand über die Erhebung und Verarbeitung von Wissen selbst innerhalb der Naturwissenschaften. Für die Kriminalistik als arbeitsteiliges Unternehmen der Gewinnung, Übermittlung und Verarbeitung von Wissen zur Durchsetzung von staatlichen Ordnungsansprüchen sind Interpretationsleistungen auf allen Ebenen wichtig: Sie reduzieren die Komplexität und richten den polizeilichen Blick auf die ordnungs- und verfahrensrelevanten Informationen aus. In den Karteien und Datenbanken sind die Deutungen der Sachbearbeiter nicht mehr nachvollziehbar, die einen Eintrag veranlasst hatten. Das führte gerade in der ö≠entlichen Debatte um die Datenbestände zur politischen Kriminalität zu erheblicher Verunsicherung. Dieser Verunsicherung kann die Polizei nicht dadurch entgegenwirken, dass sie ihren ‚praktischen Blick‘, d. h. die Selektivität und Perspektivität ihres Wirklichkeitsbezugs verschämt ignoriert. Die Polizei muss sich o≠en zu ihrer interpretierenden Aneignung von Wirklichkeit bekennen und diese durch gezielte Maßnahmen verbessern. Gleichzeitig muss den Betro≠enen die Möglichkeit gegeben werden, die Geltungsansprüche dieser Interpretationen in einem rechtsförmigen Verfahren diskursiv auszuhandeln und die Löschung von unzutre≠enden Eintragungen aus den Registern von Polizei und Nachrichtendiensten zu verlangen.
Anhang
Anmerkungen
Von der Folter zur Verhörpsychologie 1
Kube 1984, S. 415
2
Roper 1995, S. 232≠.
3
Behringer 1987, S. 15–47, 23
4
Roper 1995, S. 238
5
Decker 2004, S. 46
6
Ebenda, S. 38
7
Ebenda, S. 38
8
Roper 1995, S. 247
9
Hay 1975, S. 40≠., Wegert 1992 sowie Becker 1992
10 van Dülmen 1988, S. 121≠. 11
Montaigne 1998, S. 214
12
Niehaus 2003, S. 220f.
13
Ebenda, S. 206
14
Zitiert nach ebenda, S. 203
15
Ebenda, S. 203f.; Baldauf 2004, S. 64
16
Hartl 1973, S. 166
17
Beccaria 1966, S. 92f.
18
Dazu die Zeittafel bei Baldauf 2004, S. 201f.
19
Hartl 1973, S. 167 u. 182
20 Baldauf 2004, S. 213 21
Gross 1898, S. 68
22 Geerds 1976, S. 72≠. 23 Heinroth 1833, S. 263 24 Felsenthal 1853, S. 157 25 Ginzburg 1988, S. 82≠.
Anmerkungen 26 Vgl. Wilhelm Snell, Betrachtungen über die Anwendung der Psychologie im
Verhöre mit dem peinlichen Angeschuldigten (1819), zitiert nach: Niehaus 2003, S. 347 27 Pfister 1820, S. 245 28 Svarez 1960 29 Pfister 1820, S. 516f. u. 545≠. 30 Geerds 1976, S. 80; Soederman, O’Connell 1952, S. 28f. 31
Ebenda, S. 87
32 Hellwig 1927, S. 26 33 Pfister 1820, S. 355 34 Gross 1898, S. VI 35 Geerds 1976, S. 109 36 Ebenda, S. 54 37 Pfister 1820, S. 466 38 Grundsatz des Inquisitionsverfahrens, zitiert nach: Von Jagemann 1838,
S. 657 39 Teufel 1983, S. 136 40 Nöllner 1843, S. 314–320, Von Jagemann 1838, S. 614 sowie Geller 1889,
S. 174f. 41
Geerds 1976, S. 214
42 Ebenda S. 215 43 Von Jagemann 1838, S. 616 44 Ebenda, S. 600 45 Ebenda, S. 648f. 46 Ebenda, S. 431 47 Schönert 1991, S. 11≠.; Bennett, Feldman 1981, S. 3≠. 48 Von Jagemann 1838, S. 166f. 49 Ebenda, S. 602. Zum inneren Zusammenhang zwischen Dramen und der
dialogischen Struktur von Gerichtsverhandlungen vgl. auch Bloch 1980, S. 285–289 50 Von Jagemann 1838, S. 615; vgl. dazu auch: Mejer 1828, S. 24 51
Geerds 1976, S. 217f.
