Berufe machen Kleider: Dem Geheimnis berufsspezifischen Anziehens auf der Spur [1 ed.] 9783666406256, 9783525406250


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Berufe machen Kleider: Dem Geheimnis berufsspezifischen Anziehens auf der Spur [1 ed.]
 9783666406256, 9783525406250

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Ronny Jahn Andreas Nolten

Berufe machen Kleider Dem Geheimnis berufsspezifischen Anziehens auf der Spur Herausgegeben von

Stefan Busse, Rolf Haubl, Heidi Möller

BERATEN IN DER ARBEITSWELT Herausgegeben von Stefan Busse, Rolf Haubl und Heidi Möller

Ronny Jahn / Andreas Nolten

Berufe machen Kleider Dem Geheimnis berufsspezifischen Anziehens auf der Spur

Mit 8 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: VectorKnight/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2625-6061 ISBN 978-3-666-40625-6

Inhalt

Zu dieser Buchreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Alles hat seinen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.1 Was ziehe ich an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Die individuelle Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.3 Die soziale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2 Zum Sinn beruflicher Kleidung – V   ordergründiges und Hintergründiges .32 2.1 Der weiße Kittel des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2 Die Zwischenkleidung des Lehrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.3 Der normierte Dresscode des Bankers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3 Zum Sinn der Kleidung des Beraters – Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . 48 3.1 Die Supervisorin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.2 Der Gruppendynamiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.3 Die Unternehmensberaterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4 Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung – Szenen aus der Beratungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4.1 Sakko, Hemd, Jeans und ein missglücktes Erstgespräch . . . . . . . . 68 4.2 Im Anzug und in Chino Tacheles reden – ein geglücktes Krisengespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.3 Blitzlichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Inhalt

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5 Alles ist möglich – Auflösungserscheinungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 6 Beratungspraktische Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

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Inhalt

Zu dieser Buchreihe

Die Reihe wendet sich an erfahrene Berater/-innen und Personalverantwortliche, die Beratung beauftragen, die Lust haben, scheinbar vertraute Positionen neu zu entdecken, neue Positionen kennenzulernen, und die auch angeregt werden wollen, eigene zu beziehen. Wir denken aber auch an Kolleginnen und Kollegen in der Aus- und Weiterbildung, die neben dem Bedürfnis, sich Beratungsexpertise anzueignen, verfolgen wollen, was in der Community praktisch, theoretisch und diskursiv en vogue ist. Als weitere Zielgruppe haben wir mit dieser Reihe Beratungsforscher/-innen, die den Dialog mit einer theoretisch aufgeklärten Praxis und einer praxisaffinen Theorie verfolgen und mitgestalten wollen, im Blick. Theoretische wie konzeptuelle Basics als auch aktuelle Trends werden pointiert, kompakt, aber auch kritisch und kontrovers dargestellt und besprochen. Komprimierende Darstellungen »verstreuten« Wissens als auch theoretische wie konzeptuelle Weiterentwicklungen von Beratungsansätzen sollen hier Platz haben. Die Bände wollen auf je rund 90 Seiten den Leserinnen und Lesern die Option eröffnen, sich mit den Themen intensiver vertraut zu machen, als dies bei der Lektüre kleinerer Formate wie Zeitschriftenaufsätzen oder Hand- oder Lehrbuchartikeln möglich ist. Die Autorinnen und Autoren der Reihe werden Themen bearbeiten, die sie aktuell selbst beschäftigen und umtreiben, die aber auch in der Beratungscommunity Virulenz haben und Aufmerksamkeit finden. So werden die Texte nicht einfach abgehangenes Beratungswissen nochmals offerieren und aufbereiten, sondern sich an den vordersZu dieser Buchreihe

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ten Linien aktueller und brisanter Themen und Fragestellungen von Beratung in der Arbeitswelt bewegen. Der gemeinsame Fokus liegt dabei auf einer handwerklich fundierten, theoretisch verankerten und gesellschaftlich verantwortlichen Beratung. Die Reihe versteht sich dabei als methoden- und schulenübergreifend, in der nicht einzelne Positionen prämiert werden, sondern zu einem transdisziplinären und interprofessionellen Dialog in der Beratungsszene angeregt wird. Wir laden Sie als Leserinnen und Leser dazu ein, sich von der Themen­auswahl und der kompakten Qualität der Texte für Ihren Arbeits­alltag in den Feldern Supervision, Coaching und Organisationsberatung inspirieren zu lassen. Stefan Busse, Rolf Haubl und Heidi Möller

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Zu dieser Buchreihe

Einleitung »Es hat sich uns ergeben, dass in der Mode sozusagen die verschiedenen Dimensionen des Lebens ein eigenartiges Zusammenfallen gewinnen.« (Georg Simmel, 1905)

Ausgangspunkt dieses Buchs bildet die Annahme, dass Kleidung als ein Medium der Mode immer auch arbeits- und lebensweltliche Wirklichkeit abbildet. Jenseits der Intentionen der Träger1 wird die Kleiderwahl damit von mehr als nur dem individuellen Ausdrucks­ bedürfnis bestimmt. Vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Beratungspraxis glauben wir, dass wir uns insbesondere im beruflichen Kontext weniger anziehen, als vielmehr von unserem Beruf angezogen werden. Wir, das sind ein supervisionsaffiner Soziologe (R. J.) und ein supervisionsaffiner Volkswirt (A. N.). Unsere gemeinsame Beratungspraxis vollzieht sich im weitesten Sinne im organisationalen Kontext in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Funktionsund Rollenträgern. Angefangen von Managern in IT-Unternehmen über Ingenieure, Ärzte, Anwälte, Psychotherapeuten, Lehrer, Pfleger und Erzieher bis hin zu Gas-Wasser-Installateuren. Schon beim Lesen der Aufzählung entstehen vor unserem inneren Auge verschiedene Bilder berufsspezifischer Kleidung. In deren Folge ist beispielsweise nicht zu erwarten, dass ein Hortbetreuer in einem Drei­teiler – einem aus drei Teilen inklusive Weste bestehenden Anzug oder Hosen­ anzug – erscheint und eine Lehrerin im klassischen blauen Business1 Die vorliegenden triftigen Argumente für eine geschlechtsindifferente Schreibweise anerkennend, haben wir uns entschlossen, das generische Maskulinum zu verwenden. Jenseits zu Gunsten einer hoffentlich besseren Lesbarkeit nutzen wir das generische Maskulinum vor allem, um einen Beruf im Allgemeinen im Unterschied zu einem spezifischen Rollenträger bezeichnen zu können. Also etwa den Beruf Arzt im Allgemeinen im Unterschied zur konkreten Ärztin oder dem konkreten Arzt. Wir sind uns darüber im Klaren, dass auch die Entscheidung für diese Schreibweise nicht vollumfänglich zufriedenstellend ist. Einleitung

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kostüm mit halbhohen Schuhen oder ein Unternehmensberater im karierten Holzfällerhemd. Auch Volkswirte und Soziologen scheinen sich unabhängig von ihren individuellen Kleidungsstilen beim Tragen von Kleidung in beruflichen Zusammenhängen systematisch zu unterscheiden. So sehr wir uns in diagnostischer und interventionspraktischer Hinsicht verstehen, so sehr unterscheiden beziehungsweise unterschieden wir uns in unserem »Outfit«. Während sich der Volkswirt in der Regel mit Anzug und Krawatte kleidet, hält es der Soziologe für angemessen, Jeans, weißes Hemd und blaues Sakko zu tragen. Waren wir zu zweit beim Klienten (sagt der Soziologe) beziehungsweise Kunden (sagt der Volkswirt), führten unsere unterschiedlichen Erscheinungsbilder nicht selten zu mehr oder weniger produktiver Irritation bei unserem Gegenüber und uns. Nach längerer Diskussion über die Frage, wer bezüglich der Frage nach angemessener Kleidung »recht« hat, mündeten unsere kleidungsbezogenen Unterschiede schließlich in beratungspraktischen Überlegungen und Erkenntnissen, die wir den Leserinnen und Lesern mit diesem Band pointiert zur Verfügung stellen wollen. Pointiert heißt hier für uns, die Frage nach dem Ausdruck von Kleidung in der Beratung weder zu theoretisieren noch zu trivialisieren, vielmehr soll das Buch der mehr oder weniger großen Bedeutsamkeit von Kleidung für die Beratungspraxis gerecht werden und Beraterinnen und Berater für ihre und die berufsspezifische Kleidung ihrer Klienten sensibilisieren. Damit ist dieses Buch keine wissenschaftliche Einführung in die Psychologie oder Soziologie der Kleidung und auch kein Moderat­geber. Der Text versteht sich als eine theoretisch informierte An­regung zur Auseinandersetzung mit der Frage nach berufsspezifischen Kleidungsdifferenzen sowie deren Bedeutung für die Beratungspraxis. Wir begreifen Kleidung im Folgenden als soziales Phänomen. Kleidung hat damit wie jedes soziale Phänomen – also etwa grüßen, feiern, beraten, singen, küssen und so fort – einen Sinn, der rekonstruiert werden kann: Berufe machen Kleider! Wir fragen, wel10

Einleitung

che Berufe machen welche Kleidung und warum? So verstanden ist berufs­spezifische Kleidung nicht nur Ausdruck von Individualität, sondern immer auch Ergebnis berufsspezifischer Anforderungen und Besonderheiten. Diesen grundlegenden Zugang zum »Geheimnis« berufsspezifischen Anziehens stellen wir im Sinne einer Ausgangshypothese im ersten Kapitel vor, um dessen Erklärungskraft und praktischen Nutzen für Beraterinnen und Berater in den daran anschließenden Kapiteln zu demonstrieren.

Einleitung

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1  Alles hat seinen Sinn Die Annahme, die soziale Welt sei sinnstrukturiert, bildet die Basis unserer Überlegungen (vgl. Garz u. Kraimer, 1994; Garz u. Rawen, 2015; Oevermann, 2002). Ohne diese Unterstellung müssten wir die Frage nach dem Sinn von Kleidung als eine nicht zu beantwortende zur Seite legen. Kleidung wäre dann sinnentleert und beliebig. Wenn wir im Unterschied dazu davon sprechen, dass Kleidung sinnstrukturiert ist, besagt das, dass sich jede Sozialität – so auch Kleidung – über Bedeutungsstrukturen generiert und innerhalb dieser nichts sinnlos ist. Unter Sozialität verstehen wir so verschiedene Prozesse und Phänomene wie Weihnachten feiern, S-Bahn fahren, frühstücken, Zeitung lesen, unterrichten, Sex haben, Lotto spielen, Brötchen backen, Recht sprechen und auch die Praxis des (berufsspezifischen) Anziehens. All diese Aktivitäten folgen allgemeinen und spezifischen Bedeutungsstrukturen respektive Sinngehalten, die herausgearbeitet werden können. So beinhaltet etwa jedes Weihnachtsfest gleiche grundlegende Elemente und unterscheidet sich zugleich in seiner jeweils spezifischen Ausdrucksgestalt. Weihnachten als Fest der Familie, das unter anderem dazu dient, sich der familiären Bande zu vergewissern, zeitigt überall gleiche erfreuliche und unerfreuliche Dynamiken. Jeder kann ein Lied davon singen. Zugleich ist jedes Weihnachtsfest verschieden und damit ein Unikat. In jedem Fall ist Weihnachten nicht gleich Ostern und jeder, der dies bestreiten wollte, könnte dies nur um den Preis der Attribute »weltfremd«, »kulturfremd« oder »zynisch« tun. Folgen wir diesem Gedankengang, ist es auch bedeutsam, ob ein Berater von Klienten oder Kunden spricht (vgl. Busse, 2015; Looss, 12

Alles hat seinen Sinn

2014). Während der Begriff »Klient« auf ein Arbeitsbündnis zwischen einem in eine Krise geratenen Ratsuchenden und einem Berater verweist, bezeichnet der Begriff »Kunde« die geschäftsmäßige Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer. Dabei sind die Begriffe »Kunde« oder »Klient« per se weder schlecht noch gut, sondern verweisen auf unterschiedliche Sinnzusammenhänge und begünstigen differenzierte Erwartungen. Der Kunde kauft eine Dienstleistung ein und ist bekanntlich »König«. Kunde und Verkäufer feilschen mehr oder weniger um den für sie jeweils besten Preis. Sie verbindet eine spezifische Rollenbeziehung. Fragt der Verkäufer den Kunden etwa nach seinen Ärgernissen oder nach seinen psychosozialen Belastungen am Arbeitsplatz, wird dieser dies als übergriffig erleben und sich mehr oder weniger deutlich gegen die ungebetene »Grenzüberschreitung« verwehren. Anders verhält sich dies bei dem Klienten des Coachs oder des Supervisors. Hier bittet der Ratsuchende als in seiner Autonomie mehr oder weniger eingeschränkter Klient um Unterstützung zu Problemen im Rahmen seiner Arbeit. Anlass, Beratung zu suchen, ist dabei stets ein hinreichender Leidensdruck. Der Klient ist dann nicht König und der Coach oder Supervisor kein Verkäufer. Beide vereint eine diffuse und spezifische Beziehung, das Arbeitsbündnis. In diesem ist es dem Coach oder Supervisor qua seiner spezifischen Rolle erlaubt, gemeinsam mit dem Klienten nach mehr oder weniger diffusen Gründen für arbeitsbezogene Belastungen zu suchen. Die Grenze zwischen Besprechbarem und Nichtbesprechbarem loten sie dabei zum Zweck der Bewältigung der arbeitsweltlichen Problemstellungen des Klienten immer wieder behutsam aufs Neue aus. Ein Feilschen um den besten Preis verträgt ein Arbeitsbündnis zum Zweck der Krisenbewältigung der Sache nach nicht. Die skizzierte Auseinandersetzung mit den Begriffen »Kundin/ Kunde« und »Klientin/Klient« ist kein Selbstzweck. Vielmehr kann sie Beratende für die Sinnofferten ihres Ausdrucks sensibilisieren und dabei unterstützen, zu klären, welcher Logik ein Beratungsprozess gerade folgt. Dominiert die Kunden- und damit die Geschäftslogik, sollte dies jeden Supervisor oder jeden Coach aufmerksam Alles hat seinen Sinn

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machen. Die Triftigkeit dieser Aussage untermauert ein Blick auf ärztliches Handeln. Sprechen Ärzte von Kunden und preisen ihr professionelles Handeln – etwa eine Untersuchung bei diffusen Bauchschmerzen – als Ware an, die sie zu einem bestmöglichen Preis verkaufen wollen, stellt sich beim Leidenden, dem Patienten, zurecht ein ungutes Gefühl ein. Auch hier würde die Geschäftslogik die professionell ärztliche Logik dominieren. Dass dies durchaus nicht selten passiert, ist kein Beleg für die Nichtigkeit der Differenz von Geschäftslogik und professioneller ärztlicher Logik. Im Gegenteil, unsere Empörung über ein Geschäftsgebaren im medizinischen Kontext unterstreicht, dass die soziale Praxis des Geschäftemachens von der sozialen Praxis ärztlichen Handelns verschieden ist und diese Differenz bedeutsam ist. Vor dem Hintergrund unserer Überlegungen zum Weihnachtsfest sowie zu den Begriffen »Kunde/Kundin« und »Klientin/Klient« wird deutlicher, was es mit der Aussage, es existiere kein sinnloses Handeln, auf sich hat. Der Sinn einer Handlung mag sich nicht sofort erschließen oder unseren ethisch-moralischen Vorstellungen entgegenlaufen, sinnhaft ist sie indes immer. Die Suche nach der Bedeutung sozialer Handlungen, sei es in Bezug auf einzelne Akteure, Gruppen oder Organisationen, vereint Beraterinnen und Berater. Der Annahme, dass Sinn die Basis jeder Handlung bildet, steht Beliebigkeit entgegen. Während Beliebigkeit der Differenzen etwa in Alter, Geschlecht, Kleidung und Sprache wenig Aufmerksamkeit schenkt und damit zuweilen Toleranz auszudrücken glaubt, wo Igno­ ranz der Fall ist, zwingt die prinzipielle Sinnannahme zum Blick auf Differenzen und deren Sinnerschließung. Es ist dann nicht bedeutungslos, ob eine Beratungssitzung mit »dem Laden einer Klangschale«, »Herzlich Willkommen«, »Guten Tag« oder »Ja, wie ist es denn so?« eröffnet wird (Jahn u. Tiedtke, 2014). Vielmehr begünstigen die vier Sitzungseröffnungen unterschiedliche Erwartungen: Im ersten Fall eine Esoterikveranstaltung, im zweiten Fall sich als Gast einzurichten, im dritten Fall eine eher formaldistanzierte Beziehung und schließlich im vierten Fall muss der Adressat die Zu14

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mutung ertragen, dass der Ball nun bei ihm liegt und er entscheiden muss, was er mit ihm macht. Der hier skizzierte Prozess der Sinnerschließung begünstigt den intersubjektiven Streit der Argumente um die angemessene Inter­ pretation und Auslegung einer Handlung. Der damit verbundene Streit um das bessere Argument stört die vermeintlich konfliktlose Ruhe der Unbestimmtheit. Wo hingegen Beliebigkeit herrscht, weichen streitbare Argumente unstreitbaren Meinungen und Empfindungen. Das gilt für den öffentlichen Diskurs wie für den Diskurs der professionellen Community und auch für den Diskurs im Rahmen eines Beratungsprozesses. Wir laden Sie ein, sich im Weiteren auf die Annahme einzulassen: Alles hat seinen Sinn, so auch (berufs­ spezifische) Kleidung als Ausdruck sozialer Praxis. Machen wir uns auf den Weg der streitbaren Sinnerschließung.

1.1  Was ziehe ich an? Honoré de Balzac soll gesagt haben, ein scharfer Beobachter erkennt am Zustand der Schuhe immer, mit wem er es zu tun hat. Trifft dies zu, drücken wir mit unserer Kleidung stets mehr aus, als wir intendieren. Aber was ist Kleidung überhaupt und was beabsichtigen wir mit unserer Kleiderwahl? Unter Kleidung ist eine mehr oder weniger eng anliegende Hülle aus ganz unterschiedlichen Materialien zu verstehen. Sie bedeckt den nackten Körper ganz oder teilweise. In diesem Sinne bekleidet sie den menschlichen Leib, was in unseren Breiten das Schuhwerk und Kopfbedeckungen einschließt. Kaum eine Bevölkerungsgruppe lebt in völliger Nacktheit, aber die Bandbreite der Bekleidung in unterschiedlichen Gesellschaften sowie Kultur- und Lebens­räumen ist beträchtlich. Sie reicht von einer dünnen Hüft- oder Penisschnur indigener Völker im südamerikanischen Regenwald bis hin zur vollständigen Verschleierung mittels einer Burka. Angesichts dieser Vielfalt beziehen sich unsere Überlegungen zu berufsbezogener Bekleidung auf die »okzidentale« Sinn- und Erfahrungswelt. Was ziehe ich an?

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Mit Blick auf die Frage nach dem Sinn (berufsspezifischer) Kleidung lässt sich die alltägliche mehr oder weniger plagende Über­ legung »Was ziehe ich an?« unterschiedlich beantworten. Was ziehe ich an?

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Ich ziehe an, was meinen Körper schützt (instrumentelle Perspektive). Ich ziehe an, was mir gefällt (individuelle Perspektive). Ich ziehe an, was der soziale Kontext notwendig macht (soziale Per­ spektive).

Die erste Aussage bezieht sich auf die elementarste, die instrumentelle Seite von Kleidung. Kleidung dient danach vor allem dem Schutz des Körpers vor äußeren Einflüssen. Wir denken zum Beispiel an den Hut, der vor Sonneneinstrahlung schützt, an den Wintermantel, der bei Kälte wärmt, an die Gummistiefel, die vor Nässe schützen, oder an die berufsspezifische Schutzkleidung von Feuerwehrleuten, die Hitze trotzt. Vor allem die von außen einwirkende (potenzielle) Gefahr bestimmt in diesem Zusammenhang Form und Material der Kleidung. Die zweite Aussage fokussiert auf individuelle Aspekte von Kleidung. Kleidung wird dabei als Ausdrucksmittel persönlicher Vorlieben und Eigenschaften verstanden. Vor diesem Hintergrund bestimmt das Individuum die Kleidung. Die dritte Aussage öffnet den Blick auf die soziale Perspektive. Hier stellt sich die Frage, auf welche soziale Herausforderung Kleidung die Antwort ist. In diesem Sinne kann Kleidung unter anderem als kulturelle Leistung begriffen werden, die den Übergang vom konkreten zum abstrakten Körper bewältigt (vgl. Heimerl, 2018). Die natürliche Nacktheit weicht dem »zivilisierten« Angezogensein. Wenn Karl Lagerfeld sagt: »Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kon­trolle über sein Leben verloren« (Talkshow Markus Lanz, ZDF, 19. April 2012), dann beklagt er den Niedergang der Kultur, die seiner Meinung nach etwas anderes zu sein scheint als eine Jogginghose. Im beruflichen Zusammenhang erschließt die soziale Perspektive beispielsweise den Sinn von Uniformen. Antworten sind etwa die Abgrenzung zu Nichtuniformierten, symbolisches Erkennungsmerkmal sowie Ordnung in16

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nerhalb der Uniformierten. Wir können folglich davon sprechen, dass hier berufliche, soziale Herausforderungen die Kleidung bestimmen. Veranschaulichen wir uns die Logik der Dreiteilung in instrumentelle, individuelle und soziale Perspektive an einem Beispiel aus dem Sport. Für Außenstehende meist unverständlich gehört das Rasieren der Beine zu den Routinen eines jeden Radsportlers. Suchen Beobachter dieser durchaus erklärungsbedürftigen Praxis nach Antworten, schreiben sie den Beobachteten nicht selten vor allem Eitelkeit und bisweilen versteckte Homosexualität zu. Erkenntnisleitend ist hier die individuelle Perspektive. Die Beinrasur wird dann als Ausdruck persönlicher Bedürfnisse verstanden. Anders die Interpretation, das Beinerasieren als Sinnbild einer Maschinenlogik zu begreifen, der der Leistungssport im Allgemeinen folge und die letztlich darauf ziele, die Begrenztheit des Lebenden aufzuheben. Auch diese Auslegung ist erklärungskräftig. Erkenntnisleitend ist hier die soziale Perspektive. Enthaarte Beine werden dann als soziale Praxis betrachtet, deren Sinn es zu entschlüsseln gilt. Von der individuellen und sozialen Perspektive verschieden ist schließlich der instrumentelle Zugang zum Verständnis des Rasierens der Beine von Radsportlern. Erkenntnisleitend ist hier die Frage, auf welche Gefahr die Entfernung der Beinhaare die Lösung ist. Wenig aufregend und sehr einleuchtend lauten die Antworten in folgender Reihenfolge: Verringerung von Sturzwunden, Wundversorgung, Massagepraxis und Aerodynamik. Erstens erhöhen Haare im Fall eines Sturzes die Reibung zwischen »Körper und Asphalt« und damit das Ausmaß von Schürfwunden. Zweitens behindern Haare die medizinische Versorgung von Wunden infolge eines Sturzes. Drittens stören Haare die tägliche Massage der Beine und viertens stellen Haare im Kampf um aerodynamische Vorteile eine nicht unerhebliche Hürde dar. Begreifen wir die Beinrasur des Radsportlers als eine Form des Anziehens, des »Sich-Zurechtmachens«, dann zeigt sich, dass hier verschiedene Sinndimension zusammenfallen. Vor diesem Hintergrund sprechen wir davon, dass Kleidung überdeter­ miniert ist. Das heißt, sie speist sich aus unterschiedlichen Quellen und Was ziehe ich an?

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ist damit Ausdruck vielfältiger Einflussgrößen zugleich. In der Folge ist Kleidung vieldeutig. Wohl wissend also, dass Kleidung als Untersuchungsgegenstand wenig greifbar ist, versuchen wir dennoch Zugriff zu erlangen. Wir folgen damit nicht der Logik von Beliebigkeit, sondern hoffen, dazu beizutragen, die Kleidungsfrage zum Zweck beratungspraktischen Erkenntnisgewinns zu systematisieren. Dabei geht es nicht um die Konstruktion statistischer Zusammenhänge, also etwa um den Zusammenhang von gebügeltem Hemd und Einkommen, sondern um die Frage, welchen Sinn das weiße Hemd ausdrückt und was daraus folgt. Es würde beispielsweise von allen Beteiligten als »schräg« empfunden werden, wenn der Teamleiter eines Gas-Wasser-­InstallationsTeams die übliche Morgenrunde zur Auftragsverteilung im weißen Hemd eröffnete. »Geheilt« (aufgeklärt) werden könnte dies nur durch Erklärungen wie: »Ich habe heute noch einen Termin bei der Bank.« Die Unterscheidung in Kleidung als instrumentelles, individuelles und soziales Phänomen ist nie trennscharf. Instrumentelle, indi­ viduelle und soziale Perspektive auf die Praxis berufsspezifischen Anziehens bedingen einander und vermischen sich dementsprechend schnell. Wenn Kleidung als kulturelle Lösung der Bewältigung des Übergangs vom konkreten Körper zum abstrakten sozialen Ausdruck verstanden wird, ist Kleidung immer zugleich individueller, sozialer und instrumenteller Gestalt. Alle drei Quellen von Kleidung lassen sich zwar zu analytischen Zwecken trennen, fallen aber praktisch zusammen. Eingedenk dieses Umstands ist dennoch zu beobachten, dass im Arbeitsleben – so auch in der Beratungspraxis – der Blick bewusst oder unbewusst häufig zuerst die individuelle Perspektive einnimmt. Denken wir an eine mögliche Beobachtung im Rahmen einer Tagung. Die vortragende Professorin mittleren Alters erscheint in Jeans und Turnschuhen kombiniert mit einem hellen zweireihigen Kostüm-­Sakko. »Wie sieht die denn aus?« Eine mögliche Interpretation ist: Sie legt keinen besonderen Wert auf ihre äußere Erscheinung. Aus berufsbezogener Perspektive hingegen wäre zu erwidern: Sie möchte nicht wegen ihrer Kleidung Anerkennung finden, vielmehr drückt sich in 18

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ihrer »stilvergessenen« Kleidung ihre starke fachliche Orientierung aus. Die Sache, der sie ihren Vortrag widmet, lässt die Frage der Kleidung in den Hintergrund treten. Diese zweite, soziale, berufsbezogene »Lesart« interessiert uns in diesem Buch vor allem. Auch wenn sich also in berufsspezifischer Kleidung nicht nur die Person oder nur der Beruf ausdrückt, sondern Person und Beruf, lenken wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die Seite des Berufs – und das aus gutem Grund. Wir meinen, dass sowohl im Alltag als auch in der einschlä­gigen Literatur die Neigung besteht, Kleidung als individualpsycholo­ gisches Phänomen zu betrachten. Nicht zuletzt in »modernen« Zeiten ist das wenig überraschend, wird doch hier das Individuum gesellschaftlich hervorgehoben. In der Folge gerät Kleidung als soziales Phänomen im Allgemeinen und insbesondere im Diskurs um Beratung eher in den Hintergrund (vgl. Eismann, 2012). Die Kleiderwahl wird so zu allererst als Ausdruck der psychischen Verfasstheit von Individuen verstanden. Entgegen dieser gängigen Auffassung vertreten wir die Position, dass in arbeitsweltlichen Zusammenhängen vor allem der Beruf die Kleidung bestimmt und weniger die Person. Auch wenn dies freilich in Abhängigkeit von der spezifischen beruflichen Rolle, Aufgabe und Branche variiert, ist Kleidung demnach vor allem Ausdruck sozialer Verhältnisse. In diesem Zusammenhang schreibt die Modeikone Vivienne Westwood zum Unterschied zwischen Mode und Stil: Mode versus Stil »Mode kann sich jeder mit Geld kaufen. Stil ist die intelligente Abweichung von Normen, die man kennen muss. Deshalb ist Stil ohne Bildung und Er­ fahrung nicht zu haben.« (Westwood, 2012)

Den Nutzen des Zusammendenkens von individueller und sozialer Perspektive können wir uns am Phänomen veränderter Kleidungsgestalten im Ausbildungsprozess veranschaulichen. So ist es unter psycho­analytisch orientierten Studentinnen und Studenten der Psycho­ logie üblich, sich in dezentem schwarzem Oberteil kombiniert mit Was ziehe ich an?

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grauer Jeans und schwarzen Schuhen zu kleiden. Begleitet wird dieser Dress nicht selten von einer großen, zugleich unaufdringlich wirkenden Brille. So elegant und stimmig dieses Arrangement häufig auch ist, dem Beobachter bleibt der Eindruck einer Verkleidung – in diesem Zusammenhang verstanden als imaginäre Ausübung eines sehnlich angestrebten Berufs. Ähnlich wie sich das Kind als Feuerwehrmann kostümiert und ihn so in bestechender Form zu imitieren vermag, imitiert der Psychologiestudent den Psychoanalytiker. Dabei prägt der persönliche Wunsch die Kleidung. In der Folge stellt sich beim Betrachter der Kleidungsgestalt eine Nichtpassung von Wunsch und Wirklichkeit ein. Anders verhält es sich, wenn der Berufswunsch zunehmend verwirklicht ist. Persönlicher Anspruch und berufs­spezifische Kleidung stehen dann in einem Passungsverhältnis, in dem die Kleidung nicht mehr Verkleidung ist, sondern Ausdruck professionellen Habitus und zugleich eine funktionale Antwort auf die praktischen Anforderungen psychoanalytischer Arbeit. Wie von Zauberhand erscheint die Person, die eben noch Verkleidung trug, nun in ihrer Kleidung als stimmige Gestalt, ohne dass sie sich faktisch anders kleiden würde. Wir sehen, wie erkenntnisreich die Verknüpfung der individuellen und sozialen Perspektive bei der Betrachtung berufsspezifischer Kleidung ist. Während die individuelle Perspektive vor allem dazu beiträgt, die Gestalt des Studenten in Ausbildung zu erschließen, erhellt die soziale Perspektive die Frage nach der berufsspezifischen Kleidung des praktizierenden Therapeuten. Gemeinsam tragen individuelle und soziale Perspektive dazu bei, kleidungsbezogene Veränderungsprozesse zu verstehen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch regelmäßig bei Hochzeiten erkennen, welcher der männlichen Gäste es gewohnt ist, einen Anzug zu tragen, und wer qua Anlass dazu »genötigt« wird, sich formell zu kleiden. Während Ersterer im wahrsten Sinne des Wortes den Anzug mit einer Haltung ausfüllt, die er über seine berufliche Sozialisation erworben hat, bleibt der Anzug beim Letzteren eine ungefüllte Hülle. Blicken wir im Folgenden noch etwas genauer auf die Erklärungskraft der individuellen Perspektive, bevor dann die soziale Perspektive im Vordergrund steht. 20

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1.2  Die individuelle Perspektive »Wie Du kommst gegangen, so Du wirst auch empfangen.« (frei nach Johann Wolfgang von Goethe)

Auf der individuellen Ebene rückt das Ausdrucksbedürfnis des Kleidungsträgers in den Mittelpunkt der Betrachtung. Es ist unmittelbar einsichtig, dass Kleidung und Persönlichkeit in einer Wechselwirkung zueinanderstehen und diese personenspezifisch betrachtet werden kann. Dagegen ist der Schutz des Körpers vor Umwelteinflüssen mittels Kleidung beziehungsweise Körperbedeckung vor allem zweckdienlich und bedarf keiner individualpsychologischen Begründung. In funktionaler Hinsicht werden in der Sozialpsychologie darüber hinaus Scham und Schmuck als weitere grundlegende Deter­minanten des Kleidungsverhaltens angesehen. Nach der Schmuck- oder »Dekorationstheorie« (Brenninkmeyer, 1963) haben Menschen immer auch das Bedürfnis, den eigenen Körper unter ästhetischen Gesichtspunkten zu verzieren. Kleidung bietet dazu vielfältige Möglichkeiten und ist gleichsam »eine zweite Haut«. Der Psychoanalytiker John Carl Flügel ging in seiner ursprünglich 1930 erschienenen Arbeit »Psycho­logie der Kleidung« (Flügel, 1930/1969) der Frage nach, warum Menschen den Wunsch verspüren, sich zu schmücken. Er führte dies insbesondere auf den angeborenen Sexualtrieb und eine Neigung zum Exhibitionismus zurück. Nach seiner Auffassung würden Geschlechts­merkmale mithilfe der Kleidung besonders hervor­ gehoben oder bei Frauen der fehlende Penis kompensiert. Flügel sieht darin eine wesentliche Ursache, dass das Feld der Mode zu seiner Zeit eher von Frauen dominiert wurde. Unabhängig von der Triftigkeit dieser heute eher eigentümlich anmutenden Interpretationen wird an den Hypothesen Flügels deutlich, dass sich der Träger in Kleidung ausdrückt und Kleidung zugleich etwas über den Träger verrät. Kleidung dient als Kommunikationsmittel, sobald sie für andere sichtbar wird. Unabhängig davon, ob dies von dem Träger beabsichtigt ist oder nicht. Die Kleiderwahl prägt maßgeblich neben dem Gesicht und den Die individuelle Perspektive

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Händen die äußere Erscheinung eines Menschen. Gleichzeitig steht die Kleidung in einer Wechselwirkung zu physischen Merkmalen wie Größe, Körperform und Körperhaltung. Daraus ergibt sich eine ganze Reihe von Betrachtungsperspektiven: Ȥ Die Kleidung stellt bewusst oder unbewusst ein Wunschbild des Trägers dar. Im äußeren Erscheinungsbild wird sichtbar, wer die Person gerne sein möchte. Sie dient somit der Konstruktion von Identität. Ȥ In der Kleidung offenbart sich die Person des Trägers. Darunter fallen beispielsweise physische und psychische Merkmale, aber auch sein Selbstkonzept, sein gesellschaftlicher Status, seine Werteorientierung und sein Bildungshintergrund. Ȥ Die Selbstkonstruktion wird durch die Kleiderwahl stabilisiert. In ihr drückt sich die Verbundenheit oder Abgrenzung des Trägers zu seiner Umwelt aus. Ȥ Als »Spiegel« der individuellen Biografie gibt die Wahl der Kleidung Hinweise auf Identifikationen und erste Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen. Ȥ Eine Veränderung der Persönlichkeit und des Körpergefühls kann durch Kleidung bewusst oder unbewusst herbeigeführt werden. Die Kleiderwahl und die Reaktionen der Umwelt darauf können mit bestimmten Empfindungen und Affekten einhergehen sowie unmittelbare Auswirkungen auf das Verhalten haben. Ȥ Kleidung dient zur bewussten Beeinflussung der Umwelt durch Selbstinszenierung. Mit ihr drückt sich der Träger symbolhaft aus und er versucht, den Betrachtenden nach seinen Wünschen zu beeinflussen. In der Interaktion mit anderen Menschen werden all diese Signale »empfangen« und von den Empfängern »entschlüsselt«. Dies kann wiederum deren Reaktionen beeinflussen, weil aus den bewussten oder unbewussten Interpretationen bestimmte Verhaltenserwartungen resultieren. In diesem Zusammenhang ist häufig von der »Macht des ersten Eindrucks« die Rede. Innerhalb weniger Millisekunden 22

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kommt es zu einer spontanen mehr oder weniger bewussten Einschätzung des Gegenübers. Die Grundlage dafür bilden insbesondere Alter, Ethnie, Sprache, Geschlecht, Stimme, Körpersprache und Kleidung (vgl. Damasio, 2004). Es ist bekannt, dass Menschen häufig am »ersten Eindruck« festhalten und sich dieser im Weiteren stabilisiert (Bierhoff, 1986). Die von Gottfried Keller in der Zeit von 1859 bis 1873 verfasste Novelle »Kleider machen Leute« (Keller, 1874/2016) ist ein prominentes Lehrstück dafür, wie die gezielte Kleiderwahl andere Menschen beeinflussen kann. So wird der arme Schneidergeselle Wenzel Strapinski durch das Tragen hochwertiger Kleidung zum polnischen Grafen. Es sind also im Grunde nicht die Kleider, die die Leute machen, sondern die Zuschreibungen der Betrachter. In diesem Zusammenhang muss zwischen allgemein gültigen und individuellen Zuschreibungen unterschieden werden. Die Kleidung von Polizisten, Ärzten und Armeeangehörigen signalisiert die Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen. Über diese Zuschreibung besteht gesellschaftlicher Konsens. Aber auch für »nichtstandardisierte« Kleidung in Beruf oder Freizeit existieren »vestimentäre Codes« (Sommer, 2010), die sowohl von den Trägen als auch von den Betrachtenden auf Grundlage stillschweigender sozialer Übereinkunft in ähnlicher Art und Weise ausgelegt werden. Beispielsweise wird in unserem Kulturkreis das Tragen einer Krawatte eher bei Männern verortet, während ein Rock eher für Weiblichkeit steht. Umgekehrt können Frauen, die Krawatten, und Männer, die Röcke tragen, Irritationen auslösen, weil sie herrschende vestimentäre Codes außer Kraft setzen. Dies wird aber nicht gleichermaßen bei jedem Betrachtenden der Fall sein. Individuelle Zuschreibungen können sich also in Abhängigkeit des Betrachtenden mehr oder weniger stark unterscheiden. Denken Sie beispielsweise an Ihr Bild der Bekleidung eines Sozialarbeiters, eines Friseurs, einer Ingenieurin, eines Altenpflegers oder einer Immobilienmaklerin. Der Abgleich mit den Bildern Ihrer Umwelt wird viele Gemeinsamkeiten – vestimentäre Codes –, aber auch einige Unterschiede hervorbringen. Diese Differenzen sind Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, der Berufsbiografie, Die individuelle Perspektive

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der Lebensgeschichte und so fort. Insbesondere für Beratende, aber auch ganz allgemein für Menschen in Berufen, die mit anderen Menschen zu tun haben, ist dieser Aspekt durchaus bedeutsam. Es geht darum, sich der eigenen Vorstellungen und Stereo­type von Kleidung bewusst zu werden. In einer Supervision mit Horterziehern kann es beispielsweise hilfreich sein, sich über diese häufig unbewussten Haltungen auszutauschen. Welche Assoziationen fallen Ihnen ein, wenn von einem achtjährigen, etwas übergewichtigen Jungen, der hochpreisige Markenkleidung trägt, die Rede ist, und der von den anderen Kindern in der Gruppe ausgegrenzt wird? Es wird deutlich, dass wir häufig von der Kleidung Rückschlüsse auf die ganze Person ziehen. Ein typisches Beispiel für eine gezielte Selbstinszenierung mittels Kleidung in arbeitsweltlichen Zusammenhängen ist das Vorstellungsgespräch. Entsprechend widmet sich die einschlägige Ratgeberliteratur ausführlich der Frage, wie Mann oder Frau sich zum Vorstellungsgespräch kleiden sollte (vgl. Lorenz, Rohrschneider u. Müller-Thurau, 2015). Die Grundidee ist, dass Kleidungsstücke mit ihren spezifischen Formen, Farben, Materialien und Schnitten bestimmte Wirkungen beim Beobachtenden erzielen. Ziel ist, sowohl bestimmte Aspekte der Persönlichkeit als auch die physische Erscheinung des Bewerbers in einem positiven Licht erscheinen zu lassen, um damit die Chancen auf eine Zusage zu erhöhen. So wird beispielsweise in Bewerbungsoder Stilratgebern davon ausgegangen, dass das Tragen eines Anzugs oder Kostüms den Träger und die Trägerin kompetenter, durchsetzungsfähiger und seriöser, aber auch größer wirken lässt. Blautöne würden Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Autorität signalisieren. Eine sehr gute Passform unterstreiche die Professionalität (Jacoby u. Vollmers, 2012). Unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Überprüfbarkeit verdeutlicht die Aufzählung, dass hier neben den physischen Eigenschaften spezifische Dimensionen der Persönlichkeit mit der Kleidungswahl in Verbindung gebracht werden. Unter »Persönlichkeit« wird üblicherweise die Gesamtheit der psychischen Eigenschaften eines Individuums verstanden. Von besonderem Interesse sind dabei die zeitlichen und situativ stabilen Einstel24

Alles hat seinen Sinn

lungen, Gewohnheiten und Dispositionen, die zu einem spezifischen Verhalten führen (engl.: »trait«). Bereits in den 1930er Jahren konnten Allport und Odbert fünf voneinander unabhängige, kulturell und zeitlich weitgehend stabile Faktoren der Persönlichkeit identifizieren (Allport u. Odbert, 1936). Dieses als »The Big Five« bezeichnete Modell zählt aufgrund jahrzehntelanger empirischer Forschung inzwischen zu den elaboriertesten Konzepten der differenziellen Persönlichkeitspsychologie. Es unterscheidet fünf stabile Persönlichkeitseigenschaften: Neurotizismus, Extraversion, Verträglichkeit, Offenheit für Erfahrungen und Gewissenhaftigkeit. Ausgehend von der allgemeinen Annahme, dass Kleidung etwas über Persönlichkeit aussagt, wollen wir im Folgenden versuchen, eine Beziehung zwischen der Kleiderwahl und den »Big Five« herzustellen. Dass ein solcher Zusammenhang existiert, legen verschiedene Forschungsarbeiten nahe. So ist beispielsweise die Betonung des eigenen Aussehens mit den Facetten Neurotizismus, Extraversion und Offenheit moderat verknüpft (Widner, Francis u. Davis Burns, 2007). Zudem scheint das Markenimage der Kleidung in einem Zusammenhang mit den Persönlichkeitsmerkmalen ihrer Träger zu stehen. Wenig überraschend präferieren beispielsweise Konsumenten mit einer hohen Gewissenhaftigkeit sogenannte »vertrauenswürdige« Marken (Casidy, Tsarenko u. Anderson, 2005). Das Konstrukt Neurotizismus geht auf den Psychologen Hans Jürgen Eysenck zurück und beschreibt den Umgang mit Emotionen (Eysenck, 1947). So wirken sich negative Emotionen bei Personen mit hohem Neurotizismus deutlich auf das Erleben und Verhalten aus. Personen mit hohem Neurotizismus sind leicht aus dem Gleich­ gewicht zu bringen, haben Sorgen und Ängste, neigen zu Traurigkeit und Nervosität und erleben sich in sozialen Situation unsicher und nervös. Dabei sind sie eher launisch, empfindlich und leicht reizbar. Gleichzeitig zeigt sich ein Bedürfnis nach Anerkennung sowie eine Neigung zu unrealistischen Ideen. Niedrige Ausprägungen des Neuro­ tizismus verweisen dagegen auf eine hohe emotionale Stabilität und Robustheit. Menschen mit dieser Persönlichkeitsdisposition lassen Die individuelle Perspektive

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sich nicht leicht beunruhigen, können mit Stress und Belastungen gelassen und konstruktiv umgehen, machen sich wenig Sorgen und sind eher ruhig und ausgeglichen. Mit Blick auf die Frage der Kleiderwahl können wir davon ausgehen, dass sich hoher Neurotizismus in einem an die jeweilige soziale Situation angepassten Kleidungsstil zeigt. Der Träger verspürt eine hohe Unsicherheit hinsichtlich der »richtigen« Kleiderwahl und setzt sich daher intensiv mit der Frage nach der »richtigen« Kleidung auseinander. Er ist besorgt, dass Farben, Kombination oder Passform negativ auffallen könnte. Idealerweise sollte die Kleidung daher Lob und Anerkennung des Umfelds befördern. Emotional stabilere Personen werden sich dagegen weniger Gedanken über ihre Kleidung machen. Kritik oder Zurückweisung aufgrund ihrer äußeren Erscheinung bringt sie eher nicht aus dem Gleichgewicht. Ihr Blick wird sich stärker auf die eigenen Bedürfnisse richten. Entsprechend richten sich die Kriterien der Kleiderwahl eher nach innen als nach außen. So könnten beispielsweise Bequemlichkeit oder persönliche Vorlieben ausschlaggebender für die Kleiderwahl sein als die äußeren Umstände. Das Konstrukt Extraversion bezieht sich auf das individuelle Handeln und zwischenmenschliche Verhalten. Personen mit hoher Ausprägung sind in der Regel aktiv, freundlich, aufgeschlossen und gesprächig. Sie schätzen Anregungen und suchen Herausforderungen. Gleichzeitig zeichnet sie eine positive und optimistische Grund­ haltung aus. Sie suchen Kontakt zu anderen Menschen und fühlen sich in Gesellschaft wohl. Das Fehlen von Extraversion wird mit dem Begriff Introversion bezeichnet. Er bezieht sich auf eher zurückhaltende, ruhige und ausgeglichene Persönlichkeiten, die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit schätzen. Sie werden als eher nachdenklich und ideenreich beschrieben. Extravertierte Personen lenken mit ihrem Kleidungsstil gerne die Aufmerksamkeit ihrer Umwelt auf sich. Kräftige und fröhliche Farben, ungewöhnliche Kombinationen oder auch das Ausprobieren neuer Modetrends helfen dabei, aufzufallen. Der eigene Körper wird darüber hinaus durch figurbetonte oder elegante Kleidung gern in Szene gesetzt. Für extravertierte Personen 26