52 Ebenda, S. 213 53 Stüllenberg 2000, S. 6≠.; eine kritische Perspektive aus diskursanalytischer
Perspektive: Niehaus 2003, S. 347≠.; eher positiv: Soederman, O’Connell 1952, S. 32
263
264
Anhang
Experten vor Gericht – Die Einsatzbereiche der Rechtsmedizin 1
Fischer-Homberger 1988, S. 43 u. 55≠.
2
Ebenda, S. 105
3
Gross 1913, S. 208
4
van Dülmen 1992, S. 257
5
Prosperi 2005, S. 60
6
Tractatus 1679, S. 121
7
Johannes Schreyer, Erörterung und Erläuterung der Frage / Ob es ein gewiß Zeichen / wenn eines todten Kindes Lunge im Wasser untersincket / daß solches in Mutter-Leibe gestorben sey?, Zeitz 1690, zitiert nach: Fischer-Homberger 1988, S. 277
8
Ebenda, S. 278
9
Clark, Crawford 1994, S. 5
10 Wessling 1994, S. 130≠. 11
Fuhrmann 2002, S. 23–71
12
Wessling 1994, S. 137f.; vgl. dazu auch Uhl 2003, S. 49
13
Fischer-Homberger 1988, S. 319
14
Ebenda, S. 308f.
15
Reik 1932, S. 121f.
16
Fischer-Homberger 1988, S. 308≠.
17
Ebenda, S. 323
18
Ebenda, S. 321
19
Ebenda, S. 205
20 Ebenda, S. 215 21
Landgerichtsprotokoll vom 7.6.1775, Verhör der Maria Petauer (StA)
22 Hommen 1999, S. 69f. 23 Vgl. dazu Fischer-Homberger 1988, S. 140f. 24 Ebenda, S. 153 25 Vgl. Schulte 1988, S. 30f.; Uhl 2003, S. 62f. 26 Chase Jr. 1992, S. 729≠.; Marc Renneville 1994, S. 185–209, hier 187; Becker
2002, S. 53≠. 27 Friedreich 1842, S. 105f. 28 Das entsprach auch den Standpunkten der Strafrechtstheoretiker Wächter
und Feuerbach 29 Nietzsche 1988, Bd. 1, S. 63
Anmerkungen 30 Wilmanns 1906, S. IV sowie S. 1 und 6≠. (Krankengeschichten) 31
Gross 1913, S. 236
32 Heinroth 1833, S. 336≠., zuletzt: S. 338 33 Vor allem Schlafentzug, der für Geisteskranke keine Belastung war, konnte
von den Gaunern als Simulanten nur schwer über längere Zeit ertragen werden. 34 Heinroth 1833, S. 452, empfiehlt dem untersuchenden Arzt nachdrücklich
die Erhebung der Anamnese, um daraus auf die Möglichkeit der entsprechenden Krankheit schließen zu können; vgl. dazu Goldberg 1999. 35 Groebner 2004, S. 69 36 Evans 1996, S. 196; Gross 1913, S. 338 37 Artières, Corneloup 2004, S. 150–155 38 Gross 1913, S. 338 39 Brenner 2005, S. 30 40 Gross 1913, S. 205 41
Mission Statement des Departments für Gerichtliche Medizin auf der Webseite: www.meduniwien.ac.at/gerichtsmedizin/page1/page1.html, gesehen am 17.6.2005
Fotografie im Dienst von Spurensicherung und Erkennung 1
Regener 1999, S. 65 u. 95
2
Heindl 1927, S. 557
3
Wehler 1995, S. 22
4
Evans 1997, S. 141≠.
5
Avé-Lallemant 1858, S. 8
6
Mayerhofer 1897, S. 536
7
Fahrmeir 2001, 225≠.
8
Groebner 2004, S. 124
9
Piazza 2004 und Torpey 2000, S. 76f.
10 Schwencken 1822, S. 74 11
Rönne, Simon 1840/41, Bd. 1, S. 527
12
Falkenberg 1816, S. 46≠. u. 59
13
Rademacher 1837, S. 7f.
14
Kaluszynski 1987, S. 269–285, 271f.
265
266
Anhang
15
Eberhardt 1837, S. 228
16
Anonym 1852, S. 127f. und Heindl 1927, S. 553
17
Roscher 1912, S. 230
18
Eberhardt 1837, S. 228
19
Gasser et al. 1998, S. 31
20 Regener 1999, S. 63≠. 21
Funk 1986, S. 246≠.
22 Roscher 1912, S. 64≠. 23 Heindl 1927, S. 568≠. 24 Ebenda, S. 573 25 Vgl. dazu: Phéline 1985, S. 1≠., S. 85≠. 26 Vgl. Gross 1913, S. 352≠. 27 Ebenda S. 557f. und Regener 1992, S. 73 28 Roscher 1912, S. 218 29 Schreiben des Berliner Polizeipräsidiums an das Polizeiamt Lübeck vom
22.6.1898, Archiv der Hansestadt Lübeck, Polizeiamt 354 30 Gross 1913, S. 637 31
Klatt 1902, S. 75
32 Vgl. Phéline 1985, S. 79 33 Locard 1930, S. 123f. 34 Fosdick 1915, S. 366 35 Dorning 1927, S. 218f. und Tetzner 1949, S. 27≠. u. 89≠. 36 Roscher 1912, S. 230
Internationale Polizeikooperation – Kommunikation ohne Grenzen? 1
Groebner 2004, S. 57≠.
2
Jäger 2002
3
Siemann 1985, Kap. 5 u. 6
4
Liang, S. 163f.
5
Dazu Jäger 2002, S. 576f.
6
Heindl 1926, S. 312
7
Vgl. Palitzsch 1926, S. 44–47
8
Ebenda, S. 161
Anmerkungen 9
Zusammenstellung der wesentlichen Verhältnisse der Königlichen PolizeiVerwaltung zu Hannover von 1846–1862 (= vertraulicher Bericht an König Georg V.), Hauptstaatsarchiv Hannover, Dep. 103, IX, Nr. 76, S. 37
10 Ebenda, S. 34 und Zimmermann 1845, Bd. 2, S. 404; Zimmermann 1852,
S. 419f. 11
Palitzsch 1926, S. 168f.
12
Teufel 1983, S. 159
13
Ebenda, S. 166≠. und Palitzsch 1926, S. 177
14
Ebenda, S. 178
15
Ebenda, S. 182≠.
16
Vgl. dazu Burghard 1983, S. 195; Simon, Taeger 1981, S. 15
17
Schaefer 1976/77, S. 56
18
Palitzsch 1926, S. 116
19
Kommission 1934, S. 30f.
20 Schaefer 1976/77, S. 40f. 21
Zitiert nach: ebenda, S. 41
22 Ebenda, S. 26 23 Palitzsch 1926, S. 92≠.
Der Fingerabdruck revolutioniert die Identifikation von Verbrechern 1
Prante 1982, S. 31
2
von Kirchenheim 1897, S. 433
3
Prante 1982, S. 47f.
4
Cole 2002 und Vec 2002
5
Heindl 1927, S. 436–445
6
Ebenda, S. 324≠. und Gross 1913, S. 363
7
Vec 2002, S. 64f.
8
Heindl 1927, S. 33
9
Prante 1982, S. 136≠.