Alles hat seinen Sinn

ist es bedeutsam, wie ihre äußere Erscheinung von anderen wahr­ genommen wird. Gleichzeitig machen sie anderen gerne Komplimente für ihre Kleidung. Introvertierte Personen orientieren sich eher am Altbewährten, kleiden sich formell und vermeiden es, durch die Kleiderwahl im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie wählen eher unauffällige Farben und Muster und bevorzugen bequeme sowie praktische Kleidung. Weiterhin unterscheiden sich Menschen in der Offenheit für Eindrücke und Erfahrungen. Dies kann sich nicht nur auf die Außenwelt, sondern auch auf die Innenwelt beziehen. Letztere ermöglicht dann Fantasieerleben sowie die Empfänglichkeit für eigene Emotionen. Personen mit einer hohen Offenheit sind in der Regel vielfältig interessiert, Neuem gegenüber aufgeschlossen, experimentierfreudig und kreativ. Dabei sind sie kritisch und hinterfragen bestehende Normen und Werte. Sie verhalten sich unkonventionell und sind vom Urteil anderer eher unabhängig. Niedrige Offenheit dagegen geht in der Regel mit konventionellem Verhalten und konservativen Einstellungen einher. Weniger offene Personen bleiben eher beim Bewährten und sind weniger neugierig. Bei der Kleiderwahl wird sich eine hohe Offenheit in einem ausgeprägten Interesse für modische Trends äußern. Personen dieses Typs werden häufiger ihren Kleidungsstil verändern. Sie sind experimentierfreudig und probieren gerne Neues aus. Bei niedriger Offenheit ist ein eher konventioneller und vertrauter Kleidungsstil wahrscheinlich, der sich durch Einfachheit und Schnörkellosigkeit auszeichnet. Entweder werden dabei praktische und funktionale Anforderungen bei der Kleiderwahl den Ausschlag geben oder es besteht Gleichgültigkeit gegenüber Kleidung. Ebenso wie die Extraversion beschreibt das Ausmaß der Verträglichkeit einer Person ihr Verhalten gegenüber anderen Personen. Eine hohe Verträglichkeit drückt sich in Mitgefühl, Verständnis und prinzipiellen Wohlwollen aus. Die Belange und das Wohlergehen anderer werden als wichtig erachtet. Geprägt vom Wunsch nach Harmonie zeigen sich in der Zusammenarbeit vor allem kooperative Verhaltensweisen. Entsprechend ist bei Auseinandersetzungen und MeinungsDie individuelle Perspektive

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verschiedenheit eher von einem nachgiebigen Verhalten auszugehen. Eine niedrige Verträglichkeit ist dagegen durch Selbstbezogenheit geprägt. Eigene Bedürfnisse und Ziele stehen im Mittelpunkt. Den Absichten anderer Menschen wird eher skeptisch begegnet. In der Zusammenarbeit zeigt sich ein eher wettbewerbsorientiertes Verhalten. Verträgliche Personen werden sich bei der Auswahl der Kleidung stark an der jeweiligen sozialen Situation orientieren. Sie bemühen sich, Konventionen einzuhalten und andere durch ihren Kleidungsstil nicht zu provozieren. So verfolgen sie aktuelle Trends und werden darauf achten, sich nach der vorherrschenden Mode, aber gleichzeitig bescheiden zu kleiden. Im Gegensatz dazu werden wenig verträgliche Personen sich in ihrem Kleidungsstil auf die eigenen Bedürfnisse beziehen oder sich ganz bewusst für eine nonkonformistische Kleidung entscheiden, um eigene Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Die Gewissenhaftigkeit einer Person zeigt sich im Arbeitsverhalten in Form von Disziplin und Ehrgeiz. Aufgaben werden sorgfältig geplant, effizient umgesetzt und pünktlich erledigt. Eine hohe Ordnungsliebe ist ebenso kennzeichnend. Eine gering ausgeprägte Gewissenhaftigkeit hingegen zeigt sich in nachlässigem oder gleichgültigem Verhalten. Ungenaues Arbeiten und Unachtsamkeit sind hier ebenso typische Merkmale. Eine hohe Gewissenhaftigkeit wird sich in einer sehr gepflegten und korrekten Kleidung äußern. Personen dieses Typs achten auf Sauberkeit, sorgfältig abgestimmte Kleidungsstücke und eine optimale Passform. Sie gehen sehr behutsam mit ihren Kleidungsstücken um. Gleichzeitig achten sie auf eine klare Trennung von Freizeit- und Arbeitsbekleidung, um den jeweiligen Anforderungen der Situation auch hinsichtlich der Kleidung in optimaler Weise gerecht zu werden. Nachlässige und abgetragene Kleidung ist dementsprechend bei gering ausgeprägter Gewissenhaftigkeit zu erwarten. Eine konsequente Pflege ihrer Kleidung fällt den Trägern schwer. So werden Schäden und Makel nicht umgehend beseitigt oder fallen ihnen nicht sofort auf. In den Beschreibungen der »Big Five« und der möglichen zugehörigen Kleidungsstile wird deutlich, wie die »Big Five« dazu beitragen können, intuitive erste Eindrücke zur äußeren Erscheinung einer Per28

Alles hat seinen Sinn

son zu explizieren. Gleichwohl stellen die gewonnenen Erkenntnisse keine objektiven Wahrheiten dar. So kann beispielsweise ein extravaganter Kleidungsstil Hinweise sowohl auf Extraversion als auch auf Neurotizismus oder Verträglichkeit geben. Dementsprechend schnell zeigen sich die Grenzen der Erklärungskraft, wenn in einer konkreten Situation Persönlichkeitsmerkmale aus dem Kleidungsstil gewonnen werden sollen. Beispielweise könnte ein Klient zum Einzelcoaching in einem ungebügelten Anzug erscheinen. Die Krawatte ist nachlässig gebunden und der oberste Hemdknopf geöffnet. Auf den ersten Blick scheint eine geringe Gewissenhaftigkeit naheliegend. Kleidung kann aber auch, wie in diesem Beispiel, Ausdruck der aktuellen Gefühlslage durch krisenhafte Ereignisse sein. Die Kleidung ist dann nicht Ausdruck der zeitlichen und situativ stabilen Einstellungen, Gewohnheiten und Dispositionen des Klienten, sondern Ausdruck seiner Krise. Andere Forschungszweige der Psychologie beschäftigen sich mit der Frage, was Kleidung mit demjenigen macht, der sie trägt. »Enclosed cognition« (angezogene Wahrnehmung) beschreibt ein Phänomen, das beim Tragen von Kleidung auftreten kann und über den rein symbolischen Charakter hinausgeht. So konnte in einem Experiment nachgewiesen werden, dass das Tragen eines Laborkittels zu weniger Fehlern bei der Lösung von Aufgaben führt (Adam u. Galinsky, 2012). Auch von Thomas Mann ist überliefert, dass er beim Schreiben stets Anzug und Krawatte getragen haben soll (Hoffmann, 1992). Es scheint also nicht nur die Persönlichkeit für die Kleiderwahl ausschlaggebend zu sein, sondern eine soziale Praxis, die sich im Tragen von Kleidung ausdrückt und sich auf die Wahrnehmung und das Verhalten des Trägers auswirkt.

1.3  Die soziale Perspektive Wir fassen unter dem Terminus soziale Perspektive soziologische und kulturwissenschaftliche Zugänge zum Thema Kleidung. Die damit unterschlagene wissenschaftstheoretische Differenzierung zwischen Die soziale Perspektive

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Kulturwissenschaft und Soziologie ist für unsere Fragen nach berufsspezifischen Kleidungsdifferenzen sowie deren Bedeutung für die Beratungspraxis zu vernachlässigen. Kleidung als soziales Phänomen zu begreifen bedeutet, Kleidung als Ausdruck »geronnener« sozialer Praxis zu verstehen. Das heißt, in der Kleiderwahl spiegeln sich gesellschaftliche Verhältnisse, Lebens- und Arbeitsformen, Werte und Normen, Haltungen und Prägungen sowie sozialisierte Denk- und Handlungsweisen wider. Kleidung als soziales Phänomen ist Ausdruck so unterschiedlicher Dimensionen wie Status, Gruppen­zugehörigkeit, Bildungshorizont, Geschlecht und Alter und damit immer auch beruflicher Zusammenhänge. Gleichsam hinter dem Rücken der Akteure trägt der Beruf so maßgeblich zur vermeintlich individuell geprägten Praxis des Anziehens bei. So unterschlägt die Berufsberaterin mittleren Alters, die bewusst modisch enge Jeans trägt, in der Überzeugung, dass sie zu ihr passen, dass ihre jugendliche Kleidungswahl eine Antwort auf die Herausforderung ist, tagtäglich mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen. Als Distinktionsmittel trägt Kleidung zu sozialer Ordnung bei, indem sie Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu spezifischen Gruppen und Milieus markiert und zugleich individuelle identitätsstiftende Ausdrucksformen ermöglicht. Feine Kleidungsunterschiede im Sinne Bourdieus zeigen so, wer von wem verschieden ist und wer zu wem gehört (vgl. Bourdieu, 1987). Sie begünstigen oder erschweren das »Miteinander ins Gespräch kommen«. So ist es in einigen vermögenden Kreisen üblich, Kleidungsstücke in spezifischen Materialien zu tragen, etwa Pullover aus erlesenen Wollsorten wie Alpaka, Angora, Yak oder Kaschmir, um nur dem Insider kenntlich zu machen, dass man einer bestimmten sozialen Gruppe angehört. Dieser Distinktionslogik folgen freilich nicht nur vermögende Kreise. Im Allgemeinen kann das bewusste oder unbewusste Tragen bestimmter Modemarken auf spezifische Milieus und damit verbundene Haltungen verweisen. Marktforschungsinstitute beschreiben vor diesem Hintergrund detailliert unterschiedliche Zielgruppen. So trägt die »Moderne Klassikerin« einen »sportlich, eleganten bis gepflegten Stil 30

Alles hat seinen Sinn

mit Tragekomfort (Figurprobleme). Sie sucht Qualität zu angemessenen Preisen«2. Als zugehörige Marken werden beispielsweise Gerry Weber, Brax und Marc O’Polo genannt. Der »anspruchsvolle Klassiker« dagegen trägt beispielsweise Boss, Joop, Toni Gard und Gant. Er »bevorzugt einen klassisch – eleganten Stil, der meist anspruchsvoll ist. Qualität, Stil, gute Verarbeitung und Tragekomfort stehen vor modischer Aktualität« (ebd.). In den folgenden Kapiteln wollen wir den sozialen Sinn unterschiedlichster beruflicher Kleidung ergründen. Wir unterscheiden dazu in drei Fragen. Drei Fragen zum Geheimnis berufsspezifischen Anziehens

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Welche instrumentell schützende Funktion hat berufliche Kleidung? Welche professionelle Haltung drückt sich in beruflicher Kleidung aus? Auf welche soziale Herausforderung ist berufliche Kleidung eine Antwort?

Den Zusammenhang von Kleidung und Beruf verstehen wir dabei nicht kausal. Vielmehr gehen wir davon aus, dass ihre spezifische beruf­ liche Anforderungen bestimmte Kleidung wahrscheinlicher machen als andere. Im Sinne Max Webers stellen wir dabei idealtypische Überlegungen an (vgl. Weber, 1921/22/1980). Das heißt, wir verdichten und überhöhen eine Fülle diffuser und diskreter empirischer Einzelerscheinungen zu prägnanten Bildern, die so in Wirklichkeit kaum auffindbar sein werden. Erst diese künstliche analytische Verdichtung zu Idealtypen erlaubt es uns aber, die vielfältigen, uns in der Praxis begegnenden »Realtypen« besser zu verstehen. In diesem Sinne sind Idealtypen Brillen, mit denen wir das alltägliche soziale Treiben schärfer sehen. Im besten Fall gewinnen Sie als Leserin bzw. Leser damit eine weitere Perspektive auf Ihre berufliche Praxis im Allgemeinen und insbesondere auf die Praxis berufsbezogenen Anziehens. 2 http://www.hml-modemarketing.de/hml-zielgruppensystem/3b-moderne-­ klassikerin/ Die soziale Perspektive

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 Zum Sinn beruflicher Kleidung –  Vordergründiges und Hintergründiges

Allgemein kann berufsbezogene Kleidung in Dienst-, Berufs- und Schutzkleidung unterschieden werden. Dienstkleidung ist auf Anordnung des Arbeitgebers im dienstlichen Interesse während der Arbeitszeit zu tragen. Üblicherweise handelt es sich hier um Uniformen, bei denen Farbe, Material und Form vor­ gegeben sind. Dienstkleidung markiert die Rolle und Zugehörigkeit des Trägers und schaltet individuelle Ausdrucksmöglichkeiten weitestgehend aus. Wir denken hier beispielsweise an Polizisten, Mitarbeiter im Supermarkt oder an das Servicepersonal der Bahn. Im Unterschied dazu erfüllt Berufskleidung in der Regel einen spezifischen Zweck und orientiert sich vor allem an den Anforderungen der Arbeit. Beispiele dafür sind die Kochjacke in der Küche oder der Kasack in der Pflege, aber auch das Businesskostüm in der Bank sowie die Kombination aus Woll-Sakko und Jeans des Lehrers. Im Unterschied zur Dienstkleidung erlaubt die Berufskleidung größere Freiheitsgrade bei der individuellen Ausgestaltung. Berufskleidung ist insbesondere von der jeweiligen Branche, der Hierarchieebene sowie vom konkreten Anlass abhängig. Das Tragen von Schutzkleidung dient in bestimmten Berufen dem Gesundheitsschutz sowie dem Umgang mit unterschiedlichen Witterungsbedingungen oder Schmutz. Dazu zählen beispielsweise Warnkleidung, Schutzanzüge gegen Chemikalien, Hitze oder Kälte sowie Feuerwehrkleidung. Schutzkleidung unterliegt einer Prüfung und Zertifizierung hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, Ausführung und Gestaltung. Die Grenzen zwischen den drei Arten berufsbezogener Kleidung sind fließend. So kann die Kleidung im medizinischen Bereich Ele32

Zum Sinn beruflicher Kleidung

mente von Schutz-, Berufs- und Dienstkleidung enthalten. Sie dient dem Schutz des medizinischen Personals und der Patienten vor Keimen und Viren. Gleichzeitig ist sie den beruflichen Anforderungen entsprechend funktional und macht Kollegen, Mitarbeitern, Patienten sowie Angehörigen kenntlich, mit wem sie es zu tun haben. Schließlich kann in medizinischen Einrichtungen eine einheitliche Kleidung auch die Funktion einer Dienstkleidung erfüllen, um so ein einheitliches Erscheinungsbild der Mitarbeiter zu gewährleisten. Blicken wir jenseits dieser mehr oder weniger allgemeinen Zugänge zu berufsbezogener Kleidung etwas stärker hinter die Kulissen und versuchen dem Geheimnis berufsspezifischen Anziehens auf die Spur zu kommen. Auf einer ganz basalen Ebene können wir davon sprechen, dass Kleidung den nackten Körper bedeckt. Während der nackte Körper die ganze Person in ihrer Schönheit und Hässlichkeit zeigt, trägt Kleidung mit ihren Variationen dazu bei, nur spezifische Ausschnitte einer Person in den Fokus zu rücken. Wenn der nackte Körper die ganze Person vollends in ihrer Verletzlichkeit zeigt, schützt Kleidung die ganze Person, in dem sie den Blick weg von ihr lenkt. Das gilt letztlich selbst für Kleidung, die den Blick gerade auf Nacktheit zu lenken gedenkt, wie etwa das gewagte Dekolleté, der tiefe Ausschnitt des Abendkleides. Auch das tiefe Dekolleté ist von Nacktheit verschieden. Es entblößt nicht, sondern fördert mit seiner Verhüllung die Fantasie des Betrachters, die gerade keine reale Erfahrung ist. Wir können damit sagen, dass Kleidung der Regulierung der Grenze zwischen nackter ganzer Person und deren spezifischer Rolle dienlich ist. Dieser Gedankengang lässt sich am Beispiel des Saunabesuchs trefflich illustrieren. In der Regel sind Saunagänger in unseren Breitengeraden interessanterweise nackt, ohne nackt zu sein. Der soziale Kontext Sauna bestimmt hier, in welcher Rolle sich die anwesenden Personen begegnen. Nämlich gerade nicht als nackte ganze Personen, sondern in ihrer mehr oder weniger spezifischen Rolle als Sauna­ besucher. Symbolisch steht dafür das Saunahandtuch, das selbst nur als Unterlage genutzt dazu dient, den ganzen Körper zu schützen. Zum Sinn beruflicher Kleidung

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Das Handtuch markiert den Sinn der gemeinsam vollzogenen sozialen Praxis, nämlich das kollektive Saunieren zum Zweck der Gesundheitsförderung und nicht etwa das Ausleben triebhafter Neigungen. Ausgeschlossen ist damit freilich nicht, das Anwesende dieses »implizite Gebot« missachten und danach trachten, durch das symbo­ lische Handtuch hindurch die ganze nackte Person zu erblicken. Die Tatsache, dass dies heimlich geschieht, zeigt jedoch gerade, dass das »implizite Gebot der Gesundheitsförderung« wirkmächtig ist. Die Überlegungen zur sozialen Praxis des Saunierens führen uns – endlich – zur Frage nach dem Sinn beruflichen Anziehens.

2.1  Der weiße Kittel des Arztes Wie das Saunahandtuch dient der Arztkittel der Bewältigung der Grenze zwischen ganzer Person und spezifischer Rolle. Wie das? Überprüfen wir, inwiefern uns die drei Fragen nach der instrumentell schützenden Funktion des Arztkittels, nach der sich im Arztkittel ausdrückenden professionellen ärztlichen Haltung sowie nach möglichen sozialen Herausforderungen des Arztberufs zu erhellenden Antworten führen. Der Arztkittel ist in der Regel weiß, in bequemer Passform und aus robusten Materialien. Er lässt sich heiß waschen, sodass auch hart­ näckige Flecken wie Blut entfernt werden können, ohne dass die Farbe darunter leiden würde. Eine Ausnahme bildet der Operationssaal. Hier tragen Ärzte grüne Kleidung. Im Unterschied zu weißer Wäsche absorbieren die grünen OP-Stoffe das Licht, blenden und ermüden damit weniger und wirken dem Nachbildeffekt entgegen. Als Nachbild wird eine optische Wahrnehmung bezeichnet, die nach dem Betrachten eines Objekts auch bei geschlossenen Augen andauert. Weitere instrumentell schützende Funktionen des weißen Arzt­kittels erschließen sich uns nicht umstandslos. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich vor allem drei Funktionen. Als Kittel schützt er zunächst einmal die darunterliegende Kleidung des Arztes. Darüber hinaus er34

Zum Sinn beruflicher Kleidung

möglicht die Farbe Weiß Kollegen, Patienten und Angehörigen eine implizite Hygieneüberprüfung. Der weiße Kittel »registriert« jeden Fleck und zwingt den zur Hygiene verpflichteten Träger damit zum regelmäßigen Austausch. Schließlich verfügt der Kittel über eine funktionale Ausstattung. Er bietet dem Arzt die Möglichkeit, notwendige Instrumente und Utensilien wie Stethoskop, Blutdruckmessgerät, Medikamente oder Notizzettel und Kugelschreiber ständig griffbereit zu haben. Den hier aufgeführten instrumentell schützenden Funktionen des »weißen Kittels« mag man entgegnen, das insbesondere der langärmelige Arztkittel faktisch unhygienisch ist. Viele Kliniken gehen deshalb dazu über, den kurzärmligen Kittel verpflichtend einzuführen. Andere wie der ehemalige britische Gesundheitsminister Alan Johnson denken gar darüber nach, ihn ganz abzuschaffen. Diese Tatsache steht unseren Überlegungen nicht entgegen. Im Kapitel »Auflösungserscheinungen« beschreiben wir veränderte Kleiderordnungen und skizzieren die intendierten und nicht intendierten Folgen, die damit einhergehen. Kommen wir damit zum sich im weißen Arztkittel ausdrückenden professionellen Habitus. Habitus Der Habitusbegriff fasst dauerhafte Dispositionen inkorporierter Einstel­ lungs-, Wert- und Verhaltensmuster. Als Ausdruck von bewährten Krisen­ lösungen ist ein Habitus tief ins »Körpergedächtnis« eingeschrieben. Mit dem ihm eigenen (professionellen) Habitus deutet das Individuum/­ die Profession die soziale Welt und setzt ihn mehr oder weniger unbewusst ein, um auf die Anforderungen der sozialen Umwelt adäquat antworten zu können (Bourdieu, 1974; Oevermann, 2001).

Ähnlich wie eine Uniform symbolisiert der weiße Arztkittel die Zuge­ hörigkeit zur ärztlichen Profession. Anders jedoch als eine Uniform, die etwa durch Rangabzeichen vor allem einer strengen hierar­chischen Ordnung nach innen dient, markiert die ärztliche Berufskleidung nach außen, dass wir damit rechnen können, dass sein Träger der Logik professionalisierten ärztlichen Handelns folgt. Das heißt, er Der weiße Kittel des Arztes

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wird versuchen, mit dem Patienten dessen mehr oder weniger großen Leidensdruck – das können Halsschmerzen, Rückenbeschwerden, ein Armbruch oder auch eine psychische Krise sein – zu bewältigen, indem er wissenschaftlich gesichertes Wissen fallspezifisch einsetzt. Für den Arzt ist der Patient also keine Maschine, die es zu reparieren gilt, sondern ein Mensch, der in seiner Besonderheit zu würdigen und zu unterstützen ist. Zynisch dagegen scheint in diesem Zusammenhang die Annahme, der weiße Kittel diene in erster Linie der Statusdarstellung und Psychohygiene der Ärzteschaft. Unbestritten wird das qua Ausbildung erworbene Recht auf einen weißen Kittel den Träger immer auch mit Stolz erfüllen, so wie dies für jede berufs­spezifische Kleidung gilt. Dies aber als handlungsleitend zu unterstellen, verkennt die Wirksamkeit der hier herausgearbeiteten sozialen Dimensionen ärztlicher Kleidung und begünstigt die Annahme missgüns­ tiger berufs­politischer Motivationen. Die Auseinandersetzung mit dem professionellen ärztlichen Habitus führt uns zu der Frage, auf welche soziale Herausforderung der weiße Kittel eine Antwort ist. Will der Arzt den Patienten bei der Bewäl­tigung seines Leidens unterstützen, muss er mit ihm ein Arbeitsbündnis bilden. Im geglückten Fall erlaubt das Arbeitsbündnis dem Arzt und dem Patienten, den nackten Körper des Patienten zu thematisieren, ohne dabei aus der Rolle zu fallen, das heißt, ohne den Körper als Maschine zu behandeln, sondern als einzigartigen »psychosomatischen Leib« und zugleich ohne diffus-triebhafte Motivation, sondern in der spezifischen Rolle des Arztes. Der hier vielleicht sehr soziologisch formulierte Sachverhalt wird bildhaft nachvollziehbar, wenn wir uns die Praxis der Urologie vor Augen führen. Als ein Teilgebiet der Urologie behandelt der Urologe Krankheiten der Geschlechtsorgane des Mannes, also der Hoden, Nebenhoden, Samenleiter, Samenbläschen, des Penis sowie der Prostata. Will der Arzt den Patienten bei der Bewältigung eines urologisches Leidens unterstützen, muss er dessen Geschlechtsorgane sachbezogen in den Blick nehmen, also nicht etwa als Ausdruck der ganzen Person in diffuser, lustvoll sexueller Hinsicht. Auch wenn diese Trennung für den Uro36

Zum Sinn beruflicher Kleidung

logen alltägliche Praxis ist, der er sich kaum noch bewusst ist, bleibt sie eine Gratwanderung, die, ob bewusst oder unbewusst, jeden Tag aufs Neue bewältigt werden will. Als institutionalisierte Grenze unterstützt der weiße Arztkittel Ärzte und Patienten bei der Bewältigung der Gratwanderung zwischen ganzer Person und spezifischer Rolle. Er versichert dem Patienten, dass der Urologe ihn zum Zweck der Diagnose und Heilung untersucht und nicht aus intimem Interesse. Er stützt den Urologen, indem er sein Handeln als professionelles Handeln in der Rolle des Arztes symbolisiert. In diesem Sinne bietet der weiße Arztkittel dem Arzt und dem Patienten Orientierung. Ganz ähnlich wie das Saunahandtuch den Saunagängern verdeutlicht die Kleidung des Arztes allen Beteiligten, wo man sich befindet, worum es geht und was von wem erwartet werden darf. Wird die Exklusivität der Farbe Weiß aufgehoben und durch Farb- und Formvielfalt ersetzt, ist dies per se weder schlecht noch gut. In jedem Fall würde es von allen Beteiligten größere Interpretations- und Verständigungsleistungen verlangen. Auch ohne eine mögliche zukünftige Farb- und Formvielfalt ärztlicher Kleidung finden sich natürlich schon jetzt mehr oder weniger versteckte »Regeln« ärztlichen Anziehens, die über den bloßen weißen Kittel hinausgehen. Diese versteckten Regeln können wir durchaus als implizite Rangabzeichen zur hierarchischen Ordnung der Ärzteschaft begreifen. So tragen manche Ärzte Anzug und Krawatte unter dem Kittel, während andere auf Jeans und T-Shirt setzen. Wenn der Kittel dazu beiträgt, die Grenze zwischen Rolle und ganzer Person angemessen zu bewältigen, dann geben uns der Anzug oder das T-Shirt Hinweise darauf, wie der Träger seine ärztliche Rolle konkret ausfüllt. Während der Anzug eine geschäftlich-formale Orientierung nahelegt, deuten Jeans und T-Shirt auf eine diffuse-informale Ausrichtung ärztlichen Handelns hin. Diese Interpretationsmöglichkeit korrespondiert mit unserer praktischen Erfahrung, dass das Tragen eines Anzugs unter dem Kittel vom »Famulus« und PJ-Studenten über den Assistenz­arzt, Facharzt, Oberarzt, leitenden Oberarzt und Chefarzt bis hin zum ärztlichen Direktor wahrscheinlicher wird. Jenseits der sich Der weiße Kittel des Arztes

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in der »Unterkleidung« ausdrückenden individuellen Orientierung eines Arztes zeigt sich in dem, was Frau und Mann unter dem Kittel tragen, womit es der Träger des Kittels im Arbeitsalltag zu tun hat. Vor diesem Hintergrund kann der Kittel des ärztlichen Direktors als Hülle verstanden werden, die das Kerngeschäft des Direktors – nämlich das Klinikmanagement – verdeckt. Im Unterschied dazu liegt der Großteil der täglichen Arbeit des Facharztes in der Arbeit mit den Patienten. Insofern bestimmt hier der jeweilige Arbeitsgegenstand die Wahl der »Unterkleidung« des weißen Kittels.

2.2  Die Zwischenkleidung des Lehrers Wenn wir nach dem Geheimnis der Kleidung des Lehrers fragen, unterstellen wir, dass auch Lehrer berufsspezifische Kleidung tragen und somit unter anderen Kleidungsträgern erkennbar sind. Die Frage ist also, was ist der weiße Kittel des Lehrers? Im idealtypischen Sinne lautet die Antwortet: blaue Jeans, Woll-Sakko, einfarbiges oder dezent gemustertes Button-Down-Hemd auf weißem T-Shirt, bequeme Schuhe sowie zuweilen ein unauffälliger Ohrstecker oder ein nicht mehr genutztes, aber noch erkennbares Ohrloch. Vergegenwärtigen wir uns zur Überprüfung dieser Hypothese zunächst, worin besondere Herausforderungen des Lehrerberufs liegen. Im Unterschied zu anderen Berufen ist der Lehrer über weite Strecken des Tages in Gespräche mit Schülern verwickelt. Schüler sind Heranwachsende, nämlich Kinder, Jugendliche und Adoleszente. In diesem Sinne ist die alltägliche Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern vom Verhältnis zwischen Erwachsenen und Nichterwachsenen geprägt. Lehrer sind aufgefordert, Schüler mit der sanften Gewalt der Kultivierung zu disziplinieren und zu Erwachsenen zu erziehen. Eine damit einhergehende Schwierigkeit besteht darin, im Zuge der Arbeit erwachsen zu bleiben und nicht dem »Sog des Infantilen« nachzu­gehen (Jahn, 2016). Wenn wir bedenken, dass an einer größeren Schule häufig über tausend Schüler und Schülerinnen von wenig mehr als hun38

Zum Sinn beruflicher Kleidung

dert Lehrern unterrichtet werden, wird die hier in Rede stehende infantile Kraft schnell fassbar. In dieser Gemengelage gilt es für Lehrer, die Orientierung an der Lehrerrolle aufrechtzuerhalten und nicht etwa als Vater, Mutter, Kumpan oder Liebhaber zu agieren. Auch dann, wenn Schüler ihre ganze Person treffen und wenn sie Ziel libidinöser oder aggressiver Impulse werden. In der Rolle des Lehrers geht es für sie nicht ums Ganze, sondern um pädagogisch angemessenes Handeln gegenüber jenen, für die das Ganze auf dem Spiel steht. Einerseits also befinden sich Lehrer strukturbedingt mit Schülerinnen und Schülern nicht auf Augenhöhe. Diese sind im Sinne der Generationenhierarchie machtlose, »unkul­ tivierte« Heranwachsende, jene Macht habende, »kultivierte« Erwachsene. Andererseits müssen Lehrer ihr Handeln entgegen dieser generationalen sozialen Tatsache an Augenhöhe ausrichten. Es bedarf keiner Fantasie, dass Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern aufgrund ihrer strukturellen Besonderheit nicht etwa einfacher, sondern mindestens ebenso komplex und fordernd sind wie diejenigen zwischen erwachsenen Rollenträgern in anderen Berufsfeldern. Während erwachsene Rollenträger von einer hinreichenden Fähigkeit zur Differenzierung von beruflichen und lebensweltlichen Kontexten ihres jeweiligen Gegenübers ausgehen dürfen und müssen, können Lehrer in Bezug auf Schüler dies nicht voraussetzen. In diesem Zusammenhang macht der Begriff vom Sog des Infantilen auch darauf aufmerksam, dass Schule es wahrscheinlicher macht, als Erwachsene mit der eigenen, überwunden geglaubten Infantilität konfrontiert zu werden. Die Schule als Institution fördert strukturell die innere Wiederbelebung kindlicher Autoritätsbeziehungen, der darin erlebten Autoritäten sowie des je eigenen Umgangs mit diesen. Eingedenk dieser institutionsbezogenen Überlegungen sind Lehrer aufgefordert, Schülern Wissen zu vermitteln und sie zugleich zu erziehen. Überlegen wir nun, inwiefern die Kleidung des Lehrers zur Bewältigung der Herausforderungen seines Berufs dienlich ist. Wie das Saunahandtuch und der Arztkittel dient auch die Kleiderwahl des Lehrers der Bewältigung der Grenze zwischen diffusen Die Zwischenkleidung des Lehrers

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Ansprüchen und Anforderungen der spezifischen Rolle. Zur Erläuterung dieser These dienen uns erneut die Fragen nach der instrumentell schützenden Funktion der Lehrerkleidung, nach der sich in der Lehrerkleidung ausdrückenden professionellen pädagogischen Haltung sowie nach den sozialen Herausforderungen des Lehrerberufs. Wenn auch nicht unwesentlich, ist die Erklärungskraft der Frage nach der instrumentell schützenden Funktion der Lehrerkleidung gering. Wenn wir davon ausgehen, dass die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern in Abhängigkeit von ihrem Alter mit der Auseinandersetzung mit noch unausgereifter Körperkontrolle und Feinmotorik einhergeht, ist zu erwarten, dass Lehrerkleidung aus eher robustem, wider­standsfähigem Stoff besteht, auf dem Flecken nicht sofort sichtbar sind und der bequem ist. Außerdem wird die gewählte Kleidung den schnellen Wechsel von Innenarbeit wie etwa Unterricht und Außenarbeit wie etwa Pausenaufsicht begünstigen. Fragen wir nach dem sich in der Kleiderwahl ausdrückenden Habi­ tus des Lehrers, fallen uns sofort beispielhafte Gestalten aus der eigenen Schulzeit oder von Lehrerinnen und Lehrern unserer Kinder ein. Die unterschiedlichen Erfahrungen vereint, dass Lehrerinnen und Lehrer häufig ein wenig »aus der Welt« gefallen wirken (vgl. Adorno, 1965). Weder Erwachsener noch Kind bewegen sie sich qua Beruf gleichsam zwischen den Welten. Klischeehaft finden sich hier der alters­ unangemessene jugendliche Kleidungsstil des Sozialkundelehrers, dort das Ballerina-Kostüm der Deutschlehrerin oder der Business­anzug der Schulleiterin. Zwischen den diffusen kindlichen Ansprüchen der Schüler und den spezifischen Anforderungen der Fac­hdisziplin (Biologie, Mathematik, Deutsch usw.), Pädagogik und Psychologie an ihren Beruf aufgerieben, befinden sich Lehrerinnen und Lehrer »überall und nirgends« (Wernet, 2014). Diese lebensweltliche und professionsbezogene Nichtverortung und damit verbundene fehlende Zugehörigkeit finden auch in der Kleiderwahl ihren Niederschlag. Im Sinne einer beruflich bedingten Missbildung, einer »déformation professionelle«, spiegelt sich so der tägliche Umgang mit dem »Sog des Infantilen« in der Ausdrucksgestalt der Lehrerinnen und Lehrer wider. Um es deut40

Zum Sinn beruflicher Kleidung

lich zu sagen, es sind vor allem die infantile Kraft im schulischen Kontext sowie professionelle Uneindeutigkeit, die hier wirkmächtig sind, und nicht in erster Linie individualpsychologische Ursachen. Das heißt, jeder, der sich hinreichend lange im schulischen Kontext bewegt, wird früher oder später mehr oder weniger »aus der Welt« fallen. Damit sind die sozialen Herausforderungen des Lehrerberufs abgesteckt. In einem regressionsfördernden Milieu zwischen der kindlichen Welt und der Welt Erwachsener handelnd, gilt es für Lehrerinnen und Lehrer, ohne stabile professionelle Verortung Schülerinnen und Schülern Wissen zu vermitteln und sie zugleich zu erziehen. Die erfolg­reiche Bewältigung dieser Herausforderungen kann durch entsprechende Kleidung erschwert oder begünstigt werden. Während das jungen­hafte Basecap und die Baggy-Stile-Jeans des Biologie­ lehrers dazu neigen, die Welt der Erwachsenen zu negieren, unterschlägt das Businesskostüm der Physiklehrerin die kindliche Seite schulischer Wirklichkeit. Eine angemessene berufsspezifische Kleiderwahl im schulischen Kontext scheint dagegen die Zwischen­ kleidung. Sie besteht, wie eingangs am Beispiel eines Lehrers skizziert und hier in Bezug auf eine Lehrerin erweitert, aus bequemen einfarbigen Chino oder Jeans in dunkler Farbe, Bluse mit Strickjacke oder Pullover und Stiefeln. In der Ausdrucksgestalt der unspezifisch scheinenden Zwischenkleidung fallen instrumentelle Funktionalität, Lehrerhabitus sowie die sozialen Herausforderungen des Lehrerberufs zusammen. Die Zwischenkleidung ermöglicht es Lehrerinnen und Lehrern, sich an den »Sog des Infantilen« anzuschmiegen, ohne sich ihm zu ergeben. Sie ist nicht Ausdruck der Verweigerung von Erwachsensein, sondern vielmehr Instrument der behutsamen Begleitung von Schülerinnen und Schülern auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Dazu zählt auch, zu lernen, sich in beruflichen Kontexten angemessen zu kleiden. Abschließend sei in diesem Zusammenhang noch die Kleidung des Schulleiters oder der Schulleiterin erwähnt. Nicht selten tragen diese einen Anzug beziehungsweise Hosenanzug. Fragen wir, worauf sie damit antworten, liegt die Antwort nicht in erster Linie in der DurchDie Zwischenkleidung des Lehrers

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setzung der Erwachsenenrolle gegenüber Schülerinnen und Schülern. Vielmehr sind Schulleiter und Schulleiterinnen aufgefordert, manageriale Anforderungen zu erfüllen und Interessen der Schule als Organisation gegenüber dem Kollegium zu vertreten. Das Tragen eines Anzugs kann dabei durchaus behilflich sein.

2.3  Der normierte Dresscode des Bankers In kaum einer anderen Branche spielen Kleiderregeln für Mitarbeiter (neudeutsch: Dresscode) eine so wichtige Rolle wie in Kredit­ instituten. Im Jahr 2010 sorgte die schweizerische UBS Group AG mit einem Kleidungsleitfaden für öffentliches Aufsehen. Er beschreibt auf fast 50 Seiten detailliert, wie sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der zugehörigen Institute kleiden sollten.3 Die UBS zählt mit mehr als 30 Großbanken zu den größten Vermögensverwaltern weltweit und ist damit ein sogenanntes »systemisch bedeutsames Finanz­ institut«. Wenig überraschend wird im »Dress Guide« das äußere Erscheinungsbild der Angestellten eng mit dem geschäftlichen Erfolg und dem Ansehen der Organisation verknüpft. Im Mittelpunkt stehen dabei die Beziehungen zu Kunden, aber auch zu Aktionären und zur Öffentlichkeit. Durch die Kleidung sollen die Werte und die Kultur des Unternehmens repräsentiert werden. Insofern steht hier vordergründig der kommunikative Charakter der Kleidung im Mittelpunkt, wie wir weiter vorne unter der individuellen Perspektive erläutert haben. Grundsätzlich dienen Dresscodes dazu, das Handeln aufeinander bezogener Personen zu strukturieren. Die Kleidung gibt den Beteiligten Orientierung darüber, mit wem oder mit was sie es zu tun haben und was sie erwarten können. Sie reduziert somit soziale Unsicherheit oder Unbestimmtheit und fördert Vorhersag­barkeit und Kontrollierbarkeit. 3 https://static1.squarespace.com/static/55e0c62fe4b096b6619ff3d9/t/571bde19 07eaa0d2558be4f6/1461444174809/Ubs+Dress+Code+English+2010.pdf 42

Zum Sinn beruflicher Kleidung

Jeder, der schon einmal mit Bankangestellten zu tun hatte, weiß, dass ihre Kleidung über die verschiedenen Institute hinweg nur geringfügig variiert. So besteht nicht nur bei der UBS der Dresscode für Mitarbeiter im Kundenkontakt aus einem zweiteiligen Anzug, Hemd und Krawatte. Mitarbeiterinnen tragen hier üblicherweise einen Hosenanzug oder ein Kostüm. Dabei sollen sie auf tiefe Ausschnitte oder zu kurze Röcke (das Knie ist in der Regel die Grenze) verzichten. Ebenso sind bei Männern und Frauen geschlossene Schuhe die Regel. Auch das Tragen von Schmuck wird stark eingeschränkt. Piercings, Ohrringe, Armreifen und Ketten sind unerwünscht. Allenfalls die Auswahl der Brille (nicht der Sonnenbrille) oder Uhr sowie eine dezente Kette oder ein Halstuch bei Frauen eröffnen dem Träger oder der Trägerin individuelle Gestaltungsspielräume. In der Mode- und Berufswelt wird dieser Kleidungsstil als »Business Attire« (Geschäfts­ kleidung) oder auch als »Day Informal«, »Business Formal« oder »Tenue de ville« bezeichnet. In beruflichen Zusammenhängen ist es üblich, anlassbezogen unterschiedliche Kleidungsstile zu unterscheiden. »Casual« ist die legerste Variante und nähert sich die Freizeit­ kleidung an. Es handelt sich dabei in der Regel um gepflegte Jeans oder Chinos, kombiniert mit einem Hemd beziehungsweise bei Frauen mit einer Bluse oder beispielsweise einem Twinset. Danach folgen »Smart Casual« und »Business Casual«, bei denen in der Regel ein Jackett getragen wird. Beim »Business Attire« geben gedeckte Farben (schwarz, anthrazit und dunkelblau) den Ton an. Eine Krawatte ist für Männer obligatorisch. Sie ist in der Regel aus Seide und in einer anderen Farbe als das Hemd, aber nicht zu auffällig. Nicht umstandslos zu beantworten ist die Frage, welche originäre Schutzfunktion ein (Hosen-)Anzug oder Kostüm erfüllt. Im Gegensatz zum weißen Kittel des Arztstandes oder der Jeans des Lehrers sind keine äußeren Umwelteinflüsse erkennbar, angesichts derer das Tragen bankentypischer Kleider als Schutz zu begreifen wäre. Im Gegenteil: Die gedankliche Auseinandersetzung führt eher zu der Frage, wogegen Anzug oder Kostüm gerade nicht schützen. So ist beispielsweise an heißen Sommertagen das Tragen eines Dreiteilers, einer StrumpfDer normierte Dresscode des Bankers

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hose oder geschlossener Schuhe ausgesprochen hinderlich und unter Umständen eine Zumutung. Insofern ist eine kleidungsbezogene Anpassung an Wetter- oder Witterungsbedingungen nur eingeschränkt möglich. Weiterhin sind die verwendeten Stoffe eher empfindlich. Selbst gestärkte Hemden und Blusen sowie hochwertige Baumwollstoffe knittern mit der Zeit und empfindliche Seiden­krawatten stoßen leicht ab. Flecken und Gerüche lassen sich nur schwer oder teilweise gar nicht entfernen. Insofern scheinen Anzug oder Kostüm – wenn überhaupt – nur in sehr begrenztem Umfang eine instrumentell schützende Funktion zu erfüllen. Der Grund für die Bereitschaft, die mit dem »Business Attire« offensichtlich verbundenen Anstrengungen auf sich zu nehmen, muss ein Schutz vor etwas anderem sein. Unsere Hypothese ist, dass die Berufskleidung der Bank­angestellten einen symbolischen Schutzcharakter hat. Sie schützt sowohl den Träger als auch die Kundschaft und Aktionäre vor der Annahme, der Betreffende könnte es mit etwas anderem als »Zahlen« zu tun haben. Es sind im symbolischen Sinn gerade die »lebensweltlichen Gefahren« wie dreckige Straßen, kleckernde Kinder, verschmutzte Züge und so fort, vor denen die spezifische Berufs­kleidung der Bank­angestellten schützt. Nicht umsonst ist unter Insidern die Rede von der »Frankfurter Uniform«, mit der die Primäraufgabe von Banken, nämlich der Erhalt und die Vermehrung des anvertrauten Geldes, in den Vordergrund gerückt wird. Der Anzug, das Kostüm markieren, dass die elementaren Fragen, Tragödien und Leidenschaften des Lebens keinen Einfluss auf das Handeln und die Entscheidungen der Träger haben sollen. Andernfalls scheinen Regeln und professionelle Standards aufgeweicht und Reaktionen nicht mehr berechenbar. Das Bedürfnis nach Zuverlässigkeit, Transparenz und Konsequenz findet so Nieder­ schlag in der berufsspezifischen Kleidung von Bankern. Sie folgt nicht wie die Mode aktuellen Trends und individuellen Bedürfnissen, sondern vermittelt Stabilität und Verlässlichkeit. Mit Blick auf den berufsbezogenen Habitus erweist es sich als Herausforderung, den Anzug des Bankers oder das Kostüm der Bankerin von der Kleidung anderer Berufsgruppen zu unterscheiden. Hegel 44

Zum Sinn beruflicher Kleidung

beschrieb Anzüge als »gestreckte Säcke mit steifen Falten« (Hegel, 1820–29/1986). Uns geht es hier nicht um die Diskreditierung von Anzügen, sondern um Sinnerschließung. Anzug oder Kostüm sind auch bei Unternehmensberatern, Geschäftsleuten, Rechtsanwälten oder Politikern anzutreffen. In diesen Berufen geht es letztlich um die Vertretung wirtschaftlicher, juristischer oder sozialer Interessen, die ein hohes Maß an Fachkompetenz und persönlicher Integrität voraussetzen. Dabei stehen die Auseinandersetzung mit der Sache sowie objektivierbare Entscheidungen im Mittelpunkt. Sich in der beruf­ lichen Rolle von persönlichen Gefühlen oder Bedürfnissen leiten zu lassen, scheint angesichts dessen unprofessionell. Anzug oder Kostüm schaffen Distanz und vermitteln Seriosität und Vertrauen, indem die ganze Person des Trägers in den Hintergrund rückt. Erst auf den zweiten Blick lassen sich auch in Abhängigkeit vom beruflichen Feld bei den Trägern und Trägerinnen von Anzügen und Kostümen Unterschiede erkennen. So ist die Bekleidung bei Bankern auf höheren Hierarchieebenen häufig von sehr hoher Qualität und optimaler Passform. Beides hat seinen Preis. So bestätigen auch die Gehaltsstatistiken, dass Bankangestellte zu den Spitzenverdienern gehören. Im Zusammenhang mit der Diskussion um zu hohe Gehälter und Boni wird von deren Beziehern immer wieder darauf verwiesen, dass sich darin der hohe Druck und die hohe Arbeitsbelastung ausdrücken. Im Unterschied zum Staatsbediensteten, der bestenfalls im gepflegten »Anzug von der Stange« seine hoheitlichen zugewiesenen Aufgaben im bürokratisch regulierten System verrichtet, sei der Banker nicht nur ausführendes Organ. Er verhandele und entscheide vielmehr eigenverantwortlich über unter Umständen sehr große Geldsummen. Der tägliche Umgang mit hohen Geldsummen prägt den Habitus. Die strengen Kleidervorschriften und die begrenzten Variationsmöglichkeiten geben dem Träger nur an wenigen Stellen die Möglichkeit, dem eigenen beruflichen Erfolg, der sich in der Finanzbranche natürlich in erster Linie in Geld bemisst, Ausdruck zu verleihen. Die Uhr wird unter diesen Voraussetzungen zum einzigen Schmuckstück Der normierte Dresscode des Bankers