10 Heindl 1927, S. 440 11
Becker 2002, Kap. 5 u. 6
12
Heindl 1927, S. 445
13
Prante 1982, S. 143≠.
14
Vec 2002, S. 100
267
268
Anhang
15
Heindl 1927, S. 680
16
Vec 2002, S. 54 u. 61
17
Galton 1965, S. 110
18
Heindl 1927, S. 48≠.; Galton 1965, 24≠.; Ginzburg 1988, S. 112≠.
19
Heindl 1927, S. 133
20 Galton 1965, S. 111 21
Bericht des Polizeipräsidenten an das Ministerium des Inneren vom 8.6.1888, (GStA I, Rep. 77, Tit. 1208, Nr. 4)
22 Eingabe vom 15.9.1892, (GStA I, Rep. 77, Tit. 1208, Nr. 4) 23 Bescheid des Ministerium des Inneren vom 25.9.1893 an Herrn Dr. med.
Bauck in Tübingen, (GStA I, Rep. 77, Tit. 1208, Nr. 4) 24 Bericht des Moabiter Strafanstaltsdirektors vom 22.12.1893 an das Ministe-
rium des Inneren, (GStA I, Rep. 77, Tit. 1208, Nr. 4) 25 Heindl 1927, S. 143 u. 146 26 Ebenda, S. 151 27 Schneickert 1943, S. 42f. und Lucassen 1996, S. 198 28 Galton 1965, S. 85≠., hat diese Schrift in Auszügen ins Englische übersetzt. 29 Vec 2002, S. 73, Prante 1982, S. 26f., Cole 2002, S. 129≠. 30 Prante 1982, S. 67 31
Ebenda, S. 66
32 Ebenda, S. 148f. 33 Zur Vorgeschichte: Heindl 1927, S. 48≠. 34 Ebenda, S. 85 35 Ebenda, S. 88 36 Schneickert 1933, S. 294f. 37 Ebenda, S. 56 38 Vgl. Proposal 2004; Piazza 2004, S. 271≠. 39 Reimer 2001, S. 6 40 Behrens, Roth 2001, S. 11≠.
Das kriminalistische Labor – Wissenschaftler auf Verbrechersuche 1
Conan Doyle 1984, S. 43
2
Ebenda, S. 35
3
Locard 1930, S. 187
Anmerkungen 4
Teufel 1983, S. 126
5
Gross 1913, S. 293
6
Hartl 1973, S. 110
7
Gross 1913, S. 3
8
Teufel 1983, S. 126
9
Huelke, Etzler 1959, S. 223–228 und Pfister 1820, S. 622f.
10 Dennstedt 1910, S. 246–253 11
Gross 1913, S. 76
12
Vgl. Bericht des Ersten Staatsanwalt Goetze, Oppeln den 11. Dezember 1889, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8195, f. 36
13
Bericht des Ersten Staatsanwalt Franz, Gleiwitz, den 15. Januar 1890, in: GStA, Rep. 84a, Nr. 8195, f. 86
14
Dennstedt 1910, S. 249
15
Ebenda, S. 249
16
Ebenda, S. 251
17
Zimmermann 1852, S. 61
18
Ortmann 1984, S. 186
19
Conan Doyle 1989, S. 12
20 Avé-Lallemant 1858, Bd. 2, S. 5 21
Wennmohs 1823, S. 321
22 Ebenda, S. 31 23 Vgl. dazu Stuhlmüller 1823, XXXI ; Falkenberg 1816, Bd. 2, S. 120f. 24 Gross 1913, S. 203 und Locard 1930, S. 214f. 25 König 1962, S. 114 26 Huelke, Etzler 1959, S. 223–228 27 Dennstedt 1910, S. 1 28 Gross 1913, S. 714 29 Soederman, O’Connell 1952, S. 159 30 Gross 1913, S. 708 31
Zur Rezeption von Hans Gross vgl. Brincken, Paulini 1910
32 Gross 1913, S. 722 33 Soederman, O’Connell 1952, S. 164 u. 170 34 Gross 1913, S. 280 35 Ebenda, S. 284 36 Soederman, O’Connell 1952, S. 337 u. 346 37 Friedrichsen 1988, S. 165≠.
269
270
Anhang
38 Dennstedt 1910, S. 190f. 39 Polzer 1922, S. 177 und Soederman, O’Connell 1952, S. 408–435 40 Meyer 1965, S. 66≠. 41
Soederman, O’Connell 1952, S. 203
42 Polzer 1922, S. 133≠. 43 Dennstedt 1910, S. 227f. 44 Ebenda, S. 234≠. 45 Evans 1996, S. 15 46 Uhlenhuth 1901, S. 317–320 47 Pohl 1981, S. 16≠. 48 Soederman, O’Connell 1952, S. 301≠. 49 Dennstedt 1910, S. 69f., 161f. u. 168; Gross 1913, S. 200, 208 50 Dennstedt 1910, S. 153 sowie 106 u. 132f. 51
Ebenda, S. 87f.
52 Ebenda, S. 158 53 Ebenda, S. 158 54 Proceedings 2002, S. 1 55 Fosdick 1915, S. 361 56 Ebenda, S. 362 57 Ebenda, S. 366f. 58 Türkel 1927, S. 233 und Locard 1930, S. 20≠. 59 Soederman, O’Connell 1952, S. 464
Bürger auf Verbrecherjagd – Die Medien als Hilfsmittel der Polizei 1
Zimmermann 1969, S. 44
2
Ebenda, S. 14
3
Lenk, Kaever 1974, S. 33
4
Ebenda, S. 34
5
Ebenda, S. 41 u. 45
6
Lenk, Kaever 1974, S. 285
7
Eberhardt 1842, S. 219
8
Zimmermann 1845, S. 406
9
Müller 2004, S. 169; Müller 2005
10 Schneickert 1933, S. 272; Soiné 1992, S. 94
Anmerkungen 11
Soiné 1992, S. 100; Peulings 1995
12
Ebenda, S. 100f. u. 130f.
13
Zimmermann 1969, S. 159
14
Ebenda, S. 100
15
Ebenda, S. 183f.
16
Zimmermann 1969, S. 103f. u. 108≠.
17
Müller 2004, S. 146
18
Eberhardt, 1840, S. III
19
Zimmermann 1969, S. 119≠. u. 138
20 Soiné 1992, 154f. 21
Zimmermann 1969, S. 12
„Kommissar Computer“ und die Rasterfahndung 1
Simitis 1994, S. 124f.
2
Herold 1980, S. 170; Ermisch 1983, S. 303
3
Simitis 1994, S. 122
4
Herold 1980, S. 169f.
5
Bölsche 1979, S. 28≠.
6
Hannover 1999, S. 206≠.
7
Ortlo≠ 1881, S. 3
8
Felsenthal 1853, S. XXVIII
9
Cobler 1980, S. 30
10 Bölsche 1979, S. 32 11
zit. nach Simon, Taeger 1981, S. 44
12
Cobler 1980, S. 36
13
Ebenda
14
Cobler 1980, S. 37
15
Weinhauer 2004, S. 238
16
Hannover 1999, S. 230
17
BGBl. I 1992, S. 1302–1312
18
Graf 1997, S. 116f.
19
Wanner 1985, S. 129
20 Aly 1988, S. 295 21
Ebenda, S. 370
271
272
Anhang
22 Graf 1997, S. 137 23 Bischof 2004, S. 372f.
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12
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13
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15
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16
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17
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2
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3
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19
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20 Ho≠mann 2002b, S. 115 21
Turvey 2002, S. XXI ≠.