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des Mannes. Preise im sechsstelligen Bereich sind hier keine Seltenheit. Sie werden im Zweifel nur von Kennerinnen und Kennern, von Insidern wahrgenommen. Insofern löst die berufsspezifische Kleidung des Bankers das Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, einerseits den beruflichen Erfolg und die Lust daran sichtbar werden zu lassen und andererseits der Notwendigkeit, in der Rolle nüchtern und sachlich zu bleiben, zur beruflichen Rolle hin auf. Die Ausführungen zum Habitus des Bankers zeigen, dass seine Rolle klar umrissen ist. Er ist aufgefordert, das Geld seiner Kunden und Kundinnen zu verwalten, zu schützen und zu mehren. Er soll dazu diskret und sachorientiert entscheiden. Das Kostüm oder der Anzug sind in diesem Zusammenhang Hüllen, die die Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung einschränken und die Trägerin/den Träger letztlich austauschbar machen. Austauschbar, weil Einzelfallentscheidungen im Bankgeschäft nicht die Regel sind, sondern allgemeingültige personenunabhängige Kriterien die ausschlaggebenden Entscheidungskriterien bilden. So sind etwa die Kriterien im Rahmen von Kreditvergaben nicht personenspezifisch, sondern universell. Dies gewährleistet Kontinuität, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Der eingangs beschriebene Dresscode der UBS-Gruppe betont im Grunde den Uniformcharakter, den die Kleidung in der Finanzbranche hat. Selbst die Damenunterwäsche (»lingerie and stockings«) ist davon nicht ausgenommen. Damit wird Privates zugunsten der beruflichen Rolle weiter zurückgedrängt. Zur Durchsetzung des Unternehmenszwecks wird die Wahl der Unterwäsche zur Sache der Organisation. Im Film »Der Pate« heißt es in einer Szene mit Al Pacino in der Rolle des Michael Corleone: »It’s not personal, Sonny. It’s strictly busi�ness.« Mit Blick auf einen Mordauftrag soll Sonny verstehen, dass es nicht um persönliche Beziehungen, sondern geschäftliche Interessen geht. Wobei der Beauftragte auch hier selbst entscheiden muss, ob er den Auftrag ausführt oder nicht. Es spricht einiges dafür, dass autonome Entscheidung beruflicher Rollenträger aufgrund techno­ logischer Entwicklungen insbesondere im Banksystem rückläufig sind. Während eine autonome Entscheidung zur Wahl zwischen A und B 46

Zum Sinn beruflicher Kleidung

und gegebenenfalls weiteren Alternativen zwingt sowie die daraus resultierende Verantwortungsübernahme bedingt, entscheiden Algo­ rithmen der Finanzsoftware nicht, sondern setzen die vorangegangenen Entscheidungen von Programmierern beziehungsweise deren Auftraggebern lediglich um. Der Umgang mit der Finanzkrise im Jahr 2008 liefert dafür ein rhetorisch eindrückliches Beispiel. So bezeichnete Hans-Werner Sinn, damaliger Chef des Münchner IFO-Instituts, die dramatische Entwicklung an den Kapitalmärkten aufgrund sogenannter »fauler Kredite« als einen »anonymen Systemfehler«. Das Zurücktreten konkreter entscheidungsfähiger und verantwortlicher Personen zugunsten eines anonymen Systems wird durch die »Frankfurter Uniform« der Bankangestellten begünstigt. Zusammenfassend zeigt sich, das eine Antwort auf das Geheimnis berufsspezifischen Anziehens in der Bewältigung der Spannung von diffusen Ansprüchen der ganzen Person auf der einen Seite und spezifischen Anforderungen der beruflichen Rolle auf der anderen Seite liegt. Die konkrete Ausgestaltung von Kleidung im beruflichen Kontext ist somit immer von individuellen Ausdrucksbedürfnissen und beruflichen Anforderungen geprägt. In diesem Sinne drückt berufliche Kleidung immer mehr aus, als von den Trägern und Trägerinnen bewusst intendiert ist. Wir haben uns mit Blick auf den Arzt-, Lehrer- und Bankerberuf vor allem für die Frage interessiert, inwiefern der Beruf sich in der Kleidung der Rollenträger ausdrückt: Berufe machen Kleider. Blicken wir damit auf die berufsspezifische Kleidung von Beraterinnen und Beratern.

Der normierte Dresscode des Bankers

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 Zum Sinn der Kleidung des Beraters – Selbstreflexion

Klienten von Beratung zu beruflichen Fragen lassen sich in drei Ebenen zusammenfassen: berufliche Rollenträger (Einzelberatung), Gruppen und Teams beruflicher Rollenträger (Gruppen- und Teamberatung) sowie Organisationen (Organisations- und Unternehmensberatung). Anlässe für Beratung im beruflichen Kontext sind unter anderem Reflexionsbedarf bezüglich professioneller Beziehungsarbeit (klienten- und fallbezogen) sowie Führung-, Kooperations- und Strukturkrisen (team- und organisationsbezogen). Berater sprechen in diesem Zusammenhang häufig davon, dass berufliche Rollenträger entweder Sach- und Fachfragen nutzen, um von psychosozialen Fragen der Zusammenarbeit abzulenken, oder die Diskussion um psychosoziale Fragen der Zusammenarbeit zum Selbstzweck machen, sich also um sich selbst drehen und die Sache, den Zweck der Organisation aus dem Blick verlieren. Ersteres ist nicht selten in der Wirtschaftswelt zu beobachten, Letzteres im Feld der helfenden Berufe. Eine Aufgabe von Beratung im organisationalen Kontext ist nicht zuletzt die jeweils andere, nicht thematisierte Seite in den Blick zu nehmen. Wo sachliche und fachliche Fragen der Organisation verschwinden, fragt sie nach der Sache. Wo Sachfragen Sperrfeuer gleichen, bringt sie in angemessener Art und Weise die virulente Psycho- und Soziodynamik zum Sprechen. Die Kleidung des Beraters begünstigt die Thematisierung psychosozialer oder sachbezogener Fragen. Zur kleidungsbezogenen Illustration dieses Zusammenhangs sei an den kaufmännischen Leiter einer sozialen Einrichtung gedacht, der zur Beratung in einem formalen ausdruckslosen Anzug mit Krawatte erscheint, sowie an den Sozialarbeiter, der in der Teamsuper­ 48

Zum Sinn der Kleidung des Beraters

vision ein T-Shirt mit der Aufschrift »Keine Macht für Niemand« und eine lässig weite Jeans trägt. Während die Kleiderwahl des Ersteren die »rational-hierarchische« Seite der Organisation hervorhebt, stellt die gewählte Kleidung des Letzteren Macht und damit auch jegliche Entscheidungsstrukturen infrage. Mit dieser Beobachtung ist freilich noch nicht gesagt, ob in der Beratung mit den Trägern der Kleidung eher sachbezogene Fragen oder psychosoziale Dynamiken zu besprechen sind. Sie gibt dem Berater aber Hinweise darauf, mit welchen impliziten mehr oder weniger latenten Erwartungen und Dynamiken er auf Seiten der Klienten rechnen kann. Angesichts dessen wird er bewusst oder unbewusst seine eigene Kleiderwahl treffen. So kann er sich an den Anzug des kaufmännischen Leiters oder das T-Shirt des Sozialarbeiters anschmiegen, den jeweils entgegensetzen Stil wählen oder sich an einem »Dazwischen« versuchen. Wenden wir uns damit der Frage nach der berufsspezifischen Kleidung von Beratern und Beraterinnen zu. Die Unterscheidung von Klienten in berufliche Rollenträger, Gruppen und Teams beruflicher Rollenträger sowie Organisationen lenkt den Blick auf die differenzierten Fokusse von Beratung in der Arbeitswelt. Das für jede arbeitsweltliche Beratung relevante Spannungsfeld von Person, Klientel, Profession, Position, Gruppe und Organisation wird in den spezifischen Beratungsangeboten von unterschiedlicher Seite thematisiert. Die Beratung von einzelnen Rollenträgern stellt Fragen zu Position, Klientel, Profession und Person in den Vordergrund, während Gruppen- sowie Organisationsanliegen den Hintergrund bilden. Die Beratung von Gruppen und Teams beruflicher Rollenträger fokussiert auf die Gruppe, die Profession und die Klientel, während persönliche Anliegen und die Organisation die Begleitmusik spielen. Die Beratung von Organisationen schließlich setzt sich mit Fragen der Profession, Gruppe und Organisation auseinander, wobei die Person an Bedeutung verliert (Jahn u. Nolten, 2017a). Unternehmens­beratung unterscheidet sich von der Organisationberatung insbesondere durch ihren spezifischen Fokus auf betriebswirtschaftliche Fragestellungen. Selbstredend sind ohne Personen keine Organisationen zu beraten und ohne Zum Sinn der Kleidung des Beraters

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den Organisationskontext keine Einzelberatungen zu leisten. Uns geht es hier aber nicht um ein Entweder-oder, sondern um die unterschiedliche Gewichtung von Dimensionen in einem jeweiligen Beratungsprozess. Ob eine Führungskraft Beratung für sich, für ein Team oder für die Organisation anfragt, macht einen bedeutsamen Unterschied. Die Frage, wem der Berater verpflichtet ist, hilft uns, dem hier in Rede stehenden Unterschied auf die Spur zu kommen. In der Einzelberatung ist der Berater zuallererst den Anliegen des einzelnen beruflichen Rollenträgers verpflichtet. In der Beratung von Gruppen und Teams von beruflichen Rollenträgern unterstützt er insbesondere die jeweilige Gruppe beziehungsweise das Team bei der Bewältigung eines Handlungsproblems. Der Organisationsberater schließlich dient in erster Linie der Organisation, nicht also einzelnen Rollenträgern oder Gruppen und Teams. Dabei nimmt für alle Beteiligten der Zwang zu Kompromissen von der Einzel- über die Gruppenund Teamberatung bis hin zur Organisationsberatung strukturell zu. Dies wird schnell deutlich, wenn wir uns den einfachen, aber nicht trivialen Umstand veranschaulichen, dass in der Einzelberatung die Interessen eines Rollenträgers im Vordergrund stehen, in der Gruppen- und Teamberatung die Interessen mehrerer Rollenträger beachtet werden wollen und in der Organisationsberatung schließlich viele Interessen virulent sind. Einher mit der Frage, wer ein Beratungsanliegen hat (Person, Gruppe oder Organisation), geht die Frage, welcher Art das Anliegen ist. Hier kommen unter anderem eine Krise in der professionellen Beziehungsarbeit, die prophylaktische Reflexion professioneller Beziehungsarbeit, die Entwicklung oder Weiterentwicklung von Teamarbeit oder anderer kooperativer Praxisformen sowie die Begleitung von Veränderungen organisationaler Strukturen (neudeutsch: Change Management) infrage. In diesem »Dickicht der Organisation« (Heltzel u. Weigand, 2012) bietet der Blick auf berufsspezifische Kleidung des Beraters Orientierung. Zur Verdeutlichung dieses Umstands haben wir drei prototypische Vertreter von Beratung in der Arbeitswelt ausgewählt. Wir blicken im Folgenden auf die berufsspezifische Kleidung der Supervisoren, der 50

Zum Sinn der Kleidung des Beraters

Gruppendynamiker und der Unternehmensberater und fragen, auf welche spezifischen Herausforderungen in der Beratung ihre Kleidung eine Antwort ist. Dabei bedienen wir uns des im vorangegangenen Kapitel entwickelten Gedankenmodells mit der Unterscheidung in Schutzfunktion, Habitus und soziale Herausforderungen. Wir beginnen im gewohnt idealtypischen Sinne mit der Betrachtung der Supervisorin, auf die der Gruppendynamiker folgt, und schließen mit Überlegungen zur Ausdrucksgestalt der Unternehmensberaterin. Wir konstruieren dabei zum Zweck des Erkenntnisgewinns verdichtete Bilder berufsspezifischer Kleidung von Beratern und Beraterinnen, die in der Realität nicht zu finden sein werden. Sinn unserer gedanklichen Anstrengungen ist es nicht, empirische Wirklichkeit abzubilden, sondern Idealtypen zu entwickeln, die uns dabei behilflich sind, alltägliche soziale Phänomene und Herausforderungen besser zu verstehen. Zugleich bieten die entwickelten Idealtypen Beraterinnen und Beratern die Möglichkeit, sich mit der Passung von Beratungshaltung, Beratungsanliegen, Beratungsfeld und Kleidung auseinanderzusetzen.

3.1  Die Supervisorin Supervision unterstützt Ratsuchende bei der Bewältigung von Krisen im Rahmen professioneller Beziehungsarbeit sowie deren prophylaktischer Reflexion und Weiterentwicklung. Wir denken hier etwa an die Beziehungen zwischen Therapeut und Patient, Sozialarbeiter und Klient oder Lehrer und Schüler. Dies verlangt von der Super­visorin, wissenschaftlich anerkanntes Spezialwissen fallspezifisch und prozessbezogen zu nutzen und zu vermitteln. Supervisorin und Supervisand gehen dazu ein Arbeitsbündnis ein, in dem neben möglichem Wissenstransfer vor allem die Wiedererlangung beziehungsweise Weiterentwicklung der beruflichen Haltung des Supervisanden im Fokus stehen. Supervision initiiert und begleitet damit individuelle und kollek­tive Bildungsprozesse (vgl. Busse u. Hausinger, 2013; Loer, 2013; Möller, 2012; Oevermann, 2010). Die Supervisorin

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In ihrem Kleidungsstil gleicht die Supervisorin auf den ersten Blick Personen, die in pädagogischen Berufsfeldern tätig sind. Ihre Kleidung changiert zwischen funktionaler Freizeitbekleidung mit Anspruch auf Stil und beschränkend formaler Berufskleidung. Das kann bei der Supervisorin beispielsweise eine robustere Baumwollhose in Kombination mit einer einfarbigen Seidenbluse sowie einem Jackett in einem kräftigen Rotton und einem Seidenschal mit Blumenmuster sein. Als typischer Kleidungsstil denkbar sind auch eine schwarze Anzughose und ein dezentes Seidenshirt kombiniert mit einer modischen einfarbigen Stola aus Cashmere. Die Differenz zur Kleidung der Pädagogin liegt hier vor allem im Anspruch an Qualität, Passform und Eleganz. Als in seiner Bedeutung noch zu erschließendem Accessoire fällt darüber hinaus häufig eine markante Halskette in den Blick. Sie besteht als kunsthandwerkliches Unikat aus größeren Elementen aufeinander abgestimmter Materialien und Farben. Die Kette der Supervisorin unterscheidet sich von der Perlenkette der Unternehmensberaterin wie von dem mehr oder weniger indifferenten Schmuck der Klientinnen. Sie erlangt nicht in erster Linie aufgrund ihres materiellen Wertes die Aufmerksamkeit des Betrachters, sondern vielmehr aufgrund ihrer Extension und originellen Exklusivität. Blicken wir mit dem gewonnenen Bild auf die Fragen nach der Schutzfunktion, dem Habitus und den sozialen Herausforderungen, auf die die berufsspezifische Kleidung der Supervisorin eine Antwort ist. In schützender Hinsicht muss die Kleidung der Supervisorin der Anforderung hinreichend genügen, an einem Tag in unterschied­lichen Feldern tätig zu sein. Die Supervisorin kann nicht wie der Banker auf ein sozial homogenes Umfeld mit kontrollierten Verhaltensweisen setzen, sondern muss insbesondere im pädagogisch-sozialen Feld flexibel auf die wechselnden Rahmenbedingungen ihrer Arbeit reagieren können. Wir denken hier beispielhaft an die Fallsupervision im Hort­betrieb, bei der die Beteiligten auf Kinderstühlen sitzen, die noch mit Resten von Fingermalfarbe der vorangegangen krea­tiven Arbeit der Kinder in Mitleidenschaft gezogen sind. Auch kommt uns die Teamsupervision in einer Behindertenhilfeeinrichtung in den Sinn, zu der alle Beteiligten 52

Zum Sinn der Kleidung des Beraters

an einem Tisch Platz nahmen, der noch mit Resten vom Mittagstisch bestückt war. Auch unabhängig vom sozialen Rahmen liegt auf der Hand, dass das Tragen eines Hosenanzugs in den genannten Umständen schlicht nicht funktional ist. Wenn wir im Weiteren nach dem Habitus fragen, der sich in der Kleidung der Supervisorin ausdrückt, und den Habitusbegriff im Sinne dauerhafter Dispositionen und inkorporierter Einstellungs-, Wert- und Verhaltensmuster ernst nehmen, müssen wir die Geschichte der Supervision in unsere Überlegungen einbeziehen. Wir müssen dann davon ausgehen, dass die Geschichte der Supervision mehr oder weniger bewusst im »Körpergedächtnis« der Supervisorinnen und Supervisoren verankert ist. Einen wesentlichen Ursprung der Supervision bildete die Sozialarbeit der nordamerikanischen Wohlfahrtsorganisationen am Ende des 19. Jahrhunderts (Weigand u. Wieringa, 1990). Im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung erhöhte sich die Anzahl sozial­schwacher Einwohner in den USA drastisch. Infolgedessen sah sich der besserverdienende Anteil der Bevölkerung gezwungen, der Verelendung in eigener Verantwortung entgegenzutreten. Die Realisierung dieses Anliegens erfolgte zunächst durch die ehrenamtliche Arbeit von Ehegattinnen reicherer Bürger (»friendly visitors«), die nach dem Gießkannenprinzip Gelder an Ärmere und Ärmste verteilten. Dabei betrachteten die Geldgeber ihre Zahlung als Investition in Sicherheit vor Gaunern und Räubern sowie in Wahlstimmen. Die Geldvergabe glich durchaus einem zweckrationalen Akt, mit dem man versuchte, Bedürftige zu disziplinieren und deren Verhalten zum eigenen Nutzen zu verändern. Um die Tätigkeit der »friendly visitors« kontrollieren zu können, wurden schon recht bald bezahlte »Überwacher« eingesetzt. Die sogenannten »paid agents« prüften und unterstützten die Arbeit der Ehrenamtlichen mit Lern- und Reflexionsangeboten, ohne dass dafür der Begriff »Supervision« schon Verwendung fand. Die Tätigkeit der »friendly visitors« und »paid agents« erinnert an den latent disziplinierenden Charakter von Supervision, der entgegen aller begründeten emanzipatorischen Ideale auch heute noch Die Supervisorin

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eine handlungswirksame Seite supervisorischen Handels ist. Zugleich hatte und hat Supervision durchaus einen pädagogisch-fachlichen Anspruch im Sinne von Fachanleitung, auch wenn der Begriff aktuell unmodisch erscheint. Die im historischen Rückblick wesentliche dritte Seite von Supervision ist der reflexive Blick auf die Beziehungsdynamik­des Arbeitsbündnisses zwischen dem Klienten, Patienten oder Schüler einerseits und dem Professionellen (Sozialarbeiter, Arzt, Lehrer etc.) andererseits. In diesem Sinne ist Supervision über das Feld der sozialen Arbeit hinaus vor allem professionalisierte Hilfe für professionell Helfende (Loer, 2013). Im supervisorischen Habitus fallen also die disziplinierende bürgerliche, pädagogisch-fachliche und beziehungsorientierte – je nach Spielart reflexiv psychodynamisch oder systemische – Seite von Supervision zusammen. Trifft dies zu, wird sich dies auch in der Kleidung der Supervisorin ausdrücken. So wird in ihr folgerichtig auch die bürgerliche Seite der supervisorischen Gründerzeit sichtbar. Angesichts des eher linksorientierten sozialkritischen supervisorischen Selbstverständnisses dürfte dieser Befund unabhängig der Kategorien »richtig« oder »falsch« überraschen und eine wenig beleuchtete Seite von Supervision in den Blick rücken. Wohl wissend um die Vagheit des Begriffs »bürgerlich« nutzen wir ihn hier, um Milieus zu fassen, die sich durch Besitz und Bildung von anderen Klassen unterscheiden, in denen Freiheit, Leistung und Verantwortung als Handlungs­ orientierung dienen und die Wissenschaft und Kunst respektieren. Wir denken, so lässt es sich vorsichtig formulieren, dass bürger­liches Milieu und das Feld der sozialen Arbeit zumindest in Spannung, wenn nicht gar in konflikthaftem Gegensatz zueinander stehen. Die Kleidung der Supervisorin drückt nun zugleich Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum Feld der sozialen Arbeit aus. Wir sind damit bei der Frage nach der sozialen Herausforderung angekommen, auf die die berufsspezifische Kleiderwahl eine Antwort ist. Auf dem Kontinuum zwischen ganzer Person und Rolle liegt eine basale soziale Herausforderung supervisorischen Handelns im Halten der Balance von Reflexionsangeboten, die die ganze Person berüh54

Zum Sinn der Kleidung des Beraters

ren, fachlicher Anleitung sowie der Durchsetzung sozialer Ordnung im Feld der sozialen Arbeit. Mit sozialer Ordnung meinen wir hier nicht mehr und nicht weniger als das Ermöglichen verlässlicher stabiler Arbeitsbeziehungen in zeitlicher und sozialer Hinsicht. Zur Bewältigung dieser Herausforderung scheint die zwischen funktionaler Freizeitbekleidung mit Anspruch auf Stil und beschränkend formaler Berufskleidung changierende Kleidung der Supervisorin dienlich. Im Feld der sozialen Arbeit markiert sie einflussreiche und hilf­reiche feldaffine Nichtzugehörigkeit. Die Kleidung der Super­visorin begünstigt vorsichtige Einflussnahme in einem Feld, in dem der Slogan »Keine Macht für Niemand« nicht begründungsbedürftig ist. Zum Sinn von Schmuck – die Halskette der Supervisorin »Es ist eine der merkwürdigsten soziologischen Kombinationen, dass ein Tun, das ausschließlich der Pointierung und Bedeutungssteigerung seines Trägers dient, doch ausschließlich durch die Augenweide, die der andere bietet, ausschließlich als eine Art Dankbarkeit dieser anderen sein Ziel er­ reicht« (Simmel, 1908, S. 162).

Deutlich wird dies an einem vermeintlich individuell motivierten Detail berufsspezifischen Anziehens, der Halskette der Supervisorin. Im symbolischen Sinne einer Amtskette gleich, ist sie für die Trägerin das, was dem kirchlichen Würdenträger der Bischofsstab. Sie zeigt an, wem es zusteht, den Prozess zu steuern, und wem legitime Einflussnahme erlaubt ist. Mit Blick auf die Spannung zwischen persönlichen Bedürfnissen, professionellen Anforderungen und organisationalen Interessen steht die Kette der Supervisorin für die Verbindung gegensätzlicher Pole. In diesem Zusammenhang weist Georg Simmel auf die ambi­valente Sinnstruktur von Schmuck hin. Er dient dem Träger dazu, seine Persönlichkeit hervorzuheben, indem er den Betrachter dazu zwingt, freiwillig Gefallen zu finden (vgl. Simmel, 1908). Schmuck dient der Heraushebung des Trägers, der dabei abhängig ist von dem Betrachter. Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Halskette der Supervisorin Die Supervisorin

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Distinktion gegenüber ihren Klienten, ohne damit aus dem Feld der sozialen Arbeit zu fallen. Ihren Klientinnen und Klienten ermöglicht sie im Gegenzug anerkennende Bewunderung im Unterschied zu ablehnendem Neid.