22 Ebenda, S. 31 23 Nagel 2002, S. 342f.; Fox, Levin 1998, S. 428 24 Ebenda, S. 344
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2
Vgl. dazu: Zimmermann 1845, S. 412
3
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4
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5
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Liter aturver zeichnis
Pfister 1820 • Ludwig Pfister , Merkwürdige Criminalfälle. Mit besonderer Rücksicht auf die Untersuchungsführung, Bd. 5, Frankfurt am Main 1820 Phéline 1985 • Christian Phéline , L’Image accusatrice, Laplume 1985 Piazza 2004 • Pierre Piazza , Histoire de la carte nationale d’identité, Paris 2004 Pinizzotto, Finkel 1990 • Anthony J. Pinizzotto, Norman J. Finkel , „Criminal Personality Profiling“, in: Law and Human Behavior, Bd. 14 (1990), S. 215–233 Pohl 1981 • Klaus Dieter Pohl , Handbuch der Naturwissenschaftlichen Kriminalistik. Unter besonderer Berücksichtigung der forensischen Chemie, Heidelberg 1981 Polzer 1922 • Wilhelm Polzer , Handbuch für den praktischen Kriminaldienst. Ein Lehrbuch für Gendarmerie- und Polizeischulen, ein Lern- und Nachschlagebehelf für jeden Kriminalbeamten, München 1922 Prante 1982 • Helmut Prante , Die Personenerkennung. Teil 1: Daktyloskopie gestern – heute – morgen. Bestandsaufnahme und Standortbestimmung, Wiesbaden 1982 Proceedings 2002 • Proceedings of the Second Annual Conference on Science and the Law, San Diego 2000, Washington, DC 2002 Prosperi 2005 • Adriano Prosperi , Dare l’anima. Storia di un infanticidio, Torino 2005 Rademacher 1837 • Rademacher , „Das Portraitiren als Polizeymaßregel“, in: Allgemeiner Polizei-Anzeiger, Bd. 4 (1837), S. 7f. Regener 1992 • Susanne Regener , „Verbrecherbilder. Fotoporträts der Polizei und Physiognomisierung des Kriminellen“, in: Ethnologia Europeae, Bd. 22 (1992) S. 67–85 Regener 1999 • Susanne Regener , Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999 Reichertz 2002 • Jo Reichertz , „‚Meine Mutter war eine Holmes‘. Über Mythenbildung und die tägliche Arbeit der Crime-Profiler“, in: Musol≠, Ho≠mann 2002, S. 37–69 Reik 1932 • Theodor Reik , Der unbekannte Mörder. Von der Tat zum Täter, Wien 1932 Reimer 2001 • Helmut Reimer , „Biometrische Identifikation – eine aussichtsreiche Innovation“, in: Michael Behrens, Richard Roth (Hrsg.), Biometrische Identifikation. Grundlagen, Verfahren, Perspektiven, Wiesbaden 2001, S. 1–7 Renneville 1994 • Marc Renneville , „L’Anthropologie du criminel en France“, in: Criminologie, Bd. 27 (1994), S. 185–209
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Anhang
Reuband 1978 • K arl-Heinz Reuband , „Die Polizeipressestelle als Vermittlungsinstanz zwischen Kriminalitätsgeschehen und Kriminalberichterstattung“, in: Kriminologisches Journal, Bd. 3 (1978), S. 174–186 Rönne, Simon 1840 • Ludwig von Rönne, Heinrich Simon , Das Polizeiwesen des preußischen Staates, 3 Bde., Breslau 1840/41 Roper 1995 • Lyndal Roper , Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit. Aus dem Englischen von Peter Sillem, Frankfurt am Main 1995 Roscher 1912 • Gustav Roscher , Großstadtpolizei. Ein praktisches Handbuch der deutschen Polizei, Hamburg 1912 Schaefer 1976/77 • Kurt Schaefer , Internationale Verbrechensbekämpfung, Wiesbaden 1976/77 Schenk 1998 • Dieter Schenk , Der Chef. Horst Herold und das BKA , Hamburg 1998 Schmidt 1983 • Eberhard Schmidt , Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., Göttingen 1983 Schneickert 1933 • Hans Schneickert , Kriminaltaktik und Kriminaltechnik, 4. Aufl., Lübeck und Berlin 1933 Schneickert 1943 • Hans Schneickert , Der Beweis durch Fingerabdrücke. Leitfaden der gerichtlichen Daktyloskopie, 2. Aufl., Jena 1943 Schönert 1991 • Jörg Schönert , „Zur Einführung in den Gegenstandsbereich und zum interdisziplinären Vorgehen“, in: ders. (Hrsg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, S. 11–55 Schulte 1988 • Christoph Schulte , Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988 Schwencken 1822 • K arl Philipp Theodor Schwencken , Aktenmäßige Nachrichten von dem Gauner- und Vagabunden-Gesindel, sowie von einzelnen professionirten Dieben, in den Ländern zwischen dem Rhein und der Elbe, nebst genauer Beschreibung ihrer Person, Cassel 1822 Seltzer 1995 • Mark Seltzer , „Serial Killers (II ). The pathological Sphere“, in: Critical Inquiry, Bd. 22 (1995), S. 122–149 Siemann 1985 • Wolfram Siemann , Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung. Die Anfänge der politischen Polizei 1806–1866, Tübingen 1985 Simitis 1994 • Spiro Simitis , „Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung. 10 Jahre danach“, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Bd. 77.2 (1994), S. 121–137
Liter aturver zeichnis
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Liter aturver zeichnis
Zimmermann 1845 • Gustav Zimmermann , Die Deutsche Polizei im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 2, Hannover 1845 Zimmermann 1852 • Gustav Zimmermann , Wesen, Geschichte, Literatur, characteristische Thätigkeiten und Organisation der modernen Polizei. Ein Leitfaden für Polizisten und Juristen, Hannover 1852 Zimmermann 1969 • Eduard Zimmermann , Das unsichtbare Netz. Rapport für Freunde und Feinde, München 1969
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Bildnachweis Abb. 1
Constitutio Criminalis Theresiana, Anhang, Tafel XXIV
Abb. 2
Philippus a Limorch, Historia Inquisitionis, Amsterdam 1692
Abb. 3
Soederman, O’Connell 1952, S. 32
Abb. 4
Fischer-Homberger 1988, S 24
Abb. 5
Gross 1913, Fig. 9, S. 338
Abb. 6
Hannoversches Polizeiblatt 7, 1853, S. 919f.
Abb. 7
Gasser et al. 1998, S. 13 (Abgedruckt mit freundlicher
Genehmigung des Schweizerischen Bundesarchiv) Abb. 8
Heindl 1927, S. 574
Abb. 9
Heindl 1927, S. 555
Abb. 10 Abb. 11
Heindl 1927, S. 556 Pfister 1820, Anhang, mittleres Foto (2. Stock)
Abb. 12
Palitzsch 1926, S. 173 (Bild 46)
Abb. 13
Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission 1934, S. 146
Abb. 14
Prante 1982, S. 39 (abgedruckt mit freundlicher
Genehmigung des BKA -Wiesbaden) Abb. 15
Heindl 1927, S. 437
Abb. 16
Heindl 1927, S. 439
Abb. 17
Prante 1982, Abb. 26, S. 52 (abgedruckt mit freundlicher
Genehmigung des BKA -Wiesbaden) Abb. 18
Prante 1982, S. 60 (abgedruckt mit freundlicher
Genehmigung des BKA -Wiesbaden) Abb. 19
Dennstedt 1910, Tafel 5, Figur 95 (vor S. 249)
Abb. 20
Polzer 1922, S. 59 ff.
Abb. 21
Gross 1913, S. 715
Abb. 22
Kaye 1995, S. 114–118 (abgedruckt mit freundlicher
Genehmigung des Verlags Wiley-VCH ) Abb. 23
picture-alliance / dpa
Abb. 24
picture-alliance / dpa, Foto: DB
Abb. 25
picture-alliance / ZB , Foto: Thomas Lehmann
Abb. 26
picture-alliance / dpa, Foto: Hubert Link
Abb. 27
picture-alliance / dpa, Foto: Stefan Kiefer