3.2  Der Gruppendynamiker Wir verstehen im Folgenden unter einem Gruppendynamiker eine Person, die als Trainer oder Trainerin einer gruppendynamischen Trainingsgruppe (T-Gruppe) tätig ist. Eine solche Gruppe besteht in der Regel aus etwa zwölf sich fremden Teilnehmenden, die sich zum Zweck der Fortbildung über eine Woche in ein Setting begeben, das Erfahrungslernen im Hier und Jetzt des Veranstaltungsgeschehens begünstigt (vgl. Amann, 2006; Krainz, 2005). Im Rahmen der vor allem von Kurt Lewin geprägten Idee der »Aktionsforschung« meint Erfahrungslernen, dass es nicht darum geht, aufgearbeitetes Wissen zu akkumulieren, sondern sich in einem experimentellen Rahmen auszuprobieren und dabei erfahrungsgesättigtes Handlungswissen zu entwickeln (vgl. Marrow, 2002). Die Praxis wird also nicht wie in vielen Forschungstraditionen und Fortbildungen auf Distanz gehalten (auch »trocken schwimmen« genannt), sondern die Teilnehmenden machen sich und ihre Beziehungen zueinander zum Zweck kollektiven Erkenntnisgewinns selbst zum Gegenstand ihrer forschenden Erkundungen. So neugierig dieses Lernformat die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meist macht, so unklar, geheimnisvoll und irritierend erleben sie in der Regel den ersten Tag der T-Gruppe. Die vermeintlich geringe Strukturierung des gruppendynamischen Settings ist eine intendierte, mächtige soziale Zumutung und Herausforderung. Ohne inhaltliche und soziale Vorgaben, ohne explizite Themen und Rollenklarheit, kurz ohne einen Plan, sind sie einzig mit dem Auftrag, Gruppen­prozesse zu erforschen, konfrontiert und damit auf sich selbst zurückgeworfen. Fest stehen lediglich der zeitliche Rahmen und dass der Trainer etwas anders erscheint als die übrigen Teil56

Zum Sinn der Kleidung des Beraters

nehmenden, also nicht Gleicher unter Gleichen. Als Übungsraum für das Erfahren, Beobachten, Reflektieren und Gestalten von Gruppenprozessen zwingen T-Gruppen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer so strukturell zur Auseinandersetzung mit Fragen nach Macht und Autorität (Wer ist oben, wer ist unten?), nach Zugehörigkeit (Wer ist drinnen, wer ist draußen?) und nach Vertrauen (Wer steht wem wie nah?). Den Teilnehmenden ermöglicht dies, Gruppenprozesse zugleich zu erfahren, zu beeinflussen und vertiefend zu verstehen und dabei unmittelbares Feedback zum eigenen Tun zu erhalten sowie den anderen »Leidensgenossen« Feedback zu geben. Ziele einer T-Gruppe sind damit, allgemeingültige Gruppenprozesse herauszuarbeiten und die Ausbildung eines »experimentellen Habitus« zu fördern, das heißt, Gruppenprozessen und sich selbst gegenüber jederzeit eine forschende Haltung einzunehmen können. Erkenntnisleitende Fragen sind dabei: Was tun wir gerade? Wie tun wir es gerade? Könnten wir es auch anders tun? In diesem Sinne sind Gruppendynamiker Virtuosen reflexiver Selbstdistanzierung (Amann, 2006). Die Kleidung des Gruppendynamikers entzieht sich zunächst jeder Zuordnung. In Tradition des »68iger Diskurses« changiert sie zwischen dem Ausdruck jugendlicher Rebellion, gesetzter Autorität und Freizeitlook. Das können ebenso einfarbiges T-Shirt, Jeans und Lederschlappen wie weißes Hemd, legeres Sakko, Stoffhose und abgetragene Slipper sein oder auch dunkles Baumwollhemd kombiniert mit dunklem T-Shirt, dunkler Hose und Sneakern. Vor dem Hintergrund der Mächtigkeit des gruppendynamischen Settings ist die Kleidung des Gruppendynamikers Understatement. Sie sticht nicht mit dem Anspruch auf Qualität, Eleganz und Exklusivität hervor, sondern beeindruckt mit ihrer Gewöhnlichkeit. Gerade so macht sie ihren Träger für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer rätselhaft, interessant und herausfordernd. Die ordinäre Kleiderwahl des Gruppendynamikers bildet damit den Hintergrund, auf dem dessen virtuoses Handwerk erst vollends zur Geltung kommt. Fragen wir mit dem skizzierten Bild nach der Schutzfunktion der Kleidung des Gruppendynamikers, fällt eine erkenntnisreiche DiffeDer Gruppendynamiker

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renz zur Kleidung der Bankangestellten auf. Während jene symbolisch zum Ausdruck bringt, dass die Träger sich nur mit spezifischen Fragen beschäftigen, sich jenseits aller »lebensweltlichen Gefahren« uneingeschränkt mit »Zahlen« befassen und damit Orientierung und geschäftsbezogene Seriosität generieren, verhält es sich mit der Kleidung des Gruppendynamikers gerade umgekehrt. Deren Nichtzuorden­barkeit zu Berufsfeld, Status, hierarchischer Position und Alter schützt den Gruppendynamiker davor, von den Teilnehmern allzu bald eingeordnet zu werden. Im Gegensatz zum »spezifischen« Anzug des Bankers ist die Kleidung des Gruppendynamikers damit aus gutem Grund »diffus«. Sie schützt nicht vor den elementaren Fragen des Lebens, sondern eröffnet den Möglichkeitsraum, das menschliche Zusammenarbeit prägende Spannungsfeld von Macht, Liebe und Zugehörigkeit im Hier und Jetzt der T-Gruppe gemeinsam zu erörtern. Die Kleidung des Gruppen­dynamikers erschwert vorschnelle Zuschreibungen und Stereo­typisierungen durch die Gruppe und fördert die Auseinandersetzung mit der Person hinter der Kleidung. Während in anderen arbeitsweltlichen Zusammenhängen etwa die Uniform des Polizisten, der Kittel des Arztes oder die Robe des Anwalts Macht- und Autoritätsfragen beantworten, bietet die Kleiderwahl des Gruppendynamikers in dieser Hinsicht keine Orientierung, sondern irritiert bewusst. In ihrem Tun sind Gruppendynamikerinnen und -dynamiker Forscher und Praktiker zugleich. Einerseits eröffnen sie ein vom alltäglichen Handlungsdruck befreites Laborsetting, andererseits zwingt die T-Gruppe unter Verantwortung des Trainers/der Trainerin alle Beteiligten qua Konstellation von Beginn an zum Handeln. Die intendierte Zwangslage, »nicht nicht handeln« zu können und dabei beobachtet zu werden, ist dem Gruppendynamiker freilich kein Selbstzweck. Vielmehr zielt die Praxis der Gruppendynamik seit ihren Ursprüngen nach 1945 darauf, selbstverantwortliches Handeln in Gruppen zu fördern und damit letztlich über »Selbstaufklärung« zur Sicherung und Weiterentwicklung demokratischer Gesellschaften beizutragen. Angesichts dessen ist der Habitus des Gruppendynamikers von einer forschend-kritischen Haltung zur Welt geprägt. Er orientiert sich nicht 58

Zum Sinn der Kleidung des Beraters

an sozialer Erwünschtheit, sondern hält sie systematisch auf Distanz und befragt sie ob ihrer Legitimation und ihres Nutzens. Seine unscheinbar wirkende Kleidung unterstützt ihn in seinem Tun und ist Ausdruck seines Habitus. Der Gruppendynamiker unterwirft sich keinen modischen Trends oder vestimentären Konventionen. Gerade mit ihrer vermeintlichen Anspruchslosigkeit trägt seine Kleiderwahl zur charismatischen Aufladung des gruppendynamischen Trainers durch die T-Gruppen-Teilnehmenden bei – also genau jener regressiven Dynamik in Gruppen, die mit der Ausbildung autoritärer Strukturen immer wieder einhergeht und der die Gruppendynamik systematisch den Kampf ansagt. Die wenig reflektierte zugeschriebene Macht und Autorität des Trainers kann so zum Gegenstand einer reflektierten Auseinandersetzung werden und mit der Frage nach demokratischen Führungsprinzipien verknüpft werden. Wir sehen hier, wie sich die »Frankfurter Uniform« des Bankers und die Kleidung des Gruppendynamikers hinsichtlich ihrer sozialen Implikationen unterscheiden. Während Erstere die Austauschbarkeit des Trägers impliziert und damit einer universellen Logik folgt, begünstigt Letztere das Hervortreten des Charismas des Trägers und charakterisiert damit eher partikulare Interessen. Vor dem Hintergrund unserer Überlegungen zur Schutzfunktion der Kleidung des gruppendynamischen Trainers und des sich in ihr ausdrückenden Habitus lassen sich die sozialen Herausforderungen skizzieren, auf die die Kleiderwahl des Gruppendynamikers eine Antwort ist. Gruppendynamische Trainings dienen der Einübung in die reflexive Auseinandersetzung mit Gruppenprozessen sowie der Ausbildung der Fähigkeit zur »Selbststeuerung« der Gruppe (vgl. Schatten­hofer u. Weigand, 1998). Gruppenprozesse zwingen Gruppen­ mitglieder strukturell unumgänglich zur Selbstdarstellung (z. B. des anatomischen Geschlechts), zu (Beziehungs-)Investitionen, womit die »Kosten« des Ausstiegs steigen, zu Verlusten individueller Identität zugunsten eines Identitätsgewinns durch Gruppenidentität, zur Prämierung von Beziehungen angesichts einer theoretisch möglichen Beziehungsvielfalt sowie zur Außendarstellung bei gleichzeitiger InsuDer Gruppendynamiker

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lation, also der Abgrenzung der Gruppe nach außen (Claessens, 1977). Gruppendynamische Trainer und Trainerinnen stehen vor der Heraus­ forderung, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Hier und Jetzt der Trainingsgruppe mit den Implikationen von Gruppenprozessen zu konfrontieren und sie dabei zu unterstützen, sich über den individuellen und kollektiven Umgang mit dem Sozialformat Gruppe auszutauschen. In diesem Sinne sind Gruppendynamiker aufgefordert, Balance zu halten zwischen Versorgung und Konfrontation. Im Unterschied zu therapeutischen Angeboten, wie etwa die Gruppenanalyse, intendieren T-Gruppen dabei nicht die Thematisierung der ganzen Person, sondern fokussieren auf das Gruppengeschehen. Gruppen­ dynamische Trainings bilden keine therapeutische Antwort auf psychische Krisen, sondern dienen der berufsbezogenen Selbsterfahrung von Rollen­trägern. So geht der Gruppendynamiker nicht von individuellen psychischen Leiden aus, die die Teilnehmenden in die T-Gruppe bringen. Vielmehr muss er psychische Stabilität und Gesundheit voraussetzen. Vor diesem Hintergrund ist er »immun« gegenüber Versuchen, psychische Eigenheiten von Teilnehmern und Teilnehmerinnen zum zentralen Untersuchungsgegenstand der Gruppe zu machen. Wichtiger ist ihm in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Gruppe mit individuellen Befindlichkeiten umgeht. Als »zugewandter Rüpel« macht sich der Trainer oder die Trainerin dazu nicht mit der jeweils aktuellen Dynamik der Gruppe gemein, sondern hält sie auf Distanz und zeigt, wie man pointiert beschreiben kann, was gerade passiert und welche Folgen daraus resultieren. Der Trainer mutet der Gruppe zu, Implizites explizit zu machen. »Rüpelhaft« spricht er das an, was jeder sieht, aber nicht besprochen wird, jedoch für die reflexive Weiterentwicklung der Gruppe besprochen werden müsste. »Zugewandt« hat der Trainer Verständnis für die Schwierigkeiten, die sich der Gruppe mit dem Auftrag, sich selbst zu beforschen, stellen und bietet stabile Unterstützung bei der Bewältigung der systematisch induzierten Heraus­forderung reflexiver Selbstdistanzierung. Eine Antwort auf die sozialen Herausforderungen der Gruppen­ dynamik bildet die mehr oder weniger saloppe informelle Kleidung 60

Zum Sinn der Kleidung des Beraters

der Trainer und Trainerinnen. Sie erleichtert es ihnen, sich im sumpfigen gruppendynamischen Raum zwischen Einfluss-, Vertrauens- und Zugehörigkeitsfragen unbefangen zu bewegen (Antons, Amann, Clausen u. König, 2004). Im Rahmen berufsbezogener Selbsterfahrung öffnet sie ihnen die Möglichkeit der Thematisierung der anderen Seite formaler Beziehungen, nämlich die diffuse Verwicklung ganzer Personen. Das heißt freilich nicht, dass dies im Anzug prinzipiell nicht möglich wäre. Formelle Kleidung würde die Arbeit des Gruppendynamikers jedoch erschweren. Bewusst oder unbewusst müsste er umfangreicher begründen, warum er als »zugewandter Rüpel« handelt und sich aus seiner spezifischen Kleidung respektive Rolle heraus erlaubt, in einem nichttherapeutischen Setting diffuse psychosoziale Dynamiken zu thematisieren.

3.3  Die Unternehmensberaterin Die Beschäftigung mit der Kleidung der Unternehmensberaterin birgt die Gefahr, gängige Stereotypen über eine Branche zum Gegenstand der Betrachtung zu machen. Insbesondere als psycho- und gruppendynamisch orientierte Organisationsberater fällt es uns bei dieser Berufsgruppe nicht leicht, die für eine analytische Betrachtung notwendige Distanz zu halten. Dem ersten Impuls folgend richtet sich unser Blick zunächst auf den »typischen« männlichen Unternehmensberater. Dieser kleidet sich mit einem seine sportlich-trainierte Figur unterstreichenden, teuren, perfekt sitzenden, stilsicheren Markenanzug. Die Umschlagmanschetten des einfarbigen Hemds mit Rückenpasse sind exakt 1,5 Zentimeter länger als die Ärmel des Jacketts. Die Krawatte ist korrekt gebunden und farblich mit dem Anzug abgestimmt. Rahmengenähte Schuhe komplettieren das hochwertige Businessoutfit. Die spontan assoziierte Beschreibung macht uns darauf aufmerksam, dass sich die Unternehmensberaterin in einem eher männlichen dominierten Umfeld bewegt. Auch wenn es sich heute nicht mehr um eine reine Männerdomäne handelt, lag der Anteil der Frauen in mitDie Unternehmensberaterin

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telgroßen Beratungsgesellschaften nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts 2014 bei etwa dreißig Prozent4. Dagegen sind fast siebzig Prozent der weiblichen Beschäftigten im Backoffice, das heißt in Assistenzfunktionen, tätig. Es scheint unstrittig, dass Frauen unter diesen Umständen auch hinsichtlich ihrer Kleidung zur Anpassung an die vorherrschende und eher männlich geprägte Kultur strukturell gezwungen sind. Die Kleidung der Unternehmensberaterin lehnt sich an das skizzierte Bild des männlichen Beraters an. Sie muss einerseits korrekt und seriös sein, gleichzeitig aber offenbar Weiblichkeit verkörpern. Andernfalls könnten Frauen im Consulting ebenso wie ihre männlichen Kollegen Anzüge mit Krawatten tragen. Dabei dienen geschlechtsspezifische Kleidungsvariationen zu einem Mindestmaß dem Zweck, Geschäfte zu machen. Angesichts dessen wird das Geschlecht bei Unternehmensberaterinnen stärker betont als etwa bei Supervisorinnen. Geschlechtliche Reize mit geschäftlicher Seriosität zu kombinieren, kann freilich gelingen oder misslingen, wie die Karikaturen des Geschäftsmanns als Zuhälter oder der Unternehmensberaterin als Prostituierte deutlich machen. Dem Anzug des Mannes kommt in Zuschnitt, Farbe und Material der Hosenanzug der Frau am nächsten. Es handelt sich dabei um eine Kombination aus Jackett und langer Hose aus gleichem Stoff, die in der Regel mit einer Bluse getragen wird. Als Alternativen dazu gelten im beruflichen Feld der Unternehmensberaterin das figurbetonende Etuikleid oder das klassische Kostüm, aber auch wenn es legerer zugeht, heißt es Rock mit Bluse oder Hose mit Blazer. Simmel betrachtet den Wunsch der Frauen, sich modisch zu kleiden, als eine Folge ihrer sozialen Unterlegenheit. Für ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Sichtbarkeit habe die modische Kleidung die Funktion eines Ventils. Männer seien dagegen mit der »sozialen Kraft des Standes geschmückt« und daher nicht auf einen individuellen Kleidungsstil, der sie von anderen unterscheidet, angewiesen (Simmel, 1908b). Eine erste 4 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/301722/umfrage/anteil-weiblicher-mitarbeiter-in-consultingfirmen/ 62

Zum Sinn der Kleidung des Beraters

Erkenntnis der Überlegungen zum Kleidungsstil der Unternehmensberaterin ist somit, dass deren Kleidung nicht nur die Anforderungen des Arbeitsauftrags und der Rolle widerspiegelt, sondern darüber hinaus die Geschlechterverhältnisse innerhalb der Beratungsunternehmen. Mit anderen Worten kann die Kleidung der Unternehmensberaterin auch als eine Form des »Managing Gender« begriffen werden. Die Tatsache, dass in der Unternehmensberatung der Kleidung der Beratenden große Bedeutung zukommt, zeigt sich beispielsweise daran, dass die Strategieberatung Roland Berger den Berufsanfängern und -anfängerinnen die Teilnahme an einem sogenannten »Knigge-­ Seminar« ermöglicht. Dort geht es dann auch um die Frage der passenden anlassbezogenen Kleidung. Bevor wir uns den Fragen nach Schutz, Habitus und sozialer Herausforderung im Zusammenhang mit der Kleidung der Unternehmensberaterin zuwenden, wollen wir den Begriff »Unternehmensberatung« schärfen. Unternehmensberatung ist keine gesetzlich geschützte Bezeichnung, sodass sich im Grunde jeder »Unternehmensberater« nennen kann. Es existiert also keine spezifische Zugangsordnung wie etwa bei Ärzten oder Anwälten. Auftraggeber beziehungsweise Kunden sind vielmehr darauf angewiesen, anhand bestimmter Merkmale zu erkennen, ob es sich um einen fachlich kompetenten Berater handelt. Dabei kommt der Kleidung eine wichtige Aufgabe zu. Modeexperten und Stilberater gehen von der Annahme aus, dass bestimmte Farben sowie die Passform Einfluss auf die Wahrnehmung des Gegenübers haben. So wirke die Farbe Dunkelblau eher beruhigend und eine gute Passform signalisiere Kompetenz. Zudem soll einheitliche Kleidung Vertrauen schaffen und Seriosität und Beständigkeit vermitteln. Im Rahmen einer Unternehmensberatung selbst geht es im Kern um die organisationsspezifische Lösung betriebswirtschaftlicher Probleme, denen der Auftraggeber in der Regel selbst nicht gewachsen ist. Dazu übernimmt die Unternehmensberaterin für einen begrenzten Zeitraum die Verantwortung für die Erreichung eines vorab definierten Zielzustands. Um dies zu erreichen, begibt sie sich in eine führend-helfende Position. Die endDie Unternehmensberaterin

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gültige Entscheidungs- und Durchsetzungsgewalt verbleibt somit bei dem Auftraggeber, wird aber von den Beratenden maßgeblich beeinflusst. Insofern tragen sie Mitverantwortung. Zu beobachten ist dies regelmäßig bei Massenentlassungen in Unternehmen, die aufgrund eines Strategiewechsels, einer Neuausrichtung oder Modernisierung für notwendig erachtet werden. Aus Sicht der Belegschaft sind dann häufig die Unternehmensberater, die im Vorfeld solcher Maßnahmen tätig sind und im Unternehmen sichtbar werden, die Schuldigen. Vor diesem Hintergrund wird mit Blick auf die schützende Funktion der Kleidung deutlich, dass der Hosenanzug die Unternehmensberaterin unterstützt, die permanent virulente psychosozialen Dynamik der auftraggebenden Organisation auf Distanz zu halten. Betriebswirtschaftlich orientierte Beratungsprozesse gehen mit mehr oder weniger tiefgreifenden strukturellen Veränderungen innerhalb eines Unternehmens einher und haben damit natürlich Auswirkungen auf die Arbeitssituation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass regelmäßig hohe psychosoziale Belastungen der Belegschaft die Folge sind. Ein Umstand, der vor dem Hintergrund betriebswirtschaftlicher Optimierungsüberlegungen von Unternehmensberatungen lange gänzlich ignoriert wurde und zum Scheitern vieler Veränderungsvorhaben beitrug. Unabhängig von den Möglichkeiten, psychosoziale Belastungen im Rahmen von Veränderungsprozessen zu bearbeiten, ist die Notwendigkeit, sich gegen die unter Umständen erheblichen psychosozialen Turbulenzen zu schützen, nachvollziehbar. Erst so scheint eine hohe Sach- und Ergebnisorientierung gewährleistet und die Beraterin kann unbeeindruckt von möglichen Einzelschicksalen handeln. Umgekehrt signalisiert der Hosenanzug aber auch der Belegschaft, dass die Bearbeitung der psychosozialen Folgen der betriebswirtschaftlichen Beratung nicht zum Auftrag der Unternehmensberaterin gehört und damit die Zuständigkeit bei der Unternehmensleitung beziehungsweise bei den Führungskräften liegt. Für das Verständnis des Habitus der Unternehmensberaterin ist die Auseinandersetzung mit den historischen Ursprüngen der Unternehmensberatung erkenntnisreich. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 64

Zum Sinn der Kleidung des Beraters

hatte zur Folge, dass die oft hoch verschuldeten Eigentümer von Unternehmen zunehmend von Banken kontrolliert wurden. Diese drängten die Inhaber zur Einführung neuer Managementkonzepte mithilfe von Unternehmensberatungen. In diesem Zusammenhang ging das von Frederick Winslow Taylor in den Vereinigten Staaten entwickelte Scientific Management von der Annahme aus, betriebliche Abläufe und auch soziale Probleme ließen sich mithilfe wissenschaftlicher Methoden lösen. Wesentliche Elemente waren und sind dabei die Prozessteuerung, die Spezialisierung der Arbeitsaufgaben, die Zentralplanung und -steuerung sowie die Trennung in ausführende und planende Arbeit. Taylor war zudem der Überzeugung, dass Menschen ausschließlich arbeiten, um Geld zu verdienen. Die historische Entwicklung der Unternehmensberatung legt nahe, die streng normierte Kleidung der Unternehmensberaterin und des -beraters als Ausdruck des Scientific Management zu begreifen. In ihr drückt sich der Anspruch auf umfassende Kontrolle, Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit und finanziellen Anreiz aus. So wird nichts dem Zufall überlassen, ähnlich wie das auch für die eingesetzten Methoden, Präsentationen und definierten Prozessschritte im Rahmen einer Unternehmensberatung gilt. Dazu passt, dass die Kleidung der Unternehmensberaterin auch eine Anpassungsleistung an den Kunden ist. Bei Gesprächen der Beratenden mit dem Top-Management kommt es nicht zuletzt auf die richtige Kleiderwahl an. Sie sollte sich am Kleidungsstil des Kunden orientieren und immer ein klein wenig seriöser als dieser sein. Wenn etwa der gegenwärtige Vorstands­vorsitzende der Daimler AG, Dieter Zetsche, wie üblich auf das Tragen einer Krawatte verzichtet, dann wird sich die Unternehmensberaterin geringfügig formeller kleiden. Im übertragenen Sinn findet hier ein Spiel mit der Dienstleistung statt. Herr Zetsche kann es sich als Auftraggeber leisten, keine Krawatte zu tragen, die abhängige Unternehmensberaterin kann ihren Kleidungsstil dagegen nicht lockern. Ähnlich wie beim Banker ist ihre äußere Erscheinung Ausdruck von Sachorientierung und Zuverlässigkeit. Begrenzt erscheint jedoch die Austauschbarkeit der Beratenden. Angesichts der führend-helfenden Beziehung, in der Die Unternehmensberaterin

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die Beratenden auch einen Teil der Verantwortung für die Entscheidungen tragen, spielt auch die persönliche Beziehung eine Rolle. Aus Sicht des Klienten braucht es ein hohes Maß an Vertrauen sowohl in die fachliche Kompetenz als auch in die persönliche Integrität der Beraterin. Letzteres wird insbesondere zu Beginn der Arbeitsbeziehung durch die kleidungsbezogene Anpassungsleistung erleichtert. In der Kleidung der Unternehmensberaterin zeigt sich ihr hoher Anspruch an fallbezogener Prozess- und Ergebnisqualität. Genauso einzigartig und perfekt wie die Gestaltung des Beratungsprozesses und der Grad der Zielerreichung sollen die körperliche Erscheinung und deren Kleiderhülle erscheinen. In diesem Sinne ist die Kleidung der Unternehmensberaterin weniger uniformiert als die des Bankers.

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Zum Sinn der Kleidung des Beraters

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 Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung –  Szenen aus der Beratungspraxis

Im Zuge unserer gemeinsamen Beratungspraxis tauschen wir (R. J. und A. N.) uns zunehmend über unsere Kleiderwahl aus. Wir nutzen unser Erscheinungsbild als bewusste Intervention, um erstens im Rahmen der Auftragsklärung Kontakt mit dem jeweiligen Feld und Auftraggeber zu ermöglichen und zweitens in Abhängigkeit vom Beratungs­ prozess das Erörtern spezifischer Themen oder das Auf­tauchen latenter psychosozialer Dynamiken sowie das Besprechen der selbigen zu begünstigen. Dazu tragen wir unweigerlich geprägt von Super­ vision, Gruppen­dynamik, Volkswirtschaft und Pädagogik wahlweise eher »rollen­unspezifische« Jeans, Hemd, Sakko und braune Schuhe oder einen »rollenspezifischen« Anzug mit (A. N.) und ohne Krawatte (R. J.). So oder so ähnlich heißt es dann nicht selten in Vorbereitung via Textnachricht: Andreas: Wie erscheinen wir morgen bei unserem Termin mit der Geschäftsführung? Ronny:

Hemd und Sakko?

Andreas: Würde eher sagen Anzug, es geht ja nochmal um Grund­ sätzliches. Ronny:

Okay, habe ich auch Lust drauf.

Der antizipierte und gesetzte Anlass des Termins sowie das Gesprächsgegenüber, ergänzt um die Neigung des Beraters, bestimmen hier die Wahl zu formeller Kleidung – das Tragen eines Anzugs. Wir können die Gleichung aufstellen, dass ein erfolgreiches Gespräch mit dem Auftraggeber, hier der Geschäftsführung eines sozialen Trägers Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung

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mit 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, zu grundsätzlichen Fragen des Auftrags und der Zusammenarbeit wahrscheinlicher wird, wenn die Berater einen Anzug tragen und sich in diesem auch wohlfühlen. Umgekehrt wird ein erfolgreiches Gespräch unwahrscheinlicher, wenn die Berater den Anzug qua Haltung nicht füllen können oder wollen oder statt eines Anzugs Jeans, Pulli und Turnschuhe tragen. Erfolgreich ist ein Gespräch in diesem Zusammenhang unseres Erachtens dann, wenn der Berater oder die Beraterin vom Auftraggeber als felderprobtes, kompetentes und relevantes Gegenüber anerkannt wird, wenn seine/ihre Aussagen als triftig und bedeutsam erachtet werden und wenn es gelingt, strittige Themen angemessen deutlich anzusprechen. Wir wollen Ihnen, den Leserinnen und Lesern, im Folgenden drei Szenen aus unserer Beratungspraxis vorstellen, in denen die Wahl unserer Kleidung erfolgreiche Gespräche begünstigte oder erschwerte.

4.1  Sakko, Hemd, Jeans und ein missglücktes Erstgespräch Die Geschäftsführerin eines Unternehmens ambulant betreuten Wohnens fragt Supervision für ihre sechs Bereichsleiterinnen und Bereichsleiter an. Ohne über den genauen Anlass der Anfrage zu sprechen, vereinbaren wir in einem ersten kurzen Telefonat einen Termin für ein Erstgespräch zur Auftragsklärung in den Räumen des Unternehmens. Anlässlich eines Vortrags an anderer Stelle habe ich (R. J.) mir einen neuen Anzug gekauft und habe Lust, ihn zu tragen. Mit Blick auf das anstehende Erstgespräch ist mir jedoch sofort klar, dass ich dort keinen Anzug tragen kann. Ich verorte ambulant betreutes Wohnen im sozialpädagogischen Feld und denke, mit Jeans, Pullover mit V-Ausschnitt, vielleicht über einem lockeren Hemd, und Turnschuhen dürfte ich kleidungstechnisch nichts falsch machen. In den nächsten Tagen denke ich noch einmal über die Anfrage nach. Die Frage nach dem supervisorischen Bedarf der Bereichs­ leiterinnen und Bereichsleiter eröffnet einige Möglichkeiten. Wollen 68

Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung

sie sich im prophylaktischen Sinne mit ihrem Führungshandeln auseinandersetzen, wollen sie ihre Zusammenarbeit weiterentwickeln, wollen sie über die Entwicklung der professionellen Arbeit in ihren Arbeitsbereichen nachdenken oder haben sie eine Krise zu bewäl­ tigen? Im Nachdenken entwickele ich Lust an der Anfrage und habe den Ehrgeiz, den Auftrag im Erstgespräch »an Land« zu ziehen. Dabei unterstelle ich, dass die Position des Bereichsleiters Gestaltungs­ ansprüche und Entscheidungskompetenzen bedingt und münze den noch unklaren Anlass der Anfrage der Geschäftsführerin insgeheim in eine Anfrage um, die Unterstützung bei der Reflexion und Weiterentwicklung von Führung im sozialpädagogischen Kontext sucht. Das impliziert für mich, dass im Beratungsprozess mit den Bereichsleitern auch Fragen der Organisation zu erwarten sind. Ich werde, so antizipiere ich, mit den Bereichsleitern also zum Beispiel über legitime Interessenwidersprüche in der Organisation sprechen und sie dabei unterstützen, diese im Sinne der Organisation zu bewältigen. Ich denke dabei an wirtschaftliche Interessen im Unterschied zu professionellen Ansprüchen, an Interessen der Gesamtorganisation im Unterschied zu Interessen der Bereiche, an Interessen eines Bereichs im Unterschied zum Interesse eines einzelnen Teams oder auch an das Interesse einer Führungskraft im Unterschied zum Interesse der Mitarbeiter. Ich werde, so sinniere ich, »Diplomatie im Dienste der Organisation« (Jahn u. Nolten, 2017a) betreiben, womit die vorsichtige Konfrontation von unterschiedlichen Interessengruppen mit orga­ nisationaler Wirklichkeit zum Zweck der Sicherung oder Entwicklung einer »guten« Organisation gemeint ist. Ich trage also letztlich zur Entwicklung des »Organisationsbewusstsein« der Bereichsleitung bei. Klischeehaft und mehr oder weniger unbewusst will ich mich dazu weniger mit dem sozialpädagogischen Leiden an der Welt und sich selbst auseinandersetzen, sondern mit den Bereichsleiterinnen und Bereichsleitern fokussiert an »der Sache der Organisation« arbeiten. Im Nachdenken über den potenziellen Auftrag verliere ich Jeans, Pullover mit V-Ausschnitt auf lockerem Hemd und Turnschuhe aus dem Blick und schlüpfe am Tag des Erstgesprächs in Jeans, weißes Sakko, Hemd, Jeans und ein missglücktes Erstgespräch

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Hemd, dezent kariertes dunkelblaues Sakko und (geputzte!) braune Lederschuhe. Ich fühle mich wohl und sicher in meiner Kleidung, die ich angesichts des noch ungeklärten Supervisionsauftrags nicht mit angemessener Offenheit fülle, sondern mit der Haltung des Orga­ nisationsberaters. Berufe machen Kleider! Auf dem Kontinuum von diffuser Freizeitkleidung zu rollenspezifischer Berufskleidung hat sich mehr oder weniger unbewusst meine berufliche Haltung gegenüber meinen ersten bewussten Überlegungen zur angemessenen Kleidung im sozialpädagogischen Feld durchgesetzt. Aus der Supervisionsanfrage wurde unter der Hand ein Organisationsberatungsauftrag. Das Erstgespräch findet im Verwaltungsbereich des Unternehmens statt. Bis auf ausliegende Flyer sowie einen körperlich und geistig beeinträchtigten Pförtner deutet nichts auf das sozialpädagogische Feld hin, denke ich noch und werde von einer freundlich-ruhigen berufsunspezifisch gekleideten Frau mittleren Alters – die sich bald als eine der Bereichsleiterinnen herausstellt – empfangen und in einen Besprechungsraum geführt. Mich erwarten jeweils drei Bereichsleiter und Bereichsleiterinnen sowie die Geschäftsführerin. Sofort nehme ich wahr, dass ich mich mit der Geschäftsführerin in kleidungsbezogener Konkordanz bewege, mich von den Strickjacken, Kapuzenpullis und T-Shirts der Bereichsleiter jedoch deutlich unterscheide. Angesichts der »weichen pädagogischen Kleidungsgestalt« der Bereichsleiter fühle ich mich unversehens unangemessen »hart« angezogen. Als ich dann in der Vorstellungsrunde die an mich gestellte Frage nach meinem Super­ visionsverständnis mit »Meine Kollegen und ich begreifen Supervision immer auch als Organisationssupervision« beantworte, ist der Raum mit einer Mischung aus produktiver Irritation, manifesten Verstehensbemühungen sowie latenter Angst und Ablehnung erfüllt, die bis zum Ende des Gesprächs nicht mehr schwindet. Das Korn scheint durch meine sich in Kleidung und Sprache ausdrückende Haltung gesät und ich werde (folgerichtig) als Organisationsberater und nicht als Supervisor betrachtet. Daran ändern auch meine Bemühungen, zu klären, worin der Beratungsbedarf der Bereichsleitung liegt, nichts. Ungeachtet dessen entwickelt sich ein interessantes Gespräch, in dem Geschäfts70

Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung

führerin und Bereichsleiter äußern, dass sie sich mit den Fragen, was Anlass der Supervisionsanfrage ist, sowie nach »der Organisation« bisher wenig auseinandergesetzt haben, es aber tun müssten, zugleich jedoch wenig organisationalen Veränderungsspielraum sähen. Ungeachtet der Kleidungsdifferenzen gehe ich aus dem Termin mit gutem Gefühl – erfreut, interessante Menschen kennengelernt zu haben, wenn auch andere als erhofft. Zugleich scheine ich bereits im Erstgespräch dazu beigetragen zu haben, Organisationsbewusstsein zu entwickeln. Ich bin mir recht sicher, dass ich den Auftrag »an Land« gezogen habe. Eine Woche später erhalte ich einen Anruf von der Geschäftsführerin. Meinen Fokus auf die Organisation hätten sie und die Bereichsleiter als sehr wichtig und richtig erachtet. Es fehle ihnen zurzeit jedoch an Kraft, notwendige organisationsbezogene Veränderungen anzugehen. Man hätte sich vor diesem Hintergrund für die Zusammenarbeit mit einem Supervisor entschieden, der ihnen vor allem die Möglichkeit zur Psychohygiene biete. Ich bin enttäuscht und hadere damit, möglicherweise zu sehr mit der Tür (der Organisation) ins Haus gefallen zu sein. Zugleich denke ich, dass Geschäftsführerin und Bereichsleitung letztlich konsequent bei ihrer Anfrage für Supervision geblieben sind. So haben sie sich für einen Supervisor entschieden und nicht für einen Organisationsberater unter »falscher Flagge«. Einige Tage später ruft mich erneut die Geschäftsführerin an und äußert Beratungsbedarf bezüglich ihrer Zusammenarbeit mit dem Vorstand und dem Aufsichtsrat des Unternehmens. Meine Ausführungen zu meinem Beratungsverständnis hätten sie sehr angesprochen und sie würde sich in ihrer Arbeit gerne von mir begleiten lassen. Sie müsse jedoch erst klären, wie sie mein Honorar finanzieren könne. Heute, ein dreiviertel Jahr später, habe ich noch keine weitere Rückmeldung von ihr. Meine im Erstgespräch wahrgenommene kleidungsbezogene Konkordanz zur Geschäftsführerin hat jedoch auch inhaltlich begründet, dass die Geschäftsführerin Fragen nach der Organisation des Unternehmens stärker beschäftigten als zu erwarten war. Sakko, Hemd, Jeans und ein missglücktes Erstgespräch

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Der geschilderte Fall bietet Anlass, darüber nachzudenken, wie der Beratungsanlass, das Feld, in dem die Beratung stattfindet, die Haltungen des Beraters und der Klienten sowie deren Kleidung in Beziehung stehen – nicht im kausalen Sinne, sondern verstanden als unterschiedliche mehr oder weniger aufeinander bezogene Sinnofferten, die die Passung zwischen Anliegen, Klient und Berater begünstigen oder erschweren. Angesichts dessen »macht es Sinn«, dem Geheimnis berufsspezifischer Kleidung Aufmerksamkeit zu widmen.

4.2 Im Anzug und in Chino Tacheles reden – ein geglücktes Krisengespräch Im Rahmen eines Organisationsentwicklungsprozesses arbeiten wir seit zwei Jahren mit einem Klinikum für Psychiatrie und Psycho­ therapie zusammen. Beratungsanlass bildete eine Mitarbeiterbefragung, in der sich entwicklungsbedürftige ärztliche, therapeutische und pflegerische Qualitätsansprüche sowie eine ausbaufähige Führungskultur ausdrückten. Gemeinsam mit den relevanten Akteuren des Krankenhauses (Betriebsleitung, mittlere Führungsebene, Betriebs­ rat, aus­gewählte Vertreter aller Arbeitsbereiche) installierten wir im Verlauf des Beratungsprozesses »reflexive Orte« (Klausurtage, Steuerungsgruppe, Führungskräftewerkstatt, Fallsupervision), die der Selbstverstän­digung über professionelle Arbeitshaltungen und da­ rauf bezogene angemessene Organisationsstrukturen und Führungs­ prinzipien sowie deren Weiterentwicklung dienten. Als Berater begleiten wir die Auseinandersetzung der Akteure in den »reflexiven Orten« und unterstützen die Etablierung von Verbindlichkeit, Vertrauen und Konfliktfähigkeit. Unter dem Primat einer sach- und beziehungsorientierten Organisation vermitteln wir dazu zwischen unterschiedlichen Interessen. Mit dem Primat einer sachund beziehungsorientierten Organisation bringen wir unsere Vorstellung einer »guten« Organisation zum Ausdruck (vgl. Luhmann, 1976). Unter einer »guten« Organisation verstehen wir eine Organisation, 72

Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung

Ȥ die sich mit dem Zweck auseinandersetzt, zu dem sie eingerichtet wurde (Sachebene), Ȥ die ihre langfristige Bestandssicherung im Blick hat (Zeitebene), Ȥ die hierarchiesensibel ist und die konflikthafte Spannung von Selbstbestimmung, Mitbestimmung sowie Verantwortungsübernahme beziehungsorientiert bewältigt (Sozialebene). Mit der Orientierung an diesem schlichten Idealtypus einer »guten« Organisation unternehmen wir im Klinikum als Organisationsberater diplomatische Bemühungen (Jahn u. Nolten, 2017a). Wir werben unter den Organisationsmitgliedern für das Verständnis unauflös­ barer Interessenwidersprüche, unterstützen das Erarbeiten gemeinsam geteilter Bewältigungsstrategien und Qualitätskriterien und tragen damit letztlich zu wechselseitiger Anerkennung bei. In diesem Sinne verstehen wir unter Diplomatie im Dienste der Organisation die vorsichtige Konfrontation von unterschiedlichen Interessen­gruppen mit organisationaler Wirklichkeit zum Zweck der Sicherung oder Entwicklung einer »guten« Organisation. Nach anfänglicher kollektiver Skepsis sowie zu erwartendem und begründetem Widerstand einzelner Arbeitsbereiche und Mitglieder hat sich zwischen der Organisation und uns ein stabiles belastbares Arbeitsbündnis entwickelt. Es gelingt den einzelnen Arbeitsbereichen immer besser, Fragen nach guter professioneller Arbeit sachorientiert zu erörtern und die »interdisziplinäre« bereichsübergreifende Zusammenarbeit kritisch zu beleuchten. Die die Organisation repräsentierenden Organisationsmitglieder verstehen es zunehmend, zwischen Sachfragen und psychosozialen Fragen zu unterscheiden und ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann das Eine oder das Andere thematisiert werden muss und wie damit im Zusammenhang schwierige Fragen konstruktiv besprochen werden können. Unsere Kleidung im Rahmen des Beratungsprozesses variierte in Abhängigkeit vom Beratungssetting (Klausurtage, Steuerungsgruppe, Führungskräftewerkstatt, Fallsupervision), Beratungs­anlass (psychosoziale Fragen, Professionsfragen, Organisationsfragen) und Im Anzug und in Chino Tacheles reden

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Teilnehmenden (Betriebsleitung, mittlere Führungsebene, Betriebsrat, Fachkräfte) von der eher »rollenunspezifischen« Chinohose mit Button-Down-Hemd und Sneakern über Jeans, Businesshemd und Sakko mit braunen Lederschuhen bis hin zum »rollenspezifischen« Anzug mit schwarzen Lederschuhen. In diesem Sinne bestimmten weniger wir unsere Kleidung als vielmehr der jeweilige soziale Rahmen. Während die eher »rollenunspezifische« Kleidung der Thematisierung von psychosozialen Dynamiken, die jenseits der Sache liegen, dienlich ist, nutzen wir den Anzug vor allem dann, wenn formale Sachfragen mit der ersten und zweiten Führungsebene im Vordergrund stehen, also etwa im Zuge der Auftragsklärung und Vertragsschließung. Wenn wir hier die Begriffe »rollenunspezifisch« und »rollenspezifisch« verwenden, meinen wir damit, dass im ersten Fall die Bedürfnisse und Interessen der ganzen Person, des ganzen Individuums in den Fokus rücken, während im zweiten Fall der Fokus auf die Mitgliedschaftsrolle in der Organisation beschränkt ist. Überspitzt formuliert ist im rollenspezifischen Modus jede ganze Person ersetzbar – darin liegt die Kränkung und Leistung von Organisationen. In diesem Sinne sind der »rollenspezifische« Anzug »hart« und das rollenunspezifische Sakko und Co. »weich«. Im Rückblick veränderte sich das Verhältnis des Tragens »rollenspezifischer« und »rollenunspezifischer« Kleidung mit der Dauer des Beratungsprozesses. Wir tragen weniger Anzug und mehr Jeans, Hemd, Sakko sowie braune Schuhe bis hin zu Chinohose und Sneaker. Selbstkritisch können wir daraus schließen, dass dies ein Ausdruck unserer zunehmenden diffusen Verwicklung mit der Organisation ist. Die Frage ist, ob wir in der Lage sind, noch hinreichend produktive Distanz zu unserem Klienten – der Organisation – zu halten und gegebenenfalls die sich im Anzug ausdrückende »spezifische Seite« der Zusammenarbeit betonen können. Beratungssettings, in denen unterschiedliche Berufsgruppen einer Organisation aufeinandertreffen, gestalten sich unserer Er74

Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung

fahrung nach auch bei der Frage der Kleidung als Herausforderung. Im Rahmen des hier vorgestellten Beratungsprozesses begleiteten wir zwei Klausurtage der mittleren Führungsebene, die aus Kaufleuten, Technikern, Ärzten, Psychologen, Pflegekräften, Päda­gogen und Ergotherapeuten bestand. Die berufs- und professions­bezogene Heterogenität der Teilnehmenden äußerte sich auch sehr deutlich in deren Kleidung: Vom gepflegten Anzug mit Krawatte über die etwas legere Kombination bis hin zu Jeans und Holzfällerhemd war die gesamte Bandbreite unterschiedlicher Kleidungsstile und Kleidungsansprüche vertreten. Den Abschluss der Klausurtage der mittleren Führungsebene sollte eine gemeinsame Auswertung mit der Betriebsleitung bilden. Aus vorangegangenen Sitzungen mit der Betriebsleitung wussten wird, dass diese in formaler Kleidung erscheinen würde. Für uns als Berater stellte sich die Frage, wie wir uns dazu kleidungstechnisch positionieren sollten. Die Variante mit Anzug würde uns sehr deutlich bei der Betriebsleitung ansiedeln, die legere Kombination aus Chinohose und Hemd dagegen eher bei der zweiten Führungsebene verorten. An einen Kleiderwechsel während der Veranstaltung war natürlich nicht zu denken. Unsere »Rettung« war, dass wir aufgrund der großen Teilnehmerzahl die Gruppe zu zweit begleiten konnten und es uns so möglich wurde, bewusst zwei Kleidungsstile einzusetzen. Auch wenn wir mit unserer Kleidung zunehmend flexibel auf den prozessbezo­genen Bedarf reagieren können, fühlt sich der Soziologe noch immer etwas hölzern im Anzug, während der Volkswirt sich zuweilen in Chino und Hemd verloren fühlt. Standesgemäß trug also der Volkswirt (A. N.) zur Klausurtagung den Anzug und der Soziologe (R. J.) Chino und Hemd. Die Ergebnisse der zwei Tage waren erfreulich und zugleich hinsichtlich der Arbeitsbeziehung zwischen Betriebsleitung und mittlerer Führungsebene von Brisanz. Kurz und pointiert ergab sich im abschließende Gespräch der ersten und zweiten Leitungsebene folgende Konstellation: Letztere forderte begründetermaßen einen größeren Entscheidungsspielraum, worauf Erstere ebenso begrünIm Anzug und in Chino Tacheles reden

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det entgegnete, dass es der mittleren Führungsebene an Verant­ wortungsübernahme und dem Blick für die ganze Organisation fehle. Die Fronten waren überraschend verhärtet und der vorangegangene gute zweitägige Arbeitsprozess drohte in größere Verwerfungen zu münden. Im Zuge der Diskussion konnten wir, gefühlt in großer Not, spontan und doch nicht zufällig einen Gesprächsfaden aufnehmen und in ein öffentliches Zwiegespräch zwischen »Anzug« und »Chino« überführen. Stellvertretend für die Betriebsleitung und für die mittleren Führungskräfte stritten wir – hier der Volkswirt, da der Soziologe – emotional um die Frage, wessen Deutung der Lage richtig ist, brachten deutlich zum Ausdruck, wie vermessen wir die Aussagen des jeweils anderen gerade wahrnehmen, und zeigten damit, dass in dieser Sache gerade kein Zusammenkommen möglich ist. Wir redeten im Anzug und in Chino »Tacheles«. Wenig überraschend ermöglichte unser »Schauspiel« – was im Augenblick des Geschehens keines war und gerade deshalb Erkenntnisgewinn möglich machte – den Teilnehmern und Teilnehmerinnen, Distanz zum vorangegangenen Geschehen einzunehmen, sich in die jeweils andere Position hineinzuversetzen und langsam in den Modus eines reflexiven und produktiven Gesprächs zu kommen. Hilfreich dabei war die Unterstützung der Betriebsleitung durch den rahmenden »rollenspezifischen« Berater im Anzug auf der einen Seite und den konfliktorientierten »rollenunspezifischen« Berater in Chinohose auf der anderen Seite. Während Ersterer den organisationalen haltenden Rahmen stützte, konnte Letzterer die Betriebsleitung einem Hofnarren gleich produktiv herausfordern und der mittleren Führungsebene damit zeigen, wie sie ihre legitimen Interessen gegenüber ihrer Leitung angemessen artikulieren kann. Unsere »Kleiderintervention« hat damit dazu beigetragen, die Krise am Ende der zweitägigen Klausurtagung zu bewältigen. Die Fallschilderung abschließend wollen wir uns nochmals der Frage, ob wir noch hinreichend produktive Distanz zu unserem Klienten – der Organisation – halten können, widmen. Im Kontext »reflexiver Beratung«, insbesondere im supervisorischen Zu76

Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung

sammenhang, scheint uns bezüglich des Verhältnisses von »rollen­ spezifischem« Anzug und »rollenunspezifischer« Chino nicht selten die Logik der Letzteren gegenüber der Logik des Ersteren zu dominieren. So heißt es unter Supervisorinnen und Supervisoren häufig: »Die wichtigen Dinge werden wieder einmal nicht besprochen. Das ist doch alles formaler Schein, der die wirklichen psycho­sozialen Konflikte in der Organisation verschleiert.« Diesem Verständnis nach drückt sich angemessene produktive beraterische Distanz gerade darin aus, die formale Seite der Organisation nicht für bare Münze zu halten und sich als Berater von dieser nicht vereinnahmen zu lassen, sondern stetig auf die mehr oder weniger informale Seite, die Seite der »emotionalen Arena« zu fokussieren. In Beratungs­prozessen, in denen die Organisation der Klient ist, ist die Orientierung an der Reflexion psychosozialer Dynamiken und Konflikte unserer Auffassung nach nicht hinreichend. Mindestens ebenso bedeutsam ist der Blick auf die formale Seite der Organisation. Auf dieser geht es letztlich um die Entscheidung über Entscheidungsprämissen, also um die Entscheidung über Organisationsstrukturen, die die Basis für alle psychosozialen Dynamiken bilden. Die Erörterung und Verhandlung über die der Sache nach »unpersönlichen« Organisationsstrukturen erfolgt in der Regel nicht an der Basis, sondern an der Organisationsspitze und wird durch das Tragen eines Anzugs auf Seiten der Berater begünstigt. Im Anzug drückt sich die formale und universelle Seite der Organisation aus. Der Anzug verunmöglicht nicht die Auseinandersetzung um Organisationsstrukturen, sondern ermöglicht gerade umgekehrt »harte« Verhandlungen.

4.3 Blitzlichter Anknüpfend an die beiden ausführlichen Darstellungen wollen wir im Sinne eines »Blitzlichts« unseren Sinn für die Bedeutung berufsbezogener Kleidung anhand ausgewählter Szenen aus unserer Beratungspraxis weiter schärfen. Blitzlichter

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▶▶ Blitzlicht A Die Leitungssupervision mit der Geschäftsführung eines mittelständi­ schen Unternehmens ist beendet. Die beiden Berater, das heißt der Volkswirt (A. N.) und der Soziologe (R. J.), verabschieden sich von den drei Teilnehmern. Der Chief Executive Officer (CEO), zuständig für das operative Geschäft, ist mit Ende fünfzig der Älteste in der Runde. Er trägt seine übliche Kombination aus Schurwollhose, blauem Hemd, roter Krawatte und blauem Sakko. Während der Leiter des Finanzwe­ sens (Chief Financial Officer bzw. CFO) wie immer im gepflegten Anzug mit Streifenhemd und passender Krawatte erschienen ist, kleidet sich der technische Direktor (Chief Technology Officer bzw. CTO) offenbar seiner Vorliebe entsprechend mit einem auffällig gemusterten Hemd und einer schwarzen Jeans. Mit Blick auf unsere vorangegangenen Aus­ führungen zum Geheimnis berufsspezifischen Anziehens überrascht uns die Kleiderwahl der drei Herren nicht. Sie folgt weitestgehend den her­ ausgearbeiteten Idealtypen. Der CEO wahrt die Form, kann es sich aber erlauben, es mit seiner Kleidung nicht mehr ganz so genau zu nehmen. Der CFO entspricht mit seinem Anzug im idealtypischen Sinne dem Banker. Das gemusterte Hemd des CTO kommt mit seinem informellen Charakter dem antizipierten Bild des Facility Managers gleich. Zwischen diffuser und spezifischer Kleidung antworten wir als Berater auf die Heterogenität der Klienten in kleidungsbezogener Hinsicht mit Sakko, weißem Hemd und Jeans (der Soziologe) und Anzug ohne Krawatte (der Volkswirt). Bei der Verabschiedung kommt das Thema Kleidung jedoch unerwartet explizit zur Sprache. Der CEO spricht den Soziologen auf sein hellblaues Sakko an und betont, dass er es sehr schick fände. Dies führt zu einer positiven Reaktion des Beraters. Schließlich ist das Sakko noch sehr neu und war offensichtlich eine gute Wahl. Entsprechend freudig nimmt er das Kompliment auf und bedankt sich dafür. Darauf­ hin erklärt der CEO, dass sein Sohn erst kürzlich bei einem öffentlichen Auftritt ein sehr ähnliches Sakko getragen habe. Und nun würde er an den Erfolg seines Sohnes erinnert. Interessanterweise ging es in der vorausgegangenen Leitungssupervision in erster Linie um Sach­themen. 78

Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung

Entscheidungen mussten getroffen und Maßnahmen abgestimmt wer­ den. Dabei war vor allem der Berater (R. J.) derjenige, der für die Struk­ tur sorgte und zu Ergebnissen drängte. Angesichts dessen lässt sich trefflich darüber spekulieren, welche unbewussten Übertragungen und Widerstände das Sakko bei dem CEO auslöste. In jedem Fall machte der CEO mit seiner Bemerkung aus der Verabschiedung eine persönliche Verabschiedung, was zeigte, wer wem gegenüber Komplimente aus­ sprechen darf und wie es letztlich um die »Augenhöhe« im Beratungs­ prozess bestellt ist.

▶▶ Blitzlicht B Der ehrenamtliche vierköpfige Vorstand (Jurist, Chemikerin, Beamtin und leitender Angestellter) einer gemeinnützigen Initiative initiiert auf­ grund zunehmender Konflikte mit dem Geschäftsführer einen Bera­ tungsprozess, in dem die Differenzen nach Möglichkeit beigelegt wer­ den sollen. Dazu sollen Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche sowie die zugehörigen Prozesse überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Die Sitzungen finden immer am Abend statt. Die Mitglieder des Vor­ stands und der Geschäftsführer kommen daher entweder von der Arbeit oder von zu Hause. Dem pädagogischen Umfeld und Ehren­amt ent­ sprechend sind die Beteiligten nach unserem Verständnis in »Zwischen­ kleidung« gekleidet. Der Jurist hat die Krawatte bereits abgelegt und die Hemdsärmel hochgekrempelt, die Chemikerin trägt einen unauf­ fälligen Pullover und Jeans, die Beamtin hat eine schwarze Stoffhose sowie eine gemusterte Bluse an und der leitende Angestellte, der ganz in der Nähe wohnt, erscheint in Jeans und Polohemd. Der Geschäfts­ führer trägt Sakko und Jeans. Der Berater, in diesem Fall der Volks­ wirt (A. N.), passt sich im Verlauf des Beratungsprozesses dem wenig spezifischen Kleidungsstil durch das Tragen eines dezent gemusterten Button-­Down-Hemds und einer dunklen Jeans an. In einer Sitzung spitzt sich der Konflikt zwischen einzelnen Mitgliedern des Vorstands und dem Geschäftsführer weiter zu. Die Auseinandersetzung mündet in Blitzlichter

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der Aussage des Geschäftsführers, seinen Rückzug in Erwägung zu ziehen. Überraschenderweise erscheinen der Anwalt und der leitende Angestellte zur darauffolgenden Sitzung im Anzug. Beide thematisie­ ren ihre Kleiderwahl, indem sie darauf verweisen, dass sie kurz vorher einen wichtigen geschäftlichen Termin hatten. Dem Berater stellt sich die Frage, ob es sich um einen Zufall handelt oder ob der wohlmöglich eskalierende Konflikt mit dem Geschäftsführer die spezifische Kleider­ wahl motivierte. Der Anzug wäre dann Schutz vor persönlichen Ver­ letzungen und Instrument zur sachorientierten Konfliktbewältigung.

▶▶ Blitzlicht C Ein junger Start-Up-Unternehmer meldet sich zu einem Erstgespräch für ein Einzelcoaching. Anlass ist eine Auseinandersetzung mit einem der Investoren. Dieser nimmt seit geraumer Zeit zunehmend Einfluss auf das operative Management, indem er bei wichtigen Entscheidungen die Richtung vorgibt. Andernfalls würde er sich aus dem Unternehmen zurückziehen. Das Erstgespräch findet in den Räumen des Beratungs­ unternehmens statt. Der Berater hat unmittelbar vorher eine Fallsuper­ vision mit Erziehern in einem Hort. Diese findet immer in einem der Räume statt, in dem sich die Kinder nach der Schule aufhalten. Dem­ entsprechend ist der Raum mit Spielen, einem Sofa und kindgerechten Stühlen und Tischen ausgestattet. Die Erzieherinnen und Erzieher sind in der Regel eher »jugendlich« und robust gekleidet, das heißt, es do­ minieren T-Shirts, Pullover, Jeans und Turnschuhe. Angesichts dessen entscheidet sich der Berater für einen angepassten, eher freizeitorien­ tierten Kleidungsstil. In der Fallsupervision geht es regelmäßig um die Herausforderungen und Belastungen, die sich aus der Arbeit mit teil­ weise schwerbehinderten oder sozial-emotional auffälligen Kindern ergeben. Das Tragen spezifischer, formeller Kleidung würde die Bereit­ schaft der Teilnehmenden, eigene Anteile am Fallgeschehen zu thema­ tisieren, eher nicht begünstigen. Da es zwischen der Fallsupervision und dem Erstgespräch mit dem Start-Up-Unternehmer nicht möglich ist, die 80

Zum Sinn berufsspezifischer Kleidung in der Beratung

Kleidung zu wechseln, steht der Berater vor der Wahl, sich für legere oder formale Kleidung zu entscheiden. Im Grunde könnte man sagen, dass es in einem Fall um die bestehenden Klienten der Fallsupervision und im anderen Fall um den zukünftigen Kunden für ein Einzelcoaching geht. Der Berater entscheidet sich schlussendlich gegen den Anzug. Der potenzielle Kunde dagegen erscheint zum Erstgespräch im modischen, sehr gut sitzenden Anzug mit passender Krawatte und Einstecktuch. Um mögliche Irritationen zu vermeiden, macht der Berater seine Klei­ dung und die diesbezügliche Differenz zum Start-Up-Unternehmer zum Thema. Dies eröffnet ihm die Möglichkeit, mit seinem Gegenüber über den Gegenstand des Coachings auf interessante Art und Weise ins Ge­ spräch zu kommen – nämlich die Person hinter dem Anzug.

Blitzlichter

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 Alles ist möglich – Auflösungserscheinungen

Im Sinne sich verflüchtigender stabiler sozialer Erwartungssicherheit verstehen wir unter Auflösungserscheinungen Tendenzen, die der Logik »Alles ist möglich« folgen. Unternehmenschefinnen kleiden sich in T-Shirt, Jeans und Sneakern, Supervisoren tragen Anzug und Krawatte, Unternehmensberater erscheinen in Chino und Polohemd, Ärztinnen trennen sich von ihren Kitteln und in Banken sind kurze Hosen erlaubt. Während uns Kleidung bei Fragen nach Beruf, Einfluss, Zugehörigkeit und Status lange Zeit verlässliche Orientierung bot, sind wir aktuell mit Entgrenzungen in mindestens dreierlei Hinsicht konfrontiert. Erstens hat die Bedeutung der Unterscheidung in soziale Klassen wie Arbeiterschaft, Angestellte, Bürgertum und Unternehmertum oder Besitzende an Bedeutung verloren. In horizontaler Hinsicht lässt sich weniger deutlich unterscheiden, wer oben ist, wer unten ist und warum. Auch mit Blick auf Kleidungsdifferenzen ist heute nur noch unter größeren Abstraktionsleistungen zu bestimmen, wer warum welcher sozialen Klasse angehört. Die hier in Rede stehende tendenzielle Entdifferenzierung gilt ebenso für die eher vertikale Unterscheidung in Milieus, verstanden als ähnliche Lebensauffassungen und Lebensweisen. Heute sind es weniger eindeutige exklusive Lebensauffassungen und Lebensweisen, denen Individuen nachgehen, als vielmehr je nach Kontext mehrere. Zweitens ist eine Entgrenzung von Arbeit und Leben zu verzeichnen. Sowohl in organisationsbezogener als auch in sozialer und psychischer Hinsicht ist heute weniger eindeutig zu sagen, wo Privates beginnt und Berufliches endet. Das zeigt sich auch in Kleidungsfragen. 82

Alles ist möglich

So kann ich dank IT-Technik am Morgen noch im Schlafanzug gekleidet geschäftliche E-Mails beantworten, bevor ich joggen gehe und am frühen Abend in kurzer Hose eine Telefonkonferenz mit dem Klienten in den USA führe. Vor diesem Hintergrund können wir davon sprechen, dass die Durchlässigkeit von Arbeit und Leben zunimmt. Drittens lösen sich nicht nur im Beratungskontext professionsbezogene Zuständigkeiten auf. So bieten in erster Linie prozessbezogene Berater und Beraterinnen wie Supervisoren, Coachs, Gruppendynamiker und Organisationsentwickler ihren Klienten zunehmend auch explizite Fachexpertise wie etwa betriebswirtschaftliches oder psychologisches Wissen. Auf der anderen Seite haben Unternehmensberatungen neben ihrem vor allem betriebswirtschaftlichen Sachverstand für ihre Kundschaft immer häufiger auch das Angebot zur Begleitung sozialer Konflikte im Unternehmenskontext im Portfolio. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gerade in den so genannten »Halbprofessionen«, wozu neben dem Lehrerberuf sicherlich auch der des Beraters zählt, eher unspezifische Kleidung getragen wird (vgl. Oevermann, 1996). Anders ist dies bekanntlich bei den klassischen Professionen, die ihre Zuständigkeit mit dem weißen Kittel der Ärzteschaft (siehe Kapitel 2.1) oder der schwarzen Robe der Anwältin markieren. Mit Blick auf unsere Überlegungen zur Sinnerschließung berufsspezifischer Kleidung liegt die Vermutung nahe, dass sich die je nach Geschmack uneindeutigen oder vielseitigen Zuständigkeiten der »Halbprofessionen« auch in der Kleiderwahl der »Halbprofessionellen« niederschlagen. Prüfen Sie doch einmal für sich selbst, wofür Sie stehen und inwiefern und wann sich dies in Ihrer (berufsbezogenen) Kleidung ausdrückt.

Alles ist möglich

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Alles ist möglich

Trotz der hier in Rede stehenden Auflösungserscheinungen gilt festzuhalten, dass die in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeiteten Bedeutungen des weißen Kittels, des Anzugs, des Sakkos, des T-Shirts, der Jeans, der Halskette und so fort nicht aufgehoben, sondern nach wie vor wirkmächtig sind. Der Sinn (berufsspezifischer) Kleidung steht lediglich weniger häufig in sofort einsichtiger Passung zum Anlass der Kleiderwahl. Für die handelnden Akteure bedeutet dies einerseits mehr Freiraum, andererseits müssen sie mehr interpretieren und aushandeln, da klare »Orientierungsmarker« abnehmen. In diesem Sinne wird das Leben nicht leichter, sondern schwerer. Kleidungsbezogene Auflösungserscheinungen führen nicht zu einer Vereinfachung durch Komplexitätsreduktion, sondern umgekehrt zu »Verkomplizierungen« durch Komplexitätserhöhung. So mündet etwa eine Nivellierung der Kleidungsunterschiede zwischen Chef und Mitarbeiter nicht in der Auflösung ihrer hierarchischen Beziehung zueinander, sondern wird nur weniger manifest sichtbar (vgl. Jahn u. Nolten, 2017b). Alles ist möglich

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Gerade junge Unternehmen der kreativen Branche setzen häufig auf einen bewussten Bruch mit vermeintlich »alten Konventionen«. Sie betonen ihre (kleidungsbezogene) Lockerheit und beäugen das klassische »Establishment« kritisch. Ihre sich im minimalistischen Kleidungsstil ausdrückenden Botschaften sind: Progression, Kreativität, Dynamik, Individualität und Freiheit. Die kreative Arbeit abschnürende Krawatte – »Leine des Stillstands« – weicht dem einfarbigen dunklen T-Shirt, das Luft zum Atmen von Freiheit und Fortschritt freisetzt. Die mehr oder weniger latent ausgedrückte Haltung zur Welt lautet hier: »Wir sind mit Leib und Seele als ganze Menschen bei der Arbeit und haben auch noch Spaß dabei.« Damit sind wir freilich wieder bei der oben attestierten zunehmenden Durchlässigkeit von Arbeit und Leben und sehen, dass auch der kleidungsbezogene Bruch mit »alten Konventionen« sinnmotiviert und bedeutungsvoll ist. Eine Ironie des Schicksals scheint zu sein, dass einige Unternehmen vor dem Hintergrund der zunehmend informellen Kleidung ihrer Mitarbeiter den »Formal Friday« einführen. Im Unterschied zum »Casual Friday« verlangt der »Formal Friday« das Tragen eines Kostüms oder Anzugs. Der Bruch liegt hier nicht in der Abgrenzung zu »alten Konventionen«, sondern in einer Begrenzung der »neuen« allzu lockeren Kleiderordnung. Angesichts vielfältiger Auflösungserscheinungen und darauf bezogener Gegenbewegungen nimmt die Bedeutung feiner Unterschiede nicht ab, sondern zu (vgl. Bourdieu, 1987).

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Alles ist möglich

6  Beratungspraktische Empfehlungen Die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel resümierend schließen wir das Buch mit der Formulierung einiger beratungspraktischer Empfehlungen. Dabei bleiben wir unserer in der Einleitung formulierten Aussage, keinen Moderatgeber vorzulegen, treu. Wir hoffen, es ist deutlich geworden, dass uns weniger individuelle Geschmacksfragen interessieren als vielmehr die Frage, inwiefern der Blick auf berufsbedingte Gefahren, beruflichen Habitus und berufsbezogene soziale Herausforderungen dazu beiträgt, dem Geheimnis berufsspezifischen Anziehens auf die Spur zu kommen. Unsere analytischen Anstrengungen haben gezeigt, dass berufliche Kleidung weniger einem mysteriösen Rätsel gleicht, das es zu lüften gilt, als vielmehr unterschätzte implizite Alltagspraxis ist, die es lohnt, gelegentlich zu explizieren und auf ihre Angemessenheit hin zu prüfen. Begeben Sie sich auf den Weg der Sinnerschließung. Folgende Anregungen können Ihnen dabei behilflich sein: Ȥ Schenken Sie Ihrer Kleiderwahl und der Kleidung Ihrer Klienten und Klientinnen bewusste Aufmerksamkeit. Ȥ Messen Sie bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Kleidung der sozialen Perspektive mindestens genauso viel Gewicht bei wie der individualpsychologischen Deutung. Ȥ Berücksichtigen Sie, dass Kleidung immer einen Sinn hat, auch wenn sich dieser uns nicht auf den ersten Blick erschließt. Ȥ Reflektieren Sie, inwiefern sich Ihr Beratungshintergrund, Ihre beraterische Haltung und Ihr persönlicher Geschmack in Ihrer Kleiderwahl ausdrücken. Beratungspraktische Empfehlungen

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Ȥ Nehmen Sie sich Zeit, darüber nachzudenken, inwiefern ein von Ihnen antizipierter Klient, dessen Beratungsanlass und Ihr gemeinsamer Beratungsprozess in Passung zu Ihrer Kleiderwahl stehen. Ȥ Unsere Kleiderwahl verrät immer mehr über uns, als wir intendieren. Freunden Sie sich mit dem Umstand an, dass Sie sich und Ihre berufliche Sozialisation nicht »verstecken« können. Ȥ Tragen Sie die Kleidung Ihrer Klienten probeweise und prüfen Sie, ob Sie sich mit dieser identifizieren können. Gehen Sie der Frage nach, was Sie in diesem Zusammenhang abstößt und anzieht. Überlegen Sie, ob aus den Ergebnissen Ihres Nachdenkens Konsequenzen für Ihre Beratungspraxis folgen. Ȥ Erinnern Sie sich an die kindliche Freude am Verkleiden. Verkleiden Sie sich anlassbezogenen und nicht anlassbezogen öfter einmal als Supervisorin, Coach, Gruppendynamiker, Unternehmensberaterin, Lehrer oder Rechtsanwältin. Und nun die Probe aufs Exempel. Hat die Lektüre dieses Buches zur Schärfung Ihres kleidungsbezogen analytischen Blicks beigetragen? Blättern Sie doch einmal durch einschlägige Fachzeitschriften und Webauftritte und versuchen Sie, sich ein begründetes Urteil zu bilden. Wer begegnet Ihnen, der Supervisor, die Gruppendynamikerin, der Pädagoge, die Geschäftsfrau oder vielleicht ein Marktschreier? Tritt Ihnen möglicherweise ein Therapeut im gruppendynamischen Gewand gegenüber? Oder ein Lehrer als Supervisor verkleidet? Vorsicht, folgen Sie nicht naiv dem Klischee, legen Sie es aber auch nicht vorschnell als unnütz zur Seite. Erlauben Sie sich den Blick auf »die feinen Unterschiede«, um sich und Ihren Klientinnen und Klienten erkenntnisreiche Fragen zu stellen.

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Beratungspraktische Empfehlungen

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